Sie sind auf Seite 1von 1100

Historisches Lexikon

zur politisch-sozialen Sprache


in Deutschland
Geschichtliche Grundbegriffe
Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache
in Deutschland

„Mit dieser Publikation liegt der erste von


insgesa:qit fünf voluminösen Bänden eines -
so kann man jetzt schon sagen - lexiko-
graphischen Standardwerkes vor, das,
beinahe eher wissenschaftlich erschöpfendes
»Handbuch« als mehr oder minder kurzer
Information dienendes Lexikon, sowohl
Historikern als auch Soziologen, Polito-
logen, Philologen, Sprachwissenschaftlern,
Philosophen, Juristen und ·Theologen bald
ein unentbehrliches Hilfsmittel sein wird.
Ohne Übertreibung: ein großer Wurf."
Dieter Dowe, Archiv f. Sozialgeschichte 14
(1974), 720. 722

„Eine nicht nur von historikern und


politologen seit langem schmerzlich emp-
fundene lücke in der dokumentation zur
. neueren deutschen sprachgeschichte wird
mit dem vorliegenden werk geschlossen ...
Von den 21 haupt- und 23 nebenstich-
wörtern des vorliegenden 1; bandes sind
in den großen germanistiimhen wörter-
büchern vor Klappenbach-Steinitz stich-
wörter wie AristQkratie, Anarchie, An-
archismus, Anarchist, Antisemitismus,
Autarkie, Autorität, Föderalismus, Caesaris-.
mus, Napoleonismus, Bonapartismus,
Imperialismus, Demokratie, Diktatur über-
haupt nicht behandelt worden, obwohl sie
meist schon seit mindestens dem Vormärz
oder wenigstens der frühwilhelminischen
zeit durchaus eine bedeutende rolle im
politischen sprachgebrauch auch in
Deutschland gespielt haben; und das
wissenschaftsgeschichtliche erlebnis eines
vergleichs von artikeln wie Arbeit, Arbeiter,
Aufklärung, Bedürfnis, Beruf, Bildung,
Bürger mit den entsprechenden artikeln
im Grimm oder Trübner sollte man sich
nicht entgehen lassen."
Peter v. Polenz, Zs. f. germanist. Lingustik 1
(1973), 235. 241
Inhalt des dritten Bandes

Herrschaft
Herr, Knecht, Diener
Hierarchie
Ideologie
Imperialismus
Industrie und Gewerbe
Interesse
Kapitalismus
kapitalistisch, Kapital
Klerikalismus
Kommunismus
Konservativismus
Krieg
Krise,. Kritik
Kultur, Zivilisation
Legalität, Legitimität
Liberalismus
liberal
Machiavellismus
Macht, Gewalt
Marxismus
Marxist
Materialismus und Idealismus
Mehrh.eit, Minderheit
Majorität, Minorität
Menschheit
Menschlichkeit,
Humanitä~,
Humanismus
Militarismus
Mittelstand
-Mittelklasse
Modernismus
Monarchie
König, Königtum,
monarchisches Prinzip,
Monarchismus
Geschichtliche Grundbegriffe
Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland
Band 2 E-G
GESCHICHTLICHE
GRUNDBEGRIFFE

Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland

Herausgegeben von
Otto Brunner Werner Conze Reinhart Koselleck

Band 2
E-G

Ernst Klett Verlag Stuttgart


HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAG DES ARBEITSKREISES FÜR MODERNE
SOZIALGESCHICHTE E.V.

Alle Rechte vorbehalten


Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages
©Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1975. Printed in Germany
Einbandentwurf E. Dambacher, Korb
Satz und Druck Ernst Klett, Stuttgart, Rotebühlstraße 77
ISBN 3-12-903860-4
Vorwort

Der zweite Band des Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe" wird nunmehr vor-
gelegt. An der Planung sowie an den methodischen Grundsätzen des Gesamt-
werkes hat sich seit der Veröffentlichung des ersten Bandes nichts geändert, so daß
in dieser Hinsicht auf die dortige Einleitung verwiesen werden kann. Der Verlag
und die Herausgeber bedauern, daß der zweite Band verRpätet erscheint. Ver-
schiedene innere und äußere Belastungen einzelner Beteiligter haben diese Ver-
zögerung verursacht, für die wir um Verständnis bitten. Während es bei wissen-
schaftlichen Unternehmungen dieser Art durchaus üblich ist, daß die Artikel zu
Terminen abgeschlossen werden, die zeitlich z. T. erheblich auseinanderliegen kön-
nen, hat sich infolge dieser Verzögerung die zeitliche Spanne 7.whml1en Abschluß
und Verö:ffentlic.hung einze.ln1w Artihl nor.h weit.er vererößert.. Hinzu kommt, daß
die Artikel des Buchstabens „E" (Ehre, Eigentum, Einheit, Entwicklung; jedoch
nicht Emanzipation), die ursprünglich für den ersten Band vorgesehen waren und
schon seit 1967/68 vorlagen, wegen der Notwendigkeit, den Umfang aller Artikel
zu erweitern, in den zweiten Band verschoben werden mußten. Den Autoren dieser
Artikel danken wir für ihr Entgegenkommen. Der dritte und vierte Band sind
erfreulicherweise bereits nebeneinander in d.e.r Vo.rbe.rei.Lung begriffen. Bs ist damit
zu rechnen, daß sie beide mit kurzem Abstand 1977/78 erscheinen werden.
Dafür, daß der zweite Band e.rsch11inen konnte und die Vollendung der beiden
folgenden Bände erfolgreich voranschreitet, ist vielfältig Dank abzustatten: zu-
nächst dem aus Bundesmitteln geförderten Arbeitskreis für moderne Sozialge-
schichte und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die beide die Arbeit der
Redaktion :finanziell ermöglicht haben und uns, so ist zu hoffen, in den Stand
setzen werden, das Werk in möglichst kurzer Zeit zu Ende zu führen.
Wir danken Herrn Professor Dr. Horst Stuke, der seine reiche Erfahrung stets
dem Lexikon zur Verfügung gestellt hat, nicht minder den Mitarbeitern der Heidel-
berger Redaktion, Frau Helga Reinhart, Frau Christa Schönrich und Herrn Rein-
hard Stumpf sowie allen Studenten, die in Seminaren, durch Hilfsarbeiten und
Einzelanregungen wertvolle Beiträge zum Werk geleistet haben.
Besonders danken wir der nach wie vor verständnisvoll hilfsbereiten Heidelberger
Universitätsbibliothek sowie der Heidelberger Universitätsgesellschaft, die der
Redaktion eine Büchergrundausstattung zur Verfügung gestellt hat, wodurch die
Arbeit erheblich erleichtert werden konnte.
Schließlich wiederholen die Herausgeber ihren Dank an den Ernst Klett Verlag.
Die verantwortungsvolle Zusammenarbeit hat sich seit dem Erscheinen des ersten
Bandes weiterhin vortrefflich bewährt - vor allem mit Herrn Dr. Dieckmann,
Herrn Jaehnke und, ganz besonders auch bei den schwierigen Abschlußbemühungen
für den vorliegenden Band in den letzten Monaten, mit Frau Käthe Kurtz.
In begründetem Vertrauen auf einen gemäß der Planung erfolgreichen Fortgang
unseres Werks hoffen wir auf Kritik, das heißt die Hilfe derjenigen, die diesen
zweiten Band lesen und nutzen werden.

Heidelberg Im Namen der Herausgeber


im Juli 1975 WERNER CoNzE

V
Inhalt

Verzeichnis der Mitarbeiter VIII


Hinweise zur Benutzung IX
Abkürzungsverzeichnis X
Ergänzungen zum Verzeichnis der Quellenreihen und Sammelwerke KII
Ehre, Reputation 1
Eigentum 65
Einheit 117
Emanzipation 153
Entwicklung, Evolution 199
Fabrik, Fabrikant 229
Familie 253
Fanatismus :30:3
Faschismus 329
Feudalismus, feudal 337
Fortschritt 351
Freiheit 425
Friede 543
Geschichte, Historie. 593
Gcscllschoft, biirgerliche 719
Gesellschaft, Gemeinschaft 801
Gesetz 863
Gewaltenteilung 923
Gleichgewicht, Balance 959
Gleichheit 997
Grundrechte, Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte 1047

VII
Verzeichnis der Mitarbeiter

Redaktor des zweiten Bandes: WERNER CONZE


in Verbindung mit CHRISTIAN MEIER
Redaktion: HELGA REINHART (1970-1975), REINHARD STUMPF (1973-1975)

DIRK BLASIUS Einheit II.4-III


JOCHEN BLEICKEN Freiheit II.2
ÜTTO BRUNNER Feudalismus
WERNER CoNzE Fanatismus
Freiheit I. II.3. VIII
ÜTTO DANN Gleichheit
CHRISTOF DIPPER Freiheit IV. VII
ÜDILO ENGELS Geschichte III
HANS FENSKE Gewaltenteilung
Gleichgewicht
LOTHAR GALL Einheit I. II.4-III
KARL MARTIN GRASS Emanzipation
ROLi!' Gl{AW.Klt'l' Gesetz
HORST GÜNTHER Freiheit V
Geschichte IV
DIETRICH HILGER Fabrik
WILHELM J ANSSEN Friede
GERD KLEINHEYER Grundrechte
DIETHELM KLIPPEL Freiheit VI
REINHART KosELLECK Emanzipation
Fortschritt I. III-VI
Geschichte 1. V-VII
GERHARD MAY Freiheit III
CHRISTIAN MEIER Fortschritt II
Freiheit II.l
Geschichte II
ERNST .N OLTE Faschismus
HELGA REINHART Fanatismus
MANFRED RIEDEL Gesellschaft, bürgerliche
Gesellschaft, Gemeinschaft
KRISTA SEGERMANN Einheit II.1-Il.3
DIETER SCHWAB Eigentum
Familie
WOLFGANG WIELAND Entwicklung
FRIEDRICH ZUNKEL Ehre

VIII
Hinweise zur Benutzung

1. Zum Schriftbild
Nachgewiesene Quellenzitate stehen inKursivdruck, Zitate aus der Sekundärliteratur
in Normaldruck mit Anführungszeichen. Begriffe sind durch 'Häkchen' gekenn-
zeichnet, ebenso Wörter, die als solche hervorgehoben werden sollen. Die Bedeutung
von Wörtern und Begriffen steht in Anführungszeichen.

2. Zur Zitierweise
Um das Nachschlagen von Zitaten auch dann zu ermöglichen, wenn die kritische
Ausgabe nicht zur Hand ist, wird bei „Klassikern" (zum Begriffs. Bd. 1, XXIV
unter 3.1) und Lehrbuchverfassern von der inneren Zitierweise (nach Teil, Buch,
Paragraph bzw. Band, Kapitel, Abschnitt) reichlich Gebrauch gemacht. In vielen
Fällen tritt sie auch zu der äußeren Zitierweise (nach Band und Seite mit Er-
scheinungsort und -jahr) hinzu.
Ist ein Werk streng systematisch gegliedert, kann die innere Zitierweise abgekürzt
werden, z. B.
FnANOIS BACON, T.he Advancement of Learning 1, 7, 3 = Buch 1, Kap. 7, § 3.
Entspreeheml künnen abgekürzte (a) und ausführliche (b) innere Zitierweise in
einer einzigen Belegformel miteinander gekoppelt werden, z. B.
(a) Huao GROTIUS, De iure belli ac pacis 2, 4, 2, hg. v. B.J.A. de Kanter-van Hettinga
Tromp (Leiden 1939), 172.
SAMUEL PUFENDORF, De jure naturae et gentium 2, 5, 9 (1688; Ndr. Oxford, London
1934), 191.
(b) KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre,§ 49, Allg. Anm. D [=innere Zitierweise].
AA Bd. 6 (1907), 329 [=äußere Zitierweise].
Bei der äußeren Zitierweise stehen Erscheinungsort und -jahr in Klammern; auf die
Klammer folgt, durch ein Komma abgeLrennt, die Seitenzahl ohne nähere Kenn-
zeichnung. Mehrere Seitenzahlen werden durch Punkte voneinander getrennt.
Antilee Autoren werden auf die in der Altphilologie übliche Weise zitiert, z.B.
PLATON, Pol. 445 d; 587 d.
Zeitschriftentitel werden lesbar abgekürzt. Die dabei verwendeten Abkürzungen
finden sich im allgemeinen Abkürzungsverzeichnis (S. X ff.).
Die im Verzeichnis der benutzten Quellenreihen, Sammelwerke und Werkausgaben
(Bd. 1, 925 ff. u. Ergänzungen in diesem Band S. XII) und in der Bibliographie der
Lexika, Wörterbücher und Nachschlagewerke (Bd. 1, 930 ff.) aufgeführten Titel
werden unter den dort genannten Siglen abgekürzt zitiert, d. h. ohne Herausgeber
und Erscheinungsort.

3. Sonstiges, Register
Zur Modernisierung deutscher Quellenzitate ab 1700 s. Bd. 1, XXV unter 3. 4.
Die manchen Artikeln am Ende beigegebene Literaturangabe beschränkt sich auf
begriffsgeschichtliche Literatur im engeren Sinne.
Der letzte ~and wird umfangreiche Namens- und Begriffsregister enthalten, die
das in den Artikeln vorgelegte Quellenmaterial erschließen.

IX
Abkürzungsverzeichnis

Hier nicht angeführte Abkürzungen s. Verzeichnis der Quellenreihen und Sammel-


werke (Bd. 1, 925, und Ergänzungen S. XII).
AA Akademie-Ausgabe dass., ders., dasselbe, derselbe, die-
abgedr. abgedruckt (bei) dies. selbe
Abg. Abgeordneter d. Gr. der Große
Abg.-Hs. Abgeordnetenhaus d. i. das ist
Abh. Anhandlung, -en Dict. Dictionnaire, Dictionary
Abschn. Abschnitt Dig. Digesten
Abt. Abteilung Diss. Dissertation
Ac. fran9. Academie fran~:oise dt. deutsch
(-9aise) ebd. ebenda
ahd. althochdeutsch ed., ed. editio, edition, edition;
Aka.d. Akademie editor, editeur
allg. allgemein, -e eingel. v., eingeleitet von,
ALR Allgemeines Land-Recht Einl. Einleitung
für die Preußischen Enc., Enz. Encyclopädie, Enzyklo-
Staaten pädie, Encyclopaeilia,
Anh. Anhang Encyclopedie etc.
Anm. Anmerkung engl. englisch
Arch. Archiv Erg. Bd., Ergänzungsband, -heft
Art., art. Artikel, articulus, article Erg.H.
Aufl. Auflage erw. erweitert
Aufs. Aufsätze etym. etymologisch
Ausg. Ausgabe europ. europäisch
ausg. ausgewählt ev. evangelisch
Ausg.Abh. Ausgewählte Abhand- f., ff. folgende
lungen f. für
Ausg. Sehr. Ausgewählte Schriften Forsch. Forschung, -en
Ausg. Werke Ausgewählte Werke Forts. Fortsetzung
bayr. bayerisch Fragm. Fragment, -e
Bd., Bde. Band, Bände franz. französisch
bearb. bearbeitet Frh. Freiherr
Beih. Beiheft, -e Fschr. Festschrift
Beitr. Beiträge GBl. Gesetzblatt
bes. besonders gedr. gedruckt
betr. betreffend gen. genannt [bei Namen]
Bibl. Bibliothek gen. general, -e
Bl., Bll. Blatt, Blätter germ. germanisch
Br. u. Sehr. Briefe und Schriften germanist. germanistisch
c. capitulum, chapitre, Ges. Gesellschaft
chapter ges. gesammelt
ca. circa Ges. Abh. Gesammelte Abhand-
CIC Corpus iuris canonici lungen
Conv. Lex. Conversationslexikon Ges. Aufs. Gesammelte Aufsätze

X
Ahkürzungsyerzeichnu

Gesch. Geschichte NF Neue Folge


geschr. geschrieben [bei Datic- nhd. neuhochdeutsch
rungen] niederl. niederländisch
Ges. Sehr. Gesammelte Schriften nord. n'ordisch
GLA Generallandesarchiv· Nr. Nummer
griech. griechisch o.J. ohne Jahr
Grundr. Grundriß o.O. ohne Ort
GSlg. Gesetz( es )sammlung o. s. ohne Seite
GW Gesammelte Werke ökon. ökonomisch
H. Heft, -e· österr. österreichisch
Habil.-Schr. Habilitationsschrift p. page, pagina
Hb. Handbuch päd. pädagogisch
hg.v.. herausgegeben von philol. ·Philologie, Philology,
hist. historisch, historique, philologisch, philo-
historical logique, philological
HStA Hauptstaatsarchiv philos., phil. philosophisch, philoso-
Hwb. Handwörterbuch phicus, philosophique
i. A. im Auftrag Philos. Philosophie
idg. indogermanisch polit. politisch, politique, poli-
Inst. Institut tical
internat. international poln. polnisch
ital. italienisch preuß. preußisch
Jb., Jbb. Jahrbuch, Jahrbücher Progr. Programm
Jber. Jahresbericht, -e prot. protestantisch
Jg. Jahrgang ps. pseudo- [bei Namen]
jur. juristisch qu. quaestio
Kap. Kapitel R. Reihe
kath. katholisch Realenc., RE · Realencyclopädie
kgl. königlich Reg. Regierung
Kl. Klasse [bei Akademie- rev. revidiert
abhandlungen] Rev. Revue, Review
Kl. Sohr. Kleine Schriften Rez. Rezension
Konv. Lex. Konversationslexikon RGBl.(l.) Reichsgesetzblatt,
lat. lateinisch -blätter
Lex. Lexikon rhein. rheinisch
Lfg. Lieferung romanist. romanistisch
Lit. Literatur russ. russisch
luth. lutherisch s., s.o., s. u., siehe, -oben, -unten, -dort
mhd. mittelhochdeutsch s. d.
Mitt. Mitteilungen s. Seite
Mschr. Maschinenschrift(lich) sächs. sächsisch
Nachgel. Nachgelassene Schriften, sämtl. sämtliche
Sehr., -Werke, -Papiere Sb. Sitzungsbericht, -e
-Werke; SC. ergänze
-Papiere Sehr. Schrift, -en
Ndr. Nachdruck, Neudruck Schr.u. Schriften und Fragmente
neolog. neologisch Fragm.

XI
Ahkiinrungsvcrzcicbnis

schweiz. schweizerisch Übers., übers. Übersetzung, übersetzt


Sekt., sect. Sektion, sectio(n) u.d. T. unter dem Titel
Ser., ser. Serie, serie ung. ungarisch
Slg. Sammlung Unters. Untersuchungen
SozÖk. Sozialökonomik unv. unverändert
SozWiss. Sozialwissenschaften v.,vv. Vers, -e
Sp. Spalte Verh. Verhandlungen
span. spanisch Veröff. Veröffentlichung, -en
StA Staatsarchiv Vers., -vers. Versammlung
Sten.Ber. Stenographische(r) Vjbll. Vierteljahresblätter
Bericht(e) Vjh. Vierteljahresheft, -e
Suppl. (Bd.) Supplement, Vjschr. Vierteljahr( es )schrift
Supplementband vol., voltl. volume, volumes
s. V. sub verbo WA Weimarer Ausgabe
sw Sämtliche Werke Wb. Wörterbuch
synon. synonymisch westf. westfälisch
t. tome, tomus wiss., Wiss. wissenschaftlich, Wissen~
theol., theol. theologisch, theologique, schaft, -en
theologie z. Zeile
Theol. Theologie zit. zitiert (bei)
Tit. Titel Zs. Zeiischl'ift
Tl. Teil

Ergänzungen zum Verzeichnis der Quellenreihen


und Sammelwerke (vgl. Bd. 1, 925)

CC Ser. Lat. Corpus christianorum, Series Latina (Turnhout 1953 ff.)


DLE [Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen.] Deutsche Literatur.
Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwick
lungsreihen, hg. v. Heinz Kindermann, 26 Reihen, 110 Bde. [unvoll
endet] (Leipzig, später Stuttgart 1928-1950; Ndr. der meisten
Bde. Darmstadt 1964 ff.)
Sten. Ber. Dt. Nationalvers.
Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen
constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hg. v.
Franz Wigard, 9 Bde. (Frankfurt 1848-1849)

XII
Ehre, Reputation

I. Einleitung. II. 1. Germanisch-deutsche Wurzeln des Ehrbegriffs. 2. Die christlich-antike


Tradition. 3. Der Begriff der ständischen Ehre. a) Der Begriff der adlig-ritterlichen Standes-
ehre. b) Der Begriff der bäuerlichen Standesehre. c) Der Begriff der bürgerlichen Standes-
ehre. d) Der Begriff der Ehrlosigkeit. 4. Reputation und höfische Ehre. 5. Ehrbarkeit und
innere Ehre. 6. Der Begriff der bürgerlichen Ehre. 7. Durchsetzung des Begriffs der bürger-
lichen Ehre im 19. Jahrhundert. 8. Die Auflösung der ständischen Ehrbegriffe. a) Adlige
Ehre. b) Ritterliche Ehrenwahrung: das Duell. c) Geltungsverlust des Begriffs der hand-
werklichen Ehrlichkeit. d) Wandlung des Ehrbegriffs beim Bürgertum. 9. Ehre, Reputation
und Prestige im Fürsten- und Nationalstaat. a) Reputation im Fürstenstaat. b) Ehre in der
inneren Staatsverfassung. c) Begriff der nationalen Ehre. III. Ausblick.

1. Einleitung
Das ahd. Wort era scheint aus der Gefolgschaftssphäre zu stammen, aber auch
früh auf das Verhältnis des Menschen zu Gott bezogen worden zu sein. Es hat
daher eine doppelseitige Bedeutung: einmal als Ehrerbietung oder Ehrung, ver-
dinglicht auch als Gabe, die der Mensch Gott oder einem weltlichen Herrn dar-
bringt, andererseits als Ansehen, Anerkennung, Würde, Glanz, die Gott bzw. der
Herr besitzen1.
Etymologisch sind damit verwandt agti. är (Wohltat, Ehre, Glück), anord. eir
(Schonung, Friede), die über got. aistan (sich vor jemand scheuen, ihn achten)
und *aiza (Scheu, Achtung) auf die idg. Wurzel *ais- (ehrfürchtig sein, verehren)
zurückgehen. Auch besteht ein Zusammenhang zu griech. ai~oµai (scheuen, ver-
ehren) und al&b, (Ehrfurcht, Scheu) und zu sanskr. arg (würdig sein) 2 •
Ahd. era entsprach im Lateinischen nach den frühen Glossen gloria, decus, re-
verentia, vor allem aber der Begriff 'honos' 3 , der vorzüglich bei CICERO die Bedeu-
tung einer öffentlichen Anerkennung - auch in Gestalt von Staatsämtern -
durch die Mitbürger aufgrund von virtus hatte3a. Auf ihr beruhte die dignitas, die

1 FRIEDRICH MAURER, Zum ritterlichen Tugendsystem, Dt. Vjschr. 24 (1950), 526; ders.,

Tugend und Ehre, Wirkendes Wort 2 (1951/52), 75. Vgl. auch Hwb. z. dt. Rechtsgesch.,
Bd. 1 (1971), 846 f.
2 KLuGE/MrrZKA 20. Aufl. (1967), 153.

3 Vgl. FRIEDRICH KLosE, Die Bedeutung von honos und honestum (phil. Diss. Breslau

1933), 22 ff. 86 ff.; WILHELM KoRFF, Ehre, Prestige, Gewissen (Köln 1966), 14 ff. Honos
entsprach bei ARISTOTELES, Nikomachische Ethik 1095 b 24 ff. 1123 b 35 die nµfi, die
jemandem für seine deerfi gezollt wurde. Entsprechend verstand THOMAS VON AQUIN,
Summa theologiae 2,2, qu. 131, art. 1 ad 2 die Ehre als praemium virtutis.
aa In kritischer Auseinandersetzung mit Klose befindet sich eine jüngere Untersuchung:
HANS DREXLER, Honos (1961 ), in: Römische Wertbegriffe, hg. v. HANs ÜPPERMANN (Darm-
stadt 1967), 446 ff. Einig sind sich beide Autoren darin, daß 1) von 'honos' eine Versitt-
lichung ferngehalten werden müsse - wobei man allerdings den „moralitlchen" Aspekt
nicht vergessen sollte; denn der Geehrte entspricht einem geprägten civis-Ideal, dessen
Werthaftigkeit sich zwar nicht nach einer absoluten, aber nach einer „gesellschaftlichen"
Moral mißt, deren Relationen die salus rei publicae setzt-, und daß 2) honos ein iudicium
civium sei: Cum honos sit praemium virtutis iudwio studioque eivium delatum ad aliquem,

1-00386/l 1
Ehre · Il. 1. Germanisch-deutsche Wmzeln

Würde einer besonderen sozialen Stellung und Geltung 4 • Seit NOTKER (um 1000)
rückte ahd. era dem lateinischen 'honestum'' das eine philosophisch-ethische
Bedeutung hatte, nahe 5• Doch behielt auch noch das mhd. ~re bis zum 13. Jahr-
hundert die Bedeutung von „Ansehen", „.Anerkennung", „Geltung", „Würde".
Allerdings wurde es meist mit dem vorausgesetzten mhd. tugent gebraucht. Erst
dann flossen in den Begriff 'Ehre' und sein Wortfeld auch moralische (innere)
Bedeutungs- und Wesensformen ein 6 • Seitdem wurde 'Ehre' nichtnurinder Doppel-
sinnigkeit als Akt des Ehrenden oder als dessen Objektivierung verstanden, sondern
auch in die beiden - an sich auf das engste mitein,ander verknüpften - Aspekte
einer sehr individuell-ethischen oder mehr sozial-rechtlichen Bedeutung ge-
schieden7.
Lateinisch 'reputatio' hatte ursprünglich die Bedeutung von „Erwägung", „Be-
rechnung". Im christlichen Latein wurde es im Sinne von „Anrechnung", 're-
puta.ri:1' im Sinne von „jomcmd otwao anrechnen" gebraucht (Tertullian), jedoch
im moralisch ganz neutralen Sinne. Seit dem 13. Jahrhundert wurde 'reputare'
in das mfranz. in der Bed~utung von „halten für" (tenir, estimer, croire qu'une
chose ~tre teile}, seit dem 14. Jahrhundert entsprechend das Substantiv 'reputatio'
als „Ansehen", „gute Meinung" (renommee, bonne opinion que lfl pnhlin 11. de qn„
de qch.) übernommen. In dieser Bedeutung fand dann auch das mfranz. und
nfrz. 'reputation' seit Ende des 16. Jahrhunderts .ll:ingang in den deutschen Sprach-
gebrauch8.

II.

1. Germanisch-deutsche Wurzeln des Ehrbegriffs

Nach den uns überlieferten Zeugnissen, die trotz der Differenz der Jahrhunderte
und der Entwicklungsstufen bei West-, Ost- und Nordgermanen im ganzen über-
einstimmende Ehrauffassungen zeigen, war die Ehre dem Germanen höchster

qui eum sententiis, qui suffragiis adeptus est, i8 mihi et h<:mestus et honoratus videtur, CICERO,
Brut. 281. 'Honm1' ist in Rom-wenngleich es sich auf alles anwenden läßt, das Wert be-
sitzt - vor allem ein zentraler politischer Begriff; zur Problematik des Begriffs 'virtus'
vgl. .KARL BÜCHNER, Altrömische und Horazische virtus (1939), in:. Römische Wert-
begriffe, 376 ff.
4 Nach KLOSE, Honos und honestum, 96 f. stellte die dignitas „das unserer 'Ehre' analoge

Grundprinzip der ideellen Existenz des Römers" dar. Zum Begriff 'dignitas' vgl. die aus-
führliche Untersuchung von HANS DREXLER, Dignitas, in: Das Staatsdenken der Römer,
hg. v. RICHARD KLEIN (Darmstadt 1966), 231 ff; Die Arbeit zu diesem zentralen politischen
Begriff in Rom ist für ein Begriffsverständnis der deutschen Begriffe 'Würde', 'Prestige'
und nicht zuletzt 'Ehre' interessant und anregend.
6 KLosE, Honos und honestum, 104 ff. Dem honestum, entsprach das griech. uocMv.
8 MAURER, Tugend und Ehre, 75 IT.
7 Zu den verschiedenen Bedeutungsinhalten des Wortes vgl. GRIMM Bd. 3 (1862), 54 ff.;

TRÜBNER Bd. 2 (1940), 133 f.; RuTH KLAFPENBACH u. WOLFGANG STEINITZ, Wörterbuch
der deutschen Gegenwartssprache (Berlin 1964), 915.
8 FEW Bd. 10 (1962), 281.

2
II. 1. f'..r.rmaniflllh·deutsche Wurzeln -Ehre

Wert und wesentliche Ordnungsgrundlage seines Daseins9 • Inhaltlich war sie be-
stimmt durch die Achtung, die der einzelne rechtsfähige J!'reie bzw. seine Familie,
Verwandton oder wohl auch die Sippe bei Gefolgi:mhR.ft, Stamm oder Volk genossen.
Zweüellos gebunden an traditionell bestimmte Geltungs- und Verhaltensnormen,
beruhte sie doch weniger auf vornehmer Geburt und Besitz als vielmehr auf per-
sönlicher Fähigkeit und Tüchtigkeit10, auf kriegerischer Tapferkeit und Treue.
Deren Bewährung zog Ehre, ihr Fehlen Schande nach 1:1ich11• Doch deckten sich
persönliche Tüchtigkeit und vornehme Geburt in der germanischen Heldendichtung
weitgehend, wohl weil das eine ohne das andere nicht denkbar erschien. Dem Be-
sitzer beider wurde daher besondere Achtung entgegengebracht, die derart aus-
gezeichnete große Persönlichkeit als höchste Steigerung eines gemeinsamen Ideals -
empfunden12 •
:Bei den Nordgermanen 1:1cheint der Ehrbegriff in einzeluen Sn.gM -vorzüglich in der
Gisla- und ThorRt.eirniaga - bereits eine sittliche Vertiefung erhalten zu haben13.
Die Begriffe 'drengskapr' (etwa „Mannesart") oder 'drengr godr' („Ehrenmann"
im Sinne von Mann mit Ehrbewußtsein) gehen bereits über die Auffassung von
'Ehre' als Achtung durch die Gemeinschaft hinaus. In ihnen gewann 'F.hre' mehr-
fach den Sinn von Ehrenhaftigkeit, d. h. der allein durch das eigene sittliche Ver-
halten verliehenen Würde. Doch scheint noch keine bewußte Scheidung dieses
„individuellen" vulll gesellschaftlichen Ehrbegriff vollzogen worden zu sein, dessen
überragende Bedeutung sich im Verlangen nach Vergeltung auch der geringsten
Ehrverletzung r.eigte. Eingriffe in fremde Rechte, Mißachtung des Wertes der
eigenen oder auch nur einer verwandten Person bedeuteten Minderung der Ehre,
die nicht ungesühnt bleiben durfte. Neben der Vergeltung diente die Zurückweisung
von Überhebung und Überordnung über andere zugleich auch der Erhaltung von
Recht und Freiheit der eigenen Person und damit auch in der Gemeinschaft1 4.
Daher mußte auch der Schwächere um so empfindlicher, konnte der Stärkere um so
großmütiger reagieren. Als unerträglich wurde eine erlittene Schande empfunden.
Besser ist der. Tod als ein Leben in Schande, heißt es im „Beowulfslied" von den
Gefolgsleuten König Beowulfs, die ihren Herrn im Kampfe schmählich verlassen
hatten15 . Vor dem absoluten Ehrgebot - als 'wewurt' (Wehschicksal) bezeichnet -
zerbrachen alle menschlichen Bande, wie der tragische Konflikt des Hildebrand-

9 HERMANN SCHNEIDER, Germanische Altertumskunde (München 1951), 215: „Der höch-

ste Besitz des Germanen und der entscheidende Maßstab für alles, was er tat und ließ, war
seine Ehre und der Ruhm, der ihn überleben sollte."
10 Duces ex virtute sumunt; ... duces exemplo potius quam imperio ... admiratione praesunt,

TAcrrus, Germ. 7, 1. Vgl. dazu HERMANN CoNRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl.,


Bd. 1 (Karlsruhe 1962), 18.
11 Zuerst bei TACITUS, Germ. 14, 1.

rn WALTHER GEHL, Ruhm und Ehre bei den Nordgermanen (Berlin 1937), 23.
13 Vgl. ebd., 83- ff. 120. Dieser Ehrbegriff r.eigt Rich z. B. beim_ Kampf zwischen Thorstein

und Bjarni in der Thorsteinsaga.


14 Vgl. HANS REINER, Pflicht und Neigung (Meisenheim 1951), 32 ff.
15 Deao bio s~lla eorla gehwylcum ponne edwf,tl'i,f I BEOWOLF, vv. 2890f., ed. Fr. Klaeber, 3rd.

ed. (Boston 1936), 108. '


Ehre ß. 2. Christlich-antikti Tradition

liedes zeigt, in dem der Vater mit dem Sohn kämpfen und ihn töten muß, um
seine Ehre gegen den Vorwurf der Feigheit zu verteidigen16•
Aus der Rad1esitte und der Bereitschaft, für die Ehre auch das Leben einzusetzen,
erwuchs schon bei den Germanen als außergerichtlich erlaubte Selbsthilfe der
private Zweikampf. Die Islandsaga kannte den sogenannten Holmgang17, durch
den Streitigkeiten aller Art ausgetragen wurden. Für ihn gab es bestinimte Regeln,
die zugleich die rechtlichen Folgen des Ausgangs festlegten 18• Er erhielt dadurch
über den Nachweis der Tapferkeit und damit rler Ehrhaftigkeit hinaus den Charak-
ter einer Rechtsentscheidung, die mit dem Sieg der einen Partei den Rechtsstreit
endgültig entschied.

2. Die christlich-antike Tradition

Dem Christentum liegt der Ehrgedanke einer im menschlichen Dasein wurzelnden


persönlichen Würde, deren Wahrung in der Gemeinschaft eine sittliche Forderung
ist, ursprünglich völlig fern. Doch sollte ihm die auf Römer 2, 14-16 fußende
Lehre vom natürlichen Sittengesetz, erstmalig von JusTINUS MARTYR im 2. Jahr-
hundert formuliortlD, im Laufe der Zeit erla.ubeu, Ele.urn11w der antiken und dann
auch der germanischen Sittenlehre aufzunehmen. Ursprünglich kannte das Christen-
tum den Begriff der Ehre aber nur in dem Verhä.ltnis des Menschen zu Gott. Er
galt einmal im Sinne der <5o;ac ev v'V'l<11:ot' fJsip, der gloria in altissimis Deo, der Gott
durch den Gläubigen darzubringenden Ehrerweisung, in dem der seit dem Ende
der römischen Republik sich allmählich· von der Verknüpfung mit dem Staats-
wohl lösende und individualisierte Gloria-Gedanke seine letzte Entwicklungsstufe
fand 20 • Dieser erlegte dem Christen auch auf, Gott im Mitmenschen als „imago
Dei" - und zwar unabhängig von Geburt, Besitz, Tugend usw. - zu ehren, wofür
die Bibel im Lateinischen den Begriff 'honor' verwendete. Omnes honorate, heißt es
im 1. Petrusbrief2 1, dessen Gebot u. a. auch in die für das Mönchtum so wich-
tige Benediktiner-Regel Aufnahme gefunden hat 2 2. Zum andern aber brachte die
Erfüllung des göttlichen Gebots dem Gläubigen auch honor bei Gott. Ihn zu suchen,
wurde dem Gläubigen geboten. Während jedes selbstsüchtige Streben nach An-
sehen und Ehre in der Welt vom Christentum als eine Gefahr für das Seelenheil
des Menschen angesehen und darum bekämpft wurde 23 , verhieß PAULU8, daß

18 Hildebrandslied, in: Althochdeutsches Lesebuch, hg. v. WILHELM BRAUNE, 15. Aufl..

{Halle 1969), 84 f.
17 'Holm' bezeichnet eine kleine Insel, auf der die Zweikämpfe gewöhnlich ausgetragen

wurden.
18 REINER, Pflicht und Neigung, 56 f.; HANS FEHR, Der Zweikampf (Berlin1908), 5 f. 42;

vgl. auch CONRAD, Rechtsgeschichte, Bd. 1, 29 f.


19 REINER, Pflicht und Neigung, 299. Allerdings gebrauchte Justinus noch nicht den Aus-

druck 'Naturgesetz'.
20 Luk. 2, 14. Gloria Dei, die <56;ac fJsov, war die Ehre Gottes im Sinne seiner Herrlichkeit.
21 Nach der Vulgata, die der mittelalterlichen Kirche den maßgebenden Bibeltext lieferte,

heißt es dort: 0m'M8 honorate: fraternitatem diligite: Deum timete, Re,gemhonorifi<;ate (2,17).
22 Regula St. Benedicti 4, hg. v. BASILIUS STEIDLE (Beuron 1952), 110.
2 a Vgl. Luk. 14, 7 ff.; Joh. 5, 44; Phil. 2, 3.

4
D. 3. Ständische Ehre Ehre

ii quidem, qui secundum patientiam boni operis, gloriam et honorem et incorruptionem


quaerunt, vitam aeternam gewinnen würden~ 4 • .Ver Uedanke emer von älillerlicher
Rlm~ viillig oder weitgehend abg~lösten, im tugendhaften Leben des Individuums
sich verwirklichenden Sittlichkeit zeigt sich bereits in PLATONS Preis der &u(ICt0Gvv71,
in der Stoa bei EPIKTET und in der µeyrxl.01pvxt(IC des ARISTOTELEs 25 • Die letztere
wurde in ihrer römischen Ausprägung als magnitudo animi und magnanimitas
von der christlichen MuralLheologie übernommen, ebenso wie das dem griechischen
urxl.ov angepaßte honestum bei CIOER0 26 • In der philosophischen Theorie als die
absolute moralische Norm, das sittlich Gute schlechthin verstanden, gewann es im
römischen Alltag jedoch keine von 'honos', d. h. vom sozialen Bereich der Ehre
losgelöste Bedeutung2 7. Diese Verknüpfung beider Begriffe lösten erst christliche
Autoren, wie AUGUSTIN zeigt, die :r.ugleich den Gegensat:r. :>.wischen der persönlichen,
alleiu GuLL vemnLworLlichen Sittlichkeit des Menschen rmd dem bedeutungslos
gewordenen Reflex in der Welt herstellten 28 • Der christliche Ehrbegriff stand
damit in scharfem Gegensatz zur germanischen Tradition, mit der die christliche
Mission des frühen und auch noch des hohen Mittelalters erst langsam eine Ver-
schmelzung herbeizuführen vermochte 29 •

3. Der Begriff der ständischen Ehre


Mit den im frühen und hohen Mittelalter sich vollziehenden sozialen Umschichtun-
gen, die den Gegensatz von Freien und Unfreien weitgehend nivellierten, ursprüng-
lich unfreie Schichten wie die Ministerialen aufsteigen, bisher freie Gruppen aber
absinken ließen und allmählich die soziale Schichtung in die - selbst wieder vielfach
untergliederten und abgestuften - weltlichen Stände des Adels, der Bauern und
der Bürger sowie von Untergruppen minderen Rechts herbeiführten, vollzog sich
auch eine geburts- und berufsständische Auffächerung des kollektiv-öffentlichen
Ehrbegriffs. Sprachlich fand sie in der Aufgliederung der ehrenden Titularien, z. B.
'edel' und 'vest' für den Adligen und 'ehrbar' und 'weis' für den Bürger, ihren Aus-
druck30. In den sich gegenseitig ergänzenden und voraussetzenden Ehrbegriffen
ging die in der Unbescholtenheit des einzelnen ihren Ausdruck :findende allgemeine
Ehre auf. Ehrlosigkeit bedeutete jetzt Verlust der Standesrechte. Bestimmt war
die Ehre, die der einzelne Geburts- und Berufsstand - und mit ihm jeder ihm an-
gehörende Standesgenosse - in der ständischen Ordnung genoß, ebenso durch die
besondere Rang- und ;Rechtsstellung, die er in der hierarchisch geordneten Gesamt-

24 Römer 2, 7; vgl. Joh. 12, 26: Si quis mihi ministraverit, honorificabit eum Pater meus.
20 PLATON, Pol. 2, 9; EPIKTET, Enchiridion 23, 28; ARISTOTELES, Nik. Eth. 4, 7.
28 Vgl. KoRFF, Ehre, Prestige, Gewissen, 16 ff.
27 Vgl. die Definition von 'honestum' bei CICERO, Off.1, 4, 14; 3, 11 ff.; ders., Fin. 2, 14, 45;

3, 21, 71; KLOSE, Honos und honestum, 104 ff. Den Übergang zwischen 'honos' und 'ho-
nestum' vermittelte das Wort 'honestas'.
2 s Dagegen verknüpfte THOMAS VON AQUIN in seinem christlichen Tugendsystem unter

Aufgreifen des Begriffes 'honestas' das sittliche Gute wieder stärker mit dem sozialen Be-
reich der Ehre; S. th. 2,2, qu. 63, art. 3. 145. -
29 Verdeutlicht wird dieser Prozeß durch die ahd. christliche Literatur wie etwa Heliand,

Muspilli u. a.
ao GRIMM Bd. 3 (1862), 25. 53; Bd. 12/2 (1951), 17; Bd. 14/1, 1(1955),1025.

5
Ehre Il. 3. Ständische Ehre

gesellschaft einnahm, wie durch die mitdem speziellen Beruf verknüpften rechtlichen
und sittlichen Normen, auf deren sorgfältige Beachtung ständische Ehrenkodizes
und christliche Berufsethik hinwirkten. Doch wurden diese mit der Rechts- und
Sittenordnung gegebenen Beurteilungskriterien durch die subjektiven Einschät-
zungen der einzelnen Stände vielfach differenziert, ebenso wie auch innerhalb der
Stände Abstufungen der Ehrenstellung zur Geltung kamen.

a) Der Begrift' der adlig-ritterlichen Standesehre. Der Ehrbegriff des vielschichtig


gegliederten mittelalterlichen Hoch- und Niederadels wird vorzüglich gekennzeich-
net durch die die Wirklichkeit überhöhenden Zeugnisse der ritterlich-höfischen
Kultur, deren Anliegen die Harmonisierung germanischer und christlicher Traditio-
nen in dem idealen Menschenbild des „miles christianus" war 31 • In Anlehnung an
die ciceronische Wertordnung des utile, honestum und summum bonum wurden
'guot', 'ere' im Sinne von „honos" und „gotes hulde" 32 , denen als Gegensätze Schade,
Schande und Sünde gegenüberstanden, zu den Grundlagen eines vollkommenen
Lebens, zugleich aber Ausdruck der das Leben des Edelmanns beherrschenden
Spannung zwischen Gott und Welt. So dichtete FREIDANK (nach 1225): Ein man
sol guot und €re bejagen und doch got in sinem herzen tragen 33 •
Dieses Leitbild blieb trotz des partiellen sozialen Niedergangs im niederen Adel
und des damit ve.rbundenen Verfalls ritterlicher Sitte seit dem 14. Jahrhundert
in Dichtung und Chronistik der spätmittelalterlichen Höfe erhalten34 • Nach PETER
SucHENWIRT (2. Hälfte des 14. Jahrhunderts) galt selbst für den arbeitslosen
Ritter, der Kriegsdienst suchte, noch der ethische Anspruch, um Gottes und der
Ehre willen Lohn zu nehmen 35 • Doch erkannte schon WALTER VON DER VoGEL-
WEIDE den Widerspruch zwischen dem Anspruch der christlichen Berufsethik,
die dem Ritterdienst - verstanden als eine göttliche, der „vita activa" auferlegte
Pflicht zum Dienst an der Menschheit - die Aufgabe zuwies, allein um des Friedens
und der Gerechtigkeit willen das Schwert zu führen 36 , und der Wirklichkeit des

31 Ein einheitlicher Ritterstand als Träger der höfischen Kultur der Stauferzeit läßt sich

nicht nachweisen. Vgl. JoAOHIM BUNKE, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahr-
hundert (Heidelberg 1964), bes. 130ff.; teilweise in kritischer Distanz dazu HANS GEORG
REUTER, Die Lehre vom Ritterstand (Köln, Wien 1971), bes. 167ff.
32 Von einer Übereinstimmung des ciceronischen 'honestum' mit dem mittelalterlichen

'ere', wie sie GUSTAV EHRISMANN, Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems, Zs. f. dt.
Altertum 56 (1919), 141. 147. 159 vertrat, kann keine Rede sein; 'ere' bezeichnet nur das
.Ansehen in der Welt oder bei den Standesgenossen.
33 FREIDANK, Bescheidenheit, hg. v. H. E. Bezzenberger (Halle 1872), 93. 22. Ähnlich

WOLFRAM, Parzival 827, 19-14; EILHART VON ÜBERGE, Tristan, vv. 3113ff., hg. v.Franz
Lichtenstein u. a. (Straßburg 1877); SPERVOGEL, 29, 34-30, 3, in: Des Minnesangs Frühling,
hg. v. CARLV. KRAus,33.Aufi. (Stuttgartl962),27; wALTHERVONDER VoGELWEIDE,22,24ff.
34 Wie JoHAN HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, 8. Aufl. (Stuttgart 1961), 85 ff. 103 ff.

126 ff. zeigt, legten die meisten französischen Chronisten des 14. u. 15. Jahrhunderts ihrer
Darstellung ein Ritterideal zugrunde, das in der Realität nicht existierte. ·
36 PETER SuoHENWIRT, zit. HERMANN GUMBEL, Deutsche Kultur vom Zeitalter der My-

stik bis zur Gegenreformation (Potsdam 1936), 24.


36 Vgl. BERTHOLD VON REGENSBURG, Predigten, hg. v. Franz Pfeiffer, Bd. 1 (Wien 1862),

363 f.; ähnlich JOHANNES VON SALISBURY, .Policraticus 5, 7. 10; FRANZ PFEIFFER, Drei
Minoritenprediger (Wien o. J.), 99.

6
a) Adlig-riuerliche Standesehre Ehre

adlig-ritterlichen Lebens, wenn er resigniert feststellte: Ja leider desn mac niht


gesin J Daz guot und weltlich &e J und Gotes hulde m€re J zesamene in ein herze komen 37 •
In der Auflösung dieses Widerspruchs wurde die Ehre, die auch weiterhin im Sinne
von Ansehen, Achtung, gutem Namen ve_rstanden wurde, das eigentliche Kern-
stück höfisch-ritterlichen Handelns und Denkens, dem auch christliche Gebote
untergeordnet wurden. Trotzdem als christlich aufgefaßt, konnte das Leben des Edel-
manns dann doch nur bei den eigenen Standesgenossen Anerkennung finden 38 •
War das „guot" gegenüber den beiden anderen Grundwerten auch von geringerer
Bedeutung39, so blieben doch Reichtum und Macht wichtige Quellen werltlicher
€ren vil (GOTTFRIED VON 8TRASSBURG) 40 • Armut galt dem höfischen Dichter da-
gegen als Schmach41 •
Die wesentliche Grundlage der Ehrenstellung des Adligen waren sein Eigen, das
Lehen, das .Amt und die damit verbundenen Rechte und Einkünfte. Mit diesen
Herrschaftstiteln verband sich der Begriff .'honor', der in der römischen Kaiserzeit
höhere Ämter bezeichnet hatte 42 • Seit den Karolingern als Bezeichnung für „Amts-
lehen" verbreitet 43, bedeutete er im Konstanzer Vertrag (1153), in dem sich Kaiser
und Papst gegenseitig Achtung und Verteidigung des „honor papatus" bzw. des
„honor imperii" zusicherten, allgemeine Hoheitsrechte 44 • 1521 sprach KARL V. von
der Ehr und Würde des Heiligen Römischen Reiches, zu der er erwählt sei 45 , und noch
in der Mitte des 18. Jahrhunderts hielt ZEDLER als Bedeutung des Begriffs 'Ehre'

37 WALTHER VON DER VOGELWEIDE, 8, 18 ff.


38 Vgl. ÜTTO BRUNNER, Adeliges Landleben und europäischer Geist (Salzburg 1949), 89.
Dagegen mußte der andere Weg, Gott über die ritterliche Ehre zu stellen, letztlich zum
Bruch mit den Konventionen des Ritterstandes und zu einem allein Gottes Ehre gewidme-
ten Leben führen. Das gilt für REINMAR VON ZWETER, Gedichte, vv. 76, 4 ff., hg. v. Gu-
stav Roethe (1887; Ndr. Amsterdam 1967), 449, für Wolframs „Parzival" mit Trevrizent,
für Hartmann von Aue mit dem „Armen Heinrich", für Rudolf von Ems mit seinem „Wil-
lehalm von Orlens".
39 WALTHER VON DER VoGELWEIDE, 23, 5 ff. selbst dichtet: wilt aber du daz guot ze sere

minnen, du maht Verliesen sele unt ere~ Ähnlich WINSBEKE, 28, 6 ff.; STRICKER, 12, 300 U. a.
40 GOTTFRIED VON STRASSBURG, Tristan und Isolde, v. 5703, hg. v. Karl Marold (Leipzig
1912), 85.
41 So bei WöLFRAM, Parzival 749, 24 ff.; KONRAD VON WÜRZBURG, Engelhard, vv. 270 ff„
hg. v. Moritz Haupt (Leipzig 1894); HAR'l'MANN, Gregorius, vv. 1665 ff., hg. v. Hermann
Paul (Tübingen 1953).
42 'Honor' als Bezeichnung für ein höheres Amt liegt das institutionalisierte Sjndrom von

officium (Amt), honor und dignitas in der republikanischen Zeit Roms zugrunde. Vgl.
WOLFGANG MAGER, Zur Entstehung des modernen Staatsbegriffs, Akad. d. Wiss. u. d.
Lit., Abh. d. Geistes- u. SozWiss. Kl., Mainz (Wiesbaden 1968), 433 f.; ARNOLD HuGH
MARTIN JONES, The Later Roman Empire 284-602. A Social, Economic and Admi-
nistrative Survey, vol. 1 (Oxford 1964), 383. Im frühen Mittelalter erschien 'honor' z. B.
in MG LL, Bd. 1 (1883), 288 f„ Nr. 2; Capitulare missorum 4, MG LL Form., Bd. l (1886),
66f.
43 Du CANGE t. 4 (Ndr. 1954), 228; HEINRICH MlTTEIS, Der Staat des hohen Mittelalters

(Weimar 1948), 77.


44 PETER RASsow, Honor imperii (München, Berlin 1940), 58 ff.
45 HERMANN ScHULTES, Die Ehrauffassung im Wandel der Gesellschaft, Gesch. in Wiss. u.

Unterricht 15 (1964), 541.

1
Ehre 11. 3. ~tllndi11:b4: Ehre

fest, daß er auch oft die Gerichtsbarkeit oder ein regale bezeichne und oft in Lehn-
briefen befindlich sei 46 •
Ebenso wie Macht und Reichtum wurde auch die edle Geburt seit fränkischer Zeit
Grundlage eines .Anspruchs auf höhere Achtung 47 • Allerdings war sie meist mit der
nach adligem Selbstverständnis angeborenen Bestimmung und Verpflichtung zur
Tugend verknüpft, die die Vereinigung der sittlichen und ästhetischen Werte der
ritterlich-höfischen Gesellschaft von moralischer Vortrefflichkeit und feinem .An-
stand inbegriff48 • .An seiner Tugend erkannte man den Edelgeborenen, im Gegen-
satz zum tugendlosen gemeinen Manne. So hieß es bei KONRAD VON HASLAU
(13. Jahrhundert): B1, zuht die edeln man ie kande; / unzuht ist noch gebiurisch
.~chande 49 , und KONRAD VON WÜRZBURG lehrte, daß die .dem Adel angeborene
Disposition zur „tugend" wichtiger sei als die Erziehung dazu50• Dieser Ansicht
stand die immer wieder vertretene christliche Auffassung entgegen, daß allein die
Tugend den Menschen adele. Sie wurde auch in der höfischen Dichtung verfoch-
ten61, verlor aber mit der geburtsständischen Abschließung des Adels in der 8tau-
ferzeit an sozialem Gewicht. Seine mehr oder weniger weitgehende Realisierung
fand der ritterliche Tugendanspruch allein in der Welt der mittelalterlichen Höfe,
wo seine Bewährung mit erhöhtem .Ansehen belohnt wurde 52 • Der ritterliche Ehr-
geiz fand daher im Hofdienst mit seinen sittlichen wie ästhetischen Lebemiformen
Verwirklichung 53• Dazu gehörten vor allem die „maze", die die Beherrschung der
Affekte und die temperantia der vier Kardinaltugenden einschloß, sowie die „Hohe

" 7.Rm.F.R. Rrl. R (1734), 419.


47In der „Lex Baiuvariorum" Tit. 3, 1, abgedr. in: Leges nationum Germanicarum 5, 2 (Han-
nover 1926), 312 f., heißt es: De genealogia qui rocantur Hosi lJrazza J!'agana Hahilinga An-
niona: isti sunt quasi primi post .A.g.flolfingos qui sunt de genere ducali. lllis enim duplum
honorem concedamus et sie duplam compositionem accipiant. Das galt selbst für den verkom-
menen Adligen am Ende des Mittelalters. So berichtet PETER VON ANDLAU: Wenn jemand
aus einem elenden Land- oder Bergsitz, besser gesagt aus einer Wolfshöhle hervorkommt und nur
einigermaßen durch die Herkunft seiner Vorfahren und Eltern auf .Adel .Anspruch machen
kann, so braucht er keine Tugend, keine Weisheit, keine Gelehrsamkeit zu besitzen, darf sogar
ein Räuber- und Lasterleben führen, er gilt doch für einen echten Edelmann und wird von an-
dern geehrt, zit. F. v. BEZOLD, Die „armen Leute" und die deutsche Literatur des späteren
Mittelalters, Hist. Zs. 41 (1879), 6 f.
48 BRUNNER, Landleben, 74 ff.; WERNER BoPP, Die Geschichte des Wortes „Tugend"

(phil. Diss. Heidelberg 1932), 25 :ff.


49 KONRAD VON HASLAU, Der Jüngling, hg. v. Moritz Haupt, Zs. f. dt. Altertum 8 (1851),

550.
5 ° KONRAD VON WÜRZBURG, Trojaner Krieg, vv. 6459 :ff.
61 So REINMAR VON ZWETER, vv. 255, 11 :ff., S. 537: Got selbe Spt'icht: Swer tugende phligt,

den sol man edel nennen! ein küneges kint ist edel nicht, daz sich untugende vlizet. Ebenso
KONRAD VON WÜRZBURG, Engelhard, vv. 1480 :ff.; WOLFRAM, Willehalm 182, 16 :ff. u. a.;
vgl. BoPP, „Tugend", 36.
52 KONRAD VON WÜRZBURG berichtet in seinem „Trojanerkrieg" vv. 20902 :ff. von Paris:

der saelic und der clafre / geschouf und adellicher tugent, / daß man da lopte sine jugent / und
sfoe kaiserlichen art; ähnliche Beispiele BoPP, „Tugend", 32 f.
5 3 Bei KONRAD VON WÜRZBURG, Engelhard, vv. 466 :ff. heißt es von Dietrich und Engel-
hard: geUche stuont in beider sin / uf tugent und uf ere / in was diu schande sere / entfremdet
und endwildet.

8
a) Adlig-ritterliche Standesehre Ehre

Minne" zur verheirateten vornehmen Frau des anderen, die zu einer Sublimierung
der Triebe und Versittlichung der Persönlichkeit führte. Aus ihr erwuchs auch
die besondere seelische Hochstimmung des „höhen muotes", der die durch Erfolg
in Kampf oder Liebe gewonnene Ehre zum Ausdruck brachte, von der Kirche aber
als „superbia" verworfen wurde. Diu guoten gebent hOhen muot: / ir lan
ist ere umbe guot, dichtete MoRIZ VON 0RAUN 54• Neben vielen anderen gehörten zu
diesen Tugenden auch die.„milte", die Wohltätigkeit, die „triuve", bei der die ur-
sprüngliche Gefolgschaftstreue sich immer mehr in die höfischen Verhaltensweisen
der Loyalität, Devotion, Aufrichtigkeit und Sympathie wandelte, endlich neben
der körperlichen Tüchtigkeit auch die kriegerische Tugend der Tapferkeit55, die im
höfischen Rahmen beim Turnier erprobt, ihre Bewährung aber im ritterlichen
Kampfe fand 56 •
Um ritters namen, um ritterlichen preis und ehrlichen weltrumb 57 kämpfte der Ritter
im ganzen Mittelalter auf Kriegszügen, in der Fehde oder im Zweikampf, die von
den Gottes- und Landfriedensbewegungen nicht völlig begrenzt werden konnten.
Hierbei spielte auch die alte Rachevorstellung bei Ehrverletzung eine wichtige
Rolle. Allerdings richtete sie sich jetzt nur noch gegen den Beleidiger, nicht mehr
gegen dessen ganze Sippe; auch wurde bei geringeren Injurien Vergebung oder
Schonung des Besiegten üblich58 • Die Überzeugung von der Einheit der physischen
und moralischen Kräfte führte dazu, daß der Sieg Ehre, die Niederlage und ihre
Folgen aber Schande brachten. In LAMPRECHTS „Alexander" (vor 1150) heißt es:
Unde wirt er danne sigel8s, s8 ist er immer erenl8s 59• Erst in der Renaissance setzte
sich die Ansicht durch, daß auch der Unterlegene, der ehrenhaft kämpfte, seinen
guten Namen behauptete. So konnte FRANZ I. nach seiner Niederlage und Gefan-
gennahme in der Schlacht bei Pavia (1525) seiner Mutter schreiben: Tout est
perdu ... fors l'honneur ! 60 •

54 Moruz VON CRAUN, vv. 413 f„ hg. v. Ulrich Pretzel (Tübingen 1956).
55 Zu den ritterlichen Tugenden ganz allgemein vgl. BoPP, „Tugend", 25 ff.; BRUNNER,
Landleben, 83 ff. mit vielen Beispielen.
56 Die teilweise ästhetisch-stilvollen Formen des ritterlichen Kampfes im späten Mittel-

alter zeigt an vielen Beispielen HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, 127 ff.
67 SUCHENWIRT u. WILWOLT VON SCHAUENBURG, zit. GUMBEL, Deutsche Kultur, 36.
58 Im Epos der ritterlich-höfischen Dichtung gibt es dafür viele Beispiele. Vgl. FRIEDRICH

MAURER, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte besonders in den großen
Epen der staufischen Zeit (Bern, München 1951), 10 ff. Er zeigt die allmähliche Verchristli-
chung des leit-ere-Verhältnisses. Erforderte in vorchristlicher Zeit die Ehre, daß die ange-
tane Beleidigung gerächt werden mußte, so wurde unter christlichem Einfluß die Rache
immer stärker durch die Verzeihung ersetzt. Eine Ausnahme machte nur das „herzeleit",
die tief ins Herz treffende Untat, die nicht verziehen werden konnte. Zugleich vollzog sich
aber auch ein Wandel im Verständnis des Begriffes 'leit', der in der christlich bestimmten
Darstellung als göttliche Strafe auf Sündenschuld zurückgeführt wurde.
59 LAMPRECHT, Alexander, vv. 650lff„hg. v.KarlKinzel (Halle 1884); Moruz VON CRAUN,

vv. 46 ff. u. a.
6 ° Französisches geflügeltes Wort, das auf einen - bei JACQUES ANTOINE DULAURE, Histoire

physique, civile et morale de Paris, 6° ed„ t. 3 (Paris 1837), 308 f„ Anm. 1 abgedruckten -
Brief FRANZ' I. zurückgeht. Bei MONTAIGNE, Essays 1, 31, Oeuvres compl„ ed. Arthur Ar-
maingaud, t. 2 (Paris 1924), 260 heißt es: Le vrai veincre ha p<YUr son rolle l' estour non 'JXZB le
salut; et consiste l'honur de la vertu a rombattre, non a battre.

9
Ehre D. 3. Ständische Ehre

Der Zweikampf, auch in anderen Ständen ausgeübt, wurde überhöht durch die
christliche Idee vom Gottesurteil, die als Beweismittel in der Rechtspraxis Auf-
nahme fand. Wie das ritterliche Turnier zur Sicherung der Chancengleichheit nach
genauen Regeln abgehalten und nur für ebenbürtige, freie und unbescholtene
Männer zugelassen wurde 61 , gewann das Ordal vielfach - etwa bei der Urteils-
schelte oder der Verfechtung der Wahrheit einer Aussage - die Bedeutung eines
Ehrenstreits 62 • Der Besiegte wurde ein ehr- und rechtloser Mann und verlor die
Eidesfähigkeit63 • Aufgrund der seit dem Vierten Vatikanischen Konzil 1215 ein-
setzenden Agitation der Kirche gegen den Zweikampf, aber auch seiner etwa
gleichzeitigen Ablehnung in den Städten sowie der Umgestaltung des Prozeß-
rechtes, in dem der Zeugenbeweis immer mehr den Kampfbeweis verdrängte 64,
verschwand das Ordal gegen Ende des Mittelalters aus dem ordentlichen Gerichts-
verfahren oder ging in die sogenannten Kampfgerichte über, die nur noch als
Schirmer des Kampfplatzes fungierten, auf dem Ehrenstreitigkeiten und auch
Rechtsfälle ausgetragen wurden. Sie wurden neben dem privaten Zweikampf die
zweite Wurzel des modernen Duells 65 •
b) Der Begrift' der bäuerlichen Standesehre. Die soziale Stellung des Bauern war
wesentlich bestimmt durch sein Verhältnis zum Grundherrn, von dem er zwar
abhängig war, aber doch nur im Sinne einer gegenseitigen Beziehung von Schutz
und Dienst. Die dadurch gewährte Rechtsstellung durch den Herrn nicht schmälern
zu lassen, war für ihn ein wesentliches Anliegen, das auch über seine Ehrenstellung
entschied. Das Festhalten am alten Ehrenrecht zeigte sich darin, c.laß er biti zum
Ende des Mittelalters das Waffenrecht noch nicht verloren hatte, obwohl er schon
seit Jahrhunderten nicht-mehr zum Heerbann herangezogen wurde und vielfach
keine W a:ffen mehr tragen durfte. Am längsten behielt die Formel von „Ehr und
Gewehr" wie „ehrlos und wehrlos" in den Alpenländern Geltung 66 . An den Bauern-
gerichten behauptete sich der alte gerichtliche Zweikampf noch bis ins 16. Jahr-
hundert hinein 67 • Auch geht aus den Bestimmungen über das „Ausheischen" in
den Weistümern vom 15. bis zum 17. Jahrhundert hervor, daß das Bauernduell
eine bedeutende Rolle spielte 68 •
In der Literatur war die ständische Ehre des Bauern schon seit der Antike durch

81 Nach dem Sachsenspiegel mußte d!lr R11höffonh11.m Rioh nnr duellieren, wenn sein C'-.egner

seine vier Ahnen und seinen Hantgemal (Stammgut) nachweisen konnte, Sachsenspiegel,
Landrecht 1, 51, § 4, hg. v. Karl August Eckhardt lGöttingen 1955), 109; vgl. auch 1, 63,
ebd., 119 ff.
02 FEHR, Zweikampf, 10 ff.
63 Ebd., 13.
84 Ebd., 15.
86 ALWIN ScHULTZ, Deutsches Leben im 14. und 15. Jahrhundert (Wien 1892), 536 ff.;

GEORG v. BELOW, Der Ursprung des Duells, Dt. Zs. f. Geschichtswiss., NF 2 (1897/98),
Monatsbll. 328, Anm. 4; FEHR, Zweikampf, 17 ff.
8 8 EnuARD ÜSENBRUGGEN, Die Ehre im Spiegel der Zeit, in: Sammlung gemeinverständ-

Ücher wissenschaftlicher Vorträge, hg. v. RUDOLF VmcHow u. FRANZ v. HoLTZENDORFF,


Ser. 7, H. 152 (Berlin 1892), 12 f. 87 FEHR, Zweikampf, 16.
88 Beispiele aus GRIMM, Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Aufl., Bd. 2 (Leipzig 1899) u. den

österreichischen Weistümern bei GEORG v. BELOW, Das Ausheischen, Zs. f. d. gesamte Straf-
rechtswiss. 14 (1896), 721 ff. u. FEHR, Zweikampf, 52 f.

10
b) Bäuerliche Standesehre Ehre

die gegensätzlichen Ansichten von seiner dienenden Stellung einerseits wie von der
Hochachtung für den Nährstand andererseits bestimmt. Der Begriff der ersteren
entsprach im hohen Mittelalter ·weitgehend der aristokratisch-höfischen Anschau-
ung, die der ritterlichen Ehre als Gegenbild die bäuerliche Schande gegenüberstellte.
Unzuht ist noch gebiurisch schande, stellte KONRAD VON HASLAU fest 69 (ähnlich auch
Friedrich von Sonneburg, 13. Jahrhundert). Diese Verachtung fand im späten
Mittelalter und in der Reformationszeit, beides Epochen, in denen der Bauernstand
sozial und politisch große Bedeutung gewann, weite Verbreitung 70. SEBASTIAN
BRANT kritisierte 1494, daß die Bauern jetzt für die Städter Lehrmeister der Bos-
heit abgäben, denn all bschysß yetz von den buren kunt 71 , während in einem
lateinischen Bauernkatechismus des 15. Jahrhunderts der Bauer mit dem unehr-
lichen Juden gleichgesetzt wurde7 2 •
Andererseits aber wurde der bäuerlichen Arbeit im Sinne der über alle Htändischen
Aufspaltungen hinausgreifenden Würde des arbeitenden Menschen auch besondere
Dignität .zuerkannt. Hier vereinten sich die hohe Wertung des bäuerlichen Berufs
als von Gott von Anfang an eingesetzt73 und die Lehre von der Gleichheit der
Menschen aller Stände vor Gott und seinem Gericht 74 im Christentum - ohne die
bestehenden weltlichen Ordnungen in Frage zu stellen - mit den sozialen Ten-
denzen des Bauernstandes gegen seine adligen, geistlichen und bürgerlichen Unter-
drücker. Ihren Ausdruck fanden sie in den seit Ende des Hochmittelalters sich meh-
renden Stimmen, die betonten, daß auch der Bauer zu Ehre kommen könne, ja daß
Ehre - unabhängig von Geburt und Stand - durch Tugend von jedem erworben
worden könne. So hieß es bei FREIDANK: Ein gebur genuoc eren Mt, der vor in s1me
dorfe gat75 (ähnlich WERNHER DER GARTENAERE, vor 1250) 76 .

69 KONRAD VON HASLAU, Der Jüngling, 550 (s. Anm. 49).


70 Vgl. dazu mit vielen Beispielen BEZOLD, Die „armen Leute", 1 ff.; Il:rLDE HüGLI,
Der deutsche Bauer im Mittelalter (Bern 1929); KURT UHR.IG, Der Bauer in der Publizistik
der Reformation bis zum Ausgang des Bauernkrieges, Arch. f. Reformationsgesch. 33
(1936), 70 ff. 165 ff.; JosEF HöFFNER, Bauer und Kirche im deutschen Mittelalter (theol.
Diss. Freiburg 1938); GEORGE FENWICK JONES, Honor in German Literature (Chapel
Hill 1959), 106 f. '
71 SEBASTIAN BRANT, Das Narrenschiff, v. 82, 21, hg. v. Manfred Lemmer, 2. Aufl. (Tübin-

gen 1968), 2li!; ebenso HEINRICH WITTENWILER, Ring, vv. 7235 ff., hg. v. F.nm1mn
Wiessner (Leipzig 1931).
72 UHR.IG, Bauer, 83. Vgl. auch HANS SACHS, Sämtliche Fastnachtsspiele, hg. v. Edmund

Goetze, Bd. 15 (Halle 1920), 52.


73 Die Zurückführung des Bauern auf Adam, den ersten Landmann, ist eine alte Auf-

fassung. Vgl. BEZOLD, Die „armen Leute", 18.


74 Die Gesta Romanorum, c. 257 (um 1300) erinnern daran, daß es den Menschen einst

gehen wird, wie den Figuren des Schachspiels. Ist das Spiel zu Ende, so schüttet man sie,
auch den König, in den Sack. 75 FREIDANK, 122, 9 f.; vgl. 54, 8 ff.
76 WERNHER DER GARTENAERE, Meier Helmbrecht, hg. v. Friedrich Panzer, 5. Aufl..

(Halle 1947), 17 f.; vgl. auch JOHANNES TAULER, der in einer Predigt erwähnte, daß ein
Bauer, den er den allerhöchsten Freund Gottes nannte, einst den Herrn fragte, ob er wolle,
daß er, nachdem er über 40 Jahre Ackersmann gewesen, nun in die Kirche sitzen gehe.
Da sprach er: Nein, er wolle es nicht tun, er solle sein Brot mit seinem Schweiß gewinnen,
seinem edlen, teuren Blut zu Ehren, zit. Die Predigten Taulers, hg. v. FERDINAND VETTER,
Predigt 42. Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 11 (Berlin 1910), 179.

11
Ehre II. 3. Ständische Ehre

Mit dem Ausgang des Mittelalters fand das Wort nobilis est cunctus, quem nobilitat
sua virtus immer mehr Anhänger 77 • WERNER RoLEVINCK verteidigte in seiner
Schrift „De regimine rusticae" (Ende des 15. Jahrhunderts) die dignitas rusti-
cana78. LUTHER schließlich erhöhte den „armen Mann" dadurch, daß er durch
seine Lehre vom allgemeinen Priestertum die Schranken zwischen den Ständen
einriß und in seiner „Theologia pauperum" gerade dem Armen, Verachteten und
Geringgeschätzten die wahre, gläubige Gotteserkenntnis zuschrieb 79 •

c) Der Begrift" der bürgerlichen Standesehre. Mit dem Bürgerstand trat in die
agrarisch-kriegerisch bestimmte soziale Welt des Mittelalters eine neue Kraft ein,
die - obwohl in der rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung der Stadt-
gemeinde zusammengeschlossen - in sich doch sehr viel heterogener zusammen-
gesetzt war alR diA andArAn 8tii.ndA. AnR <lAn hiirgArlichAn RArufs- und Lebens-
gemeinschaften erwuchsen bestimmte Ehrenkodizes, die sich mehr oder weniger
mit der Ehre des Stadtbürgers und der Stadt verquickten. 8elbst als Rechts-
persönlichkeit verstanden, die Ehre hatte, war die Ehre der Stadt mit der ihrer
Bürger wechselseitig verbunden 80• So riefen im Versroman „Friedrich von Schwa-
ben" (14. Jahrhundert) die Bürger den sie belagernden Rittern zu: die statt wöll
wir mit eren behalten . . . nimmer gewinnen wir den mut . . . das wfr wruJer er wöllen
vergessen ... Uns schadt trewung noch bett, das wir den ehren seyen unstet 81 .
Im Gegensatz zu der adligen Ehrauffassung, die noch auf das städtische Patriziat
einwirkte, war die des Kaufmanns und Handwerkers stärker von berufsbezogenen
rationalen Anschauungen und Tugenden bestimmt. Dies verdeutlicht der Bedeu-
tungswandel von Begriffen wie 'biderbe', 'tühtic' und 'wacker', die statt „tapfer"
und „mutig'' den Sinn von „rechtschaffen", „LüchLig", „ehnmhafL" a1mahmeu.
Dem ehrenvollen ritterlichen K riegertum stand die bürgerliche Ehrbarkeit gegen-
über82.
Zu deren wesentlichen Zügen gehörten ebenso Sparsainkeit und vernünftige Haus-
haltsführung wie die Wertschätzung von Fleiß und Arbeit und der aus ihnen er-
wachsenen Leistung. So empfahl BERNHARD VON CLAIRVAUX (12. Jahrhundert)
einem Ritter Raimond: si in tua domo sumptus et reditus sunt aequales, casus
inopinatus poterit destruere status eius 83 , und WITTENWILER riet Sparsamkeit und
Mäßigkeit dem an, der seinen Haushalt mit eren führen wolle 84, während dem Lehr-

1 7 BEZOLD, Die „armen Leute", 20; andere Beispiele ebd., 18 :ff.; UHRIG, Bauer, 84 :ff.;
HöFFNER, Bauer und Kirche, 90 :ff.
78 HARRO BRACK, Werner Rolevincks Bauernspiegel, Hist. Jb. 74 (1955), 146.
79 UBRIG, Bauer, 105; vgl. LUTHER, Theologia pauperum, WA Bd. 7 (1897), 315: Alszo

ists auch itzt, das arm pawrn unnd kinder baß Christum vorstan den Bapst, Bischoff unnd
doctores.
80 HEINRICH SCHMIDT, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbst-
verständnisses im Spätmittelalter (Göttingen 1958), 82 :ff.
9 1 Zit. GUMBEL, Deutsche Kultur, 89.

82 JONES, Honor, 124.


83 BERNHARD VON CLAIBvaux, Epistola 456, MIGNE, Patr. Lat., t. 182 (1879), 648.

84 WITTENWlLER, Ring, vv. 5019 :ff.

12
c) Bürgerliche Standaebre Ehre

ling der großen Ravensburger Handelsgesellschaft (15. Jahrhundert) Hans Konrad


Muntprat geraten wurde, emsig Tag und Nacht in Büchern zu sein, den Faktoren,
allen Fleiß vorzukehren, damit ihr das Geld nicht schlafen laßt 85 •
Von der mittelalterlichen Kirche wurde die innerweltliche Berufsarbeit als auf Gott
bezogenes Amt angesehen, so bei BERTHOLD VON REGENSBURG und davor. schon
bei RATHER VON VERONA 86, bei dem die vom persönlichen Nutzen bestimmte
Tätigkeit hinter der religiösen Bewährung zurückzutreten hatte. Die Ehre der
Arbeit erforderte getriuwe unde gewaere . . . mit ihr amte (Berthold von Regens-
burg)87 und schloß damit jedes der christlichen Wirtschaftsethik widersprechende
Geschäftsgebahren, besonders die Zinsnahme, „lucrum turpe" und „pretium
iniustum" aus. Sie wurden die wesentlichen Kriterien für die Scheidung des ehren-
haften vom unehrenhaften Handel und wirkten auch nach Aufhebung des Zins-
verbots bis ins 18. Jahrhundert nach 88 . Der ehrenhafte Kaufmann sollte sich nach
scholastischer Lehre vor Lug und Betrug hüten und seiner Tätigkeit ein ehren-
wertes Ziel, nämlich Unterhalt der Familie, Unterstützung der Armen, Dienst an
der Gesamtheit, geben (Thomas von Aquin, 13. Jahrhundert; ähnlich schon Theo-
dulf von Orleans, um 800; Rufinus, lU'iO u. a.) 89 und den Erwerbstrieb nicht zur
bestimmenden Lebensmacht werden lassen (Summenhart, 1500; Medina, 1546
u. a.) 90 . Bei den Nominalisten (besonders Heinrich Heinbuche von Langenstein,
1325-84; Gabriel Biel, 1418-91)91 wurden diese Lehren noch mit dem Gedanken
der „Nahrung" verknüpft, den auch der mehr handwerklichem Geiste verbundene
LUTHER vertrat: Darumb mustu dyr fursetzen, nichts denn deyne zymliche narunge
zusuchen ynn solchem handel (1524) 92 . Wurden auch durch seine Berufslehre, die
von jeder Berufsarbeit als vor Gott gleich die Bewährung in der Welt forderte, die
innerweltlichen Berufe von dem Druck der höheren Wertschätzung der vita con-
templativa befreit, so blieben doch im Luthertum wie Calvinismus, der zur Ehre
Gottes die berufliche Bewährung in rastloser Arbeit und sparsamer Genügsamkeit
verlangte, die an die Geschäftsführung des Kaufmanns gestellten religiösen und
sittlichen Normen bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein gültig93 •
Daß die Kaufleute diesen Ehransprüchen gerecht zu werden suchten und die spezifi-
86 ALOYR 8CH1TLTE, f'nischichte der Großen Rav1mRburger HandelRgesellschaft 1380-1530,

Bd. 3 (Stuttgart, Berlin 1923), 213. Vgl. BRUNO KusKE, Quellen zur Geschichte des Kölner
Handels und Verkehrs im Mittelalter, Bd. 3 (Bonn 1923), 302; ebenso FJ:tA.Nz
STEINBA.on, Gcburtsstnnd, Borufssto.nd und Loistungsgomoinscho.ft, Rhein. Vjbll. 14
(1949), 62.
88 AUGUST ADAM, Arbeit und Besitz nach Ratherius von Verona (Freiburg 1927), 69 ff.
87 BERTHOLD VON REGENSBURG, Predigten, Bd. 1, 146.
88 Vgl. dazu BERNHARD GROETHUYSEN, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und

Lebensanschauung in Frankreich, Bd. 2 (Halle 1930), 80 ff•. 123 ff.


89 FRANZ SCHAUB, Der Kampf gegen den Zinswucher, ungerechten Preis und unlauteren

Handel im Mittelalter (Freiburg 1905), 116. 202 f.; JOSEPH HöFFNER, Wirtschaftsethik
und Monopole (phil. Dias. Jena 1940), 71 ff.
90 Ebd., 85 ff. 107 f.
91 Ebd., 79 ff. 96 ff.
92 LUTHER, Von Kaufshandlung und Wucher (1524), WA Bd. 15 (1899), 296.
93 Als Beispiel sei verwiesen auf: ANDREAS RIVETUS (1651), zit. HöFFNER, Wirtschafts-

ethik, 154, der als rechte Zielsetzung des Handels Dienst an der Familie, an den Not-
leidenden und an der Allgemeinheit aufstellte; Superintendent N1coLA.us HUNNius, Wie

13
Ehre II. 3. Ständische Ehre

sehe Ehre ihres Standes und Gewerbes zum wesentlichen Kriterium des Ideal-
begriffs vom Kaufmann wurde, zeigen viele Beispiele. JAKOB WELSER (1529) betonte
bei Ablehnung eines Monopols, daß nichts für den Kaufmann wichtiger sei als ein
gut Geschrei und ehrlich Gerücht94 • Ebenso stand noch in der 2. Hälfte des 17. Jahr-
hunderts am Speicher des Königsberger Kaufmanns GEORG KEUTER: Die Natur
hat uns gelehret wohl, Daß niemand sich bereichern soll / Mit ander Schaden und
Verderb, / Sondern mit Gou und Ehren sein Brot erwerb95 • Allerdings führte die
Eigengesetzlichkeit kaufmännischer Berufstätigkeit, die in materiellem Gewinn
und Vermögensbildung ihre eigentliche Bewährung fand, auch zu einem Spannungs-
verhältnis mit den - in den Grenzen unscharfen - sittlichen Normen der Kirche.
Aus ihm erwuchs ein berufsspezifischer Gewissenskonflikt. Das homo mercator
•v·ix aut numquam potest Deo placere des ÜHRYSOSTOMus 96 , das erst im 15. Jahrhun-
dert abgeschwächte Moralurteil, daß der Kaufmann wohl sündlos, aber nicht Gott
wohlgefällig handeln könne, unter Ankniipfung an die Austreibung der Wechsler
aus dem Tempel am schärfsten formuliert in der „Palea Eiciens" der Dekretalen
GRATIANS (um 1140) 97 , wurde fortgesetzt wiederholt. LUTHER stand in dieser
Tradition, verstärkte sie und begründete damit eine fortwirkende Wertung im
deutschen Luthertum98 •

weit ein gottseliger Handelsmann im Verknuf seiner Waren mit gutem Gewissen steigern
und wie viel über seine Unkosten daraufschlagen könne (1714) ?, zit. PAUL JAKOB MAR-
PERGER, Nützliche Fragen über die Kau:lfmannscha:lft, 4. Abt. (Leipzig, Flensburg 1714/15),
344, der es als Unrecht bezeichnete, 1) wann er der Waren Tax dahin richtet, daß er wolle
reich.werden, und 2) wann er seine Waren steigert ohne Not und erhebliche Ursachen; Allge-
meine Schatzkammer der Kaufmannschaft, Bd. 3 (Leipzig 1742), 47, nach der es dem
Kaufmann erlaubt war, einen christlichen Profit zu suchen, doch also, daß es christlich sei
und Dein Gewissen keinen Verlust erleide oder Du an Deiner Seele schaden nehmest.
94 Zit. HöFFNER, Wirtschaftsethik, 61; vgl. auch LEON BATTISTA ALBERTI, Über das

Hauswesen (Zürich 1962), 182.


96 Zit. GERHARD v. GLINSKI, Die Königsberger Kaufmannschaft des 17. und 18. Jahr-

hunderts (Marburg 1964), 83.


96 Zit. MAx WEBER, Wirtschaftsgeschichte, 3. Aufl. (Berlin 1958), 305; E. WILHELM

BUSSMANN, Handel und Ethik (Göttingen 1902), 7.


97 SCHAUB, Zinswucher, 200 :ff.; vgl. auch Nachweise bei PETER NoLTE, Der Kaufmann

in c.lei· deuLschen Sp1·ache und Literatur des Mittelalters (phil. DiBs. Göttingen 1909).
98 WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums, verbesserter Ndr. d. 1. Aufl. (1932),

Bd. 2 (München 1958), 476ff.; vgl. besonders LUTHER, Von KaufshandlungundWucher


(1524); WA Bd. 15, 279 :ff.; SPENER mußte sich in seinen „Theologischen Bedenken"
mehrfach mit den Fragen seiner Pfarrkinder, ob der Handel eine ehrbare Arbeit sei,
auseinandersetzen. Er erkannte ihn alit nötig an, beurteilte ihn· aber allein vom Heil der
Seele aus. Es ist die HandluniJ zwar ein gefährlicher, aber dennoch nicht an sich selbst Gott
mißfälliger, noch von der Sünde unabsonderlicher Stand. Gerade weil er ein gefährlicher
Stand sei, dürfe sich der Christ - wenn er dazu berufen sei - nicht der Verantwortung
entziehen, PHIL. JAKOB SPENER, Theologische Bedenken, Bd. 2 (Halle 1708), 433 :ff.
Strenger urteilte um die Wende zum 20. Jahrhundert ERICH FÖRSTER, Die Möglichkeit
des Christentums in der modernen Welt (Freiburg, Leipzig, Tübingen 1898), der fast
geradezu sagte, daß ein Kaufmann, der seinen Beruf treu erfülle, nicht mehr Christ sein
könne. Ähnlich MARTIN RADE, Streitsätze für Theologen über Religion und Moral (Gießen
1898), 11 f. u. W. VEIT, Christentum und Berufsleben, Christliche Welt 10 (1901), 217,
zit. BussMANN, Handel und Ethik, 9 :ff.

14
c) Bürgerliche Standesehre Ehre

Für den Handwerker war die Wahrung der im Begriff der Ehrlichkeit gefaßten
handwerklich-zünftlerischen Amtsehre an die treue und redliche Ausübung der
Arbeit gebunden. Ihrer Sicherung dienten die seit Ende des 13. Jahrhunderts
in steigender Zahl das bisherige Gewohnheitsrecht fixierenden Zunftsatzungen,
an deren Festlegung häufig auch der städtische Rat beteiligt war. So berichten die
Amtsleute der Kölner Richerzeche (1327) 99, daß die Gürtelschlägermeister eine
Bruderschaft zu dem Zweck gegründet hätten, dat ir werck reyne inde unvermenckt
blive, updat der koyfman, de dat werck weder sij gilt, unbedrogin werde inde dat werck
also reyne inde unvermencgt vinde, as si id ime gelovent. Die Stadt selbst sah ihre
Ehre darin, daß die in ihr gefertigten Waren geve unde gud alse ed der stat nutte unde
erlik sy waren (Hildesheim) 100• Der Meister hatte zu beweisen, dat hee sye werk
·un syn ampt kunde (Kannen- und Grapengießer Wislllars, 1387) 101 , „alde.11lüde"
(Schaumeister) hatten die Aufgabe, tJw besehende unde tho bestrafjende, dat in unsem
ampte iinredelik isz (Schragen der Bäcker Rigas, 1392) 102,
Mit dem Ehrenanspruch stimmte aber nicht die Achtung überein, die der Hand-
werker in der mittelalterlichen Gesellschaft genoß. Sß sint etel~che trügener unde
Wyener, ul11 d·ie untwerkz.i·ute, hieß es uei B.l!l.lt'l'HULV VUN R.l!lU.l!JN1:!11U.ltU103• In der
christlichen Predigtliteratur wurden dem Handwerker immer wieder seine. viel-
fachen Sünden vorgeworfen, eine Tradition, die bis zu Abraham a Santa Clara
(um 1700) reichte und in der Laienliteratur Nachahmung fand bei Sebastian Brant
(„Narrenschiff", 1494), Hans Sachs (um 1550) u. a.
Über seine gewerbliche Arbeit hinaus war die „Ehrlichkeit" des Handwerkers auch
an seine rechtlichen, sozialen und menschlichen Verhältnisse gebunden. Mit der
Formel „echt und recht" wurde seit dem 14. Jahrhundert seine Ehre an die For-
derung freier und ehrlicher Herkunft, ehelicher Geburt und sittlicher Lebens-
führung gebunden. Von dem, der das Amt heischte, wurde in Lübeck verlangt,
dat he echte unde rechte unde vry geboren sei (Zunftrolle der Schröder, 1370) 104 • Das
galt auch für die Frau des Handwerkers, von der in Nordhausen gefordert wurde,
daß sie elich und wolgeborn sie und sich als wole bewart habe als der man (1394) 106,
während die Lübecker Leineweber-Rolle festlegte, dat he sy man edder vrowen unde
sy eren wol (1425) 106 •
Diese sLrenge Ehra11sehauu11g fa11d - wese11tlich mitbestimmt durch das Strebe11
nach Sicherung der „Nahrung" - in den folgenden Jahrhunderten weitere Aus-
gestaltung. Umfang· und formalistische Strenge des handwerklichen Ehrbegriffs
verdeutlicht am besten die Beschreibung GEORG HEINRICH ZINCKES (1745).
Danach hieß 'Ehrlichkeit' im Handwerk weniger Beachtung der bürgerlichen und

99 HEINRICH v. LoESCH, Die Kölner Zunfturkunden, Bd. 1 {Bonn 1907), 94..


10 ° FERDINANDFRENSDORFF, Das Zunftrecht insbesondere Norddeutschlands und die
Handwerkerehre, Hansische Geschichtsbll. 34 (1907), 58.
101 RUDOLF W1ssELL, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. 1 {Berlin 1929),

175.
102 Ebd., 303.
103 BERTHOLD VON REGENSBURG, Predigten, Bd. 1, 285; ähnlich GEILER VON KAYSERS-
BERG (1498), zit. W1ssELL, Handwerk, Bd. 1, 434.
104 FRENSDORFF, Zunftrecht, 20.
105 Ebd., 28.
106 Ebd., 72.
Ehre D. 3. Ständische Ehre

moralischen als vielmehr der Standesehre. Diese aber verlangte, daß Geburt, Weib,
geselliger Umgang und Arbeit ehrlich seien, Lehrzeit, Lossprechung, Wanderzeit
und Meisterschaft gemäß der Handwerksordnung absolviert und Handwerks-
bräuche und Gewohnheiten richtig gehalten wurden. Auch durfte der Handwerker,
wenn er einen Fehler begangen hatte, sich nur von der Zunft bestrafen lassen,
obwohl er ohne Grund und Recht, anrüchig erkläret, ausgeschlossen, diffamiert und
aufgetrieben sei107•

d) Der Begriff der Ehrlosigkeit. Im Gegensatz zu den Ständen, deren Zugehörigkeit


zur mittelalterlichen Gesellschaft durch die jeweilige besondere Ehre dokumentiert
wurde, war die unterständische Schicht durch den Begriff der Ehrlosigkeit
gekennzeichnet. Sie wurde von den sogenannten unehrlichen Leuten gebildet, die
auch als 'Rechtlose', 'Bescholtene', 'Besprochene', 'Ohnrechte', 'Unechte', 'Un-
redliche.', 'Anrüchige.' ode.r 'Berücht,igte.', 'Verleumdete', 'Wande.lbare' U$W. be-
zeichnet wurden108 • Ihre im einzelnen abgestufte Ehrlosigkeit deckte sich in
der Rechtspraxis weitgehend mit der Rechtlosigkeit, d. h. mit dem Fehlen oder
Verluet der Stande11rechte. Reolitlose Wd dat synt de de an ere bevleoket synt, hieß es
im „Schwäbischen Landrecht" 109• Entsprechend waren sie unfähig, vor Gericht als
Zeuge oder Eideshelfer aufzutreten, Lehen zu erwerben, einer Zunft oder Gilde bei-
zutreten und mit Angehörigen der „ehrlichen" Stände die Ehe einzugehen. Doch
standen sie nicht außerhalb der Rechtsordnung des gemeinen Friedens. Als ehrlos
galten die Unfreien und Leibeigenen, die außerhalb der christlichen Gemeinschaft
stehenden Juden, Türken, Heiden, Zigeuner und Wenden110 und unter der Ein-
wirkung der christlichen Kirche aur,h die unehelich Geborenen 111 • Rhrlrniigkeit trat
von altersher bei all denen ein, die der Acht oder dem Kirchenbann verfallen oder
zu einer Leibesstrafe verurteilt worden waren. Die Ehre wurde verwirkt durch die
vielfältigen mittelalterlichen Ehrenstrafen, als Folge des durch Henkershand voll-
zogenen Strafvollzugs wie aufgrund der Nichteinhaltung einer durch Ehrenver-

10 7 ZINCKE, Reallex., Bd. 1 (1745), 592, Art. Ehrlich.


108 Hierzu vor allem WOLFGANG BRÜCKNER, Art. Ehrenstrafen, Ehrenverpfändung u.
K.-S. KRAMER, Art. Ehrliche, unehrliche Gewerbe, Hwb. z. dt. Rechtsgesch„ Bd. 1,
851 :ff. 855 ff. WERNER !>ANKERT, l>ie unehrlichen Leute. Die verfemten .Berufe
(Bern 1963), 10; OSWALD ADOLF ERICH u. RICHARD BEITL, Wfü·terbuch Utll" tleut11chen
Volkskunde (Leipzig 1936); WISSELL; Handwerk, Bd. 1; ÜTTO BENEKE, Von unehrlichen
Leuten (Berlin 1899).
109 Schwäbisches Landrecht, Art. 158, § 3; JULIUs HlLLEBRAND, Über die gänzliche und

teilweise Entziehung der Ehre nach den deutschen Rechtsbüchern des Mittelalters (phil.
Diss. Gießen 1844), 33, Anm. 56.
110 Die Zigeuner und Wenden standen nur ursprünglich außerhalb der christlichen Welt,

behielten aber ihre geringere Rechtsstellung, die Zigeuner zweifellos wegen ihrer Lebens-
weise und Berufstätigkeit, die Wenden wohl auf Grund ihrer ursprünglichen Unfreilieit.
111 Sachsenspiegel, Landrecht 1, 38, § 1; Schwabenspiegel, Landrecht 47. Dem heidnischen
Germa.ne.ntum war dieser Makel der Unehrlichkeit völlig fremd. Im Mittelalter wurden
dazu nicht nur die außer der Ehe, im Ehebruch, in Blutschande geborenen oder die soge-
nannten Pfa:ffenkinder gezählt, sondern auch selbst die in der Ehe zu früh geborenen.
Dazu Lex Salica 14, § 12; Sachsenspiegel, Landrecht 1, 36. 37; 3, 27; Schwabenspiegel,
Landrecht 40; ebenso WISSELL, Handwerk, Bd. 1, 68 :ff.

16
Il. 4. Reputation und höfische Ehre Ehre

pfändung bekräftigten vertraglichen Verbindlichkeit, deren Bruch die öffentlich-


rechtliche Ehrenschelte in Wort und Bild nach sich zog 112• Als ehrlos galten
schließlich auch verbrecherische Handlungen wie Diebstahl,_ Raub, Notzucht,
Ehebruch, Meineid, selbst wenn es zu keiner gerichtlichen Verurteilung kam.
Andererseits konnten bei bestimmten Vergehen die Betreffenden wieder ehrlich
gemacht werden, so der wegen Fahnenflucht für infam erklärte Soldat durch drei-
maliges Schwenken der Fahne über seinem Kopf vor der Front des Regiments
oder der Handwerker, der sich gegen die Zunftordnung vergangen hatte, wenn er
vor dem versammelten Handwerk bei offener Lade Buße tat113•
AIR „unehrlich" galt endlich eine - bis ins 15. und 16. Jahrhundert noch zuneh-
mende - zahlenmäßig recht umfangreiche und wirtschaftlich nicht unbedeutende
Gruppe von Berufen allein wegen ihres Gewerbes. Die Entstehung ihrer graduell
unterschiedlichen Ehrlosigkeit ist dunkel, doch ist sie wohl eher auf sozialpolitische
Vurgänge ah:1 auf die Ablösung alter sakraler Tab118 durch neu aufkommende
Religionen und Kulturen zurückzuführen114• Mit dem sozialen Verruf verband sich
zweifellos auch eine Scheu, vorzüglich vor den für besonders verwerflich gehaltenen
Berufen der .Henker, Abdecker und Totengräber. Jeder flüchtige Kontakt mit
ihnen, sei es durch Berühnmg oder gleichart,igA Tii.t,igkAit., m:wht.fl hflrflit.R unehrlich.
Zu ihnen trat die heimatlose Gruppe der Dirnen, Vagabunden und Spielleute, von
denen BERTHOLD VON REGENSBURG (gestorben 1272) die beiden letzteren in seiner
berühmten Predigt von den zehn Engelchören, die die Christenheit als Abbild des
Himmels darstellten, als zehnten Stand, als „familia diaboli" beschrieb 115 • Dagegen
wurde einer größeren Gruppe von Angehörigen meist niederer, unsauberer und
auch als unlauter angesehener Berufe, wie z. B. Müller, Gerber, Schäfer, Bader,
Barbierer, Leineweber, Töpfer, Kesselflicker, Schiffer, Gassenkehrer, Türmer, Ge-
richts- und Polizeidiener, die Ehrlichkeit nur in geringerem Grade abgesprochen,
ja ihre Unehrlichkeit war vielfach zeitlich und räumlich begrenzt.

4. Reputation und höfische Ehre

Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wurden die Ehranschauungen wieder entschei-
dend von der aristokratisch-höfischen Welt geprägt, die an die mittelalterliche
Adelstradition anschloß, sich zugleich aber auch mit der geistigen Welt des Hu-
manismus verband. Von der mittelalterlichen ständischen Ehre unterschied sich
diese sie überlagernde Ehrauffassung durch das individuelle Streben nach äußer-
lichem Ansehen oder Reputation, deren Maßstäbe weniger durch die Standes-
tradition als durch Herrscher und höfische Gesellschaft gesetzt wurden. Insofern

112 Sachsenspiegel, Landrecht 1, 38, § 2; 1, 40; 2, 13; Kaiserrecht 3, 7. Vgl. BRÜCKNER,


.Art. Ehrenstrafen, Ehrenverpfändung, Hwb. z. dt. Rechtsgesch„ Bd. 1, 851 ff.
11a DAN:KERT, Die unehrlichen Leute, 10.
114 Diese Auffassung vertritt DANKERT, ebd., 14ff.; vgl. dazu auch CARL v. AMIBA,

Die germanischen Todesstrafen, Abh. d. Bayr. Aka.d. rl. WiRR„ philoR.-hiRt. Kl., ßrl. :n;a
(München 1922), 229. Zum Ganzen KRA111ER, .Art. Ehrliche, unehrliche Gewerbe, Hwb. z.
dt. Rechtsgesch„ Bd. 1, 855 ff.
llli Sachsenspiegel, Landrecht 1, 38, § 1; BERTHOLD VON REGENSBURG, Predigten, Bd. 1,
155.

2-90386/1 17
Ehre II. 4. Reputation und höfische Ehre

überständisch wirksam und doch wesentlich an die Inhalte des aristokratischen


Ehrenkodex gebunden, führte sie zU: deren Dberhöhung, trug ebenso aber auch zur
Auflösung der altständischen Wertordnung und deren Umformung durch den
absolutistischen Staat bei.
Die Wurzeln dieses Ehrbegriffs lagen im Italien der Renaissance, wo unter Weiter-
entwicklung einer in der Antike angebahnten Tendenz, die den Ruhmesgedanken
- wenn auch nur zögernd - aus seinem militärisch-politischen Bezug löste und
für andere Gebiete erschloß 116 , subjektives Ehr- und Ruhmstreben in Dichtung,
Geschichtsschreibung und anderen Bereichen des geistigen Lebens Geltung ge-
wann 117 und in der Welt der italienischen Renaissancehöfe zum wesentlichen
Element der Persönlichkeitsprägung wurde. Seine typische Ausprägung fand er
bei BALDASSARE ÜASTIGLIONE (1528), für den erst die Ehre bzw. der Ruhm, die aus
der großen Tat erwuchsen, diese ausführenswert machten: pereM in vero e ben
eonveniente valersi delle eose ben fatte. Ed io estimo ehe si eome e male cerear gloria
falsa e di quello ehe non si merita, eosi sia aneor male defraudar se stesso del debito
onore e non eerearne quella laude, ehe sola evero premio delle virtuose fatiehe 118 •
Dieses Vorbild eines überhöhten persönlichen Ehrstrebens wirkte nachhaltig auf
das Lebensbewußtsein der europäischen Höfe und der an ihrnm vorherrschenden
Aristokratie ein. Angefangen beim Herrscherkult des sich ausbildenden absolutisti-
schen Königtums drang es in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein. Von
Einfluß bei der Formung des englischen Gentleman wirkte der Ehrbegriff des
Hofmann-Ideals vorzüglich auf das Leitbild des „honnete homme" im Frankreich
des 17. Jahrhunderts ein. In ihm wurden die psychologischen und sozialen Span-
nungen abgeschwächt und aufgefangen, die die gewaltsame Einfügung der vom
altadligen Ideal der Ungebundenheit, Unabhängigkeit und regellosen wie eigen-
mächtigen Lebensführung bestimmten Aristokratie in den Hof- und Staatsdienst

116 Vgl. ULRICH KNOCHE, Der römische Ruhmesgedanke (1934), in: Römische Wertbegriffe,
439 ff. (s. Anm. 3a): Erste Belege finden sich seit Sulla. Unter dem Einfluß der griechischen
Philosophie, die eine Verinnerlichung zur Folge hatte, gibt es erste theowtische Erörterun-
gen über ,gloria'. Die alten Vorstellungen halten sich aber noch lange, obwohl sie durch die
veränderte politische Situation an Lebenskraft verloren haben.
117 So schon bei Dante, I'etrarca und anderen Dichtern und Schriftstellern in dem doppelten
Sinne der Sorge für den eigenen Nachruhm und der Verkündigung des Ruhms anderer.
Vgl. dazu JAKOB BUROKHA.RDT, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch,
GW Bd. 3 (Basel 1955), 293 f. u. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, 89, der das Ruhm-
m:id Ehrstreben schon beim spätmittelalterlichen Ritter in Burgund und Frankreich ver-
wirklicht sieht.
118 Übers.: denn es ziemt sich fürwahr, von seinen guten Taten Vorteil zu ziehen. Ich halte

dafür, daß es geradeso verwerflich ist, falschen und unverdienten Ruhm zu suchen, wie sich
seihst der gebührenden Anerkennung zu berauben und nicht nach Ehre zu streben, die die
einzige und wahre Belohnung edler Mühsal ist, BALDESAR CASTIGLIONE, II libro de! corte-
giano con una scelta delle opere minori, hg. v. Bruno Maier, 2. Aufl. (Turin 1964), 201.
Ebenso auch FRANCESCO GUICCIARDINI, Ricordi 2, 118, Übers. entnommen: FRANCESCO
GUICCIARDINI, Vom politischen und bürgerlichen Leben. „Ricordi", hg. v. Ernesto Grassi,
dt. v. Karl Josef Partsch (Berlin 1942), 93: Wer nach Gebühr die Ehre achtet, dem wird
alles gelingen; denn er fragt weder nach Mühen noch Gefahren und Aufwand ..• Leer und
leblos sind die Taten der Menschen, die nicht von diesem glühenden Stachel getrieben werden.

18
II. 4. Reputation und höfische Ehre Ehre

des absolutistischen Staates mit sich brachte. Der „honnete homme" bot ein neues
Gesellschaftsideal, in dem unter dem übergreifenden Gesichtspunkt des voU be-
wußten ständigen Sichgebens und Sichdarstellens die schroffsten Gegensätze
kunstvoll ins Gleichgewicht gebracht, die schwersten inneren Spannungen durch
deµ. Willen zur Form gebändigt und ausgeglichen erscheinen119 • In der zeitgenös~
sischen ·Gesellschaftstheorie immer wieder erörtert, war es vor allem Gegenstand
des Ringens zwischen bürgerlich-moralischer und aristokratischer Ehrkonzeption,
in dem sich der soziale und politische Kampf der mit dem Königtum verbündeten
„noblesse de la robe" gegen die „noblesse de l'epee" wie auch ihre Anpassung an
das aristokratische Vorbild verdeutlichte. Zunächst stärker von bürgerlichen
Theoretikern wie Faret („L'honnete homme", 1630), Bardin („Le Lycee du sieur
Bardin", 1632-34) und Grenaille („L'honnete gar9on", 1642) in religiös-morali-
schem Sinne beeinflußt, später mehr von aristokratisch-weltmännischen Tugenden
bestimmt, die besonders der Chevalier de Mere in seinen „Conversations" (1668)
und „Lettres" (1682) vertrat, schließlich überhöht.durch die Lehren des spanischen
Jesuiten Baltasar Gracian vom Übermenschen und der Kunst, die Gesellschaft
zu beherrschen, verlor das Leitbild nach der Wende zum 18. Jahrhundert immer
mehr an Wirkkraft12 0. In der Mitte des neuen Jahrhunderts repräsentierte es im
wesentlichen nur noch die ästhetischen Werte einer verfeinerten höfischen Kultur.
MoNTESQUIEU (1748) kennzeichnet diese Entwicklung: On n'y fuge pas les actions
des hommes comme bonnes, mais comme helles; comme fustes, mais comme grandes;
comme raisonnables, mais comme extraordinaires. Des que l'honneur y peut trouver
quelque chose de noble, il est ou le fuge qui les rend legitimes, ou le sophiste qui les
fustifie 121 •
In den deutschen Sprachraum übernommen 122 flossen die vielseitig schillernden,
überhöhten moralischen und geistigen Bedeutungsgehalte des Leitbildes in den
Begriff der Ehrlichkeit bzw. des ehrlichen Mannes ein und verliehen ihm eine
zweite umfassendere Bedeutung. Neben die alte Bedeutung des Begriffs vom ehr-
lichen Mann, die den auf Einhaltung von Treu und Glauben achtenden und deshalb
mit dem Vorimg des guten Namens ausgezeichneten Menschen meinte, trat, wie der

119 Grundlegend zur Entstehung und F.ntwinklung des Leitbildes des „honnete homme"

MAuRioE MAGENDIE, La politesse mondaine et !es theories de l'honnetete, en J!'rance au


XVII° siecle, de 1600 a 1660 (Diss. Paris 1925); PAUL HA.ZA.ltv, Die Kritie lies eui"Opäischen
Geistes 1680-1715 (Hamburg 1939), 372 ff.; MA.RIO WANDRUSZKA, Der Geist der franzö-
sischen Sprache (Hamburg 1959), 93 ff.; ANDRE L:Evi:QuE, „L'honnete homme" et
„I'homme de bien" au XVII" siecle. Publications of the Modern Language Association of
America 72 (1957), 620 ff.
120 Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gewann auch die christlich-moralische Kritik

der Jansenisten an dem aristokratischen VerJialtenstyp bedeutendes Gewicht.


1 21 MoNTESQulEu, De l'esprit des Jois 4, 2.
122 Die 1617 begründete „Fruchtbringende Gesellschaft" versuchte über das Bemühen

um eine Sprachreform hinaus, auch auf der Grundlage <fes „deutschgesinnten Tugend-
mutes" ein eigenes nationales Lebensideal zu prägen. Doch setzte sich vor allem nach dem
Dreißigjährigen Krieg das französische Vorbild durch. So suchte Thomasius in seiner
deutschsprachigen Vorlesung „Von Nachahmung der 'Franzosen' und über das 'Hand-
orakel' des Gracian" den Studenten das Vorbild des „honnete homme" und die Lehren
des Spaniers nahezubringen.

19
Ehre II. 4. Reputation und höfische Ehre

Erlanger Professor der Theologie und Beredsamkeit JOHANN MARTIN ÜHLADENIUS


erkannte, eine neue, bei der man über die Ehrlichkeit hinaus alles, was man von
einem Menschen Gutes sagen kann, jetzo zum ehrlichen Mann zog. Damit aber
wurde der Begriff des ehrlichen Mannes übersteigert und schließlich entwertet.
Wenn es wahr ist, was der Herr Prof. Simonetti in der Vorrede zu seinem ehrlichen
Mann sagt: „Die Franzosen, von denen andere das Wort nachplaudern gelernet,
sprechen vieles davon, es sind aber Hülsen, die keinen Kern haben", so wird eben dieses
bald auch von unserm ehrlichen Mann gelten; daß man nicht mehr wissen wird, was
dieses Wort bedeuten soll; und hernach sich umsehen wird, ob es auch einen ehrlichen
Mann in der Welt gebe 1 2 3 •
Der Begriff des ehrlichen Mannes näherte sich damit 'Reputation' an, die, definiert
als Würde, Fürtrefflichkeit, Hoheit, Ansehen und Stand (JOHANN CHRISTOPH NEH-
RING 1710) 124, später als Ansehen und guter Leumund, Lob und W oklgefallen (ZEn-
LER 1742) 126, das Ziel war, wonach die meisten Menschen streben, und darüber son-
derlich die, so in höhern Stande und Würden sind, vornehmlich eifern.
Sozial war seit dem Absolutismus die Reputation weniger mit der traditionellen
ständischen Ordnung als vielmehr mit der durch die staatliche Funktionalisierung
der Untertanen veränderten Hierarchie der Ränge und Ämter verbunden. Der
Hofmann suchte seine Ehre in seines Fürsten Gnade und Gewogenheit12 6. Die
Erwerbung der Amtsehre aber setzte bestimmte Fähigkeiten oder Leistungen
im öffentlichen Leben voraus, aufgrund deren die sie besitzenden Personen anderen
in den äußeren Ehrerweisungen vorgezogen wurden. Est autem honor proprie
significatio judicii nostri de alterius praestantia (SAMUEL PuFENDORF 1684) 127 .
Ähnlich wurde auch von anderen Autoren die äußere Ehre hierarchisch aufgefaßt.
ZEDLER (1739) definierte sie als eine Meinung andrer Leute, nach der sie einem
Menschen einen Vorzug vor den andren beilegen 12 B.
In die Ordnung der Ränge und Stände eingeführt, maintenierte „ein jeder bis hin
zum Fürsten" seinen etat 129 , befleißigte sich einer guten conduite1 so und suchte seine
Reputation zu erhöhen. Der Ehrgeiz, sofern er sich an Standesordnungen und
Tugendanspruch hielt, war empfehlenswert als das Feuer aller hohen Tugenden.
Die Ehre ist dasjenige, was Gott von uns erfordert, wie sollten dann wir nicht auch
selbe von den Menschen lw'isclwn (HARSDÖRFFER) 131 • Der Ehrgeiz äußerte sich be-

1 23J OH. MARTIN ÜHLADENTUS, Vom ehrlichen Mann, Erlangische Gelehrte Anzeigen
(1751), 11 u. 32.
124 NEHRING (1710), 779 f.
126 ZEDLER Bd. 31 (1742), 667.

129 l'mLIPP HARSDÖRFFER, Gesprächsspiele, Tl. 7 (Nürnberg 1647), 410.


127 SAMUEL PUFENDORF, De jure naturae et gentium 8, 4, 11, ed. ultima (1688; Ndr.

London 1934); ders., De offi.cio hominis et civis 2, 14, 1(Amsterdam1682).


128 ZEDLER Bd. 8 (1734), 715.
129 Zit. BERNHARD ERDMANNSDÖRFFER, Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden

bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648-1740, Bd. 2 (Leipzig 1932), 103.
130 GEORG STEINHAUS.EN, Der vollkommene Hofmann, ein Lebensideal des Rococo, Zs. f.

Kulturgesch., NF 1 (1894), 415.


131 HARSDÖRFFER, Gesprächsspiele, Tl. 7, 23. 377; zur Nutzung des Ehrgeizes als erziehe-

risches Mittel in den Jesuitenschulen vgl. FRANZ H.AIDER, Die Ehre als menschliches Pro-
blem (Paderborn 1972), 66 ff.

20
II. 4. Reputation und höfische Ehre Ehre

sonders in der Sucht nach höheren Titeln, wurde dann aber, sofern er in egoistisches
Geltungsbedürfnis ausschlug, von überlieferten Wertmaßstäben aus wiederum
abgewertet, so bei JuLIUS BERNHARD VON ROHR (1730): Die Jagd nach Titel-
erhöhung beruhe auf einer falschen Einbildung, als ob die von höherem Stande,
größern Range, oder ansehnlichem Praedikat sich in einem hökern Grade der Glück-
seligkeit befänden, denn die andern. Um deswillen wollen die Bauern dem Bürger-
lichen, die bürgerlichen Personen dem Adel, der Adel den höchsten Standespersonen
gleich geachtet sein132 • Das Vorbild der Fürsten und ihrer Höfe förderte Geltungs-
und Repräsentationsbedürfnis, das die vielfältigsten Formen annahm und vielfach
selbst über den Tod hinaus, sei es durch ruhmvolle Taten und Leistungen, sei es
auch nur durch Ehrensäulen und Bildwerke, reichen sollte133• Es fand im Typus
der gesellschaftlichen Barockporträts mit seinem Zug zum Zeremoniellen und
Prächtigen wie zum Idealisieren und Überhöhen des Individuellen seine wohl
stärkste Verdeutlichung1 B4.
Es entsprach der Dialektik des überhöhten Ehrbegriffs, daß der Verlust an Achtung
in der Öffentlichkeit besonders stark empfunden wurde. CHRISTOPH LEHMANNS
Wort: Ehre verlohrn, ist alles verlohrn, verdeutlichte diese Auffassung136• Gegenüber
der Reputation blieben selbst Bindungen an Familie oder Staat von zweitrangigem
Wert. PRINZ EuGEN wollte nach dem infolge ungenügender Truppenausstattung
mißlungenen italienischen Feldzug 1705 sein Oberkommando niederlegen. Gut und
Blut sei er schuldig und bereit, dem Kaiser zu opfern, aber seine Ehre und Re-
putation in der Welt zu verlieren, sei tausendmal ärger als der Tod 136 • Auf jede sie
treffende Bedrohung oder Herabsetzung wurde empfindlich reagiert. Rechtsstreitig-
keiten um Rang und Ehre, besonders das duellum honoris, welches einer zu main-
tenirung seiner Ehren fürnimmt (JOHANN FRIEDRICH SCHULZE 1688) waren an der
Tagesordnung 137 • Im internationalen Recht brachten Konflikte wie um den Vor-

132 Die Entwicklung der Titel des Adels seit dem 16. Jahrhundert kennzeichnen die

folgenden Verse: Da man schrieb den Ehrbaren und Frommen, / Da war noch etwas in der
Welt zu bekommen, / Da man schrieb den Gestrengen und Vesten, / Da war auch noch etwas
zum Besten, / Nun man aber schreibt den IIoch- Wohl- und Edel,gebohrnen, / 1st Gut und Geld
auf einmal verlohren. Gedicht und Beispiele für selbständige Titelerhöhungen und Titel-
prahlereien bei Juuus BERNRA.RD v. RoBR, Einleitung zur Ceremonial-Wissenschaft der
l'rivat-l'ersonen (Berlin 1730), 58. 73 f. 70; ebenso Fnummon CARL v. MosER, Kleine
Schriften zur Erläuterung des Sta.11.tR- unc'I Völker-Rechts, Bde. 1-3. 5. 7 (Frankfurt
1752-58), der die Geschichte verschiedenster Titulaturen, z. B. des Titels „Excellenz"
(Bd. 2, 1752, 100 ff.) mit allen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen verfolgt.
133 So dichtete etwa JOHANN RIST: Deine Bücher werden gehen J Nach dem Tod erst Dir

Dein Leben, zit. WILLI FLEMMING, Deutsche Kultur im Zeitalter des Barock, Hb. d.
Kulturgesch., 1. Abt. (Potsdam 1931), 6; MARTIN ÜPITZ: Kein Lob und Name wird er-
klingen weit und breit, Teutsche Poemata (1624), hg. v. Georg Witkowski (Halle 1902),
127.
l34 Zum Typus des Barockporträts vgl. FLEMMING, Deutsche Kultur, 6 f.
135 CHRISTOPH LEHMANN, Politischer Blumengarten (1662), zit. FRANZ FRH. v. L!PPER·

HEIDE, Sprichwörterbuch (Berlin 1934), 132.


13 8 ALFRED RITTER v. ARNETH, Prinz Engen, Bd. 1 (Wien 1858), 337.
137 JoH. FRIEDRIOH SOHULZE, Corpus juris militaris: Nota zu Art. 59, Tit. 9 des Chur-
fürstlich Brandenburgisches Kriegs-Recht und Artikuls-Brief (Berlin 1688), 91; zum
Problem des Duells s. u. S. 40 ff.

21
Ehre II. 4. Reputation und höfische Ehre

rang zwischen Kurfürsten und Kardinälen, zwischen Reichs- und italienischen


Fürsten, zwischen alt- und neufürstlichen Häusern, um den Exzellenztitel der
Gesandten usw. eine umfangreiche gelehrte Literatur hervor, ·an der sich auch
Grotius, Pufendorf und Leibniz beteiligten138 . Je stärker aber der Begriff der Re-
putation individuell überhöht lind damit inhaltlich relativiert wurde, desto geringer
wurde auch seine soziale Relevanz. Seit den Schrecken des Dreißigjährigen Kriege~,
die die menschliche Begrenztheit und Vergänglichkeit bewußt machten, fand er
daher auch wachsende Kritik, so z. B. die gegen Übertreibungen der Reputations-
sucht gerichteten „A-la-mode-Satiren" von MoscHEROSCH139 , Logau, Lauremberg,
Schupp oder die Verspottung von Titelsucht, Komplimentenmacherei und Auf-
schneiderei bei Gryphius („Horribilicribrifax", 1663), Christian Weise („Compli-
mentir-Comödie", 1681) und Christian Reuter („Schelmuffsky", 1696). Viel weiter
gingen dagegen einige Autoren, die von der Sorge um die mit den veräußerlichten
Ehrbegriffen verbundenen sittlichen und politischen Gefahren erfüllt waren. Sie
stellten der Gegenwart eine mehr oder weniger bewußt überhöhte Vergangenheit
gegenüber, in der das seyn werther als der Schein war (LoGAU) 140 • LEIBNIZ, an der
Wende zweier Zeitalter stehend, beklagte die Unfähigkeit des „honnete honnne",
den Anforderungen der Zeit und der drohenden allgemeinen Umwälzung („Re-
volution") zu steuern. Die „public spirits", wie die Engländer sie nannten141 ,
d. h. die hohe, opferbereite Gesinnung einzelner für Vaterland, Gemeinwohl und
Nachkommen, nähmen immer mehr ab und seien nicht mehr zeitgemäß. Les meilleurs
du caractere oppose qui commence de regner, n'ont plus d'autre principe que celuy
qu"ils appelent de l'honne·ut·. Jlwis la marq·ue de l'lwnnesle ltmtmw et de l'lwrnrne
d' honneur chez eux est seulement de ne faire aucune bassesse comme ils la prennent14 2 •
Ein halbes Jahrhundert später beklagte ISAAK ISELIN (1755) das Laster des Ehr-
geizes seiner Zeit, mit dem alle Übel der Republiken und Monarchien aufs engste
verknüpft seien, und stellte ihm das idealistisch überhöhte Bild antiker Ehrbegierde
als einer Neigung der edelsten und der vortrefflichsten Seelen gegenüber 143• Die
christliche Verneinung weltlicher Ehre und Reputation ist auch im 17. und 18. Jahr-

138 Jmrns BERNHABD v. RoHR, Einleitung zur ·Ceremonial-Wissenschaft der großen

Herren (Berlin 1729); MosER, Rest der Geschichte der Excellenz-Titulatur, Kleine Schrif-
ten, Bd. 3 (1752), 1 ff.; d,ers., Von dem Titul: Hoheit, ebd., Bd. 7 (1758), 192. 200. Nach
RRnMANNf:lnÖRFFF.R„ Deutsche Geschic)l.te, 116 f. hatte der Große Kurfürst große Mühe,
von Ludwig XIV. die Briefanrede „mon frere" zu erlangen.
139 HANS MrcHAEL MoscHEROSCH sagte z. B.: wenn ich dieses Worts ('Reputation') ge-

dencke, so jammert mich, daß es so viel vornehme Leute zu Narren machet und so viel Poten-
taten, deren ich unden einen großen hautfen in der Hölle gesehen, zur Verdammnuß triebet,
Gedichte Philanders von Sittenwald, hg. v. Felix Bobertag (1883), DNL Bd. 32 (o. J.),
56.
°
14 FRIEDRICH v. LoGAU, Sinngedichte, hg. v. Hermann Oesterley, DNL Bd. 28 (o. J.),

188.
141 Im Englischen gewann gerade um. die Jahrhundertwende der Begriff der public spirits

eine neue Bedeutung im Sinne von „public opinion".


142 GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ, Nouveaux essais sur I'entendement humain 4, 16, § 4.

Opera (1840), 387.


143 ISAAK IsELIN, Filosofische und patriotische Träume eines Menschenfreundes (Freiburg

1755), 87 ff.

22
Il. 5. Ehrbarkeit und innere Ehre Ehre

hundert weiter tradiert, immer aufs neue angereizt_ und im Pietismus neu stilisiert
worden.
Für HARSDÖRFFER (1655) war der Welt Ehre . . . der größte Betrug in der Welt,
bestand Gottes Ehre aber ... in der W ahrheit144 , während der schlesische Mystiker
ANGELUS SILESIUS 1657 dichtete: Wie töricht sind wir doch, daß wir nach der Ehre
streben! Gott will sie ja nur dem, der sie verschmähet, geben 145 • Hier wurde Ehre zum
Ruhm bei Gott, während später die christliche Wertung rniL den vermeintlichen
Tugenden des ehrlichen Mannes verbunden wurde. HERZOG CARL ALEXANDER
zu WÜRTTEMBERG (1737) erinnerte im Testament seinen Sohn daran, daß ohne
gutes Christentum keiner ein ehrlicher Mann unter den Menschen sein und gehalten
werden kann 146 • FRIEDRICH CARL VON MOSER (1755) stellte den Christen höher als
den ehrlichen Mann. Da, wo der Christ um Christi willen ehrbar lebe, betreibe der
ehrliche Mann nur einen äußerlich ehrbaren Wandel, wie die Welt es verlange.
Christen ... sind ... in der Tat und Wesen, was der ehrliche Mann nur halb, nur
nach dem Schein und in der Einbildung ist 1 4 7 •

5. Ehrbarkeit und innere Ehre

Als stärkstes Gegengewicht gegen die Begriffe der Reputation und des ehrlichen
Mannes erwies sich der verinnerlichte und individualisierte Ehrbegriff, der sich mit
dem Rationalismus der frühen Aufklärung durchsetzte und vereinzelt bis zur
völligen Verachtung des geschätzten Nichts der eitlen Ehre steigerte (ALBRECHT
VON HALL.Kit)14°. Typologi1:1eh ue1:1Llli.t11!L uureh Jen Übergang vom Typus des ehr-
lichen Mannes zu dem des tugendhaften Menschen im Sinne eines wohl auf ethische
Normen eingeschränkten, als auch aus dem Bezug auf Gott gelösten Tugendbegriffes,
dokumentierte sich damit der W cchsel zur geistigen Welt des erstarkenden Bürger-
tums. Dem entsprach auch seine häufige Kennzeichnung durch den Begriff 'Ehr-
barkeit', der im Mittelalter die Bedeutung eines der ständischen Ehre gemäßen

144 GEORG.PHILIPP HARSDÖRFFER, Ars apophthegmatica (Nürnberg 1655), 581.


146 ANGELUS SILESIUS, Cherubinischer Wandersmann 5, 114, Abdruck der 1. Aufl. 1657
mit Hinzufügung des 6. Buches nach der 2. Aufl. 1675, hg. v. Georg l!:llinger (Halle 189ti),
122, vgl. ebAnRo fl, 21. 22. 2:t 24. 25. 30. 76. Dazu auch Beispiele Lei anderen religiösen
Dichtern der Zeit, z.B. bei JOACHIM NEANDER (Ende d. 17. Jahrhunderts): Dieser Zeiten
Eitelkeiten (Reichtum, wollust, ehr und freud / Seynd nur Schmertzen /Meinem Herzen/
Welches sucht die ewigkeit, JOACHIM NEANDER, Glaubens- und Liebeslieder (o. 0. 1732),
34 f. Auf eine Verminderung der Reputationssucht und Verinnerlichung der Ehranschau-
ungen in bürgerlich-puritanischem Sinne wirkte auch der hallische Pietismus hin. Vgl.
CARL HINRICHS, Preußen als historisches Problem, Ges. Abh., hg. v. Gerhard Oestreich
(Berlin 1964), 179; ders., Pietismus und Militarismus im alten Preußen, Arch. f. Kulturgesch.
48 (1957), 278.
148 Zit. FRIEDRICH CARL v. MosER, Der Herr und der Diener, geschildert mit patriotischer

Freyheit (Frankfurt 1759), 163.


147 Ders., Der Christ höher als der ehrliche Mann (1755), Ges. moralische u. polit. Sohr.,

Bd. 1 (Frankfurt 1763), 315. 328. ,


148 ALBRECHT v. HALLER, Über die Ehre (1738), in: ders., Gedichte, hg. v. Ludwig Hirzel,

in: Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, hg. v.
JAKOB BAECHTOLD u. FERDINAND VETTER, Bd. 3 (Frauenfeld 1882), 9.

23
Ehre Il. 5. Ehrbarkeit und innere Ehre

Benehmens hatte und seit dem 14. Jahrhundert zum Ehrentitel für städtische
Obrigkeiten und in adjektivischer Form zum schmückenden Epithet von Pa-
triziern und vornehmen Bürgern149, dann des Bürgertums ganz allgemein wurde,
ebenso aber auch schon bei LUTHER für 'honestum', d. h. im moralischen Sinne,
gebraucht wurde 160• Daher auch vielfach als „moralische" sowie bereits in polemi-
scher Wendung gegen die vorherrschenden ständischen Ehrbegriffe als „wahre"
oder „vernünftige" Ehre bezeichneL, wurde sie seit den letzten Jahrzehnten des
18. Jahrhunderts zunächst nur von den „Sittenlehrern", im 19. Jahrhundert dann
ganz allgemein als „innere" Ehre begriffen, mit der die „äußere" Ehre korre-
spondierte und der die ebenfalls in eine innere und äußere gegliederte Schande
gegenüberstand 151 •
Seine geistigen Wurzeln hatte der verinnerlichte Ehrbegriff in Puritanismus wie
Pietismus, deren den inneren, spirituellen Bereich der lutherischen Lehre von
den beiden Reichen überhöhenden und besonders scharf von der bösen Welt
abgrenzenden Doktrinen säkularisiert wurden. In der englischen Tradition war
dieser Prozeß wesentlich bestimmt durch JoHN LocKE, der 1689 gegenüber der
klassischen Natnrrer.htAlP.hm, da.ß die natürlichen Normen menschlichen Zuao.m
menlebens dem Gewissen der Menschen von Gott eingeschrieben seien, das Gewissen
als our own opinion or judgment of the moral rectitude or pravity of our own actions
definierte, d. h. die Sätze der Moral allein auf das Urteilsvermögen des mensch-
lichen Verstandes zurückführte 152 • Ihren Niedersuhlag fanden hier die rationalistisch
und utilitaristisch bestimmten bürgerlichen Tugendlehren des aufstrebenden Bür-
eert,nmR in dP.n mora.fü;c.hen Wochem1chriften "Tatler" (1709--- 11 ), „Spooto.tor"
(1711-12) und „Guardian" (1713) von Steele und Addison163, die in Deutschland
rasche Verbreitung und Nachahmung fanden.
Daneben wirkte im deutschen Raum Jie vom Pietil:imus vertretenA religiöse Ver-
innerlichung, die Freiheit und Radikalität individueller Gewissensentscheidung
stark auf die Ausbildung des Begriffs der Ehrbarkeit ein154 • Das galt vorzüglich

149 Vgl. LEXER Bd. 1 (1872), 607.


150 P:H. DIETz, Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften, Bd. 1 (Leipzig
1870), 485.
1 h 1 Dt. JJ:nc., .Bd. 8 (1783), 1027 (KÖSTER). KANT sprach z. .B. von der Würde des Men-

schen als einem inneren Wert, Grundlegung 7.nr Met.aphysik der Sitten, AA Bd. 4 (Hl03),
398. Der Begriff 'Ehrbarkeit' für honestum wurde noch bei ZEDLER Bd. 8 (1734), 412 ff.,
der sich speziell auf die Lehre des Thomasius bezog, sowie bei J OH. CHRISTOPH GoTTSCHED,
Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, 2. Praktischer Tl.,§ 783 (1734; Ndr. Frankfurt
1965), '527 verwandt. Bei ADELUNG (1774) und CAMPE (1807) hat er nur noch begrenzt
die Bedeutung von honestum.
152 JOHN LOCKE, An Essay Concerning Human Understanding 2, § 8. Works, vol. l (1823;

Ndr. 1963), 39.


153 The Spectator, vol. 1-4 (London 1710/14; Ndr. 1951/54). Die drei ersten Bände

des „Spectator" erschienen bereits 1719 unter dem Titel „Der Zuschauer" in dt. Übers.,
2. Aufl. (Leipzig 1750/51).
lH AUGUST HERMANN FRANCKE gab z.B. in seinen „Regeln zur Bewahrung des Ge-
wissens und guter Ordnung in der Konversation oder Gesellschaft" (1689) folgenden Rat:
Was du tust, siehe zu, daß dir niemand (viel weniger aber du dir selbst) deinen innern Frieden
und deine Ruhe in Gott störe, zit. Das Zeitalter des Pietismus, hg. v. MARTIN SCHMIDT u.
WILHELM JANNASCH (Bremen 1965), 82 f.

24
II. 5. Ehrbarkeit und innere Ehre Ehre

für CHRISTIAN TirnMASIUS, der als erster in seiner Individualethik vom honestum
die Grundgedanken dieser Ehrauffassung formulierte. (1705). Unter Rückgriff
auf die antiken Begriffe 'honestum', 'justum' und 'decorum' lehrte er, daß das
menschliche Leben glücklich sei, wenn es ehrbar, gerecht und anständig geführt
werde. Für das honestum aber gelte der Grundsatz: Quod vis, ut alii sibi faciant,
tute tibi /acies165. Um den Forderungen der Ehrbarkeit gerecht zu werden, habe der
einzelne Mensch gegen sich selbst - nicht gegenüber anderen - Pilichten zu er-
füllen, nämlich das honestum, seine wahre Ehre, zu pflegen und zu wahren. Diese
Forderung war aber nur dann wirklich erfüllt, wenn das Ehrstreben sich auf der
Vernunft gründete, d. h. in rechtschaffender Erkenntnis der Ausübung des Wahren
und Guten bestehet156 • Die „vernünftige" Ehre hatte ihre Grundlage allein im
tugendhaften Leben, eine Überzeugung, die in den Morallehren der Aufklärung
von Wolff über Gottsched bis hin zu J usti in Enzyklopädien und Wochenschriften
immer wieder zum Ausdruck kam157.
Dieser allgemeine, nicht mehr rechtlich begrenzte Ehrbegriff wurde zur ideologi-.
sehen Positiön der Kritik des „vernünftigen Menschen" an der auf Geburt und
Privilegien beruhenden ständischen Ehren- und Sozialordnung. Für ihn fehlte der
ständischen Ehre jede Berechtigung, konnte die wahre Ehre nur aus den moralischen
Werten des Menschen erwachsen. Ein Handelsmann von Kredit und Ansehen, der
aufrichtig ist und in· allen Verrichtungen pünktlich, hat weit größere Ehre und be-
sitzet viel mehr vom wahren Adel, als ein wilder verscliwenderisclie-r Junker, der mit
viel Titel-Würde und kostbarem Gepräge sich hervortut, hieß es in der Hamburger
Wochenschrift „Der Po.triot" (1721)156. Ein solcher, auf Moral und Vernunft des
Individuums abhebender Ehrbegriff war mühelos init dem alten, im Zeitalter der
Aufklärung neuartig erfahrenen Topos vom Tugendadel im Gegensatz zum Geburts-
adel zu verbinden 159 . Voraussetzung Rowohl für ihren Genuß als auch für ihre
Würdigung war jetzt die vernünftige Einsicht in das Wesen der Ehre. Nach
THOMASIUS (1720) 160 machte der kluge Mann einen Unterschied zwischen wahrer
und eitler Ehre und suchet keinen Ruhm bei dem Pöbel noch bei den Toren, ... sondern

155 CHRISTIAN THOMASIUS, Fundamenta juris naturae et gentium 1, 4, §§ 18. 24. 32 ff„

4. Aufl. (Halle, Leipzig 1718).


166 Ders„ Von der Kunst vernünftig und tugendhaft zu lieben, oder l<:in lAit.irng c'ler Aitten-
lehre, § 73, 8. Aufl. (Halle 1726), 27 f.
157 CHRISTIAN WoLFF, Vernünfftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen,§ 590,

neue Aufl. (Halle 1752), 403; JoH. CHRISTOPH GoTTSCHED, Die vernünftigenTadlerinnen,
Bd. 2 (Frankfurt, Leipzig 1726), 148; JoH. HEINR. GOTTLOB v. JusTI, Die Grundfeste zu
der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 2 (Königsberg, Leipzig 1761; Ndr. Aalen
1965), 220; ZEDLER Bd. 8 (1734), 412 ff.; Dt. Enc„ Bd. 8 (1783), 1026 ff.; Der Patriot
1-3 (Hamburg 1724/26); Der Zuschauer, 2. Aufl., Jg. 1-3 (Leipzig 1750/51); Gelehrte
Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen auf das Jahr 1764; JoH. CHRISTIAN FRIED-
RICH HEINZELMANN, Über Herrn v. Kotzbues Buch vom Adel, Dt. Magazin (August 1793),
1068.
168 Der Patriot 1 (1724), 290.

159 JoH. GEORG EsToR, Der Teutschen Rechtsgelahrtheit, Tl. 3 (Frankfurt 1767), 195

(§ 194). •
16 ° CHRISTIAN THOMASIUS, Kurzer Entwurf der politischen Klugheit (Frankfurt, Leipzig

1720), 276.

25
Ehre Tl. 5. F.hrharkP.it 1U1d innere Ehre

bei denen, die ihrer Tugend und wahren Weisheit halber berühm.J, sind; ähnlich äußerte
sich Wolff in seinen „ Vernün:fftigen Gedancken von der Menschen Thun und
Lassen" (1747) und Gottsched in seinen „Ersten Gründen der gesamten Welt-
weisheit" (1734). Für ZEDLER (1734) war nur ein weiser Mann ... fähig, die wahren
Tugenden zu beurteilen. Der Pöbel dagegen, der sich durch den Schein verblenden
lasse, hänge der „unvernünftigen Ehre" an161 ; JusTI endlich setzte alle Menschen,
welche vor die wahre Ehre eingenommen sind, mit denen, die Vernunft und Erkenntnis
haben, gleich und beklagte zur selben Zeit, daß das, was wir heute zu Tage Ehre
nennen, nichts weiter sei, als das Vorurteil vor einen gewissen Stand und die äußer-
lichen Kennzeichen der Achtung, die wir dem Range, der Macht, denen Reichtümern,.
und andern äußerlichen Vorzügen zugestehen (1751) 162 • Es war nur ein Ausdruck
politischer Klugheit, wenn diesen Anschauungen Rechnung getragen und eine
Anpassung an diese an sich als unvernünftig und betrüglich erkannten Ehr-
anschauungen versucht wurde. So riet THOMAs1us, nicht der Ehre nachzujagen,
dieselbe aber auch nicht auszuschlagen, wenn man sie rechtmäßig erlangen und be-
haupten kanni6 3 • ZEDLER sah in der äußeren Ehre ein Mittel, die Kräfte anderer
Leute mit denen seinigen zu verbinden 164 , nach KösTER war es sogar die Pflicht
eines jeden, bei anderen Menschen nach äußerer Ehre zu streben, da das günstige
Urteil anderer Leute in vielen Fällen nützlich sein könne 165 • Letztlich blieb die
Außenwelt für Thomasius' Lehre vom honestum aber unwesentlich. Eigentlich
„innei·en Frieuen" o<l.er „ wahre Gemütsruhe" konnte der MAnflch allein in der
persönlichen Erfüllung seiner Pflicht.im finclfm.
Damit wurde die Ehre unabhängig von der Beurteilung durch andere und allein
dem persönlichen sittlichen Urteil über die eigenen Handlungen unterworfen, eine
Erkenntnis, die in die W ol:ffsche Philosophie nicht aufgenommen wurde 166 und sich
anscheinenu er1:1t allmählich durchsetzte. Wir finden sie bereits im „Spectator"
(1711) 167 , doch gelangte sie wohl erst seit der Jahrhundertmitte zu weiterer Ver-
breitung. Jetzt wurde es zur Regel der Sittenlehre: Niemand wfrd beleidigt als von
sich selbst 168 • Entsprechend stellte KösTER fest, daß die innere Ehre ihrem Besitzer
nicht genommen werden könne, auch wenn ihm die äußere Ehre versagt oder etwas
181 ZEDLER Bd. 8 (1734), 416.
1 62 JusTr, Grundfeste 11, 41, § 186, ßd. 2, 221.
169 TROMAflms, F.nt.wmf, 276 . .Ähnlich ROim, Ceremonia1-Wissenschaft, 67 (s. Anm. 132),
der die Meinung vertrat, daß ein vernünftiger Mensch auch diejenige Ehre, die er andern erteilt,
annehmen müsse oder er unterwirft sich scmst einer allgemeinen Verachtung und entzieht sich
einen großen Teil seiner äußerlichen Glückseligkeit, für deren Erhaltung er besorgt sein muß.
1 8 4 ZEDLER Bd. 8 (1734), 416. 166 Dt. Enc., Bd. 8 (1783), 1028.
166 WoLFF, Vernünfftige Gedanken,§ 592, S. 403 f.: stehet auch die Ehre nicht in unserer

Gewalt, weil wir nun andere nicht dazu bringen können, unsere Vollkommenheit, oder das
Gute, das wir an uns haben, zu erkennen.
187 Im „Zuschauer", der Obersetzung des „Spectator", heißt es in Tl. 3, 172, 2. Aufl.

(1751), 19: Wenn ein Mann völlig überzeugt ist, daß er nichts verehren, wünschen oder nach
scmst etwas streben muß als nach der eigentlichen Erfüllung seiner Pflicht: so steht es in keiner
Zeiten oder Menschen oder Zufälle Gewalt, seinen Wert zu schmälern. Der ist allein ein großer
Mann, der den Beifall des großen Haufens verachten und frei von dessen Gunst seiner selbst
genießen kann. •
188 Die Raserey der Duelle, Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen auf

das Jahr 1764, 506 f.

26
II. 5. Ehrbarkeit und innere Ehre Ehre

zu Schande angerechnet werde 169 , während schon vorher LESSING in seinem Lustspiel
„Minna von Barnhelm" (1767) die Erziehung des preußischen Offiziers zum Be-
wußtsein seiner inneren Ehre auf die Bühne gebracht hatte 170• KANT schließlich
lehrte die sittliche Autonomie des Menschen (1788) und gab, obwohl er den Begriff
'Ehre' nicht verwandte, doch den nachfolgenden Generationen mit der Maxime
eines vom aufklärerischen Utilitarismus gelösten Pflichtenanspruchs in Befolgung
des Sittengesetzes das tiefste Verständnis des Ehrbegri:ffs 171 • Am klarsten definierte
FICHTE 1795 die durch die Würde der Rittlichen Persönlichkeit bestimmte Ehre:
Es gibt etwas, das mir über alles gilt und dem ich alles andere nachsetze ... Ich will
es Ehre nennen. Diese Ehre setze ich keineswegs in das Urteil anderer über meine
Handlungen, und wenn es das einstimmige Urteil meines Zeitalters und der .Nachwelt
se·in könnte, sondern in dasjenige, das ich selbst über sie fällen· kann. Das Urteil,
welches ich selbst über meine Handlungen fälle, hängt davon ab, ob ich bei ihnen in
Übereinstimmung mit mir selbst blm:be, oder durch sie mich mit mir selbst in Wider-
spruch versetze. Im ersten Falle kann ich sie billigen; im zweiten Falle würde ich
durch sie vor mir selbst entehrt, und es bliebe mir nichts übrig, um meine Ehre vor mir
selbst wiederherzustellen, als freimütiger Widerruf und Gutmachen aus allen meinen
Kräften 172 •
Seitdem nicht mehr wesentlich neu definiert, war die innere Ehre im 18. Jahrhun-
dert durch die allmähliche Verbreitung und Anerkennung des Topos bestimmt,
ein Vorgang, der mit der Durchsetzung der ebenfälls iiberständischen staatsbürger-
liohon Ehre weitgehend iiherP.inging. Seinen Ausdruck fand P.r in dP.r imbjektiv
mehr oder weniger bewußten objektiven Spannung zwischen den sich logisch aus-
sehließendP.n "HP.griffen der inneren Ehre und der jeweiligen, meist durch empfind-
liche rechtliche oder soziale Sanktionen gesicherten ständischen Ehre. Neben der
nicht als Widerspruch empfundenen Trennung der „inneren Per;i~nlichkeit", deren
Unverletzlichkeit durch die Übereinstimmung des Willens mit· dem Moralgesetz
hergestellt werde, von der äußeren, deren Unverletzlichkeit dadurch bewahrt
werde, daß wir . . . alles anwenden, um für die erlittene Schmach uns Genugtuung zu
verschaffen (FÜRST zu LYNAR) 173, trat die Erkenntnis, daß Männer von achtbarem
1se Dt. Enc., Bd. 8 (1783), 1027.
170 Die erste englische Übersetzung der „Minna von Barnhelm" erhielt den 'l'itel: „The
School of Honour".
171 KANT, Kritik der praktiRchen Vernunft,§ 7. AA Bd. 5 (1908), 30 ff.
172 In seinem Rechenschaftsbericht begründete FICHTE das Verlassen Jenas, wo er viel-

fachen Verleumdungen und mit seiner Familie zügellosen Angriffen der Studenten eines
Ordens ausgesetzt war. Der Bericht blieb auf Wunsch des Weimarer Hofes ungedruckt.
Veröffentlicht wurde er in: Johann Gottlieb Fichte's Leben und literarischer Briefwechsel,
hg. v. IMMANUEL HERMANN FICHTE, 2. Aufl. (Leipzig 1862), 45 ff.
17 3 Der Erste Vereinigte Landtag in Berlin 1847, hg. v. EDUARD BLEICH, Bd. 2 (Berlin

1848), 493 f. Dort weitere Beispiele. Derselben Spannung scheint auch. BISMARCK unter-
legen gewesen zu sein, der sich 1881 im Reichstag zum Prinzip der inneren Ehre bekannte:
Meine Ehre steht in niemandes Hand als in meiner eigenen, und man kann mich damit nicht
überhäufen,· die eigene, die ich in meinem Herzen trage, genügt mir vollständig, und niemand
ist Richter darüber und kann entscheiden, ob ich sie habe. Ebenso aber glaubte er, seine Ehre
mit der Waffe wahren zu müssen, wie seine zweimalige Duellforderung an Virchow im
Sommer 1865 zeigt, BISMARCK, Reichstagsrede v. 28. 11. 1881, FA Bd. 12 (1929), 279;
vgl. ebd., Bd. 10 (1928), 244 u. Bd. 14/2 (1933), 695 f.

27
Ehre II. 6. Bürgerliche Ehre

Charakter aus religiösen oder politischen Ansichten in Zwiespalt geraten können


mit den fhundsätzen, mit den Pflichten, welche die Ehre des Standes ihnen aufertegt
(GAFFRON 1847) 174 • Beantwortet nach dem der jeweiligen Ehre zugemessenen
Stellenwert175, hielt dieser Konflikt von erheblicher staats- und gesellschafts-
politischer Bedeutung, wie die überwiegend bürgerliche Literatur zeigt, die ihn
im Sinne einer Erziehung und Wandlung zur inneren Ehre erörterte (u. a. Friedrich
Hebbel, „Maria Magdalena", 1844; Gottfried Keller, „Kleider machen Leute",
1856; Hermann Sudermann, „Die Ehre", 1889; Theodor Fontane, „Effi Briest",
1895), bis ins 20. Jahrhundert hinein an. Erst nach 1914 verlor er seine soziale
Bedeutung.

6. Der Begrilf der bürgerlichen Ehre

Der reohtliohe Begriff der bürgerlichen oder staatsbürgerlichen Ehre erwuchs aus
dem Spannungsfeld zwischen naturrechtlichem Reformanspruch und positiv-recht-
licher Fixierung, zwischen dem allgemeinen, als subsidiäres Reichsrecht gültigen
Römischen Recht in Gestalt des usus modernus und dem keinen status civitatis
kennenden, in viele Rechtskreise gegliederten deutschen Recht, zwischen dem zur
Rechtseinheit und rationaleren Verwaltung und Rechtspflege drängenden ab-
solutistischen Fürstenstaat und den beharrenden Kräften historisch-ständischen
Rechts. Durch die Rezeption verschmolz der Begriff der vollkommenen Rechts-
fähigkeit im deutschen RcchL wiL tltuu au deu Besitz des allgemeineu BUI·gerrechts
geknüpften römisch-rechtlichen· Begriff der e:xistimatio oder dignitas civilis. Aus
dieser Verbindung orwuohfl oin neuer und allgemeiner, nicht mehr nur auf ilie
Standesrechte bezogener Begriff der Ehrlichkeit oder e:xistimatio. Ebenso ergab die
Verschmelzung der deutschen Recht- und Ehrlosigkeit mit der römischen infamia
einen umfassenden Begriff der Ehrlosigkeit oder infamia, der nun nicht mehr auf
das Fehlen der Standesrechte bezogen wurde, sondern den Verlust einer gesetzlich
bestimmten Summe allgemeiner Rechte bezeichnete. Im 17. und 18. Jahrhundert
wurde Ehrlosigkeit sogar mit dem Verlust aller öffentlichen Rechte und Ehren
gleichgesetzt.
In den von der natürlichen Gleichheit der Menschen ausgehenden 8ystemen der
säkularisierten NaLw:rechtslehre des 17. nnd 18. Jahrhunderts wurde dann eine
allgemeine Ehre nicht nur natur-, sondern auch positivrechtlichin überstii.ndisnhem
Sinne postuliert und gegen die auf Stand oder Amt beruhende besondere Ehre ab-
gegrenzt. Typisch hierfür ist die Gegenüberstellung von naturrechtlicher und
positivrechtlicher „existimatio simplex" (naturalis et civilis) sowie ihre scharfe
Scheidung von der „existimatio intensiva", der vom Staat ausgesprochenen Rang-

1 74Der Erste Vereinigte Landtag, Bd. 2,, 255. Dort weitere Beispiele.
175 GAFFRON beantwortete ihn in dem Sinne, ·daß es Sache eines Mannes von Ehre (sei),
aus diesem Zwiespalt zu scheiden und seine Stellung aufzugeben, damit er sein höchstes Gut,
seine Ehre und sein. Gewissen, rette, d. h. ohne einen der beiden sich widersprechenden
Ehrbegriffe in Frage zu stellen. Dagegen strebten die liberalen Politiker durch Aufhebung
der rechtlichen Auswirkungen des ständischen Ehrbegriffs eine Lösung des Konfliktes im
politischen Bereich an.

28
II. 6. Dürgediche Ehre Ehre

ehre, durch SAMUEL PuFENDORF (1683) 176 • Die erstere kam jedem Menschen von
Natur aus gleichermaßen zu und konnte ihm von niemandem genommen werden
außer auf Grund eigener gesetzloser Handlungen. Die zweite stand jedem „civis"
solange zu, wie er die staatlichen Rechte und Gesetze achtete 177 . Keinen Anteil an
ihr hatten allerdings diejenigen, die - obwohl nach dem Naturrecht durchaus
ehrenwert - unfrei waren, bzw. aufgrund von unehrlicher Geburt und Hantierung
oder eines Gerichtsentscheids - nicht aber etwa auf Grund von privaten Urteilen -
ihre Bürgerrechte voll oder teilweise verloren hatten1 7 8 •
Damit war die „existimatio simplex civilis" als ein im Grunde negatives Recht
definiert. Das Recht auf Ehre im Staate ist . . . nur das Recht, nicht ohne sein V er-
schultlen für ehrlos ausgegeben zu werden (FICHTE 1799) 179• Entsprechend wurde die
„existimatio civilis", die im Laufe des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum
als gemeine oder bürgerliche Ehre, vorher auch schon in der Bezeichnung des
'ehrlichen Bürgers' .neben die ständische stadtbürgerliche Ehre trat 180 und für
die seit der Französischen Revolution und der preußischen Reformzeit auch der
Begriff der staatsbürgerlichen Ehre üblich wurde, im naturrechtlichen Schrifttum
immer wieder definiert, allerdings nicht immer unter klarer Scheidung von gutem
Ruf on11r gnt11m Namen, der unabhängig vom Staat allein dem Urteil der Mit-
menschen unterworfen war18l.
Von der „existimatio simplex" grenzte PUFENDORF die auf besonderen Leistungen
und Tugenden beruhende spezielle Amtsehre, die „existimatio intensiva", streng

1 76 SAMUEL PUFENDORF, De iure naturae et gentium (1688), 8, 4, §§ 2 ff. In § 6 wurde die


bürgerliche F:hre definiert: exi8timatio simplex intra civitates degentiwm est, q·u,u, q·u·is 'JfTU
membro saltem vul{/ari, eoque integro civitatis reputator; seu ut quis juxta leges et nwres
civitatis pro vitioso ejusdem membro nmi fuerit declurutus, et aUq·uo esse numero, caputque
habere intelligatur.
177 Entsprechend hieß es bei SPINOZA, Ethices 4, Propositio 37, Scholium 2 (1677): Est

itaque peccatum nihil aliud, quam inobedientia, quae propterea solo Oivitatis jure punitur,
et contra obedientia civi meritum ducitur, quia eo ipso dignus judicatur, qui Oivitatis commodis
gaudeat, Opera, hg. v. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Bd. 2 (Heidelberg o. J.), 238.
Dagegen erwuchs bei HOBBES, Leviathan 10. 18. 28 zwar aus der Vertragstheorie im staat-
lichen Bereich die Gleichheit aller Untertanen, doch sind sie gegenüber dem Souverän
ohne Ehre. Seine DefmiLiun der· Ehre: For lu:maur CO'IUJisteth only i1i the opinwn of power
wie seine Auffassung vom Staat schlossen eine allen Bürgern gleicherweise zukommende
Ehre aus. Sie war nur als vom Souverän, der Quelle aller Ehrungen, verliehene Amts- oder
Rangehre zu denken, HoBBES, Leviathan, EW vol. 3 (Ndr. 1966), 74 ff. 159 ff. 297 ff.;
Zitat ebd., vol. 3, 80.
178 So auch bereits schon Huao GROTIUS, De iure belli ac pacis 2, 21, 5, § 7 (Paris 1625).
179 FICHTE, Grundlage des Naturrechts, AA 1. Abt., Bd. 4 (1970), 48.
180 JOHANN GEORG EsTOR, Bürgerliche Rechtsgelehrsamkeit der Teutschen, Tl. 1 (Mar-

burg 1757), 152 ff. verstand Bürgerrecht und Bürgerehre noch allein im Sinne des ständi-
schen Stadtbürgertums.
181 CHRISTIAN WoLFF, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Men-

schen,§ 471, 4. Aufl. (Frankfurt, Leipzig 1936), 531 bezeichnete als ehrbar denjenigen, in
·dessen äußerlichem Wandel man nach den bürgerlichen Gesetzen nichts auszusetzen findet;
CHLADENlUS, Vom ehrlichen Mann (1751), 82 sagte, ehrlicher Bürger sei, welcher sich böser
Werke enthalte und in seinen Geschäften Treu und Glauben halte; SONNENFELS, Grundsätze
der Policey, Handlung und Finanzwissenschaft, Tl. 1, § 252 (Ausg. München 1787), 127

29
Ehre II. 7. Durchsetzung im 19. Jahrhundert

ab 182 • Verliehen durch den staatlichen Souverän, führte sie bei ihm praktisch zu
einer hierarchischen Ordnung der Ehrenränge, die zur überkommenen geburts-
ständischen Ordnung im Gegensatz stand. Diese scharfe Scheidung wurde auch von
anderen Naturrechtslehrern übernommen. Am deutlichsten von CHRISTIAN GOTT-
HELF HÜBNER (1800), der - in konsequenter Anwendung des Gleichheitsprinzips
der staatsbürgerlichen Ehre - die gemeine Ehre zur unabdingbaren Voraussetzung
der besonderen, einem Stand oder Amt durch den Staat zugewiesenen Würde er-
klärte. Die Aufhebung der en1teren mußte mit der völligen Vernichtung der bürger-
lichen Existenz auch die Standes- oder Amtsehre zerstören 183 •

7. Durchsetzung des Begrüfs der bürgerlichen Ehre im 19. Jahrhundert

Auf die drei großen Rechtskodifikationen um die Jahrhundertwende übten diese


naturrechtlichen Auffassungen stärksten Einfluß aus. Im österreichischen „All-
gemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, 1. Teil" (1786) und im „Allgemeinen Gesetz
über Verbrechen und derselben Bestrafung" (1787) wurde das Gleichheitsprinzip
für alle Untertanen zuerst verwirklicht184 . In den französischen Verfassungen von
1791, 1795 und der „Charte constitutionelle" von 1814 wie im „Code civil" und
„Code pen:i.l" Napoleons wurden alle Franzoßcn hinsichtlich ihrer bürgerlichen
Ehrenrechte glcichgcstcllt 185 • Während der Epoche Napoleons auch auf die von
Frankreich beherrschten deutschen Gebiete übertragen, behaupteten sich die fran-
zösischen Gesetzbücher auch nn,oh dom Wic11cr Kongreß in Duden :,iuwie in den
linksrheinischen Gebieten Preußens, Hessens und Bayerns, verbreitete sich vor
allem hier der Begriff einer allgemeinen, bürgerlichen „Ehre". Ebenso politisches
Glaubensbekenntnis wie Waffe des liberalen Bürgertums gegen den ständischen
Ehrbegriff, wurde er z. B. bei der Beratung des BescholtenheitsgeseLzes von 1847
dem Versuch der preußischen Regierung, ständische Ehrprinzipien der allgemeinen

bezeichnete 'Ehre' als die Achtung von der Rechtschaffenheit eines Bürgers, JoH. HEINRICH
JuNG-STILLING, Die Grundlage der Staatswirthschaft (MarbW'g 1792), 84 als die Scltätzwny
des Werts, ... den einem die büruerliche Gesellschaft beilegt; KANT, Metaphysik der Sitten
(1797), AA Bd. 6 (1907), 329 f. betonte, daß jeder Mensch im Staate wenigstens die Würde
des 8taatsbürgers habe, außer wenn er ~ich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat.
182 PUFENDORF, De iure naturae 8, 4, 11 ff. Er lehnte eine Revor:mgimg des Geburtsadels
durch Ehrungen ab; sie sollten nur dem Verdienst zukommen.
183 ÜHRISTIAN GOTTHELF HÜBNER, Über Ehre, Ehrlosigkeit, Ehrenstrafen und Injurien

(Leipzig 1800), 29 f.; z. B. enthielt das bayerische Strafgesetzbuch in Art. 7 ff. die Ketten-
strafe oder Festungsstrafe ersten Grades, die den bürgerlichen Tod zur Folge hatte; ebenso
CARL FRIEDRICH EICHHORN, Einleitung in das deutsche Privatrecht (Göttingen 1823), 255.
184 In beiden Kodifikationen wurden die Untertanen rechtlich gleich behandelt. Der

Begriff der bürgerlichen Rechte erschien allerdings erst im „Allgemeinen bürgerlichen


Gesetzbuch für das Kaiserthum Österreich" von 1811.
185 Im Pflichtenkatalog des Bürgers der französischen Verfassung von 1795, Art. 5, hieß es:

Nul n'est komme de bien, s'il n'est franchement et reliuieusement observateur des lois. In der
Verfassung von 1791, Art. 6: Tous les Citoyens, etant egaux a ses yeux, sont egalement
admissibles a toutes dignites, places et emplois publics selon leur capacite et sans autre
distinction que celle de leurs vertus et de leurs talens. Ebenso Code Napoleon, 2. Aufl. (Dessau,
Leipzig 1808), Art. 1, Tit. 1, Kap. 1; Art. 7 ff.; Code penal, Art. 28 ff.

30
II. 7. Durchsetzung im 19. Jahd1wulerl Ehre

bürgerlichen Ehrenhaftigkeit zu substituieren, entgegengesetzt. Die bürgerliche Ehre


werde dargestellt durch die Achtung, die die Person in der Gesellschaft genieße.
Diese Achtung beruht auf der Ansicht der Gesellschaft, daß die einzelne Person in
ihrem Rechtsbewußtsein mit den Sitten dieser Gesellschaft in ungetrübtem Einklang
stehe ... Die Verletzung des allgemeinen Rechtsbewußtseins durch Handlungen be-
straft das Strafgesetz, und nur dann, wenn das Strafgericht festgestellt hat, daß der
einzelne von dem Rechtsbewußtsein der Gesamtheit abgewichen ist, . . . kann mit
Sicherheit sein Ruf für bescholten erachtet werden (GusTAV MEVISSEN 1847) 186 .
Dagegen blieb im „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten" (1794)
noch die überkommene ständische Aufgliederung der Ehrenrechte iin Rahmen
einer nicht klar bestimmten societas civilis erhalten 187 . Der Staat machte sich zum
Wächter der sogenannten bürgerl-iclten Ehre, die -wie SvAREZ (1791/92) ausführte -
von den Gesetzen und von den Anordnungen des Staates dependiere und die äußeren
Vorzüge und Aohtungsbezeugungen bezeichne, die jemand vermöge seines Standes,
seines Amtes oder sonstigen Berufs in der bürgerlichen Gesellschaft zukommen 188 •
Entsprechend suchte das Strafrecht die ständische Abstufung zu erhalten, indem
es Ehrenkränkungen je nach Stand des Beleidigers und des Beleidigten unter-
schiedlich ahndete 189 . Erst die preußische Reformbewegung versuchte, im Sinne
Kants die st~ndischen Ehrbegriffe aufzulösen und in allgemein menschliche zu
überführen190 . Unter dem Einfluß der historisch-konservativen Anschauungen von
Romantik und Restauration wurden die Ideen der Aufklärung aber zurückgedrängt,
gewann der stiindische Ehrbegriff wieder Btärkere Bedeutung.

186 Der Erste Vereinigte Landtag, Bd. 2, 202 (s. Anm. 173). Nach dem Gesetzentwurf sollten

die Personen als bescholten erachtet werden, die durch ein militädsches Ehrengericht ver-
urteilt oder auf gesetzlichem Wege vom Bürger- oder Gemeinderecht ausgeschlossen
worden waren. Auch sollten die ständischen Rechte ruhen, wenn Bürgerrecht oder Ge-
meinderecht ruhten, eine Kuratel oder Kriminaluntersuchung eingeleitet und die ständi-
sche Versammlung beschlossen hatte, das Verfahren eintre'ten zu lassen. Ähnlich die Aus-
führungen von CARL WELCKER, Art. Infamie, RoTTECK/WELCKER Bd. 8 (1839), 310ff.;
GusTAV DROYR"EN, Rede zur tausendjährigen Gedächtnisfeier des Vertrages von Verdun
(1843), in: Deutsche Akademiereden, hg. v. FRITZ STRICK (München 1924), 89 ff.
187 ALR Tl. 1, Tit. 1, § 2: Die b'üryerUche Gesellschaft bestelit aus mehreren kleineren, durch

Natur oder Gesetz oder durch beide zugleich verbundnen Gesellscliaften und 8tiindPitL Ein
allgemeines Staatsbürgertum kennt das ALR noch nicht. Zu den im ALR verwandten
Begriffen 'Einwohner', 'Mitglied', 'Untertan' und 'Staatsbürger' vgl. REINHART KosELLECK,
Preußen zwischen Reform und Revolution (Stuttgart 1967), 660 ff.
188 CARL GoTTLIEB SYAREZ, Vorträge über Recht und Staat„ hg. v. Hermann Conrad u.

Gerd Kleinheyer (Köln, Opladen 1960), 385.


189 ALR Tl. 2, Tit. 20, 10. Abschn.; SvAREZ, Vorträge 380. Allerdings wurden die Kanton-

freien, Examinierten, Adel und Offiziere zum höheren Bürgerstand mit gleichem Recht
zusammengefügt und vom niedern Bürgertum get;rennt. Durch die VO vom 30. 12. 1798
wurde der Kreis der zu schützenden Oberschicht eingeschränkt, 1836 aber wieder für den
oberen Bürgerstand, Adel und Offiziere bestätigt. ALR Tl. 2, Tit. 20, § 653; Novum corpus
conatitutionum, hg. v. CHRISTIAN OTTO MYLIUS, Bd. 10 (Berlin 1798). Verordnung vom
9. 2. 1836, GSgl. 164, zit. KosELLECK, Preußen, 98 ff.
190 Die Reorganisation des Pr!'lussischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. 1, hg. v.

GEORG WINTER (Leipzig 1931), 319.

31
Ehre II. 7. Durchsetzung im 19. Jahrhundert

In Anknüpfung an Geschichte und Christentum entsprang er im wesentlichen der


Vorstellung einer organisch gewachsenen ständischen Ordnung und entwickelte
sich zum ideologischen Gegenbegriff gegen den von der Revolution vertretenen
Begriff bürgerlicher Gleichheit und der aus ihr erwachsenen allgemeinen bürger-
lichen Ehre. Dem Anwalt des historisch Eigentümlichen und bodenständig Ge-
wachsenen, JusTus MösER (1774/86), erschien die ständische Ehre, die ihm in ihrer
Gliederung Ausdruck der von jedem Stand dem Staatsganzen geleisteten eigentüm-
lichen Dienste war und daher einen bedeutsamen politisch-sittlichen Wert dar-
stellte, ebenso durch den modernen Obrigkeitsstaat wie durch Aufklärung, christ-
liche Religion und Philosophie gefährdet. Durch sie kam es zur Vermischung des
mit besonderer staatlicher Ehre begabten Bürgers mit dem im Staatsgebiet woh-
uernleu, aLer keine 1:1LaaLlieheu Reehte und Pflichten tragenden Menschen, dem nach
neueren Begriff gleichen Bürger und Untertanen. Die Erhaltung und Pflege der
Ehre in den Körperschaften und kleineren Gomoinwosen des Volkes ·gewann daher
bei ihm entscheidende Bedeutung, um dem Staat Dienst und Pflichtbewußtsein
seiner Bürger zu erhalten und in seinem Interesse neue politische Kräfte zu
wecken191 •
Von den Anschauungen des Pietismus, der Luthers Scheidung zwischen weltlich-
ständischer Ordnung und religiöser Gleichheit vor Gott aufs äußerste zuspitzte,
bestimmt, empfand die Gruppe der religiösen Patrioten192 die 1:1tändische Gliederung
mit ihren unterschiedlichen Ehren und Rängen als gottgewollten Ausdruck der
natürlichen Vielgestaltigkeit und Ungleichheit der Mom1chcn. IlEitnER (1774)
beklagte, daß jetzt bei der allgemeinen Vermischung der Stände, bei dem Herauf-
dringen der Niedern an die Stelle welker, swlzer und unbrauchbarer Hohen, um in
kurzem noch ärger als sie zu werden - die stärksten, notwendigsten Grundplätze der
Menschheit leerer werden 19 a. JOHANN KASPAR LAVATER (1798) nannte alle Begriffe
und Lehren, wodurch Freiheit in Gesetzlosigkeit und Frechheit verwandelt, eine völlige
Gleichheit der Stände, des Ranges und der Würde in einer Staats-Gesellschaft . . . ge-
lehrt wird, ... falsch, abscheulich, verdammlich 194• Von diesem Standpunkt war es
nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem der politischen Romantik, die der staats-
bürgerlichen Gleichheit von Recht und Ehre die historisch erwachsene, in ständiger
Weeh1:1elwirkung stehende Rechtsvielfalt der den einzelnen bindenden Lebenskreise
wie Stände, Korporationen, Familie und die mit ihnen verbundene besondere Ehre
und Würde der Standesgenossen entgegenstellte. FRIEDRICH BARON DE LA MoTTE-
FouQUE wies (1819) die englische Auffassung der bürgerlichen Ehre zurück,
wo der EhrbegriO juridisch bestimmt und abgewogen wird und keine öffentlich erlittene,

,191JusTus MösER, Patriotische Phantasien, SW Bd. 4 (1943), 130ff. 170f. 240ff.; Bd. 5
(1945), 11 ff. 22 ff. 137 ff.; Bd. 6 (1954), 108 ff.
192 Dazu gehörten vorzüglich: Friedrich Carl von Moser, Friedrich Gottlieb Klopstock,

Johann Kaspar Lavater und Johann Gottfried Herder; vgl. GERHARD KAISER, Pietismus
und Patriotismus im literarischen Deutschland (Wiesbaden 1961).
193 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der

Menschheit, SW Bd. 5 (1891), 576.


194 JoH. KASPAR LAVATER, Christliche Belehrung für Zürich (Predigt v. 11. 2. 1798),

Nachgel. Sehr., hg. v. G. Gessner, Bd. 4 (Zürich 1801/2), 262, zit. K.AlsER, Pietismus, 89.

32
II. 7. Durchsetzung im 19. Jahrhundert Ehre

wenn nur vom Gericht irgenil mißbilligte Schmach die ritterliche, bürgerliche und
M ilitair-Ehre antastet. Was wir unter Rittergeist suchen unil . . . unserem ganzen
Volke wünschen, verträgt sich mit dergleichen Verhältnissen nicht195 .
An das historische Gesellschaftsbild noch vor Schaffung des souveränen Staates,
aber ohne den den Romantikern eigenen Sinn für Werden und Bewegung und
höhere Formen der Gemeinschaftsbindung knüpfte ÜARL Lunwm VON HALLER an.
Sein aus Familien und Korporationen aufgebauter Patrimonialstaat kannte keine
societas civitatis, in ihm erforderte die Gleichheit vor dem natürlichen Gesetz,
daß jeder bei seinem Recht (d. h. seinen Privilegien) gelassen und geschützt werde,
jedem seine Ehre erwiesen wird, so weit er sie verdient oder sich derselben würdig
macht196 .
Vom christlich-germanischen Kreis der Gebrüder Gerlach aufgenommen, wirkten
diese Gedanken wesentlich auf Gesetzgebung und Politik des vormärzlichen Preußen
ein und führten dazu, daß die Begriffe der ständischen Ehre und der allgemeinen
bürgerlichen Ehre immer weiter auseinandertraten. Dies fand seinen Ausdruck in
den Auseinandersetzungen preußischer Juristen, die einerseits die äußere Ehre in
der bürgerlichen Ehre, d. h. in der Würdigkeit einer Person, zu der Stellung, welche
sie in der bii.rgerli'.chen. Ge.se.ll.~r:hn.ft. he.hrw.ptp,t, flrhli!lkfam 197 , andererseits aber jede
bürgerliche Ehre mit der Standesehre gleichsetzten („Centralblatt", 1839) 198 • An der
zweiten Auffassung suchte die staatliche Gesetzgebung festzuhalten, mußte aber
immer mehr zurückweichen. Der als Weitcrcntwicklung des Strafgesetzes im ALR
gedachte Btro.fgo11otzbuchentwurf von 1843 ließ die Untcmchcidung dor Injurien
strafen nach den Standesverhältnissen fallen, hielt aber doch an dem Prinzip fest,
daß derjenige, welcher in der bürgerlichen Gesellschaft einen höheren Grad i1on Ehre
genießt als ein anderer, durch eine Beleidigung seiner Ehre auch eine größere Rechts-
verletzung erleidet als dieser und daß die Beleidigung des ersteren strenger als die des
letzteren gestraft werden müsse199.

19 & FRIEDRICH BARON DE LA MoTTE-FouQuE, in: Etwas über den deutschen Adel über

Ritter-Sinn undMilitair-Ehre in Briefen von Friedrich Baron de la Motte-Fouque und Fried-


rir.h P11rth11R in Hamburg (Hamburg 1819), 31. Ebenso FRIEDRICH SCHLEGEL, Über die neuere
Geschichte (1811); ADAM MÜLLER, Element der Staatskunst, 16. Vorlesung (1809) u. a.
19 ° CARL LUDWm V. HALL.lll!t, RestauraLion uer SLaal.swissenschaft, 2. Aufl., Dd. 3 (Winter-

thur 1821), 349. In seinen Randbemerkungen zu Humboldts Verfassungsentwurf vom


Dezember 1814 forderte auch der FRH. VOM STEIN die Sicherung der Ehrenrechte jedes
Standes. Sie sollte vorzüglich durch Geschworenengerichte mit öffentlichem Verfahren,
zusammengesetzt aus je zur Hälfte durch den Fürsten und die Stände ernannte und ohne
richterliches Urteil nicht absetzbare Richter gewä.hrleiRt.f1t. Wflrilfln, vel. fl-F.RHARD RITTER,
Stein. Eine politische Biographie, 3. Aufl., Bd. 2 (Stuttgart 1958), 262.
197 C. L. MÜLLER, Die Lehre von Injurien nach den Vorschriften der Preußischen Gesetze

systematisch zusammengestellt (o. 0. 1839).


198 HEINRICH GRÄFF /LUDWIG PETER v. RÖNNE/ HEINRICH SIMON, Ergänzungen und Er-

läuterungen der Preußischen Rechtsbücher durch Gesetzgebung und Wissenschaft, Bd. 7


(Breslau 1842), 480.
199 Denkschrift über die zur ständischen Beratung gestellten Fragen des Strafrechts (1843),

20, StA Koblenz 403 a/125. Im „Entwurf des Strafgesetzbuches für die Preußischen
Staaten, nach den Beschlüssen des Königlichen Staatsraths" (Berlin 1843), 75 f. hieß es
im § 272: Bei Zumessung der Strafe sind besonders zu berücksichtigen: 1. der Rang und Stand

3-90388/1 33
Ehre II. 7. Durchsetzung im 19. Jahrhundert

Auf Antrag der Preußischen, Schlesischen und Rheinischen Provinzialstände wurde


dieses Prinzip im Entwurf von 1847 aufgegeben 200, in der Verfassungsurkunde
vom 31. 1. 1850 schließlich allen Preußen zugesichert, daß sie rechtsgleich seien und
Standesvorrechte nicht stattfänden201 . Nur der Verlust des als äußere Auszeich-
nung angesehenen Adels bei Einbüßung der staatsbürgerlichen Ehre blieb noch im
Strafgesetzbuch von 1851 erhalten 202 . Er fiel endlich im Strafgesetzbuch für das
Deutsche Reich von 1870 fort2° 3 .
Hatte sich damit der Begriff der allgemeinen staatsbürgerlichen Ehre durchgesetzt,
so war zugleich der rechtlich fixierte ständische Ehrbegriff zu einem rein sozialen
geworden. Diet1en Prozeß des Übergangs der rechtlich-sozialen in nur soziale 8tii.rnfo,
der Herausschälung der ständischen Ehre aus Wld neben der rechtlichen Fixierung
hatte im wesentlichen die Reformbewegung mit der Auflösung der wirtschafts-
ständischen Bindungen ausgelöst. Die Bestimmung der ständischen Ehre lag nun,
wie Hl!lGl!lL erkannte, in der suhjektiven Meinung und der besonde-ren W·illkür, d·ie
sich in dieser Sphäre ihr Recht, Verdienst und ihre Ehre gibt 264 • Entsprechend wurden
auch von konservativen Sozialpolitikern wie Wilhelm Heinrich Riehl (1851) und
Konstantin Frantz (1870) ständische Würden und Achtung als soziale Phänomene
beschrieben, entsprechend die aus der Re.chtsordnung herausgelösten ständischen
Ehrbegriffe in den sozialen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts einer weit-
gehenden Ideologisierung unterworfen.
Im 0-efolge der allmählichen Auflösung und Differenzierung der ständisch-sozialen
Ehre in der 2. Hälfte des rn. Jah.rhunderL1:1 - ein Vorgang, der von ALEXIS DE
TocQUEVILLE bereits 1848 für das demokratische Frankreich beschrieben, aber
aufgrund aoinor Üborzougung, daß die Ungleichheiten der Menschen die ]]hre ge-
schaffen hätten und mit deren Aufhebung in der Demokratie auch diese verschwinde,
nur als Übergangszustand angesehen wurde 205 - erwuchs dann die Erkenntnis
der Bindung von Ehrauffassung und praktischer Ehrenwahrung au deu An-
schauungs- und Verhaltenskodex der jeweiligen sozialen Gruppe einer sich langsam
ausbildenden pluralistischen Gesellschaft. Die Ehre des einzelnen ist gebunden an

des Beleüliger11; 2. d.rM VP.rhiiltn.i.~ de-~ Beleidi'.gten zu dem Beleüliger, insofern dieser dem
ersteren besondere Achtung oder Ehrerbietung schuUZig ist; in § 273: Bei Beleidigungen
1Julcher Per1Jonen, welchen der Beleidiger besondere Achtung oder Ehrerbietung schuldig ist,
soll niemals auf GeUZbuße, sondern jederzeit auf Freiheitsstrafe erkannt werden.
200 Motive zum Entwurfe des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten (Berlin
1847), 59.
201 Preuß. GSlg. (1850), 18. '
202 Ebd. (1851), 103. 105; ebenso im „Entwurf des Stmfgosotzbuohs für dio Preußischen
Staaten" (Berlin 1847), 30; dazu auch: Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der
politischen Bewegung, hg. v. JOSEF HANSEN, Bd. 3/1 (Bonn 1942), 430 ff.
203 Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Tl. 1, Abschn. 1, § 33, hg. v. HANS
RünoRFF (Berlin 1871), 151.
~" 4 HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts,§ 206. SW Bd. 7 (1928), 283.
205 ALEXIS DE ToOQUEVILLE, De la DernocratiA An AmllririnA, ÜAnVrO'ls 1;1ompl., t .. 1/2 (1051),
24 7 ff. La confusi.on est bien plus grande encore dans un 'f!UYS democratique comme le notre, oo
les differentes classes qui composaient l'ancienne societe, venant a se meler sans avoir 'JJU
encore se confondre, importent, chaque jour, dans le sein les unes des autres, les notiona
diverses et souvent contraires de leur honneur. ·

34
a) Adlige Ehre Ehre

den Ehrenkodex seines Gesellschaftskreises.Nur durch ihn kann er geächtet werden.


Dagegen ist der Vorwurf der Ehrlosigkeit ... leicht zu ertragen, ... wann der, dem er
gemacht wird, einer andern Gesellschaft angehört als der ihn Erhebende, wann er also
als selb~tverständlich mit seinem Kreise etwas anders ansieht als der ihn ächtende Kreis, •
hieß es bei PAUL DE LAGARDE 2 os, der damit bereits die - von GEORG SIMMEL
(1908) zuerst beschriebene 201 und in der neuen Soziologie unter Verwendung des
den sozialen Status bestimmendim Prestigebegriffs näher untersuchte 208 - differen-
zierte und relativierte Geltung des Begriffs der sozialen Ehre in der modernen
Gesellschaft andeutete.

8. Die Auflösung der ständischen Ehrhegrift"e

a) Adlige Ehre. Es kennzeichnet den Begriff ständischer Ehrenhaftigkeit des Adels


in den letzten Jahrhunderten, daß der aus dem Mittelalter tradierte jj}hrenvorrang
in der Hierarchie des absolutistischen Ständestaates neu gefestigt wurde und dann
nur allmähliph hinter den sich durchsetzenden· überständischen Ehrbegriffen zu-
rücktrat. Diese überragende Ehrenstellung, an der auch der Of:fizierstand parti-
pizierte, dem in der Literatur „Adelsrang" zugeschrieben werden konnte 209 , hatte
im 18. Jahrhundert gelegentlich zur Gleichsetzung der Begriffe 'Adel' und 'Ehren-
stand' geführt 21 0. Sie beruhte nieht nur auf mit der Afll1m GAhurt verbundenen
Vorrechten und Privilegien, sondern auch auf bestimmten Anschauungs- und
Verhaltensweisen, deren Einhaltung und Bewahrung durch den ständischen esprit
de corps gewahrt wurde. Neben der rechtlich gesicherten Ehrenhaftigkeit stand die
soziale, die auch nach Aufhebung aller Vorrechte in einem immer .stärker Klassen-
und Parteicharakter gewinnenden Stand bis ins 20. Jahrhundert hinein Geltung
behielt.
Der Begriff der dem Geburtsadel (nobilitas) als Stand gegenüber den freien Staats-
bürgern zukommenden größeren Ehrenvorzüge (GoTTLIEB HuFELAND 1803) 211 um-
schloß ebenso Ehrenvorrechte wie bestimmte, die ständische Ehrenhaftigkeit
sichernde Pflichten. Der Adel war nicht nur stärker privilegiert, sondern auch
strenger normiert als die übrigen Stände. Vor allem das letztere· trug dazu bei,

206 PAUL DE LAGARDE. Zum letzten Male Albrecht Ritschl, in: ders., Mittheilungen, ßd. 4

(Göttingen 1891), 403 (gegen Ritschl); Berücksichtigung in der Pädagogik fand diese Ein-
sichtzuerstdurch FRIEDRICHPAULSEN, Pädagogik (1909), 2. u.3. Aufl. (Stuttgart 1911), l 76f.
207 Gli10R.ct STMMli1T., Sor.iologie, 4. Aufl. (Berlin 1958), 326 f. 402 ff.

2os Vgl. zum modernen Prestigebegriff HEINZ KLUTH, Sozialprestige und sozialer Status
(Stuttgart 1957), zur Scheidung der Begriffe 'Ehrn' w1d 'Prestige' vgl. KoRFF, Ehre,
Prestige, Gewissen, 55 ff. (s. Anm. 3).
209 BARON DE LA MoTTE-FoUQUE, in: Adel, Ritter-Sinn und Militair-Ehre, 26. Ähnlich

stell~ LAURENZ HANNIBAL F:rscHER, Der Teutsche Adel in der Vorzeit, Gegenwart und
Zukunft vom Standpunkte des Bürgerthums betrachtet, Bd. 1 (Frankfurtl852),209fest,
daß der in die hökern Milifärstellen einrückende Bürgerstand ... selhst in dem iichten
Geiste des Adelsstandes dem Prinzip der Ehre ·und RittcrUchkeit als recht eigentlicher Adels-
genosse sich anschloß.
210 JAKOB CHRISTOPH BECK /AUGUST JOHANN BURTORFF, Neu vermehrtes historisch-

geographisches allgemeines Lexikon, 3. Aufl., Bd. 1 (Basel 1742), 95.


211 GoTTLIEB HuFELAND, Institutionen des gesamten positiven Rechts (Jena 1803), 53.

35
Ehre II. 8. Auflösung der stäDdischen Ehrbegriffe

seine Exklusivität und damit die Überlegenheit seiner Standesehre zu sichern212.


Typisch hierfür war der Grundsatz der Ebenbürtigkeit, die Pflicht der standes-
gemäßen Heirat für den hohen Adel, die seit der Auflösung des Reiches nur noch
•durch die Hausgesetzgebung der einzelnen Familien rechtlich festgelegt bis ins
20. Jahrhundert hinein gültig blieb. Bei Mißheirat mit einer Person des niederen
Adels, Bürger- oder Bauernstandes erlangte die unebenbürtige Frau nicht den Stand
des Mannes, verlor die Aristokratin Rang und Standesprivilegien, folgten die
Kinder der ärgern Hand 213 • Für den niederen Adel erfolgten im Magdeburgischei:J.
(1688) und später in ganz Preußen (1739) Verbote der gar zu ungkichen, ja gar
.~chändlü-,h,p,n Rhen derer i1on Adel 214 mit Personen des niederen Bürgerstandes.
Vom ALR noch dadurch gesteigert, daß solche Ehen für nichtig erklärt und von
einem königlichen Dispens abhängig gemacht wurden, blieb es ein Instrument der
Scheidung zwischen den gebildeten Ständen (Adel, höherer Bürgerstand), in welchen
!!:in /e'irwres Ehrgefllhl stattfindet, und dem rohesten Pobelhaufen (GRAF DoHNA) 21 h,
das auch noch über seine rechtliche Aufhebung 1869 hinaus weiterwirkte, jedoch
um so stärkeren Widerstand fand, je mehr auch die unteren Stände an Selbst
bewußtsein gewannen21s.
Dooh fönd dieGer übersteigerte Begriff der Ebenbürtigkeit eine ilie BLamfotitihrti
zersetzende Ausnahme im Prinzip der sozialen Kompensation. Bereits 1739 wurde
einem verarmten Edelmann gestattet, daß er d?J,rr,h ... 11,nglp,ir,h.p, ffp,irat und den
ausnehmenden Reichtum einer zwar geringen, doch unberüchtigten Person sich und
seiner Farn1ille aufhelfen könne 917 • Später nicht mehr rechtlich fixiert, fand dieses
Prinzip immer stärker Geltung, je schwieriger die wirtschaftliche Situation des
Adels wurde 218 .
Ebenso scliloß der Ehrbegriff des Adelsstandes unanständige Hantierungen aus.
Neben der Landwirtschaft durfte er nur die auf königliches Regal zurückgehende
Salz~iederei und Eisenverhüttung betreiben 219 . Berufe, welche entweder an sich
selbst unehrlich ... oder doch den Pöbel allein zukommend ,~p,1:n, wor.11 anch die
Handwerke zählten, und sogar die Kaufmannschaft, vornehmlich aber der kleinen

212 Vgl. hierzu SIMMEL, Soziologie, 545 ff.


213 BsTOR, ßürgerliche Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 1, 70 (§ 170) zitiert diesen Reichsspruch
von 1282; vgl. CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 530 (s. Anm. 10).
214 CHRISTIAN ÜTTO MYLIUS, Corpus constitutionum marchicorum, Continuatio 1 (Berlin

1755), 251.
215 KosELLECK, Preußen, 107.
2 rn Der Abgeordnete ItösLER ei·kläl'Lt1 in llt11· Deuttluht1n Nationalversammlung 1848: Ein

Harulwerk zu lernen urul Bich ehrlich zu ernähren oder einen Mann zu nehmen, der alB
Harulwerker ein ehrlich Gewerbe treibt, davon kann keine Rede Bein in einem Starule, deBBen
Mitglieder noch hier von dieBer Tribüne von einem General SchuBter urul Schneider veriichtlich
Bprechen dürfen, Sten.Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 2 (Frankfurt 1848), 1S07.
217 MYLIUs, Corpus const. marchicorum, Continuatio 1, 254 ff.
21 R Vgl. dazu ERNEBT KoHN IlRAMBTl!lD, Arit;tuu1·uuy und thc Middle-Classes in Germany,
1
2nd ed. (Chicago 1964), 246 ff..; ERNST v. WoLZOGEN, Ecce ego. Erst komme ich! (Berlin
1895).
219 EiBen urul Salz iBt keine KaufmannBchaft, Bondern eine recht königliche Harulelung,

Allgemeines Haushalts-Lexikon, Bd. 3 (Leipzig 1751), 52.

36
a) Adlige Ehre Ehre

Krämerei und sordiden Hockerei waren ihm untersagt (PAUL JAKOB MARPERGER
1714) 220 . Diese von den Aufklärern als elendes V orurteil 221 bekämpfte Wahrung der
Adelsehre durch Abstinenz von aller bürgerlichen Arbeit wurde im 18. Jahrhundert
durchgehalten und besonders in Preußen im Hinblick auf die Leistung der Sozial-
stände für den Staat als nützlich angesehen. Friedrich II. wollte die Adligen nicht
von dem metier d'honneur abgezogen wissen (1752) 222 . Im ALR wurden 1794 dem
Adel nicht nur bürgerliche Nahrung und Gewerbe wie der Eintritt in geschlossene
Kaufmannsinnungen und Zünfte ohne königlichen Dispens untersagt, sondern auch
mit dem Adelsentzug gedroht 223 •
Erst das Oktoberedikt 1807, das jeden Edelmann ohne allen Nachteil seines Standes
befugte, bürgerliche Gewerbe zu treiben 224, hob das Handel- und Gewerbeverbot
für den Adel auf und eröffnete ihm neue Erwerbsquellen,. ohne ihn verächtlich
werden zu lassen2 25 . Doch blieb vor allem in hochadligen Kreisen die soziale
Wirkung des Ehrbegriffs erhalten, obwohl dieser mit dem steigenden Ehrbewußt-
sein der unteren Stände immer schärfer kritisiert wurde 226 .
Für den Adel selbst wie für adelsfreundliche bürgerliche Autoren schloß der Ehr-
begriff die „Tugend", sei es als angeborene oder als zu erwerbende, nach wie vor ein.
Verstanden als eine Summe ausgeprägter, durch den Standeskodex bestimmter
sittlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen, floß sie am Anfang des 19. Jahr-
hunderts in den romantisch idealisierten Begriff der Ritterlichkeit oder des Ritter-

22 u .l'AUL JAKOB MAfil'.1.atG.1'Jit, NüLzliuhe Fragen ·über die Ka.ufma.nnschaft (Leipzig,

Flensburg 1714), 136. Doch vertraten mehrere Handelsrechtslehrer wie Martens und
Bender auch die Auffassung, daß der Großhandel nicht erniedrige. Der Stadtadel genoß
daher eine geringere Achtung als der Landadel, weil dieser sich vielfältig in die Handelschaft
und das bürgerliche Gewerbe einließ; die Treibung der Handel.~chaft aber bei dem .Adel in
Teutschlande für etwas verächtliches gehalten wurde, EsTOR, Rechtsgelahrtheit, § 150, Tl. 3
(Frankfurt 1767), 165. Das kommt etwa bei MARWITZ zum Ausdruck: Durch die Kinder
der Bankiers, der Kaufleute, der Ideol,ogen und Weltbürger wird 99 Mal unter 100 Fällen
der Spekulant oder der Ladenschwengel hindurchblicken, - der Krämersinn steckt in ihnen,
der Profit ist immer vor ihren .Augen, d. h. sie sind und bleiben gemein, FR.nmRrnH AUGUST
LuDwm v. DER MARWITZ, Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege,
hg. v. füiedrich Meusel, Bd. 1 (Berlin 1908), 511.
221 JoH. HEINR. GoTTT.OR v .•TTTRTT, Vollständige Abhandlung von den Manufacturen und

Fabriken, Bd. 1 (Kopenhagen 1758), 131; schon vorher JoH. MICHAEL v. LOEN, Der
Kaufmanns-Adel, 3. Aufl. (Frankfurt 1745), 15 ff.
222 Zit. WoLF-GUENTHER BENNECKE, Stand und Stände in Preußen vor den Reformen

(phil. Diss. Berlin 1935), 19. Die Kaufmannschaft wru·de dem Adel in Preußen in den
Gesetzen aus den Jahren 1682, 1697 und 1713 verboten.
22a ALR Tl. 2, Tit. 9, §§ 76. 79. 81 f.
224 Preuß. GSlg. (1807), 171.
226 FRIEDRICH WILHELM III. veranlaßte in der Kabinettsordre vom 3. 9. 1807, daß die

Zulassung des Adels zu bürgerlichen Gewerben in möglichst allgemeinen Ausdrücken,


wobei niemand, seine Ehre gcloränlct kaltem kann, im fassen sei, indem es imbedenlcUch. ist,
dem .Adel jedes bürgerliche Gewerbe zu überlassen, das seiner eigenen Meinung nach dem
Stande desselben nicht unangemessen zu halten ist.
22 8 Vgl. ERNST MoRITz ARNDT, Die Rheinischen ritterbürtigen Autonomen (Leipzig 1844),

27; THEODOR MUNDT, Die Geschichte der Gesellschaft (Berlin 1844), 253; KURT WIEDEN·
FELD, Das Persönliche im modernen Unternehmertum (München 1920), 96 f.

37
Ehre ß. 8. Auflösung der ständischen Ehrbegriffe

geistes ein. Gegenüber kritischen bjirgerlichen Autoren, die in diesem Begriff nur
die sogenannte Offiziers-Ehre, das Prinzip des Militair-Adels, die Maxime des
„Ma.nm1 von RhrA" (im fl.p,ef\m111.t:r. :r.nm „F.hr1mma.nn") 11rblickt.en, die darin bestehe,
daß kein Zweifel am persönlichen Mut geduldet, daß jeder Anstrich von Feigheit
durch Tat und Blut abgewaschen werde, während alles andere Rechtliche und Gute
und Adliche ... Natur und Verdienst des Individuums sei 227 , faßte ihn der Adel als
ein umfassendes ständisches Ehrprinzip auf. MoTTE-FOUQuE bezeichnet ihn als
die höhere Ehre, die der preußische Offizier über die Militair-Ekre hinaus pfl.egP. 228 ,
MARWITZ (1832/37) idealisierte als dem Rittertum ähnlich . . . die Entsagung jedes
persönlichen Vorteils ... , wenn ... nur die Ehre bliebe, die Aufopferung ... für
König, Vaterland, Kameraden und die Ehre der preußischen Waffen, das Pflichtgefühl
und die Treue im Offiziersstand unter Friedrich dem Großen 229 • FRIEDRICH JuLius
STAHL (184u) u111l H.l!l.KMA.N.N WAU.l!l.N.l!J.K (18u9) kennzeichneten den Ritterstand
durch die Treue und die spezifischen Begriffe 'Ehre' und 'edle Sitte', stellten ihm
aber ebenso wie JosEPH VON EICHENDORFF und bürgerliche Kritiker als Gegen-
begriff das schlechte Junkertum gegenüber, das sie als anmfJ,ßliche Überhebung und
eine innere Hohlheit bei geschliffenen Formen de:finierten 230 •
Mit diesem Ehrbegriff verknüpfte sich die besondere adlige Lebensform, die aus dem
mit Stand und privilegierter Stellung verbundenen Bewußtsein von Vorrarig und
Würde, wie au! der vorzüglich auf Deherrschung formaler WerLe awigerichteLen
Erziehung und Schulung erwuchs und ihm in der Gesellschaft Ansehen und Würde
verlieh. Am Ende des 18. Jahrhunderts von Christian Garve (1792) und Goethe
(1798) als harmonische Verbindung von natürlichem Selbstbewußtsein und voll-
kommener Selbstzucht, von formvollendetem Auftreten und vornehmen An-
stand231 beschrieben, behielt sie -wenn auch abgeschwächt - im 19. Jahrhundert

227 PERTHES, in: Adel, Ritter-Sinn und Militair-Ehre, 87 f.; ARTHUR ScHOPENHAUER,

Aphorismen zur Lebensweisheit, SW Bd. 5 (1946), 394 f.


228 FouQui, in: Adel, Ritter-Sinn und Militair-Ehre, Nachschrift, 26.
229 lliRWITz, Ein märkischer Edelmann, Bd. 1, 512. Dazu die kritischen Äußerungen

EICHENDORFFs, daß es sich um kein in sich geschlossenes Rittertum im alten Sinne,


sondern nur um das Aufleuchten einzelner bedeutender Persönlichkeiten gehandelt habe,
EmRF.NDOR"FF, Der Adel und die Revolution, Werke u. Sehr., Bd. 2 (1957), 1023 f.
230 FRIEDRICH JULius STAHL, Die Staatslehre und die Prinzipien des Staatsrechts, in:

Die Philosophie des Rechts, 5. Aufl.„ Bd. 2/2 (1878; Ndr. Darmstadt 1963), 112; vgl.
WAGENER Bd. 1 (1859), 384 f. Für Stahl gab es also auch ein gutes Junkertum, während
im bürgerlichen Lager der Begriff 'Junker' ganz allgemein eine negative Bedeutung hatte.
In der Paulskirche erklärte z. B. der Abgeordnete ANDREAS CHRISTIAN ANTON K:rERULFF:
Die gegenwärtige demokratisc'he Bewegung ist nicht gerichtet gegen das ursprünglich. wahre
und reine Wesen des .Adels, sarulern gegen das Zerrbild, desselben, das ist: das Junkertum,
Sten.Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 2 (1848), 1298. EICHENDORFF, Adel und Revolution,
Werke u. Sohr., Bd. 2, 1024, schrieb über das „Ritterwesen" der jungen Kavaliere: ... vom
ehemaligen Frauendienst die fade Liebelei, von der altdeutschen Ehre einen französischen,
höchstkapriziösen point d'honneur, vom strengen Lehnsverbande einen kapriziösen Esprit de
corps, der nur selten über den ordinärsten Standes-Egoismus hinausgeTangte.
231 Über die Maxime LA RocHEFOUCAULTS: das bürgerliche .Air verliert sich zuweilen bei der

.Armee, niemals am Hofe CHRISTIAN GARVE, Versuche über verschiedene Gegenstände aus
der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bd. 1 (Breslau 1792), 323 ff.;

38
a) Adlige Ehre Ehre

ihre Geltung. So wurde der Ehr-Begriff: beruhend auf dem Glauben an „gute Gesell-
schaft", an riUerliche Hauptqualitl1ten, an die Jle'rpfl'icltl;ung, is·ich flirtwä!l!rend :t'u
repräsentieren, bei FRIEDRICH NIETZSCHE charakterisiert232 • Diese Fähigkeiten
sicherten dem Adel ganz besonders die Ehrenämter am Hof und im Staatsdienst,
zu denen ihn die absolutistischen Herrscher wie vor allem Friedrich der Große
heranzogen 233 und die ihm staatsrechtlich zugesichert wurden. Der Adel ist zu
den Ehrenstellen im Staat ... , wozu er sich geschickt gemacht hat, vorzüglich berech-
tigt, hieß es im ALR, das ihm die Jlerteidigung des Staates sowie die Unterstützung
der äußeren W ürd~ und inneren Verfassung zuwies. Mit dem Begriff der Ehre des
Adels verknüpfte sich daher seit dem 18. Jahrhundert seine bevorzugte Heran-
ziehung zu den Hof- und Staatsii.mlern, Jie er selbst auf seine besondere Befähigung
aufgrund angeborener und anerzogener Standeseigenschaften wie auf die freiwillige
Vcrchrung der anderen Klassen zurückführte 234 und die vor allem in der. Aus-
prägung einer besonderen Dienstehre ihren Ausdruck fand. Die Ehre ist das Gesetz
des Adels, sie gebietet ihm Treue und Gehorsam gegen seinen Fürsten (AUGUST VON
KoTZEBUE 1792) 235 •
Vom aufgeklärten und liberalen Bürgertum, das Bildung und Leistung als alleinige
Kriterien staatlicher Ämterbesetzung vertrat, bekämpft und durch die Reform-
gesetzgebung aufgehoben, fand die Auffassung, daß dem Adel die Ehrenämter be-
vorzugt zuständen, im 19. Jahrhundert nur noch wenige Verfechter. Zu ihnen
gehörte u. a. der oldenburgische' Ceh. Staatsrat LAURENZ HANNIBAL FISCHER1
der der Aristokratie die Bestimmung zum obrigkeitlichen Amt zuschrieb und in
der ihr zukommenden Ehre eine Entschädigung für die Aufgabe der Freiheit wie
für den Verzicht auf Erwerbsgewinn erblickte (1852) 236 • Dagegen trat selbst
FRIEDRICH JuLIUS STAHL 1845 für die Aufhebung aller Einrichtungen ein, die eine

GOETHE, Wilhelm Meisrers Lehrjahre 5, 3. HA Bd. 7 (1950), 290 f.; vgl. auch JoHANNA
ScKULTZE, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Zeit-
schrifren der letzren drei Jahrzehnre des 18 Jahrhunderts (Berlin 1925), 135.
232 FRIEDRICH NIETZSCHE, Aus dem Nachlaß der Achtziger Jahre, Werke, Bd. 3 (1956),

664.
233 FRIEDRICH DER GROSSE, Das politische Testament von 1752, Werke, hg. v. Gustav

Berthold Volz, Bd. 7 (Berlin 1912), 145: Im großen und ganzen stellt der Adel eine Körper-
schaft dar, die Achtung verdient ... Dieser würdige Adel hat Gut und Blut im Dienste des
Staates geopfert.
234 ALR Tl. 2, Tit. 9, § 35; Tl. 2, Tit. 9, § 1. Vgl. PHILIPP v. ARNIM, Ueber den Adel,

Rezension und Auszüge, Neue allg. dt. Bibi. 3/2 (1793), 547; FRIEDRICH WILHELM
v. RAMDOHR, Ueber das Verhältnis des anerkannren Geburtsadels deutscher monarchischer
Staaren in den übrigen Klassen ihrer Bürger, Berlinische Monatsschr. 17/1 (1791), 124.
250. Hierzu JusTUS MösER: Über die Einwendungen des Herrn K. gegen die Abhandlling:
Wie und wann mag eine Nazion ihre Konstitution ändern?: Die Achtung (vor der edlen
Geburt) schein.et eben.110 1:n der Empfindung der Menschen zu liegen, wie die Ehrfurcht, welche
man dem Alter beweiset, Berlinische Monatsschr. 19/1 (1792), 514; MARwrrz, Ein märki-
scher Edelmann, Bd. l, 512: die bürgerlichen Staatl!beamten Ueßen ilim (dem Adel) jeder-
zeit den Vorrang, wie etwas, was sich ganz von se'lbst verstand.
235 AUGUST v. KoTZEBUE, Vom Adel (Leipzig 1792), 230 f.
236 FISCHER, Teutscher Adel, Bd. 2 (1852), 212 ff. (s. Anm. 209).

39
Ehre II. 8. Auflösung der ständischen Ehrbegriffe

wesentlich höhere Ehre des Adels als der anderen Stände ausdrückten. Nur an der
bevorzugten Hoffähigkeit des Adels hielt auch er fest 237 • Sie blieb bis ins 20. Jahr-
hundert hinr.in wf\Rfmtlir.hf\R F.lement des adligen Ehrenvorranges.
b) Ritterliche Ehrenwahrung: das Duell. Der ritterliche Ehrbegriff fand seinen
schärfsten Ausdruck in der Ehrenwahrung durch das Duell 238 , das sich seit dem
Dreißigjährigen Krieg im Adel und den Berufsständen, flir. den Degen führten, also
Offiziers- und Beamtenstand sowie Studentenschaft, verbreitete. In ihm drückte
sich die Überzeugung aus, daß für eine ehrenrührige Beleidigung Gesetz und Richter
keine hinreichende Genugtuung gäben, sondern eine Handlung nötig sei, durch
die. der Bele1:digte öffentlich zu erkennen gebe, daß ihm die Ehre lieber als se-in Leben
sei und daß er Mut genug habe, jeden Flecken an seiner Ehre selbst mit Gefahr des
Lebens wieder auszulöschen (CARL GoTTLlEB SVAREZ) 239 • Dif\Rll lih11rz1mgung, daß
das Duell eine Form geregelter Selbsthülfe auf einem Gebiete, wo der Rechtsschutz
'Ve'tsayt, eine JtViederherstellung der gegenseitigen Achtung durch das Eintreten mit
der Person und ein ehrenvoller Austrag von Streitigkeiten, in denen keiner dem andern
weichen will, sei (A. v. BoGUSLAWSKI 1897) 240 , blieb bis zum Ende des 19. Jahr-
hunderts in diesen Kreisen ungebrochen. Erst dann wuchs auch in Adel .und
Offizierskorps die von THEODOR FONTANE (1895) ausgesprochene Erkenntnis, daß
der Ehrenkultus ein Götzendienst sei 241 • Nachdem diese Form der jj}hrenwahrung
noch im frühen 17. Jahrhundert von einigen „fiirnflhmen Juristen" 242 für den Fall
noch gebilligt wurde, daß ein vornehmer Beleidigter keinen Richter habe oder der
Beleidiger nicht vor Gericht gezogen werden könne, wurde sie später von den
Rechtslehrern als mit der göttlichen und menschlichen Rechtsordnung im Wider-
i:;prueh 1:1tehend abgelehnt. Mit PUFENDORF erklarten sie des .Hürgers .H.eputation
allein vom Urteil des Souveräns und der Gesetze abhängig 243 • Im folgenden Jahr-
237 STAHL, Staatslehre, Bd. 2/2, 113.
23e Zu diesem Problem vgl. vor allem KARL DEMETER, Das deutsche Offizierkorps in
Gesellschaft und Staat 1650-1945, 4. Aufl. (Frankfurt 1965), 116 ff.
239 SvAREZ, Vorträge, 445.
240 .ALBRECHT v. BoGUSLAWSKI, Die Ehre und das Duell, 2. Aufl. (Berlin 1897), 91.

24 1 In FoNTANEs Roman „Effi Briest" sagt der Geheimrat Wüllersdorf in der Duellfrage
zu Instetten: Das mit dem 'Gottesgericht', wie manche hochtrabend versichern, ist freilich
ein Unsinn, nicht.~ rüwrrn, 11.m.gekehrt, iinser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen
uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt, THEODOR FoNTANE, Effi Briest, Kap. 27. SW
hg. v. Edgar Groß, Bd. 7 (München 1959), 375. 1913 erklärte der preußische Kriegs-
minister im Reichstag: Jeder, der der Armee seit längerer Zeit angehört, wird mir besfiUigen,
daß in den Anscliawungen des Offizierkorps über die Notwendigkeit der Duelle seit 1897
allmählich eine erhebliche Wandlung eingetreten ist. Die Erledigung vieler Ehrenhändel, die
jetzt auf gütlichem Wege erfolgt, war vor 1897 auf anderem Wege als durch einen Waffengang
undenkbar, zit. DEMETER, Offizierkorps, 143.
242 Art. 11 des Duellediktes von 1688, zit: SCHULZE, Corpus juris militaris (1688), 631

(s. Anm. 137) nennt unter den Vertretern dieser Auffassung mit Andreas Aloiatus (1492
-1580) und Henrious Booerus (1561-1630) zwei ältere Reohtslehl'e!', t10 daß man für das
17. Jahrhundert von einer zunehmenden Ablehnung des Duells in der Rechtswissenschaft
sprechen kann; vgl. dazu DEMETER, Offizierkorps, 121 f.
243 PUFENDORF, De jure naturae 8, 4, 8; ebenso auch SCHULZE, Corpus juris militaris, 631,

der als Gegner des Duells die Rechtslehrer Carpzovius, Berlioh, Moller, Virg, Pingizer und
Obreoht anführt.

40
h) Ritterliche Ehrenwahrung Ehre

hundert wurde der dem Duell zugrundeliegende Ehrbegriff als falsch, unvernünftig,
auf einem Vorurteil beruhend im aufgeklärten Bürgertum scharf verurteilt 24 4.
Mit dieser Kritik verbanden sich bürgerlich moralische Ressentiments: Es ist
eine Ehre, die sich mit allen Arten Lastern verträgt, und die Helilen dieser Art sind oft
die verruchtesten Bösewichter 245 • Schärfste Leibes- und Ehrenstrafen, vor allem für
die besonders verächtlichen Beleidiger, erschienen daher unumgänglich 246 . Im
19. Jahrhundert verband sich mit der moralischen Kritik des liberalen Bürgertums
die politische Polemik gegen ständische Vorrechte und für bürgerliche Rechts-
gleichheit247. Doch fand es zugleich auch als Ausdruck der sittlichen und politischen
Ehrenhaftigkeit eine mildere oder sogar positive Beurteilung. Typisch hierfür ist
KARL THEODOR WELCKER (1839), der - bestimmt durch die politischen Aus-
einandersetzungen im Vormärz - im Duell eine Institution sah, die geeignet sei,
die selbständige persönliche Überzeugung von Sittlichkeit und Ehre gegenüber despo-
tischer Gewalt und nnwiirdigP.m RP{jiP.rulrMJRhefehle zu fördern 248 .
Für den absolutistisc.hen Staat stellte der Begriff autonomer Ehrenwahrung eine
Gefährdung der staatlichen Rechtsautorität und der physischen Substanz wichtiger
Berufsstände dar. Er verfolgte daher einerseits das Duell mit drakonischen Strafen,
während er andererseits die ständische Ehrenwahrung in unblutiger Form zu ver-
staatlichen suchte. Da11 „Churfürstlich Brandenburgische Duell-Edict" von 1688
schrieb bei Injurien durch Tätlichkeiten vor, daß der Beleidiger neben der Strafe
schuldig seyn solle, sich in praesentz einiger vornehmen Per.~onen, zu Empfangung
glei'.cher Schläge wn.d inj1trien 1mm Beleidigten zu oUeriren, da.nP.brm. rw,r:h 11nhrifjt- und
mündlich sich erklären, daß er unbesonnener brutalischer weise loßgeschlagen, mit
Bitte, der Beleidigte möchte es ihm vergeben und, was paßiret, vergessen 249•

244 CHRISTIAN WoLFF, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der

Menschen,§§ 373 ff., S. 338 ff. (s. Anm. 181); JAKOB FRIEDRICH v. BIELFELD, Institutions
politiques (Den Haag 1760), 62 ff.; SvAREz, Vorträge, 412.
246 Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen, 10 (1766), 72.

u.a Der Zuschauer 2, 99 (1751), 95. Bei BIELFELD, Institutions, 63 heißt es: OaBBez un
oflicier, qui Be Bera battu, a l,a tete du Regiment, avec un apareil fUhissant et ignominieux;
faites lui trainer Ba honte, et VOU8 Verrez que quelques exemples de fevesite retiendront mille
autres dans leur devoir.
247 Moralische Kritik übten vor allem die Duellgegner in den deutschen Burschenschaften,

deren Einfluß bereits im „Gießener Ehrenspiegel" von 1816 zum Ausdruck kam. Beim
Burschentag in Dresden 1820 wurde das Duell als vernunftwidrig erklärt, wegen seiner
Unentbehrlichkeit aber noch beibehalten. Gegen das Duell richtete sich auch der Progreß
der Zeit nach 1833 sowie eine Bewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu politischen
Auseinandersetzungen kam es deswegen seit 1885 mehrmals im Reichstag, wobei Kon-
servative und Nationalliberale das Duell verteidigten, Fortschrittler und Sozialdemokraten
es kritisierten.
248 KARL THEODOR WELCKER, Art. Infamie, RoTTECK/WELCKER Bd. 8 (1839), 324. 325.

249 Die ersten Duellmamlate erfolgten bereits im 16. Jahrhundert, 1572 in Sachsen, 1578

in Frankfurt, 1583 in Straßburg. Außerdem wurde der Zweikampf schon 1546 den Königs-
berger Studenten verboten. Der Kaiser erließ 1617, die Brandenburgischen Kurfürsten
1652 und 1688 die ersten Edikte gegen das Duellwesen. Im brandenburgischen Duell-
mandat ·von 1688 wurden die Duellanten und ihre Sekundanten auch bei unblutigem
Kampfe mit dem Tod durch den Strang bedroht. Der im Duell gebliebene Adlige sollte

41
Ehre II. 8. Auflösung der ständischen Ehrbe~e

Wenn auch in der Höhe der Bestrafung vielfach abgeschwächt, blieben Duellverbot
und staatsrechtliche Genugtuung bei Injurien in den Kriminalrechten der folgenden
Jahrhunderte erhalten, ohne die von der Standesanschauung bestimmte Geltung
des „point d'honneur" wesentlich einschränken zu können 250 • Der Gegensatz
zwischen Gesetz und Sitte blieb 251 , zumal die staatliche Rechtspraxis selbst zur
Erhaltung des Begriffs einer ständisch-autonomen Ehrenwahrung beitrug. Ab~
gesehen davon, daß der absolute Fürst meist dem aristokratisch-soldatischen Ehr-
begriff verpflichtet war 252 , stand die mit dem Aufbau eines tüchtigen staatstreuen
Of:fizierkorps - nach ScHOPENHAUER (1850) Palliativ für unzureichende Besol-
dung im Staatsdienst253 - notwendige W eckung einer Standesehre unter dem Be-
griff der ritterlichen Ehre im Gegensatz zur politischen Maxime der absoluten
DurnhRetznng neR Rtaatlir.him Rechts. Auf diesen Widerspruch wies schon HoBBES
(1651) hin: The law condemneth d·uels; tlw p·uti-islmwnt ·is ·11wile cap·ital: on the contrary
part, he that refused duel, is subject to contempt and scorn, without remedy; and some-
times by the sovereign himself thought unworthy to have any charge, or preferment in
war 254 • Im Preußen des 18. Jahrhunderts, wo die Könige ebenso um Weckung eines
einheitlichen Ehrgefühls im Offizierkorps wie um Bekämpfung des point d'honneur
mal place (FRIEDRICH DER GRossE) 255 bemüht waren, führte der· Kontrast der
Gesetzgebung mit den Sitten zu der in sich widersprüchlichen Konsequenz: Der
OffirsifYI', dfYI' oioh_ oohlä,gt, wird lroooicrt. Der oioh nicht schlägt, wii-d auch kassiert~ 56 •

durch Ilenkers Hand an einem unehdiuheu Ort eiug!llicharrt, der Bürgerliche au±gehenkt
werden. Im österreichischen Duellmandat von 1752 wurden Kämpfer und Sekundanten
mit dem Tode, im bayerischen von 1779 die überlebenden Kämpfer mit dem Tode, Ver-
mögensentzug und Ehrenverlust ihrer Familien bestraft; vgl. SCHULZE, Corpus juris
milit.aris, 773.
250 Schon im Duelledikt Friedrich Wilhelms I. von 1713 wurden die Strafen gemindert,

vor allem die Todesstrafe wesentlich eingeschränkt. Dazu machten die Herrscher bei
Ehrenaffären häufig von ihrem Degna.digung11rechi Gd..1rauuh. 1791 1:1LellLe Frietlriuh
Wilhelm II. resigniert fest, daß die gänzliche Ausrottung der Zweikämpfe ein Wunsch
bleiben würde (Kabiriettsordre vom 21. 3. 1791). Dazu trug zweifellos bei, daß die auf dem
römischen Ehrbegriff als Verletzung „des Rechts auf Ehre" im Staate beruhende kriminal-
rechtliche Genugtuung sich als ungenügend erwies.
251 KANT, Metaphysik der Sitten, AA Brl. fi (1907), 336; JosF.F MARIA RA.DoWITZ, Reden:

Duelle. Ausg. Sehr., hg. v. Wilhelm Corvinus, Bd. 2 (Regensburg 1852), 168 ff.; BROCK-
HAUS Bd. 4/2 (1841), 530, Art. Zweikampf; ERScH/GRUBER 1. Sect., Bd. 28 (1836), 188;
vgl. ebd., Bd. 31 (1838), 424 f.
2 ~ 2 FriecMch Wilhelm I. wollw 1:1iuh z.B. miL tlem Major v. Jürgas schlagen, als dieser

sich gegen den König vergaß, CuRT JANY, Geschichte der Königlich Preußischen Armee,
Bd. 1 (Berlin 1928), 729.
253 ScHOPENHA.UER, Aphorismen zur Lebensweisheit, SW Bd. 5, 411.

25 4 HoBBES, Leviathan, EW vol. 3 (Ndr. 1966), 292.


255 FRIEDRICH DER GROSSE, Dissertation sur les raisons d'etablir ou d'abroger les lois (1749),

zit. DEMETER, Offizio!'koi·pfl, 120.


256 SV.IBEZ, Vorträge, 415. Im Duell-Edikt Friedrich Wilhelms I. von 1713 hieß es: Wenn

ein Uffizier eine Ldchete begehet oder was auf sich sitzen hat und nicht ein braver Kerl ist;
alsdenn der Obriste solches melden soll, und, Se. Königl. Majestät wollen einen solchen
Offizier kassieren. Dieser wegen das Duell·Edikt nicht aufgehoben werden soll, zit. JA.NY,
Königlich Preußische Armee, Bd. 1, 730. ImReglement von 1726wurdedieunbedingteGe-

42
b) Ritterliche Ehrenwahrung Ehre

Ein Widerspruch, der auch noch hundert Jahre später Geltung hatte, wenn es in
der EinleitungsoJ?dre zur „Ehrengerichts-Verordnung" von 1874 hieß: Einen Offizier,
welcher imstande ist, die Ehre eines Kameraden in frevelhafter Weise zu verletzen,
werde Ich ebensowenig in Meinem Heere dulden, wie einen Offizier, welcher seine Ehre
nicht zu wahren weiß 257 • Die daraus erwachsene rechtliche Unsicherheit aber kam
der Festigung der selbsttätigen Ehrenwahrung entgegen258, ja sie trug dazu bei,
daß die landrechtlichen Ausnahmebestimmungen im Duellverfahren auch auf den
höheren Bürgerstand angewendet wurden und dieser die rechtliche Satisfaktions-
fähigkeit erhielt259 •
Der Widerspruch zwischen Recht und Sitte führte seit Ende des 18. Jahrhunderts
zum Bemühen um eine Vertiefung des kollektiven Ehrbegriffs durch Elemente
individueller Ethik. Ansatzpunkt war dazu die im Entwurf zum ALR erstmalig
vorgeschlagene 260 , an den Genossenschaftsgedanken anknüpfende Ehrengerichts-
barkeit der Standesgenossen zur schiedsrichterlichen Beilegung von Ehrenhändeln.
Fast zu gleicher Zeit (1791) auch zur Unterbindung der Duelle an der Universität
vo~ dem Hofmeister HEINRICH STEPHAN! in Jena angeregt und von den sogenann-
ten „Schokoladisten" verfochten 261 , wurde diese Institution doch erst mit Reform-
zeit und Freiheitskriegen bei den Burschenschaften und in der preußischen Armee
eingeführt 262 : Den von den Verfechtern des Gedankens der Ehrengerichte ver-
tretenen Begriff von der „Wahrung der Ehre" kennzeichnet die Rede des Burschen-
schaftlers Ru.Hbl.K'l' WbJSSbJLHÖJ<'b' (1817): Su wullen W'ir denn uUen yestelten ·v&r aller
W P.lt, daß wfr jf'4en fiir ehrloB fortan halten, der Ehre sucht im Stahl ... , der seine
V ergehunge.n, statt sie einzugestehen, mit der Faust beschönigen und der Wahrheit

horsamspflicht des untergebenen Offiziers für den Fall eingeschränkt, daß er an seiner Ehre
angegriffen wird. Ebenso erließ GRAF KHEvENHÜLLER für sein k.k .. Dragonerregimentu. a.
folgenden Gnmdsatz (1739); Da ein Offizier von $einem Obern mit expressen 1tnd positiven
Worten injuriert wird oder mit dem Swck, Ohr/eigen oder anderes in das Gesicht schlägt, da hat
sielt der Injwrierte ·in selhe'fft Impe/Ju. yu.nz wicht ·1wclt der füwurdhwtüm z·u. lw,lten, ·indem d·ie Elvre
mehr ästimiert wird als das Leben, zit. MAx JÄHNs, Geschichte der Kriegswissenschaften,
Bd. 2 (München, Leipzig 1890), 1579 mit Anm. 1.
2° 7 Zit. DEMETER, Offizierkorps, 290; dazu auch FRIEDRICH PAULSEN, System der Ethik
(1889), 11. u. 12. AuH., .Hd. 2 (Stuttgart 11)21), 10!}.
20 s GENERAL v. BoRSTELL konstatierte 1821, daß die bisherige Ungewißheit de.r GMf'.tZf'.

und der allgemein herrschende feste Glaube, daß die höchste Staatsgewalt die Duelle insbeBon-
dere unter den Offizieren connivire, im Widerspruch mit der fortgeschrittenen Cultur, dem
Duellwesen bisher noch selbst Vorschub geleistet habe, zit. DEMETER, Offizierkorps, 283. Die
schlesische Kommission, die 1822 die provinzialständische Verfassung beriet, kam zu dem
Schluß, daß Festungsstrafen wegen Ehrenhändeln oder aus Übereilung begangenen In-
jurien die Unbescholtenheit der Standesvertreter nicht tangierten. Denn es sei möglich,
daß die Pflicht, die Achtung seiner Standesgenossen zu bewahren, sich nicht mit den Vor-
schriften positiver Gesetze vertrage, die als allgemeine Normen einzelne notwendige Aus-
nahmen nicht berücksichtigen könnten, zit. KosELLECK, Preußen, 101.
~GA ÜRÄFF / RöNNE / SIMON, Ergänzungen, Bd. 7, 513 ff (s. Anm. 108).
260 DEMETER, Offizierkorps, 126 f. Schon vorher schlug JusTUS MösER vor, den Zwei-

kampf von der Vorerkenntnis des Regiments abhängig zu machen, MösER, Patriotische
Phantasien 4, 35. SW Bd. 7 (1954), 117.
261 RICHARD u. ROBERT KEIL, Geschichte des Jenaischen Studentenlebens 1548-1858

(Leipzig 1858), 250 ff. 262 DEMETER, Offizierkorps, 128. 283 ff.

43
Ehre II. 8. Auflösung der ständischen Ehrbegriffe

den Mund zu stO'pfen sich vermißt. Wer aber am heiligsten, an seiner wahren Ehre
von ruchlosen Frevlern angetastet wurde, der ergreife den rächenden, richtenden, ehr-
lichen Stahl und kämpfe als Mann und Held für Ehre und Wahrheit 263 • Ähnlich
heißt es in der Kabinettsordre FRIEDRICH WILHELMS III. vom 29. 3. 1829 für das
Offizierkorps: Wenn es Beschimpfungen gibt, die nach den noch herrschenden An-
sichten diese persönliche Ehre in dem Maße verletzen, daß sie vermeintlich nur durch
Blut wieder gereinigt werden kann, so macht sich derjenige, der fähig ist, eine solche
niedrige Beschimpfung leichtfertig auszusprechen, eben da.ditrch itnwürdig, dem Stande
ferner anzugehören, für dessen Heiligtum ihm der Sinn gebricht, und seine Entfernung
aus diesem Stande ist zugleich für den ungebührlich Gekränkten die vollgültige Genug-
tuung, die ich als eine solche überall auch anerkannt wissen will (ähnlich die Generale
VON BoRSTELL 1821; ZIETEN 1829) 264 • Damit war der Ilclcidigcndc als de1· eigent-
lich Ehrlose gekennzeichnet, der es nicht verdient, weiter seinem Stande anzu-
gehören. Der Schwerpunkt. der Ehre wurde von außen nach innen verlegt, der
kollektive Ehrbegriff mit den Kriterien bürgerlich individueller Ethik und Ehre
durchdrungen.
Dieser Ehrbegriff wurde in den folgenden Ehrengerichtsordnungen von 1843 und
vor allem von 187 4 wie in der studentischen Praxis wieder zugunsten des kollektiven
Standesgeistes aufgegeben 265 ; er vermochte sich jedoch schließlich mit der Ehren-
gerichtsordnung von 1897, die an die Gesetzgebung FRIEDRICH WILHELMS III.
anschloß und sie weiter entwickelte, allgemein im Offizierkorps durchzusetzen 266.
c) Gelhlngsverlust des Begriffs der handwerklichen Ehrlichkeit. Die mit dem
Begriff der handwerklichen Ehrlichkeit oder Ehrbarkeit umschriebenen ständischen
Rechte und Gewohnheiten gerieten im 17. und 18. Jahrhundert in immer stärkeren
Gegensatz zu den merkantilistischen und naturrechtlichen Vorstellungen der Zeit,
in deren Sinne der absolutistische Staat die Bevölkerungsvermehrung zu fördern,
die gewerbliche Produktion .zu heben und die „unehrlichen" Leute rechtlich und
gesellschaftlich zu integrieren suchte 267 • Aus diesen Aspekten staa..tlicher Politik
263 HUGO BöTTGER, Handbuch für den deutschen Burschenschafter (Berlin 1912), 99.
264 Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, hg. v. HANS MEIER-
WELCKER (Stuttgart 1964), 8. 179. Die Immediatkommission zur Revision der Militär-
gesetze formulierte 1837 als eine ihrer Hauptaufgaben, kräftig dazu mitzuwirken, daß der
8elt8ame Widerspruch in den gewöhnlichen Anaiehten über Standesehre immer schärfer ins
Licht trete, nach welchem es zwar ein furchtbares, nicht lebend zu ertragendes Unglück ist,
an der Ehre angegrifjen zu sein, aber dennoch dieses Übel einem Standesgenossen zuzufügen,
nicht seiner ganzen Schwere und Unwürdigkeit nach als Frevel gebührend angesehen wird,
zit. DEMETER, Ofäzierkorps, l:ll!.
26s Ebd., 134 ff.
266 In den am 1. Januar 1897 vollzogenen „Bestimmungen zur Ergänzung der Einfüh-

rungsordre zu der Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im preußischen Heere
vom 2. Mai 1874" wurde festgelegt, daß der Ehrenrat für den schuldlos beleidigten Kame-
raden einzutreten habe, zit. DEMETER, Offizierkorps, 141 f.
967 Die Aufnahme von „unehrlichen" Leuten im; Harnlwerk wu1·ue enilmalig im Reichs-

tagsabschied von 1548, die von unehelichen Kindern in der „Bayerischen Landes- und
Polizeiordnung" von 1616 verordnet. Ihnen folgte eine ganze Reihe entsprechender
Reichs- und Landesgesetze nach, die mit dem bedeutungsvollen Reichstagsabschied vom
16. August 1731 ihren Höhepunkt erreichten, ohne jedoch den Widerstand der Zünfte
brechen zu können.

44
c) Handwerkliche Ehrlichkeit Ehre

Arwnr.hfmn auch die Beurteilungen der mit der handwerklichen Ehrlichkeit ver-
knüpften Traditionen. Bereits für VEIT Luvwm VU.N 8.l!JCKENDORFF 268 waren die
in Innungsbriefen und Artikeln dargelegten Vorschriften nur schlechte Nutzbar-
keiten, die diese Nachteile der Zünfte keineswegs ersetzten. In der „Fürstlichen
Machtkunst" (1703)269 wurde es für die Multiplikation der Arbeiter als nachteilig
bezeichnet, daß kein Hurenkind, kein Schäferssohn eingenommen werde. PHILIPP
JACOB FRIEDRICH DöHLER (1744) beklagte, daß die Nahrung dadurch an etliche,
zum Teil nichtswürdige, böse und fäule Leute gezwungen und restringieret, Unbillig-
keit, Lügen und schlimme Arbeit derer Meister keineswegs verhütet würden 27 0. JusTI
sah im angemaßten, rJnp,hrl1:chmachen einen der Gründe, die der Aufnahme des
Nahrungsstandes nicht weniger als vorteilhaft sind 271 , und noch schärfer urteilten
Physiokraten und liberale Nationalökonomen über die Zünfte, die Konkurrenz
und freie Arbeit behinderten 272.
Damit verband sich auch die KriLik an der ungerechten Ausschließung derjenigen,
die nicht ehelicher Geburt waren. Schon in den Mainzer Reichstagsakten des
17. Jahrhunderts wurde geklagt, daß die Handwerker sich bessere und mehrere
Redlichkeit zusprächen. Einige schäUler und kueUer, denen man vorhielt, warum sie
ein durch nachcrfo"lgt<J Eho logitim1ißrtfl11 Kind nit zi1m Ha.ndwerrk la.ssen mnllP.n, da
doch ein solches zu hohen Dignitäten gelangen könnte, hätten so keck sein dürfen und
vermelden, obwohl ein solches auch ein großer herr werden könne, so soll er doch kein
SchäUler nit werden 273 • Gegen die Überzeugung des gebildeten Teils der Nation,
die amtlich anerkannLen Maximen der StaatswirL<1chafL und selbst gegen die
öffentliche Meinung konnten die Zünfte mit starrem Trotz Personen ausschließen,
welchen der Staat die Bewerbung um seine höchsten Ehrenstellen nicht versagte:
die Frucht der unehelichen Liebe kann zum Feldmarschall und zum Minister, aber
nicht zum Schuhmacher oder Schneidermeister reifen (HOFFMANN 1803) 274. Den ganzen

268 VEIT LUDWIG v. SECKENDORFF, Teutschen Fürsten-Stats Additiones (o. 0. 1665),


§ 42, 3.
26 9Fürstliche Macht-Kunst (Halle 1703), 94.
270 Pm:LIPP JACOB FRIEDRICH DöHLER, Gründliche Entdeckung einer wohleinzurichten-
dcn und gliiokselig1m Republik (Regeruiburg 1744), 459.
271 JusTI, Grundfeste5, 20, § 542 (1757), Bd. l (Ausg. Königsberg, Leipzig 1760; Ndr. Aalen

1965), 481 (s. Anm. 157); ders., Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller
oeconomischen und Cameral-Wissenschaften, 2. Aufl.., Tl. 1(Leipzig1758), 292.
272 JoH. AUGUST ScHLETTWEIN, Die Grundfeste der Staaten oder die politische Oekonomie
(Gießen 1779), 122; CHRISTIAN JACOB KR.A.us, Staatswirtschaft, Bd. 5 (Königsberg 1811),
198 f. ; J OH. GOTTFRIED HOFFMANN, Das Interesse des Menschen und Bürgers an der
bestehende11 Zmlftverfä,ssung (Königsberg 1803), 82 ff.
273 QHRISTIAN HEINRICH HiLLER, Von den Handwercks-Mißbräuchen in Teutschland

(Tübingen 1729), 113.


274 HOFFMANN, Interesse des Menschen, 2; HÜBNER, Über Ehre, Ehrlosigkeit (s. Anm.

183), 108 f. führt zu diesem Problem aus: Und weil die Sonne der Aufklärung mit ihrem
wohltätigen Lichte alles Volk, so im Finstern wandelte, besonders das Volk der Zünfte und
Innungen noch nicht erleucht~t ha.t, ao bedii.rfe.n. zwff.r 1(.n.f'.lu'.lir.hll Kindr.r, wP-nn sie Hand,werks-
genossen werden sollen, einer sogenannten kleinen Ehrlichmachung, legitimatio minus plena,
sie können sich aber ohne Hindernis und ohne alle Legitimation, bT,oß durch Verstand, Gelehr-
samkeit und Glück den Eingang in die hökern Stände öffnen und keine Fakultät und kein
Pfalzgraf wird ihnen die gelehrten Würden versagen.

45
Ehre II. 8. Auflösung der ständischen Ehrbegriffe

Umfang des Gegensatzes zwischen den Begriffen der handwerklichen Ehrlichkeit


und der überständischen bürgerlichen Ehrlichkeit deutete schließlich ADRIAN
BEIER (1722) 276 an, wenn er darauf hinwies, daß die Handwerker, wenngleich einer
von ihnen sich noch so redlich, so viel das bürgerliche Wesen betrifft, aufgeführet, aber
Handwerks wegen etwas an ihm zu tadeln ist, so ihn dennoch vor ·unredlich halten.
Noch klarer erkannte ZINCKE diesen Widerspruch. Obwohl die Handwflrker ständig
den ehrlichen Meister und Gesellen im Munde führten, handelten sie doch öfters
wider die wahre Ehrlichkeit und hielten das noch vor Stücke eines ehrlichen Gesellens
oder Meisters. Andererseits aber glaubten sie von solchen Lastern wie: kein Wort
halten, List und Betrügereien bei der Verfertigung ihrer Waren, ja selbst heimlicher
Dieberei, es wären lauter feine und erlaubte Handwercks-Vörthelgen. Dennoch seien
sie sehr beleidigt, wenn man sie für unehrlich erkläre 276 •
In seiner ständisch-politischen Bedeutung wurde der Begriff der handwerklichen
Ehrlichkeit dagegen von den Verfechtern der historisch gewachsenen Gesellschafts-
ordnung erfaßt, deren Widerspruch sich an der Beseitigung der rechtlichen Schranke
zwischen der ständischen Ehrbarkeit und den „unehrlichen" unterständischen
Schichten durch den Reichsabschied von 1731 entzündete. JusTus MösER stellte
der neumodischen Menschenliebe des Jahrhunderts die BeJürfui1:11:1e und Interessen
des Ständestaates entgegen. Im Reichsabschied von 1731 sah er eine Verkennung
des Begriffs der Unehrlichkeit, der nicht fählAnd!l iihArRtii.ndische c.lu:istliche und
philosophische Ehrlichkeit, sondern den untersten Stand der bürgerlichen Gesell-
schaft meine. Jeder Stand habe seine „Ehre" und gerade auch der unterste. Die
politische Ehrenhaftigkeit werde ihren unterscheidenden Charakter verlieren, wenn sie
ulfon M1!Jn1Jclu~n z·ut~ü wfrd und schließlich zum Nachteil des Staates ganz verloren
gehen. Er wird die Handwerker mit barem Gelde aufmuntern müssen und dp,r Filr.~t
von der Ehre, wodurch die Menschen sich sonst so ziemlich wohlfeil leiten lassen, gar
keinen Gebrauch machen können 277 • Ebenso betonte JOHANN ADAM WEIBS (1798),
daß die aus dem Reichsabschied alsbald folgende tiefe Herabsetzung des so vielfältig
nützlichen Ehrgefühls der Professionisten noch immer ein wichtiger Nachteil bleibe.
Es sei zwar unbillig, daß das gemeine Vorurteil dP-r!JlP-ichen Leu.te von Erlernung der
Handwerke ausschließt. Allein der Vorteil, den der ganze Staat davon zieht, wenn
Handwerker in einer gewissen Achtung stehen, ist ungleich größer 278 • Es war diese
Überzeugung, die auch die Schöpfer des ALR bewog, an der engeren Verknüpfung
der Bürger an ihr Vaterland und ihren Wohnsitz nebst der Unterhaltung jener schätz-
baren, beinahe nur in der Zunftverbindung anzutreffenden Überbleibsel der bürger-
lichen Ehre (CARMER 1791) festzuhalten und damit einer weiteren Schwächung der
ständisch verstandenen bürgerlich politischen Ehre entgegenzuarbeiten 279 •
An dieses VerstänJui1:1 Jel' lrnuJwel'klichen Ehre schlossen sich die Vertreter der
romantischen Schule an,· doch trat nun an die Stelle einer realistisch-politischen
eine idealistisch überhöhende Bewertung. Dafür scheint ADAM MÜLLER (1809)

276 ADRIAN BEIER, Handlungs-Kunst-Berg- und Handwerks-Lexikon (Jena 1722), 338.


27& ZINCKE, Reallex., Tl. 1 (1745), 593.
277 MösER, Patriotische Phantasien, SW Bd. 4 (1943), 240 ff.; Bd. 5 (1945), 137 ff.

278 JOHANN ADAM WEIBS, Über das Zunftwesen (Frankfurt 1798), 184.

2 79 HuGo RoEHL, Beiträge zur preußischen Handwerkerpolitik vom allgemeinen Land-


recht bis zur allgemeinen Gewerbeordnung von 1845 (Leipzig 1900), 26.

46
c) Handwerkliche Ehrli~hkeit Ehre

typisch, der den lebendigen Geist der hif1toriRnh1m Hanrlwerke beschwor, wie er sich
noch heutzutage in den ehrwürdigen Zunfts- und I nnungsgebräuchen ankündigt. Jedes
einzelne Gewerk hielt sich für wichtig und ehrenvoll um des großen und unentbehrlichen
Dienstes willen, den es der Stadt leistete: welche Gründlichkeit, Selbstgefälligkeit und
Ehrbarkeit in den uns aus jener Zeit hinterbliebenen Arbeiten am deutlichsten zu er-
kennen sind 280 •
Diese Überschätzung des alten handwerklichen Ehrbegriffs fand in den folgenden
Jahrzehnten in der politischen Polemik des Handwerks und seiner konservativen
Parteigänger immer wieder Nachahmung. Den sozialen und wirtschaftlichen Miß-
ständen der Zeit, dem Ersterben der „bürgerlichen Ehre", die sie allein auf die
Gewerbefreiheit zurückführten, stellten sie die vergangene Ehrlichkeit und Treue
der Gesellen, die frühere Sorge der Meister um die Ehre des Gewerks, den durch die
alte Ordnung bewirkten Bürgersinn gegenüber (Promemoria des Berliner Stadtrats
DRACKE 1818) 281 • Gegenüber einer Gesetzgebung, die jeden auf seinen eigenen Fuß
stellte, also daß keiner, auch der Bestwollende mehr um die Ehre des Gewerbes schaffen
moclite, forderte GöRRES die Restauration des alten ehrbaren, festen und bindenden
Bürgerwesens und die Wiederbestätigung der weiland Sitte und Männlichkeit um-
schließenden Innungen und Zünfte 282 • ·
Mit der Aufhebung der Unehrlichkeit bestimmter Berufe und Personengruppen ·
- um 18?,0 war mnhtlinh nnr nor.h rler Ahrler.ker unehrlich, während die Ehrlosig-
keit aufgrund unehelicher Geburt durch staatliche Legitimation aufgehoben werden
konnte~ 8 a - wurde die berufliche und personale Anrilchigkeit nur noch zum
sozialen Merkmal ständischer Scheidung von der ständischen Ehrbarkeit, ging zu-
gleich mit dem Anschwellen des unterständischen „Pöbels" die beruflich-moralische
in der sozialen Differenz auf.
Ebenso wandelte sich mit der Durchsetzung der Gewerbefreiheit und der Auf-
hebung der Zünfte der rechtliche Begriff der handwerklichen Ehrlichkeit in einen
sm:i11.l1m) wmrlA rler llrRpriinelir.h rlen e11rnmn Rereich ständischer Besonderheit
umfass~nde Begriff allmählich immer mehr aufgelöst.
Dies galt zuerst für die - mit den sozialen Umschichtungen des industriellen Zeit-
alters - i:ri der Arbeiterschaft aufgehenden Gesellen und die zum Fabrikanten auf-
steigenden oder doch dieses Ziel anstrebenden Meister, während der Begriff im
übrigen auf ein Arbeitsethos mit spezifisch handwerklichen Zügen reduziert wur-

280 ADAM MÜLLER, Elemente der Staatskunst, hg. v. J. Baxa, Bd. 1(Berlin1809), 312.
goi Kuit'l' v. RoHltl:IUHEUJ'l', Vom ZwuLzwange zw· Gewed1efreilieiL (Dedin 1898), 567 f.;
Die stenographischen Verhandlungen des deutschen Handwerkertags zu Weimar, hg. v.
C. LUST (Berlin 1862), 105; ÜTTO GLAGAU, Deutsches Handwerk und Historisches Bürger-
tum (Osnabrück 1879), 49. .
282 ,Jm1EPH GöRRES, Rheinischer Merkur, Nr. 173 v. 4. 1. 1815; Nr. 187 v. 1. 2. 1815.

Derselben Überzeugung hing auch der alte FRH. VOM STEIN an, für den die durch gemein-
achaftlichea l ntereaae, LebenBweiiJe, Erziclb'Uny, Mciatcrclbrc wnd J·ugcnilkraft nusgezeiohneten
Zünfte die Träger dea Gemeingeistes in den Städten darstellten, aus denen das Bürgert'Um
entblühen würde, Brief an Kunth vom 8. 11. 1821, Br. u. Sehr., Bd. 6 (1965), 408.
283 CARL FRlEDRICH EICHHORN, Einleitung in das deutsche Privatrecht (Göttingen 1823),

264f.

47
Ehre II. 8. AuflösWig der ständisehen Ehrbegriffe

de 2 84 • Der wandernde Handwerksbursche JOHANN EBERHARD DEWALD (1836/38) 2 85


vermißte bereits an vielen Orten den ehrbaren Zunftgebrauch. In München schien
er ihm ganz ausgestorben zu sein, wo die meisten in Fabriken arbeiten ... und unter
den Gesellen kein Zusammenhang mehr zu finden ist. Andererseits beklagte WILHELM
HEINRICH RIEHL (1851), daß der echte ehrenhafte Name eines Gewerbes wie Schneider
und Schuster schier als Spottname gelte, daß viele· Handwerksleute die Würde
ihres Berufs nicht mehr nach Talent und Arbeitskraft, sondern nach dem im
Geschäft stehenden Kapital mäßen 286 • Es kennzeichnet einen gewissen Abschluß
in dieser Entwi-0klung, wenn um die Jahrhundertwende ein um die Wiederbelebung
der handwerklichen Standesehre bemühter Autor feststellte, daß es mit der Hand-
werker-Standesehre nicht weit her sei, ja daß die meisten mit dem Begriff 'Standes-
ehre', der im Gesetz von 1897 zur Abänderung der Gewerbeordnung angeführt
werde, nichts anzufangen wüßten. Sie sähen darin einen rein idealen Begriff ohne
praktischen Hintergrund 2 s1.

d) Wandlung des Ehrbegrift's beim Bürgertum. Ebenso wie das höhere Bürgertum
A.m frühe.11ten a.ui:i den i:it.ändiilc.hen Bindungen herau~wuch8, war auch sein Ehr
begriff zuerst einer Wandlung unterworfen, die sich in gewisser Hinsicht als ein
8äkularisierungsprozeß darstellt. An die Stelle der an göttliches Gebot und christ-
liche Ständeordnung gebundenen bürgerlichen Ehrbarkeit, die dem Geschäftsmann
die Einhaltung bestimmter kirchlicher GebuLe vorschrieb, trat mehr und mehr ein
vorzüglich durch Grundsätze der Vernunft und der Moral bestimmter Ehrbegriff,
ein Prozeß, der sich besonders deutlich im vorrevolutionären Frankreich in der
Auseinandersetzung zwischen Jansenisten und Bürgertum288 abzeichnete. Der
berufsständische Ehrbegriff des bürgerlichen Geschäftsmanns deckte sich seitdem
weitgehend mit ue11 ue11 bürgerlichen Anschauungen entwachsenen Begriffen der
inneren und bürgerlichen Ehre. Von ihnen war er im wesentlichen nur durch
seine besondere Begrenzung und Ausrichtung auf das Geschäftsleben unterschieden.
Die Ehrbarkeit des bürgerlichen Geschäftsmannes war an seinen Kredit gebunden,
d. h. an die Überzeugung seiner Mitmenschen, daß er in geschäftlichen Dingen Treu
und Glauben halten und darüber hinaus auch in seiner sonstigen Lebensführung

284 FrscHER, Teutscher Adel, Bd. 2 (1852), 287 bezeichnete es als eigentümliche Stan-

desehre, eine Zunftehre, daß ein Goldschmied, der beim Konkurs seine Gläubiger um
Tausende bringe, seine Ehre behalte. Müßte er aber die Nachrede tragen, auf einem silbernen
Löffel eine falsche Probe gestempelt zu haben, so ist er . . . lebenslang als bescholtener Zunft-
genosse infamiert.
285 WOLFRAM FISCHER, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks (Göttingen

1957), 128 ff.


286 WILHELM HEINRICH RIEHL, Die bürgerliche Gesellschaft, 10. Aufl.. (Stuttgart 1907),

231. Ähnlich hieß es schon bei JoH. GOTTFRIED HOFFMANN, Die Befugnisse zum Ge-
werbebetriebe zur Berichtigung der Urteile über Gewerbefreiheit und Gewerbezwang mit
besonderer Rücksicht auf den preußischen Staat (Berlin 1841), 86: Der wohlhabend ge-
wordene Handwerker schämt sich des Meistertitels und nennt sich Fabrikant.
287 WILHELM BEIELSTEIN, Die Standesehre des Handwerkers (Bochum 1900), 11.
288 Vgl. BERNHARD GROETHUYSEN, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebens-

anschauung in Frankreich, Bd. 2 (Halle 1930), 205 ff.

48
d) Wandlung des bürgerlichen Ehrbegriffs Ehre

Ehrenhaftigkeit und Anstand beachten werde. Der Kaufmann mußte sich den
Namen eines ehrlichen Mannes erwerben, weil niemand, der nicht eines untadelhaft,en
Wandels halber bekannt und belobet ist, Kredit habe 289. Der unglücklichste von allen
Menschen, welcher der Bosheit oder der Leichtsinnigkeit des gemeinen Rufes am meisten
unterworfen ist, das ist der Handelsmann. Der Kredit geht schon durch ein Ohren-
zischeln verloren 290 • Während kriminalrechtlich im allgemeinen nur der böswillige·
Bankrott mit Infamie bestraft wurde, der durch Unglück herabgekommene
Schuldner aber rechtlich seine Ehre behielt.291; hatten rlie meist noch in kauf-
männischen Korporationen vereinigten Standesgenossen häufig einen strengeren
Begriff von der kaufmännischen Ehre. Jeder leichtsinnige oder böswillige Bankrott
nahm in ihren Augen die Ehre. Jede Zahlungsunfähigkeit - auch wenn sie un-
verschuldet war-, jede Handlung, die die moralischen Gesetze der bürgerlichen
Ehrbarkeit verletzte, befleckte den guten Namen des Kaufmanns. Dagegen brachte
ihm seine individuelle Leistung, die besondere Ehrenhaftigkeit und Tüchtigkeit
in der Berufsarbeit hohes Ansehen292.
Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts aber war dieser Ehrbegriff in der sich aus-
bildenden modernen Industrie einer zumindest partiellen Auflösung unterworfen.
Mit der Entwicklung von Gesellschaftsunternehmen, in denen Besitz und Ge-
schäftsleitung getrennt waren, traten auch persönliche Ehrenhaftigkeit und Ge-
schäftsehre immer mehr auseinander. Die Ehre der Firma verselbständigte sich,
sie wurde zum objektiven .Prinzip der Geschäftsführung, für das es unwesentlich
wR.r, oh iler Besitzer oder auch der Geschäftsführer sich persönlich ehrenhaft oder
unehrenhaft zeigte293.

2 s9 PAUL JAKOB MARPERGER, Neu eröffnetes Kaufmannsmagazin {Hamburg 1748), 433;

LuDOVICI Bd. 2 (1753), 1140 f. Im Zeitalter der Industrialisierung wurde der Kredit viel-
fach in der Form des Personalkredits gegeben, bei dem es wesentlich auf den guten Namen
des Ausleihers ankam.
290 Der Zuschauer 3 (1751), 249.

291 Handbuch für Kaufleute für die Jahre 1785 und 1786, Bd. 2 {Leipzig 1786), 937;
KARL FRIEDRICH GÜNTHER, Die neuen Criminalgesetze für das Königreich Sachsen
(Leipzig 1838), 143; Preußisches Strafgesetzbuch von 1851, §§ 259 ff.; Preuß. GS!g.
(1851 ), 154 f.
29 2 Wäre ich auf diese Weise mit ihm (seinem Kompagnon) gefallen, dann war es für mich

um Amt, Brot und Ehre geschehen, berichtete der Iserlohner Kaufmann und Landrat
PETER EBERHARD MüLLENSIEFEN von sich selbst, die erfo7,greiche Anl,age einer Zement-
stahlfabrik (wird) den Bauunternehmer mit Ruhm und Ehre krönen und ihm baT,d mit Wucher
die Achtung wiedergeben, die dem Verdienst ((ebührt, von einer in Unehre geratenen Firma
(1837/39), Ein deutsches Bürgerleben vor 100 Jahren {Berlin 1931), 110. 276. 279; vgl.
LUDWIG BEUTIN, Die Märkische Unternehmerschaft in der frühindustriellen Zeit, Westf.
Forsch. 10 (1957), 73. Die Bindung des bürgerlichen Ansehens an die - im Gegensatz
zum Adel - individuelle Leistung galt natürlich auch für das gebildete Bürgertum. So
hieß es bei ERNST BRANDES, Über einige bisherige Folgen der französischen Revolution in
Rücksicht auf Deutschland {Hannover 1792), 62: Gelehrte sind alles durch sich, haben sich
durch eigenes Verdienst, gleichviel ob wahres oder falsches, emporgeschwungen. Die öffentliche
Meinung hat sie wegen ihres persönlichen Verdienstes erhoben.
293 Vgl. WERNER SoMBART, Der moderne Kapitalismus, 2. Aufl., Bd: 3/1{München1928),

30 f.; ders., Der Bourgeois {Berlin 1913), 236 ff.

4-90386/1 49
Ehre II. 8 . .Auflösung der ständischen Ehrbegrift'e

Mit der Berufsarbeit verband sich im Bürgertum der spezifische Begriff der .Arbeits-
ehre, durch den der ehrenhaften, selbständigen und produktiven Arbeit eine be-
sondere sittliche Achtung zuerkannt wurde. Erwachsen aus der allmählichen
Säkularisierung des im Luthertum und Calvinismus gelehrten religiösen. Bezugs
der Berufsarbeit „ad majorem Dei gloriam" 294 , in der Aufklärung bereits ver-
standen als Mittel zur Entwicklung der im Menschen liegenden Kräfte zum
Nutzen seiner selbst wider Gemeinschaft und Kultur~ 90 , wurde die Arbeit seit
dem F.nde deR 18. Jahrhundert'> zum Ethos, das seinen sittlichen Wert in sich
selbst trug und jedem .Arbeitenden Ehre verlieh. Die Arbeit war das „summum
bonum", der Müßiggang das größte Übel 296 • Insofern wurde dieses Ethos im Vor-
märz und in der Reaktionszeit auch zum ideologischen Gegen- und Kampfbegriff
gegen die feudale Ablehnung bürgerlicher Arbeit. Als sein Sprecher trat ERNST
MoRITZ ARNDT (1836) auf, als er die Warnung vor der Betätigung in Handel und
Gewerbe als niedrigen um,d gp,meiruin GP-!rchiiften, die im Autonomiestatut des
rheinischen ritterbürtigen Adels ausgesprochen wurde, mit den Worten beant-
wortete, es sei männliche Ehrenansicht des männlichen Mannes, daß jede freie Arbeit
freie Ehre ist 297 •
Zunächst auf die bürgerliche Berufsarbeit angewandt, fand das Wort „Arbeit
adelt" schon im Vormärz - aus der Sicht des Bürgertums - eine überständische
1:1oziale Auffächerung und f'llhrte damit zu einer Hierarchie der Berufsehren, die
in der willkiirlichen Hierarchie der Löhne ihren Ausdruck fand 29 B, ebenso aber auch
zur besonderen Betonung der Ehre der körp11rlichAn Arbeit 299 •
Vie .Arbeitsleistung des Wirtschaftsbürgertums fand ihren Ausdruck vorzüglich
im Geldbesitz, der zur wesentlichen Grundlage bürgerlicher Ehre wurde. Mit ihm
verband sich einerseits das vom sittlichen Stolz über das eigentliche Werk erfüllte
persönliche Ehrbewußtsein. Wer mir mein Geld nimmt, nimmt mir meine Ehre,
hieß es in einem Rrief MF.YER AMSCHEL ROTHSCHILDS an den Kurfürsten von
Hessen 300 . Andererseits bildete sich mit ihm ein allgemeiner Maßstab sozialer
Wertschätzung aus. Bereits lsELIN (1758) klagte, daß in diesem Jahrhundert die
Eitelkeit das Geld zum Maße aller Tugend und Ehre ge~acht habe 301, während

294 KLARA VoNTOBEL, Das .Arbeitsethos des deutschen Protestantismus (Bern 1946), 5ff.
295 Ebd., 44 ff.
2 9 s BERTHOLD AUELBACH, Der gebildete Bürger (1843), zit. KoHN-BRAHMSTEDT, .Aristo-

oracy and the Middle-Classes, 112 f. (s. Anm. 218).


ZD7 ARNDT, Die Rheinischen ritterbürtigen Autonomen, 75 (s. Anm. 226). Arndt betonte,
daß der ritterbürtige Jüngling sich gewöhnen müsse, je,des Geschaft, das nicht durch Laster
und Schande Gewinn bringt, als eine Arbeit guten Geruchs anzusehen, daß er sich gewöhnen
muß, den Geruch der Arbeit und des Schweißes überhaupt als den besten und e,delsten aller
Gerüche anzusehen, ebd., 78.
298 WILHELM SCHULZ, Die Bewegung der Produktion (Zürich 1843), 66 f.

299 --+-Arbeit, Bd. 1, 189 f.; besonders FERDINAND FREILIGRATH, Requiesoat (1846), in:

Einheit und Freilieit, hg. v. ERNST VoLKMANN, DLE Polit. Dichtung, Bd. 3 (1936), 232.
300 Zit. FRIEDRICH KATTENBUSCH, Ehren und Ehre (Gießen 1909), 53, Anm. 16.
301 lsAAK ISELIN, Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, in:

Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 2. Aufl., Bd. 5 (Leipzig
1759), 58 f.

50
d) Wandlung des bürgerlichen Ehrbegriffs Ehre.

GARVE (1792) konstatierte, daß man notwendig nach und nach anfangen müsse,
das Geld als das varnehmste Mittel zur Glückseligkeit und als die solideste Basis
der Ehre anfo,usehen 3 02 • Als überständisches Prinzip öffentlicher Achtung und Gel-
tung mit bei· der Auflösung der ständischen Ehrenordnung wirksam, vermochten·
sich Besitz und Reichtum trotz der Ausbildung der industriellen Gesellschaft und
ihrer Wertordnung im 19. Jahrhundert noch nicht gegen den Vorrang aristo-
kratischer Prinzipien sozialer Wertschätzung durchzusetzen. Selbst im gebildeten
Bürgertum fand der Ehranspruch des Geldadels· gegenüber der Arbeit Ablehnung.
Reichtum kann glücklicher und den Genuß des Lebens froher machen, aber seinen
Besitzer nicht würdiger und edler („Deutsches Magazin" 1793) 303 • 1852 stellte
LAURENZ HANNIBAL FISCHER fest, daß es der wohlhabende Bürgerstand sehr übel
empfinde, daß die Fürsten und der Beamtenstand sie in den Rangstufen der äußern.
Ehrerweisung nicht an die Stelle setzen, die der Maßstab des Reichtums ihnen an-
weisen würde304. Aus der Spannung zwischen den sozialen Wertsystemen, zwischen.
Besitz und gesellschaftlichem Ansehen erwuchs daher bei den reich gewordenen
Bürgern das Streben nach Steigerung des eigenen Ansehens durch Erwerb staat-
licher Ehrentitel oder des eine höhere Ehre repräsentierenden Adelflranges, farnlen
in den Spitzen des Bürgertums vielfach die Maximen des adlig-ständischen Ehr-
begriffs Aufnahme 305 • Neben die schon in der ersten Jahrhunderthälfte vielfach
geübte ritterliche Ehrenwahrung - meist Konsequenz der vom Landwehr- bzw.
Reserveoffizierkorps sowie vom Beamtenstand geforderten „Satisfaktionsfähigkeit"
- traten nun eine das Ansehen stel.gernde Ileiratspolitik, Aufgabe der industriellen
oder kaufmännischen Arbeit zugunsten der ehrenhafteren Landwirtschaft und viel-
fältige Formen ritterlich-aristokratischer Repräsentation 306 • Im Bürgertum selbst
als Herabsetzung seines Wertes und seiner Würde bekämpft („Bremer Handelsblatt"
.1869)307, vom Adel mit großer Reserve verfolgt 308 , fand dieser „Feudalisierungs-

362 GARVE, Versuche, Bd. 1 (1792), 244. Schon 1725 hieß es in einer Denkschrift über den

Handel in der Kurmark, daß die erfolgreichen Kaufleute und Unternehmer einen üppigen
Luxus entfalteten, um swh aus der Verachtung zu reißen, zit. HORST KRÜGER, Zur Geschichte
der Manufakturen und Manufakturarbeiter in Preußen (Berlin 1958), 243.
363 nt. Magazin (1793), 1062; ähnlich: Berlinisches Arch. <l. Zeit I (1795), 630.

364 FlsCHER, Teutscher Adel, Bd. l '(1852), 237.

30 • 1872 berichtete der Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz RwHAlt11 v. B.um.1<J-

LEBEN an den Handelsminister, daß die Verleihung des Titels eines Geheimen Rates
an Personen, welche nicht dem unmitteUJaren Staatsdienste angehören, . . . in der Rhein-
'Jl'f'OVinz als eine hohe Auszeichnung gelte, und es wird auf deren Er'langung seUJst von den
angesehensten und rewhsten Männern ein ungemein großer Wert gelegt, StA Düsseldorf,
Reg. Düsseldorf, Fach 27, Nr. 4., Bd. XI; vgl. FRIEDRICH ZUNKEL, Der rheinililch-welilt.
fälische Unternehmer 1.834-1879 (Köln 1962), 120 f.
366 Die Zahl der Bürger, die im 19. Jahrhundert Duelle austrugen, war recht 'erheblich.

Verwiesen sei nur auf Heinrich Simon und Ferdinand Lassalle. Im Reserveoffizierskorps
stieg die Zahl der Duelle wie bei der Linie seit 1876 merklich an, fiel aber seit 1897 nicht
wie beim aktiven Offizierskorps ab, vgl. DEMETER, Offizierkorps, 145.
307 Vgl. KoHN-BRAMSTEDT, Aristocracy, 228 ff.; SIDNEY WHlTMAN, Das kaiserliche

Deutschland, 4. Ausg. (Hamburg 1898), 150. 169; ZuNKEL, Unternehmer, llO ff.
368 Bremer Handelshi. (1869), 46; vgl. auch RrnilL, Bürgerliche Gesellschaft, 126; THEODOR

MUNDT, Die neuen Bestrebungen zu einer wirtschaftlichen Reform der unteren Volks-
klassen, Dt. Vjschr. (1855), 14 ff.

51
Ehre II. 9. Der Fürsten- und Nationalstaat

prozeß" doch in der~· Hälfte des 19. Jahrhunderts weite Verbreitung, was gegen-
über allen demokratischen Auflösungs- und Einebnungstendenzen zur ideologischen
Verfestigung des ritterlich-ständischen Ehrbegriffs in den deutschen Führungs-
schichten beitrug309•

9. Ehre, Reputation und Prestige im Fürsten- und Nationalstaat

a) Reputation im. Fürstenstaat. Mit der Ausbildung des europäischen Staaten-


systems gewann die „Reputation" der Territorialfürsten, mit der im Zeitalter
absoluter Herrschergewalt auch ihm 8taafam ifl1mtifü:iert wurden, als wesentlich
politisch bestimmter Begriff Bedeutung. Schon NwcoLo MACHIAVELLI (1513) hatte
die riputazione des Fürsten gewürdigt und ihre beiden wesentlichen Aspekte :
politisches Ansehen und Vertrauen angedeutet 310. Diese Bedeutungsansätze wur-
den im 17./18. Jahrhundert, in demm die Reputation oder das Renomme ein Haupt-
mittel politischer Staatskunst darstellte, das vielfach zum Selbstzweck politischen
Ehrgeizes erhoben wurde, vertieft und erweitert. Vor allem bedeutet sie äußeres
Ansehen aufgrund von wirklicher oder - viel häufiger - nur vorgetäuschter
politischer Geltung und Macht. Gerade schwächere Herrscher oder Staaten waren
um eine Reputation bemüht, der die eigene Macht kaum entsprach. La riputazione
ha alcune volte l'istesso efetto ehe la realiw hieß es bei dem Venetianer FosCARINI311 ;
a
RICHJ!JLH.:u (16u3) bezeichnete sie als plus necessaire un prince que celui duquel on
a bunne <>pinion fa·it pl·us a·vec sun 11e·ul nurn q•ue .ce•ux qui ne .~ont prM r..~t?:mA nmr.c des
armees, und verwies auf die Geschichte, die lehre, daß les princes de grande re-
putation ont toujours plus fait que ceux qui, leur cedant en cette qualite, les ont sur-
passes en force, en richesses et en toute autre puissance 312 • Ebenso stellte FRIEDRICH
DER GROSSE fest: Die Reputation ist ein Ding ohne Vergleichswert und gilt mehr als
d·ie JJ.facld 313 • Er prägLe Heinem Nachfolger ein, daß er Reputation erwerben und
behaupten müsse 314 . Doch wies er auch zugleich die Grenzen des Begriffs auf, inflp,m
er ihn dem Prinzip einer durch die Staatsraison bestimmten Interessenpolitik
unterordnete316 .

309 WBITMAN, Kaiserliches Deutschland, 150; vgl. dazu MA.x WEBER, Wahlrecht und

Demokratie in Deutschland, l'olit. 8chr., hg. v. Johannes Winckelmann, 2. Aufl. (Tübingen


1958), 270 ff.
310 NrccoLo MAcHIAVELLl, II principe 21, Opere, ed. Mario Bonfantini (Mailando.J.), 7lf.
311 FRIEDRICH MEINECKE, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, Werke,
hg. v. Walther Hofer, 2. Aufl., Bd. 1 (München 1960), 203, Anm. 2, dort noch weitere Bei-
spiele.
312 CARDINAL DE RICHELIEU, Testament politique, ed. Louis Andre (Paris 1947), 373 f.

313 REINHOLD KosER, Geschichte Friedrichs des Großen, 5. Aufl„ Bd. 3 (Berlin 1914), 537.
314 FRIEDRICH DER GRossE, Der Antimachiavell, Werke, Bd. 7,50. In seinem politischen
Testament von 1768 schrieb er: Il (le metier du prince) exigedes soins, maisl'onenestrecom-
pense 'fKLT des avantages de l'inter~t de l'Etat, et surtout 'fKLT la reputation qu'un prince ne
saurait se donner assez de peines d'acq_uerir et de conserver, Die Politischen Testamente,
hg. v. G. B. Volz (Berlin 1920), 220; vgl. 212. 230.
816 Ders., Testament von 1752, ebd., 50. Bei JoH. BALTHASAR SCHUPP, Lehrreiche

Schri:lften, Tl. 2 (Frankfurt 1677), 93, hieß es: der vornehmsten Instrumenten eins, damit die
Menschen ohne eintzige Mühe und Arbeit die Welt regirten, die Reputation der Regenten sey,

52
a) Repu~tion im Fürstenstaat Ehre
f.C
~-„:~

Daneben:beinhaltete der Begriff der Reputation aber auch Sympathie und vor allem
Vertrauen von anderen aufgrund gewährter Vertragstreue und Loyalität316 .
Mit dem Zeitalter des Absolutismus erlosch die Bezeichnung 'Reputation', nicht
aber deren Inhalte, die auch für den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts gültig
blieben. An ihre Stelle traten nun die Bezeichnungen 'Ansehen' oder auch 'Ehre' 317 ,
seit 1870 aber vor allem das Wort 'Prestige', das an die erstere und wichtigere
Bedeutung von 'Reputation' anknüpfte 318 . Mit ihm verband sich die Bedeutung
eines Ansehens oder einer MaehtgelLung, ilie der - vielfach irrationale -
·politische Wille der Herrscher und Regierungen wie der hinter ihnen stehenden
Völker ohm1 Riir,kRir,ht auf die konkreten politischen Verhältnisse anstrebte.
Besonders ausgeprägt im Zeitalter des Imperialismus, fand er gerade in der deut-
schen ~'lottenpolitik seinen Niederschlag, bei der BISMARCKS Warnung vor Parade-
schiffen, die nur zur Markierung von Prestige dienen sollen, kaum berücksichtigt
wurde319. Die Verhandlungen mit England wegen einer Deschränkung der Flotten-
rüstungen scheiterten zum Teil am Prestigedenken von WILHELM II. und TIRPITZ,
denen eine Anerkennung des englischen Zweimächtestandards ohne Kapitulation
vor der Welt oder ohne Verletzung unserer nationalen Ehre unmöglich erschien 326•
. Der andere Aspekt traditionell staatlicher Ehre, nämlich Sympathie und Vertrauen
bei den Nachbarstaaten, trat dagegen gegenüber dem Begriff von Ansehen und
Prestige weniger in Erscheinung, stand aber an Bedeutung kaum hinter ihm zurück.

wekhes herrliches Kleinod ein kluger und verstäruliger Fürst nicht hazardiren müsse. Vom
schwedisch-polnischen Krieg stellte er fest, es sey nichts arulers als ein Reputations-Krieg,
ebd., Tl. 1 (1677), 362.
010 RICHJ!JLIEU, Testament pulitique, 374; FRIEDRICH DER GROSSE, Politische Testa-

mente, 76.
317 Den Begriff 'Ansehen' verwendete z. B. LEOPOLD v. RANKE mehrfach, auch wo er das

Phänomen fürstlicher Reputation bei Ludwig XIV. beschrieb, LEOPOLD v. RANKE, Die
Großen Mächte, SW Bd. 24, 2. Aufl. (1877), 15. 30. 33. 36.
318 'Prestige', zurückgehend auf lat. praestigiae, eine Re?.11ir.hnung für Gaukeleien, Tricks,

Blendwerk der Spielleute, wurde bis z)lr Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland nur
in der ursprünglichen Bedeutung „Blendwerk", „Gaukelei" verwendet. Dann bürgerw
sich die neue Bedeutung ein, die in Frankreich schon seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts
Geltung hatte, wurde allerdings zunächst nur auf Frankreich angewandt. Seit dem Ende
der siebzi11:er Jahre fand es dann auch in Deutschland, und zwar im politischen, wirtschaft-
lichen, gesellschaftlichen und persönlichen Bereich Anwendung, SCHULZ/BASLER Bd. 2
(1942), 655 f.
319 Ebd., 655.
3 2o Die Große Politik der Europäischen Kabinette, hg. v. JOHANNES LEPsrns/ALBRECHT

MENDELSSOHN-BARTHOLDY/FRIEDRICH TRIMME, Bd. 28 (Berfin 1925), 147. Als 1908 der


englische Unterstaatssekretär Sm CHARLES HARDING gegenüber WILHELM II. die Flotten-
baufrage anschnitt und betonte, Deutschland müsse stop or. build slower, antwortete Willielm
scharf: Then we shall fi,ght, for it is a question of national honour arul dignity. Vgl. auch
BERNHARD FÜRST v. Büww, Deutsche Politik (Berlin 1916), 129, der betonte,
daß Deutschland aus dem ersten Jahrzehnt des Flottenbaus ohne Einbuße an, Würde und
Prestige hervorgegangen sei; weitere Beispiele bei EMIL WXcHTER, Der Prestigegedanke in
der deutschen Politik von 1890 bis 1914 (Aarau 1941).

53
Ehre Il. 9. Der Fürsten- und Nationalstaat

Das Gewicht dieses Riigrifü, in dem sich der bürgerliche Ehrenpunkt des Kredits, des
Einhaltens v~n Treu und Glauben, auf der staatspolitischen Ebene verwirklichte
(ScHOPENHAUER 1850) 321 erkannte vor allem BISMARCK. Anläßlich der A.nnektionen
1866 führte er in der Kommission des Abgeordnetenhauses aus, daß Preußen, je
rückhaltloser es zeige, seine Feinde von der Landkarte wegfegen zu können, um so
pünktlicher seinen Freunden Wort halten müsse. Gera<le in Süddeutschland wird
dieser Gl,aube an unsere politische Redlichkeit von großem Gewicht sein 322 .

b) Ehre in der inneren Staatsverfassung. Neben seiner Geltung im Bereich der


zwischenstaatlichen Beziehungen wurde der Begriff der Ehre auch auf cfü1 innere
Staatsordnung angewandt. Dabei wurde zuerst an das biblische Vorbild angeknüpft.
Unter Aufnahme der in Psalm 85, 10 ff. gegebenen prophetischen Botschaft von der
Herrlichkeit (gloria) Gottes, die in Israel wohnen wird, hieß es bei ZEDLER (1739),
Ehre wohne in einem L11ndc, wenn Gottes Wort rein und lautet· durinnen geZehret,
christlich. und wohl gelebet, Gericht und Gerechtigkeit gehalten wird, und die Leute
einen friedlichen Zustand und gesegnete Nahrung haben 323 .
Aus der Bindung an die christliche Ethik gelöst und zur Staatsform in Beziehung
gesetzt wurde der innerstaatliche Ehrbegriff durch MoNTESQUIEU (17 48). Für ihn
war die Ehre, obwohl nur als eine rein äußerliche, un honneur faux, verstanden,
Grundprinzip des monarchischen Staates. Le gouvernement monarchique suppose ...
des preeminences, des rangs, et mßme une noblesse d'origine, und es ist gerade die
Ehro, die dies bewirkt. La nature de l'lwnnewr est de demunder des prejerences et des
distinctions ... L'honneur fait mouvoir toutes les parties du corps politiq'l{e; il le lie
par son action mßme et il se trouve que chacun va au bien comm.un, croyant aller ses a
interets particuliers324.
Was Montesquieu für das staatliche Leben der Monarchien herausstellte, bezog
J USTI (1751) auf den Staat allgemein. Fiir ihn war die Ehre eines Staates Ausdruck
des Grades an Ehrliebe im Staatsvolk. Wenn es mit Liebe zur wahren Ehre, d. h. im
Sinne des Ehrbegriffs der Aufklärung zur Tugend erfüllt sei, dann bedürfe es wie
die römische Republik nur sehr weniger Gesetze. Die Furcht vor Schande werde
dann viele Gesetze und Strafen unnötig machen.
Über iliu Verwirklichung dieser Ehrliebe machte er sich allerdings keine Illusionen.
Alle bürgerlichen Verfassungen zeigten, daß Staaten ohne fline wahre Liebe zur
Ehre bestehen könnten. Nur im Negativen, in Hinsicht auf das Ausmaß des Ver-
derbens vollzog er eine Differenzierung unter den Staatsformen. Es erschien ihm
in uneingeschränkten Monarchien stärker al{! in bürgerlichen Verfassungen, wo das
Volk Anteil an der Regierung habe, und wie bei Montesquieu war auch für Justi
in iler Despotie Ehre am wenigsten möglich 325 •

321 ScHOPENHAUER, Aphorismen zur Lebensweisheit, SW Bd. 5 (1946), 416.


322 BISMARCK, Rede v. 23. 8. 1866, FA Bd.10 (1928), 276; ERICH EVERTH, Die Öffentlich-
keit in der Außenpolitik von Karl V. bis :r.11 Na.poleon (Jena 1931), 75.
3 23 ZEDLER Bd. 8 (1734), 423 f.
334 MoNTESQUIEU, Du l'u13pl'it des lois (1748), 3, 6. 7. Übei·Jluwweu ab1 edler 'l'rieb zur

Ehre, die vornehmste Stütze eines Staates urul insonderheit der monarchischen Regierungsform
bei CHRISTIAN AUGUST v. BECK (um 1756), zit. Recht und Verfassung des Reiches in der
Zeit Maria Theresias, hg. v. HERMANN CoNRAD (Köln, Opladen 1964), 162.
a25 JusTI, Grundfeste 11, 41, § 186, Bd. 2 (1761; Ndr. 1965), 220.

54
h) Ehre in der inneren Staatsverfassung Ehre

Wurden hier die Ehrenhaftigkeit des Volkes und sein Anteil an der Regierung zu
maßgebenden Faktoren der Ehre des Staates, so fand diese besonders heraus-
gehobene Kausalität bei dem Mainzer Professor PFEIFFER (1783) eine gewisse
Umkehrung. Er betonte die Abhängigkeit der Ehrenhaftigkeit der Bürger von der
Qualität der Staatsregierung. Bloß durch Nachlässigkeit und Ungerechtigkeit der
Regierung werden die Menschen böse und lasterhaft. Durch einen verfeinerten Despo-
tismus werde die Ehre eingeschläfert. Dagegen trage sie als eine bürgerliche
Tugend zur Beförderung des gemeinschaftlichen Besten ungemein viel bei, sollte
mithin von einer weisen Landespolizei sorgfältig kultiviert werden 326 •
Mochte der Begriff der Ehre im Sta11.tA in rler Aufklärung noch im wesentlichen
Gegenstand theoretischer Erörterungen bleiben, so gewann er im Zeitalter des
Kampfes zwischen bürgerlichem Liberalismus und Obrigkeitsstaat der Restau-
rationsepoche die Bedeutung eines manipulierbaren ideologischen Kampfmittels
des bürgerlichen Liberalismus gegen bürokraLiimhen Absolutismus einer11eits, des
aristokratischen Konservatismus gegen Liberalismus und Demokratie andererseits.
Als typi.Scher Vertreter der liberal-konstitutionellen Auffassung von der Ver-
bindung und Wechselwirkung zwischen der persönlichen Ehre des freien Staats-
bürgers und der freiheitlichen Ordnung des Rechts- und Verfassungsstaates zeigte
sich KARL THEODOR WELCKER. Ihm war die politische oder staatsbürgerliche
Ehre an rlie jeweilige staatliche Ordnung gebunden. Wahre politische Ehre ist nur
in einem politisch freien Staate möglich. Ebenso erschien ihm die Ehre, die auch in
schlimmster Zeit Männermut, siUliche Selb11tacltt-ung und Selbstbeherr11ekuny reLLe,
aber auch als unentbehrliche Voraussetzung für den freien rechtlichen Staat. Die
wahre tugenhafte Ehre oder die Tugend . . . als Achtung der. eigenen und fremden
sittlichen· Würde und des auf dieser Achtung gegründeten Rechts- und Staatsvereines
ist die Lebenskraft jedes freien, jedes rechtlichen Staates, des monarchischen wie des
republikanischen, so wie feige selbstsüchtige Sinnlichkeit das Prinzip der Despotie
und blinder Glaube das Prinzip der Theokratie ist. Die wahre Aufgabe des Politikers
sei es daher, die unzertrennliche Verbindung von tugendhafter Würdigkeit und Ehre
für die repuhlikanische und monarchische Regierungsform festzuhalten, bloße Vor-
urteile der Ehre zu zerstreuen und die wahren Ehrengrundsätze und ihr Ziel ins helle
Licht zu stellen. Besondere Bedeutung gewännen daher die gerechte Zuteil'url{J von
Ehre und Schande. Übereinstimmung von Ehre mit dem Würdigen und 8ohande
mit dem Unwürdigen sei das Wesen einer lebendigen siUlichen Ordnung. Daher müsse
bei ihrer Zuteilung mit der öffentlichen Meinung der Nation Schritt gehalten und
das Würdige in ihr zum Höheren geleitet werden. Dadurch werde der Ehrtrieb
- vielleicht der stärkste aller menschlichen Triebe - gefördert, der für die gesell-
schaftliche Pflichterfüllwig ilie mächtigsten Antriebe gebe. Ein solchcB Ehron-
system sah er im Gegensatz zu den Ehrenauszeichnungen durch Titel und Orden,
durch die vorzugsweise ein auf nichtige Äußerlichkeiten und eigennützige Vor-
rechte gerichteter eitler, ehrgeiziger Sinn genährt werde, durch die britische Re-
präsentativverfassung und ihre InC!titutionon, besonders durch die öffentlichen
Geschworenengerichte, gewährleis~t. Für seine Ausbildung müßten daher richtig
geordnete Adels- und Standesverhältnisse, Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit,

a2s Dt. Enc„ Bd. 8 (1783), 1034.

55
Ehre II. 9. Der Fürsten- und Nationalstaat

Landwehrsystem, freie Gemeinde und ständische Verfassung, öffentliche und volks-


mäßige Gerichte und edle Volksfeste zusammenwirken 327 •
Dagegen war für die konservativen Politiker der Begriff der staatlichen Ehre
- und dieser umfaßte gerade auch Staatsverfassung und Staatsordnung - an die
Erhaltung des historischen Rechts gebunden. Ich kenne keine Ehre unabhängig
o<ler über dem Rechi,e stehend. Die Ehre, welche vor Gott und Menschen allein gilt,
ist eingeschlossen in das Rechi,, ist sein edelster, zartester Bestandteil, erklärte KLEIST-
RETZOW in der preußischen ZweiLen Kammer nach Abschluß des Vertrages von
Olmütz. Das aber hieß für ihn, daß die Ehre Preußens nicht gewahrt wurde, wenn
es, wie von den Liberalen gefordert, sich für die Erhaltung flp,r Verfassung in Hessen
militärisch einsetzte, sondern vielmehr die konservative Ordnung gegen die Re-
volution verteidigte. Man spricht so viel von Preußens Ehre. 8eh' ich mir die an,
die am meisten davon reden, so finde ich besonders gerade solche, . . . die verlangt
haben, daß das l'otum der pre·uß·ii;clwn Nut·iunul•ver1Jamrnlung, das den Namen
„Stein" trägt, schmählichen Andenkens, gegen das Heer gerichi,et, ausgeführt werden
sollte 328 •
Noch radikaler vertrat BISMARCK diesen konservativen Ehrbegriff: Die preußische
Ehre besteht nach meiner Überzeugung nicht darin, daß Preußen überall in Deutschland
den Don Quixote spielt für gekränkte Kammer-Celebritäten, welche ihre lokale Ver-
fassung für gefährdet halten. Ich suche die preußische Ehre darin, daß Pnm,ßwn mr
allem sich von jeder sclnnachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte 329 •

c) Begriff der nationalen Ehre. Abgesehen von Ansätzen eines staatsnationalen


Ehrbewußtseins in dentRohen F.im:AlRta11.t.An, besonders in Preußen, wo FRIEDRICII
DER GROSSE seinen Offizieren einen esprit de corps et de nation einzuflößen suchte330 ,
wurde der Begriff der nationalen ~hre im staatlich zersplitterten Deutschland in
erster T,inie in bAr.11e anf fl1v1 geistige \md kulturelle Leben dee doutnohon Volkcß
angewandt, bis Fremdherrschaft und Freiheitskriege auch das politische National-
bewußtsein und den Wunsch nach Bildung eines Nationalstaates weckten. Dem
Begriff der französischen Nation Init ihrer vernünftigen Lebens- und Staatsform
stellte das gebildete Deutschland die nationale Größe und Würde des geistigen
D1mt11chla.nd ontgcgcn 331 • Am treffendsten kennzeichnete tÜu ScmLL.hll{ in dem

321 RoTTECK/WELCKER Bd. 8 (1839), 320 ff.


32s Sten. Ber. Preuß. Landtag (1850), 53.
329 Ebd., 57.
330 .Acta Borussica, Behördonorganioation, Bd. () (1007), 362. Der DegriIT der Elu·e Lle~ VaLei·-

landes war im 17. Jahrhundert verbreitet und konnte sowohl auf Einzelstaaten (-nationen)
wie auf das Reich bzw. die deutsche Nation bezogen werden, vgl. HANS v. ZWIEDINECK-
SüDENHORST, Die öffentliche Meinung in Deutschland im Zeitalter LudwigsXIV.1650--
1700 (Stuttgart 1888), 53 f. 82. 85; ÜTTO HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk (Berlin
1916), 198.
331 So u. a. bei Humboklt, GoAt.hA, .Nnv11.Jiß, Fichte; vgl. dazu FRIEDRIOII MEINl!lOirn,

Weltbürgertum und Nationalstaat, hg. v. Hans Herzfeld (München 1962), 55 ff. Dagegen
wurde bei FICHTE ein hoher Grad der National-Ehre bereits aufgrund der ökonomischen
Verhältnisse des geschlossenen Handelsstaats hergestellt, FICHTE, Der geschloßne Handels-
staat, SW Bd. 3 (1845), 509.

56
c) Nationale Ehre Ehre

später „Deutsche Größe" (1801) titulierten Gedichtfragment: Abgesondert von dem


Politischen !tat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das
Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche
Größe, sie wohnt in der Kultur und. im Cltarakter der Nation, der von ihren politischen
Schicksalen unabhängig ist . . . indem das politische Reich wankt, !tat sich das geistige
immer fester und vollkommener gebildet 332 • Seine Differenzierung fand dieser Begriff
in der unterschiedlichen Auffassung des Nationalen, je nachdem ob es stärker mit
den allgemeinen Menschheitsideen· der Aufklärung oder dem Gedanken der na-
tionalen Individualität verknüpft wurde. So verband sich bei Schiller ähnlich wie
bei HuMROT.TIT (1798) 333 mit der Würde des deutschen Volkes seine Universalität,
die es befähigte, die kulturellen Schöpfungen anderer Völker am besten zu ver-
stehen und zu verarbeiten und selbst führend zur Veredelung der Menschheits-
kultur beizutragen.
Bei den vom PieLit:1111ut:1 ueeinilußten Patrioten verband sich der Begriff der natio-
nalen Ehre mit der Achtung und Pflege der individuellen geistigen Werte des eige-
nen Volkes. Neben Religion und Literatur war vor allem die Sprache Ausdruck
des nationalen Wesens. Anknüpfend an Jakob Böhmes Auffassung von der Sprache
als Ausdruck des innersten Wesens der Völker und an Hamann, für den der Pa-
triotismus in Muttersprache und Religion gegründet war, wurde sie bei HERDER
(1792/97) als Stimme Gottes zur eigentlichen Voraussetzung der Nationalehre.
Eine Nation, die ihre eigene Sprache weder kennet noch l'iebt 'und ekret, habe sich ihrer
Zunge 'und Uvres Gehfrns, d. i. ihres Organs zm· e'igenen A'usbüd,uny 'und "-'U1' edelsten
Nationsehre selbst beraubet 334 • In der Verwirklichung ihres besonderen Wesens, in
der Ei·halLuüg ihrer Uniprünglichkeit, der Reinhaltung ihres individuellen Vollrn
tums lag hier die Ehre der Nation, ohne daß damit die Anmaßung einer Über-
legenheit gegenüber anderen Nationen verbunden war. Die Völker wurden als
nach göttlicher Ordnung gleichberechtigt geehrt. Trotz solcher Gleichberechti-
gung335 verbanden die religiösen Patrioten aber mit dem nationalen Ehrbegriff
die Forderung, Vermischung mit andern Nationen zu meiden. Jedes Volk ... , das
sich zu einer gewissen Höhe entwickelt hat, wird entehrt, wenn es Fremdes in sich auf-
nimmt, sei dieses auch an sich gut; denn seine eigene Art hat Gott jedem zugeteilt und
daraus abgesteckt Grenze und Ziel, wie weit die verschiedenen Geschlecltte det Menschen
wohnen sollten aiif dem Erdboden (FRIEDRICH Scm,ErnR.MAOHF.R. 18S5) 336 . Am klar-
sten definierte schließlich der Historiker HEINRICH LUDEN (1811), selbst scharfer
Kritiker der Aufklärer, denen der Sinn und die Ehre ihres Volkes fremd geblieben sei,
sowie Berater und väterlicher Freund der Jenenser Burschenschaften, den Ehr-
begriff der auch bei ihm religiös verklärten Nation: Die Völker ltaben wie die
e·inzelnen Ehre und Schande. Die größte Ehre aber wie dan größte Glüclo ist: frei da-

332 SCHILLER, Deutsche Größe (1801), SA Bd. 2 (o. J.), 386.


333 Vgi. MEINECKE, Weltbürgertum, 54.
334 HERDER, Briefe zur Beförderung der Humanität, Brief 116. SW Bd. 18 (1883), 346.
335 Vgl. WoLFGA.NG HEINE im R.oiohsfo.g (1907/08): rTnRP.rf'. rw.tirrnalr. liJhn erfordere es,

auch die Nationalität fremder Völker zu achten, zit. HANS ULRICH WEHLER, Sozialdemo-
kratie und Nationalstaat (Würzburg 1962), 180.
336 FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Homilien über das Evangelium des Johannes in den

Jahren 1823-24 gesprochen, SW Abt. 2, Bd. 4 (1837), 43.

57
Ehre Il. 9. Der Fürsten- und Nationalstaat

zustehen in eigentümlicher Kraft, jedem andern Volke, wenn nicht überlegen, doch
gleich, allem Angriffe trotzend; die größte Schande aber wie das größte Unglück: einem
andern Volke unterworfen zu sein, zu dienen und fremde Eigentümlichkeit zu erhalten,
nähren, fördern mit der .eigenen . . . Ein Volk daher, welches seine Selbständ~gkeit
aufgibt, gibt sich selbst auf und weiht sich dem Untergange: das V erdammungs-
würdigste, das geschehen mag337.
Die alte, topologisch gelehrt tradierte Verbindung von Ehre und Vaterland wurde
während der napoleonischen Zeit und in den .Freiheitskriegen für die Bildungs-
schicht zum aktuellen Erlebnis. Der Schmach der Unterwerfung wurde die Ehre
der Freiheit bzw. der Befreiung gegenübergestellt. „Freiheit und Würde" des
Vaterlandes (Clausewitz), in der Regel noch auf die (preußische, österreichische
usw.) Staatsnation bezogen, wurden ohne Bruch bereits auch mit Deutschland
verbunden, so besonders bei STEIN und bei STADION338 • ÜARL VON CLAUSEWITZ
bekannte (Erstes Bek_enntnis, 1812), daß ein Volk nichts höher zu achten hat als die
Würde und Freiheit seines Daseins und daß die Ehre des Königs und der Regierung
eins ist mit der Ehre des Volkes 339 • Nach 1815 verband sich der Begriff der nationalen
Ehre besonders in der Burschenschaft mit dem Ziel der Einheit und Freiheit eines
kommenden deutoohon N11tionalstaats. Der Wahhpruch (zuerst) uer Halle1:1chen
Teutonia Freiheit, Ehre, Vaterland übte eine große Wirkung aus3 40 •
Dieser in den Reir.hRgriinilnngen von 1848 und 1871 gipfelnilen Tendenz stand
anfangs noch die mehr universalistische Auffassung der deutschen Klassik entgegen.
So sprach FRIEDRICH 8cHL~GEL (1817) von Erhaltung und Ehre der deutschen
Nation - nicht durch den verderblichen Wahn, sofort verschmelzen zu wollen 341 •

337 HEINRICH LUDEN, Einigo Worto übor das Studium der vaterländischen Ge~uhiuhw
(1811; Ausg. Darmstadt 1955), 16.
338 8TEIN an 8chön, 16. 12. 1812: Jetzt ist es Zeit, riaß sich Deutschl.and erhebe, riaß es

Freiheit und Ehre wiedergewinne,, Rr. n. Rohr.„ Rrl. :l (1961), 829; vgl. EBZHERZOG CABLs
Aufruf „An die deutsche Nation" (verfaßt v. GRAF STADION): Um Deutschland die Unab-
hängigkeit und die National-Ehre wieder zu verschaffen, zit. HELLMUTH RössLER, Öster-
reichs Kampf um Deutschlands Befreiung, 2. Aufl., Bd. 1 (Hamburg 1940), 498.
339 KARL ScHWARTZ, Leben des Geutll·alti Carl von Clausewitz und der Frau Maria von

Clausewitz, geb. Gräfin von Brühl, Bd. 1 (Berlin 1878), 436; vgl. ERNST MoRITZ ARNDT,
Geist der Zeit (1813), passim.
34 0 PAUL WENTZKE, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bd. 1 (Heidelberg 1919),

117. Nach den „Allgemeinen Grundsätzen der allgemeinen deutschen Burschenschaft" 2,


35 (1818) ergab Rir.h für rl1m Aimmlmm rliA Pflicht., d1'.e Rdnheit der deutschan Spracha, dia
Ehrbarkeit der deutschen Sitten, die Eigentümlichkeit der deutschen Bräuche und überhaupt
ulle!J du11jewiye Z'U /Ordern und zu unterstützen, was Deutschland groß und stark, das deutsche
Volk achtungswürdig und ehrenwert, den deutschen Namen rühmlich, jeden einzelnen
Deutschen gebildeter und edler machen kann. Es ist aber auch die Pfticht jedes frommen und
ehrlichen deutschen Mannes und Jünglings, alles dasjenige, was die Gemüter dem Vaterl.ande
entfremden, was das A usliindische erhalten, nähren und meh,ren, was die Seele für die heiligsten
Gefühle der Freiheit und Gleichheit des Vaterlandes abstumpfen könne, aus Leben und Sprache
auszuti"lgen, zit. HANS EHRENTREICH, Heinrich Luden und sein Einfluß auf die Burschen-
schaften, abgedr. in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und
der deutschen Einheitsbewegung, hg. v. HERMANN HAUPT, Bd. 4 (Heidelberg 1913), 126.
341 FRIEDRICH Sem.EGEL, Schreiben aus Frankfurt vom 19. 10. 1917: Zur wahren deutschen

Nationaleinheit, SW 1. Abt., Bd. 7 (1966), 462.

58
c) Nationale Ehre Ehre

Daneben hielt sich auch über 1848 bzw. 1871 hinaus der dynastisch-staatsnational
gebundene Ehrbegriff in den deutschen Ländern, besonders in Preußen (z. B. Hans
von Kleist-Retzow 1850; Bismarck 1848/49)342 •
Nach 1871 wurde der nationalstaatliche Ehrbegriff mit dem nationalen Macht-
gedanken eng verbunden, so durch HEINRICH VON TREITSCHKE (1898), für den die
Ehre des Staates ein sittliches Postulat darstellte. Der Staat müsse ein sehr hoch
entwickeltes Ehrgefühl besitzen, wenn er seinem Wesen als Macht nicht untreu
werden wolle. Auch symbolisch dürfe er sie nicht bestreiten lassen. Ist seine Flagge
verletzt, so ist es seine Pfiicht, Genugtuung zu fordern, und, wenn sie nicht erfolgt,
den Krieg zu erklären, mag der Anlaß noch so kleinlich erscheinen; denn er muß
unbedingt darauf halten, die Achtung, die er in der Staatsgesellschaft besitzt, sich auch
zu bewahren 343 •
War in diesem Begriff die Ehre der Nation noch ohne angemaßte Überlegenheit
über andere Nationen verstanden worden, so stellte der Übergang zum nationalen
Sendungsbewußtsein doch nur einen kleinen Schritt dar. Mit ihm verband sich die
Überzeugung vom nationalen Vorrang, der 'vorzüglich im Bereich von Kultur
und Volkstum von Klopstock über Fichte, Jahn, Arndt bis hin zu Adam Müller
vertreten wurde. So war für FrnnTlll (1807/08) das deutsche Volk die empirische
Erscheinungsform des spekulativen „ Urvolkes", entsprach dem inneren Werte
seiner Sprache nur eine vom gleichen Range, eine eben/alls ursprüngliche, als etwa
die griechische 344 ; so stellte sich für ADAM MÜLLER (1809) alles Große, Gründliche
und Ewige in allen europäischen Institutionen als deutsch dar 345 • Dieser noch
wesentlich vom kulturellen Sendungsbewußtsein bestimmte Vorrangsanspruch er-
hielt eine machtpolitische Wendung wärn=end des Revolutionsjahres 1848, nachdem
schon HEGEL 1821 das, was im Streit der Staaten als Verletzung der Anerkennung
und Ehre anzusehen sei, als ein an sich Unbestimmbares, indem ein Staat seine
Unendlichkeit und Ehre in jede seiner Einzelheiten legen kann, bezeichnet und
damit die Möglichkeit gewiesen hatte, politischen Interessen den Ehrenstandpunkt
zu unterlegen 346 . DAHLMANN ging 1848 in der Paulskirche über den Begriffim Sinne
einer Wahrung nationaler Rechte und nationaler Selbständigkeit hinaus, als er for-

342 Sten. Ber. Preuß. Landtag (1850), 53; BISMARCK, Gespräch mit Hermann Wagener,

8. Juni 1848, FA Bd. 7 (1924), 13; ders., Rede in der zweiten Kammer am 6. Sept. 1849,
FA Bd. 10 (1928), 39 f.
843 HEINRICH v. TREITSCHKE, Politik, 3. Aufi., Bd. 1 (Leipzig 1911), 80; Bd. 2 (1913), 551;

im R.O'l''l'lil!TK/Wlilr.rnn;m, Rrl. 8 (18:19), am schrieb WELCKER, daß die Staaten dae völker-
rechtliche Recht ihrer Ehre geltend machten. Rechtswidrige Verletzung ihrer Ehre würde
als gerechter Kriegsgrund angesehen. SoHU.P.l!l.N.liAU.l!JH., Aphurilmieu zur Lelieut1wd11heii
(1850), SW Bd. 5, 416 definierte 'Nationalehre' als Ehre einea ganzen Volkea ala
Teil der Völkergemeinschaft: Da es in dieaer kein anderes Forum gibt ala das der Gewalt
und demnach jedes Mitglied derselben seine Rechte selbst zu schützen hat, so beateht die Ehre
einer Nation nicht allein in der erworbenen Meinung, daß ihr zu trauen sei (Kredit), sondern
auch in der, daß sie zu fürchten sei: daher_ darf sie Eingriffe in ihre Rechte niemala ungeahndet
lassen. Sie vereinigt also den Ehrenpunkt der bürgerlichen mit dem der ritterlichen Ehre.
844 FICHTE, Reden an die Deutsche Nation, SW Bd. 7 (1846), 325.

346 An.AM MÜLLER, Elemente der Staatskunst (1809), zit. KAISER, Pietismus, 220. Dieses

Sendungsbewußtsein läßt sich auch später immer wieder feststellen.


348 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 334. SW Bd. 7 (1928), 443.

59
Ehre II. 9. Der Fürsten- und Nationalstaat

derte, daß ohne Rücksicht auf das durch den Anschluß Schleswig-Holsteins gestörte
europäische Gleichgewicht Deutschland aus einem schwachen versunkenen Gemein-
wesen, aus einer im Ausland geringgeschätzten Genossenschaft zur Würde, Ehre und
Größe hinaufsteigt 347 • Damit floß in den Begriff nationaler Ehre der Gedanke
nationaler Macht und Größe als Grundlage der Wertschätzung des Auslandes ein.
Von hier aus war es dann noch ein letzter Schritt, diesen Ehrbegriff zum absoluten
Maßstab allen nationalpolitischen Handelns zu erheben. Diese Auffassung vertrat
der ostpreußische Demokrat WILHELM JOH,DAN, als er in der Polendebatte den
Deutschen empfahl, zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus, . . . welcher die
Wohlfahrt 11,nd Ehre de.s Vaterlandes in allen "/i'rn,gpm, nbf„n am.stellt 348 • Damit wurde
die Ehre der Nation zum maßgebenden Wert, der mit ihren politischen Macht-
interessen gleichgesetzt wurde, hinter dem fremde !{echte zurückzutreten hatten.
Dieser emotional übersteigerte nationale Ehrbegriff fand - im einzelnen differen-
ziert bis hin zu einem platten Chauvinismus - in der Folge zunehmende Ver-
breitung. HEINRICH VON TREITSCHKE (1870) vertrat die Annektion des Elsaß gegen
den Willen seiner Bewohner unter Berufung auf das historische Volkstum, auf die
Generationen der starken deutschen 111.änner, welche einst der Sprache und Sitte,
der Kunst und dem Gem,p,inwP.~P.n dP.~ Obe.rrheins den Stempel unseres Goiotoo auf
prägten, als ein Gebot der nationalen Ehre 349 • Für MAX WEBER (1916) war nationale
Ehre verknüpft Init Deutschlands Bewährung als Großmacht, d. h. mit 1far Er-
füllung der ihm von der Geschichte als Pflicht und Aufgabe auferlegten Verant-
wortung fü1· die zukünftige Kultur der Welt, uie vor der Überschwemmung durch
Russen und Angelsachsen zu bewahren sei. Deutschland mußte ein Machtstaat sein
und mußte, um mitzuspt•echen be-i der Entsche·idung über die Zukunft der Erde, es auf
diesen Krieg ankommen lassen ... Die Ehre unseres Volkstums gebot e.~. Um, HhrP.,
nicht um Änderungen der Landkarte und des Wirtschaftsprofits . . . geht der deutsche
Krieg~ 50 •
Schon im Flugschriftenkampf der Reichsgründungszeit erhoben sich Stimm1m, (lif1,
um den deutschen Namen einzusetzen in die alte Ehre und Deutschland in seine
frühere Macht, bedeutende Gebietsforderungen an die Nachbarstaaten stellten351 •
Im „Alldeutschen Verband" endlich wurde der Begriff nationale Ehre zum Panier
eines chauvinistischen Nationalismus, unter dem der Vorrang deutscher macht-
und kulturpolitischer Tnteressen gegenüber den anderen Nationen propagandistisch
verfochten wurde (REINIGER 1898)352.

3 47 St~n. Ber. Dt. Nationalvern., Bd. 1 (1848), 274.


348 Ebd., Bd. 2, 1145.
349 H. v. TREITSCHKE, Was fordern wir von Frankreich?, Preuß. Jbb. 26 (1870), 371.

3 5° MAx WEBER, Deutschland und die europäischen Weltmächte, in: ders., Polit. Sehr., 171.
361 Deuts<;ihland und die Napoleoniden (Leipzig 1859); J. K. BLUNTSCHLI in der Bayer.

Wochenschr. v. 7 .. 5. 1859; JuLIUs FRÖBEL, Deutschland und der Friede von Villafranca
(Frankfurt 1859); Dänisohe Keckheit und deutsche Schwäche (Coburg 1863), abgedr. in:
HANS ROSENBERG, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands (München 1935), Bd. l,
50. 89. 127; Bd. 2, 717.
362 21. Alldeutscher Verbandstag, in: Zwanzig Jahre alldeutsche Arbeit und Kämpfe

(Leipzig 1910), 51 f.

60
m. Ausblick Ehre

Die nationalistische Ideologisierung des Ehrbegriffs hatte zur Folge, daß schließlich
Ehre nur noch denjenigen Angehörigen der Nation zugeschrieben wurde, die die
Selbstübersteigerung und Machtentfaltung bejahten und stilgemäß förderten.
„Reichsfeinde" konnten zu „Vaterlandslosen" und damit zu „Ehrlosen" abge-
wertet werden. Neben die - rechtlich nicht mehr vorhandene, aber im Bewußtsein
weiterlebende - ständische Ehrlosigkeit trat die nationale Ehrlosigkeit.

III. Ausblick
Nachdem im Ersten Weltkrieg die, wie das Schlagwort „viel Feind, viel Ehr" zeigt,
auf Macht und Glanz des Wilhelminischen Reichs gerichtete nationale Ehre auf eine
harte Probe gestellt worden war, war sie für viele in dieser Fixierung verschlissen,
blieb aber, teils in starker Betonung, teils in unausgesprochener Hinnahme, ein
wertgeladener, wirksamer Begriff, sei es in deutlicher, an das Symbol der schwarz-
weiß-roten Fahne gebundener Kontinuität des Kaiserreichs, sei es in demokratischer
Deutung. Auch dies stand in der Kontinuität der Freiheitskriege, der Revolution
von 1848 und der Oppositionshaltung im Reich vor 1918. Der demokratische
Ahgeorilrn~te ff ATTRRM ANN hmmhwor in der Kundgebung der Nationalversammlung
„gegen den Gewaltfrieden" (12. 5. 1919) Clausewitz' „Bekenntnisse" von 1812
(s. o. S. 58), und die Reden des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten ScHEIDE-
MANN sowie des Zentrumsredners GRÖBER gingen implizit und zum Teil auch aus-
drücklich gleichfalls vom Begl"iff tle1· nationalen Ehre aus 353 •
Der Nationalsozialismus konnte sich also auf eine breite Zustimmung stützen,
wenn er in der nationalen Ehre den Höohstwert unseres gesamten Soliaffon6 und
Handelns sah (ALFRED BÄUMLER 1943) 354 • Solche Wertung schloß allerdings die
eben hervorgehobene demokratische Kontinuität aus und übersteigerte einseitig
tlie 1:mhuu in der Wilhelminischen Zeit wirkenden Tendenzen, den Nationalbegriff
„völkisch" un,d „rassisch" zu verstehen. Die eng mit der Idee der Freiheit ver-
knüpfte Idee der Ehre, verstanden als primärer Antrieb der Geschichte, wurzelte
nach den Vorstellungen ALFRED RosENBERGS vorzüglich in den germanischen
Völkern, der „Nordischen Rasse". Wenn irgendwo der Begriff der Ehre Zentrum
des gesamten Daseins gewesen ist, so im nordischen, im germanischen Abendland ...
Hier walteten die nrwüch.~igen Ra.~.~entriehe ohne jede Bindung und Zucht, ungehemmt
durch erzieherische Zweckmäßigkeitsüberlegungen oder genau bestimmte rechtliche
Ordnung. Das einzige Schwergewicht, welches der Nordmann mit sich trug, war der
Begriff der persönlichen Ehre. Dieses ehrbewußte Zentrum seines Wesens habe auch
im Kampf und Tod eine reine Atmosphäre gezeugt. Diese Gesinnung aber sah
Rosenberg (1930) durch die Gmichichte in der Nordisehen Rasse fortleben. Überall,
wo nordisches Blut vorherrscht, ist der Ehrbegriff vorhanden ... Bei uns aber spricht
man trotz vieler unheiligen Eigenscliaften immer noch mit gleicher Inbrunst von
„Deutscher Treue", was beweist, daß unser metaphysisches Wesen noch immer das

353 Die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, hg. v. ED. HEILFRON, Bd. 4 (Berlin
o. J.), 2672 f., 2644 ff., 2656 ff.
354 ALFRED BÄUMLER, Einleitung zu: ALFRED ROSENBERG, Schriften und Reden 1917-21,
Bd. 1 (München 1943), XCIV.

61
Ehre III. Ausblick

„Mark iler. Ehre" als seinen ruhenden Pol empfindet 355 • Das Instrument zur geistig-
seelil'lchen Erneuerung wie imlll Schutz der die Idee der Nationalehre tragenden
Rasse aber war ihm das durch das Hakenkreuzbanner symbolisierte „Dritte Reich"
(Rosenberg 1926) 356 • Mit diesem pseudo-mythisch verklärten Ehrbegriff wurde die
0

Rassenpolitik zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre ideo-
logisch untermauert, erfuhr der Ausschließlichkeitsanspruch ·der nationalsozialisti-
schen Bewegung seine Begründung, fanden anknüpfend an den germanischen
Gefolgschaftsgedanken Führerprinzip und strikte Unterordnung ihre Rechtferti-
gung. Die Ehre, die jedem, der „deutschen Blutes" war, gleicherweise zugesprochen
wurde, war bezogen allein auf das systemgemäße Verhalten gegenüber der Volks-
gemeinschaft. Das Bewußtsein eines jeden, nach den Artgesetzen und für ilie Art
seines Volkes zu leben, muß die innere Ehre ausmachen . . . Und ilie äußere Ehre
sehen wir in dem Bewußtsein der Gemeinschaft, daß der einzelne artgemäß lebt (Reichs-
leiter WALTER BucH 1!)39) 357 • In den der ideologischen Gleichschaltung dienenden
berufsständischen Ehrengerichtsordnungen zum maßgebenden Rechtswert er-
hoben, wurde dieser Ehrbegriff zum Mittel, eine Systemehre aufzubauen, neben der
für andere Regungen des Ehrbewußtseins gar kein Raum mehr bleiben konnte. Daneben
blieben. die Gegner des Systems moralisch isoliert, indem ihnen die Ehre abge-
sprochen wurde (EDUARD SPRANGER 1947) 358 • Diese „Systemehre" führte vor
allem im militärischen Bereich zum Konflikt mit dem traditionellen soldatischen
Ehrbegriff. Er wurde nationalsozialistisch okkupiert, weitgehend hingenommen,
aber im Widerstand abgclchuL, wuuei wiederum die Ko11tinuitäLen gegensätzlich
gedeutet wurden.
So wurde im Nationalsozialismus auf der einen Seite der nationale Ehrbegriff wei-
terhin überhöhend ideologisiert und in der Katastrophe 1933 bis 1945 offenbar
endgültig verschlissen. Auf der andern Seite wurde die ethisch gebundene National-
ohro im Widcmtand gegen Hitler an die preußii;che uml deutsche Geschichte
angeschlossen und widersprüchlich zur nationalsozialistischen Perversion neu be-
gründet. Daran konnte nach 1945 angeknüpft werden. Doch wird gegenwärtig der
Ehrbegriff immer seltener auf die Nation angewendet. Im ganzen ist der Begriff
zurückgesunken, sei es, daß er .mit dem Hitler-Regime verquickt und daher mit ihm
gemeinsam abgelehnt wird, sei es, daß die geschichtliche Wirklichkeit des National-
staats, von dem die Männer des Widerstands noch selbstverständlich ausgingen,
verblaßt ist bzw. ihren politischen Stellenwert im europäisch-weltpolitischen
Modernisierungsprozeß verändert hat. Damit hängt die Tatsache zusammen, daß
auch die traditionellen Applikationen des Ehrbegriffs an bestimmte Berufe oder

355 ROSENBERG, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 75.-78. Aufl. (München 1935), 152 ff.
358 Ders., Die Fahne,. Völkischer Beobachter v. 8. 7. 1926, in: ders., Blut und Ehre, Bd. 1
(München 1934), .128.
3 57 WALTER BucH, Der Ehrbegriff des deutschen Menschen, in: Sammelheft ausgewählter

Vorträge und Reden (Berlin 1939), 121.


358 EDUARD SPRANGER, Falsche Ehrbegriffe, Dt. Rundschau 5/6 (1947), 137. Das kommt

zum Ausdruck in der infam machenden Kennzeichnung mit dem Judenstern und
andererseits in den ehrenden Auszeichnungen mit Ritterkreuz, Mutterkreuz und Ehren-
dolch, GERHARD KROLL, Die Ursachen des abendländischen Verfalls, Neues Abendland 6
(1951), 146 ff.

62
m. Ausblick Ehre

8tände zunehmend verblaßt sind und - mindestens in ihren veralteten bzw.


ideologisierten Ausdrucksweisen - im allgemeinen nicht mAhr ?.Aitg11mäß orler rler
modernen Berufswelt gegenüber unangemessen erscheinen. Bei der Debatte über
die Aufhebung der militärischen Ehrengerichte in der Weimarer Nationalversamm-
lung drückte der Abgeordnete DAVIDSOHN (SPD) die moderne gegen Nationalismus
einerseits, Standesbewußtsein andererseits gerichtete Auffassung drastisch tauto-
logisch durch den Satz aus: Ehre ist Ehre, und jede Sonderehre ist keinen Schuß
Pulver wert 359 • Damit ist gültig auch für die Gegenwart dargelegt, daß „Sonder-
ehren" aller Art den Grundsätzen einer demokratisierten Gesellschaft wider-
sprechen, daß aber Ehre als die auf der Selbstachtung beruhende, daher als unver-
zichtbar erlebte Achtung, die der Mensch von seinen Mitmenschen beansprucht360 ,
nicht nur im Bewußtsein der Menschen, sondern auch im Recht 361 verankert ist.
FRIEDRICH ZuNKEL

t
359 HEILFRON, Nationalversammlung, Bd. 6 (o. J.), 3623.
3 uo BROCKHAUS, Enz., Bd. 5 (1968), 262.
381 So z.B. Persönlichkeitsschutz, Ehrenschutz, straf- und zivilrechtlich; grundrechtlich

dazu Art. 1 des Grundgesetzes: Schutz der „Würde des Menschen". .

63
Eigentum

I. Einleitung. II. Eigentumsbegriffe des Mittelalters und der frühen Neuzeit. 1. 'Eigen'
und 'Eigentum' in der mittelalterlich-deutschen Rechtssprache. 2. Der Eigentumsbegriff
der gemeinrechtlichen Wissenschaft. 3. Dynamische Eigentumslehren. III. Der Eigentums-
begriff unter dem Einfluß der liberalen Eigentumslehren. 1. Die juristischen Rig1mtumR-
definitionen. 2. Eigentum und persönliche Freiheit. 3. Eigentum und politische Freiheit.
4. Die Veränderungen des .l!:igentumsbegriffs im einzelnen. a) Das Eigentumsobjekt.
b) Das Eigentumssubjekt. c) Inhalt des Eigentumsrechts. 5. Privateigentum und Staats-
gewalt. IV. Sozialgedanke und Sozialismus. 1. Liberale Eigentumslehre und soziale Wirk-
lichkeit. 2. Der Gedanke der Sozialbindung des Eigentums. 3. Der Eigentumsbegriff im
Sozialismus. V. Ausblick.

1. Einleitung
Die Begriffsgeschichte des Eigentums erscheint außerordentlich komplex infolge
des immensen Bedeutungsbereiches, innerhalb dessen der Eigentumsbegriff
zwischen allgemeinem Sinngehalt und speziellen Bedeutungsvarianten schwankt.
Das substantivierte oder adjektivisch verwendete Partizip 'eigen' (ahd. eigan =
haben), aus dem die Substantive 'Eigenschaft' und 'Eigentum' abgeleitet sind1,
steht für die archetypische Zuordnungsbeziehung 8ubjekt-Objekt; gleichwohl
tendiert der Begriff aber dazu, im konkreten Gebrauche be.sondere Habf\formfln
und -objekte zu kennzeichnen. Dabei erweist sich die Eleme~tarbegrifflichkeit
von 'Eigen' und 'Eigentum' daran, daß auch die spezialisierten Bedeutungsweisen
variabel sind; der Eigentumsbegriff ist in der Lage, immer wieder neue Sinngehalte
in sich aufzunehmen, sofern nur das „Muster" des Subjekt-Objektverhältnisses
vorhanden ist.
Dieser Sachverhalt erklärt die Mehrheit der Eigentumsbegriffe bis heute. Dem
außerwissenschaftlichen Eigentumsbegriff, der auch zur Kennzewhnung von
Personalbezügen geeignet ist, stehen wissenschaftliche Termini gegenüber, etwa
der juristische und der ökonomische, die notwendig wiederum einen unterschied-
lichen Sinngehalt aufweisen. In der Rechtssprache selbst ist, auch nach der Ver-
wissenschaftlichung des Rechts, der Eigentumsbegriff nichts weniger als eindeutig;
er bleibt auch nach der vermeintlichen juristischen Fixierung relativ wandlungs-
fähig. Der Eigentumsbegriff wird um so veränderlicher, je stärker die Rechtsfiguren
in den Bann von Staats- und Gesellschaftsdoktrinen geraten und folglich in ihrer
Bedeutung systemabhängig werden. Deshalb hat die folgende Untersuchung, die
Rinh auf rl1m Rozial relflvanten Eigentumsbegriff beschränkt, nicht nur 'Eigentum'
als Rechtsfigur, sondern auch die außerrechtlichen Aussagen über 'Eigentum' und
ihre Einwirkungen auf das Recht zu beleuchten. Solche Einwirkungen, vielfach
auch die Gegenwehr einer der Utopie vom „reinen Privatrecht" verfallenen
Jurisprudenz kennzeichnen zu einem guten Teil die Begriffsgeschichte.
Der in das 18. Jahrhundert tradierte „gemeinrechtliche" Eigentumsbegriff erweist
sich als Ergebnis einer Synthese zweier Rechtskulturen mit sehr unterschiedlichen

1 Literatur s. DIETER SCHWAB, Art. Eigen, Hwb. z. dt. Rechtsgesch., Bd. 1 (1971), 877ff.

5-9(1386/l 65
Eig1mt11m II. 1. Mittelalterlich-deutsche Rechtssprache

Eigentumsvorstellungen, der mittelalterlich-deutschen und der römischen, deren


Eigenart im Folgenden festgehalten werden soll.

II. Eigentumsbegriffe des Mittelalters und der frühen Neuzeit

1. 'Eigen' und 'Eigentum' in der mittelalterlich-deutschen Rechtssprache

Das Alternieren des Eigentumsbegriffs zwischen allgemeinen und konkreten


Sinngehalten wird in der von der Rezeption der gelehrten Rechte noch nicht beein-
flußten deutschen Rechtssprache in besonderer Weise offenkundig.
Freilich ist die Bedeutung von 'eigen' und 'Eigentum' in der Rechtssprache nie so
generell, daß jegliuhe Zuordnung von Vermügem1güLern darunter verstanden
würde. Das vorwissensehaftliche .l{echt neigte nicht zur Abstraktion; es gab im
mittefalterlir.h-fl1mtschen Rec.ht keinen die Inhaberschaft von Rechten oder auch
nur von Vermögensrechten 2 allgemein umfassenden Terminus; die. Rechtsbegriffe
waren immer konkret, auf einen typischen Sachverhalt bezogen. Der Vielfalt der
mittelalterlichen Besitzverhältnisse entsprach daher eine Vielfalt der die Rechts-
inhaberschaft anzeigenden Rechtsbegriffe: 'eigen' (-'turn', -'schafL'), 'erbe', 'gut',
'fahrende habe', 'len', 'leihe', 'gült', 'zins', 'leibzucht' usw. So kommt es .• daß als
Zentralbegriff des Sachenrechts nichL 'Eigentum', sondern 'Gewere' als ein tat-
sächliches Verhältnis zur Sache erscheint 3 • Da 'Gewere' aber wiederum nicht das
Re.c.ht selbst beir.eir.hnete, sondern oofcrn Bic rechtmäßig war - als Uc11foüeru11g
des dinglichen Rechts erschien und daher an dessen mannigfachen Gestaltformen
teilnahm4, ist sie mit dem Eigentum im heutigen juristischen Verstande nicht
vergleichbar, eher mit 'Besitz', einem Begriff, der seit dem 14. Jahrhundert als
Verdeutschung der römischen possessio gebräuchlich wurde 5 .
TTntiir f11m fii.r das Rec.ht selbst stehenden Begriffen neigten 'eigen' und 'Eigentum'
am ehesten zur Generalisierung. Sie trugen und tragen die Tendenz zur Ober-
begritl:'lichkeit permanent in sich. 'Eigen' erscheint in der Rechtssprache vorwiegend
als substantiviertes Partizip, also in der Bedeutung „das rechtmäßig Gehabte",
oder - infolge allmählicher Abstraktion - „das Recht am zugeordneten Gegen-
stand". Der Anwendungsbereich war freilich zunächst gegenständlich begrenzt,
nämlich beschränkt auf das Recht an Liegenschaften, also an Grundstücken und
gleichgestellten Objekten 6, ferner auf das Recht an einer unfreien Person7 • Seit
dem 14. Jahrhundert jedoch geriet auch das Fahrniseigentum, bis dahin mit
Umschreibungen wie 'vahrnde habe', 'vahrndes gut' bezeichnet, in den Bedeutungs-

2 Der Begriff deA VflrmöeflnA Rpielt.e in der mittelalterlich deutsohon Roohtoopmohc noch
keine Rolle.
3 ANDREAS HEUSLER, Die Gewere (Weimar 1873), 114ff.; RUDOLF HÜBNER, Grundzüge

des deutschen Privatrechts, 5. Aufl. (Jena 1930), 199 ff.; HERBERT MEYER, Art. Besitz,
Rlex. germ. Altertumskunde, Bd. 1 (1912), 261 ff.
4 Daher die Unterscheidung der Arten der „Gewere" nach d.em Recht, dessen Ausfluß

sie war: eigenlike gewere etc.; RWB Bd. 4 (1939), 635 ff.; HEUSLER, Gewere, 149 ff.
6 RWB Bd. 2 (1932), 144, s. v. Besitz.
8 Literatur hierzu s. Anm. 1.
7 Vgl. Sachsenspiegel, Landrecht 3, 42, wo die Bildung eigenschaph ausschließlich für die

Leibeigenschaft gebraucht ist.

66
II. 1. Mittelalterlich-deutsche Rechtssprache Eigentum

bereich des 'eigen'-Begriffs. Wichtiger noch war die Generalisierungstendenz bei


der Frage nach der rechtlichen Substanz des mit 'eigen' bezeichneten Rechts. Es
zeigt sich nämlich, daß die mit 'eigen' umschriebene Sachherrschaft völlig unter-
schiedliche Inhalte aufweisen konnte; nicht nur das „Voll"-Eigentum (Allod),
sondern auch Nutzungsrechte und Leiherechte aller Art, also partielle Zuordnungen,
waren als 'eigen' gekennzeichnet, sofern sie sich nur in der , ,Gewere'' manifestierten8 •
Der Anwendbarkeit des 'eigen'-Begriffs stand es weder entgegen, daß sich das Recht
lediglich als Nutzungsrecht auf Lebenszeit darstellte ( proprieta,s ad dir,s vitap,)9, noch
daß der Eigner mit permanenter Zinspflicht belastet war10 . Bei der eigenartigen
Rechtsfigur des „Inwärtseigens" wies ·das Dienstrecht dem Ministerialen das
Eigentum an einem Gut zu, das landrechtlich als Eigentum des Dienstherrn er-
schien 11. Awi iliesen Sachverhalten hat ilie reuhL!!historischc Fomohung gefolgert,
der deutsche 'eigen'-Begriff weiRe keinen generell fixierten Inhalt auf, zeichne sich
insbesondere nicht durch die UnbeschränkthAit Nf\R clamit bezeichneten Rechts
aus 12 , so daß die an einem Objekt bestehenden Rechte als unter ;mehrere Eigner
aufteilbar erscheinen.
Dieser Tendenz, 'Eigentum' zum Oberbegriff der sachenrechtlichen Zuordnungen
zu erheben, wirkte jedoch eine andere entgegen, die sich seit dem 13. Jahrhundert;
über das wir quellenmäßig besser unterrichtet sind, als clie Atärkere erwies. Danach
erschien 'eigen' als der spezifisuhe Kontrastbegriff zu 'Lehen', 'Leihegut' und anderen
beschränkten Zuordnungen, die auf eine fortdauernde Beziehung des Rechtsinha-
bers zu einer anderen Pcroon gegründet waren.' Da.R kil.m in den außerorde.ntli"h
häufigen Nebeneinanderstellungen wie egen, len, liftucht (Sachsenspiegel 1, 41), egen
oder len oder lifgetucht oder tinsgut (ebd. 3, 76, 3), gulte, aigen, khen, lipgedinge,
erblehen (Augsburger Stadtrecht von 1276, Art. 76, § 1) zum Ausdruck. Welchen
Zuordnungsformen das Eigen auch immer gegenübergestellt wurde, stets bezeich-
nete eo die vollkommenere Zuordnung; das Eigen war nicht. von clP.m höhP.rfln Recht
eines anderen abgeleitet, wie das Lehen oder das bäuerliche Zinsgut oder wie ein
Nutzungsrecht an dem Eigen eines anderen, auch wenn es erblich war (von daher
die mögliche Kontrastierung 'eigen' - 'erbe') oder wie das lebenslängliche Nut-
zungsrecht der Ehefrau am Grund, der ihr als Leibgeding überantwortet war.
'Eigen' in diesem spezialisierten Sinn war weitgehend synonym mit 'Allod'.
Die Abstraktionen 'Eigenschaft' und 'Eigentum', die seit dem 13. Jahrhundert aus
'eigen' gebildet wurden 13, übernahmen die geschilderte Mehrdeutigkeit von 'eigen',

8 Dazu HÜBNER, Privatrecht, 242 f.; Quellen bei ANDREAS HEUSLER, Institutionen des

Deutschen Privatrechts, Bd. 1 (Leipzig 1885), 337 ff.; .H. W.H .Hd. :.l, 1345 (Eigentum an
Pachtn'lr.htim, 11.m Wilrlha.nn 11. ä.).
9 Zit. HEINRICH ZOEPFL, Altertümer des Deutschen Reichs und Rechts, Bd. 1 (Leipzig,

Heidelberg 1860), 126. 130 f.


10 Vgl. JAKOB GRIMM, Deutsche Rechtsaltertümer (1828), hg. v. A: Heusler u. R. Hübner,

4. Aufl„ Bd. 1 (Leipzig 1899), 720.


11 PAUL PuNTSCHART, Das „Inwärts-Eigen" im österreichischen Dienstrecht des Mittel-

alters, Zs. f. Rechtsgesch., germanist. Abt. 43 (1922), 66 ff.


12 So bes. MEYER, Art. Eigentum, Rlex. germ. Altertumskunde, Bd. 1, 531; vgl. auch

ÜTTOV. GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2(Berlin1873), 138; H.-R. HAGE-
MANN, Art. Eigentum, Hwb. z. dt. Rechtsgesch„ Bd. 1, 884.
18 Nachweise: RWB Bd. 2, 1346 ff.

67
Eigentum II. 1. Mittelalterlich-deutsche Rechtssprache

wobei freilich der speziellere Sinngehalt (Gegensatz zu 'Lehen') überwog. Damit


nahm der Eigentumsbegriff eine relativ konkrete Gestalt an. In dieser Gestalt aber
konnte er nicht die Mitte des Rechts der Zuordnungen bilden. Für den größten Teil
der Bevölkerung blieb das so verstandene Eigentum an wirtschaftlich bedeutsamen
Vermögensobjekten unerreichbar; im feudalistischen System der abgestuften
Berechtigungen konnte das Ziel des Besitzstrebens regelmäßig nur ein Leihegut
sein; durch das Lehen, nicht durch das Eigentum wurde die Sozialverfassung
bestimmt. Freilich darf nicht übersehen werden, daß ein Teil der Leiheverhältnisse,
etwa in Form der Erbzinsleihe, dem heutigen Eigentum ähnlich sein konnte
(Erblichkeit, beschränkte oder unbeschränkte Verfügungsbefugnüi).
Aber auch in dieser spezialisierten Bedeutung war das Eigentum inhaltlich nicht
genau feslgelegl; uer unspezifümhe Eigentumsbegriff wirkte noch fort. Was der
Eigner im einzelnen durfte, inwieweit er zinspflichtig war oder andere Abgaben in
seiner Eigenschaft als Inhaber doa Gutofl flohuldctc, inwieweit er in der Verfügung
beschränkt (Familiengüter) oder frei war, konnte aus dem Eigentumsbegriff nicht
entnommen werden - daher Spezialisierungen wie 'freies Eigen' - , sondern wurde
durch die örtlichen Verhältnisse und Gewohnheiten bestimmt. Dem deutschen
mittelalterlichen Recht hlir.h flir. VorRtr.lhmg fmmfl, flaß flas Eigentum ein bestimm-
tes Mindestmaß (Fülle) von Berechtigungen in sich schließen müsse, so daß es
keineswegs als Inkonsequenz erschien, wenn manche Eigentumsformen eine ge-
ringere rechtliche Herrschaft umgriffen als bestimmte Leihearten. Der mittel-
altorlioh deutsche Eigentumsbegriff erwieß sich so nls uugeeiguel, Jen Ans:üz für
sozialpolitische Eigentumstheorien zu bilden.
Für den mittelalterlich-deutschen Eigentumsbegriff war es schließlich bedeutsam,
daß er nicht· nur Habebeziehungen einschloß, die wir nach der modernen Termino-
logie als „privatrechtlich" qualifizieren. Als Objekte des Eigentums erschienen
vielmehr auch „Gerechtsame" aller Art, mithin auch Hoheitsrechte wie Gerichts-
herrlichkeit und Regalien. Dieser Sachverhalt liegt der heute abgelehnten Behaup-
tung der Rechtshistoriker des 19. Jahrhunderts zugrunde, im Mittelalter hätten die
Hoheitsrechte „privatrechtliche Natur angenommen" 14 . Der Vorwurf Otto Brun-
ners, eine solche Vorstellung setze den neuzeitlichen Souveränitätsbegriff und die
dem souveränen Staat gegenüberstehende bürgerliche Gesellschaft voraus 15, ist
zweifellos berechtigt. Dennoch enthält die These von der „privatrechtlichen Na.t.ur"
der mittelalterlichen Hoheitsrechte, wenn man sie recht versteht, einen erheblichen
Erkenntniswert. Sie weist nämlich darauf hin, daß die Trägerschaft von Hoheits-
rechten, sofern diese nur, wie im Mittelalter üblich, vermögensrechtliche Relevanz
aufwiesen, durch dieselben Zuordnungsbegriffe bestimmt wurde und denselben
formalen Zuordnungsformen unterlag wie. die lnnehabung von VormögcnGrcohtcn,
die nicht mit einer Hoheit über Personen verbunden waren. Gerichtsbarkeit,

14 HEUSLER, Privatrecht, Bd. 1, 336. Zu ähnlichen Formulierungen bei Waitz s. ERNRT-


WoLFGANG BöcKENFÖRDE, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahr-
hundert (Berlin 1961), 119.
16 OTTO BRUNNER, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965), 124; ähnlich BöcKENFÖRDE,

Verfassungsgeschichtliche Forschung, 119.

68
Il. 2. Gemeinreehtliche Wissenschaft Eigentum

Patronatsrecht, Vogtei 16, Zehnt- 17 und Bannrecht1 8 konnten als 'eigen', 'pro-
prietas' usw. gekennzeichnet werden, ebenso wie sie als 'lehen' innegehabt werden
konnten. Der Eigentumsbegriff erscheint auch hier vorwiegend als Kontrastbegriff
zum Lehen 19 , seine Anwendung auf Hoheitsrechte oder Rechte, die in der „poli-
tischen" Verfassung begründ~t sind, entspricht- sei es als Voraussetzung oder als
Folge - dem Vorgang ihrer Feudalisierung. Mit diesem Sprachgebrauch stand es
im Einklang, wenn die als „Eigen" oder „Lehen" zustehenden Hoheitsrechte in
gleicher Weise wie rein „private" Nutzungsrechte als Objekte des R.t1chfa:iverkehrR
erschienen und unter denselben Rechtsformen wie diese veräußert und verpfändet
und nach ähnlichen Grundsätzen vererbt wurden. 'Eigentum' und 'Lehen' waren also
weder spezifisch privatrechtliche noch öffentlichrechtliche Zuordnungsbegriffe 20
nach heutigem Ver::1Lanue, ebensowenig wie die „gewere", die sogar dem Landes-
herrn am Land zugeschrieben wurde 21 • Hinter der Tatsache, daß Hoheitsrechte
und nicht mit Hoheit verbundene Vermögensrechte recht.sfigiirlir.h in gleicher oder
ähnlicher Weise erfaßt wurden, stand jedoch nicht der Mangel an Unterscheidungs-
vermögen, sondern an Differenzierungsbedürfnis. Die Grenzlinie zwischen Ver-
mögensrecht und Hoheitsrecht war auch in der Wirklichkeit verwischt; das Hoheits-
recht hatte vermögensrechtlichen Charakter, der für den Inhaber das ~ssentiale
werden konnte. Ferner erschien z.B. in der Grundherrschaft die Hoheit über
Personen in eigenartiger Weise verilinglichL, so als sei sie die Folge einer Ha bcc
beziehung zu Grund und Boden 22 • Dieser Umstand fand sprachlich seinen Ausdruck
in uer Ilcdcutung1mähe von 'Eigentum' und 'Hernichaft.' 23 •

2. Der Eigentumsbegriff der gemeinrechlllchen Wissemmhaft

Mit der Aufnahme des römischen Rechts in Deutschland nahm der Eigentums-
begriff schärfere Konturen an. Die gelehrtfl .TnriRptudenz versuchte, das Sachen-
recht aus eindeutigen, dem römischen Recht entnommenen Rechtsbegriffen zu

1s Nachweise bei HEUSLER, Privatrecht, Bd. 1, 337.


17 R.WR Rd. 2, 1282.
18 Ebd., 1346.
19 So muß der Satz de!! „Deutschenspiegels": da von niac nienian gejen daz gerithe si sin

eigen (94, § 1) verstanden werden: das Gericht steht nicht zu eigen zu, sondern ist vom
König zu leihen.
20 Deshalb vermag ich die Auffassung BöcKENFÖRDES, es habe einen vorliberalen „in-

stitutionell-öffentlichen Eigentumsbegriff" gegeben (Verfassungsgeschichtliche Forschung,


37), nicht zu teilen. Der Begriff nAR Rigflnt,nms war weder institutionell öffentlichrechtlich,
noch institutionell privatrechtlich.
21 Vgl. BRUNNER, Land und Herrschaft, 360.
22 Die Behauptung von HANS PLANITZ, Grundzüge des deutschen Privatrechts, 3. Aufl.

(Berlin, Göttingen, Heidelberg 1949), 64, das Recht des Königs am Staatsgebiete, des
Grundherrn an der Grundherrschaft, des Landesherrn am Lande sei vom privatrechtlichen
Grundeigentum nicht unterschieden gewesen, geht m. E. erheblich zu weit. Das setzte
voraus, daß ursprünglich nur der König, später nur der Landesherr Inhaber von Allodial-
besitz gewesen wären.
23 BRUNNER, Land und Herrschaft, 244 ff.; BöcKENFÖRDE, Verfassungsgeschichtliche For-

schung, 137. Zu dem Verhältnis von Eigentum und Herrschaft siehe unten S. 76.

69
Eigentum II. 2. Gemeinrechtliche Wissenschaft

gestalten. Dabei zeigte sich jedoch, daß eine unveränderte Übernahme des römi-
schen Eigentumsbegriffs die soziale Wirklichkeit nicht getroffen hätte.
Der römisch-rechtliche Eigep.tumsbegriff in seiner vom klassischen Recht ausgebil-
deten und im Gesetzgebungswerk Justinians ausgewiesenen 24 Gestalt unterschied
sich vom deutschrechtlich"mittelalterlichen grundlegend. Das römisch-rechtliche
Eigentum (dominium, proprietas) war das dingliche Vollrecht an einer Sache, das
alle möglichen dinglichen Zuordnungen in sich faßte; es war die allbezügliche
Zuordnung, es war „absolut" 25 • Die übrigen dinglichen Rechte erschienen folglich
als verselbständigte, vom Eigentümer veräußerte Teilbefugnisse des Eigentums-
rechts, daher als Teilhabe an fremder Sache (iura in re aliena), und waren vom
Eigentum fundamental unterschieden. Der Unterschied dieser großartigen Be-
griffskonstruktion vpm deutschrechtlichen Eigentum, dem die scharfe Abgrenzung
von beschränkt dinglichen Rechten fremd war, erscheint offenkundig. Auch der
engere, die allodiale Zuordnung bezeichnende deutsche Eigentumsbegriff war von
ganz anderer Art: er bildete nicht den gedanklichen Mittelpunkt des sachenrecht-
lichen Systems, sondern bezeichnete nur eine von mehreren Hauptformen der
Güterhaue.
Es ist mij.ßig zu untersuchen, ob der römische Eigentumshegriff anf nie soziale
Welt des Mittelalters überhaupt nicht anwendbar gewesen wäre 26 • Tatsache ist, daß
ihn bereits die Italienischen Legisten des Mittelalters - wohl kaum ohne Absicht -
für den Bereich der großen Eigentumsobjekte einer entscheidenden Modifikation
unterworfen haben. Aus der Tatsache, daß das römische Recht der actio directa des
Eigentümers auf Herausgabe der Sache eine actio utilis anderer dinglicher Berech-
tigter nachgebildet hatte 27 , entwickelten die Juristen zwei Eigentumsformen, das
„dominium directum" und das „dominium utile". Diese Unterscheidung wurde
von Kommentatoren des 14. und 15. Jahrhunderts für die Erfassung der viel-
gestaltigen mittelalterlichen Besitzrechte fruchtbar gemacht. Das „dominium utile"
wurde dem Inhaber eines Lehens, einer kirchlichen Prekarie, dem Erbpächter
(Emphyteuta), dem Superfiziar, dem Inhaber eines „niederen" Leiherechts (z.B.
städtische Erbleihe) zugeschrieben; derjenige hingegen, von dem diese Personen
ihr Besitzrecht ableiteten, wurde als dominus directus 28 bezeichnet, sofern er nicht
selbst sein Besitzrecht wiederum von einem anderen ableitete. Damit bildete sich
die mittelalterliche Besitzrechtspyramide, die in der deutschen Rechtssprache vor

24 Nachweise und Literatur bei MAX KAsER, Das römische Privatrecht, Bd. 1 (München

1955), 340 f.; Bd. 2 (1959), 189.


26 Zur Entwicklung im römischen Recht vgl. MAx KAsER, Eigentum und Besitz im äl-
teren römisch1m R1mht, 2. Aufl. (Köln, Graz 1965), 227 ff. 292.
26 Die Behauptung von HEmz WAGNER, Das geteilte Eigentum im Naturrecht und

Positivismus (Breslau 1938), 28, die gesamte soziale Ordnung des Mittelalters habe auf
dem Spiel gestanden, überschätzt die soziale Sprengkraft juristischer Begriffsbildung.
Immerhin kannte das römische Recht die Erbpacht (Emphyteusis) als „ius in re aliena".
27 Nachweise bei KARL LAUTZ, Die Entwicklungsgeschichte des dominium utile (jur. Diss.

Göttingen 1916), 20 ff. ·


28 Vgl. Glosse zum Codex Justinianus, „libertates", zu C 11, 61, 12. Zur Gesamtentwicklung

vgl. außer WAGNER und LAUTZ (s. Anm. 26. 27) ANTON FRIEDR. JusTUS THIBAUT, Über
dominium directum und utile, in: ders., Versuche über einzelne Theile der Theorie des
Rechts, Bd. 2 (1798; 2. Aufl. Jena 1817), 67 ff., bes. 88'.

70
II. 2. Gemeinrechtliche Wissenschaft Eigentum

allem in dem Gegenüber vom 'Eigen' und 'Lehen' terminologisch gefaßt war,
innerhalb des römischen Eigentums ab. Es gab - wie nach dem weiteren deutschen
Eigentumsbegriff - mehrere Eigentumsformen unterschiedlichen Inhalts, das
Eigentum des Nutzinhabers (dominium inferius) und des Oberhetrn (dominium
superius) und schließlich - eher als Ausnahme denn als Regel - das „Volleigen-
tum" (dominium plenum), bei dem eine solche Aufteilung der Berechtigungen
nicht stattfand. Damit war die Lehre vom „geteilten" (besser: teilbaren) Eigentum
entstanden, die auch das gelehrte Recht in Deutschland trotz einiger Widersprüche
beherrschte 29 • Auch die Naturrechtslehre übernahm diesen Eigentumsbegriff und
suchte den Eigentumscharakter des dominium utile zu erweisen. Den Unterschied
zwischen der Einräumung beschränkt dinglicher Rechte und des dominium utile
deutete z. B. THOMASIUS so, daß bei dem dominium utile nicht nur eine Teilbefugnis
aus dem dominium, sondern auch ein particulum aus der davon unterschiedenen
proprietas übertragen werde, während beim beschränkt dinglichen Recht die
proprietas ungeschmälert dem Eigentümer verbleibe 30 • Die Lehre vom geteilten
Eigentum wurde trotz verschiedener Anfechtungen 31 zur Grundlage des Boden-
rechts bii; in uai> 19. Jahrhundert hinein.
Für die rechtliche Einordnung der Besitzrechte insbesondere an den Lehn- und
Leihegütern war die Theorie vom dominium utile von entscheidender Tragweite.
Die Aussage, daß auch der Leiheberechtigte dominus seines Gutes sei, nahm dem
Lehnsherrn gegenüber dem Vasallen, dem Grundherrn gegenüber seinem zu Erb-
pacht besitzenden Bauern die Prärogativen, die ihm kraft iler Absolutheit des
Eigentums im Verhältnis zum Nichteigentümer zugekommen wären; auch' der
Leiheberechtigte nahm Tell an der Absolutheit des Eigentums. Die entscheidende
Grenze, die das römische Recht zwischen dem universell berechtigten Eigentümer
und dem beschränkt-berechtigten Nichteigentümer zog, war verschoben. Da die
domini utiles trotz Beschränktheit ihres Besitzrechts Eigentümer waren, bestand
nunmehr das Abgrenzungsproblem darin, das dominium utile von anderen be-
schränkten Besitzrechten wie dem usus/fructus zu unterscheiden. Insbesondere bei
den bäuerlichen Besitzverhältnissen war ein scharfer Gegensatz zwischen den
Inhabern eines dominium utile (regelmäßig die Erbpächter) und den Inhabern eines
geringeren BesiLzrechts (regelmäßig die Zeitpächter) die Folge. Daß die Differen-
zierung bei der örtlichen Rechtszersplitterung vielfach schwierig, wenn nicht
unmöglich war, muß vermutet werden. Im ganzen brachte die wissenschaftliche
Lehre vom geteilten Eigentum eine den tatsächlichen Verhältnissen nicht ange-
messene Vereinheitlichungstendenz ins Spiel.
Die :Frage nach der sozialgeschichtlichen Relevanz der gelehrLen Eigentumstheorie
ist schwer zu be.antworten. Der Tendenz nach begünstigte sie die Besitzrechte der
als „Emphyteuten" zu qualifizierenden Gutsinhaber und benachteiligte alle

29 Nachweise bei WAGNER, Geteiltes Eigentum, 27 ff.


30 Cmt!sTIAN THoMAsrns, Institutiones jurisprudentiae divinae (1688; Ausg. Halle,
Magdeburg 1730), 204.
31 Beispiele bei WAGNER, Geteiltes Eigentum, 32. 37; ferner WIGULAEUS XA VER ALoYs

FRH. v. KREITTMAYR, Anmerkungen über den Codicem Max:imilianeum Bavaricum


civilem, Bd. 2 (München 1761), 408 (unter Hinweis auf Hennelius, der das „dominium
utile" eine Chimäre nannte).

71
Eigentum II. 3. Dynamisehe Eigentumslehren

Besitzberechtigten, deren Recht nicht unter das dominium utile fiel. Man wird
jedoch den Einfluß des gelehrten Rechts nicht zu hoch ansetzen dürfen. Die Lehre
vom dominium utile war ja nicht entstanden, um die sozialen Verhältnisse zu
ändern, sondern um sie zutreffender darzustellen, als es der römische Eigentums-
begriff getan hätte; daß sich dabei infolge der Nivellierung der örtlich höchst
unterschiedlichen Besitzrechte Auswirkungen ergaben, erscheint als naheliegende
Konsequenz. Die Juristen haben es aber nicht verhindern können, daß auch die
bäuerlichen domini utiles seit dem 16. Jahrhundert eine erhebliche Einbuße ihrer
Rechte hinnehmen mußten 32 •
Als Ergebnis kann festgehalten werden: Der römische Eigentumsbegriff entsprach
nicht der sozialen Welt des Feudalismus (und entfaltete - wie wir sehen werden -
seine volle Wirksamkeit erst in der postfeudalen Periode). Daher schuf das gelehrte
Recht einen auf das deutschrechtliche Eigentum im generellen Sinne tendierenden
weiten Begriff des dominium, der eine adäquatere juristische Deutung der vor-
handenen Besitzrechte versprach.

3. Dynamische Eigentumslehren

Der gemeinrechtliche Eigentumsbegriff ist nicht von. einem Staats- und Gesell-
schaftsmodell her konstruiert, sondern ist Ergebnis einer Anpassung überlieferter
Rechtsbegriffe an die Realität; nicht soziale Effektivität im Sinne einer Dynamik
ist sein Zweck. Damit ergibt sich die Frage, ob Mittelalter und frühe Neuzeit nicht
noch andere, auf Bewegung hinzielende Eigentumsbegriffe hervorgebracht haben.
In Betracht kommt, zunächst cfü1 Rehandlung des Eigentums in der Theologie.
Indem die Theologen menschliche „Habe" als Bezugsobjekt ethischen Wohl- oder
Fehlverhaltens vorstellten, hoben sie das Eigentum als Habeform in die Dimension
der Moral. Das Eigentum erhält freilich damit keine neue Struktur und keinen
neuen Begriff, sondern lediglich einen bestimmten Stellenwert. Aussagen über
Eigentumsgehalte und Eigentumszwecke dienen lediglich als Grundlage ethischer
Postulate. Die Dynamik des Eigentums wird nicht erreicht über eine bestimmte
Eigentumsstruktur, sondern beschränkt auf ein dem einzelnen zur Vermeidung
der Sünde angesonnenes Eigentümerve1·halten; so, wenn ausgesagt wird, die äußeren
Güter seien von Gott zu bestimmten Zwecken verliehen; hinsichtlich deR Gebrauchs
solle der Mensch die Güter nicht als eigene, sondern als gemeinschaftliche haben 33 ;
es sei die Pflicht des einzelnen, von dem Überfluß Almosen zu geben 34 • Von einer

32 Für die Vermutung GEORG FRIEDRmH KNAl'l'R, Die Bauernbefreiung und dor Ur-
sprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens, Bd. 1 (Leipzig 1887), 46, der
Einfluß des römischen Rechts habe vielleicht die Auffassung bestärkt, der Grundherr sei
Eigentümer seines gesamten Herrschaftsgebiets, sehe ich keine Grundlage; vgl. auch
FRIEDRICH GROSSMANN, Über die gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse in der Mark
Brandenburg (Leipzig 1890), 19 ff. 44, der freilich - m. E. zu sehr vereinfachend - eine
schädliche Auswirkung des rezipierten Rechts auf die Besitzrechte der Bauern generell
verneint. Abwägend das Urteil von FRANZ WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit,
2. Aufl. (Göttingen 1967), 234 f.
33 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica, 2, 2, qu. 66, art. 2.
84 Ebd., qu. 32, art. 5.

72
II. 3. Dynamische Eigentumslehren Eigentum

solchen Konzeption aus ist die Chance gering, auf Eigentumsstrukturen einzu-
wirken (das Individualverhalten ist diesbezüglich nicht kontrollierbar), und in der
Tat ist die „Eigentumstheologie" in der Realität nur im Verhalten des einzelnen
wirksam geworden; man denke an die dona tiones zugunsten der Kirchen und
anderer Rechtsträger, die das ihnen Zugewendete vielfach sozialen Zwecken zu-
führten. Die Gestalt des Eigentums im allgemeinen aber blieb unangetastet.
Interessanterweise haben die scholastische Eigentumslehre, ebenso wie die Vor-
stellung LUTHERS vom Eigentümer als Haushälter Gottes 35 , erst im 19. Jahrhundert
ihre eigentliche Verbreitung und Sozialrelevanz gefunden (s. u. IV. 2). Nur dort, wo
die Theologie sich in Rechtssätzen ausprägte - man denke an das kanonische Zins-
verbot-, kann man von einer (sehr partiellen) Struktureinwirkung sprechen.
Von ganz anderer Dynamik sind die Vorstellungen, die in spätmittelalterlichen
Sektenbewegungen und im Bauernkrieg auf Realisierung drängen. Sie beeinflussen
notwendig das Eigentum nicht nur in Gestalt radikaler Forderungen nach
einem christlichen Kommunismus oder nach Aufteilung der Güter zu gleichen
Teilen (so der PFEIFFER VON NIKLASHAUSEN) 36, vielmehr zielen auch die zurück-
haltenden bäurischen ~·orderungen, ohne dies zu reflektieren oder gar einen
Eigentumebe.griff zu poi:itulieren, auf i>oziale Veränderung dei> Eige.nt.um,s hin, 1>0
in der - schon alten 37 - Forderung nach Abschaffung der Leibeigenschaft, nach
Beseitigung oder Abbau der auf dem Bauerngut lastenden Dienst- und Abgabe-
verpflichtungen, in dem Verlangen nach Freiheit des Fischfangs und der Jagd
gegenüber den von den Fürsten in Anspruch genommenen Vorrechten (Regalien) 88 •
Wie sehr die Verwirklichung solcher Forderungen die Daseinsform des Eigentums
beeinflußt hätte, wird die Geschichte des Liberalismus zeigen. Ilei THOMAS MüNTZEK
zeigt sich denn auch schon der Niederschlag der erstrebten Reformen im Begriff
des Eigentums selbst. Offenbar um den Anspruch der Fürsten auf das Jagd- und
Fischereirecht und auf die Abgaben als Scheineigentum zu kennzeichnen, quali-
fizierte er - m. W. als erster - das (als illegitim bekämpfte) Eigentum als Dieb-
stahl: Sich zu, die grundtsuppe des wuchers, der dieberey und rauberey sein unser
herrn und fürsten, nemen alle creaturen zum aygenthumb. Die visch im wasser, die
vogel im lufft, das gewechß auff erden muß alles ir sein, . . . Darüber lassen sy dann
Gottes gepot außgeen unter die armen und sprechen: Got hat gepoten, du solt nit stelen;
es dienet aber in nit 39 • Zu einer theoretisch fundierten Ausgestaltung eines „rechten

35 FRIEDRICH KARL KüBLER, „Eigentum verpflichtet" - eine zivilrechtliche General-


klausel?, Arch. f. d. civilistische Praxis 159 (1960), 242; KARL HoLL, Ges. Aufs. zur Kir-
chengeschichte, Bd. 1 (Tübingen 1948), 258.
38 GÜNTHER FRANZ, Der douteoho Bauornkriog, 7. Aufl. (Darmotadt 1065), 19 f.
37 Sachsenspiegel, Landrecht 3, 42; Reformatio Sigismundi, Kapitel: Von zwinge und

pene, MG Staatsschriften des späteren Mittelalters, Bd. 6 (1964), 276: Es ist ein ungeherte
sach, das man es offen müß in der cristenheyt, das groß unrecht ist, das vorget, daz einer vor got
also durstig ist, das er sprechen tarf zü einem menschen: „Du bist mein eygen!", den got her-
tiglich erloßet hat und gefreyet; es ist heydenisch gethan.
38 Vgl. die Zwölf Artikel LoTZERS (Memminger Artikel) vom Februar 1525; zit. FRANZ,

Bauernkrieg, 123. Die Analyse der weiteren Bauernprogramme ebd., passim.


39 THOMAS MÜNTZER, Hoch verursachte Schutzrede und antwort wider das Gaistloße

Sanfft lebende fieysch zu Wittenberg, Sehr. u. Briefe, bg. v. Günther Franz (Gütersloh
1968), 329.

73
Eigentum m. 1. Juristische Eigentumsdefiniiionen
F.ie1mtnmR" Rind die Fiihrer der Bauern nir.ht gAl11.ngt„ DAr Zusammenbruch der
Bewegung hatte zur Folge, daß auch die Ansätze zu neuer Struktur und Begrifflich-
keit des Eigentums Episode blieben.
Den gegen die Ausweitung der Landes- und Feudalherrschaft gerichteten Eigen-
tumslehren stehen Vorstellungen von Theologen und Juristen gegenüber, welche
die Mehrdeutigkeit des dominium-Begriffes zum Anlaß nehmen, dem Fürsten das
Primäreigentum über alles Individualeigentum zuzurechnen. Der Fürst erscheint
als Inhaber eines umfassenden dominium, das die Elemente der Herrschaft und
des Sacheigentums über den räumlich-gegenständlichen Herrschaftsbereich in sich
schließt; Individualeigentum ist also vom fürstlichen dominium abgeleitet. In
dieser Lehre wird die Gestalt des Eigentums von einem Staatsmodell, nämlich dem
absolutistischen, abgeleitet: es erhält neue Strukturen und eine neue Begrifflichkeit.
Wir können daher vom Eigentumsbegriff des Absolutismus sprechen. Ihre Voll-
e111lu11g erfährL ilie Theorie, für ilie e1:1 iu tler reguli1:1bil:lehen untl kaiserfreundlichen
Literatur des Mittelalters viele Ansätze gibt, im 17. Jahrhundert bei THOMAS
HoBBES. Da der absolutistische Eigentumsbegriff eher die faktische Entwicklung
gerechtfertigt, denn mitgeprägt hat, sei er in seinem Kontrast zu den liberalen
Lehren näher beleuchtet (s. u. III. 5).

m. Der Eigentumshegrift' unter dem Einßuß der liberalen Eigentumslehren


1. Die juristischen Eigentumsdefinitionen

Die Veränderungen des Eigentumsbegriffs, die den Untergang der „feudalen" und
das Entstehen der modernen Welt begleiteten, hat die Rechtswissenschaft nicht
aus sich heraus vollzogen. Sie standen unter dem Einfluß der Rechts- und Gesell-
schaftsphilosophie und der Nationalökonomie. Gerade die metajuridische Grund-
lage erklärt den dynamischen, auf soziale Realisierung drängenden Charakter der
neuen Eigentumslehren. Die erste, entscheidende Umgestaltung des Eigentums-
begriffes erfolgte unter dem Einfluß der Freiheitslehren des politischen und ökono-
mischen Liberalismus. Die dogmatische 'l'riebkraft des .Prozesses war die Ver-
bindung der Idee von der individuellen Freiheit mit der des Eigentums. Das „freie
Eigentum" wurde zur Norm, zum allein daseinsberechtigten Eigentumstyp. Der
neue Eigentumsbegriff war vom Individuum und dessen Freiheit her gedacht; man
könnte sagen, dem Liberalismus ging es ursprünglich weniger um das Eigentum als
um den Eigentümer.
Versucht man den Wider11chein diese11 geistesgeschichtlichen Vorgangs in den
juristischen Eigentumsdefinitionen zu finden, so könnte man leicht enttäuscht
werden. Die allgemeinen Bestimmungen des Eigentums und Eigentumsinhalts in
der rechtwissenschaftlichen Literatur weisen vom Spätmittelalter bis in das
19. Jahrhundert hinein ein hohes Maß an Ähnlichkeit auf; die Veränderung von
Eigentumsstrukturen läßt sich lediglich an einigen Akzentverschiebungen ablesen,
deren rechte Deutung wiederum die Kenntnis der Entwicklung voraussetzt. Der
Grund für das Fortleben der juristischen Eigentumsbestimmungen auch in die Zeit
des Liberalismus hinein ist darin zu finden, daß der wissenschaftliche Eigentums-
begriff, nämlich der römische, in besonderer Weise geeignet war, den liberalen

74
m. 1. Juriatiache Eigentumsde6nitionen Eigentum

Lehren als juristisches Gefäß zu dienen 40 • Dem Liberalismus adäquat war freilich
nicht der weite Eigentumsbegriff, wie er in der Lehre vom geteilten Eigentum zum
Ausdruck gelangte, sondern dei· klassii;ch-rülllische. Die häufige Kontinuität der
juristischen Eigentumsdefinitionen erklärt sich auch aus dem Umstand, daß die
ältere gemeinrechtliche Literatur bei der allgemeinen Eigentumsbestimmung eben
. nicht die Formen des geteilten Eigentums, sondern das dominium plenum vor
Augen hatte, das - obwohl beim Grundbesitz sozialer Ausnahmetatbestand -
wissenschaftlich als das Urbild des Eigentums verstanden wurde. Von 'dominium'
in diesem Verstande wurde in der Regel ausgesagt, daß dem Inhaber die Fähigkeit
de re corporali libere disponendi 41 oder .die Befugnis über die Sache pro arbitrio
disponere zukomme 42 • Die Freiheit der Verfügung war also der kennzeichnende
Status des Eigentümers .. Solche Aussagen wurden auch in die naturrechtliche
Literatur des 17. Jahrhunderts übernommen43 ; sie beherrschten die Eigentums-
definitionen auch noch in der romanistisch ausgerichteten Rechtsliteratur des
19. Jahrhunderts, wobei freilich die Akzente sichtbar verschärft wurden. In der
deutschen Rechtssprache erschien als Kennzeichen des Eigentums demgemäß das
Recht, über die Sache frei und ungehindert zu disponieren 44 • Die „Freiheit", „Un-
beschränktheit" wurde schließlich nicht nur von der Dispositionsbefugnis, sondern
vom.Eigentumsrecht im ganzen ausgesagt. Das Eigentum sei se·iner Natur naclt e·in
unbeschränktes Recht (MACKELDEY 1814) 1 es sei ein wesentlich unbeschränktes und
unbeschränkbares Recht (ZACHARIÄ 1832) 15 . Die Wendung, der Eigentümer könne
pt"o (1Jrb·it1··io verfügen, kchrLe iu der deuLschsprachigen Literatur wieder als e·ine
Macht und Gewalt, nach Ge/allen zu disponieren 46 , als Recht, die Sache nach Willkür zu

40 HERMANN EICHLER, Wandlungen des Eigentumsbegriffs in der deutschen Rechts-

auffassung und Gesetzgebung (Weimar 1938), 45.


u Eo gonügo dor Ilinwcia auf ULRICH ZAsrns, In titulos a.liquot digesLi Huvi cu111111e11La.da.
[zu Dig. 41, 2], Opera, t. 1 (Lyon 1550), 329.
4 ~ HuGo DoNELLUS [DoNEAU],Commentariideiurecivili 9. 8, t.2 (1589; 2.Auß..Frankfurt

1590), 424. Für die deutsche Rechtsliteratur des 17. Jahrhunderts s. GEORG ADAM STRUVE,
Syntagma jurisprudentiae (1653; Ausg. Jena 1702), 270 f. Zurückhaltender z. B. J OH. GoTT-
LIEB HEINECCIUS, Elementa juris civilis secundum ordinem inRtitutionum (Amsterdam
1725; Ausg. Marburg 1727), 172 f.: Dominium est ius in re corporali, ex quo facultas de ea
disponendi, eamque vindicandi nascitwr.
48 z.B. SAMUEL PUFENDORF, De iure naturae et gentium (1672), 4, 4, 2: der Eigentümer

kann pro arbitrio disponere.


44 ZEDLER Bd. 8 (1734), 514, Art. Eigen. Vgl. auch Codex Theresianus (1766), hg. v.

PHILIPP HARRAS RrrTER v. HARRASOWSKY, Bd. 2 (Wien 1884), 42: Recht und Befugnis
mit Sachen frei 11,n,d imllknm,m.P.n zu, .~ch11.lt~.n 11.nd zu wa.lten.
45 FERDINAND MAcKELDEY, Lehrbuch des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1 (1814;

8. Auß.. Gießen 1829), § 240; KARL SALoMö ZACHARIÄ, Der Kampf des Grundeigenthumes
gegen die Grundherrlichkeit (Heidelberg 1832), 6; ferner: ALBRECHT ScHWEPPE, Das
Römische Privatrecht in seiner Anwendung auf Teutsche Gerichte (1814/15; 3. Auß..
Altona 1822), 177 ( ursprü11{]liches, seiner Natur nach unumschränktes Recht); KARL ADOLPH
v. VANGEROW, Leitfaden für Pandekte1worlesungen (1839/40; 3.Auß..Marburg 1845/46),
§ 295 (an sich unbeschränkt); BERNHARD WINDSCHEID, Lehrbuch des Pandektenrechts,
Bd. 1 (1862/70; 5. Auß.. Frankfurt 1882), § 167 (als solches schrankenlos).
46 Project des Corporis Juris Fridericiani, das ist, Sr. Königl. Majestät in Preussen in der

Vernunft und Landes-Verfassungen gegründetes Landrecht (1748; 2. Auß.. Halle 1750/51),

75
Eigentum m. 1. Juristische Eigentumsdefinitionen
hflm1t1>mn4 7 orlflr mit ihr na.ch. Willkür w scha.lt.e.n 48 • Be1mnders hervorgehoben wurde
die Befugnis des Eigentümers, die Sache auch sinnwidrig zu behandeln: er konnte
sie unbenützt lassen und er konnte sie vertilgen 49 • Auch die Germanisten standen
zunächst unter dem Einfluß dieser Eigentumsbestimmungen 50.
Gegenüber den überkommenen Eigentumsdefinitionen bedeutete die Hervorhebung
der Unbeschränktheit des Eigentums, der Ungebundenheit des Eigentümers -
formal betrachtet - nichts wesentlich Neues. Die Aussage, daß der Eigentümer
„frei", „nach Gefallen" über die Sache selbst verfügen könne, war bar jeglicher
Freiheitsemphase, wenn man sie als Versuch versteht, das Eigentum von anderen
dinglichen Rechten, welche fline DiRpoRit,iomihefneniR iihflr il.ifl 811,chfl selbst. nic.ht
verleihen, abzugrenzen. Beschränkt-dingliche Rechte wiesen finale Bestimmungen
auf, das Eigentum nicht; daher mußte es - da es nicht auf das Recht einer be-
stimmten Nutzung oder Verwertung beschränkt war -- formal als unbegrenzt
erscheiueu.
Die liberale Freiheitslehre konnte sich jedoch dieser auf die rechtsfigürliche Kon-
struktion bezogenen Aussagen über „Freiheit" und „Ungebundenheit" des Eigen-
tums bedienen und sie mit einem neuen Gehalt füllen. Diese Sinnerweiterung, die
in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts spürbar wurde, deutete sich überall dort an,
wo die Freiheit des Eigentums auf das Naturrecht gegründet wmrle 51 .
Deutlicher läßt sich die Änderung des Eigentumsbegriffes an den juristischen
Eigentumsdefinitionen ablesen, die den Inhalt des Eigentums mit dem Terminus
'Herrschaft' umschreiben woll~n. Die Bedeutungsnähe von 'Eigentum' und
'Herrschaft' ist für die deutsche Sprache traditionell. Während nach klassischem
rümischem RechL 'uumiüium' UHU 'pruprieLai;' ali,; Sy11u11y111a fUr uai; „privatrecht-
liche" Eigentum standen 52 , umfaßte das mittelalterliche 'dmninium' einen ungleich
weiteren Bedeutungsbereich; es bezeichnete in der Mehrzahl der Fälle ein Ver-

Buch 2, Tl. 2, Tit. 3, § 1; ähnlich der Codex Maximilianeus Bavaricus civilis, Bd. 2 (Mün-
chen 1756), Kap. 2, § 1: Das Eigentum ist eine Macht und Gewalt mit dem Seinigen nach
e.iane.n Re.lirhe.n frei ~m.d umgehindert soweit ~fü. disponieren, als Gesatz und Ordnung ziilaßt.
47 .Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die deutschen Erbländer der oesterreichischen

Monarchie [ABGB] (Wien 1811), § 362.


48 A. F. J. THIBAUT, System des Pandekten-Rechts (1803; 5. Aufl. Jena 1818), § 558;

JoH. FRIEDRICH LUDWIG GösCHEN, Vorlesungen über das gemeine Civilrecht, hg. v.
Albrecht Erxleben, Bd. 2 (Göttingen 1839), 19: Recht, eine Sache ... nach Willkür und
ausschließlich zu behandeln.
49 ABGB, § 362.
60 So Jo11. RuDOLPH ENGAU, Elementa iurisGermanici civilis (1736; 2. Aufl. Jena 1740),

301: Domini.um est potestas de re quadam illiusque fructibus libere, legitime tamen disponendi;
302: Fallor ... dominum passe rem suam ... pro lubitu alienare; KARL FRIEDRICH EICH-
HORN, Einleitung in das deutsche Privatrecht mit Einschluß des Lehensrechts (1824;
5. Aufl. Göttingen 1845), 406: das Eigentum ist auch nach deutschen Begriffen ein in sich
unbeschränkte.~ Recht ( fa.~ in;fi.nit11,m,) an eini:r l'/a,r:hr..
61 THIBAUT, System des Pandekten-Rechts,§ 558; MAcKELDEY, Römisches· Recht, Bd. 1,

§ 240; SCHWEPPE, Römisches Privatrecht,§ 224.


62 Das gilt für die klassische und riachklassische Periode der römischen Rechtsgeschichte;

vgl. KASER, Römisches Privatrecht (s. Anm. 24), Bd. 1, 340; Bd. 2, 189.

76
m. 1. Juristische Eigentumsdefinitionen Eigentum

hältnis der Überordnung, der Herrschaft im heutigen Sinne, konnte aber auch für
das bloße, nicht mit Hoheitsrechten verbundene Eigentum stehen. Dem 'dominus'
entsprach in der deutschen Rechtssprache der 'Herr', dem 'dominium' die 'Herrlich-
keit' oder 'Herrschaft': auch diese Begriffe bezeichneten sowohl - und zwar
überwiegend - das Verhältnis der Überordnung, Hoheitsgewalt beliebiger Art
(Gott, Lehnherr, Landesherr, Grundherr, Eheherr) als auch das bloße Innehaben
von wirtschaftlich nutzbaren Rechten 53. Die Bedeutungsnähe zeigt sich insbeson-
dere in der Bildung 'Eigentumsherr' 54 - ähnlich 'Erbhcrr'55 - die wiederum für
den Grundherrn ebenso wie für den Eigentümer schlechthin stehen konnte 56 .
Daß die Eigentumsdefinitionen in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert
die Befugnisse des Eigentümers als 'Herrschaft' umschrieben, scheint nach erstem
Augenscheine demnach keine Besonderheit anzuzeigen. Dennoch ist diese Tatsache
für den Eigentumsbegriff in höchstem Maße charakteristisch. Es muß nämlich
bedacht werden, daß jene partielle Bcdoutungokongruonz von 'Herrschaft' und
'Eigentum' spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Rückbildung begriffen
war. Der Begriff der Herrschaft verengte seine Bedeutung auf den Bezirk des
Hoheitlichen; 'Herrschaft' wurde insbesondere in der Verfassungsgeschichts-
$C.hreibnng Ain 11pM:ifi11r.hAr, ::rnf iliA politi11r.hA VArfä.RRnng hAr.oeAnAr 1'Armin1111. DiAR
zeigt sich deutlich darin, daß seit Mitte des 18. Jahrhunderts, soweit wir sehen
können, in keiner Quelle 'Herrschaft' synonym für das blotle .li:igentum an 8ach-
gütern gesetzt wurde, wie das noch bei ZoPF (1775) geschah 57 , der das Recht des
rrivatcigcntümcrs dom·in·iwm ·v·u7,ga„1·e ·in gmne·ine Ilen-tJchaft (im Gegensatz zur
hohen - dominium eminens) verdeutschte. Der Vorgang erweist sich auch an dem
Verschwinden des Begriffs 'Eigentumsherr' aus dem Sprachgebrauch. Schon bei
ADELUNG (1774) zeigte sich die Neigung, die Vokabel auf das Obereigentum - das
weitgehend mit Hoheitsrechten verbunden ist - zu beschränken: Der Eigentums-
herr, ... der Eigentümer, wenn man dessen mit Ehrerbietung gedenket; besonders
wenn er das Obereigentum über eine Sache hat 58 • Bei den großen Kodifikationen war
der Begriff nicht mehr gebräuchlich.
Die beobachtete Wandlung des Sprachgebrauchs wird gerade dort deutlich, wo -
wie etwa in der Verfassungsgeschichtsschreibung - eine enge Wechselbeziehung
zwischen Eigentum und Herrschaft oder ihre Identität behauptet wurde. Wenn
für G. L. VON MAURER (1854) die Herrschaft der wahre Ausdruck für die dem

63 Für 'Herr': RWB Bd. 5, 785; für 'Herrlichkeit': ebd„ Bd. 5, 850; für 'Herrschaft':

ebd„ Bd. 5, 856 f.


54 z. B. Sobm1er Landrecht (1571), 2, 6, 4.: Zum t•ierten soll der Bestender ode.r de.sse.n Erbe.n

alle J are den Erbzins oder Pfächt dem Eigentumbsherren gütlich ausrichten. Weitere Quellen
RWB Bd. 2, 1350.
66 RWB Bd. 3 (1935), 81.

sa Beispiele: RWB Bd. 2, 1350.


67 JoH. HEINRICH ZOPF, lurisprudentia naturalis, oder kurtzgefasste und deutlich er-

läuterte Grund-Sätze der Natürlichen Rechts-Gelahrtheit (Halle 1775), 5, 2, § 3. Dominium


wird mit Eigentums-Herrschaft übersetzt, dominium eminens mit Hohe Herrschaft, domi-
nium vul,gare mit gemeine Herrschaft.
58 ADELUNG Bd. 1 (1774), 1538; GRIMM Bd. 3 (1862), 102 nennt das Wort einen schwer-

fälligen, unnützen Ausdruck für eigner oder eigentümer.

77
Eigentum m. 1. Juristische Eigentumsdefinitionen

Besitzer eines vollfreien Eigen zustehenden Rechte war 59 , dann sollte gerade die
verfassungsgeschichtlich-politische Relevanz des Grundeigentums gekennzeichnet
werden. Die Aussagen „Herrschaft ist Eigentum" und „Eigentum ist die Grundlage
für Herrschaft" gehen erst dann über eine Tautologie hinaus, wenn der auf das
Hoheitliche bezogene Charakter der Herrschaft wesensmäßig feststeht.
Erstaunlicherweise wurde nun aber das Eigentum als Herrschaft auch dort gekenn-
zeichnet, wo gleichzeitig das Bestreben bestand, die öffentlich-rechtlichen Struk-
turen des Eigentums der Privatperson abzubauen; so etwa in der romanistischen
Jurisprudenz. Wenn der „Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis" den Eigentümer
als Herrn, den dnmirm.~ p7Rm.u~~ alR 1'ollkommr1~n Herrn t'on der Saoh wieflergiht. 60 , Rn
mag noch die alte sprachliche Verwandtschaft 'Herrschaft'/'Eigentum' zugrunde .
liegen. Hei den .l:'andektisten hingegen wurde eine spezifische Aussage über die
Struktur gemacht, wenn das Eigentum als totale Herrschaft über die Sache (PucHTA
1841), als vollkommene Herrschaft über eine körperliche Sache (ARNDTS 1852)61
qualifiziert wurde. Mit 'Herrschaft' sollte die Fülle der Gewalt des Eigentums-
subjekts über die schrankenlos unterworfene 62 Sache umschrieben sein, in deut-
licher struktureller Analogie zur politischen Herrschaft. Uer .Privateigentümer
schien allein noch Tnha.hflr einer Hf\ITRr.ha.ft. zn RP.ln, welche als politfache nicht mehr
denkbar war, nämlich einer absoluten, weil nicht Personen, sondern Sachen die
„Herrschaftsunterworfenen" waren. Die - mitunter hymnischen - Beschreibun-
gen des Eigentümers erinnern stark an die Aussagen, welche die staatsrechtliche
LiLeraLur uei,i AL:,iulutislllus über den Landesherrn gemacht hatte: der RigP.nt.ii rnHr
sei Herr und Gebieter (DIECK 1835) 63 , er sei ein Souverän (ZACHARIÄ 1808) 64 , er sei
Herr über die Sache kraft se·ine1· subjekt-i-ven P·rivut-Su·wveru1inetäl, oder auch: von

6D GJ!JUltll· Luvww v. MA.uitl!Jlt, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und

Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt (1854; 2. Aufl. Wien 1896), 104 f.
°
8 Codex Max. Bav. civ„ Bd.2 (1756), Kap. 2, §§ 2. 6; vgl. auchJoH. GEORG EsTOR, Bürger-

liche Rechtsgelehrsamkeit der Teutschen, Bd. 1 (Marburg 1757), 735: es befinde sich
diejenige halbseligkeit, wekhe einem nach Teutschen [sie] gebrauche als herrn zugehöret ... im
eigentume.
81 GEORG FRIEDRICH PucHTA, Cursus der Institutionen, Bd. 2 (1838; 2. Aufl. Leipzig 1846),

579; ders„ Vorlesungen über das heutige römische Recht, hg. v. A. A . .!<'. Rudorff (1847;
2. Aufl. Leipzig 1849), 290; LUDWIG ARNDTS, Lehrbuch der Pandekten (1852; 3. Aufl.
München 1859), 191; JULlUS BARON, Pandekten (1872; 4. Aufl. Leipzig 1882); 212; CARL
GEORG v. WÄCHTER, Pandekten, Bd. 2 (Leipzig 1881), 2; HEINRICH DERNBURG, Pandek-
ten, Bd. 1 (1885; 4. Aufl. Berlin 1894), 451. Auch die Germanisten bedienten sich des
Terminus' 'Herrschaft' zur Umschreibung der Eigentümerstellung; vgl. GEORG BESELER,
System des gemeinen deutschen Privatrechts, Bd. 1 (1847; 4. Aufl. Berlin 1885), 318;
JoH. KAsPAR BLUNTSCHLI, Deutsches Privatrecht (1853; 3. Aufl. München 1863/64),
153 ff.; vgl. auch das von Bluntschli ausgearbeitete und erläuterte Privatrechtliche
Gesetzbuch für den Kanton Zürich, Bd. 2 (1855; 3. Aufl. Zürich 1861), § 551 (vollkommene
und ausschließliche Herrschaft). Aus der lexikalischen Literatur vgl. HERDER Bd. 2 (1854),
514; MANZ 3. Aufl„ Bd. 4 (1867), 1089: ausschließliche rechtliche Herrschaft.
62 Von totaler Unterwerfung der Sache sprach PucHTA, Vorlesungen, Bd. 1, 287.
83 ERSCH/GRUBER 1. Sect„ Bd. 26 (1835), 498.
64 K. S. ZACHARIÄ, Handbuch des französischen Civilrechts, Bd. 1 (1808; 6. Aufl. Heidel-

berg 1875), 491.

78
m. 2. Eigentum und persönliche Freiheit Eigentum

Gottes Gna<len (LEIST 1859) 65 ; kurz, er galt - in bezug auf das Eigentumsobjekt -
alS Herrscher, Autokrat, "veio, 66 • Auch der Gegner des liberalen Eigentums-
begriffs ADAM MÜLLER (1809) hielt sich bei seiner Kritik an die Verwendung
staatsphilosophischer Terminologie: der ziemlich unbedingte Despotismus des Men-
schen über sein Eigentum ist, den gemeinen Ansichten nach, die Hauptäußerung seiner
sogenannten Freiheit 67 • In solchen Bildern wird die liberale Freiheitsideologie
sichtbar. Das Eigentum war der prinzipiell schrankenlose Entfaltungsbereich des
autonomen, nur durch den Gesellschaftsvertrag gebundenen Individuums.

2. Eigentum und persönliche Freiheit

Die Veränderung des Eigentumsbegriffes, die in den allgemeinen Definitionen der


juristischen Literatur in Akzentverschiebungen ihren Ausdruck findet, vollzog sich
in aller Schärfe in der Rechts- und Staatsphilosophie des politischen' Liberalismus,
die das Eigentum mit der Idee der persönlichen und politisphen Freiheit verband.
Die Forderung nach Freiheit des Eigentums, mit der in erster Linie die Freiheit des
Eigentümers gemeint war, wurde in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunde!'ts von unter-
schiedlichem theoretischem Fundament aus allenthalben erhoben. Obwohl hierbei
der Einfluß der ökonomischen Lehren von großer Bedeutung ist 68 , kommt der
Rechtsphilosophie dennoch der Hauptanteil an der rechtlichen Ausgestaltung des
Freiheitsgedankens zu. Indem die freiheitlichen Staatsdenker die politische Ge-
meinschaft als Ergebnis einer Konvention von ursprünglich freien und ihre Freiheit
der Substanz nach nicht aufgebenden_ Personen deuteten, schrieben sie auch der
Habe des einzelnen eine für das politische System entsc,heidende Wertigkeit zu.
Theoretischer Ausgangspunkt war die Lehre vom Ursprung des Eigentums. Obwohl
sich die „Freiheit des Eigentums" auch dann begründen ließ, wenn man annahm,
das Eigentum entstehe (rechtlich) erst durch die Vergesellschaftung 69 , so erscheint
die Lehre von der Vorstaatlichkeit des Eigentums (als Institution des Natur-
zustandes) als die entscheidende Basis für den liberalen Eigentumsbegriff. Von
grundlegender Bedeutung wurde die Eigentumslehre von JOHN LocKE (1690). Wie
GROTIUS und l>uFENDORF 70 ging er von der ursprünglichen Gemeinschaftlichkeit der
Güter im Naturzustande aus, gründete die Entstehung des Eigentums aber nicht
auf einen Vertrag 71 , sondern einen Individualakt: das Eigentum entstand für ihn,
indem jemand einen Gegenstand der Natur mit seiner Arbeit (labour) verband.
Denn etwas hatten Menschen auch im Naturzustand zu Eigentum: his own person.

85 'RITR.Krnn Wn,m1r,M J,li1IST, Über die Nat.ur de:> Eigentum:> (Jena 1859), 57.
88 Schon GROTIUS bririgt. ein Zitat von Dio von Prusa, wonach der einzelne, obwohl das
Land auf bestimmte Weise dem Staat gehört, "vew' ... Twv iavToii ist; De iure belli ac
pacis (1625), 2, 3, 4.
87 ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst (1809), hg. v. Jakob Baxa, Bd. 1 (Jena

1922), 155.
88 Hierzu siehe CHARLES GrnE /CHARLES RIST, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehr-
meinungen, dt. v. R. W. Horn, hg. v. Franz Oppenheimer (Jena 1913), 8 ff.
89 Dazu u. S. 105.
70 GROTIUS, De iure belli 2, 2, 2. 5.; PUFENDORF, :Oe iure nat. 4, 4, 4.

71 GROTIUS und PUFENDORF, ebd.

79
Eigentum m. 2. Eigentum und persönliche Freiheit
The labour of his body and the work of his hands, we may say, are properly his 72 • Wenn
der Mensch einen Naturgegenstand mit dem, was ihm urtümlich eigen war, ver-
band, wurde der Gegenstand notwendig sein Eigentum. Die rechtliche Zuordnung
von Sachgütern war also in dem „Eigentum" des Menschen an seinen Personal-
gütern begründet: ... it is evident, that though the things of Nature are given in
common, man (by being master of himself, and proprietor of his own person, and the
actions or labour of it) had still in himself the great foundation of property73 • Eigentum
an äußeren Gütern war in diesem Verstande nichts anderes als eine Erstreckung
des „Eigentums" an der Person (also der Freiheit) auf die Gegenstände der Natur.
Der Mensch herrschte über den Gegenstand, weil ihm das auf den Gegenstand
verwendete personale Sein weiterhin eigen blieb. 'Property' umschrieb den
Gesamtbereich der dem Menschen gegebenen Rechte, das Sacheigentum bildete nur
eine sekundäre, aus den personalen Rechten abgeleitete und an deren Schutz-
würdigkeit partizipierende Spezies. Was das rechtlich bedeutet, wird in der Behaup-
tung Lockes offenbar, der Eintritt der Menschen in die Gesellschaft erfolge haupt-
sächlich zu dem Zweck, ihr Eigentum zu schützen: The great and chief end, there-
fore, of men uniting into commonwealths, and putting themselves under government, is
thP. pm.~Pir11f1J.Üm. nf thP.ir prope.rty, das hieß, ihrer lii1es, liberties a.nd estates 74 ,
Damit waren zwei für die liberale Eigentumsideologie zentrale Aussagen gemacht:
a) Das .h:igentum an äußeren (wirtschaftlichen) Gütern war in der personalen
Freiheit (Eigentum des Menschen an sich, Herrschaft über sich selbst) begründet,
empfing daher notwendig die Strukturen aus dieser allgemei11e11 FreiheiL.
b) Wo immer als Zweck des Staates der Schutz der individuellen Freiheit bestimmt
wurde, umgri:ff dieser Zweck notwendig den Schutz des Eigentums an wirschaft-
lichen Gütern.
Es gehört nicht zu unserer Aufgabe, Ausfaltung und Wirksamkeit dieser Ideen
darzustcllcn 7 1i. Sachliche Konsequenz war das Verlange11 nach einer - der all-
gemeinen Freiheitsgarantie entsprechenden - staatlichen Garantie des Privat-
eigentums, die seit der „Bill of Rights" von Virginia (1776)7 6 und der „Declaration
des droits de l'homme et du citoyen" der französischen Nationalversammlung
(1789) in den festen Bestand der geschriebenen Verfassungen überging 77 •
In Deutschland wird die gedankliche Verknüpfung des Eigentums mit der persön-

72 JOHN LOCKE, Two Treatises of Government (1690) 2, 5, 25. 27.


73 Ebd. 2, 5, 44.
74 Ebd. 2, 9, 123 f.
75 Es ist bezeichnend, daß sich die Behauptung, die Vergesellschaftung bezwecke den

Schut.z des Eigentums der einzelnen, bei einflußreichen Autoren wie Rommoau und Adam
Smith wiederfindet: JEAN-JAQOUES RousSEAU, Discours sur l'economie politique (1745),
Oeuvres compl., t. 3 (1964), 241 f.: in der grande famille des Staates sei die allgemeine
Verwaltung nur errichtet pour assurer la propriete particuliere qui lui est anterieure; ADAM
SMITH, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), 5, 1 f.
76 Virginia Bill of Rights, Sect. 1: the enjoyment of lif e and liberty, with the means of acquiring

and possessing property,


77 Zur Geschichte der staatlichen Eigentumsgarantie vgl. ULRICH SoHEUNER, Die Garantie

des Eigentums in der Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte, in: ders./EMIL KüNG,
Der Schutz des Eigentums. Untersuchungen zu Artikel 14 des Grundgesetzes (Hannover
1966), 12 ff.

80
m. 2. ·Eigentum und persönliche Freiheit Eigentum

liehen °Fffliheit in der 2. Hii.lfte des 18.•Jahrhunderts spürbar, oft in beiläufigen


Bemerkungen - so etwa, wenn EsTOR (1757) die Befugnis des Eigentümers, sein
Grundstück nach Belieben zu bebauen, auf die natürliclie Freilieit zurückführt 78 •
Gegen Ende des Jahrhunderts wurden solche Vorstellungen jedoch intensiver
verarbeitet. In dem Buche „Freyheit und Eigenthum, abgehandelt in acht Ge-
sprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung" von ERNST
FERDINAND KLEIN (1790) begriffen sowohl der Verfasser (unter der Maske des Kleon)
als auch sein Widerpart (Kriton, hinter dem sich Franz Svarez verbirgt) das Eigentum
als Ausfluß der persönlichen Freiheit. Es ist wahr, die persönliclie Freiheit ist ein unver-
letzliches Jllcnsohe.nl/"e.cht, 11.nd die. He.iligke.# des E1'.ge.nt11.ms ist n1"r e1:ne. Folge da.11on 79 •
Nach KANT (1797) iSt das äußere Meine - ein Oberbegriff, dem das Eigentum als
dingliches Recht an körperlichen Sachen angehört 80 - dasjenige au/Jer mir, an
dessen mir beliebigen Gebrauch mich zu hindern Läsion (Abbruch meiner Freilieit,
die mit der Freilieit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestelien
kann) sein würde 81 • Auch nach dem antiliberalen ADAM MÜLLER (1809) liegt in der
Behauptung der Freiheit die Behauptung des Eigentums miteingeschlossen82 •
Bei der persönlichkeitsrechtlichen Verankerung des Eigentums Jag die Annahme
eines weiten, auch die Personenwerte umfassenden Eigentumsbegriffs nicht fern.
So unterscheidet z.B. KRUG (1817) das angeborene Eigentum, das durch die Natur
se.lb.~t fmtRtP.hP. 11nd aUe gm;8t1;(Je 8owohl al.~ körperlü:h,en Kräff,e 11,nd Organe, mit welchen
die Natur jedes sinnlich-vernünftige Wesen ausgestattet hat, umgreife, vom erworbnen,
das durch die Jj'reiheit entstehe 88• Das erworbene .li:igentum zerfalle wiederum in
ein inneres (was ein sinnlich-vernünftiges Wesen in sich selbst erzeugt hat) und äußeres.
Der Grund der Verbindung des äußeren Eigentums mit der Person aber sei zuvörderst
in der eigenen Tätigkeit des berechtigten Subjekts, also in der Freilieit 84 zu suchen.
Diese Verbindung wurde freilich nicht - wie bei Locke - durch Arbeit hergestellt,
sondern durch die Besitznahme als freie Handlung 85 • Die liberale Rechtsphilosophie
griff damit auf die römische Okkupationstheorie zurück: nicht ein werteschaffender
Verarbeitungsvorgang (Spezifikation), sondern bereits die Okkupation als Willens-
äußerung des Individuums brachte das Eigentum hervor 86• Ähnlich war die Eigen-

78 EsTOR, Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 1, 651 (s. Anm. 60).


79 ERNST :FERDINAND KLEIN, Freiheit und fägentum, abgehandelt in acht Gesprächen
über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung (Berlin 1790), 121; vgl. auch
ebd„ 116.
8 ° KANT, Metaphysik der Sitten (1797), Rechtslehre,§§ 5. 17. AA Bd. 6 (1907), 249. 268.

81 Ebd., § 5 (S. 248 f.).


~~ MÜLLER, Sta.a.tskunst, Dd. 1, 156; vgl. a.uch BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 3 (1858), .!l()7:
Aus der Persönlichkeit des Menschen entspringt das Eigentum.
83 WILHELM TRAUGOTT KRuG, System der praktischen Philosophie (Königsberg 1817),

Tl. 1, Rechtslehre,§ 35.


84 Ebd„ §§ 36. 37.
85 Ebd., § 38.
86 KRUG lehnte die Ableitung des Eigentums aus der Gestaltung der Sache (formatio rei) ab;

ebd„ § 39, Anm. 2. Ein eigentlicher Widerspruch zur „Arbeitstheorie" LOCKES besteht
dennoch nicht, denn Locke begriff unter 'labour' jede menschliche Tätigkeit, infolgedessen
auch die Tätigkeit der Okkupation, etwa das Aufsammeln vön Früchten; vgl. Treatises
2,5,28.

6-9()386/1 81
Eigentum m. 2. Eigentum und persönliche Freiheit
tumslehre HEGELS (1820) kon:r.ipiert. Die Fnnktion ileR l1ligentunw oci dadurch
bestimmt, daß die Person einer äußeren Sphäre ihrer Freiheit bedürfe 87 • Das der
!'erson Äußerliche sei eine 8ache, ein Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses 88 • Das
Eigentum an einer solchen Sache entstehe in der Verbindung der Sache mit der
Person durch einen Willensakt; den Akt der Zueignung. Alle Dinge können Eigentum
des Menschen werden, weil dieser freier Wille und als solcher an und für sich ist, das
Ent,gegenstehenile aber diese Eigenschaft nicht hat . . . Nur der Wille ist das Unend-
liche, gegen alles andere Absolute, während das andere seinerseits nur relativ ist. Sich
zueignen heißt im Grunde somit nur die Hoheit meines Willens gegen die Sache
manifestieren ... Diese Manifestation geschieht dadurch, daß ich in die Sache einen
anderen Zweck lege, als sie unmittelbar hatte: ich gebe dem Lebendigen als meinem
Eigentum eine andere Seele, als es hatte; ich gebe ihm meine Seele 89 • Das Eigentum
erscheint sonach als denknotwendiger Entfaltungsbereich der - abstrakt ge-
dachten - Person: Im Eigentum (wird) mein Wille ... objektiv 90 ; sich zueinander
verhaltende Personen haben ... nur als Eigentümer für einander Dasein 91. Aus der
Freiheit des Willens ergibt sich die Notwendigkeit des Privateigentums 92 • Bei einer
solchen Verankerung des Eigentums in der Per;:iönlichkeit verlor die herkömmliche
juristische Unterscheidung von Personen- und Sachenrecht ihren Sinn; das Sachen-
recht - die Sache begriffen als das der Person Äußere - war das Recht der Per-
.~önlir.hkeit al.~ 8nlr.her93 •
Die Lehre, das Eigentum sei auf den beachtlichen Willen des Individuums gegen-
über der Materie gegründet, erfuhr weite Verbreitung 94• Daneben hielt sich jedoch
auch die Auffassung, iler originäre Erwerb des Eigentums. folge aufgrund einer
„Tätigkeit" oder „Arbeit", also einer Art von 8chöpfnngsakt des Subjekts, so etwa
bei RoTTECK (1837): Das Eigentum fiießt ... aus der Idee des Persönlichkeits-Rechts
des Erwerbers, vermöge welcher jeder der Herr seiner eigenen Person, fol,glich auch
seiner Kräfte und Tätigkeit ist. und daher von niemandem gezwungen werden darf,
dieselben gegen seinen Willen für einen anderen zu verwenden 95 •
87 HEGEL, Rechtsphilosophie (1820), § 41.
88 Ebd., § 42.
89 Ebd., § 44, Zusatz.
90 Ebd., § 46; § 41 Zusatz: Das Vernünftige des Eigentums liegt ... darin, daß sich die

bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt.


91 Ebd., § 40.

92 Ebd., §46, Zusatz; s. auch§ 45: Die wahrhafte Stellung aber ist, daß vom Standpunkte der

Freiheit aus das Eigentum als das erste Dasein derselben, wesentlicher Zweck für sich it1t.
93 Ebd., § 40.

94 WETZER/WELTE Bd. 3 (1849), 481: Da& FJ.igentwm ·ist wielits w1uler!Jl:I uls d·ie ... ·1wlwendige

Anerkennung der gleichen, also von dem zufälligen Machtverhältnisse unabhängigen Freiheit
der Menschen im Verhältnisse zur äußeren Natur. Das Eigentum als sachlicher Bezirk der
freien Willensäußerung der Person spielte insbesondere bei den Romanisten eine bedeuten-
de Rolle; vgl. .ARNDTS, Pandekten (s. Anm. 61), 191, § 130: die Sache ist dem Willen
der Person schlechthin und total unterworfen; vgl. auch WINDSCHEID, Pandektenrecht,
Bd. 1, 518, § 167 (s . .Anm. 45).
95 RoTTECK/WELCKER Bd. 4 (1837), 629; vgl. LEIST, Natur des Eigentums, 57: Der Mensch

muß in die umgebenden Dinge ... mit Mühe- und Kraftverwendung seine Subjektivität
hineingetragen haben ... Und er ist, indem er so der Sache den Stempel seiner geistigen Herr-
schaftskraft aufgedrückt hat, Herr derselben kraft seiner selbst, kraft seiner Persönlichkeit.

82
m. 3. Eigentum und politische Freiheit Eigentum

Da11 Eigontum an Vermögensgütern erschien somit. als Emanation der pernönlir.hen


Freiheit, als Verwirklichung dieser Freiheit in der Umwelt des Menschen: Die
sittliche, folglich auch die rechtliche Natur des Eigentums gehe aus der Natur und
Bestimmung des Menschen hervor, nach welcher ein freies Dasein nach Außen die
sinnliche Bedingung seiner innern Kraftentwicklung und Erhebung zur sittlichen
Freilu>iit, ein freies Dasein nach Außen aber ohne den ungehinderten Gebrauch der
Kräfte und ohne die Heiligkeit des Besitzstandes, nicht denkbar ist 96 • Daher also auch
die Betonung der prinzipiellen Unbeschränktheit und des Herrschaftscharakters,
den die romanistischen Definitionen dem Eigentum zumaßen; daher auc;h die
Formel von der Heiligkeit des Eigentums 97 • 'Freiheit' und 'Eigentum' gingen -
z. B. in den früheren deutschen Verfassungen - eine formelhafte Verbindung
ein 98 •

3. Eigentum und politische Freiheit

Die Verbindung des Eigentums mit der persönlichen Freiheit schuf vielfach, ins-
besondere im frühlib~ralen Staatsmodell, eine Beziehung des Eigentums zur
politischen Freiheit. Nach dem Grundgedanken dieser Lehre war nur der Eigen-
tümer - vielfach nur der Grundeigentümer - politisch rniimlig und xur akl.ivH11
Teilhabe an der politischen Gemeinschaft berufen. Man wird dem Charakter dieser
Anschauung nicht gerecht, wenn man sie als Nachwirkung des ehemals ö:ffentlich-
rechtlichen ChR.mktArR <lAR Fendaleigentums deutet. Das mag Vielleicht noch für
difl T,ehre .TmlTlrn MösERS gelten, der sich den Staat als Aktiengesellschaft der
Landeigentümer vorstellte 99 • Entscheidend war dabei MöserR wesentlich historische
Blickrichtung und Begründung. Aus einer Dogmatisierung der Vorstellungen über
die alte deutsche Freiheit und ihre angebliche Verankerung im Grundeigentum
gewann Möser sein Staatsideal. Einen ganz anderen Charakter aber nahm die
Verbindung von Eigentum und politischer Freiheit dort an, wo sie von der -
ethischen oder rechtlichen - Individualfreiheit her konzipiert war. Eine solche
Anschauungsweise wurde zuerst in der physiokratischen Lehre 100 und in der eng-
lischen Moralphilosophie 101 verbreitet. Sie entsprach in ihrer. Substanz dem
liberalen Eigentümerideal: Der Mensch bedurfte zur Entfaltung seiner persönlichen
Freiheit eines äußeren (Güter-)Bereichs, mithin des Eigentums; politische Freiheit
war aber ohne persönliche nicht denkbar. Selbst die Französische Revolution hatte

96 Rhein. Conv. Lex., Bd. 4 (1824), 425.


97 So z. B. schon Ka~NITZ Bd.10 (1777), 356: Es ist gewiß, daß unter allen Rechten der Bilr-
ger keines heiliger ist, als das Recht des Eigentums. Die Formel verbreitete sich insbesondere
durch ihre Aufnahme in die Menschen- und Bürgerrechtserklärung der französischen
Nationalversammlung von 1789, Art. 17: La propriete etant un droit inviolable et sacre.
98 Bayr. Verfassung von 1818, IV, § 8; Bad. Verfassung (1818), § 13; Württ. Verfassung

(1819), § 24; Hess. Verfassung (1831), § 31 ;.Sächs. Verfassung (1831), § 27.


99 J. MösER, Der Bauerhof als eine Aktie betrachtet, Patriotische Phantasien (1774---78),

SW Bd. 6 (1954), 255 ff.


100 Nachweise bei DIETER SCHWAB, Die geistigen Grundlagen der Selbstverwaltungsidee

des Freiherrn vom Stein (jur. Diss. Würzburg 1960), 165 ff.
1o1 Nachweise ebd., 161 ff.

83
Eigentum m. 4. Veränderungen des Eigentumshegrüfs
dem durch die Beschränkung des Wahlrechts auf Personen mit bestimmtem
Steueraufkommen Rechnung getragen, als in der Verfassung von 1791 (II, 1) der
citoyen actif bestimmt wurde. Demgemäß verlangte KANT als Voraussetzung der
bürgerlichen Persönlichkeit die Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht
der Willkür eines anderen im Volke zu verdanken102 • Wer seine Arbeitskraft einem
anderen gegen Entgelt zur Verfügung stellen mußte, weil er sie nicht auf eigenes
Besitztum verwenden konnte, schied der Idee nach folglich aus dem Kreis der
politisch Mündigen aus. Eine besondere Rolle spielte der Zusammenhang von
Gütereigentum und politischer Mündigkeit beim FREIHERRN VOM STEIN, der nur
dem Eigentümer · ursprünglich nur dem Grundeigentümer - sowohl die Ge-
schicklichkeit als auch die moralische Qualifikation für die politische Mitwirkung
zuschrieb: nur der Eigentümer beRitze die nötiee Tlruihh.ii1ru11:gk.eit 1 0 3 und Er-
ziehung104, nur bei ihm sei der Gemeinsinn verbürgt. Nach solcher Konzeption
zerfiel das Staatsvolk in einen mündigen und einen unmündigen Teil; sie konnte
daher sowohl dem restaurativen Denken als auch dem liberalen dienen, letzteres
dann, wenn zugleich das Ziel propagiert wurde, die Ungleichheit durch Bildung
möglichst weit gestreuten Individualeigentums zu überwinden. Bei Stein (1807) war
das Ziel der Vermehrung der Zahl der Eigentümer Teil seines großen Programms
der Nationalerziehung. Soll die Nation veredelt werden, so muß man dem unter-
drückten Teüe denelben Freiheit, .'IP.lb.~tändigkeit und Eigantum gobonlon. Dio
Verbindung von Eigentum und politischer Mündigkeit hat sich im Liberalismus
nicht dauerhaft halten können106• 8ie äußerte sich zwar noch in allen Wahl-
ordnungen, die eine Einkommensqualifikation für die Ausübung des aktiven
und passiven Wahlrechts forderten (Zensuswahlrecht, Klassenwahlrecht); letzt-
lich hat sich aber der Gedanke der staatsbürgerlichen Gleichheit als stärker er-
wiesen.

4. Die Veränderungen des Eigentumshegrift's im einzelnen

a) Das Eigentumsobjekt. Die liberale Eigentumslehre mußte, sobald sie auf die
Rechtslehre und die Gesetzgebung einwirkte, die Strukturen des Eigentums
wesentlich verändern. Für die Frage nach den möglichen Eigentumsobjekten be-
deutete die liberale Eigentumsvorstellung eine revolutionäre Ausweitung des
Eigentumsbegriffs. Zwar schied die sachenrechtliche Zuordnung von unfreien

1n2 KANT, Meta.phyBik der Sitten, ReehL1llehre, § 40. AA. Bu. 6, 314.
163 FRH. v. STEIN, Beurteilung des Rehdiger'schen Entwurfes über Reichsstände vom
8. Sept. 1808, Br. u. Sehr., Bd. 2/2 (1960), 854.
1o 4 Ders., Immediatbericht vom 23. Nov. 1807, ebd., 505.
105 Ders., Nassauer Denkschriftv. Juni 1807, ebd., Bd. 2/1(1959),380 ff. vgl. auchdieR.igaer

Denkschrift .ALTENSTEINS v. 11. 9. 1807, wonach der erschwerte Besitz von Grundeigentum
die Ausbiklung der Nation verhindert hat, zit. GEORG Wrn'l'.l!llt, Die Reorganisation des
Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. 1(Leipzig1931), 403.
106 Sie zeigt sich vielmehr in Gestalt der Verknüpfung von Grundeigentum und Standschaft

in der Zeit nach der Reform als retardierendes Moment; vgl. REINlIART KosELLECK,
Preußen zwischen Reform und Revolution (Stuttgart 1967), 338 ff.

84
a) Das Eigentumsobjekt Eigentum

Personen (Leibeigenschaft), indem sie als rechtlich unmöglich angesehen wurde1 0 7 ,


aus dem Eigentumsbegriff aus. Einer solchen Einengung des Eigentumsbegriffs
stand jedoch eine revolutionäre, auch den juristischen Sprachgebrauch außerhalb
des positiven Privatrechts bis heute bestimmende Ausweitung des Bedeutungs-
gehalts gegenüber. Als Objekt des Eigentums erschienen nicht bloß körperliche
Sachen oder Gegenstände der Vermögensgüterwelt, sondern auch und vor allem das
personale Sein und die ihm zugeschriebenen Werte. Das Sachgütereigentum machte
in der liberalen Rechtsphilosophie lediglich einen Teilposten aus in einer Summe
von subjektiven Rechten, die dem Prinzip der persönlichen Freiheit ent-
sprangen. Am deutlichsten wird der Begriffswandel dort, wo für diese Summe
selbst - letztlich für die Zuschreibung der Personalität an den Einzelmenschen -
der Begriff 'Eigentum' verwendet wurde. Dieser Sprachgebrauch nahm seinen
Anfang bei Locke und erfuhr in Deutschland seine extreme Ausprägung in der
Philosophie des Egoismus liei MAX 8TIRNER 108 • Der so gefaßte Eigentumsbegriff
war, obwohl er von der Pandektenwissenschaft als mit dem römischen Recht
nicht übereinstimmend verworfen wurde 109, für die moderne Privatrechtsordnung
von maßgebendem Einfluß. Er bedeutete den rechtswissenschaftlichen Nachvollzug
des längst geleist.eten Übergangs von der biologisch-vitalistischen Deutung der
menschlichen Natur durch den mil,l.tilaHedichen Rationalismus zu einer persona-
listischen Anthropologie. Der Eigentumsbegriff Lockes und seiner Nachfolger hat
die Vorstellung von einem originären personalen Rechtsbereich des einzelneu, die
in umieren Tagen in der Theorie vom allgemeinen PersönlichkeitsrechL ihre positiv-
rechtliche Anerkennung gefunden hat, in ein juristisches Gewand gekleidet. Die
romanistisch orientierte Begriffsjurisprudenz hat zwar für die Privatrechtsordnung
ihren engen Sacheigentumsbegriff durchgesetzt, ohne aber das subjektive Persön-
lichkeitsrecht dauerhaft verdrängen zu können.
Das wird offenbar bei der Entwicklung der Vorstellungen vom „geistigen Eigen-
tum" des Urhebers von Geisteswerken an seiner Schöpfung. Die Elastizität des
Eigentumsbegriffs erweist sich an der Tatsache, daß das Problem des Urheberrechts,
seit es durch die Sitte des nicht autorisierten Büchernachdrucks in das Bewußtsein
trat, von Beginn an mit Hilfe von Termini, die der Eigentumsverfassung angehören,
formuliert wurde. Schon im 16. Jahrhundert wurde der unerlaubte Nachdruck als
„Diebstahl" empfunden 110, und aus dem 17. Jahrhundert stammt die Vorstellung,
durch den Nachdruck werde dem autorisierten Verleger die eigentümliche Haab und
Nahrung entzogen 111 • Mit dem 18. Jahrhundert setzten die wissenschaftlichen
Versuche ein, das Recht des Autors mit dem Begriff des Eigentums einzufangen. Es

107 Vgl. KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 2. Tl., 1. Abschn., allg. Anm. D. AA
Bd. 6, 330: Durch einen V ertrag kann sich niemand zu einer so"lchen Abhängigkeit verbinden,
dadurch er aufhört, eine Person zu sein.
108 MAx STIRNER [d. i. KAsP.AR SCHMIDT], Der Einzige und sein Eigentum (Leipzig 1845).
109 Nachweise bei LUDWIG L. GrnsEKE, Die geschichtliche Entwicklung des deutschen

Urheberrechts (Göttingen 1957), 136 ff.


110 Quellen bei GIESEKE, Urheberrecht, 53 und JuLIUS JOLLY, Die Lehre vom Nachdruck,

Arch. f. civilistische Praxis 35, Beilageh. (Heidelberg 1852), 6 f.


m Eingabe des Druckers WoLFF ENDTER an den Rat der Reichsstadt Nürnberg vom
23. 8. 1647, zit. GrnsEKE, Urheberrecht, 54.

85
Eigentum m. 4. Veränderungen des Eigentumsbegriffs

kennzeichnet freilich die Befangenheit der Jurisprudenz im traditionellen Rechts-


stoff, daß das Eigentum des Autors oder Verlegers am „Buch" bis gegen Ende des
Jahrhunderts nicht als eigenständiges Recht, sondern als Ausfluß des Sacheigen-
tums am Manuskript erscheint; der Autor verschaffte dem Verleger das Eigentum
an dem Werk cum omni iure 112 , der Verleger erwarb logisch zuerst Sacheigentum
.und mit diesem die damit verbundenen und nur denen Verfassern sonst allein zu-
kommenden Rechte 113 , eben das Recht auf verlegerische Nutzung. Daher ist es
folgerichtig, wenn manche Autoren den unerlaubten Büchernachdruck als Ge-
brauchsdiebstahl (furtum usus) qualifizierten114• Erst der Eigentumsbegriff der
liberalen Rechtsphilosophie konnte das Eigentum am Manuskript und an sonstigen
stofflichen Trägern geistiger Leistung vom „geistigen Eigentum" völlig ablösen.
Von Bedeutung in diesem Zusammenhange war insbesondere FICHTE (1793) 115 • Er
unterschied das Körperliche eines Buches und sein Geistiges; das Geistige bestehe
in dem Materiellen, d. h. der .w..i.LgeLeilLen Gedanken und der Form dieser Gedanken,
. der Art wie, der Verbindung, in welcher, den Wendungen und Worten, mit denen sie im
Buch vorgetragen seie~. Das Materielle könne und dürfe sich jeder, insbesondere
aber der Käufer des Buches, aneignen, nämlich durch geistige Aufnahme; die Form
des Geistigen hingegen könne sich kein anderer zueignen, weil dies physisch
unmöglich bliebe, die Form bleibe a11,f immer . . . ausschließliches Eigentum des
Autors, der sie auch nicht etwa dem Verleger übertrage, sondern ihm lediglfoh ein
Nießbrauchsrecht daran einräume. Damit war klargestellt, daß dem Autor ein
Eigentum als originär-personales; ausschließliches Recht an der Prägung, in der die
Mitteilung erschien, zugerechnet wurde, ohne daß der Umweg über das Sacheigen-
tum am Mauuskri,llL uder au arnleren SLo.ffen nötig gewesen wäre, ja daß dieses
stoffgebundene und eben „geistige" Eigentum das Primäre war. Der Begriff des
geistigen Eigentums ging seit Beginn des 19. Jahrhunderts denn auch in die
RechL1:11:1prache einll 6, um in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts infolge der
Opposition der Pandektistik durch andere Bezeichnungen ('Autorrer,ht', 'Tmma-

112 JusTus HENNIG BöHMER (1731) zit. GrnsEKE, Urheberrecht, 79 f.


113 RrnNBAUM (1733) zit. GrnsEKE, 81. Deshalb kann ich Gieseke nicht in der An-
.T. A.
nahme folgen, es handle sich bei den Lehren der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
bereits um die Theorie des „geistigen Eigentums". Bei allen von Giese.ke herangezogenen
Autoren wird, wenn sie sich auch an ein von der stofflichen Grundlage unabhängiges
Urheberrecht mehr instinktiv herantasten, vorausgesetzt, daß das Recht des Autors
an der geistigen Schöpfung Ausfluß eines Sacheigentums sei. So auch bei ZEDLER Bd. 23
(1740), 61 f.: Den Verfassern wurde ein Eigentum an dem zugeschrieben, was ihre
eigene Erfindungslcraft horvor gcbraoht und ihr unermüdlicher Fleiß in gute Ord1~ung z·u-
sammen gesetzt hat. Dieser Ansatz zur Lehre vom geistigen Eigentum wurde aber nicht
konsequent fortgeführt. Bei der Übertragung der Autorenrechte auf den Verleger. erfolgt
nicht nur [sie!] die Übergabe des Eigentums einer körperlichen Sache, sondern auch zugleich
eine völlige Abtretung aller damit verbundenen und denen Verfassern sonst allein zukommenden
Rechte.
m Vgl. ZF.nr.RR Rn. 2:\, n:l ff.
116 FICHTE, Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks (1793), SW Bd. 8 (1845),

223 ff.
118 Frankfurter Reichsverfassung von 1849, § 164: Das geistige Eigentum soll durch die

Reichsgesetzgebung geschützt werden.

86
b) Das Eigentumssubjekt Eigentum

terialgüterrecht', 'Urheberrecht') in der Rechtswissenschaft wieder zurückgedrängt


zu werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch und in der Vorstellung ist aber der
rechtsphilosophische Eigentumsbegriff maßgeblich geblieben117 •
Das gilt auch für die bei Fichte entwickelte Vorstellung, der Leser eines Buches
erwerbe an der Ge_dankenmaterie ein - wenn auch nicht ausschließliches, sondern
mit dem Autor und den anderen Lesern gemeinschaftliches - Eigentum. Ein
Gedankeneigentum in diesem Verstande steht zwar außerhalb des rechtlich
Faßbaren; gleichwohl machte jene Vorstellung, daß es ein Eigentum oder - wie
es häufiger heißt - einen „Besitz" an Bildung gebe, einen Teil des Selbstverständ-
nisses der Gesellschaft im 19. Jahrhundert aus. Das „Besitzbürgertum" war auch
das „Bildungsbürgertum", Vermögensbesitz und „Bildungsbesitz" neigten zur
Vereinigung in demselben Träger.

b) ß11s F.igtmh1mssuhjekt. Tndem die liberale Eigentumslehre das Eigentum aus-


schließlich vom Einzelmenschen her deutete und begründete, mußte sie die Rechts-
lehre in Verlegenheit setzen, wo immer einer Gemeinschaft oder einer sonstigen
uberindividuellen Größe ein Eigentum zugeschrieben werden sollte. Konnte es
überhaupt, außer dem einzelnen, ein geeignetes Subjekt des Eigentumsrechts
geben'! Die Pandektenliteratur konstruierte das Eigentum einer Personengemein-
schaft nach individualistischen Vorstellungen. Sie erkannte nur zwei Möglichkeiten.
Entweder wurde dem einzelnen 'l'eilhaber an der Gemeinschaft ein Miteigentum
zugeschriAb1m; dann mußte $P..ine Stellung aber flem F.ieentiimermodell des Libera-
lismus entsprechen, er mußte der „Herr" seines Anteils bleiben, der seiner freien
Verfügungsgewalt unterlag; eine Bindung an die Gemeinschaft widersprach seiner
Sachherrschaft. Oder aber die Gemeinschaft selbst wurde als Person und Eigen-
tümer nach Analogie der natürlichen Person fingiert 118 • Die Rechtsfigur des Gesamt-
handeigentums, des deutschrechtlichen dominium plurium in solidum, verfiel der Ab-
lehnung, da sie weder als pen;ona ficta gedeutet wurde, noch dem einzelnen einen
von der Gemeinschaft grundsätzlich gelösten Anteil beließ 119• Die Gesamthand-
theorie wurde freilich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere durch
BESELER und GIERKE auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie alsbald zu
neuem Leben erweckt 120 und bildete bis in das 20. -Jahrhunflert hinein einen

117 Neuerdings greift auch die juristische Literatur vereinzelt wieder auf den Terminus
zurück; s. GEORG Ro:EBER, Urheberrecht oder geistiges Eigentum (Baden-Baden 1956).
118 So z.B. GÖSCHEN, Civilrecht (s. Anm. 48), Bd. 2, 38; HEINRICH DERNBURG, Pandekten,

4. Aufl., Bd. 1 (Berlin 1894), 461.


ll 9 Die Gegner des Gesamthandeigentums sind zunäch~t a1rnh nntP.r nAn GP.rmanisten zu
finden: KARL JOSEPH ANTON M:rrTERMAIER, Grundsätze des gemeinen deutschen Privat-
rechts, Bd. 1 (1824; 6. Aufl. Regensburg 1842), § 155: Dem Oliarakter des römischen Eigen-
tums widerstreitet ein solches E'igentum; es läßt sich aber auch kein Bedürfnis nachweisen,
das Gesamteigentum in das Recht aufzunehmen. Ferner der die romanistische Lehre gänzlich
aufnehmende ROMEO MAURENBRECHER, Lehrbuch des gesamten heutigen gemeinen
nAntRoh1m Privatrechts (Bonn 1834), § 187. Ent-scheidend von romR.nistischer Seite ist
die Schrift von LUDWIG DuNCKER, Das Gesamteigentum (Marburg 1843); dazu und zur
Gesamtentwicklung vgl. GERHARD BuoHDA, Geschichte und Kritik der deutschen Ge-
samthandlehre (Marburg 1936), 8 f.
1 20 BuCHDA, Gesamthandlehre, 166 ff. 172 ff.

87
Eigentum m. 4. Veränderungen des Eigentumsbegriffs

beliebten Streitpunkt der romanistischen und deutschrechtlichen Wissenschaft.


Die individualistische Deutung des Eigentums mußte, wenn sie schon das Eigentum
überindividueller Instanzen nicht ganz leugnete, jedenfalls zu einer Minderbewer-
tung aller dem Eigentümermodell nicht entsprechenden Eigentumsformen führen.
Das war für den Besitzstand der Korporationen und Anstalten, insbesondere der
Kirche, außerordentlich gefährlich geworden. Sie ermöglichte es dem Staate seit
der Französischen Revolution 121 , das Kirchengut zu säkularisieren, ohne daß man
einen Verstoß gegen die eben proklamierte „Heiligkeit des Eigentums" hätte
anerkennen müssen. Der Korporation als solcher kam eben nicht die Selbstherr-
schaft zu, auf welcher die Unverlet:dir,hlniit des Privateigentums beruhte. So ist
bei KLEIN (1790) zu lesen: Das mystische Ding, die Kirche genannt, hat also nichts
Z'U /&dern, sondern nur die einzelnen Menschen aus denen sie besteht ... Denn das
Kloster, das Stift, die Pfarrkirche, usw. sind bloße Abstracta; nur die Menschen,
wololw unter dicscrn Namen beg1··iffen s·ind, können e'in Recht haben ... Wir haben in
der Folge zweierlei Arten des Eigentums unterschieden, nämlich das Eigentum der
einzelnen und das Eigentum ganzer Stände und Korporationen. Ersteres kann nur
im Falle eines Notrechts angegriffen werden, letzteres ist dem Volke preisgegeben122 •
HEGEL bezog den Begriff des Privateigentums daher überhaupt nicht auf das
Eigentum der Korporationen: Häufig ist aber ... das Pr1:vateigentum wiederher-
gestellt ( !) w&den. So haben z.B. viele Staaten mit Recht die Klöster m!,fgp,hnhp,n, 111P.1:l
ein Ge1neinwesen letztlich kein solches Recht am Eigentum hat als die Personfäa.
Von diesem Ansatz her rnußLe aueh das Staatseigentum selbst problematisch wer-
den, zumal die liberale Wirtschaftstheorie dem Staat auch die Fähigkeit zu effek-
tivem WirtoehoStcn ab3prach1 ?«l, Die irnli viuualreehLliehe Konstruktion des
Eigentums brachte es mit sich, daß die öffentlichen Sachen (Wege, Gebäude usw.)
lediglich als atypische res extra commercium betrachtet wurden, daß ferner die
Lehre vom staatlichen Fiskus als einer juristischen Person des Privatrechts die
Diskussion über das Staatseigentum beherrschte 125, während erst in der 2. Hälfte
des 19. Jahrhunderts Ansätze für die Konstruktion eines Eigentums des öffentlichen
Rechts als Zuordnungsform sui generis sichtbar wurden126 •

121 Dazu JusTus WILHELM HEDEMANN, Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert,
Bd. 2/1 (Berlin 1930), 233 .IT.
12 2 KLEIN, Freiheit und Eigentum (s. Anm. 79), 67. 79.
123 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 46, Zusatz; vgl. auch KANT, Metaphysik der Sitten, Rechts-

lehre, 2. Tl., 1. Abschn„ Allg. Anm. B. AA Bd. 6, 323 ff.; ausführliche Gegengründe bei
WETZER/WELTE Bd. 3 (1849), 480 f„ die freilich systemimmanent bleiben: das Kirchenver-
mögen sei unverletr.linh, weil iler Wille der zugunsten der Kiroho Toßticrcndcn, der Stifter he·i-
lig und unverletzlich sei. In der Stiftung lebt der Wille des Eigentümers fort, und wenn es möglich
wäre, ein Recht heiliger zu nennen als das andere, so müßte das Stiftungseigentum um ebenso
viel höher geachtet werden denn alles übrige, als der Stiftungszweck höher steht denn die Privat-
willkür. Gleichwohl wirkte sich diese Maxime noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den
Gesetzen gegen den Grunderwerb der „toten Hand" aus; vgl. Frankfurter Reichsverfas-
sung von 1849, § Hlfi, Abs. 2.
1 2 4 ADAM SMITH, Wealth of Nations (1776), 5, 2, 1.
1 25 Vgl. GIERKE, Genossenschaftsrecht (s. Anm. 12), Bd. 4, 243 ff.
126 Vgl. HERMANN RoESLER, Das sociale Verwaltungsrecht (Erlangen 1872), 311: Es gibt

ein sociales Eigentum an Gegenständen, die dem Privateigentum unzugänglich sind.

88
c) Inhalt des Eigentumsrechts Eigentum

c) Inhalt des Eigentumsrechts. Die letztlich entscheidende Änderung des


Eigentums betraf die Frage nach dessen Inhalt. Der Substanz nach bedeutet das
Eigentum nach der liberalen Auffassung die freie und ungebundene Herrschaft
über das Objekt. Von diesem Ansatz her wurde insbesondere der freie Gebrauch des
Eigentums 127 gefordert, also der Abbau der Eigentümerbindungen, insbesondere
der Verfügungsbeschränkungen; die Verwirklichung dieses Postulats führte eine
völlige Umwälzung der Verfassung des Bodens, der damit frei veräußerliche Ware
wurde, herbei. Gefordert wurde ferner die Beseitigung aller Lasten des Eigentums,
die mit dem Eigentümerideal des „freien Herrschers" nicht in Einklang zu bringen
waren. Da· die Wissenschaft eine solche Veränderung der sozialen Welt nicht von
sich aus herbeiführen konnte, war sie hierbei auf die Hilfe der Gesetzgebung
angewiesen, die mit dem Ziel einer „Verbesserung der Landeskultur" im rn. Jahr-
hundert die große Bodenreform durchführte. Rechtspolitische Triebfeder war
dabei da~ :5chon vom späten Absolutismus akzeptierte wirtschaftspolitische
Axiom, die Freiheit des Wirtschaftsverhaltens des einzelnen bilde die Voraus-
setzung des wirtschaftlichen Wohlergehens sowohl für den einzelnen als auch für
die Gesamtheit, weil - wie JusTr (1763) es formulierte - das eigene Interesse die
Triebfeder des Fleißes sei 128 • Mit der Einräumung de1:1 Eigentum1:1 an die Bauern
werde, so hieß es im österreichischen Patent vom 1. 11. 1781, nicht nur die Wohlfahrt
der Untertanen, sondern auch die Vorteile der Dominien verbunden sein, weil das
E'iyenl'um dem Fleiß, der Arbeitsamke·it und Industrie des Untertans einen ne-uen
A'U/l•rieb yeben w·ird 129 • Et:! selte·inl d·ie Ind·usl'rie, wie der FREIHERR VOM STEIN aus-
führte, nur dort gedeihen zu können, wo wirkliches Eigentum und uneingeschränkte
Verwaltung darüber stattfindet 1 ao.
Neben die wirtschaftliche Zielsetzung trat seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts,
insbesondere bei den Steinsehen Reformen, eine nationalpädagogische. Erstrebt
wurde die Herstellung eines Eigentums, das auch dem Begriffe nach als etwas
Neues empfunden wurde: des wahren, echten Eigentums 134 im Unterschied zu den
bisherigen Besitzrechten, die den Namen des Eigentums nicht verdienten und deren
Charakter der Freiherr vom Stein in der Ungewißheit fand 132 .
Zwei Vorgänge machen die Änderung des Eigentumsbegriffs deutlich: die Beseiti-
gung des geteilten Eigentums und die Aufhebung der perpetuellen Grundlasten.
Die Verschränkung der Besitzrechte an Grund und Boden, Kennzeichen der Lehns-
verfassung, stand in schroffem Widerspruch zum liberalen Eigentumsmodell. Die
Lehre vom geteilten Eigentum und die Rechtsfigur des dominium utile mußten
daher wissenschaftlich unhaltbar werden. Bestand das Recht des Eigentümers
wesentlich in der Befugnis zur freien Disposition über die Sache, so war weder bei

127 Formulierung nach dem Titel des preußischen Edikts vom Oktober 1807, zit. Quellen
zur Geschichte der deutschen Bauernbefreiung, hg. v. WERNER CONZE (Göttingen 1957),
102.
ua Zit. CoNZE, Quellen, 44.
129 Nar.h KART, GRÜNBERG, Dill Bmrnrnbefreiung und die AuflöRung d11s gutsherrlich-

bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, Bd. 2 (Leipzig 1894), 389.
130 STEIN an Broscovius, 27. Jan. 1808; Br. u. Sehr., Bd. 2/2, 638.

131 Dt. Enc., Bd. 8 (1783), 34, Art. Eigenthum, Directum.

132 FRH. v. STEIN, Denkschrift vom 14. Juni 1808; Br. u. Sehr., Bd. 2/2, 753.

89
Eigentum ID. 4. Veränderungen des Eigentumshegrilfs

den bäuerlichen Besitzrechten, die sich von einer Grund- oder Gutsherrschaft
ableiteten, noch bei Lehensbesitz oder Familienfideikoinmissen ein wirkliches
Eigentum vorhanden. Der dominus directus konnte zwar sein Obereigentum frei
veräußern, soweit es nicht familienrechtlich gebunden war; er kam aber bei erb-
lichem Besitzrecht des Untereigentümers für alle Zukunft nicht in den Besitz und
den Genuß des Gutes, solange nicht ausnahmsweise die Konsolidation eintrat. Das
Obereigentum erschien wirtschaftlich gesehen als bloße Anwartschaft auf Erwerb
des Volleigentums, verbunden mit dem Recht, eine Reihe von Abgaben vom
Untereigentümer zu verlangen. Dem dominus utilis kam ein freies Verfügungsrecht
nµr über die Nutzungen zu; zur Verfügung über sein Untereigentum bedurfte er
im allgemeinen der Zustimmung des Oberherrn. Das „wahre Eigentum" war nur
dergestalt herzustellen, daß einer der Beteiligten als Eigentümer ausschied. Die
Rechte des verbleibenden Eigentümers mußten so erweitert werden, daß seine
Stellung der VorEJtollung von der umfo.ßßcndcn Sachherrschaft en~pra.ch. Ober- uml
Untereigentum traten demgemäß in eine Konkurrenz um die Qualifikation als
„wahres Eigentum".
Die am römischen Recht orientierte Wissenschaft neigte dazu, den dominus
directus zum wirklichen Eigentümer zu erklären. In der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts mehrten sich die Stimmen, die dem Obereigentümer das wahre Eigentum13 3
zuschrieben und im dominium utile lediglich ein dem Eigentum nach~ebildeLeti
ius dominio proximum134 sahen. Nach BuRI hatte der Bauer an seinem Gut im
Zweifel auch dann kein Nutzeigentum, wenn er das GuL el'blid1 be1:1aß 135 • Nachdem
THIBAUT (1817) den Nachweis erbracht hatte, daß dem klassischen römischen Recht
die Rechtsfigur des geteilten Eigontiimfl fremd gcwcßcn war und daß das dom·in·i·um
utile ein bloßes ius in re aliena sei 136, war für die romanistische Wissenschaft die
Frage entschiedenl37.
So folgerichtig diese Lösung auch war - sie paßte nicht in die staatspolitische
Zielsetzung des Liberalismus, der ja Freiheit und Eigentum für möglichst viele
wollte; sie erwies sich geradezu als geistige Waffe der Reaktion. Schon im späten
Absolutismus wurde das Bestreben spürbar, das wirkliche Eigentum dem bäuer-
lichen Untereigentümer zuzuschreiben und die Rechte des Obereigentümers als
bloße Belastung des bäuerlichen Eigentums zu deuten. Die BauerngeseLzgebung
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstrebte mit unterschiedlichem Rrfolg

133 Corpus Juris Fridericianum (s. Anm. 46), Buch 2, Tl. 3, Tit. 2, § 2; s. auch KREITTMAYR,
Anmerkungen (s. Anm. 31), Bd. 2, Kap. 2, § 2: Dann obwohl das Nutzungs-Recht an sich
'km:n nnm,ini11.m, infP.rie:rt, so ha.t rlla.n doch denselben in gewissen Ha,,i,dlung6n ••. d6n Effactum
dominii beigelegt ...
134 Dt. Enc., Bd. 8 (i793), 34; dort auch: der dominuQ utilis hat kein wahres Eigentum;

vgl. ERscH/GRUBER 1. Sect., Bd. 26 (1835), 496 mit dem Versuch einer historischen Dar-
stellung; das dominium utile ... war und blieb doch immer nur ein unvollständiges, nur eine
Nachbildung des wahren und vollen Eigentums.
13 5 FRrnnRTOff CAR.T. v. B=. Ausführliche Abhandlung von <lflmm RimArneiitArn, Rr'I. ll

(o. J.), 15 (S. 86); s. auch Bd. 8, 4 (S. 166 f.): der Emphyteuta hat kein dominium utile.
138 THIBAUT, Dominium directum (s. Anm. 28), 85 ff.; s. auch ders., Civilistische Abhand-

lungen (Heidelberg 1814), 266 ff.


137 Nachweise bei WAGNER, Geteiltes Eigentum (s. Anm. 26), 84 ff.

90
c) Inhalt des Eigentumsrechts Eigentum

die Befestigung der bäuerlichen Besitzrechte, insbesondere durch Ausdehnung der


Erblichkeit. Es fehlte nun nicht an Stimmen, welche in der Erblichkeit des Gutes
eine wesentliche, Qualität des Eigentums sahen. So ermahnte JOSEF II. die böh-
mischen Stände (1785), ihren Bauern das Volleigentum unentgeltlich zu überlassen,
mit der Begründung, daß die Untertanen auch die ohneingelösten Gründe bereits
mit den hauptsächlichsten Wirkungen des Eige'f?tums besitzen138 . Nach RuNDE (1791)
ließ sich nach der Natur des Erbrechts, welches der Bauer an seinen Gütern erlangt
hat, . . . der Grad seines Eigentums bestimmen139 .
Zudem suchte die Gesetzgebung auch die Dispositionsfreiheit der Bauern herzu-
stellen, kraft welcher sie - ohne daß das Obereigentum aufgelöst wurde - ihr
Recht am Gut frei veräußern und verpfänden konnten oder zumindest Anspruch
auf den notwendigen herrschaftlichen Konsens hatten, wenn nicht besondere
Gründe gegen die Veräußerung oder Belastung sprachen. Vorbildlich für diese
Entwioklung, die darauf ausging, den bäuerlichen dominus utilis (hier den Domänen-
bauern) möglichst einem wahren Eigentümer gleichzustellen, war das österreichi-
sche Grundeigentumseinkaufspatent vom 1. 11. 1781, in dem es hieß: Erstens:
Können die Untertanen, sobald sie ihre Gründe eigentümlich besitzen, diese ihre
Gründe vermöge des ihnen gebührenden Dominii utilis, jedoch ohne Nachteil der
grundherrlichen Gerechtsamen nach Gutdünken· benutzen, versetzen, verpfänden, ver-
lcaufen und vertauschen ... Zweitens: Sind die Untertanen nicht schuldig, den obrig-
keitlichen Konsens zur Einschuldung anzusuchen140 • Das ALR (1794) hielt zwar an
der N otwcndigkcit dmi oborhorrliohon Konaonaoa für dio Voriiußorung oder Belastung
des Guts durch den Lehnsmann od~r erb zinspflichtigen Bauern fest; immerhin legte
das Gesetz fest, daß die Genehmigung bei Bauerngütern nur bei Vorlie.gen bestimm-
ter Gründe versagt werden konnte141 • Bei einer solchen, auf die Erstarkung der
Rechte der bäuerlichen Nutzeigentümer zielenden Politik war es folgerichtig, die-
sen nach Möglichkeit das wahre Eigentum zuzuschreiben. Das ALR kehrte die
bis dahin maßgebliche Vermutung um: dem Besitzer eines mit einer beständigen
Abgabe belasteten Gutes gebührt in der Regel das volle und nur mit der Abgabe
belastete Eigentum desselben (Tl. 1, Tit. 18, § 681); das Bestehen eines Obereigen-
tums mußte sich aus der Besitzurkunde ergeben (§ 684). Der Urentwurf zum
österreichischen ABGB, das „Westgalizische Gesetzbuch" (1797), enthielt die
Bestimmung, die Vollständigkeit des Eigentums leide nicht darunter, daß der Eigen-
tümer gegen einen Grundherren in Verbindlichkeit steht142 . Die Beratungen brachten

138 Verfügung v. 7. Jan. 1785, GRÜNBERG, Bauernbefreiung, Bd. 2, 403. Grundlage war
das Patent vom 12. Feb. 1770, das dem Untertan Ansprnch aufEinkaufung seineR GrnnneR
verlieh, eine Bestimmung, die wegen überhöhter Forderungen der Grundherren bis dahin
keine praktischen Erfolge zeitigte.
139 JusTus FRIEDRICH RUNDE, Grundsätze des allgemeinen deutschen Privatrechts,§ 523

(Göttingen 1791), 374.


140 Bei GRÜNBERG, Bauernbefreiung, .Bd. 2, 38!:l; demgemäli AHUH (1811), § 11~8.
141 Die im ALR Tl. l, Tit.18, § 5 proklamierte Verfügungsfreiheit bezog sich nur auf den

Gebrauch, nicht auf das Recht des Untereigentümers selbst; für die Bauerngüter s. ebd.,
§§ 698 ff.; die Verpfändung war freilich frei, § 707; für die Lehngüter ebd., § 187.
142 Westgalizisches Gesetzbuch (1797), 3. Hauptstück, § 78, abgedr. bei Juuus ÜFNER,

Der Urentwurf und die Beratungsprotokolle des ABGB, Bd. 1 (Wien 1889), III ff.

91
Eigentum m. 4. Veränderungen des Eigentumsbegriffs

indes - zur Wahrung der Rechte der Obereigentümer - den Wegfall dieses
Passus143 •
In der Tat konnte das Volleigentum der Bauern nicht durch allgemeine Erklärun-
gen dieser Art hergestellt werden. Es bedurfte vielmehr einer Beseitigung der
Rechte, die bisher den Inhalt des Obereigentums ausgemacht hatten. Dies waren
neben der Anwartschaft auf Konsolidation und dem Vorkaufsrecht insbesondere
die Ansprü~he des Obereigentümers auf Dienstleistungen und Abgaben. Die
Französische Revolution hatte das Problem durch die generelle und entschädi-
gungslose Aufhebung der als droits feodaux begriffenen Rechte der Obereigentümer
gelöst144 • Zu einer so radikalen Lösung kam es in Deutschland nur in den Einfluß-
bereichen des französischen Rechts. Die deutsche Gesetzgebung wählte den Weg,
den Bauern sukzessive einen Anspruch auf Ablösung der Rechte der Obereigen-
tümer gegen Entschädigung, darüber hinaus teilweise auch den nicht erblichen und
zu11rnÜ;L uiuhL ali; N uLzeigentümer begriffenen Gutsinhabern14 G einen Anspruch auf
Erwerb des vollen Eigentums einzuräumen146 • Dieser Vorgang vollendete sich in der
an die Revolution von 1848 anschließenden Gesetzgebung, die auch den Bestand
der Lehnsverhältnisse und Familienfideikommisse in die Umwandlung einbezog14 7.
Für den Eigentumabogriff iot oo ontoohcidcnd geworden, daß die Gesetzgeliuug
konsequenterweise für die Zukunft einer erneuten Entstehung der als reform-
bedürftig erkannten Besitzverhältnisse vorbeugte. Diesem Bestrr.hr.n fir.1 ila.s
Rechtsinstitut der Erbpacht, obwohl sie auch dem römischen Recht bekannt war,
zum Opfer, da man dabei den Grundeigenturner in einem Abhäng1-r1ke1.tsverhältnis
(v. BERNUTH 1849) sah148 • Daher bestimmten die Preußischen Verfassungen von
lß4ß (Art. 40) unJ 1850 (ArL. 42), Jaß b~·i e•rblfrlte•r Überlaswung eines GTundstucks
nur noch die Übertragung des vollen Eigentums zulässig sei, wenn auch gegen einen
Zins, der aber der Ablösbarkeit unterlag149 • Schon ältere Gesetze hatten bestimmt,
daß das neugebildete bäuerliche Volleigentum von dem dominio utili nie mehr
getrennt werden dürfeI5o.
Die zweite entscheidende Veränderung der Bodenverfassung ist in der allmählichen,
wiederum durch die Gesetzgebung seit 1848 forcierten Aufhebung der sonstigen
ständigen, auf dem Grundbesitz ruhenden Belastungen und Vorrechte zu erblicken.
Auch diejenigen Grundbesitzer, die ihr Gut zu vollem Eigentum innehatten, waren

14 3 Ebd., 245.
144 Näheres bei HEDEMANN, Zivilrecht (s. Anm. 121), Bd. 2/1, 16 ff.
14 5 Vgl. für Preußen das Edikt v. 14. 9. 1811, § 36, abgedr. bei CoNZE, Q,uellen, 119; für
Württemberg Edikt vom 18. Nov. 1817, in: Grundlasten-Ablösungs-Gesetz für das
Königreich Württemberg, hg. v. LUDWIG SCHWARZ (SLuLLg1uL 1849).
1 4 & Überblick über die Gesetzgebung bei HEDEMANN, Zivilrecht, Bd. 2/1, 22 ff.
147 Frankfurter Reichsverfassung von 1849, §§ 170. 171; Preuß. Verfassung von 1848,

Art. 38; Preuß. Verfassung von 1850, Art. 40.


148 Sten. Ber. Preuß. Landtap;, 1. Kammer, Bd. 2 (1849), 847.
149 Das BGB erwähnt die Erbpacht, Erbleihe oder Emphyteusis nicht mehr. Die letzten

ln.nilnRmnht.li<:lh noch fortbe~tehenden Erbpachtverhältn.iEJEJo Bind 10'17 i.11 frui.uu Eigentum


umgewandelt worden.
160 Bayr. Verordnung, die Ablösung der Grundgerechtigkeiten sämtlich ständischer Kloster-

Unterthanen betreffend, vom 27. Jun. 1803, abgedr. bei DISMAS GERHARD, Über Ablösung
des Grundobereigenthums (München 1818), 83.

92
c) Inhalt des Eigentumsrechts Eigentum

regelmäßig von einer Fülle von Dienstleistungs-, Abgabepflichten und von am


Grund haftenden Vorrechten anderer betroffen, etwa von grund- oder gerichts-
herrlichen Frondienst- und Zinspflichten, von der Zehntpflicht zugunsten der
Kirche oder zugunsten weltlicher Inhaber, von „Regalien", schließlich den sog.
Bannrechten, kraft derer anderen Personen ausschließliche Gewerbeberechtigungen
(z. B. Mühlenbann) dem Eigentümer eines bestimmten Grundstücks gegenüber
zustanden. Auch solche perpetuellen Lasten, die nicht als Rechte des Obereigen-
tümers anzusprechen waren, wurden als unziemliche Beschränkungen der Freiheit
des Eigentums empfunden. Hinsichtlich der Zehnten sagte ZACHARIÄ (1832):
Ein unvollkommenes, ein durch Dienstbarkeiren beschränktes Eigentum ist kein Eigen-
tum151. Den ideologischen Kern enthüllen die Ausführungen DuvERNOYS: Das
Zehntrecht beruht auf dem, dem jetzigen Rechtsbewußtsein fremd gewordenen Grund-
satz, daß durch den W illcn eines .einzelnen dem Boden für ewige Zeiten ein Gesetz
auferlegt werden dflrfe, das alle nachjvlyenden Bei;-itzer b·i·1tdet152 • Die Aufhebung die11er
perpetuellen Lasten geschah teils unentgeltlich, teils unter Entschädigung durch
den Staat, vorwiegend aber in der Weise, daß dem Belasteten ein Anspruch auf
Ablösung des Rechts durch Kapitalleistung eingeräumt wurde. Wichtiger als der
Vorgang der Ablösung selbst ist für den Eigentumsbegriff die Tatsache, daß die
Gesetzgebung für die Zukunft die Entstehung solcher perpetuellen Lasten ver-
hinderte: es soll fortan kein Grundstück mit einer unablösbaren Abgabe oder Leistung
belastet werden (Frankfurter Reichsverfassung von 1849, § 168, II). Es kann nicht
verschwiegen werden, daß diet:ie Umgestaltung des Eigentums unter dem Zeichen
der Freiheit des Eigentums nicht ohne inneren Widerspruch vonstatten ging, den
die Gegner der Reformen uenn auch aufäpü.l'Leu. Entsprach e11 nicht der Freiheit
des autonomen Individuums, auch die Erben durch Familienfideikomm:isse, durch
übernommene Belastungen, durch erbliche Überlassung von Nutzungsrechten zu
binden? In der Tat traf die Gesetzgebung nur eine Wahl zwischen der Freiheit des
Erblassers und des Erben und entschied sich für den letzteren: der jeweilige, nicht
bloß der erste Eigentümer sollte dem Ideal des freien Eigentümers entsprechen.
So konnte es geschehen, daß bei den Beratungen der preußischen Verfassung von
1850 die Kommissionsmehrheit die Auflösung der Fideikommisse als Ausßuß
des Grundsatzes der freien Verfügung über das Grundeigentum forderte 133 , während
gleichzeitig die Minderheit in einem solchen Vorgehen einen Verstoß gegfm eben
diese Freiheit sah. Ist die Stiftung eines Familienfideikommisses etwas anderes als
eine freie Verfügung über das Eigentum? (Abg. VON RoHRSCHEIDT 1849)15 4.

151 K. S. ZAC.'HARIÄ, Die Aufhebung, Ablösung und Umwandlung dor Zehnton nach Roohts-
grundsätzen betrachtet (Heidelberg 1831), 38.
152 Zit. SCHWARZ, Grundlasten-Ablösungs-Gesetz, 24. Die wirtschaftlichen Nachteile der

Zehnten zeigte schon CARL GoTTLIEB SVAREZ, Vorträge über Recht und Staat, hg. v.
Hermann Conrad u. Gerd Kleinheyer (Köln, Opladen 1960), 361.
153 Sten. Ber. Preuß. Landtag, Bd. 1 (1849) 914, Sitzung der Ersten Kammer vom 30. Okt.

1819, Kommfoaionabericht.
154 Ebd., 919. Bei den Familienfideikommissen zeigte sich zuerst ein gewisses Zurück-

weichen der Dogmatik zugunsten einer pragmatischen Betrachtungsweise. Die preuß.


Verfassung von 1850 (Art. 40 II) nahm von Aufhebung und Verbot der Fideikommisse -
im Gegensatz zur Verfassung von 1848 (Art. 38) - die Familienstiftungen aus.

93
Eigentum W. 5. Privateigentum und Staatsgewalt

5. Privateigenhun 1md Staatsgewalt

Die nachhaltigste Wirkung entfaltete der liberale Eigentumsbegriff bei der Frage,
in welcher Relation das Eigentum des einzelnen (Privateigentum) zur Staatsgewalt
stehen sollte. Wurde das Privateigentum auf die Freiheit gegründet, so mußte das
Verhältnis der Staatsgewalt zu den subjektiven Rechten des einzelnen neu formu-
liert werden. Der Vorgang wird sichtbar an folgenden im 19. Jahrhundert aktuellen
Problemen: a) Kann der Staat auf das Privateigentum Zugriff nehmen, und wenn
ja, unter welchem Rechtstitel? b) Wie ist das Privateigentum von öffentlichen
Rechten zu unterscheiden ?
ad a): Der liberale Eigentumsbegriff war von der Vorstellung getragen, daß den
Individuen auf der einen, dem Staate auf der anderen Seite gegeneinander ab-
gegrenzte Wirk- und Zuständigkeitsbereiche zugehörten und daß dabei die nutz-
bare Habe an Gütern prinzipiell in den Zuständigkeitsbereich des einzelnen fiel.
Standen sich Privateigentum und Staatsgewalt als autonome Bezirke gegenüber
(Privatwille - Staatswille), so wurde eine strenge Scheidung der privaten Rechts-
stellung von allem, was als Ausfluß der Staatsgewalt gedeutet wurde, notwendig.
Das Ergebnis war das Auseinandertreten von Rigent11m und Hoheitsrechten
oder - allgemeiner ausgedrückt - von öffentlichem Recht und Privatrecht. Das
Eigentum wurde von allen als „öffentlich-rechtlich" erkannten Verknüpfungen
gelöst. Die gleiche Konsequenz ergab sich aus der Idee des Rechts- und Ver-
fossungm1ta.11tcs und der Rcohtsglcichheit: danach erschien es m1crträglieh, daß
die Hoheit über Personen wie ein Vermögensrecht oder untrennbar verbunden
mit einem solchen in der Rechtszuständigkeit eines „Privaton" stand. Dieses von
solchen öffentlich-rechtlichen Momenten gereinigte Privateigentum hinwiederum,
und nur dieses, bezeichnete den unverletzlichen äußeren Rechtskreis des Indivi-
duums. Aus diesem Grund lag eEJ n11he, 11ueh unter oolohcn Aspekten von der Schöp-
fung eines neuen Eigentumstyps durch den Liberalismus zu sprechen, nämlich
eines Privateigentums, auf das der Staat prinzipiell keinen Zugriff hatte, das aber
andererseits keinen Konnex mit dem staatlichen Hoheitsbereich aufwies. Freilich
ist auch hier Vorsicht am Platze155 • Zum einen war die Verquickung von wirtschaft-
lichem Nutzungsrecht und Hoheitsbefugnissen auch im Mittelalter und in der
frühen Neuzeit nicht allgemein, sondern Kennzeichen bestimmter Besitzverhält-
nisse, insbesondere der Grundherrschaft. Ein Eigentum, das keine anderen Rechte
als die Befugnis zur Nutzung und Veräußerung in sich schloß, gab es sowohl bei
den zu freiem Eigen besitzenden Bauern156 als auch in den spätmittelalterlichen
Städten1117 • Ferner trug natürlich auch das Mobiliareigentum - soweit es vom

155 Der Satz bei BöcKENFÖRDE, Verfassungsgeschichtliche Forschung (s. Anm. 14), 119,
jenes völlig unpolitische, allen dominiums entkleidete, zu privatem Grundbesitz gewordene
Eigentum gebe es erst in einer Welt, in der alle Herrschaftsgewalt bei einer einheitlichen
Staatsgewalt konzentriert und monopolisiert sei, ist wohl auf den von Lehnwesen und
Grundherrschaft ergriffenen Grundbesitz bezogen und nur mit dieser Einschränkung halt-
bar. ·
156 MAx LAYER, Principien des Enteignungsrechtes (Leipzig 1902), 76.
157 Eindrucksvoll WILHELM .ARNOLD, Zur Geschichte des Eigentums in den deutschen Städ-

ten (Basel 1861; Ndr. Aalen 1966), 258 ff.

94
m. 5. Privateigentum und Staatsgewalt Eigentum

Grundeigentum ge.trennt war - schon im Mittelalter de.n Charakter von „Privat-


eigentum".
Darüber hinaus aber war auch die Vorstellung, wonach das Eigentum des einzelnen
einen von der Staatsgewalt unterschiedenen und sie prinzipiell begrenzenden Bereich
bildete, wesentlich älter als der Liberalismus. „Privateigentum" als ein von öffent-
licher Gewalt oder öffentlichem Eigentum abzugrenzendes Recht des einzelnen
kannte das gelehrte Recht des Mittelalters sowohl dem Begriff als auch der Sache
nach15B. Mit dem Aufkommen der Rechtswissenschaft wurden bereits Versuche
unternommen, die iura acquisita der einzelnen gegen die Zugriffe der Staatsgewalt
zu schützen. Das Eigentum wurde zu diesem Zwecke auf ein die politische Herr-
schaft bindendes, weil von ihr vorgefundenes ius divinum, ius naturale, ius gentium
gegründet169. Seit dem 16. Jahrhundert ging das Bestreben eines Teils der Juris-
prudenz dahin, den Eigentumsschutz auch auf durch das positive Recht begründete
Rechte auszudehnen100. ·
Das Wesen der libe~alen Eigentumslehre darf also nicht so gedeutet werden, als
sei ein der öffentlich-rechtlichen Elemente entkleidetes, gegen den Aktionsbereich
staatlichen Wirkens abgrenzbares Privateigentum jetzt erst denkbar geworden
oder in der sozialen Wirklichkeit entstanden. Die liberale Eigentumslehre erweist
sich auch hier als konsequente Vollenderin längst vorhandener Denkansätze. Der
Weg zur folgerichtigP.n UntP.rsehP.idnng von Sta11fagP.walt und privatn HabP. ü1t
freilich nicht geradlinig gewesen. Daß dem Staate für bestimmte Fälle die Befugnis
zustehe, auf das Privateigentum Zugriff zu nehmen, konnte nicht geleugnet werden.
Zur Begründung eines solchen Rechts griffen schon mittelalterliche Denker den
schillernden Terminus 'dominium' auf161 : Kaiser, Papst, Princeps hatten das
dominium an den ihren Untertanen gehörigen Gütern, das sowohl als Hoheit,. als
auch als das stärkere Eigentumsrecht gedeutet werden konnte. Sehr geschickt
machte sich liOBBES, der prominenteste Vertreter dieser Lehre im l'I. Jahrhundert,
die Möglichkeiten des dominium-Begriffes. zunutze: N am qui dominum habent,
dominium non habent. Civitas autem. civium domina est, ex constitutione. Die ergo,
unde tibi propr~etas haec, nisi a civitate?162 Demgegenüber war es im 17. Jahrhundert
besonders GROTIUS, der in der Tradition mittelalterlicher Lehren Staatsgewalt -
imperium - und Eigentum - dominium - als strukturverschiedene Herrschafts-
formen begriff. Indem das imperium bei ihm auch die Hoheit über das Staats-
gebiet163 umfaßte, schied die Staatsgewalt aus dem dominium-Begriff aus. Das vom

168 'Priv11,t,11R' nriir.ktP. in nP.r römiRr.hP.n R.er.ht.RRpmnhe nen Gee;enRafo>: 7.11 'pnhlir.nR' 11.WI
und wurde auch im Mittelalter in diesem Sinne gebraucht, und zwar auch in bezug auf
das Eigentum der 'privat!'; vgl. 0. v. GrnRKJ.:, AlthusiUB und die Entwicklung der natur-
rechtlichen Staatstheorien (Breslau 1880), 268, Anm. 11.
109 Vgl. die Glosse zum Codex Justinianus, „et distingue" Cl, 22, 6: Reskripte, die gegen

Natur- und Völkerrecht verstoßen, sind kraftlos ut si petam, quod res alterius mihi detur.
nam dominia sunt de iure gentium. Weitere Nachweise bei GIERKE, Althusius, 268 ff.
1 eo GIERKE, Althusius, 291 ff.

161 So der Jurist MARTINUS (12. Jh.), s. GIERKE, Althusius, 268; GEORG MEYER, Das Recht

der Expropriation (Leipzig 1868), 86 ff.


162 THOMAS HOBBES, De cive (1642/47), 12, 7.
163 GROTius, De iure belli 2, 3, 4: Imperium duas solet Juibere materias sibi subiaeentes,

primariam, personas ... et secundariam locum, qui territorium dicitur.

95
Eigentum m. 5. Privateigentum und Staatsgewalt

imperium unterschiedene rlominium nannte Grotius dominium privatum164 • Für die


Wirksamkeit der Grotianischen Eigentumslehre ist entscheidend geworden, daß
er die Klarheit der Unterscheidung von Staatsgewalt und Eigentum selbst wieder
beseitigte. Das imperium enthielt165 nach seiner Auffassung auch das Recht, dem
einzelnen sein Vermögen um des gemeinen Nutzens willen zu entziehen. Um dieses
Recht zu kennzeichnen, verfiel Grotius, wie vor ihm schon Wn.HELM VON ÜCKHAM
und andere166 , wiederum auf den Terminus 'dominium'. Er nannte das Enteignungs-
recht des Staates ius supereminentis dominii 161 • Der Begriff 'dominium eminens',
der verdeutscht als hohe,s Eigentum168 oder Staatsobereigentum169 erschien, beherrsch-
te seit Grotius die Diskussion über das Verhältnis von Staat und Privateigentum.
Obwohl auch PuFENDORF und WOLF noch klarstellten, daß das dominium eminens
dem imperium innewohne170, konnten sie ihrer Neigung nach Systematisierung
nipht widerstehen und stellten dem dominium eminens des Staates das dominium
vulgare (Pufendorf) oder commune (Wolf)171 des einzelnen gegenüber, so als
seien diese· beiden dominia Erscheinungsformen derselben Zuordnungskategorie,
als sei der Staat eben doch „höherer" Eigentümer des Staatsgebiets und aller darauf
be:findlichen Sachen. Die Theoretiker des Absolutismus haben auf diese Deutung
des dominium eminens alsbald zurückgegriffen.
Als Beispiel für die Umdeutung des dominium eminens diente die Lehre, die
PFEFFINGER im AnRnhl11ß 11.n VTTR.TARHTS172 entwickelte„ Ausgangflpunkt seiner
Lehre vom Verhältnis von Staat und Privateigentum war nicht das ius eminens,
sondern das dominium des Herrschers über alle in seinem Territorium befindlichen
Vermögensobjekte. Dieses dominium oder das jus superioritatis territorialis um-
faßte also das Staatseigentum (bona publica) ebenso wie das Recht des Staates an
dem Vermögen einzelner; über beides konnte der Fürst pro lubitu disponere - die
typische Eigentumsdefinition173 . Das dominium eminens war daher nur als Teil-
befugnis aus dem allgemeinen dominium des Landesherrn begriffen, der Landesherr
war Eigentiimer, l1TIO :r.w11.r nir.ht im iib11rtragenen, sondern im eigentlichen Sinn
als der unbeschränkt Verfügende: maius enim, habitu respectu ad bonum commune,
regis dominium est in res singulorum, quam dominorum singularium114 • Die ab-
solutistische Staatslehre ging also in dem Versuch, einen bestimmten, von einem

164 Ebd. 2, 3, 19.


165 Ebd. 2, 3, 19: imperium, in quo inest ius illud eminens.
166 WILHELM VON ÜOKHAM sprach von einem dominium quodammodo des Kaisers; vgl.

GIERKE, Althusius, 268.


167 GROTius, De iure belli 3, 19, 7; vgl. ebd. 2, 13, 20, 3; 2, 14, 7.

16s ZEDLJ!J.lt Bu. 1 (1734), 1216.


1 69 RUNDE, Privatrecht (s. Anm. 139), 176, § 262.
1 7 o Vgl. PuFENDORF, De iure nat. 8, 5, 3; CHRISTIAN WoLF, Ius naturae, t. 8, c. 1, § 111:
imperium continet dominium eminens tanquam partem potentialem.
171 PuFENDORF, De iure nat. 4, 4, 2; WoLF, Ius naturae, t. 8, c. 1, § 111.
172 JoH. FRIEDRICH PFEFFINGER, Vitriarius illustratµs seu institutiones ]uns publici

Romano-Germanici ... antehac a Philippo Reinhardo ·Vitriario . . . editae (1691; Ausg.


Gotha 1712).
1 73 Ebd., 1346; vgl. 1347: Dominium hoc, vel est in bona publica, vel eminens in bona
subditorum.
1 74 Ebd., 1346.

96
m. 5. Privateigentum und Staatsgewalt Eigentum

Staatsmodell abhängigen und damit systemgebundenen Eigentumsbegriff zu setzen,


der liberalen voraus. Freilich ist die soziale Relevanz dieser Eigentumslehre des-
halb gering zu veranschlagen, weil die Doktrin ein bloßes Echo auf bestehende
Machtverhältnisse bildete.
Jedoch blieb auch der Versuch des nichtabsolutistischen Naturrechts, dominium
und imperium als wesensverschiedene Herrschaftsformen zu begreifen, wegen der
unglücklichen Terminologie175 im Ansatz stecken. Auch bei diesem Problem wurde
erst die Vorstellung vom Eigentum als Erscheinungsform der individuellen Freiheit
entscheidend für die Vollendung der im 17. Jahrhundert vorhandenen Ansätze.
Wenn die Mitglieder der Gesellschaft bei Abschluß des Gesellschaftsvertrags den
Schutz ihres Eigentums bezweckten, wie LOCKE sagte176 , woher sollte dann der
Gesellschaft selbst ein irgendwie geartetes, dem privaten Eigentum strukturell
analoges dingliches Recht an den Gütern der Bürger erwachsen 1 Seit der zweiten
HälfLe des 18. Jahrhunderts gewann die Kritik am dominium eminens an Boden,
im 19. Jahrhundert wurde der Begriff von der Wissenschaft aufgegeben. Dem
Übergangsstadium gehören noch die Ausführungen KANTS an, der dem Souverän
ein Obereigentum am Land zuerkannte: Dieses Obereigentum ist aber nur eine Idee
dos bürgerlichen Vereins, um die notwendige Vereinigung des Prii•ateigentums aller
im Volk unter einem öffentlichen allgemeinen Besitzer zu Bestimmung des besonderen
Eigentums nicht nach Grundsätzen der Aggregation ... , sondern dem notwendigen
formalen Prinzip der Einteilung ... nach Rechtsbegriffen vorstellig zu machen177 •
Die Lehre vom Staatsobereigentum ist in die Kodifikationen der Aufklärung und
in den Code civil178 nicht mehr eingegangen. Das ALR unterschied allgemeines und
besonderes Staalse'iyenl'am einerseiL1:1, Privale,igenl'um andererseits179 und erwähnte
das Staatsobereigentum über das Privateigentum nicht. FRANZ VON ZEILLER (1812)
sprach bei Erörterung der Enteignung von dem obersten Eigentumsrecht, stellte
ihm al.Jer, •a1n d·ie11en zwe·ide'al'iyen 'and yeltü11s'iyen A·wsdradc :<-'a ·uer11ie·iden, den
Begriff: das äußerste Recht über die Privatgüter zur Seite180 • An die Stelle des
dominium eminens trat unter liberalem Einfluß im Verlauf des 19. Jahrhunderts

175 Die grotianische Lehre vom „dominium eminens" hatte freilich schon im 17. Jahrhun-
dert Gegner, wie den Juristen WILHELM LEYSER, Dissertatio pro imperio, contra dominium
eminens (1673), gefunden; weitere Literatur s. ZEDLER Bd. 7 (1734), 1216, wo die Auf-
fassung vertreten wird, der Streit laufe auf einen Wörterkrieg hinaus.
178 LOCKE, Treatises 2, 9, 124.
177 KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 2. Tl., 1. Abschn„ allg. Anm.B. AA Bd. 6,

323 f.
118 HEDEMANN, Zivilrecht, Bd. 2/1, 120 f.
179 Darunter Allgemeines Staatseigentum, z. B. die Land- und Heerstraßen und sonstige

dem Gemeingebrauch dienende Objekte, das Recht zum Einzug verwirkter Güter etc.;
ALR Tl. 2, Tit. 14, §§ 21-23; besonders Staatseigentum, insbesondere die Domänen:
Tl. 2, Tit. 14, § 11.
18 ° FRANZ EDLER v .. ZEILLER, Commentar über das ABGB, Bd. 2/1 (Wien, Triest 1811),

127 f„ § 365, Anm. 1. Bei ROTTECK/WELCKER war das Enteignungsrecht des Staates aus
dem Begriff 'eminens ius' ausgeschieden. Das Staatsobereigentum war in einem der Feudal-
zeit angehörigen Sinn ein Unding; 3. Aufl„ Bd. 5 (1861), 85 ff. Bei ERSCH/GRUBER 1. Sect„
Bd. 26 (1835), 502 wird stattdessen der Terminus imperium eminens vorgeschlagen.

7-90386/1 97
Eigentum ID. 5. Privateigentum und Staatsgewalt

ein neuer Begriff: die Expropriation oder --'- naoh der gegen Ende des 19. Jahr·
hunderts üblicher werdenden Verdeutschung - die 'Enteignung'181 • Die Enteignung
war auch der !:fache nach ein neues .H.echtsinstitut182 • Nach der liberalen Eigentums-
theorie war das Privateigentum als Emanationsbereich der persönlichen Freiheit
staatlichem Zugriff prinzipiell entzogen. LOCKE hatte daraus die Folgerung ge-
zogen, daß der Staat niemandem ohne seine Zustimmung das Eigentum entziehen
könne183 • Dieser Standpunkt hat sich auch im Liberalismus nicht halten können.
Für bestimmte Ausnahmefälle mußte man die Möglichkeit des staatlichen Zugriffs
auf das Privatvermögen offenlassen. Die Möglichkeit der Enteignung wurde daher
seit der fra.nzösisohon Monsohcn und Bürgerrechtserklärung von 1789184· zur ver-
fassungsrechtlichen Kehrseite der Eigentumsgarantie185 •
Für das liberale' Deriken waren dabei erhebliche Schwierigkeiten r.11 iihllrwinillln.
Das zeigte die häufig verwendete Formulierung, derzufolge die Expropriations-
befugnis des Staates als anomalisches Recht erscheint186 • Der Einklang mit der
Lehre vom absoluten, in der Freiheit verankerten Eigentum konnte nur hei;gestellt
werden, indem man die Entschädigungspflicht zum Wesensbestandteil der Ent-
eignung erhob. Für die Enteignung im Sinne der liberalen Eigentumslehre war es
entscheidend, daß sie als entschädigungslos begrifflich nicht gedacht werden
konnte 1 B7 • Um dies auch im Terminus klarzustellen, verwendete LORENZ VON STEIN
den Begriff der Entwährwnu188 , flp,r Rir.h nir.ht hat c'lnrr.hRAt.:i:P.n können. Freilic:h
gehörte der Gedanke der Entschädigung bei hoheitlichen Eingriffen in das Privat-
eigentum bereits dem Mittelalter an1 ~u; auch die Vertreter von der Lehre des
dominium eminens betonten durchweg die Pflicht zur compensatio. Die Ent-
schädigung erschien aber als bloße Folge des Rechtsinstituts, das den liilngnff

181 Der Begriff 'Expropriation' stammt aus der französischen Jurisprudenz; nach ERSCH/
GRUBER 1. Sect„ Bd. 39 (1843), 395 wollten die übrigen, weit besseren teutschen Ausdrücke
wie '.Auskaufung', 'Enteignung', 'Zwangsabtretung' bei uns noch nicht recht Eingang fin-
den. Die Frankfurter Reichsverfassung, .Abs. 6, .Art. 9, § 164b sprach indes bereits von
'Enteignung'.
182 LAYER, Enteignungsgrecht (s . .Anm. 156), 66. Freilich besteht hier eine Schwierigkeit.

Der Enteignungsbegriff hat seit seiner Bildung in der liberalen Eigentumstheorie _eine
Bedeutungserweiterung (insbesondere auch durch den Sozialismus) erfahren und wird
häufig unterschiedslos auf Eigentumsentziehungen angewendet. Der Sache nach neu ent-
stand also nur die Enteignung im Sinne dp,r lihAral1m 'l'hAnriA.
183 LOCKE, Treatises, 2, 9, 139: But government ... yet can never have a power to take to

themselves the -wlwle, vr wny pwrl ul lhe 1J•ubject's property, without their own consent.
184 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), .Art. 17. Der Entwurf des Bureau
hatte die Enteignungsmöglichkeit nicht erwähnt; LAYER, Enteignungsrecht, 144.
185 Die Enteignungsbefugnis des Staates ist regelmäßig in den Verfassungen im .Anschluß

an die Eigentumsgarantie formuliert; vgl. Bayr. Verfassung (1818), Tit. 4, § 8; Frankfurter


Reichsverfassung, .Abs. 6, .Art. 9, § 164 b.
186 Noch bei BESELER, Dt. Priv11trccht (s. Anm. 61), Bd. 1, 380; ÜTTO STOBBE, Handbuch

des deutschen Privatrechts, 2. .Aufl„ Bd. 2 (Berlin 1883), 173.


187 0. v. GIERKE, Deutsches Privatrecht, Bd. 2 (Leipzig 1905), 465.
188 LORENZ v. STEIN, Die Verwaltungslehre, Bd. 7 (Stuttgart 1868).

189 Näheres LAYER, Enteignungsrecht, 104 ff.

98
m. 5. Privateigentum und. Staatsgewalt Eigentum

erlaubte; sie war aus Gründen deR gerechten Ausgleichs (Opfertheorie)190 gesollt,.
abe; nicht denknotwendig. Bei GROTIUS war die Entschädig'ungspflicht durch einen
sehr wesentlichen Vorbehalt eingeschränkt: deinde, ut si fieri potest, compensatio
fiat ei qui suum amisit, ex communi 191 • Anders hielt es die liberale Enteignungslehre.
Die Enteignung konnte nur deshalb als möglich gedacht werden, weil das Vermögen
der Substanz nach unangetastet blieb: Die Enteignung kann daher nie das Eigentum
am Wert~ des Gutes aufheben (L. v. STEIN}1 92 •
ad b): Der Vorgang der „Privatisierung" d.es Eigentums äußerte sich ferner in dem
Bestreben, Hoheitsrechte und private Nutzungsrechte aus ihrer Verknüpfung, in
der sie seit dem Mittelalter standen, zu lösen. Für den liberalen Rechtsstaat war
es unerträglich, daß Hoheitsgewalt über .Personen, die als Ausstrahlung der
Staatsgewalt begriffen wurde, in Form wirtschaftlich nutzbarer Rechte in den
Händen privater, nicht beamtenrechtlich gebundener und verantwortlicher Per-
sonen lag. Auuh das absolutistische Regime hatte dem Adel nicht alle Hoheitsrechte
genommen. Leibeigenschaft, Grundherrschaft, Patrimonialgerichtsbarkeit, Lehns-
herrschaft, Gerichtsherrschaft enthielten Hoheitsrechte über Personen, die nach
Art der mittelalterlichen Verfassung zu Eigen oder Lehen erblich besessen wurden.
Die Gesetzgebung ileR 19 .•fa.hrhnnilert.'I vollr.oe die A11flfü.mng der genannten Herr-
1:1uhaf!.l'Jverl1ii.lLnisse. Das „herrschaftliche" Eigentum wurde - unter Protest der
Restauration, die am öffentlich-rechtlichen ..l!:mschlag des adligen Grundeigentums
festhalten wollte193 - auf eine schlichte vermögensrechtliche Größe reduzierL,
das EigenLum der Hoheitsunterworfenen von den am Grund und Iloden klebenden

190 So etwa SvAREZ, Vorträge (s . .Anm. 152), 255: Dagegen ist der Staat demjenigen, welcher
seine Rech,te und Vorteile dem Wohl des gemeinen Wesens aufopfern muß, zu entschädigen
verbunden. Vgl. ALR, Einleitung,§ 75.
191 GR01'US, De iure belli 2, 14, 7.
192 STEIN, Verwaltungslehre, Bd. 7, 298. Der wesensmäßigen Verknüpfung von Enteignung

und Entschädigung diente auch die Deutung der Enteignung als erzwungener Kauf, die
auf MONTESQUIEU zurückgeht (vgl. HEDEMANN, Zivilrecht, Bd. 2/1, 232) und in das
ALR (I, 11, §§ 3-11) Eingang gefunden hat.
193 Die Staatslehre der Restartration bildete einen von der liberalen Eigentumslehre ab-

weichenden, insbesondere am Grundeigentum des Adels orientierten Begriff vom 'echten


Eigentum'. Einflußreich ist insbesondere die Lehre von JusTus MösER (1720-1794)
geworden: echtes Eigentum sei gekennzeichnet durch die Stimmbarkeit im Staate (die
Landt.agsfähigkeit), die Schöffenarbeit und das Jai.i;drecht, die es verleilie; Patriotische
Phantasien, Vom echten Eigentum, SW Bd. 4 (1943), 139. Danach fand Staatsbürgerrecht
also Rechtsgrm1dim Landeigentum, das „echte" Eigentum hat denknotwcndig „öffcntlioh-
rechtliche" Relevanz (vgl. den Aufsatz: Der Bauerhof als eine Aktie betrachtet, ebd.,
Bd. 6, 1954, 255 ff.). Auf die Vorstellung, das Grundeigentum befähige zur Herrschaft über
Personen, ist die Herrschervorstellung 0.ARL LUDWIG VON HALLERS (1768-1854) ge-
gründet: der Landeigentümer war der geborene Fürst, ilim allein war es möglich - wenn
nämlich die gänzliche Unabhängigkeit hinzukam - niemand als Gott über sich zu haben.
Grundeigentum und Unabhängigkeit konstituierten die Herrschaft; der Fürst ist der a.u,f
seinem Gebiet einzige ganz Freie; Restauration der Staatswissenschaft, 2. Aufl., Bd. 2
(Winterthur 1820), 64. Die landesherrlichen Rechte besitze er aus eigenem Recht, sie seien
aus seinen allgemeinen Menschenrechten wie aus erworbnen Privatrechten, mit anderen W or-
ten aus Freiheit und Eigentum herzuleiten; Bd. 2, 59 f.

99
Eigentum m. 5. Privateigentum und Staatsgewalt
Hoheitsrechten befreit. BäuerlicheR, bürgerliches und adeligCB Grundeigentum
erhielten denselben Rechtscharakter als privates Vermögensrecht.
Uatl damit die Masse des ländlichen Grundeigentums seine Natur in einem wesent-
lichen Punkte veränderte, drang allmählich in das Bewußtsein der Zeitgenossen
vor. Wesentlich gefördert wurde die Reflexion über die rechtliche Natur der
Reformen durch die Enteignungsproblematik. Man hatte das Eigentum für heilig
und unverletzlich erklärt, die Verfügung des Staates darüber nur im Falle.dringen-
der Notwendigkeit und gegen Entschädigung ;ZUgelassen. Gleichzeitig aber ging
man dazu über, dem Adel Rechte der verschiedensten Art wegzunehmen oder den
Untereigentümern oder Pächtern einen Anspruch auf Abtretung einzuräumen.
War das nicht ein Eingriffin das Eigentum1 Gehörten die aufzuhebenden oder für
ablösbar erklärten Rechte unter den Begriff des Eigentums oder stelltlm sie et.w;i.s
anderes dar 1 Besonders schwierig gestaltete sich das Problem bei der Aufhebung
von Dienstleistungspfilchten (Fronen, Roboten) und Abgaben. Die Verquickung
von Hoheit und Eigentum hatte nicht nur ihre aktive (Verbindung von Grund-
eigentum und Hoheitsrecht), sondern auch ihre passive Seite. Grundeigentum oder
sonstige Besitzrechte waren belastet mit einer Unzahl von Leistungsansprüchen
und Vorrechten anderer .Personen: des Grundherrn, Gerichtsherrn, Regalienin-
habers usw. Indem man die Inhaber dieser Rechte zwang, ihre „Gerechtsamen"
aufzugeben, mußte man sich die Frage vorleeen, oh ilenn hiP.r ein Eingriff in da11
„Eigentum" im Sinne der Eigentumsgarantien vorliege. Damit aber war das für
dasAncien regime kaum lösbare Pro'blem der Unterscheidung des Privatrechts und
des öffentlichen Rechts in aller Schärfe gestellt.
Im 18. Jahrhundert gelangten die Versuche einer konsequenten Unterscheidung
zwischen öffentlichem und privatem Recht über ein gewisses Stadium nicht hinaus.
Der Versuch, die dem Landesherrn zustehenden Rechte unter dem Begriff 'Re-
galien' - auch 'Hoheitsrechte'194 - zusammenzufassen, ließ das Regal allmählich
zum Kontrastbegriff des Privateigentums werden, besonders deutlich bei RUNDE
(1791)195• Während etwa bei FLORINUS (1719) unter Regalien nicht nur nutzbare
Gerechtigkeiten (regalia minora), sondern auch die eigentlichen Regierungsrechte
begriffen wurden ( regalia maiora)1 96 , beschränkte sich bei Estor und Runde der
Regalbegriff auf die Nutzungsrechte, die als dem Landesherrn zugewiesene oder
auf ihn zurückführbare Rechte gegenüber dem Eigentum abzugrenzen waren.
Runde gab den auf den Grundstücken lastenden Hoheitsrechten den Namen
Staatsdienstbarkeiten - servitutes iuris publici 197 • Auf diese Weise konnten ins-
besondere die Bannrechte und Regalien wie das Jagdrecht unter öffentlich-recht-
lichen Gesichtspunkten gesehen werden.

1 94Eine Unterscheidung zwischen Hoheitsrechten (sie stehen allein den Reichsständen zu)
und Regalien (können auch von anderen erworben werden}, findet sich bei EsTOR, Rechts-
gelehrsamkeit (s. Anm. 60), Bd. 1, 844 f.
195 RUNDE, Privatrecht (s. Anm. 139), §§ 101 ff„ S. 76 ff. Bei Runde zeigt sich bereits das

Bestreben, möglichst viele Rechte dem öffentlichen Recht zu entziehen und dem Privat-
recht zuzuweisen. ·
196 FRANZ Pmr.IPP FLORINUS, Oeconomicus prudens et legalis, mit rechtlichen Anmerkun-

gen von Joh. Christoph Donauer, Bd. 1 (Nürnberg 1719), Abt. 1, Kap. 5, § 2; Abt. 4,
Kap. l.
197 RUNDE, Privatrecht, 181 f„ § 273.

100
m. 5. Privateigentum und Staatsgewalt Eigentum

Man darf freilich die Bedeutung einer solchen „publizistischen" Betrachtungsweise


nicht überschätzen. Auch die Regalien wurden in den Darstellungen des Privat-
reehLs uh11e weiteres dem System. der beschränkt dinglichen Rechte eingefügt
und unter der Bezeichnung 'Gerechtigkeit', 'Servitut' mit privatrechtlichen Titeln
der gleichen Kategorie zugewiesen198 , somit formal den subjektiven Privatrechten
gleichgestellt. Ferner hatten am. Regalbegriff regelmäßig nur solche Rechte Anteil,
die auf die Landeshoheit zurückgeführt wurden; dem.nach waren subjektive Rechte,
die auf Hcrrsch11ftsverhältnissen im. Range unter der Landeshoheit, also etwa auf
der Grundherrschaft oder der Lehensherrschaft beruhten, keine Regalien und wur-
den so in den Bereich des Privatrechts verwiesen. Das Recht der Grundherrschaft
und das Lehensrecht waren bis zum. Untergang dieser Institutionen als Teile des
Privatrechtssystems, VUll <l.em es ( dom·in·ium dfrectum!) !!eine Begrifi'e empfing,
behandelt worden199 •
Aus diesen Gründen lag es nahe, die Regalien, die grundherrlichen, lehnsherrlich11n,
gerichtsherrlichen Rechte, die ja vom. Adel nicht anders als erblich besessen wurden,
als Sacheigentum., im. Sinne der Eigentumsgarantie wie Privateigentum. zu behan-
deln. Die Aufhebung der droits fäodeaux durch die Französische Revolution führte
denn auch sogleich zu dem. Vorwurf von SVAREZ (1791), sie habe in das Eigentum.
eingegriffen. Mußte die Ordnung damit anfangen, daß man d1'.e Heiligkeit des Eigen-
tums verletzte? 200 In der Deutschen BumlesakLe (1815) fand die Auffassung, daß
auch in der Hoheitsverfassung wurzelnde Rechte der Eigentumsgarantie unterstehen
sollten, rechtlichen Ausdruck. Art. 11 c bootim.m.te, d11ß den mittelbar gewordenen
ehemaligen Reichsständen und Reichsangehörigen alle diejenigen Rechte und Vor-
züge zugesichert werden oder bleiben, welche aus ihrem Eigentum und dessen ungestörtem
Genusse herrühren, und nicht zu der Staatsgewalt und den höheren Regierungsrechten
gehören. Damit war eine gewisse Scheidung von öffentlichem. Recht und Privat-
eigentum. versucht, aber nicht im. Sinne des Rechtsstaats vollendet. Denn unter
die aufrechterhaltenen und garantierten Rechte zählten auch die Ausübung der
bürgerlichen und peinlichen Gerechtigkeitspflege ... der Forstgerichtsbarkeit, Ortspoli-
zei usw. Um.so eher mußten die auf der politischen Verfassung beruhenden wirt-
schaftlichen Nutzungsrechte als Eigentum. des Adels verstanden werden.
Auf der Grundlage dieser Auffassung wäre die Agrarreform. kaum. durchführbar
gewesen. Die Reformgesetzgebung hob eine Reihe verm.ögenswerter Rechte, voran
die Leibeigenschaft, entschädigungslos auf und gab damit zu erkennen, daß be-
stimmte überkommene Vorrechte nicht von einer Eigentumsgarantie ergriffen
seien 201 • Vereinzelt ist schon in den Gesetzen vor 1848 die Auffassung ausgesprochen,
daß die aufgehobenen Rechte nicht Privateigentum., sondern öffentlich-rechtlicher
Natur seien, mit der Konsequenz, daß 11inA F.nt.~r.hii.r'lienne nir.ht fiir angebracht

198 Vgl. EsTOR, der inmitten des Sachenrechts die Regierungsrechte der Landesherren
unter der Bezeichnung Gerechtigkeiten abhandelte; Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 1, 839 ff.
199 Vgl. ENGAU, Elementa (s .. Anm. 50), 314 ff.; Codex Max. Bav. civ„ Tl. 1, Kap. 10.

11. 18; s. STOBBE, Privatrecht (s. Anm. 186), 3. Aufl„ Bd. 2/2 (Berlin 1897), 363 ff.
455ff.
200 SvAREZ, zit. KLEIN, Freiheit und Eigentum (s. Anm. 79), 41.
201 Ähnlich schon das preußische Reskript vom 5. 3. 1809; das Untertänigkeitsverhältnis

sei seiner Natur nach eine polizeiliche Anordnung, welche nach dem jedesmaligen Kultur-
zustande der Nation alJgeändert werden könne; KosELLECK, Preußen (s. Anm. 106), 489.

101
Eigenltlm m. 5. Privateigenltlm und Staatsgewalt

gehalten wurde. Das Heeden-Gesetz von Württemberg (1836) hob diejenigen Ab-
gaben entschädigungslos auf, deren Identität mit den heutigen Steuern unzweifelhaft
ist 202 , die anderen erklärte es für ablösbar. Eine konsequente Linie ist indes nicht
zu. erkennen: letztlich erklärte man willkürlich die einen Rechte für entschädi-
gungslos aufgehoben, die anderen für ablösbar gegen Entschädigung. Im übrigen
hielt man sich auch bei der Ablösbarkeit gegen Entschädigung keineswegs an die
strengen Voraussetzungen und Modalitäten, an welche die Verfassungen seit 1818
die Expropriationsbefugnis des Staates banden. Mit Recht nahm LORENZ VON
STEIN daher die Grundentlastung aus dem Enteignungsbegriff aus, da sie nur als
Konsequenz eines öffentlich-rechtlichen Fortschritts erscheine 203 •
Die Auffassung, daß die adeligen Vorrechte wegen ihrer öffentlich-rechtlichen
Natur ohne Entschädigung aufgehoben werden könnten, gelangte schließlich in
der Gesetzgebung seit der Revolution von 1848 zum Siege. Nach der Frankfurter
Reichsverfassung von 1848 waren die Patrimonialgerichtsbarkeit und grundherr-
liche Polizei mit allen daraus fließenden Befugnissen, Exemtionen und Abgaben und
die aus dem guts- und schutzherrlichen Verbande fließenden persönlichen Abgaben
und Leistungenentschädigungslos aufzuheben. Weiter noch gingen die preußischen
Verfassungen von 1848 und 1850, welche alle gewis.~en Gmriil.~tiü:k,r,n z1f.sfR.henden
Hoheitsrechte und Privilegien sowie die aus der früheren Steuer- und Gewerbe-
verfassung herstammenden Verpflichtungen miteinbezogen (Art. 40 bzw. 42). Dieser
Eingriff ließ sich angesichts. der Eigentumsgarantien nur dann rechtfertigen, wenn
man die aufgehobenen Rechte als öffentlich-rechtliche Befugnisse oder ale ttuf der
politischen Verfassung beruhende Rechte qualifizierte. So machte z. B. L. E.
SCHMIDT (1848) den Versuch, die lehns- und grundherrlichen Rechte sämtlich auf
die Steuer-, Kriegs- und Gerichtsverfassung als publizistische Zustände zurückzu-
führen und daraus, daß sie keineswegs privatrechtlicher Natur seien, ihre Aufheb-
barkeit ohne Entschädigung herzuleiten 204 • Des gleichen Arguments bedienten sich
auch die Vertreter der Mehrheit in den 1849 zur Beratung der preußischen Ver-
fassung zusammengetretenen Kammern. Auf die Behauptung der Minderheit, die
entschädigungslose Aufhebung der grund- und gerichtsherrlichen Rechte verstoße
gegen die allgemeine Eigentumsgarantie, replizierte z. B. der Abgeordnete N OBE
iu der ZweiLeu Kamruer: W,fr :J'ind 'in der Notwendigkeit, den Feudalstaat in den
modernen Staat, in den Rechtsstaat umzubilden. Die Absicht ist die: alle Hoheitsrechte
aus der Hand von Privaten zurückzunehmen und die Aufhebung jeglicher Privat-
obrigkeit zu bewirken 205 • Ähnlich äußerte sich der Abgeordnete KISKER in der Ersten
Kammer: Bei aller Achtung vor dem Eigentume und vor erworbenen Rechten muß man
doch anerkennen, da/3 ljewisse Verhältnisse im f:Jtaat, die nicht sowohl privatrechtlicher

202 SCHWARZ, Grundlasten-Ablösungs-Gesetz (s. Anm. 145), 35. In Hessen war schon 1812

eine Kommission eingesetzt worden zur Untersuchung der Frage, ob die Bede eine Steuer
sei; WILHELM GOLDMANN, Die Gesetzgebung des Großherzogthums Hessen in Beziehung
auf Befreiung des Grundeigenthums (Darrm1tadt, 1831), 203 ff., Beilage 16.
2os STEIN, Verwaltungslehre, Bd. 7, 292.
204 L. E. SCHMIDT, Die Aufhebung der Feudalrechte der Rittergutsbesitzer wider die

Landbauern ohne Entschädigung (Breslau 1848), 24 ff. 35.


205 45. Sitzung, 31. Okt. 1849; Sten.Ber., Preuß. Landtag, Bd. 1 (1849), 946.

102
m. 5. Privateigentum und Staatsgewalt Eigentum

als mehr politischer Natur sind, einer Änderung und durchgreifencler Reform be-
dürfen206.
Damit war die Verbindung von Privateigentum und öffentlich-rechtlich gedeuteten
Befugnissen, von Vermögensrecht und Hoheitsgewalt aufgelöst. Daß mit diesem
Vorgang sich das Wesen des Grundeigentums verändert habe - was, wie gezeigt,
nur partiell richtig ist - hat bereits ZACHARIÄ (1832) formuliert: an die Stelle der
der alten Verfassung entsprechenden Grundherrlichkeit, welche über die Elemente des
Eigentums hinaus auch eine Hoheit über Personen enthielt, dafür aber prinzipiell
beschränkbar war, trat das aus dem römischen Rechte stammende Grundeigentum,
welches keine Hoheit enthielt, dafür aber ein wesentlich unbeschränktes und un-
beschränkbares Recht darstellte 207 • Daß das Privateigentum damit ein unpolitisches
geworden sei, läßt sich schon angesichts der Verknüpfung von Bürgerrecht und
Eigentum nicht behaupten. Die strenge Trennung von privatem und öffentlichem
Rechtsbereich kennzeichnete ein politisches System, in dem das Privateigentum
gerade wegen seines behaupteten rein individualbezogenen Charakters die Aus-
bildung persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse mit Mitteln des Privateigentums
veranlaßte.
Die liberale Eigentumsvorstellung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
zu den weithin kritiklos akzeptierten Denkpositionen gehörte, hat naturgemäß
von Anfang an die Gegnerschaft der Adelsreaktion gefunden, da sie als Hebel für
die Beseitigung adeliger Vorrechte diente. Die restaurative Gesellschaftslehre hielt
an ueru EJigeuLum11begri:ff, der einer feudalen BoBitzroohtoordnung angemessen wari
fest; sie gab ihm gerade jetzt, da diese Ordnung gefährdet war, den theoretischen
Unterbau. Damit aber war der Eigentumsbegriff auch im öffentlichen Bewußtsein
systemabhängig geworden. Die Elementarbegrifflichkeit des Eigentums machte es
tauglich, in den verschiedenen Gesellschaftsmodellen als Baustein gesetzt zu werden
und damit höchst unterschiedliche Inhalte in oich aufzunehmen. Die relative Ein-
deutigkeit des im wesentlichen von einer Quelle, nämlich der gemeinrechtlichen
Wissenschaft, geprägten Eigentumsbegriffs hatte mit der bürgerlichen Revolution
ihr Ende gefunden. Bei Fortdauer des Meinungspluralismus kam es nicht mehr zu
einer einheitlichen Eigentumsvorstellung.

286 44. Sitzung, 25. Sept. 1849; Sten.Ber. Preuß. Landtag, Bd. 2 (1849), 840. Folgerichtig

war daher die Kritik FERDINAND LASSALLES an der Entschädigung für die Aufhebung poli-
tisch als unhaltbar angesehener Positionen: Der letzte und wahre Sinn jenes Entschä<ligungs-
anspruches ist ... kein anderer als der, daß es überhaupt kein öffentliches Recht gibt, sondern
rl,aß alles öffentZiche Recht nur das l'rivateigentum einer besitzenden Klasse ist, von welclter
jp,dp, lilrlm1.bni.~ zur Fortentwickefang i•om St.a.a,te. ln.~f1P.ka11,ft werden muß;" Die Theorie der
erworbenen Rechte und der Collision der Gesetze (1861 ), Ges. Red. u. Sehr., Bd. 9 (1920), 376.
287 K. S. ZACHARIÄ, Kampf des Grundeigenthumes (s. Anm. 45), {i ff. 36 ff.; ADOLPH

S.AMTER, Das Eigentum in seiner sozialen Bedeutung (Jena 1879), 211 sprach vom Untergang·
des mittelalterlichen Eigentums im Gefolge der Französischen Revolution.

103
Eigentum IV. 1. Liberale Eigentumslehre und soziale Wirklichkeit

IV. Sozialgedanke und Sozialismus

1. Liberale Eigentumslehre und soziale Wirklichkeit

Freilich ist nicht die Eigentumsidee der Restauration die bis heute dauerhafte
Alternative zur liberalen Eigentumsdoktrin geworden. Um die Mitte des 19. Jahr-
hunderts trat eine aus dem sozialen Gedanken heraus geschöpfte Gegenposition
in das allgemeine Bewußtsein, freilich in zwei wesensverschiedenen Varianten:
die eine bejahte generell das Individualeigentum und wollte nur seinen Inhalt neu
bestimmen (Gedanke der sozialen Bindung des Eigentums) ; die andere hingegen,
der Sozialismus, versah das Eigentum, so wie es bisher bestand und begriffen wurde,
mit einem negativen Akzent, so daß eine kompromißartige Annäherung an die
liberale Eigentumsvorstellung ausgeschlossen erschien. Beiden Auffassungen war
die Kritik an der liberalen Eigentumsdoktrin, die wesentlich auch als Begriffskritik
betrieben wurde, gemein.
Antrieb der neuen Eigentumslehren, die - wie die liberale - sich als Konsequenz
aus Sozialmodellen erp;aben, waren die sozialen Unerträglichkeitfm, WAlr.hA die
Industrielle Revolution hervorgebracht hatte und die durch die Eigentumsauf-
fassung des Liberali1:1mus juristisch perpetuiert zu werden drohten. Dabei ist nicht
zu verkennen, daß die Eigentumslehre des Liberalismus unter den neuen sozialen
Voraussetzungen eine neue Tragweite erhielt, die von ihren frühliberalen Vätern
wohl nicht gewollt war. Die Idee vom absoluten, unantastbaren Eigentum trug in
sich ein stark konservatives Element: es schützte die Besitzenden. Der politische
Liberalismus hatte jedoch damit vielfach ein eudämonistisch-progressives Programm
verbunden; es galt, eine Nation von Eigentümern zu schaffen, das „absolute"
Rigentttm sollte nicht wenigen, sondern möglichst vielen zukommen. Es muß - bei
gleichbleibender Begriffsbildung - als eine entscheidende Veränderung der libera-
len Eigentumsidee verstanden werden, wenn in dem Augenblick, da sich das
Programm der Eigentumsstreuung als illusionär erwies, die gleiche Eigentums-
konzeption auf den Besitz der Großunternehmer angewendet wurde, wie es bei den
Theoretikern des Kapitalismus im 19. Jahrhundert geschah. Daß die liberale
Eigentumslehre nicht ursprünglich für die industrielle Welt konzipiert war, läßt
sich am vorgestellten Eigentümertyp ablesen. Der Frühliberalismus orientierte
sich am idealisierten Bild des mittleren Grundeigentümers, der verständig und ver-
antwortlich das Seine verwaltete und so die Sachgüter durch seine Tätigkeit mit
sich verband. Wie anders mußte sich die Theorie von der persönlichkeitsrechtlichen
Verankerung, von rler HAiliglrnit und Unantastbarkeit des Eigentums 11uanchmcn,
als andere Eigentümertypen in das Blickfeld gerieten: die Kapitalgesellschaft als
fingierte Rechtsperson auf der einen, der Aktionär auf der anderen Seite, dessen
„Herrschaft" in der Innehabung einer Urkunde („Papiereigentum") und in der
Empfangnahme des ausgeschütteten Gewinnes bestand 20 8 • Das Eigentum als
„Persönlichkeitsrecht" entbehrt hier jeglicher Realität. Um so verwundbarer mußte
die liberale Eigentumslehre erscheinen,

2os Zur rechtlichen Deutung dieses Vorgangs vgl. GEORGES RIPERT, Aspects juridiques du
capitalisme moderne (Paris 1946), 135 ff., der im Papiereigentum eine neue Eigentumsform
sieht, die nicht einmal mehr an das Eigentum an beweglichen Sachen erinnert.

104
IV. 2. SoziaJhindung des Eigentums Eigentum

2. Der Gedanke der Sozialbindung des Eigentums

Der Gedanke der Sozialbindung des Eigentums und der sozialen Verpflichtung des
Eigentümers wurde um die Mitte des Jahrhunderts von sehr unterschiedlichen
theoretischen Fundamenten aus vorgetragen. Wir finden ihn bei Sozialisten, die
dem Individualeigentum an Produktionsmitteln unter allen Umständen feindlich
gegenüberstanden, den sog. Kathedcrsozialisten (z. B. Wagner, Schmoller) ebenso
wie'bei Autoren, die auf der Grundlage des Liberalismus standen. Die Begründungen
stammten sowohl aus dem Bereich der Staats- und Gesellschaftslehre wie aus dem
der Wirtschaftswissenschaften und der Theologie. Für die Verbreitung der sozialen
Anschauung des Eigentums ist es insbesondere von Bedeutung gewesen, daß auch
im Bereich der Kirchen die soziale Frage erkannt und eine von theologischen Grund-
lagen her bestimmte Eigentumslehre verbreitet wurde, wonach die Position des
Eigentümers primär als Verpflichtung gegenüber Gott und den Mitmenschen ge-
kennzeichnet war 209 • Der rechtstheoretisch entscheidende Vorstoß wurde indes von
einer bestimmten Ausprägung der Legaltheorie aus geführt.
Legaltheorie und liberale Eigentumsdoktrin schlossen sich, wie wir gesehen haben,
an sich nicht aus. GROTIUS und andere Naturrechtler, die das Eigentum durch einen
mindestens stillschweigend geschlossenen Vertrag entstehen ließen 210 , also durch
einen Akt der Vergesellschaftung, standen der Legaltheorie zumindest nahe,
MoNTESQUIEU vertrat sie expressis verbis?.11. Die so gestaltete Legaltheorie war der
Vorstellung von der prinzipiellen Freiheit des Individualeigentums nicht zu-
wider. Es lag ihr nämlich die Vorstellung zugrunde, der Gesellschaftsvertrag werde
gerade. zu dem Zwecke geschlossen, die bisher tatsächliche Habe (Besitz) zu einer
rechtlichen (Eigentum) zu machen, dem Individualbesitz also den Schutz der Ge-
meinschaft zu siohern 212 •
Die sich vom liberalen Eigentumsbegriff absetzenden „sozialen" Eigentumslehren
deuteten die Legaltheorie indes anders. Danach schuf erst der Staat das Individual-
eigentum in dem Sinne, daß Inhalt und Umfang allein dem staatlichen Gesetz
zu entnehmen waren. Das staatliche Gesetz erzeugte nicht nur allgemein die recht-
liche Institution „Eigentum", sondern bestimmte konkret und variabel ihren Inhalt.
Von nachhaltigem Eindruck sind dabei die Anschauungen FrnHTES (1800) gewesen.
Nach Fichte entstand das Eigentum durch den Vertrag aller mit allen 213 ; er hätte
an sich gegen die Formulierung, der Staat habe nichts mehr zu tun, als jeden in
seinen persönlichen Rechten und seinem Eigentum zu schützen, nichts einzu-

209 Zur Neubelebung der lutherischen Eigentumsethik und der scholastischen Eigentums-

lehre vgl. KüBLER „Eigentum verpflichtet" (s. Anm. 35), 241 ff. mit weiterer Literatur.
210 GROTIUS, De iure belli 2, 2, 2, 5: Simul discimus quomodo res in proprietatem iverint:

non animi actu solo . . . sed pacto quodam aut expresso, ut per divisionem, aut tacito, ut per
occupationem: simulatque enim communio displicuit, nec instituta est divisio, censeri debet
inter omnes convenisse, ut quod quisque occupasset id proprium haberet. Vgl. PUFENDORF,
De iure nat. 4, 4, 4. Auch bei KANT war der Erwerb im Naturzustand nur provisorisch, er
berechtigte iure zur Notwehr, bestand aber nicht de iure; Metaphysik der Sitten, Rechts-
lehre, § 6. 8. 9. AA Bd. 6, 249 ff.
211 MONTESQUIEU, Esprit des lois 26, 15.
212 GROTIUS, De iure belli 2, 2, 2, 5.
213 FICHTE, Der geschloßne Handelsstaat (1800), SW Bd. 3 (1845), 402.

105
Eigentum IV. 2 .. Sorüalbindung des Eigentums

wenden, wenn m,an nur nicht oft in der Stille vorauszusetzen schiene, daß unabhiingig
vom Staate ein Eigentum stattfinde, daß dieser nur auf den Zustand des Besitzes, in
welchem er seine Bürger antreffe, zu sehen, nach dem Rechtsgrunde der Erwerbung
aber nichts zu fragen habe. Im Gegensatze gegen diese Meinung würde ich sagen: es sei
die Bestimmung des Staats, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum erst
einzusetzen, und .~odann erst, ihn dabei zu schützen 214•
Für die These, daß erst die konkrete Gesellschaft oder der konkrete Staat das
Eigentum schaffe, war die vordringende Erkenntnis von der geschichtlichen
Variabilität des Eigentums von großer Bedeutung. Die Naturrechtler hatten maxi-
mal zwei Entwicklungsstufen des Eigentums gekannt, vor und nach der Vergesell-
schaftung. Gerade die Grundentlastung aber und der wachsende historische Sinn
ließen die Ei.müehL 1·1:üfen, uaß schon die Geschichte des europäischen Kulturraumes.
eine Mehrzahl von Eigentumsformen hervorgebracht habe. Demgemäß galt das
Eigentum als eine politisr.;he Schöpfung. Es ist der vielfachsten Modifikationen fähig
(BÜHLAU 1836) 215, es ist eine geschichtliche Erscheinung verschieden nach Zeiten
und Völkern (KNIES 1853) 216 ; der Eigentumsbegriff ist nur ein Refiex, das Erzeugnis
der ßtuuti;- wnd G~elli;clw,fti;z'Ulitärul,e, 'uruJ, mit .d'iesen natwrgemtiß einer bestandigen
Änderung unterworfen (LIEBKNECHT 1870) 217 . Damit war eine Position geschaffen,
von der aus der liberale Eigentumsbegriff angreifbar war: vergebens wurde er aus
einem Urrechte der Vernunft als zeitlos gültig (aprioristisch, wie WAGNER sagte)21S
hergeleitet, er war konkrete Schöpfung einer bestimmten Gesellschaft und konnte
daher von einem neuen Eigentumsbegriff abgelö11t werden219•
Die Kritik am liberalen Eigentumsbegriff betraf vornehmlich die behauptete Un-
beschränktheit des Eigentums und - damit zusammenhängend-'-- seine Unantast-
barkeit durch staatliche Maßnahmen, die eine Sozialreform rechtlich unmöglich
gemacht hätte. Dabei standen insbesondere die Eigentumsdefinitionen mancher
Vertreter der Pandoktfotilr im Mittelpunkt dor Angriffe. Insbesondere am „ius
abutendi" des Eigentümers entzündete sich der Widerspruch, Der liberale Eigen-
tumsbegriff wurde daher als unsozial (V. MAYER 1871) 220, als gesellschaftswidrig
(WAGNER) 221 empfunden. Weniger im Sinne einer Kritik als einer Schilderung eines
dem Untergang geweihten Systems behaupteten MARX und ENGELS (1845/46), das

21' Ebd., Dd. 3, 399.


215 FRIEDRICH BüLAu, Die Eigenthums-Stürmer, Der National-Oekonom 3, H. 2 (1836),
246. Deutlich ist diese Erkenntnis bereits .bei den Saint-Simonisten formuliert (Eigentum
als veränderliche, gesellschaftliche Tatsache); Text in: Der Frühsozialismus, hg. v. THILo
RAMM, 2. Aufl. (Stuttgart 1968), 132. 144. Ähnlich ETIENNE CABET; s. TmLO RAMM, Die
groß11n Rmr.ia.liRt11n 11,lR R,P.11htR- 11nil St.11.at.RphiloRophen, Bd. l (Stuttgart 1955), 4.71.
216 KARL KNIES, Die politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpuncte, 2. Aufl.

(Braunschweig 1883; Ndr. Osnabrück 1964), 180.


217 WILHELM LIEBKNECHT, Zur Grund- und Bodenfrage (1870; 2. Aufl. Leipzig 1876), 7.
218 ADOLPH WAGNER, Grundlegung der politischen Oekonomie, Bd. 2: Volkswirtschaft

und Recht, 3. Aufl. (Leipzig 1894), 9. 13. 35. 207 f. u. ö.


219 Nach BüLAU, Eigenthums-Stürmer, 247 konnte die erwünschte Änderung der Eigen-

tumsverhältnisse schwerlich lange ohne Veränderung des Eigentumsrechts bleiben.


220 VALENTIN MAYER, Das Eigentum nach den verschiedenen Weltanschauungen.(Frei-

burg 1871), 35.


221 WAGNER, Polit. Ökonomie, 12.

106
IV. 2. Sozialbindung des Eigentums Eigentum

reine Privateigentum habe allen Schein des Gemeinwesens abgestreift und alle Ein-
wirkung des Staats auf die Entwicklung des Eigentums ausgeschlossen 222 • In den
Auseinandersetzung mit der romanistischen Schule machten sich die Germanisten
diese Tendenzen zunutze und suchten, ein nichtrömisches, nicht absolutes, vielmehr
genuin deutsch-soziales Eigentum zu erweisen 223 •
Soweit die antiliberalen Theoretiker ein Individualeigentum als Institution zu-
ließen, erhielt es seine Struktur primär nicht vom Freiheitsraum der Persönlichkeit,
s~ndern von den Interessen und Bedürfnissen der Gesellschaft her; Eigentum war
die rechtliche Habe von Gütern, die das Gesetz in einer der Gemeinschaft zuträg-
lichen Weise dem einzelnen zuteilte; es war nicht prinzipiell schrankenlos, sondern
beschränkt, die Schranken gehörten zu seinem Wesen. So heißt es bei WAGNER:
Die Frage ist nicht, welches sind die „natürlichen" Freiheitsrechte des Individuums
und welche Gestaltung des Eigentums- und Vertragsrechts, sowie des ganzen Ver-
mögensrechts fordert das als absolut gedachte Individuum, und danach erst, welche
Rechte stehen der „Gesellschaft", dem einzelnen und seinem Eigentum gegenüber zu?
Sondern umgekehrt: welches sind die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammen-
lebens ... Wü~ m·uß dulw•r J1ie Frn·ilw·itsspltii11·e des Ind·foid·uums, das Vennögensrecht,
die Eigentums- und Vertragsordnung mit Rücksicht auf jene· vor allem ( ! ) zu erfüllenden
Bedingungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens geregelt
werden? 224 Die massivste Kritik der Definition des Eigentums als der im Prinzip
unbeschränkten Verfügungsgewalt findet sich bei dem Juristen !HERING: Es ist
also nicht wahr, daß das Eigentum seiner „Idee" nach die absolitte Verfügwngsgewalt
in sich schlösse. Ein Eigentum in solcher Gestalt kann die Gesellschaft nicht dulden
und hat sie nie geduldet - die „Idee" des E1'.gentums kann nichts mit .~ir:h hri:ngwn, 111rM
mit der „Idee der Gesellschaft" in Widerspruch steht 225• SAMTER (1879) versuchte
folgenden Kompromiß: An sich hat der Eigentüiner über sein Eigentum unbeschränkte
Verfügung - aber diese erstreckt sich nur so weit, als kein gesellschaftliches Interesse
verletzt wird, und wird durch dieses eingeengt und bestimmt 226 • Das Maß der Bewer-
tung von Individual- und Gemeininteressen war bei den Autoren unterschiedlich.
Eine Auffassung war ihnen jedoch gemein: die soziale Gebundenheit des Eigentums
gehörte zu seinem Wesen, das Eigentum war nicht nur subjektives Recht, sondern
begründete ein Pflichtenvei·hälL.u..is zur Gemeinschaft.
Daß damit ein neuer Eigentumsbegriff gebildet sei, trat bald ins Bewußtsein. Dem
absoluten, abstrakten Eigentum trat gegenüber das Eigentum mit einem durch und
durch allgeineinen und sozialen Charakter (V. MAYER) 227 , eine gesellschaftliche
Eigentumstheorie (IHERING) 228 • Die Sozialbindung des Eigentums erhielt auch hier
ihren schärfsten Ausdruck in der Möglichkeit der Enteignung. Die Enteignung
wurde abe.r nicht als - an sich syst.Amwiflrigf1R - NotrP.r.ht Of1R Rfaa.teR angesehen,

222 KARL MARx/FRIEDRICH ENGELS, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW Bd. 3 (1958),
62.
223 0. v. GIERKE, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (Berlin 1889), 13 ff.
22 4WAGNER, Polit. Ökonomie, 12.
226 RunoLF !HERING, Der Zweck im Recht, Bd. 1 (1877; 2. Auß. Leipzig 1884), 523;

vgl. ebd., 512 ff.


220 SAMTER, Eigentum (s. Anm. 207), 27.
221 MAYER, Eigentum, 35.
22s !HERING, Zweck im Recht, Bd. 1, 527.

107
Eigentum IV. 2. Sozialbindung des Eigentums

sie bildete kein Ausnahmeprinzip, sondern enthielt ein allgemeines Rechtsprinzip


für die gesamte Privateigentumsordnung (WAGNER) 229 • Ihering schreibt: Die Be-
deutung der Expropriation wird meines Erachtens völlig verkannt, wenn man in ihr
einen Eingriff in das Eigentum, eine Abnormität erblickt, die mit der „Idee" desselben
in Widerspruch stehe 230 • Da es der Staat sei, der das Eigentum erst schaffe und zu-
teile, könne von einer Unverletzlichkeit des Eigentums gegen den Staat nicht die
Rede sein. Für V. MAYER, welcher einer organischen Staatslehre mit der Vorstellung
höchster Staatsmacht anhing, war die Verfügung des Staates über Privatrechte
kein Problem: es ist ganz unmöglich, dem modernen Staat (bei Verwirklichung des
Gemeinwohls) irgend eine äußere Schranke zu setzen 231 •
Gehörte die ihrer Rechtsgrundlage nach dem öffentlichen Recht angehörige. Ent-
eignungsbefugnis des Staates wesensmäßig zum Eigentumsbegriff, so ließ sich die
rein privatrechtliche Deutung des Eigentums nicht mehr halten. Auch dem Eigen-
tum der Bürger wohnte ein öffentliches Moment (V. MAYER) 232 inne, es mußte als
großes Rechtsinstitut des Verkehrsrechts notwendig mit un!er den öffentlich-rechtlichen
Gesichtspunkt kommen (WAGNER) 233, das öffentliche Recht muß das Eigentum durch
alle 1Je'ine Stadien begleiten (SAM'l'ER) 26'. Kritisiert wurde letztlich die Aufteilung
des Rechts in gegeneinander abgegrenzte, von divergierenden Wirkprinr.ipi1m h11-
herrschte Sphären des „Privatrechtlichen" (Willensautonomie des Individuums,
Selbstinteresse) und „Öffentlichrechtlichen" (Staatsgewalt, Gemeininteresse) 235 •
Angesichts dieser Aussagen stellt sich die umstrittene Frage, ob die Lehre von der
sozialen Cestalt des Eigentums tatsii.ohlioh, wie viele ihrer Vcrfcclüei· annahmen,
einen neuen Eigentumsbegriff geprägt hat 236 • Zweifel daran ergeben sich aus der
Tatsache, daß auch die liberale Doktrin und die extremsten romanistischen Eigen-
tumsdefinitionen um die Anerkennung von Eigentumsschranken nicht herum-
gekommen waren: in der Anerkennung der nachbarrechtlichen Beschränkungen,
des st11atliehen Beoteuerungsrcehts und nicht zuletzt der Enteignungsbefugnis war
das deutlich zum Ausdruck gelangt. Selten fehlte auch bei liberalen Autoren der
Hinweis, daß die Schrankenlosigkeit des Eigentums nur im Rahmen der Gesetze
bestehe. Der Grundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums konnte ohne Schwie-
rigkeit in diesen Gesetzesvorbehalt eingebracht werden. Zwischen der Definition
des Eigentums als unbeschränkte Sachherrschaft, soweit nicht Rechte anderer und

229 WAGNER, Polit. Ökonomie, 537.


230 IHERING, Zweck im Recht, Bd. 1, 536; ähnlich HERMANN RESLER. Das sociale Ver-
waltungsrecht (Erlangen 1872), 463: Das Enteignungsrecht ist eine notwendige Verzweigung
der sozialen Rechtsgestalt des Eigentums.
231 M AYF.ll., F.ig11nt.11m, 70.
232 Ebd., 65.
233 WAGNER, Polit. Ökonomie, 34.
234 SA111TER, Eigentum, 20.
235 Aus ähnlicher Einstellung heraus hat GIERKE an dem Entwurf zum BGB (1888) die
Scheu vor jeder Berührung des öfjentlichen Rechts kritisiert; Der Entwurf eines bürgerlichen
Gesetzbuches und das deutsche Recht, Jb. f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft
12 (1888), H. 3, 58; H. 4, 133.
236 Übersicht über die Stellungnahmen dazu bei HANS PETER, Wandlungen der Eigentums-

ordnung und der Eigentumslehre seit dem 19. Jahrhundert (jur. Diss. Zürich; Aarau 1949),
6 ff.; zur Lehre Leon Duguits ebd., 129 ff.

108
IV. 3. Der Eigentu:msbegrift' im Sozialismus Eigentum

das Gesetz entgegenstehen, und seiner Bestimmung als höchste, vom Recht (Gesetz)
zugelassene Form rechtlicher Herrschaft über äußere Güter (WAGNER) 237 bestand bei
juristischer Interpretation nur ein Unterschied in der Beweislast: in dem einen Fall
wurde die Schrankenlosigkeit vermutet, in dem anderen nicht. Damit stimmt über-
ein, daß es tatsächlich zu einem Kompromiß zwischen liberaler Eigentumsver-
fassung und dem Sozialgedanken kommen konnte, so in der Weimarer Reichs-
verfassung (Art. 153) und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
(Art. 14), wo das Individualeigentum gemäß liberaler Tradition verfassungsrechtlich
garantiert ist und gleichzeitig seine Inhaltsbestimmung dem staatlichen Gesetz
überantwortet und seine Pflichtenseite hervorgehoben wird. Dieser Sachverhalt
beweist erneut, daß der Eigentumsbegriff in der wissenschaftlich geprägten Rechts-
sprache auch unter dem Einfluß divergierender Soziallehren wesentliche Konstanten
enthalten kann. Erst das den Eigentumsbegriff verwendende Modell einer Eigen-
tumsverfassung oder die Ideologie, die sich des Eigentums annimmt, statten dann
die Elemente des Eigentumsbegriffs mit ungleicher Dynamik aus, so daß die Unter-
schiedlichkeit der erstrebten Eigentumsrealität auf seine Begrifflichkeit zurück-
fällt. In diesem 8inne ist dem .l!]igentum in der 'l'at auch dort, wo der Gedanke der
Sozialbindung in die liberale Doktrin übernommen wurde, ein nf.llrnR Struktur-
element zugewachsen.

3. Der EigentumsbegriJf im Sozialismus

Der Eigentumsbegriff der sozialistischen Lehren im 19. Jahrhundert erscheint


außerordentlich mehrschichtig, nicht nur wegen unterschiedlicher Bedeutungs-
varianten in den vielfältigen Systemen, sondern auch, weil er, ohne daß dies durch-
weg bewußt würde, teils als Zuordnungsbegriff wie bisher, teil1:1 aber all:! Signatur
für bestimmte ökonomisch-gesellschaftliche Strukturen verwendet wurde. Vorder-
gründig gesehen, erzeugte der Sozialismus mit der Forderung nach Kollektivierung
der sachlichen Produktionsmittel einen neuen N ormtypus der Zuordnung und damit
des Eigentums (Kollektiveigentum), der gegenüber den bisherigen Formen ge-
meinschaftlicher Habe ,schon insofern radikal unterschieden war, als der Kreis der
Teilhaber - das sind alle mit den Produktionsmitteln Arbeitenden - feststand.
Außerdem aber erscheint das Eigentum, indem es - teils näher umschrieben als
„Privateigentum", „bürgerliches Eigentum" usw. - einen zu überwindenden
sozialen Zustand kennzeichnete, als negative Größe, die dem Sozialismus insbe-
sondere im Anschluß an die Formel PROUDHONS La propriete c' est le vol237a den Ruf
uer Eige11Luw~fei11ulic1keiL ei111rachte. Das zeigen Verdeutlichungen wie die von
ALBERT ScHÄFFLE: Entgegen allen anderen und weit verbreiteten Ansichten ist noch-
mals zu betonen, daß der Sozialismus weder das Eigentum überhaupt, noch das Privat-
eigentum allgemein ausschließt. Nur an den Mitteln kollektiver Arbeit, nicht an den
Mitteln individueller Verzehrung, soll, ja kann überhaupt Kollektiveigentum statt-

237 WAGNER, Polit. Ökonomie, 271. Es kann daher nicht erßtaunen, daß sich LIEBKNECHT

bei seiner Forderung nach Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden
auf Savigny und John Stuart Mill berufen konnte; LIEBKNECHT, Grund- und Bodenfrage,
153 ff.
237 a Im selben Satz folgt bei PRounE:oN jedoch: la propriete, c' est la liberte; Les confessions

d'un revolutionnaire (Paris 1850), 138.

109
Eigentum IV. 3. Der Eigentumshegrift im Sozialismus

finden2 38 • In der 'l'at hat die sozialistische Verwerfung des Individualeigentums am


Kapital es nicht vermocht, dem Eigentum einen negativen Wertakzent zu ver-
leihen. Ein solcher ist eher dem Besitzbegriff im außerjuristischen Sprachgebrauch
zugewachsen (Grundbesitz, Kapitalbesitz, besitzende Klassen etc.), und zwar wohl
deshalb, weil dem Eigentum in seiner elementarbegrifflichen Anwendung das Element
der Legitimität anhaftet, das dem Besitz als der Beschreibung einer faktischen
Lage abgeht.
Gerade bei MARX zeigt sich, daß das Eigentum - wenn auch unter einer neuen
Sinngebung - einen positiven Stellenwert besaß und sogar eine der liberalen
Doktrin gar nicht unähnliche Verankerung in der menschlichen Personalität er~
fuhr. Hierbei ist freilich die Mehrschichtigkeit des Marxschen Eigentumsbegriffs
zu beachten. Auf der einen Seite erschien das Eigentum oder erschienen die Eigen-
tumsverhältnisse als identisch mit den Produktionsverhältnissen239 • Wegen des
angenommenen Zusammenhangs von Produktion und Verteilung 240 gab das ..liligen-
tum als ökonomisch-deskriptive Größe lediglich die Art und Weise, wie produziert
wurde, oder pauschal die gesellschaftlichen Beziehungen wieder 241 • Aus der Variabili-
tät der Produktionsweisen folgte die Variabilität des Eigentums; die asiatischen,
antiken, feudalen und modern-bürgerlichen Produktionswciscn 242 wa.ren daher gleich-
bedeutend mit unterschiedlichen Eigentumsformen. Von einer solchen l'osition
aus war ein konstant.flr jnriRtiRr.her F.igent11mRhegriff, ilfm Marx r.nm Überbau dAr
jeweiligen Produktionsverhältnisse zählte, abgetan: .Eine Definition des Eigentums
al,q eine,q umabhärigüien Verhältnisses, einer besonderen Kategorie, einer abstrakten
und ewigen Idee geben wollen, kann nir:hü amile.res sein als eine Illitsion der Meta-
physik oder der Jurisprudenz 243 • Der juristische Eigentumsbegriff überhaupt wurde
uninteressant.
Auf der anderen Seite aber sah Marx das Eigentum als eine subjektbezogene Größe,
mithin als Bezeichnung einer Zuordnung, auch wenn diese nach seiner Auffassung
notwendig durch die Gesellschaft vermittelt sein mußte: das Eigentum meint al.~o
ursprünglich nichts als Verhalten des Menschen zu seinen natürlichen Produktions-
bedingungen als ihm gehörigen, als den seinen, als mit seinem eignen Dasein voraus-
gesetzten; Verhalten zu denselben als natürlichen Voraussetzungen seiner selbst, die
sozusagen seinen verlängerten Leib bilden 244 . Obwohl dieser Eigentumsbegriff nur
von der asiatischen, slawisohen, antilccn, germanischen Form ausgesagt wurde, erhielt
er doch durch die Gegenüberstellung zum bürgerlichen Eigentum einen deutlichen
Wertakzent und verlor daher einen Teil seiner Relativität. Denn das modern-
bürgerliche Eigentum konnte dem „ursprünglichen" Eigentum gleichsam als dessen

238 ALBERT SmrÄFFLE, Die Qui.11Let1t1e.11z deti Sozialismus (1874; 2. Aufl. Gotha 1877), oo.
239 Zusammenstellung der Quellen und Interpretation bei ÜTTo-Wn..HELM JAKOBS, Eigen-
tumsbegriff und Eigentumssystem des sowjetischen Rechts (Köln, Graz 1965), 6 ff.
240 Insbesondere KARL M.utx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW

Bd. 13 (1961), 615 ff. 621 ff.


241 M.utx, Brief an Annenkow v. 28. 12. 1846, MEW Bd. 27 (1963), 456.

242 MARX, Zur Kritik der Politisohon Ökonomie, Vorwort, MEW Bd. 13, 9.
243 M.utx, Das Elend der Philosophie (1847), § 4, MEW Bd. 4 (1959), 165.
244 M.utx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie [redaktioneller Titel für die

erstmals 1939 in Moskau herausgegebenen, 1857 entstandenen Manuskripte], (Berlin 1953),


391. 395.

110
. IV. 3j Der Eigentumshegrilf im Sozialismus Eigentum

Störung entgegengesetzt werden: Eigentum erscheint jetzt, auf <Zer Seite des Kapitali-
sten, als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit o<ler ihr Produkt, auf Seite <les Arbeiters,
als Unmöglichkeit, sich sein eigenes Produkt anzueignen 24 5,
In diesem Zusammenhang erhielt der Eigentumsbegriff seinen bestimmenden Platz
im Gesamtsystem: es gab ein „ursprüngliches" Verhältnis des Menschen zu den
Produktionsbedingungen, nämlich zu ihnen als den seinen, die ihn befähigen zu
produzieren, d. h. anzueignen 246 • Dieses Verhältnis sowohl als auch die Aneignung
(Produktion) selbst bildeten das Eigentum. Beim bürgerlichen Eigentum hingegen
fehlte es dem arbeitenden Nichtkapitalisten an jenem Verhältnis zu den Produk-
tionsmitteln, er war daher zur Aneignung unfähig. Damit wurde die Scheidung
zwischen Eigentum und Arbeit247 notwendig, da Arbeit und Aneignung (Eigentum)
auseinanderfallen: Schafft aber die Lohnarbeit, die Arbeit des Proletariers ihm· Ei-
gentum? Keineswegs. Sie schafft das Kapital 248 • Ergebnis des von Marx prognosti-
zierten Geschichtsablaufes mußte daher die Wiederherstellung jenes gestörten
Verhältnisses von Arbeit und Produktionsmitteleigentuni, freilich in neuen Formen,
sem.
Andere sozialistische Theoretiker wie LASSALLE erreichen ähnliche Aussagen, indem
sie - auf Locke und Fichte249 fußend - die Arbeit oder Tätigkeit selbst zum Ob-
jekt des Eigentums machen. Bei Lassalle ist jede Möglichkeit der Willensentfaltung
eines Individuums als Privateigentum verstanden 2 ~ 0 • So wird die absolute Monarchie
dadurch gekennzeichnet, daß der öffentliche Wille einer Nation Eigentum einer
Fa,miUe ist 251 • T.eiheigflrnmha.ft ifit 1fomimfolgfl R1:gent11,m Of\A Hflrrn a.n (lp,r lehen.~­
Tiinglichen Arbeit.~kraft des Leibeigenen 252 • Aber auch nach Aufhebung der Leib-
eigenschaft steht die Arbeitskraft noch nicht im Eigentum des Arbeiters selbst.
In sozialer Hinsicht steht die Welt an der Frage, ... ob die freie Betätigung und
Entwicklung der eigenen Arbeitskraft ausschließliches Privateigentum des Besitzers
von Arbeitssubstrat und Arbeitsvorschuß (Kapital) sein und ob folgeweise dem Unter-
nehmR.r n.l.~ .wilchem . . . m:n Ei(Jentu,m, an fremdem Arbei:t.~wert . . . zu„~tehen .~olle 253,.
Damit war ausgesagt: erst durch die Mitberechtigung an den Produktionsmitteln

245 MARx, Das Kapital, MEW Bd. 23 (1962), 610.


246 MARx, Einleitung (s. Anm. 240), 619: Alle Produktion ist Aneignung der Natur von
seiten des Individuums innerlialb und vermittelst einer bestimmten Gesellscliaftsform. In
diesem Sinn ist es Tautologie zu sagen, daß Eigentum (Aneignen) eine Bedingung der Pro-
duktion sei.
247 MARX, Kapital, MEW Bd. 23, 610.

248 MARx/ENGELS, Kommunistisches Manifest, MEW Bd. 4, 475.

grn FHJH'l'J!J 8eLzLe tla8 er13le w1td wr13p'f'ünyUche E·iyent·wm, de·n G'f'u'ftd ulle13 w1tdenn, ·in e·in
ausschließliches Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit; Der geschloßne Handelsstaat,
Kap. 7, SW Bd. 3, 441.
25 ° FERDINAND LASSALLE, Die Theorie der erworbenen Rechte und der C<'Jllision der

Gesetze, Ges. Red. u. Sehr., Bd. 9 (1920), 393, Anm.: Da der Wille nach allen seinen drei
Momenten als Eigentum erscheint, kann somit unter diesem System alles Mögliche zum Eigen-
tum erhoben werden. Dazu TmLO RAMM, Ferdinand Lassalle als Rechts- und Staats-
philosoph, 2. Aufl. (Meisenheim 1956), 139 ff.
2 51 LASSALLE, Ges. Sehr. u. Red., Bd. 9, 397.
252 Ebd„ 392.

253 Ebd .• 398.

111
Eigentum IV. 3. Der Eigentumsbegriff im Sozialismus

wächst dem Arbeiter das Rigentum an seiner Arbeitskraft und folglich an den
Früchten der Arbeit zu.
Der so verwendete Eigentumsbegriff stellt eine ökonomisch-soziale Größe dar,
welcher jeglicher Bezug zu einer rechtlichen Ausformung fehlt, um die es Marx am
allerwenigsten ging. Freilich war es unvermeidlich, daß metajuridische Eigentums-
modelle, dort wo sie auf Verwirklichung drängten, zwangsläufig auf den vorgefun-
denen juristischen Eigentumsbegriff einwirken oder ihn ersetzen mußten. Je prag-
matischer- das Ziel ist, auf das eine Aussage hindrängt, desto mehr lassen sich
Ausstrahlungen des ökonomischen Eigentumsbegriffs auf den rechtlichen erkennen.
In der sozialistischen Literatur mußte es zur Differenzierung von Eigentumstypen
kommen, welche die herkömmliche Unterscheidung zwischen Mobiliar- und
lmmobiliareigentum in den Schatten stellte: die Unterscheidung zwischen dem
Eigentum an den Produktionsmitteln und an Konsumgütern - von Marx/Engels
pers/Jnliches Eigentum 254 genannt. Insbesondere „Kathedersozialisten" wie WAGNER
bemühten sich, auch die rechtlichen Strukturen von Gebrauchsvermögen und
Produktivvermögen 255 transparent zu machen. Es läßt sich beispielsweise aus der
Marxschen These, daß das persönliche Eigentum nicht in bürgerliches Eigentum
umschlagen kann 256 , ein Schluß auf die rechtliche Struktur dahin r.iP.hen, daß ihm
nillht eine beliebige Verfügungsgewalt innewohnt; es besteht in zweckgebundener
(Konsum-) Güterhabe, währen<'l <'lie l\ll,pitaleiitflr r.n ms flxtm riommAmi11m im Sinne
der traditionellen Jurisprudenz werden. Auch vom Zuordnungssubjekt her gesehen
bedingte der Sor.iafü1mns flim1 VP.rä.nderung des Jfögentums als Begriff rechtlicher
Zuordnung. Im Mittelpunkt der sozialistischen RigP.ntumslehre stand das - not-
wendig auf das Kapital bezogene - gemeinschaftlü:he Eigentum, Kollektiveigentum,
Gemeineigentum 2 5 7 • _ Der Gedanke der Eigentumsgemeinschaft war zwar an sich
keineswegs neu; auch der romanistisch-liberale Eigentumsbegriff ließ die Teil-
habe mehrerer am Eigentum zu, sei es in Form der Miteigentumsgemeinschaft
(Bruchteilsgemeinschaft) oder in Gestalt der juristischen Person als fingierter
Rechtspersönlichkeit. Diese Gemeinschaftsformen aber waren vom Individual-
eigentum her gedacht, sie stellten sich als SondP.rformen des Individualeigentums
dar: beim „condominium" ist der Miteigentümer weithin unbeschränkter Herr über
seinen Eigentumsanteil, die juristische Person erscheint als künstliche Nachbildung
des Individuums selbst 258 • Für den Sozialismus hingegen mußte das Gemeineigen-
tum ein selbständiger, vom persönlichen Eigentum einzelner gänzlich abgesetzter
Eigentumstyp werden. Das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln wurde hier
auf die gemeinschaftsbezogene (in der juristischen Terminologie würde es heißen;
öffentlich-rechtliche) Struktur des Kapitals selbst gegründet: das Kapital ist ein
genie·insclw,ftl·iclte8 Prud·ukl, e8 ü:1t keine perslJnliche, es ist eine gesellschaftliche Macht

2 54 MARx/ENGELS, Kommunist. Manifest, MEW Bd. 4, 475.


266 WAGNER, Polit. Ökonomie, 200; vgl. SAMTER, Eigentum, 52 f. (Nutzeigentuin-Pro-
duktiveigentuin).
2sa MARx/ENGELs, Kommunist. Manifest, 477.
257 Vgl. ebd., 476; LIEBKNECHT, Grund- und Bodenfrage, 23; ScHÄFFLE, Quintessenz, 56;

WAGNER, Polit. Ökonomie, 196; SAMTER, Eigentum, 15.


2 5 s Scharfsinnig sind diese Probleme behandelt bei SAMTER, Eigentum, 12 ff.

112
V. Ausblick Eigentum

(Marx/Engels) 259 , es werde daher mit Zwangsläufigkeit auf die Gesellschaft über-
gehen260. Die Unterschiedlichkeit des Objekts (Kapital- Konsumgüter) begründet
also den tiefergreifenden Unterschied im Subjekt: gesellschaftliches und irulividuelles
Eigentum (Marx) 261 . Und obwohl das gesellschaftliche Eigentum die Bedingung des
individuellen ist - jedenfalls bei industrieller Produktionsweise'---- und die Wieder-
herstellung des individuellen bezweckt 262 , sind seine Strukturen in keiner Weise
vom individuellen abgeleitet.
Zu verfolgen, wie sich die rechtlichen Ausstrahlungen des ökonomisch-sozialistischen
Eigentumsbegriffs in den sozialistischen Staaten realisiert haben, ist im gegebenen
Rahmen nicht möglich. Den sozialistischen Juristen stellt sich die schwierige Auf-
gabe, einen juristischen Eigentumsbegriff auf der Basis des ökonomischen zu ent-
wickeln263. Freilich zeigt sich auch hier die relative Kontinuität der rechtsfigür-
lichen Eigentumsbestimmung: Wo immer nach sozialistischen Rechten ein Indi-
vidualeigentum zugelassen ist, empfängt es ähnliche Inhaltsbestimmungen wie in
nichtsozialistischen Rechtsordnungen 264.

V. Ausblick
Die Untersuchung hat gezeigt, daß die Veränderlichkeit oder Kontinuität des
Eigentumsbegriffs unterschiedlich beurteilt werden kann, je nachdem, ob man sich
auf die rechtsfigürlichen Zuordnungselemente beschränkt oder die Eigentumsreali-
tii,t, 1mrl rlir. VorRtr.llungr.n voni Rigr.ntum, rl. h. rlir. Morlr.llr. rlr.r Eigr.ntumRvr.rfaR-
sung265 mit einbezieht. Beide Betrachtungsweisen haben ihre Berechtigung, die
r.wr.itr., wr.il Rir. rlir. Mohilifät rlr.R Eier.ntumRhr.eriffR, rlr.r notwr.nrlie an Rr.alifät orlr.r
Wunschrealität orientiert ist, aufweist, die erste, weil sie davor bewahrt, das Be-
harrungsvermögen iunstischer Denkformen zu unterschätzen. lm J:'luralismus der
in der freien Gesellschaft wirksamen Sozialmodelle und Eigentumsbegriffe bleibt
somit der römisch-rechtliche in Verbindung mit dem auch in den Liberalismus

2 59 MARx/ENG ELS, Kommunist. Manifest, 4 75 f.; vgl. ENG ELS, HeITll Eugen Dührings Um-

wälzung der Wissenschaft (1878), MEW Bd. 20 (1962), 260: gesellschaftliche Natur der
modernen Produktivkräfte.
2so Ebd.; :!61 f. :!73.
261 l\lARx, Kapital, MEW Bd. 23, 791.
262 Ebd., dazu ENGELS, Dühring, MEW Bd. 20, 122: Wiederherstellung des individuellen

Eigentums ... auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums.


263 Vgl. die Beiträge des Sammelbands: Das Eigentum im Ostblock (Berlin o. J.), Studien

dcB lnBtitutB für 0Btrccht, Bd. 5; für die Sowjetunion JAKODB, Eigentumßbcgriff (s. Anm.
239), 29 ff.
264 Ebd., 279 die Übersetzung des Art. 58 des Zivilgesetzbuchs der Russischen Sozialisti-

schen Föderativen Sowjetrepublik vom 31. Okt. 1922: Dem Eigentümer gehört innerhalb der
gesetzlichen Grenzen das Recht des Besitzes, der Nutzung und der Verfügung über das Ver-
mögen. •
265 Dazu ARNOLD GEHLEN, Soziologische Aspekte des Eigentumsproblems in der Industrie-

Gesellschaft, in: Eigentum und Eigentümer, Veröffentlichungen der Walter-Raymond-


Stiftung, Bd. 1 (Köln, Opladen 1960), 165 f.; L:UDWIG RAISER, Das Eigentum als Rechts-
begriff in den Rechten West- und Osteuropas, Rabels Zs. f. Ausländisches u. Internationales
Privatrecht 26 (1961), 232.

8-90386/l 113
Eigentum V. Ansblick

übernommenen Gedanken der SoziaJbindung ileR Rigentums ein - wie RAISER


formuliert 266 - „Verständigungsmittel", von dem jedoch in der gesellschafts-
politischen Diskussion deshalb wenig Gebrauch gemacht wird, weil die gesetzten
metajuridischen Eigentumsbegriffe mit sozialer Dynamik befrachtet werden. Der
Eigentumsbegriff erhält, seit er sich immer wieder vom juristischen emanzipiert,
nicht nur eine von einem bestimmten Gesellschaftsmodell her abhängige Bedeutung,
sondern auch eine auf Realisierung dieses Modells hin gerichtete Motorik. Den Be-
ginn in dieser Richtung machte die absolutistische Staatslehre mit der Vorstellung
vom umfassenden dominium des Souveräns. Entscheidend für das Ende eines
iihereim1timm1mil1m F.igAnt.umsbe.griffä wurde jedoch die sozialrelevo.nto Hormchaft
der liberalen Gesellschaftsdoktrin und die Entwicklung der (reaktionären oder
revolutionären) Gegenpositionen. Auch im nationalsozialistischen Gemeim1r.hafö'1-
modell erhielt das Eigentum eine neue, aus heterogenen Elementen gebildete
Gestalt, die auch begrifflich ('Eigen') als etwas Neues empfunden wurde 26 '1•
Von einem einheitlichen Eigentumsbegriff kann heute nicht die Rede sein. Über-
einstimmung besteht allenfalls über die Mobilität des Begriffs. Demgegenüber
bleibt die weitgehende Kontinuität der rechts:figürlichen Konstruktion des Eigen-
tums erhalten, freilich auch dies nur in begrenztem Maße. Die enge Beschränkung
von 'Eigentum' auf körperliche Sachen durch die Pandektistik, die in das BGB
aufgenommen wurde, mußte bei der Interpretation flp,r F.igAntumsgarantie. in der
Verfassung (Art. 14 GG) gänzlich aufgegeben werden, so daß zumindest zwei
EigentwnsLegd.lfe auch in der gegenwärtigen nichtsozialistischen Rechtssprache
vorhanden sind. In der Ebene darüber aber entfalten sich, jeweils in Variationen,
liLerale, isuziale, christliche und sozialistiMhe Eigentumslehren, die auf Verwirk-
lichung in der Rechtsordnung und damit auf Veränderung der Eigentumsgestalt
und des Eigentumsbegriffs drängen26 8 ,

Literatur
HEINRICH ALTRICHTER, Wandlungen des Eigentumsbegriffs und neuere Ausgestaltung des
Eigentumsrechts (Marburg 1930); CoNRAD HERMANN, Die moderne Entwicklung des
Eigentumsbegriffs, Staatslflxikon, ß. Anfl., Bd. 2 (1958), 1062 ff.; OTTO-WILHELM ,JAKO-RB,

266 .l!ibd., 230.


267 Eine zusammenfassende Darstellung liegt außerhalb unserer Aufgabe. Dem national-
sozialistischen Eigentum ist eigentümlich, daß das Element des subjektiven Rechts in
der objektiven Rechtsordnung, die sich konkret als Aufgah1m:r.11w11iR1me ß.n nf\n F.igentü.
mer auswirkt, aufgehoben erscheint.; vgl. die Analyse von FRANZ WIEACKER, Eigentum
und Enteignung (Hamburg 193G), Ci4: Dus E·iyen (su ii:1t das „neue" Eigentum vom alten
terminologisch geschieden) ist nicht subjektives Recht oder eine Summe subjektiver Rechte,
beschränkt durch gesetzliche Normierungen und gesetzliche Eingriffsmöglichkeiten ... Es
ist vielmehr eine im Aufbau der Volksordnung begründete rechtliche Ordnungslage, Ubrigens
in vollem Friedensschutz, die aus sich selbst das Maß und den lnhnlt 11nn. RP.rmhti(/11.n.g 11.nd
Pfiichtbindung ständig erneut hervorbringt, ohne iifi,ß sich überhaupt gesondert Rechtsmacht
und R~c.htspfiicht gegewübBrtret<Jn. Dio Eiguutulllm.mwciaung geschieht notwe11dig unte1·
Zuweisung einer Aufgabe, deren Erfüllung das Eigentum ermöglichen ~oll (50 f.).
268 Eine Übersicht über die in der Gegenwart wirksamen Eigentumsmodelle und -begriffe

gibt GOTTFRIED W. LOCHER, Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie,


2. Aufl. (Zürich, Stuttgart 1962) mit mnfangreicher Literatur.

114
V. Ausblick Eigentum

Eigentumsbegriff und Eigentumssystem des sowjetischen Rechts (Köln, Graz 1965); KARL
LAuTz, Die Entwicklw1gsgeschichte des dominium utile (jur. Diss. Göttingen 1916), 20 ff.;
GOTTFRIED W. LOCHER, Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, 2. Aufl.
(Zürich, Stuttgart 1962) mit umfangreicher Literatur; WALTHER MERK, Das Eigentum im
Wandel der Zeiten (Langensalza 1934); HANS PETER, Wandlungen der Eigentumsordnung
und der Eigentumslehre seit dem 19. Jahrhundert (jur. Diss. Zürich, Aarau 1949); FRANZ
WIEACKER, Wandlungen der Eigentumsverfassung (Hamburg 1935). Zum Begriffswandel
im Nationalsozialismus s. die Literatur bei THEOPHIL BoETTCHER, Das Eigentum im
Dienst der Volks- und Wehrgemeinschaft (Würzburg-Aumühle 1939).

DIETER ScHWAB

Seit Fertig11tellung de11 Manuskl'ipLs im Jahre 1908 1>iml 1J1°1>cliieueu: EigeuLurn uwl Ver-
fassung. Zur Eigentumsdiskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert, hg. v. RuDOLF
VIERHAUS (Göttingen 1972); PAoLo GRoss1, Usus facti. La nazione di proprieta nella
inaugurazione dell'eta nuova, Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico
moderno 1 (1972), 287 ff. ; ders., La proprieta nel sistema privatistico della seconda scola-
stica, in: ders. (Hg.), La seconda scolastica nella formazione del diritto privato moderno
(M11.ila.nd 1973), 117ff. Au~ der angeh1äch11illchen Literatur ist nachzutragom RIOHARD
BuLGER ScHLATTER, Private Property. The History of an ldea (1951); Ndr. N:"ew York
1973); zur Locke-Interpretation CRAWFORD HROUGH MACPHERSON, 'l'he .l:'olitical 'l'heory
of Posimssive lndividualism. Hobbes to Locke (1!:)62; dt. J!'rankfurt 1973), 219ff. Meine
in Anm. 100 herangezogene Arbeit iRt inr.wiR11h1m im Dnrnk 1mmhiAnAn: Die , ..SelhRt.ver-
waltungsidee" des Freilierrn vom Stein und ihre geistigen Grundlagen (Frankfurt 1971),
132 ff.: Eigentum und politische Freilieit.

115
Einheit

1. Einleitung. II. 1. Unitas christiana. 2. Corpus politicum. 3. Unitas generis humani.


4. Wort und Begriff 'Einheit' im deutschen Sprachraum. 5. Die Einheit des Kunstwerks
und der Literatur: Lessing. 6. Der historiographische Aspekt des Einheitsbegriffs: Justus
Möser. 7. Vorbereitung des Begriffs 'Einheit der Nation': Herder. 8. Der Begriff 'Einheit'
in der staatsrechtlichen Diskussion über die Reichsverfassung. 9. Die Napoleonische Zeit.
10. Problem und Begriff 'Einheit' im Vormärz. 11. Die Aktualisierung 1848. 12, Das
Problem der sozialen Einheit und seine begriffliche Widerspiegelung: Lorenz von Stein,
Karl Marx. 13. Der Begriff 'Einheit' in den Jahren der nationalstaatlichen ·Einigung
Deutschlands. III. Ausblick.

1. Einleitung
Der politische Begriff 'Einheit' taucht im deutschen Sprachraum erst im 18. Jahr-
hundert auf. Er tritt dabei, jedenfalls in seiner spezifischen Ausprägung, nicht etwa
an die Stelle eines älteren, ungebräuchlich gewordenen Begriffs, sondern stellt eine
Neuschöpfung dar, in der eine Reihe von Problemen ihren begrifflichen Nieder-
schlag fand, die damals erst als solche bewußt wurden. Ursprünglich im wesent-
lir,hen auf den Bereich formalen Denkens· beschränkt, wurde er schrittweise zu
einem historischen, politischen und sozialen Begriff, indem mau ihn auf die ent-
Rprechenden Zusammenhänge bezog und ihn bewußtseinsmäßig vou ihueu her auf-
füllte. Er enthielt allerdings auch Elemente alter Tradition in sich, die über den
Einschnitt der Revolution hinaus im philosophischen, theologischen und politischen
Denken fortwirkten. LOTHAR GALL

II.

1. Unitas christiana
Der christliche Einheitsbegriff des Mittelalters ging weit über das antike concordia-
Denkeu hinuu;i. Seine metaphysische Verankerung in der absoluten Einheit Gottes
(vgl. J oh. 17, 21: ut omnes unum sint, sicut tu pater in me, et ego in te, ut et ipsi in
nobis unum sint) führte in der scholastischen Transzendentalphilosophie 1 zur Gleich-
setzung von „Sein" und „Einssein" 2 • Die Einheit des Menschengeschlechts als der
Gemeinschaft der Gläubigen, wobei die Ungläubigen als Gläubige „in potentia"
mit eingeschlossen wurden 3 , kristallisierte sich unter Heranziehung der aus der
antiken Philosophie gespeisten Organismusanalogie in dem Begriff des „corpus

1 Vgl. dazu im einzelnen FRANZ M. SLADECZEK, Die spekulative Auffassung vom Wesen

der Einheit in ihrer Auswirkung auf Philosophie und Theologie (mit besonderer Berück-
sichtigung der aristotelischen Auffassung), Scholastik 25 (1950), 361 ff.
2 Ens et unum convertuntur, THOMAS VON AQUIN, Summa theologica 1, qu. 6, art. 3, ad 1;

1, qu. 11, art. 3, ad 2 unter Berufung auf AmsTO'l'Ti1T(l11S, Mnt.n.phyRik 101\!} b.


3 THOMAS VON AQUIN, S. th. 3, qu. 8, art. 3: Si,c igitur membra corporis mystici non solum

accipiuntur secundum quod sunt in actu sed etiam secundum quod sunt in potentia; vgl. ERic
VoEGELIN, The Growth of the Race Idea, Rev. of Politics 2 (1940); vgl. in diesem Zusam-
menhang auch die christlich-theologische Interpretation der politischen Einheit des römi-

117
Einheit D. 2. Corpus politicum

mysticum Christi" 4 • Er ermöglichte es dem Mittelalter, die tatsächlich vorhandene


völkische und sl,ändische Vielfalt zu rechtfertigen, da sie in einer ideellen Einheit
aufgehoben war.
So baute schon IsrnoR VON SEVILLA die Pluralität der christlichen Völker als gleich-
berechtigte Glieder am Leibe Christi in sein Weltbild ein 5 . Auf diese Einheitsidee
beriefen sich die Verfechter der „nationalstaatlichen" Unabhängigkeit in ihrem
Kampf gegen den Suprematsanspruch der universalen Mächte des Imperiums und
des Papsttums. Die Theoretiker des universalen Kaiserl,urns dagegen machten die
Notwendigkeit einer einheitlichen weltlichen Leitung der Christenheit ·geltend, so
u. a. noch DANTE ALIGHIERI 6 • Die Kurialisten wiederum sahen <lie Einheit nur
gewährleistet in der Anerkennung des Papstes als einzigem Haupt der Christenheit 7 •
So war die organisch konzipierte „unitas christiana" ständig gefährdet durch den
Dualismus von sacerdotium und imperium. Mit dem Zusammenbrechen dieser mtl-
versalen Mächte im 13. Jahrhundert verlagerte sich die Idee der organischen Einheit
auf die Ebene des Einzelstaates. Die Idee einer (katholischen) Weltmonarchie
lebte noch einmal für kurze Zeit im Spanien Karls V. auf; HERNANDO DE Acu:NA
proklamierte in seinem Sonett „Al Rey nuestro Senor" das Hochziel un Monarca,
11m, Trn.pp,r1:0, y u.n.a. Espada. als unmittelbare Erwartung !loinoo Zcitaltcrs 8 • An der
Idee der „unitas ecclesiae" wurde im späten Mittelalter9 und nach der Glaubens-
spaltung festgehalten.

2. Corpus politicum

An die Stelle der sacerdotium und imperium gleichermaßen überwölbenden „respu-


blica christiana" trat als Verkörperung der Einheit der vom thomistischen Aristo-
telismus ausgehende, naturrechtlich begründete neue Begriff des „corpus politi-
oum", dor durch den Zusatz „mysticum" in rarallele zum Kirchenbegriff gesetzt
wurde 10 . Zur Organismusanalogie gehörte die Forderung nach einer einheitlichen

sehen Weltreichs als Vorbereitung der Einheit des Glaubens (ut his m<Xlis unitis unitas
mrmne.ndaretur fidei) bei ÜTTO VON FREIRTNfl, Chronico. sivc historia de duabus civitatibus
(Ausg; Darmstadt 1960), 210.
4 PAULUS in 1. Kor. 12, 4 ff.; Eph. 1, 22f.; vgl. GERD HEINZ MoHR, Unitas christiana.

Studien zur Gesellschaftsidee des Nikolaus von Kues (Trier 1958).


5 IsrnoR VON SEVILLA, Sententiae 3, 49, 5: Membra quippe Christi fideles sunt 'JIOpuli,

MIGNE, Patr. Lat., t. 83 (1862), 721.


6 DANTE ALlGHIERI, De monarchia (1313), 1, 8: Ergo humanum genus uni principi subiacens

maxime Deo assimilatur. .


7 Vgl. die Bulle „Unam Sanctam" (Papst BoNIFATIUS VII.; 18.11. 1302): unum caput, non

duo capita quq,si monstrum, Christi scilicet et Christi vicarius Petrus Petrique successor,
Quellen zur Geschichte des Papsttumes und des römischen Katholizismus, hg. v. CARL
MntBT, 3. Aufl. (Tübingen 1911), 163.
8 Vgl. RUDOLF GROSSMANN, Gedichte der Spanier, Bd. 1 (Leipzig 1947), 222 f.

9 Vgl. AUGUST LEIDL, Die Einheit der Kirche auf den· spätmittelalterlichen Konzilien

(Paderborn 1966).
°
1 FRANCISCO SURAEZ, De legibus 3, 11, 7: Potestas condendi leges non est in singulis

hominibus per se spectatis nec in multitudine hominum aggregata solum per accidens; sed est
in communitate ut moraliter unita et ordinata ad componendum unum corpus mysticum.

118
II. 2. Corpus politicum Einheit

Staatsgewalt („unum caput in uno corpore"), die sich- zwar nicht notwendig, aber
am besten - im „princeps" verkörpern sollte. Vor allem in Frankreich bildete sich
unter dem Eindruck der Verwüstungen, die der konfessionelle Bürgerkrieg aus-
löste, bei der Gruppe der sogenannten „Politiques" das Bewußtsein von dem Vor-
rang der „staatlichen" Einheit vor der religiösen, da nur die erstere, realisiert in
einem starken König, der den Frieden gebieten konnte, die Fran7.0sen vor der
völligen Selbstzerfleischung zu retten vermöge 11 • Die Unterwerfung unter den
Befehl des Königs als Statthalter der göttlichen Gerechtigkeit12 , und zwar ohne
Ansehen der Person (wie GuY CoQILLE in seinem „Dialogue sur les causes et les
miseres de la France" von 15!)0 unter Berufung auf die Gleichheit aller Menschen
vor Gott forderte), stellte die einzige Garantie dar für die Erhaltung des corps
universel de l'estat, dem sich die Privatinteressen untenmordnen hahen 13 . Die
Monarchie als Hort der Einheit wurde bei BomN (1576) spekulativ untermauert:
neantmoins elles (seil.: les Republiques Aristocratiques et populaires) ne sont point
unies ni liees si bien que s'il y avoit un Prince, qui est comme l'intellect; qui unit toutes
les parties 14 - insofern nämlich l'intellect tient lieu d'unite estant indivisible, pur
et simple1 6 • Diese Stellung des Monarchen, la majeste duquel ne souffre non plus
division, que l'unite qui n'est point nombre, ni au rang. des nombres - wie Bodin an
derselben Stelle16 mit einem andern Bilde sagt - setzte den Ausschluß einer kolle-
gialen Regierung un<l <lie Anerkennnng <les Rtrikten Senioratssystems in der Erb-
folge voraus, die allein eine Zerstückelung des Staates verhindern kann, finde tenir a
l'union de ce royaume indivisible 17 •
Daß der staatliche Einheitsgedanke nicht notwendig allein monarchisch begriffen
werden mußte, war in den politischen Theorien des 17. Jahrhunderts geläufig.
PuFENDORF z. B. stellte fest: Voluntas civitatis exserit sese vel per unam personam
simplicem vel per unum concilium, prout in illam aut hoc summa rerum fuit collata18 .
RoussEAU sah die Einheit des 8taates durch die ltivalität zwischen geistlicher und
politischer Macht bedroht. Das Auftreten des christlichen „geistlichen Königtums"
separant le sisteme tMologique du sisteme politique, fit que l' Etat cessa d' etre un; das
einzige Heilmittel dagegen sei, wie schon Hob bes gesehen habe, de reunir les deux
a
tetes de l' aigle, et de tout ramener l' unite politique, sans laquelle jamais Etat ni Gou-
vernement ne sera bien constitue; selbst ein nationales Staatskirchentum im Sinne
der englischen Hochkirche und des russischen Cäsaro-Papismus schien ihm die

11 Vgl. MrcHEL HuRAULT DE L'HosPITAL, Excellent et libre discours sur l'estat present
de Ja France (o. 0. 1588), zit. Panthe.on lit.t.f.lra.ire. Lit.Mrn.t.ure fr11.n'.'11,iRe. HiRtflim. f!hniY cle
chroniques et memoires sur l'histoire de France. XVI0 siecle (Paris 1838), 606. 620: Qu'un
roy se tienne dedans sa force et qu'il dise en roy: Je veux la paix, vous verrez que le plus
hardi'de tous ses partisans n'y oseroit contredire ... Donne luy la paix (seil. au corps de ton
Estat). Gar c'est le seul moyen de garder ton royaume.
12 Vgl. ANTOINE LoISEL, La Guyenne (Paris 1605), 300: ainsi obeirons a
l'ordonnance
divine.
13 Vgl. ebd., 302 f.

H BODIN, Six livres de la republique 6, 6 (1583; Ndr. Aalen 1961), 1057.


15 Ebd.
16 Ebd„ 1056.

17 Ebd. 6, 5 (S. 998).


18 SAMUEL PuFENDORF, De jure naturae et gentium 7, 2, 14.

119
Einheit II. 3. Unitas generis humani

verhängnisvolle Zweigleisigkeit der Macht nicht zu beseitigen19 • Erst der Verlauf


der Französischen Revolution führte zur Proklamation einer französischen „repu-
blique une et indivisible", die das einheitsstaatliche Prinzip zu ihrer Sache machte;
die jakobinische Partei lehnte Tendenzen zum gewaltenteiligen und föderalistischen
Staatsaufbau als eine Bedrohung der Einheit und damit der Freiheit ab. ROBES-
PIERRE stellte im Konvent am 18. 6. 1793 fest: Quand la liberte regne, ses plus grands
dangers sont les secousses politiques, or il est impossible qu'une Convention existe en
meme temps qu'un Uorps tegislatif, sans produire ces secousses. Un peuple qui a deux
especes de representants cesse d' etre un peuple unique. Une double representation est le
germe du federalisme et de la gucrrc civile 20 •

3. Unilas generis humani

Mit der Konsolidierung der Glaubensspaltung schwand der letzte Rest der einigen-
den Kraft des universalen Kirchenbegriffs, Verspätet findet sich bei HUGO GROTIUS
(1625) der Appell zum Bündnisabschluß zwischen allen christlichen Staaten, mit
der Begründung cum omnes Christiani unius corporis membra sint quae iubentur alia
alioruiii doloi·es ac mala persent·iscere; als VurLilu eiues sulclleu BUndnisses schwebte
Grotius der alte Verband des Heiligen Römischen Reiches vor 21 • Die Einheit des
Menschengeschlechts erhielt ihre nmrn Verkörperung im Organismus einer den
souveränen Einzelstaaten übergeordneten Menschheit, die das auf dem Naturrecht
beruhende „ius gentium" zur Richtschnur für die Beziehungen ihrer christlichen
und nichtchristlichen Glieder untereinander machte. So konstatierte schon FRANZ
SuAREZ, der Wegbereiter· des Hugo Grotius, Humanum genus quantumvis in varios
populos et regna divisum, semper habet aliquam unitatem non solum specificam sed
etiam quasi politicam et moralem, quam indicat naturale praeceptum mutui amoris et
misericordiae, quod ad omnes extenditur, etiam extraneos et cufuscumque nationis.
Q1ta.propter l1:cet una.quaeqite cii•itas perfecta, respublica, aut regnum, sit in sc commu-
nitas perfecta . . . et suis membris constans, nihilominus quaelibet illarum est etiam
membrum aliqiw modo hufus universi prout ad genus humanum spectat 22 •
Diese corpus-Lehre, die die Vielheit in der Einheit bestehen ließ, wirkte in bezug
auf das nachfolgende marxistische Einheitskonzept, das den übernationalen Mensch-
heitsbegriff nur in der absoluten Einheit der Klasse verwirklicht sieht, ähnlich

19 RoussEAU, Contrat social 4, 8. Oeuvres compl., t. 3 (1964), 462 f.; vgl. 403.
20 MAxrMILIEN DE Romisrrnnmi, Discours (4° partie), Septembre 1792-27 Juillet 1793,
Oeuvres, ed. Marc Bouloiseau u. a., t. 9 (Paris 1958), 578 f. Die Autoren des französischen
18. Jahrhunderts, namentlich der ABBE DE SAINT-PIERRE („Projet de paix perpetuelle")
und RoussEAU (Contrat social 4, 8) dachten vollends der staatlichen Einheitsgewalt die
Rolle zu, die religiöse Einheit zu gewährleisten - notfalls (so Saint-Pierre und Rousseau)
auf der Basis eines Minimal-Credo; MERLE LESTER PERKINS, The Moral and Political
Philosophy of the AbM de Saint-Pierre (Genf, Paris 1959), 64 f. 127 f. Die Idee, die in
Joh. 17, 21 erbetene unitas durch Abbau der Dogmen herbeizuführen, geht auf LOCKE,
A Third Letter for Toleration (1692) zurück.
21 Huoo GRoTius, De iure belli ac pacis (1625), 2, 15, 12. Vgl. dazu allgemein FRIEDRICH

MEINECKE, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (München 1957).
22 SUAREZ, De legibus 2, 19, 9; vgl. HEINRICH RoMMEN, Die Staatslehre des Franz Suarez

(Mönchen-Gladbach 1926).

120
II. 4. 'Einheit' im deutschen Sprachraum Einheit

gemäßigt wi11 oiA VOTI faioor ß.llRgflhflTIOf\ fänh11itsiflee gegenüber dem unitaristischen
Konzept der imperialen und kurialen Theoretik;er. Die Folgezeit zeigte zunächst·
eher größere Skepsis 23 • Der ABBE DE SAINT-PIERRE zog es vor, seinen „Projet de
paix perpetuelle" (1713-1717) auf den Selbsterhaltungstrieb der einmal bestehen-
den Einzelstaaten und auf wirtschaftliche Argumente zu stützen 24 • RoussEAU
stand der Vorstellung des einzelstaatlichen „corpus politicum" mit einig.er Reserve
gegenüber. So schrieb er zum „l'Etat de guerre": La difference de l' art humain a
l'ouvrage de la nature se fait sentir dans ses effets, les citoyens ont beau s'appeler
a
·membres de l'etat, ils ne sauroient s'unir lui comme de vrais membres le sont au corps;
... les nerfs sont moins sensibles, les muscles ont moins de uig1teu.r, ton.~ le8 l1:en.~ .~ont
plus Zaches, le moindre accident peut tout desunir 25 • Er wandte sich vollends gegen
eine chimärische Einheit des „genre humain": Il est certain que te mot de „genre
a
humain" n'offre l'esprit qu'une idee purement collective qui ne suppose aucune union
reelle entre les individus qui le constituent. Wieder tauchte - nun kritisch - die
Vorstellung des sozialen Körpers auf. Wenn es die societe generale gäbe, dann müßte
sie bestimmte Qualifikationen aufweisen, die mehr seien als die Eigenschaften ihrer
Individuen oder die Summe ihrer Teile: langue universelle ... , une sorte de sensorium
oommun, ... lo bion ou lo mal publique, ... fe'licite publique. Doch ist noch in der
Negation die utopische Sehnsucht des Zeitalters unüberhörbar; denn langue uni-
11er.~ellp,, 11pontanes gemeinsames Empfinden der Menschheit, fe'licite publique als
Inbegriff des Glücks des einzelnen, die hier als notwendiger Ausfluß einer Einheit
des l\'lenschengeschlechts zusammengefaßt wurden, gehörten zu den Dlngen, dle
die französische Aufklärung für die Menschheit erträumt 26 •
KRISTA SEGERMANN

4. Wort und Begriff 'Einheit' im deutschen Sprachraum

Die Entwicklung der Einheitsvorstellungen seit dem Ausgang des Mittelalters ver-
lief in doppelter Richtung. Einerseits wurde der von den imperialen und kurialen
Theoretikern in sehr stringenter Weise ausgeformte Einheitsbegriff des Hochmittel-
alters auf den sich ausbildenden Territorialstaat übertragen und erhielt hier - der
politischen Entwicklung entsprechend, zumal in Westeuropa - einen immer anR-
geprägteren Charakter, bis hin zu der Proklamierung der „republique une et
indivisible". Und andererseits lebte die zuerst von Isidor von Sevilla formulierte,
gleichsam föderative Einheitsidee fort, sowohl in den mehr ideellen Einheitskonzep-
tionen einer übergreifenden Einheit des Abendlandes bzw. des Menschengeschlechts,
als auch, unter 11tarker Anlehnung an bündische Vorstellungen, in dem Gedanken
der Einheit in der Vielheit, sei es im innerstaatlichen (sozialen, dann auch religiösen),
sei es im zwischenstaatlichen Bereich. Der Begriff 'Einheit' deckte somit, von
seinem ursprünglichen zentralen Bezugspunkt der Einheit der Christenheit, der
Einheit des Glaubens und der Kirche mehr und mehr abgelöst, immer weitere Vor-
stellungsfelder.

23 RoMMEN, Suarez, 366, Anm. 26.


24 Vgl. PERKINS, Moral and Political Philosophy, 140 f.
25 RoussEAU, Fragments sur Ja guerre, Oeuvres compl. t. 3, 606. Rousseau stellte sich hier

u. a. gegen Lockes Theorien in „Two Treatises of Civil Government" (1690), 8, 96.


26 RoussEAU, Contrat social 1, 2, 1, 1e Version, Oeuvres compl., t. 3, 283 f.

121
Einheit II. 4. 'Einheit' im deutschen Sprachraum

Im Rahmen dieser gesamteuropäischen Entwicklung der "Rinheitsvorstellungen


zeigt die Wortgeschichte des Begriffs 'Einheit' im deutschen Sprachraum eine
besondere, auch für die weitere Begriffsentwicklung charakteristische Akzentset-
zung an. Das lateinische 'unitas' wurde im frühen Mittelalter mit 'einhafti',
'einachheit', im hohen Mittelalter mit 'einechheit' und in der frühen Neuzeit mit
'Einigkeit' wiedergegeben 27 • Während jedoch beispielsweise das französische
'unite' das gesamte Begriffsfeld zu decken vermochte - wobei das Wort freilich
gleichfalls eine deutlicl)...e, wenn auch andere Akzentuierung erfuhr -, war das
deutsche 'Einigkeit' bereits am Ausgang des 16. Jahrhunderts so stark auf die ihrem
Wesen nach Rehr viel lor.kerere. organologisch-korporative Einheitsvorstellung, dio
„Einheit in der Vielheit", die Einheit als „Vereinigung" autonomer Gebilde und
Individualitäten, festgelegt, daß es 'unitas' als formal-logische Denkkategorie im
Sinne der cartesianischen Philosophie, aber auch als „unio :i:nystica", der vollkom-
rueueu Vereiuiguug der Seele mit Gott, nicht mehr adäquat wiederzugeben ver-
mochte.
Um den Sinngehalt dieser beiden Aspekte von 'unitas' eindeutig formulieren zu
können, prägten zuerst JAKOB BÖHME (1575-1624) für die „unio mystica" 28 , ein
Jahrhundert Dpii.tor do,nn LmnNIZ (1646-'-l716f und WoLFF (IG79-17u4) :t.ur
Wiedergabe ihrer philosophischen Einheitsvorstellung das Wort 'Einheit' 29 • Vor
allem letztere haben den Sprachgebrauch des neuen WorteR anfangR 1mt,scheidend
bestimmt. So stand etwa der Artikel „Einheit" bei ZEDLER (1734) ganz unter dem
Einfluß der Leibnizscheu Philosophie. Er spiegelt allerdings zugleich wider, wie der
neue Begriff 'Einheit' Elemente des alten 'Einigkeit' von Anfang an in begrifflich-
abstrakter Form in sich aufzunehmen vermochte. Es wird hier zwischen zweierlei
Einheit unterschieden: Die 'Einheit ... ist zweierlei, nämlich entweder eine wesent-
liche, Unitas per se, oder eine zufällige, Unitas per accidens. Die zufällige Einheit sei
eine zusammengesetzte und damit zertrennliche Einheit - Einheit aber insofern, daß
die mehrern Dinge von unterschiedenem Wesen, durch die in ihrer Erzeugung geschehene
Vereinigung, eine Art oder Speciem eines besonderen Wesens ausmachen. Die einfach
und unzertrennliche Einheit sei dagegen diejenige, die denen mR,taphy.~i.~r:hf'!YI, ningen
eigen ist. Diese metaphysikalischen Dinge als die ersten Grundursachen der Natur ...
können nicht aus andern vorhergehenden zusammengesetzt sein. Sie müssen, heißt es

27 GRIMM Bd. 3 (1862), 198 mit den entsprechenden Belegen. LUTHER etwa gebrauchte

noch durchgängig 'Einigkeit', wobei das Wort allerdings fast immer auf „Einheit" durch
„Vereinigung" zielte. Besonders bezefohmmd hiAr Atwfl, eine Stelle in einer Schrift von 1528,
in der er das Verhältnis Gott-Mensch in bezug auf die Gestalt Christi erörtert. Er spricht
hier von zweyerll'.y i::iwickl!'it, ei.ue1· nat1.lrlichen einickeit und einer personlichen einickeit:
aus der personlichen. einickeit entspringet solche rede, das Gott mensch, und mensch Gott ist.
_Gleichwie aus der natürlichen einickeit ynn der Gottheit entspringet diese rede, das Gott sey
der Vater, Gott sey der son, Gott sey der heilige geist, LUTHER, Vom Abendmahl Christi.
Bekenntnis, WA Bd. 26 (1909), 441.
2s. Vgl. EucKEN (1879; Ndr. 1960), 220.
29 GRIMM Bd. 3, 198; vgl. 11uoh Dt. Enc., Bd. 8 (1783), 74 f. LEmmz ve!'we11deLe daueLe11

auch 'Einigkeit' (EUCKEN, 122 f. 136) und ließ damit sehr deutlich werden, daß es sich bei
dem neuen Wort 'Einheit' nicht um eine sprachliche Weiterentwicklung des alten 'Einig-
keit' handelt, vielmehr 'Einigkeit' nicht mehr ausreichte, um den von ihm gemeinten
spezifiBchen Sinninhalt von 'unitas' wiederzugeben.

122
II. 5. Einheit des Kunstwerks und der Literatur: Lessing Einheit

weiter, notwendig einfach und unzertrennlich und folglich nicht durch Vereinigung
andrer, sondern recht eigentlich per se und durch sich selbst eins sein, welches also der
höchste Grad der E·inhe·it, nürnlü:lt d·ie rnetapltys·ikal·isclw E·inhe·il ist 30 •
Trotz seiner ursprünglichen Beschränkung auf den formallogischen Bereich wurde
das neue Wort rasch aufgegriffen, um Bewußtseinsinhalte, Probleme und Sach-
verhalte sprachlich präzise zu erfassen, die entweder inzwischen gleichfalls am Rande
des Bedeutungsfeldes von 'Einigkeit' lagen 31 oder aber eben erst neu entdeckt wur-
den. An diesem Vorgang einer bewußtseinsmäßigen Auffüllung des neuen Begriffs
läßt sich die spezifische Ausprägung der Einheitsvorstellungen in Deutschland im
18. Jahrhundert konkret aufzeigen.

5. Dfo F.inhr.it dr.s K nnstwr.rks und dr.r T.itr.r11tnr: T.flssing

Scheinbar weitab von dem hier intereßßicrenden politißoh oozialon Boroioh bog11nn
dieser Prozeß der bewußtseinsmäßigen Auffüllung des neuen Begriffs im 18. Jahr-
hundert auf dem Gebiet der Literatur- und Kunsttheorie. Er begegnet dort in der
Verbindung 'Einheit des Kunstwerks' schon früh als feststehende Formel. Man
trug an die verschiedenen Gattungen der Literatur und der Kunst die Frage nach
ihrer inneren Einheitlichkeit heran und sah in der künstlerischen Einheit, dem Zu-
sammenstimmen von Form und Inhalt ein entscheidendes Kriterium für die Be-
wertung eines Kunstwerks. Vor allem LESSING hat hier die Anschauungen ent-
scheidend geprägt. Gerade an seinem Werk läßt sioh zugleich auoh deutlich ab--
lesen, wie dieser Einheitsbegriff von vornherein gleichsam über seinen eigentlichen
Inhalt hinauswies und in den - schon bald sozial wie politisch höchst bedeutungs-
vollen - Prozeß der geistigen Selbstbewußtwerdung einer Sprach- und Kultur-
gemeinschaft verwoben war. Wenn Lessing im 46. Stück seiner „Hamburgisehen
Dramaturgie" (1767) die Frage nach der „Einheit des Dramas" stellte und der
klassizistischen französischen· Dramentheorie eine falsche Aristoteles-Rezeption
nachzuweisen suchte - die Einheit der Handlung sei bei Aristoteles das Wesentliche
gewesen, die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes ... gleichsam nur Folgen au.~
jener 32 - , so hat er damit zwar in erster Linie einem neuen literarischen Kunst-
verständnis und im weiteren Verlauf auch einer neuen Kunstrichtung den Weg
gewiesen und gleichzeitig Wesentliches dazu beigetragen, daß der Begriff 'Einheit
des Kunstwerks' im deutschen Sprachraum zu einem festen Terminus nicht nur der
Literaturkritik wurde 33 • Aber indem er seine Thesen in scharfer Frontstellung gegen

ao Zl!lDLl!lit Bd. 8 (1734), 553 f., Art. Einheit.


31 Etwa die von LUTHER noch mit 'Einigkeit' wiedergegebene (vgl. Anm. 27) „Einheit
Gottes" in der 'Dreieinigkeit' (hier hat sich das Wort bezeichnenderweise erhalten); vgl.
ADELUNG 2, Aufl., Bd. 1 (1793), 1708. Ähnlich CAMPE Bd. 1 (1807), 851 ff. Damit ging
allerdings zugleich auch ein weiteres Element des alten 'Einigkeit' als „Einheit durch Ver-
einigung" in das neue Wort ein.
32 LESSING, Hamburgischc Dramaturgie, Sämtl. Sehr., Bd. 9 (1893), 377 f.
33 Wie stark diese Einheitsvorstellung bewußtseinsmäßig verankert war, wird sichtbar,

wenn 'Einheit' im Jahre 1812 ausschließlich als ästhetische Kategorie, als Einheit eines
Werkes ... die Übereinstimmung seiner Teile, d. h. ihre wechselseitige Bestimmung durch-
einander zu einem Ganzen definiert wurde: Sie ist injedem Werk schöner Kunst unerliißlich,

123
Einheit II. 6. Historiographischer Aspekt: Justus Möser

den französischen Kultureinfl.uß entwickelte und sie gleichzeitig in den Zusammen-


hang seiner Bemühungen um ein „deutsches Nationaltheater" stellte, lenkte er den
Blick zugleich auf eine andere, umfassendere Einheit, in der das einzelne Kunst-
werk stehe. Ganz deutlich wird das etwa, wenn er 1759 bemerkt, das französierende
Theater eines Gottsched sei der deutschen Denkungsart „nicht angemessen", und
die Deutschen auf Shakespeare verweist, dessen Dichtungen ihrem Wesen weit
mehr entsprächen 34 • Hier ist bereits die Idee einer Nationalliteratur vorgebildet,
ist der Gedanke enLhalLeu, daß die Diehtw1g als Lebensäußerung eines Volkes wie
dieses selbst etwas organisch Gewachsenes und als solches eine Einheit, ein „indi-
viduelles Ganzes" sei, wie es dann bei Herder heißen sollte. So brachte in der
besonderen historischen Situation die Frage nach der inneren Einheit des einzelnen
Kunstwerks die Frage nach der größeren, überindividuellen Einheit hervor, durch
die die einzelnen Kunstwerke eines Sprach- und Kulturraums ihre besondere Prä-
gung erhielten.

6. Der historiographische Aspekt des EinheitsbegriJfs: Justus Möser

Der Anwendung des Begriffs 'Einheit' als eines inneren Gestaltungsprinzips im


Bereich der Literatur durch Lessing korrespondiert in geistes- und begriffsgeschicht-
lich höchst aufschlußreicher Weise diejenige durch JusTus MösER im Bereich der
Geschichtsschreibung. Im Jahre 1780 machte Möser einen „ Vorschlag zu einem
Plan der deutschen ReichsgcschichLc" 3·'. Seine KriLik riehtete sieh hier gegen eine
Geschichtsbetrachtung, die sich auf eine mehr oder minder zufällige Aneinander-
reihung von historischen Tatsachen beschränkt. Es ging ihm darum, einen Fix-
punkt in der deutschen Reichsgeschichte zu finden - und für die Historiographie
verbindlich zu machen-, von dem aus sich uie ver:;ehieueueu, un divergierenden
historischen Entwicklungsströme zu einer einheitlichen Gesamtentwicklung zusam-
menfassen ließen. Bei seinem Bemühen, die deutsche Geschichte als „Einheit" zu
sehen, diente ihm die Verfahrensweise des „Epopöendichters" als Vorbild. Indem
aieser mit dem Helden beginne, sodann aber das Vorhergegangene auf eine geschickte
Art einflechte, habe er einen JiVeg genommen, der Einheit oder einem vollständigen
Ganzen zu gefallen 30 • Für Möser war Maximilians Landfriede von 1495 das Ereignis,
an dem der Geschichtsschreiber ansetzen mußte, wolJtp, p,r c'Jp,n P-inheitlichen Strang
im Entwicklungsprozeß der deutschen Geschichte freilegen 37 •
Mösers Forderung an den Geschichtsschreiber, die in seinem Gegenstand verborgen
liegende Einheit aufzuspüren, führte den Begriff 'Einheit' erstmals unmittelbar an
die geschichtliche Wirklichkeit heran. Zwar begegnet 'Einheit' hier noch ausschließ-

weil es sonst aufhören würde, ein Werk der Kunst zu sein, BROCKHAUS 2. Aufl„ Bd. 2 (1812),
365. Vgl. hierzu auch CAMPE u. ADELUNG (Anm. 31).
34 LESSING, Briefe die Neueste Literatur betreffend, Sämtl. Sehr., Bd. 8 (1892), 42.

35 JusTUS MösER, Vorschlag zu einem Plan der deutschen Reichsgeschichte (1780) SW Bd. 7

(1954), 130ff. Bereits 1752 hat J OH. MARTIN CHLADENIUS in seiner „Allgemeinen Geschichts-
wi.1111elll!chaft" (Leipzig 1752), 7 als eine der Arten, viele Begebenheiten alo eine anzuBchcn,
die Bündelung biographischer Einzelheiten durch die Einheit der Person bezeichnet; die
übrigen einheitsstiftenden Momente ebd., 4 ff.
36 Ebd., 130.
37 Ebd., 132.

124
U. 7. 'Einheit der Nation': Herder Einheit

lieh in einem hifltoriogmphischen Sinne, d. h. ab; leitendes Darstelhmgsprinr.ip der


Geschichtsschreibung. Möser wollte den Plan unsrer Geschichte . . . auf diese oder
eine andere Art zur Einheit erheben, damit die deutsche Geschichte nicht einer
Schlange gleiche, die in hundert Stücke zerpeitscht, jeden Teil ihres Körpers, der durch
ein bißchen Haut mit dem anderen zusammenliängt, mit sich fortschleppt 38 • Aber
entscheidend wichtig ist, daß hier nun Einheit nicht mehr, wie in der bisherigen
Historiographie, ausschließlich vom Fürstenstaat, sondern von einem neuen, wenn
auch noch nicht ganz klar umrissenen Blickpunkt her gesehen wurde. Mit der
Anwendung des lndividualitätsprinzips auf die Geschichte wurde Möser dabei nicht
nur zum Wegbereiter des Historismus im engeren Sinne, sondern allgemein eines
Denkens, das nach den inneren Gestaltungs- und Bauprinzipien der gegebenen und
historisch gewachsenen Formen menschlichen Zusammenlebens fragte.

7. Vorbereitung des Begriffs 'Einheit der Nation': Herder

Mit HERDER erreichte die Geschichte des Einheitsbegriffs eine entscheidende neue
Phase. In seinem Denken vereinigten sich die geistig-literarischen Einheitsvor-
stellungen Lessings und der historisch-genetische Ansatz Mösers. Sie finden nun
expressis verbis ihren gemeinsamen Bezugspunkt: das Volk, die Nation als histo-
risch gAwacihRAnA Rpracih- und Kulturgemeinschaft. In seinen „Briefen zur Beför-
derung der Humanität" (1793) beklagte Herder, daß sich unsere Nation schwerlich
kenne; bald sei es H,eligions- bald politische Partei, bald d'ie 'unüberiMiyl·iclie Grenze
eines Standes und Ständchens, was die Stimme, ja sogar nur den Gedanken an ein
teilnehmende~~ P11,bl1:k1"m, .~elhst in Sachen des Geschmacks und der Bildung, ge-
schweige des allgemeinen Interesses, teilet und aufhält 39 • Die Zerrissenheit des Vater-
landes war der Ausgangpunkt, allerdings nicht so sehr in politischer, als vielmehr
m geistig-kultureller Hinsicht. Worauf Herder abzielte, war, ein gemein8artte8 P'uhl'i-
knm40 m Rcihaifän, rl. h. AinA Öffontlichkeit, die sich ihres gemeinsamen kulturellen
Erbes in der Sprache bewußt war und die durch dieses Bewußtsein zu einer Einheit
zusammengeschweißt werden sollte. Die sprachliche Einheit war für Herder unab-
dingbare Voraussetzung einer kulturellen und auch politischen Einheit. Mittels
der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittels der Sprache wird sie
ordnungs- und ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig.
Wer die Sprache eines Volkes emporhebe, der hilft das weiteste und schönste Publikum
ausbreiten, oder in sich vereinigen und fester gründen 41 . In solcher kulturellen
„Vereinigung" steckte unausweichlich ein Ansatz zu politischen Weiterungen. Pro"
vinzen, Kreise und selbst Stände hätten sich voneinander gesondert. Gerade indem
die sogenannten obern Stände 8eÜ einern J uhrhwnderte e·ine vöZZ.ig frenule Sprache ange-
nommen, eine fremde Erziehung und Lebensweise beliebt hätten, seien sie zu einem
Element der Spaltung der Nation geworden. Mit wem man Deutsch sprach, der war
ein Knecht, ein Diener. Die Stände hätten sich gerade deshalb in ihrer Denkart

38 Elotl.
39 HERDER, Briefe zur Beförderung der Humanität (1793), 7. Brief (Hervorhebung vom
Verfasser). SW Bd. 17 (1881), 297.
40 Ebd., 288.

41 Ebd., 287 (Hervorhebung vom Verfasser).

125
Einheit II. 8. Diskussion über die Reichsverfassung

entzweiet, weil ihnen gleichsam ein zutrauliches gemeinschaftliches Organ ihrer innig-
sten Gefühle fehlet 42 • Herder stellte also für seine Zeit eine fehlende politische und
soziale Kohärenz fest und sah diesen Mangel in der Vernachlässigung der Sprache
des Vaterlandes begründet. Ohne eine gemeinschafeliche Landes- und Muttersprache,
in der alle Stände als Sprossen eines Baumes erzogen werden, gibt es kein wahres
Verständnis der Gemüter, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit-
und Zusammenfindung, kein vaterländisches Publikum mehr 43 • Durch alle Classen
müsse die Sprache des Vaterlandes tönen; jede fremde Sprache bleibe eine entzweiende
Samaritersprache 44 •
Mit der Hoffnung auf eine Wiederbefestigung der geschichtlich vorgegebenen sprach-
lich-kulturellen Einheit der Nation verband Herder deutlich Erwartungen, die weit
über den geistig-literarischen Bereich hinamiginer.n. Wr.nn r.r 8agte, wnsere Nation
k~nnet sich schwerlich, u.nd die Entzweiung der Stände in bezug auf das allgemeine
Interesse beklagte, so wiesen diese Gedanken über die „Kulturnation" (Friedrich
Meinecke) im Sinne einer durch gemeinsame Sprache und Sitte gestifteten Einheit
hinaus und lenkten den Blick auf die politische (und gesellschaftliche) Verfassung,
auf die freilich noch nicht ausdrücklich genannte 'Einheit der Nation'. Das Werk
Herders kettete also unausgesprochen den Begriff 'Einheit' an den der Nation und
ermöglichte damit einen nationalen Einheitsbegriff von bisher unbekannter poli-
tischer Dynamik.

8. Der Begriff 'Einheit' in der staatsrechtlichen Diskussion über die Reichs-


verfassung

Herder erscheint prototypisch für die vom „Nationalgeist" berührte Bewegung in


den letzten Jahrzehnten des alten Reiches. Wurde der Wunsch nach „Einheit der
Nation" von der Sprache und Kultur auf die Politik übertragen, dann mußte das
Heilige Römische Reich „deutscher Nation" mit seiner partikularen Zerrissenheit,
mit seiner wachsenden Ohnmacht gegenüber den nach absoluter Herrschaft und
äußerer Unabhängigkeit strebenden Reichsfürsten notwendig auf neue Weise zum
Gegenstand der Kritikwerden. Diese neue Idee der „Einheit der Nation" im Rahmen
der überlieferten staatsrechtlichen Formen politisch zu verwirklichen, war als
Absicht schon in der „patriotischen" Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts er-
kennbar. Hier hat der Einheitsbegriff erstmals seine konkrete politische Auffüllung
erfahren, wobei die Verwendung des neuen, stringenteren Wortes für 'unitas' zu-
gleich die Tendenz anzeigt, zu einer fester gefügten und tiefer beeriirn'lt1t.1m politi-
schen Einheit zu gelangen.
Keiner die8er Reich8publizisten gab sich Illusionen hin über den unaussprechlich
jämmerlichen Zustand des Reiches, die splendida miseria des Kaisers, der nur noch
einem gemalten Oberhaupt gleiche (JOHANN JAKOB MosER) 45 , während von einer
bindenden und einigenden Kraft der Reichsgrundgesetze kaum noch die Rede sein

42 Ebd., 288.
43 Ebd., 288 f.
44 Ebd., 289.
46 JoH. JACOB MOSER, Gutachten zur Kaiserwahl vom Frühjahr 1745, zit. REINlIARD

RüRUP, Johann Jacob Moser. Pietismus und Reform (Wiesbaden 1965), 135 f. 142.

126
II. 8. Diskussion üher die Reichsverfassung Einheit

könne. Für JOHANN STEPHAN PüTTER bestand (1784) das „Teutsche Reich" nur
noch aus locker verbundenen souveränen Staaten, die, wenn man auf die Verschie-
denheit ihrer Lage, ihrer Größe, ihrer innerlichen Einrichtung und ihres ganzen Ver-
hältnisses sieht, einander nichts anzugehen, wenigstens in keinem anderen Verhältnisse
als mehrere europäische Staaten gegeneinander zu stehen scheinen 46 und nur noch
insofern einen Staat und ein Reich ausmachten, als es noch den Kaiser als das
gemeinschaftliche höchste Oberhaupt gebe. So falle es schwer, noch jetzt die fortwäh-
rende Einheit des 1'eutschen Reiches überall wa~rzunehmen 47 •
Aber durch die scharfsichtige Analyse der ganz besonderen und ihresgleichen auf der
Welt nicht habenden Regierungsart des teutschen Reichs (MosER) 48 leuchtete doch
überall der Wunsch, durch Aufdeckung der Schwächen und Fehler zu einer Reform
nAr R11fohRv11rfaRR1me heilmtmgen, die Einigkeit wiederherzustellen, die das Beste
des Reiches und seiner Untertanen erfordere 49 • Das stark pietistisch gefärbte,
ältere 'Einigkeit' wurde von dem älteren Moser bereits sehr bewußt gebraucht, um
den Charakter der erstrebten Einheit hervorzuheben 50 • Leitendes Motiv war dabei
die leidenschaftliche Ablehnung der Tendenzen der Territorialfürsten, des militäri-
schen Staatsrechts, dessen diese sich bedienten, und ihrer despotischen Gewalt, die
Freiheit zu einem leeren Wort mache 51 • Neben der realistischen Einschätzung der
gegebenen Möglichkeiten war es gerade dieses Motiv, das die patriotischen Reichs-
juristen an der Reichsverfassung im Prinzip festha.lten unn nie "fiJ?>nhm:t d!l.~ Tmtt.~chp,n
Reiches im organischen Miteinander von Kaiser und Reichsständen, in einem
Gleichgewicht der verschiedenen politischen Kräfte suchen ließ. Moser hat in diesem
Zusammenhang nachdrücklich hervorgehoben, daß das gemeinsame Beste des ganzen

46 Jon. STEPHAN PüTTER, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des

Teutschen Reichs, Bd. 1 (Göttingen 1786), 1 f.


47 Ebd., Bd. 3 (1787), 215.
4 8 J. J. MOSER, Von Teutschland und dessen Staatsverfassung überhaupt, in: ders., Neues
Teutsches Staatsrecht, Bd. 1 (Stuttgart 1766), 546.
4 9 Ders., Von den Kayserlichen Regierungsrechten und Pflichten 1, 2, § 29, Staatsrecht,
Bd. 5 (Frankfurt 1772), 40.
50 Solche Präzisierungen des Erwartungsinhalts, den man mit dem Begriff 'Einheit' ver-

band, sind gerade in den ersten Jahrzehnten des Gebrauchs des neuen Wortes häufig und
bezeugen den abstrakt-formalen, gleichsam gefühls- und wertfreien Charakter, den es
anfangs besaß. Besonders charakteristisch hier PESTALozzr, der einmal, sich gegen den
Ve;rsuch des Absohit.ismnR wAnf11mrl, fliA "RiireP.r 1:n !'.in!'. .~l'.(Jl'.n.AfoAA 11.nd 1:nnP.rli.r,h ganz u,n-
einige Einheit hineinzuzwingen, demgegenüber die Eintracht der Bilrger als das ewig"' und
einzige Fundament aller wahren, aller wahrhaft menschlichen St,aatssegnunyen •wrul S/,uuts-
kräfte bezeichnete und betonte: Die Eintracht kann nicht durch Einheit, die Einheit muß
durch Eintracht herbeigeführt werden, PESTALozzr, An die Unschuld, den Ernst und den
Edelmuth meines Vaterlandes, zit. HANS BARTH, Pestalozzis Philosophie der Politik
(Zürich, Stuttgart 1954), 102 f. '
51 J. J. MosER, Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt, Staats-

recht, Dd. 14 (Frankfurt, Leipzig 1773), 257 f.; o.llgcmcin zur Bedeutung doß Roiohoß alo
Schutzbastion gegen den Absolutheitsanspruch der Territorialfürsten im Bewußtsein der
Zeitgenossen: HEINZ RUDOLF FELLER, Die Bedeutung des Reiches und seiner Verfassung
für die unmittelbaren Untertanen und die Landstände im Jahrhundert nach dem West-
fälischen Frieden (phil. Diss. Marburg 1953).

127
Einheit II. 8. Diskussion über die Reichsverfassung

Staates auf das RegierungsgleichgewiclU begründet sei, und es der göttlichen Ordnung
entspreche, daß keine Kraft ohne Gegenkraft bestehe 52 •
So haben die patriotischen Reichsjuristen des 18. Jahrhunderts die „Einheit des
Teutschen Reichs", in scharfer Ablehnung des territor!alstaatlichen Souveränitäts-
gedankens und seines Einheitsmodells, als eine „Einheit in der Vielheit", als eine
„Vereinigung" der verschiedenen politischen Kräfte verstanden, auf der Basis der
zeitgemäß reformierten Grundgesetze und Institutionen der Reichsverfassung. Fest-
zuhalten ist freilich, daß dieser noch uem alLeu Recht verpflichtete Einheitsgedanke
nicht zum Konzept einer neuen politischen Ordnung führte, sondern eine angeblich
alte, verlorene Einheit neu beleben sollte. War solcher Hoffnung notwendigerweise
bereits viel Skepsis beigemischt, so erwies es sich seit dem Einwirken der Französi-
schen Revolution endgültig als unrealistisch, die Einheit der Nation noch vom
positiven Reichsrecht aus zu entwickeln. Es wurde deutlich, daß das Reich und
seine Einheit nur noch eine Fiktion waren, die bei uer er8Leu erm;thaften Belastung
in sich zusammenfiel.
Kurz vor der formellen Auflösung des Alten Reiches hat HEGEL hieraus die Bilanz
gezogen und gleichzeitig, stark unter dem Einfluß westeuropäischer politischer
Einheitsvorstellnngen, versucht, Deutschland den Weg zu einer neuen, nicht mehr
an den überlieferten staatsrechtlichen Formen des Reiches orientierten politischen
Einheit zu weisen. Hegel legte das Maß der Einheit an, wenn er in seiner „Verfassung
des Deutschen Reiches" (1801/02) feststellte, daß Deutschland kein Staat mehr sei53•
Das ueuLsche 8LaaLsgebäude, fuhr er ironisch fort, sei nichts andei·es als ilie Summe
der Rechte, welche die einzelnen Teile dem Ganzen entzogen haben, und diese Gerech-
tigkeit, die sorgsam darüber waclU, daß dem Staat keine Gewalt übrigbleibt, ist das
Wesen der Verfassung 54 • Deutschland könne nicht mehr als ein vereinigtes Staats-
ganzes gelten, sondern sei nur mehr als eine Menge unabhängiger und dem Wesen
nach sou-veräner Staat an·mselien 55 • MiL uem Ausuruck Reü:h haben 1:üeh nach Hegel
die Deutschen jahrhundertelang ... einen Schein von Vereinigung gegeben, in welcher
der Tat nach kein Teil von seinen Ansprüchen auf Getrenntsein das mindeste aufge-
geben hat ... 56 Vereinigung oder das vereinigte Staatsganze ist bei Hegel der Tren-
nung der deutschen Völkerschaften gegenübergestellt, 'Einheit' als Gegenbegriff zum
'Partikularismus' antizipiert, wenn auch beide Begriffe als Antithese wörtlich noch
nicht auftauch1m.
Hegel entfernte sich mit seinen - am französischen Gegenbild orientierten -
Reformvorschlägen bewußt weit stärker als die Reichsjuristen des 18. Jahrhunderts
von der politischen Wirklichkeit. Die zu immer größerer Machtfülle aufsteigenden
Territorialstaaten auf dem Gebiet des Alten Reiches einer einheitlichen Zentral-
gowalt zu untorworfon, mußte als schlechterdings illusionär erscheinen, und so
gipfelte Hegels Schrift in der Version eines deutschen Theseus: aus der Trennung

62 J. J. MOSER, Regierungs-Rechte und Pflichten 1, 2, § 22, Staatsrecht, Bd. 5, 32; s.

auch FRIEDR. CARL v. MOSER, Beherzigungen (Frankfurt 1761), bes. 611 f.: Gleichgewichts-
idee.
63 HEGEL, Die Verfäuung des Deutschen Ileiohee. Eino poliLfouhu FlugaohdfL, hg. v.

Georg Mollat (Stuttgart 1935), 1.


54 Ebd., 9.
66 Ebd„ 11.

66 Ebd., 12.

128
II. 9. Die Napoleonische Zeit Einheit

der deutschen Völkerschaften müßte Vereinigung folgen, wenn sie durch die Gewalt
eines Eroberers in eine Masse versammelt werden würden, wobei der kleinräumig
demokratischen Verfassung, die Theseus den Athenern gegeben habe, eine Organisa-
tion des Anteils an dem, was alle betrifft, entsprechen sollte; Entzweiung und Absonde-
rung sollten dlirch Vereinigung überwunden werden: das war konkrete Einheit 57 ,
ermöglicht durch Gewalt, die mit der Einheit auch Freiheit (Anteil) auf neue Weise
(nicht demokratisch, aber der attischen Demokratie analog) gewährleisten sollte.
Neben solcher Spekulation auf dem Hintergrunde des zeitgeschichtlichen Napoleon-
Erlebnisses erhob sich auch, zumal in Süddeutschland, die Forderung nach dem
einen und unzerteilbaren deutschen Freistaat - so 1799 in einem anonymen „Entwurf
einer republikanischen Verfassungsurkunde, wie sie für Deutschland taugen möchte"
eines Württembergers 58. Aber Anhängerschaft und Einfluß dieser Gruppen blieben
gering, und erst mit dem Entstehen der demokratischen Bewegung nach 1840 hat
dann die unitarische Einheitskonzeption einflußreichere Wortführer gefunden.

9. Die Napoleonische Zeit

Mit der formellen Auflösung des alten Reiches war gleichsam ein Vakuum entstan-
den, in das alle möglichen Vorstellungen über die künftige staatsrechtliche und
politische Form der „Einheit Deutschlands" einströmten. Gleichzeitig erfuhr, we-
sentlich unter dem Eindruck und in Reaktion auf das Entstehen einer napoleoni-
schen „Weltmonarchie", die Idee einer übernationalen und überstaatlichen „Einheit
Europas", einer „Einheit des Abendlandes" (Hölderlin, Novalis) mächtige Impulse.
Ihr Einfluß auf die konkreten politischen Einheitsvorstellungen war insofern nicht
gering, als sie die hier deutlich hervortretende Neigung zu einer Art rückwärts-
gewandten Utopie noch verstärkte.
Denn wohl erwies sich bei der Diskussion über das Problem der deutschen Einheit
unter allen Lösungsmodellen in der Tradition der „Patrioten" der Gedanke einer
Wiederanknüpfung an das alte Reich und seine Verfassung als der wirksamste.
Aber die nüchternen Pläne zur Reichsreform, die die Publizisten des 18. Jahrhun-
derts entwickelt hatten, wurden dabei überwuchert durch eine Reichsromantik,
die der trostlosen Gegenwart ein verklärtes Bild des mittelalterlichen Reiches
entgegenhielt und in dessen Wiederherstellung das ideale Ziel sah. Selbst der
FREIHERR VOM STEIN stand im Banne dieser Anschauungen. Er bezeichnete das
Ziel: nur ein Vaterland, das heißt Deutschland. Sein Glaubensbekenntnis führe zur
Einheit 59 • Solche Einheit sei schon einmal verwirklicht gewesen: ein einziges, selb-
ständiges Deutschland, wie es vom 10.-13. Jahrhundert unsere großen Kaiser kräftig
wnd müvltl:iy belterrscltten60 • SLeiu wüm;chLe irn Rückgriff auf ilie Ge8chichLe, wie er
sie mit vielen Zeitgenossen sah, daß Deutschland groß und stark werde, um seine
Selbständigkeit und Unabhängigkeit und Nationalität zu erlangen 61 • Doch da das

67 Ebd., 120 f.

••Vgl. lIEINRICH SCHEEL, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkiiimpfc und republikanische


Bestrebunge:Q.im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts (Berlin 1962), 487, Anm. 324.
69 FRH. v. STEIN an Münster, 1. 12. 1812, Br. u. Sehr., Bd. 3 (1961), 818.
60 STEIN an Hardenberg, August 1813, ebd., Bd. 4 (1963), 244.

61 STEIN an Münster, 1. 12. 1812, ebd., Bd. 3, 818.

9-90386/1 129
Einheit Il. 9. Die Napoleonische Zeit

Verlorene heraufzuholen der Nation nicht beschieden sei, müsse die Einheit der
Nation im Gegensatz zur Zerstii<;kelung in 36 Despotien durch ein möglichst wirk-
sames föderatives Verhältnis, als Bund von Deutschland, Österreich und Preußen
wenigstens annäherungsweise erreicht werden 62 •
Es ist bemerkenswert, daß hier - nicht im Widerspruch zu der· reichsrechtlichen
Tradition - der Begriff 'Einheit' zu dem Begriff 'Bund' in ein enges Verhältnis
trat. 'Bund' wurde gleichsam als eine temporäre Surrogatform von 'Einheit', als ein,
wie es der Freiherr vom Stein ausdrückte, „Übergang" zur Einheit angesehen 63 .
Aber auch das verlorene geschichtliche Vorbild, das Reich des 10.-13. J ahrhun-
derts, glich für Stein nicht einem zentralisierten Einheitsstaat, wie er im revolutionä-
ren und kaiserlichen Frankreich endgültig durchgesetzt worden war. Einheit sollte
nach deutschem Begriff für Stein nur in einer wie auch immer verfaßten regionalen
Vielfalt verwirklicht werden. Die weiterwirkende Tradition des geschichtlich be-
gründeten staatlichen Aufbaus Deutschlands bedingte es, daß darüber hinaus in
der Folgezeit 'Einheit' in Deutschland meist als „bundesstaatliche Einheit" auf-
gefaßt wurde.
Die für die deutschen politischen Einheitsvorstellungen dieser Zeit typische Ver-
bindung der Begriffe 'Bund' und 'Einheit' läßt l'lich immer wieder beuliauhkm. 8u
schrieb etwa der General VON STEINMETZ, einer der führenden militärischen Köpfe
in den Kämpfen gegen Napoleon, am 15. September 1815 an Gneisenau: Ernstlich
möchte ich jetzt einen Bund entstehen sehen, der der preußisch-deutsche hieße, denn
ohne dem war alles Streben und Treiben nicht des M ühens wert, wie sollen wir zur Ruhe
kommen und _Freiheit behalten zu denken und zu tun, wenn in Deutschland nicht
Einheit und eine kräftige Einheit durch Preußen ist? 64 Die „Einheit in Deutschland"
sah Steinmetz nur durch einen preußi.~ch-deuJ.~chen Bund gewährleistet. Die Begriffe
'Einheit' und 'Blind' wurden von ihm in einem Atem genannt; die Verwirklichung
der deutschen Einheit in der staatsrechtlichen Form eines. Bundes wurde dabei
gleichsam als selbstverständlich und unbestritten vorausgesetzt. Wie früh sich im
deutschen politischen Bewußtsein die Verbindung zwischen den Begriffen 'Bund'
und 'Einheit' festgesetzt hat, wird noch deutlicher an einer Schrift des Rheinländers
und preußischen Regierungsrats K. W. KOPPE aus dem Jahre 1815, die, in scharfer
Ablehnung des französischen Vorbildes, zugleich in präziser Form Einheitskonzept
und Einheitserwartungen der deutschen „Patrioten" zu ßeginn der RestauraLiom1-
zeit wiedergibt: Wenn jemand wahnsinnig genug sein sollte zu wünschen, daß durch
ganz Deutschland einer herrsche, etwa wie durch ganz Frankreich der jedesmalige
Machthaber herrscht, und wenn jemand verrucht genug wäre zu raten, daß irgendein
deutscher Fürst oder irgend ein deutsches Volk streben solle, mittelst Bezwingung der
übrigen einen solchen Zustand der Alleinherrschaft in Deutschland gewaltsam zu
seinen Gunsten herbeizuführen, so würde, unseres Bedünkens, das Härteste, was (man)
gegen die Prediger der deutschen Einheit gesagt hat, noch immer zu schwach und zu milde
sein . . . Die ganze Entwickelung deutschen Geistes und Charakters wie deutscher

62 STEIN an Hardenberg, August 1813, ebd., Bd. 4, 244 f.


63 Ebenso HUMBOLDT, Denkschrift über die deutsche Verfassungsfrage (an Frh. v. Stein,
Dezember 1813), AA Bd. 11/2 (1903), bes. 99 ff.
64 Zit. HANs DELBRÜCK, Die Ideen Steins über deutsche Verfassung, in: ders., Erinne-

rungen, Aufsätze und Reden, 2. Aufl. (Berlin 1902), 98.

130
D. 9. Die Napoleonisehe Zeit Einheit

Literatur beruht, auf dem historisch so fest gegründeten Verhältnis unserer Völker-
stämme, kraft dessen sie so selbständig geschieden und doch so hingebend verbunden,
so scharf begrenzt und doch so zusammenfließend sind. Wer sich mit Stolz einen
Deutschen nennt ... , der muß vor dem Gedanken erziUern, daß jemals, vom Ostmeere
zum Adriatischen und von der Weichsel zur Maas, ein Wille herrsche, ein Maßstab
politischer und geistiger Entwicklung befolgt werden und eine große Hauptstadt, als
gähnendes Grab aller vollkommeneren Entwickelung der Provinzial-Individualität, sich
auftun könnte. Und wer, auf deutscher Erde geboren ... , seinem Fürsten raten könnte,
sein deutsches Volk gegen Deutsche zu bewaffnen, um, im glücklichsten Fall, nach
langjährigen, blutigen Kämpfen über den Ruinen aller ehrwürdigen Denkmäler der
deutschen Geschichte und über· der Leiche jener kräftigen, markvollen bedeutenden
deutschen Vielheit ein blasses Phantom deutscher Einheit heraufzuführen ... ,
den müßt,e sein Vaterland verwerfen und der Unwille seiner Nation ihn verfolgen in
Rede und Tat 65 •
Das System des Deutschen Bundes von 1815 66 modifizierte das Verhältnis, in dem
die Begriffe 'Bund' und 'Einheit' bisher gestanden hatten. Indem das politische
Bewußtsein den Begriff 'Bund' mit dem geschichtlichen Gebilde des Deutschen
BundofJ identifizierte, konnte 'Bund' nicht mehr nur als Modus von 'Einheit' oder
als ein „Übergang'' zu ihr aufgefaßt, sondern auch als Gegenbegriff zu 'Einheit'
gebraucht werden. So pries der Historiker ARNOLD HERMANN LUDWIG HEEREN
die Einordnung des lockeren Deutschen Bundes in das europäische System als eine
Garantie für Dauerhaftigkeit und Frieden. Wäre aber der Deutsche Bund eine große
Monarchie mit strenger politischer Einheit, ausgerüstet mit allen den materiellen
Staatskräften, die Deutschland besitzt, - welcher sichere Ruhestand wäre für sie mög-
lich. Mehr als das: die Entstehung einer einzigen und unumschränkten Monarchie
in Deutschland würde binnen kurzem das Grab der Freiheit von Europa 67 • Einheit
einer großen deutschen Staatsnation wurde also als „gefährlich" angesehen68 •
Obwohl der Deutsche Bund „in seinen äußeren Verhältnissen" das Prinzip der
„politischen Einheit" für sich in Anspruch nahm, trug sein innerer Aufbau diesem
Prinzip keineswegs Rechnung. ERNST MORITZ ARNDT beklagte 1815 den Mangel
an Einheit des Reiches und an Unzulänglichkeit der MiUel, die es erhalten sollten -
bei aller Großheit der jüngsten Begebenheiten und bei allem Glanze der jüngsten Ge-
schichte Germaniens ... Bis es besser wird und bis die zerrissenen Teile unseres
Vaterlandes wieder mehr zur Einheit zusammen verbunden werden, müsse man sich

85 K. w. KOPPE, DiA Rt.immA AinAR pmnßiAP.hAn Rta.11.t.AhiireArR in nAn wi11htieAtAn .An-


gelegenheiten dieser Zeit (Köln 1815), 22 f.
00 Vgl. dazu Art. 1 der Wiener Schlußakte vom 15. Mal 1820: Der deutsche Bund ist ein

völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Sfiidte zur Bewahrung
der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit ihrer im Bunde begriffenen Staaten und zur Erhal-
tung der innern und äußern Sicherheit Deutschlands.
87 ARNOLD HERMANN LUDWIG HEEREN, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu

dem Europäischen Staatensystem (Göttingen 1816), 11 f.


88 HUMBOLDT, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu
bestimmen (1792), zit. ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789,
Bd. 1 (Stuttgart 1957), 520 f.; vgl. dagegen ERNST MoRrrz ARNDT, Geist der Zeit, Tl. 3,
Abh. 2: Was haben die großen Mächte jetzt zu tun?, Werke, Bd.11(1908),118,dergegen
die Gefährlichkeit eines geeinten Deutschland argumentiert.

131
Einheit D.10. 'Einheit' im Vormärz

einstweilen mit dem begnügen, was nach den Umständen möglich ist: wir dürfen
und können nicht Vollkommenes erwarten 69 • Das vorerst verschleuderte Erbe der
Befreiungskriege, die Einheit Deutschlands, suchte Arndt in der Zukunft. Wir
müssen es alles nur als Vorbereitung und Vorarbeiten betrachten für eine unserer
Entwicklung vielleicht günstigere Zukunft 70 • Dies ist der Stimmungshintergrund,
auf dem von nun an die Begriffe 'Einheit,' nnrl 'Rnnrl' in ein Spannungsve:rhält.
nis treten sollten.

10. Problem und Begriff 'Einheit' im Vormärz

Der Mangel an Einheit ließ die Diskussion über das Problem der deutschen Einheit
in einer Zeit um so stärker entflammen, in der die Forderung nach Einheit, Freiheit
und Selbstbestimmung der Nationen alle europäischen Völker ergriff. LEOPOLD VON
RANKE sprach 1832 von der Wahrheit und der inneren Notwendigkeit eines Gefühls,
die sich darin bekunde, daß es in den verschiedenen Lagen unter abweichenden, auch
den ungünstigsten Umständen lebendig hervortrete. Ein eben solches Gefühl sei das
Gefithl einer wesentlichen Einheit von lJeutschland, das sich alle Jahrhunderte unserer
Vr.rgari{Jr.nh.P.'it h1:nilmr.h me.kr ndr?.r mfr1.der wfrksam i1.nd in iinsern Tagen trotz so
mannigfaltiger Spannungen unüberwindlich gezeigt habe 71 • Das geistig-politische
Klima seiner Zeit sah Ranke durch jenes Gefühl geprägt; immer und im?ner wieder
sei von der Einheit Deutschlands die Rede 72 • Das System des Deutschen Bundes legte
einer politischen Einheit Deutschlands jedoch unüberwinilliuhe Hindernisse in den
Weg. So war es kein Zufall, daß in dieser Zeit der politischen Stagnation noch einmal
auf den Begriff der geistigen Einheit der deutschen Nation zurückgegriffen wurde.
In dem „Briefwechsel zweier Deutscher" (1831) von PAUL AcHATIUS PFIZER stellte
Friedrich an Wilhelm die Frage: Und ist es dann auch schon so ganz gewiß, daß
die nationale Einheit, nach der w-ir se-u/zm, ganz 'und gar verschwunden ist? Sollte
diese denn nur im Vereine mit einer Fülle von Macht und Ansehen denkbar, ohne ein
äußerlich imponierendes Auftreten der Nation aber gar nicht erst möglich sein? Ist sie
nicht vielleicht so geistiger Art, daß sie dem körperlichen Auge sich verbirgt, während
sie dem Auge des Geistes offen liegt? 73 Friedrich ist davon überzeugt, daß noch immer
efoe de1utsclw Nation existiert: nämlich durch geistige Einheit, . . . obgleich dem
gröhern Rlicke vr.rbor1Jen mul be·i iler Entscheiditngder großen Welthändel ohne Stimme 74 •
In diesem „Briefwechsel" wirkt sehr stark der Herdersche, dann von Goethe weiter-
entwickelte Gedanke von der kulturellen Einheit der Nation nach, von dem einen
ge?nei.nsamen Publikum, das durch die gemeinsame geistige Überlieferung in Sprache
und Literatur zu einer Einheit zusammengebunden werde, - zugleich das in diesem
Godankon enthaltene politische Moment. So hieß es im 16. Drief Friedrichs an

69 Ders., Fantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen
(1815), Werke, Bd. 14 (1908), 176. 173.
70 Ebd., 174.
71 LEOPOLD v. RANKE, Über die Trennung und die Einheit von Deutschland (1832),
SW Bd. 49/50 (1887), 134.
72 Ebd., 135.
73 PAUL AcHATIUS PFIZER, Briefwechsel zwe~er Deutscher, Brief 14 (1831; 2. Aufl. Stutt-

gart 1832), 157 f.


74 Ebd.

132
II. 10. 'Einheit' im Vormiirz Einheit

Wilhelm: Die vollendete geistige Einheit muß bei uns der äußerlichen Einigung vor-
hergehen 75. Wilhelm, der Widerpart Friedrichs, wandte demgegenüber ein, daß die
geistige Einheit ein nur sehr unbefriedigendes Surrogat für die politische sei, ja die
Gefahr in sich berge, die Dringlichkeit der politischen Einheit zu überdecken 76 •
Die· Diskussion über das Problem der politischen Einheit Deutschlands wurde im
Vormärz hauptsächlich von der bürgerlich-liberalen Bewegung getragen und voran-
getrieben. Sie stand dabei in einer doppelten Tradition. Einmal knüpfte sie an die
Prinzipien der Französischen Revolution an, und zum anderen fühlte sie sich als
legitime Verwalterin des geistigen Erbes der „Patrioten" des 18. Jahrhunderts und
der erfolglos gebliebenen Einheitsbestrebungen der Befreii:J.ngskriege. Beides fand
in dem liberalen politischen Einheitsbegriff seinen Niederschlag. Die nationalpoliti-
schen Einheitserwartungen der Liberalen und die Hoffnungen, die sie mit dem
Gedanken der nationalen Einheit verbanden, werden sehr deutlich an der berühmten
Motion CARL THEODOR WELCKERS von 1831 in der badischen Zweiten Kammer, in
der er die Errichtung eines Volkshauses neben dem Frankfurter Bundestag zur
organischen Entwicklung des Deutschen Bundes, zur bestmöglichen Förderung deutschßr
Nat•iunale·in/w;il wnd de·ul1;v/1er 11laat11b'Ürye'l'l·ivlter F•re·ilte·it furllerLe 77, ~uwie au ller
daran anknüpfenden Schrift des süddeutschen Liberalen WILHELM SCHULZ mit dem
Titel „Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation" 78 • Einheit war danach
auch in der politischen Vorstellungswelt der Liberalen ein Recht, das sich aus der
deutschen Geschichte herleitete, - ja, sie war gleichsam der uneingelöste Wechsel,
den diese dem deutschen Volk ausgestellt hatte. Zugleich war sie aber auch - hier
berief man sich sowohl auf die Französische Revolution wie auf die „Patrioten" des
18. Jahrhunderts 79 - aufs engste verknüpft mit dem Gedanken der freiheitlichen
Selbstbestimmung: dieser verwirkliche sich in der nationalen Einheit, und sie schaffe
zugleich den Rahmen für seine weitere Entfaltung.
Die Begriffe 'Einheit' und 'Freiheit' gingen nicht zuletzt deshalb eine so enge Ver-
bindung ein, weil die politische Wirklichkeit, das herrschende „System" des Deut-
schen Bundes, sich gegen die Substanz beider kehrte. Vaterländischer Einheit, so
charakterisierte später das „Deutsche Staatswörterbuch" von BLUNTSCHLl/BRATER
den Deutschen Bund, stellt die Schlußakte den Bund als völkerrechtlichen Verein
yeyenüber; ·und lrüryerl·iclwr Fre·ilwit ·inden ('W'ie man me·inen sollte) sielt selbst über-
lassenen Staaten setzt sie denselben Bund entgegen als absolut gebietende und verbie-
tende Zentralpolizeigewalt 80 • In der Opposition gegen das „System Metternich", den

75 Ebd„ 194 f.
76 Ebd., 167 ff.
77 C.AEL THEODOR WELCKER, Die Vervollkommnung der organischen Ent.wicklung des

Deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher Nationalheit und deutscher


staatsbürgerlicher Freiheit. Als Nationsbegründung vorgetragen in der zweiten Kammer
der badischen Ständeversammlung (Karlsruhe 1831).
78 WILHELM SCHULZ, Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation (Stuttgart 1832).

79 Vgl. ÜARL THEODOR WELCKER, Art. Deutsches Landes-Staatsrecht, deutsche Land-

stände, die Feudalstände und die Wahlstände, ihre Geschichte und ihr Recht, RoTTECK/
WELCKER Bd. 4 (1837), 337 ff.
80 AEGIDI, Art. Deutscher Bund, BLUNTSCHLr/BRATER Bd. 3 (1858), 20.

Diese doppelte Frontstellung gegen das System des Deutschen Bundes läßt sich immer
wieder beobachten. Ein Gedanke ist es, so schrieb etwa FRIEDRICH v. GAGERN 1823 in einer

133
Einheit Il. 10. 'Einheit' im Vormärz

Versuch der Bewahrung der überlieferten politischen und sozialen Ordnung Europas,
fanden sich liberale Einheits- und Freiheitsforderungen unmittelbar zusammen.
Denn nur durch. eine „nationale" Lösung, d .. h. durch die Verwirklichung der
Einheit Deutschlands, glaubten die Liberalen, ihr Ziel, den Sturz des „Systems"
im Deutschen Bund und die Einführung einer freiheitlichen Ordnung, erreichen zu
können. Einheit wurde also zur Voraussetzung der Freiheit: Die Zersplitterung
Deutschlands - ein Hindernis der freiheitlichen Entwicklung, betitelte PHILIPP
JAKOB SIEBENPFEIFFER 1832 einen Zeitungsartikel81 •
CARL VON RoTTECK hat diesen Zusammenhang besonders deutlich herausgearbeitet
und die für das liberale Selbstverständnis grundlegende Interdependenz der Begriffe
'Einheit' und 'Freiheit' scharf zugespitzt formuliert. Es ist keine vernünftige Hoff-
nung vorhanden, heißt es in seiner Besprechung der genannten Schrift von Schulz,
daß die gewünschte Radikalheilung, nämlich die Herstellung einer die Nationalinter-
essen befriedigenden E'inheil 'und einer der Rechtsf<rrderung genügenden Freiheit, mit
der Zustimmung der wirklichen Machthaber zustande komme 82 • Zugleich hat er hier
die positiven Einheitsvorstellungen des .Frühliberalismus noch einmal klar um-
rissen. Die Einheit 1'eutschlands ... wie der Patriot sie wünscht und fordert, sei eine
F.in h11it, die iln., nnbe.sch.adet der Selbständigkeit der Gliederstaaton, in allom, was ihr
eigenes oder eigentümliches Staatsleben betrifft, die großen Grundsätze der politischen
und bürgerlichen Freiheit im Innern des ganzen Bundes handhabe und herr.~chend
erhalte, und, was die auswärtigen Verhältnisse betrifft, Teutschland als eine Macht,
beseelt 'von einem nationalen Gesamtw·illen, als e'ine 'imponierende, von jeder Verletzung
abschreckende Macht darstelle. Eine solche Einheit könne nur die Frucht einer lautem
und lebenskräftigen N ational-Repräsentat·ion sein 83 . Dle1;e lllÜMMe an die Stelle ileA deut-
schen Bundestags in Frankfurt treten. Die moderne Einheit Deutschlands konnte
ahm für Rotteck, der hier radikaler war als Welcker und Schulz, nicht ohne eine
gewählte Gesamtvertretm1g uer Nation verwirklicht werden.
Dem liberalen Einheitsbegriff stellte er das Einheitsbewußtsein der das Metter-
nichsche System tragenden Aristokratie der Höfe gegenüber, die sich- für die Libe-
ralen - in reaktionärer Frontstellung gegen das Zeitgemäße, das Recht des Volkes

Denkschrift, wekher die Fürsten wie ein Gespenst.verfolgt- es ist die Furcht, die Deutschen
möchten sich je erinnern, <laß sie einst ein Vaterland hatten. Alle Bemühungen der ·Höfe sind
rlarauf gerichtet, die letzten Spuren dieses gemeinsamen Bandes zu vernichten; alle Maßregeln
zielen rlahin, sich zu isolieren, die Deutschen einander zu entfremden und einen Provinzial-
egoismus zu schaffen. Daher tue man alles, daß der B11,ndP.~WfJ N11,l/, AM;, wenn es nic.ht um
Repressionsmaßregeln, sondern darum gehe, das Band zwischen den Deutschen Iilit seiner
Hi}fe enger zu knüpfen, zit. IIEINRICH v. GAUJ!at.N, Das Leben des Generals Friedrich von
Gagern, Bd. 1 (Leipzig, Heidelberg 1856), 271 f.; vgl. CARL v. RoTTECK, Allgemeine Ge-
schichte, vom Anfang der historischen Kenntnis bis zum neuesten Pariser Frieden 1856,
20. Aufl., Bd. 9/10 (Braunschweig 1858), 470.
81 „Westbote" Nr. 47 v. 16. Februar 1832, abgedr. in: Einheit und Freiheit. Die deutsche

Geschichte von 1815-1849 in zeitgenössischen Dokumenten, hg. v. KARL ÜBERMANN


(Berlin 1950), 113 f.
8 2 C.ARL v. RoTTECK, Besprechung von: Wilhelm Schulz, Teutschlands Einheit durch

National-Repräsentation (1832), Ges. u. Nachgel. Sehr., hg. v. Hermann v. Rotteck, Bd. 2


(Pforzheim 1841), 348.
83 Ebd., 350.

134
II. 10. 'Einheit' im Vormärz Einheit

auf Einheit und Freiheit, zusammenfand. Der Einheit dieser Richtung, schreibt
Rotteck, wäre freilich die Spaltung unendlich vorzuziehen, und es ist dieselbe - eine
itio in partes - auch das einzige und Höchste, was nach der faktischen Lage hier je zu
lwffen oder zu erwarten ist: in dem Fall nämlich, wenn die konstitutionellen Für-
sten das Prinzip, worauf ihr Recht, ihr Ruhm beruhen, einmal erkennen und schätzen
lernen und wenn sie, in Folge davon, gegenüber den absolutistischen Bundesgliedern
und ihren Diktaten eine die Freiheit schirmende Stellung nehmen 84 • Eine Vereinigung
zu wahrhaft liberalen und konstitutionellen Gesetzen und Einrichtungen läßt sich nach
Meinung Rottecks von einer National-Repräsentatior_i, kaum ... erwarten, obwohl
die Forderung nach ihr aus allgemeinen und V ernunftgründen ein hohes Maß an
Berechtigung habe; er trat deshalb für eine engere Vereinbarung der konstitutionellen
Bund~ylieder ein. Ein engerer Bund der konstitutionellen Regierungen würde die Ge-
samtheit derselben der Ge/ahr der Überwältigung durch die europäischen Großmächte
- gemeint sind vor allem Preußen und Österreich als die großmächtigen euro-
päischen Bundesglieder - entziehen und ihren Völkern den Fortbestand des konstitu-
tionellen Prinzips sichern 85 • Die deutsche Eigenart erforderte also sowohl die Natio-
11alve.r1::1iuuwlung ak au.uh- ilie8 wiL uesumle.re.r: Detonung - ein Föderationsorgan.
Einheit der deutschen Nation sollte demgemäß nur in Verbindung von unitarisch-
repräsentativem und bündischem Prinzip begriffen werden, wobei letzteres freilich
ausdrücklich nicht dem Staatsrecht des als unzulänglich angesehenen Deutschen
Bundes entsprechen sollte.
Das Begriffsfeld von 'Einheit' wurde im Vormärz hauptsächlich von der national-
politischen Konzeption des Liberalismus besetzt: die nationale Einheit sollte an
die Stelle des Deutschen ~undes treten, um Freiheit zu ermöglichen. Polit.ifmhA
Einheit galt als die unabdingbare Voraussetzung einer gesicherten politischen
Freiheit. Daneben wurde der politische Begriff 'Einheit' jedoch mit einer anderen,
für den Liberalismus gleichfalls zentralen Forderung verknüpft.
Dem Mangel an nationaler Einheit stand in der Zeit des Deutschen Bundes die sich
immer mehr befestigende politische Einheit der Einzelstaaten gegenüber, verkörpert
in der bürokratisch-zentralistischen Herrschaftsstruktur dieser Staaten, der „Ein-
heit der Staatsgewalt" 86 • Diese Einheit nun erschien der bürgerlich-liberalen
Bewegung nicht nlll' iu nationalpolitischer Hinsicht als eine partikulare, unvoll-
ständige Einheit. Unter dem Stichwort „Staatsverwaltung" findet sich bei ROTTECK/
WELCKER folgende Kritik am monarchisch-obrigkeitlichen Beamtenstaat, wie er
sich in der Epoche des Absolutismus herausgebildet hatte: Die unvermeidliche Folge
der Aufstellung einer selbständigen, vom Volke gesonderten und abgeschlossenen höch-
sten Autorität zur alleinigen Regierung und Verwaltung des Staates-war ... , daß die
sta.a.tsgesellsch.a.ftUch.e. Rinluiit 11P.rlMP.'Yl{f1:ru; 11.nil an ilP.rP.n StR.lTR. P.in D11ali.~m1.1,.~
trat. Regierende und Regierte, Verwaltende und Verwaltete standen sich hier nämlich

84 Ebd., 350 f. Vgl. RoTTECK, Das Jahr 1831, ebd., Bd. 1(Pforzheim1841), 362: Laß also

zuvörderst die Freiheit in den Gliederstaaten sich befesti,gen und ihre hiebe, ihren Stolz tief
eindringen in aller Teutschen Herz.
ss RoTTECK, Besprechung, 351 ff.
86 Vgl. THEODOR ScmEDER, Partikularismus und Nationalbewußtsein im Denken des

deutschen Vormärz, in : Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815---1848, hg. v.


WERNER CoNZE (Stuttgart 1962), 9 ff„ bes. 23 ff.

135
Einheit lf. 10. 'Einheit' im Vormärz

als Gegensätze gegenüber, oft mit entgegengesetzten Interessen; und je mehr die Herrscher
mit ihren Agenten sich abschieden und abtrennten vom Volke, um eine von demselben
durchaus unabhängige, für sich bestehende Macht zu bilden, desto mehr mußte sich
dadurch der Zwiespalt in der Staatsgesellschaft vergrößern 87 • Die „staatsgesellschaft-
liche Einheit" wurde für die Liberalen nur durch eine konstitutionelle Verfassungs-
ordnung gewährleistet88 • England diente hier als Vorbild. Es habe ein System des
Selbstregimes der Staatsgesellschaft verwirklicht, das im Gegensatz stehe zu einem
lediglich Zuständen der V olksunmündiglceit angemessenen vormundschaftlichen Regi-
ment89. Das englische Prinzip des Selbstregierens und Selbstverwaltens beherrsche
alle Sphären des öffentlichen Lebens, und so entwickele sich hier das freieste Staats-
lebm ohne Gefährdung der staatsgesellschaftlichen Einheit90 •
'Einheit' bezeichnet in diesem Zusammenhang die innere Kohärenz politischen und
sozialen Lebens, allgemeiner formuliert:die enge Verflechtung von Staat und Gesell-
schaft. Sie wurde von den Liberalen in einem Vcrfassungsprogramm angestrebt,
das die gerade für deutsche Verhältnisse typische Trennung von Staat und Gesell-
schaft zu überwinden suchte, den Staat - nach englischem Vorbild - zu einem
LeukUügt:1au1>tiehuß <ler Getiell.ichuft machen sollte. So sind im Fruhliberalismus die
Begriffe 'Einheit' nnrl 'Frnihr.it' anf rloppr.lt.P. WP.iRP. aneinandergekettet: rli11 politi-
sche Einheit der deutschen Nation erschien als Voraussetzung freiheitlicher Ver-
fassungsreformen, und diese wiederum schufen dann erst jene Einheit, durch die
die äußere, politisch-nationale Einheit ergänzt und innerlich fest begründet wurde:
die „st1111tsgesellschaftlichc Einheit".
Die Fülle von Erwartungen, die man mit 'Einheit' verband, hat gerade im Vormärz
r.usätzlich bewirkt, daß man den Begriff über die konkreten politischen Zielvorstel-
lungen hinaus auflud mit irrational-utopischen, quasireligiösen Hoffnungen - der
1-Wckgriff auf christliche Einheitsvorstellungen ist hier sehr bezeichnend. 'Einheit',
auch 'Einigkeit' und 'Eintracht' erhielten einen chiliastischen Unterton im Sinne
von „ Wiedergeburt", „Erneuerung", „Ende aller Spannungen und Gegensätze".
Etwas davon spiegelt sich in den Worten wider, mit denenJoHANNGEORGAUGUST
WIRTH 1832 die Reaktion auf die während des Hambacher Fests immer wieder
vorgetragene Forderung nach „Befreiung und Wiedervereinigung" beschrieb. Wie
e·in elektr·isclter F·unlw wfrlctc das Zauberwort der Einheit Deutsclilands auf alle Gwue

8 7 FRIEDRICH WILH.· AUG. MUR.HARD, Art. Staatsverwaltung, RoTTECK/WELCKER Bd. 15

(1843), 84.
8 8 So wuchs nach liberaler Anschauung das Volk auch überhaupt erst durch die Verfas-
sung, durch daR mit ihr gftwährtft R.ll11ht. 7.nr Teilnahme am öffentlichen Leben zu einer
Einheit zusammen: Ein Volk, das keine Verfassung hat, schrieb RoTTECK 1818, ist - im
edlen Sinn des Wortes - gar kein Volk; es ist eine Schar von Leibeigenen oder Grundholden
oder Leuten; es ist dann ein kollektiver Be,griff, eine Summe von Untertanen, nicht aber ein
lebendiges Ganzes, Ein Wort über Landstände, Ges. u. Nachgel. Sehr;, Bd. 2, 407.
89 MUR.HARD, Art. Staatsverwaltung, 84.
9o Ebd.; vgl.Jon. CHRISTOPH ANTON M. FRH. v. ARETIN, Staatsrecht der konstitutionellen
Monarchie, fortgesetzt v. ÜARL v. RoTTECK (Altenburg 1828), 26, mit scharfer Absetzung
von dem französischen System: der liberale Staat, den man anstrebe, dürfe nicht mono-
litisch und zentralistisch, sondern müsse nach Art eines kleinen Staatensystems aufgebaut
sein, in dem die verschiedensten Kräfte Raum fänden.

136
11. 10. 'l!:inheit' im Vormärz

unsers Landes. Das Volk war in kurzer Zeit wie umgewandelt. Nur eine Idee, nur eine
Sympathie bewegte alles: Die Wiedergeburt des Vaterlandes 91 •
Die gleichen übersteigerten Erwartungen, die sich hierin bezüglich der Idee der
nationalen Einheit widerspiegeln, knüpften sich auch an den Gedanken der „staats-
gesellschaftlichen Einheit". Mochten damit auch ganz konkrete politische Forde-
rungen an den Obrigkeitsstaat gemeint sein, so verband sich mit dem Gedanken
doch nur zu leicht .die Hoffnung, daß nach Erreichung dieses Ziels alle Konflikte ein
Ende haben, überall Eintracht und Harmonie an die Stelle von Streit und Zwietracht
treten wurden. Von hier aus wurde zugleich die traditionelle Abwertung des Partei-
begriffs neu bestätigt: die Partei erschien als ein Element der Spaltung, als unver-
einbar mit der Idee der Einheit des Volkes und seiner Interessen92 • Dabei durch-
drangen sich an die Idee der Einheit geknüpfte ubopümhe Hoffnungen und politi-
scher Absolutheitsanspruch und verschmolzen, besonders bei einem Teil der
demokratischen Linken, untrennbar miteinander - ein Vorgang, der sich - theo-
retisch vorbereitet von Rousseau - in gleicher Weise nach 1789 in Frankreich
beobachten läßt. Wie hier griff er mehr und mehr auch auf den sozialen Bereich
über und vereinigte sich mit der Gleichheitsidee - man denke insbesondere an die
Schriften des jungen Marx, in denen sich diese Entwicklung deutlich widerspiegelt.
Höchstes Ziel aller Einheitserwartungen aber blieb bis 1848 die nationale Einheit.
Mit ihr verbanden sich, die Forderung nach der politischen Einheit immer mehr
dynamisierend, alle weiteren Hoffnungen nicht nur im engeren politischen, sondern
auch im geistigen und sozialen Bereich, die Hoffnungen auf eine alle Schäden
beseitigende „Wiedergeburt" der Nation. Wie in einem Brennspiegel faßte der
Artikel „Einheit" bei RoTTEOK/WIDLOirnR noch einmo,l alle Begründungen für diese
Forderung zusammen93 • Es wird an Herders Gedanken von der Individualität der
Völker erinnert, der der Wurzelboden der Idee der Nationalität gewesen sei. In die-
sem geistigen Raum habe die Überzeugung wachsen und zu einem unverlierbaren
Bestandteil des politischen Bewußtseins werden müssen, daß den durch gemein-
same Geschichte und Kultur verbundenen großen Volkseinheiten das Recht zustehe,
als unabhängige Einzelwesen zu bestehen und sich auszubilden94 • Besondere Umstände
begünstigten . . . die Entwicklung der Begriffe von Nationaleinheit imd Nationalität.
Das seien die Ideen gewesen, welche durch die französische Revolution in Umlauf
gesetzt wurden, und zum anderen die Kämpfe, die die Völker Europas gegen die
Umgriffe und Eroberungen Napoleons führten. Aus den Befreiungskriegen brachten
Spanier, Russen, Deutsche ... als geistigen Gewinn das inehr oder minder deutliche
Bewußtsein mit, daß es eine Einheit des Volkes gebe, wie es eine Einheit der Glieder

91 JoH. Gli10R.G Arm. WrnTH, n11.A N11.t.ion11.lfAAt. OAr DAntR11h1m 7:11 H11.mh11.11h (NAnRt.11.rlt
1832), 3; eine Fülle von weiteren Belegen für die gerade auf dem Hambacher Fest immer
wieder zu beobachtenden chiliastischen Einheitserwartungen bei VEIT VALENTIN, Das
Hambacher Nationalfest (Berlin 1932).
92 Vgl. allgemein THEODOR ScHIEDER, Die Theorie der Partei im älteren deutschen Libera-

lismus, in: ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit (München 1958), llO ff.;
LOTHAR GALL, Das Problem der parlamentarischen Opposition im deutschen Früh-
liberalismus, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung, Fschr. Theodor
Schieder, hg. v. KURT KLUXEN u. WOLFGANG J. MoMMSEN (München, Wien 1968), 153 ff.
93 WILHELM SCHULZ, Art. Einheit, RoTTECK/WELCKER Bd. 4 (1837), 636 ff.

94 Ebd., 638.

137
Einheit 11.10. 'Einheit' im Vormärz

des menschlichen Körpers und der geistigen Kräfte gibt, welche den Körper beseelen,
und daß jeder V ersuch, diese Einheit zu zerreißen, ein V erbrechen gegen die Rechte
der Menschheit ist9 5. Der Begriff 'Einheit' taucht hier in Verbindung mit den schon
genannten Vorstellungsinhalten auf: die 'Einheit' der Nation oder des Volkes wird
als ein geschichtliches Recht ausgegeben, das die Französische Revolution gleichsam
zu einem Naturrecht, einem „Recht der Menschheit" erhöht habe.
Hinsichtlich der konkreten Erwartungen, die man mit der Idee der .nationalen
Einheit verband, läßt sich allerdings nach 1830, verstärkt nach 1840 innerhalb uer
sogenannten „Bewegungspartei" eine zunehmende Differenzierung beobachten, die
zugleich den unterschiedlichen sozialen Standort und die UnterRohiP.illiehkeit der
Interessen ihrer Träger widerspiegelt. Insbesondere seit der Begründung des deut-
schen Zollvereins im Jahre 1833 traten, vor allem in den Kreisen des ·besitzenden
Bürgertums, wirtschaftliche Überlegungen mehr und mehr in den Vordergrund.
Zwar hob man auch hier die über den aktuellen Zweck hinausgehende poliLische
Bedeutung des neuen wirtschaftlichen Zusammenschlusses hervor, betonte mit
PAUL AcHATIUS PFIZER seine Funktion eines V 0rkämpfers und Verteidigers des neuen
Deutschlands96 und feierte ihn - so ERNST MoRITZ ARNDT im Jahre 1843 - als
Förilemr eineR schönen Gesamtgefiihls97 • Doch zugleich erhielt die Dliikussion über
das Problem der deutschen Einheit durch diesen „Nationalverein im Merkantilisti-
schen" (.Pfizer) einen neuen Akzent. Die Idee einer festeren politischen EinigunlJ
sei, so diagnostizierte schon der Artikel „Einheit" bei RoTTECK/WELCKER, unter den
Dout&ohott populärer und ·von größe1·er prakt·isclu;;r Btilt•ut·uny als dü~ Idee irgend-
einer bestimmten Verfassung, die vielleicht an die Stelle der bestehenden. treten
könnte98 • Hier wurde auf eine Tendenz hingewiesen, die gerade auch im Zusammen-
hang mit den Vorteilen gesehen werden muß, die aus der wirtschaftlichen Einigung
erwuchsen: die Auflösung des unbedingten Zusammenhangs zwischen Freiheits-
und Einheitsforderungen unte1· gleichzeitiger Akzentuierung der letzteren. Dieiie
Tendenz war in den Kreisen des besitzenden Bürgertums, die aus wirtschaftlichen
Gründen am ungestümsten über den engen Rahmen des partikularen Staates hin-
ausdrängten, am stärksten ausgebildet. Die wirtschaftlichen Interessen an der
nationalen Einigung begannen hier langsam den Gedanken in den Hintergrund zu
drängen, daß diese nur im Rahmen einer freiheitlichen Verfassung verwirklicht
werden dürfe.
Demgegenüber hielt man auf dem linken Flügel der „Bewegungspartei" an diesem
Gedanken unbeirrt fest. Schon auf dem Hambacher Fest von 1832 gaben einige
Teilnehmer die Parole aus: „Lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit",
und auch ÜARL VON RoTTECK, unbedingter Gegner einer Einigung unter Führung

95 Ebd., 638 f.
96 PAUL AcHATIUS PFIZER, Gedanken über Recht, Staat und Kirche, Bd. 2 (Stuttgart 1842),
~38.
97 W e.1.ch. ein. reichi.s deutsche8 Leben und Streben, welch ein schöne,, GP.11amtue.fühZ hat 11i.r.h. an

und a'UB diesem Verein entwickelt, ERNST MoRITz ARNDT, Versuch in vergleichender Völker-
geschichte (Leipzig 1843), 423.
98 ScHULZ, Art. Einheit, RoTTECK/WELCKER Bd. 4, 640 (1. Hervorhebung v. Verfasser,
2. im Text),

138
Il. 10. 'Einheit' im Vormärz Einheit

des „reaktionären" Preußen und daher auch des Zollvereins, hat sich des öfteren
in diesem Sinne ausgesprochen99 •
In scharfer Frontstellung gegen die bürgerlichen Liberalen und in enger Anlehnung
an das Einheitsmodell des westeuropäischen Liberalismus haben dann vor allem
die geistigen Wortführer der sich ausbildenden d!:'.mokratischen Partei den unauf-
löslichen Zusammenhang zwischen freiheitlicher Selbstbestimmung und nationaler
Einheit noch einmal nachdrücklich hervorgehoben. Die, wie das französische Bei-
spiel lehre, ihrem W escn nach zusammengehörigen Begriffe 'Einheit' und 'Freiheit'
seien, so bemerkte etwa ARNOLD RuGE 1843, in Deutschland in unpraktische, illu-
sorische Phrasen verwandelt und zugleich, aus diesem ihrem Zusammenhang her-
ausgelöst, ihrer Dynamik beraubt worden. Gleichzeitig sei hier durch die deutsche
Bundet:iakte, die d'ie 'irnrnerwälirende Zerstückel'ur111 De,utsclilands Z'Urn Gesetz gemacht
habe, der ausländische Begri"(j 'Einheit' gleichsam pervertiert worden1° 0 . Nicht die
grn1ohi.chtlioh gewacheono politieoho Struktur Deuteohlande, dae war der etillBohwoi-
gende Schluß, sondern allein die freiheitliche Selbstbestimmung seiner Bewohner
könne über Form und Verfassung des künftigen deutschen Nationalstaats entschei-
den - ein Gedanke, von dem aus die äußerste Linke der Demokraten schon im
Vormii,rr. r.11 flr.r flbr.rr.r.ugung gr.langt,r., flir. „r.inr. unfl unt,r.ilharr. Hr.pu hlik" Rr.i am:h
für Deutschland die einzige Form, in der sich das freiheitliche Selbstbestimmungs-
recht seiner Bürger adäquat verwirklichen könne.
Stellte der linke Flügel der Demokraten dem an der überlieferten staatsrechtlichen
Struktur Deutschlands orientierten Einheitsmodell der Liberalen die französische
Einheitskonzeption der „republique une et indivisible" entgegen, so versuchte der
Verfasser des Einheitsartikels bei RoTTECK/WELCKER den Einheitsbegriff aus dem
direkten Bezug auf die deutschen Verhältnisse herauszulösen. Er enthüllte damit
ein bisher nur am Rande behandeltes, nicht weniger dynamisches Element der
traditionellen politfoohon Einhoitevowtollungon in Doufochland. Er etollto Hordcre
Idee der Einheit der Nation, die bisher fast immer auf das Reich bzw. dann den
Deutschen Bund bezogen und dadurch gleichsam entschärft worden war, dem
Gedanken der politischen Einheit der Staatsgewalt und der Staatsanstalten gegenüber
und arbeitete scharf die Spannungen heraus, die zwischen beiden entstehen konnten.
Die Idee der E'inhe-it, heißt et:i in diet:iem Artikel, komme in duppt!lter Bez'iekur111 'in
Betracht: als politische Einheit der Staatsgewalt und der Staatsanstalten und als
natürliche Einheit der durch gleiche Abstammung und Sprache bedingten Nationalität
. . . Dauert eine solche politische Verbindung lange genug, so wird endlich eine Ver-
schmelzung der verschiedenartigen Bestandteile erfolgen, oder die schwächere N atio-
nalität wird in der herrschenden untergehen. Allein so lange die Verschmelzung nicht
vollstä.ndig 1:st, bleibt selbst d1:e pol1:t1:sche E1:nheit sch.wa.nkend und wn.sicher 101 • Der
politischen Einheit der Staatsgewalt stand also die natürliche Einheit der durch gleiche
Abstammung und Sprache bedingten Nationalität gegenüber. Beide könnten sich -
wie in Frankreich - decken, sie könnten aber auch inkongruent sein, sei es, daß die

99 So HERMANN v. RoTTEOK in; CAEL v. RoTTECK, Ges. u. Nachgel. Sehr., Bd. 4 (Pforzheim
1843), 400 u. ö.
100 ARNOLD RuaE, Ueber die intellectuelle Allianz der Deutschen und Franzosen (1843),
SW 2. Aufl., Bd. 2 (Mannheim 1847), 340.
101 SCHULZ, Art. Einheit, ROTTECK/WELCKER Bd. 4, 637.

139
Einheit n. 11. Die Aktualisienmg 1848

politische Einheit über die natürliche hinausgreife, sei es, daß sie hinter ihr zurück-
bleibe. So sind hier in abstrakter Form bereits die Probleme vorweggenommen, die
sich dann der Frankfurter Nationalversammlung bei dem Versuch stellten, einen
einheitlichen deutschen Nationalstaat ins Leben zu rufen.

U. Die Aktualisierung 1848


Die Revolution des Jahres 1848 führte die Einheit::;erwartungen der deutschen
Nationalbewegung auf ihren Höhepunkt. Der Deutsche Bund erschien geradezu
als die Negation der Einheit. Er sei, wie JOHANN GusTAV DROYRF.N sagte, nichts
anderes gewesen als der organisierte Mangel der staatsrechtlichen Einheit der deut-
schen Nation, auf die sie außer dem alten Recht das neue der blutig erkämpften Freiheit
hatte, - nichts anderes als die stets wache Sorge, jedes V erlangen, jeden Schritt zur
wahren nationalen Einigung niederzuhalten, nichts anderes als die Garantie für die
Ohnmacht Deutschlands, wie sie das wohlverstandene Interesse der großen Nachbar-
mächte ... forderte 102 • Die große Mehrheit der Paulskirche hielt auch im revolutio-
nären Aufbruch an dem Einheitsbegriff fest, der in den politischen und geistigen
Traditionen Deutschlands angelegt war. Im „Vorfomiungocntwurf", den der Ver-
fassungsausschuß am 19. Oktober 1848 dem Parlament zur Beratung vorlegte, sind
die „Motive" begri:ffsgeschichtlich bemerkenswert, die in derselben Sitzung zur
Sprache kamen. Die Autoren dieses Entwurfs strebten eine neue Bundesform an,
d·ie z:wiscl/R,n der E'inlwitsregiemng und det b·ishe·r·igen Form des Staatenbwndei; 'in der
Mitte steht. Nur die Form des Bundesstaates vermöge, den bestehenden Verhältnissen
und Interessen Deutschlands zu entsprechen 103 • Dieser Bundesstaat beruhe auf einer
herrlichen Vereinigung von zwei Elementen, dem nationalen Elemente der Gemeinsam-
ke-it 'Und dem Elemente partikularer Eigentümlichkeit. In weiser Verteilung enthält
jedes Elernent das, was ihm notwend·ig z-ugehiiret 101 • Su lü::;e die ::;taat::;rechtliche Form
des Bundesstaates die große Aufgabe, die Einheit mit der Vielseitigkeit und Gliederung
ohne Nachteil für die erste zu verbinden 105 •
Der nationale Einheitsgedanke der 48er Liberalen stellte sich also nicht in einem
Akt revolutionärer Destruktion der staatsrechtlichen Überlieferung Deutschlands
entgegen, ::;undem bewußt in sie hinein. An der für die deutschen Verhältnisse eigen-
tümlichen partikularen Struktur fand er seine Grenze: Er suchte diese staatliche
Vielfalt nicht zu beseitigen, sondern in einem vom Modell der nordamerikanischen
Verfassung angeregten Bundesstaat zu bewahren. 'Einheit' bedeutete auch für die
liberalen Wortführer der Revolution in erster Linie „bundesstaatliche Einheit".
Nur ein Teil der Demokraten hielt ungeachtet der liberalen Mehrheit an dem
französischen Einhcitßmodcll fest und verwarf die Oedanken der Frankfurter
Mitte als faulen Kompromiß. Diese wollte, so DROYSEN, die deutschen Einzelstaaten
nicht in eine einzige konzentrische Monarchie oder in eine republique une et indivisible
untergehen lassen; vielmehr sollte die Einheit Deutschlands ... die Mannigfaltigkeit

102 JoR. CtrSTAV DROYSEN, Die Stellung der Ilundeavormmmlung (1818), Polit. Sulll'.,
hg. v. Felix Gilbert (München 1933), 154.
103 Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 4 (1848), 2722.
104 Ebd., 2723.
loo Ebd.

140
n. 11. Die Aktualisierung 1848 Einheit

unserer territorialen Bil,dungen überschirmen und damit selbst nur umso gesunder,
kräftiger, lebensvoller werdenios.
Den Vertretern der alten Ordnung aber war schon die Einheit des Verfassungs-
entwurfs der Nationalversammlung verabscheuungswürdig. Im Gegensatz zu der
liberalen Vereinbarkeit, ja Untrennbarkeit von Einheit und Freiheit erschien ihnen
Freiheit durch eine Einheit, die über die partikulare Staatseinheit hinausging,
gefährdet. Prototypisch für diese Fassung von 'Einheit' als Abschreckungsbegriff
heißt es 1848 in einer bayerischen Denkschrift: Die vollständige Zentralisation einer
großen Nation ist gefährlich, wo nicht geradezu verderblich für ihre Freiheit im wahren,
edlen Sinne, für ihre Bil,dung, für ihren Wohlstand. Außer den historischen Beispielen
Persien, Rom, Byzanz und China wurde Frankreich als Schreckensbild beschworen.
Es schm((,r}1J.PJ. nntr.r dr,r Tyrn.nnr.i non Pari.~, ilR.~.~p,n .~ütr.nlo.~r.r Pöhr.l 11.nter der J,eitum.g
weniger Ehrgeiziger es von einer Revolution in die andere stürzt107 • Der deutschen
Nation widerstreite solche zentralisierende .li]inheit vollkommen. So wurde hier wie
auch übrigens oft bei den Liberalen, die ihren „Bundesstaat" gegen die nivellierende,
demokratisch begriffene Einheit verteidigten, der deutsche Volkscharakter und die
Eigenart des „germanischen Lebens" im Gegensatz zu den Romanen beschworen
und daraus die Ablehnung der Einheit oder eine spezifisch deufa!che Einheit ab-
geleitet.
Tm „8t11.a.tRlP.xikon" von RoTTF.oK/WF.r.OKF.R wa.r zwischen der „politischen Einheit
der Staatsgewalt" und der „natürlichen Einheit der durch gleiche Abstammung
und Sprache bedingten Nationalität" unterschieden worden. Diese Unterscheidung
gewann 1848 in bezug auf den Vielvölkerstaat Österreich immense praktische
Bedeutung. Bei der „Frage an Österreich" ging es darum, einen Einheitsbegriff zu
finden, der weit genug war, den besonderen Verhältnissen Österreichs Rechnung zu
tragen, ohne daß dabei notwendig die Idee der natürlichen nationalen Einheit
zugunsten einer engen staatlichen Verbindung mit .Nichtdeutschen durchbrochen
werden mußte. Für die Großdeutschen war es mit Lunwrn UHLA.ND e1:ne stiimper-
hafte Einheit, die ein Dritteil der deutschen Länder außerhalb der Einigung läßt. Daß
es schwierig ist, Österreich mit dem übrigen Deutschland zu vereinigen, wissen wir alle 108 •
Die Kleindeutschen wollten es jedoch nicht zu einer Überschneidung von politischer
und natürlicher Einheit kommen lassen. Sie strebten einen geschlossenen National-
staat unter Ausgrenzung der Deutsch-Österreicher an. Der Präsident der National-
versammlung, HEINRICH VON GAGERN, suchte durch seinen Gedanken eines engeren
und weiteren Bundes die beiden sich ausschließenden Einheitskonzeptionen zu ver-
binden. Österreich darf . . . die Staatseinheit zwischen seinen deutschen und nicht-
deutschen Provinzen nicht aufheben; wir dürfen ihm nicht die Zumutung machen, ein
Verbrechen an seinen Provinzen zu begehen, die ver/assungsmäßig berechtigt sind, die
ihnen durch diese Staatseinheit gebotenen Vorteile sich erhalten zu sehen109 • Die
Frage stehe so: Ist es mehr im Interesse Deutschlands, daß das gesamte Deutschland
sich nur so gestalte, eine so laxe Einheit eingehe, daß Österreich, ohne zur Trennung

106 D1w~i;J!J.N, Stellung uer Bu11ue~ve1·~awwlu11g, 156.


107 MA.x DoEBERL, Bayern und Deutschland. Bayern und die deutsche Frage in der
Epoche des Frankfurter Parlaments (München 1922), 120.
108 URLA.ND. am 22. Januar 1849, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7 (1849), 4819.
100 GAGERN am 26. Oktober 1848, ebd., Bd. 4, 2898.

141
Einheit Il. 12. Problem der sozialen Einheit: Lorenz von Stein, Karl Man:

der Staatseinheit seiner deutschen mit den nicht-deutschen Provinzen genötigt zu wer-
den, unter gleichen Verhältnissen wie die übrigen deutschen Staaten dem Reich ange-
hören kann? Oder ist es nicht im Gesamtinteresse der Nation, sowohl Österreichs als
des übrigen Deutschlands, daß wenigstens das übrige Deutschland sich fester an ein-
ander anschließe; auch wenn Österreich wegen seiner außerdeutschen Provinzen unter
gleichen Be<lingungen in diesen engsten Bund nicht eintreten kann, dabei aber nichts-
destoweniger ein enges Bundesverhältnis zwischen Österreich und dem übrigen Deutsch-
land aufrechterhalten werde? 110 Gagern glaubte, daß die Begriffe 'Staatenbund' für
das eine - die laxe Einheit - und 'Bundesstaat' für das andere - den festen Zu-
sammenschluß Deutschlands ohne Österreich - zu unbestimmt seien; es können
auch Bundesverhältnisse ge<lacht werden, die zwischen beiden in der M iUe liegen und
die Übergänge bildenlll. Das doppelte Bundesverhältnis entspreche am ehesten dem
Bemühen, die Einheit zu schaffen, soweit sie unter den gegebenen Verhältnissen ·nützlich
ist; weiter kann unser Beruf nicht gehen 112 • Hinter diesen Sätzen steht eine pragmati-
sche Einheitsvorstellung, nicht eine ideologische, wie sie zum einen durch den
ethnisch-kulturellen Nationsbegriff, zum anderen durch die Ioee oP.r „rP.p11hliq1rn
une et indivisible" vermittelt wurde .
. Generell läßt sich zum politischen Einheitsbegriff der liberalen Mehrheit von 1848
sagen, daß er ganz auf die gegebene geschichtliche Situation bezogen war. Dies
bezeugt sehr deutlich die nun wieder enge Verbindung der Begriffe 'Bund' und
'Einheit'. Man wollte, wie Gagern es einmal ausdrückte, die Einheit im Bundesstaat
begründen 113 • In einem Bundesstaat sei die Einheit der Interessen zu schaUen, für
welche die Einheitsformel in der Verfassung nur der entsprechende Ausdruck sein darf,
das Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck' . . . Da wir solche Einheit zu schaUen berufen
sind, mahnte Heinrich von Gagcrn, hüten wir uns, daß wir zu enge Ffmneln wältlen,
die nationalen Interessen in eine Zwangsjacke drängen gegen ihre Natur 114 •

12. Das Problem der sozialen Einheit und seine begriffliche Widerspiegelung:
Lorenz von Stein, Karl Marx

Das Scheitern der Revolution von 1848 hatte nicht nur die nationalen Einheits-
hoffnungen zunichte gemacht, sondern auch ein' scharfes Licht auf die Tatsache
geworfen, wie sehr die vor 1848 so geschlossen wirkende deutsche Nationalbewegung
in Wahrheit, noch über den Gegensatz großdeutsch-kleindeutsch hinaus, in sich
gespalten war. Immer deutlicher waren im Verlauf der Revolution soziale Interessen-
gegensätze hervorgetreten, die die Kluft zwischen liberalen und radikal dcmo
kratischen Kräften mehr und mehr vertieften. Politische wd soziale Forderungen
hatten sich 1848 erstmals durchkreuzt und zu einer weiteren Schwächung der
revolutionären Bewegung geführt. LORENZ VON STEIN glaubte in diesem Vorgang
sogar die eigentliche Ursache für das Scheitern der Revolution zu erkennen. Die
nicht ungegründete Furcht vor einer socialen Umwälzung, schrieb er in einem anonym

110 Ebd.
111 Ebd.
112 Ebd„ 2900.
113 Ebd„ 2899.
114 Ebd„ 2900.

142
ll. 12. Problem der sozialen ll:inheit: Lorenz von Stein, Karl Man: Einheit

erschienenen Aufsatz im Jahre 1851, besiegte die Hoffnung auf die Einheit Dcutsch-
landsll5. Jedenfalls aber erhielt 1848 der Glaube an die natürliche Einheit der
bürgerlichen Gesellschaft, dem die Mehrzahl der Vertreter der vormärzlichen
Bewegung gehuldigt hatte, einen entscheidenden Stoß. Es wurde jetzt allgemein
bewußt, daß Einheit nicht nur ein politisches und nationales, sondern auch ein
soziales Problem darstellte, ein Problem, das angesichts der wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Gegensätze des frühindustriellen Zeitalters ein immer größeres
Gewicht erhielt. Diese Gegensätze manifestierten sich konkret in der Heraus-
formung iriteressenbestimmter, schroff einander gegenüberstehender sozialer
Gruppen, in der Bildung von Assoziationen, Bünden und Vereinen, die von diesen
getragen wurden. Es entwickelte sich ein gruppenspezifisches Einheitsbewußtsein,
das in Konkurrenz trat zu den Bindungen an bestehende oder intendierte politische
und nationale Einheiten und diese h1 letzter Konsequenz zugunsten einer inter-
nationalen Solidarität der jeweiligen Gruppe aufzulösen strebte. Im deutschen
Sprachraum ist dieser Vorgang von zwei sehr unterschiedlichen Positionen aus vor
allem durch Lorenz von Stein und Karl Marx analysiert und befqifflich fixiert
worden.
Bei Lorenz von SLein Ließ es tidwu 1842: W·i•r 11elien, daß e11 (das Proletariat) e·in
anderes ist als die Classe der Nichtbesitzer der alten Welt und selbst der neueren
Geschichte; es ha.t sich. z~" einem selbständigen Ganzen erhoben, das sich als Einheit
fühlt, einen Willen zu haben beginnt und auf gemeinschaftliche Tat denkt 116 • Diese
.l!Jntwicklung sei durch die ldee des Socialismus und Communismus hervorgerufen
worden. Sie hätten das Proletariat zu einem eigenen Elemente in der Gesellschaft
gemacht. JJie JJienge schart sich um die (}rundsätze, die willig ihren Ansprüchen
dienen, und cf.11.s d.er a.rmen, a.rbeitenden, leidend.en Cl.a.sse wird eine sta.rke, alles i•er-
neinende und bedrohende Einheit, das Proletariat 117 • So wurde die Einheit des Be-
wußtseins der arbeitenden Klasse bei Lorenz von Stein durch ein geistiges Element
gestiftet, durch Theorien, die den Gegenstand ihrer Reflexion !lolb!lt mit!lohufon.
In seiner „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" hat Stein diesen auf
Bewußtsein und Willen beruhenden Begriff der Klasseneinheit des Proletariats
festgehalten und seinem soziologischen System eingeordnet. Es ist allerdings auf-
fällig, daß er das Wort 'Einheit' selten verwendet, obgleich er es für das Bewußtsein
von Kollektiv- wie IndividualpersönlichkeiLeu ke1111L (.io z.B. in dem Satz: D•urch den
Willen ist jedes persönliche Leben in sich eine Einheit) 118 und über die rein voluntari-
stische Begründung hinaus seine Theorie der sozialen Klassenbewegung mit Kollek-
tivwillen fundamental auf der Erkenntnis rleterminiflrtfm T.11{~flhflWl1ßtRflinR11.11fha11t.
Auch KARL MARX verwendet das Wort 'Einheit der Arbeiterklasse' oder 'Einheit
des Proletariats' in seinen Früh- und Hauptschriften üblicherweise nicht. Doch war
solche 'Einheit' bei ihm ausdrücklich ein Zielbegriff innerhalb seiner geschichtlichen
Theorie. Er entwickelte den Begri!f des Proletariats aus der Analyse der sozialen

115 LORENZ v. STEIN, Demokratie und Aristokratie, BROCKHAUS, Gegenwart, Bd. 9


1854), 343.
116 Ders., Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich (Leipzig 1842), 27.
117 Ebd., 28.
118 Ders., Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage,
3. Aufl.„ Bd. 1 (1850; Ndr. München 1921), 15.

143
Einheit II. 12. Problem der sozialen Einheit: Lorenz von Stein, Karl Marx

Entwicklung seiner Zeit. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dabei der Entwicklung
der Industrie. Sie vermehre nicht nur das Proletariat, sondern wecke in ihm auch
das Bewußtsein der eigenen Kraft. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des
Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die
Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges
Niveau herabdrückt119 • Dieser gleichsam objektiven Vereinheitlichungstendenz inner-
halb des Proletariats entspreche eine andere, die aus seinem Kampf gegen die
Bourgeoisie erwachse: Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois
zu bilden . . . Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen
Empörungen zu verproviantieren. Das eigentliche Resultat dieser Kämpfe sei nicht der
unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Ar-
beiter120 . .Sie war die Voraussetzung der von Marx erwarteten sozialen Revolution,
die den Umsturz der bisherigen. bürgerlichen Gesellschaftsordnung herbeiführen
sollte. Daß Marx den Begriff 'Einheit des Proletariats' hier noch nicht verwendet,
daß er statt dessen den der 'Vereinigung' gebraucht, ist ein unmittelbarer Reflex der
tatsächlichen Verhältnisse zu Beginn der Industriellen Revolution. Noch bildeten
jene Bevölkerungsgruppen, die Marx unter dem Begriff des Proletariats zusammen-
faßte, keine einigermaßen einheitliche „Klasse", die sich als soziale Einheit empfand,
geschweige denn einen einheitlichen Willen entwickelt hätte. Allerdings war Marx
gleichzeitig überzeugt, da.ß dio Organisation der Arbeiter zur Klanne und damit zur
politischen Partei bereits in greifbare Nähe gerückt sei121 • Der FortschriU der In-
dustrie, heißt es in diesem Zusammenhang, dessen willenloser und widerstandsloser
Triiger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die
Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durchdie AssoziationI22.
Diese „Vereinigung der Arbeiter" läßt sie als „Klasse" erscheinen. Marx' Klassen-
begriff implizierte die Einheit des Proletariats, bezeichnete dessen Konstituierung
zur „politischen Partei". Der Zusammenschluß des Proletariats zu einer sozialen
Einheit war für Marx ein geschichtsnotwendiger Vorgang, gleichzeitig jedoch nur
eine Etappe in einem weit größeren Umwälzungsprozeß. Er stellte nur den ersten
Schritt auf dem Wege zu einer Gesellschaftsform dar, in der sich die Identität des
Menschen wiederherstellt, seine .Spaltung in „homme" und „citoyen" aufgehoben
sein sollte: der klassenlosen Gesellschaft. Die Gesellschaft, die die alte bürgerliche
erseLzL, soll eiue eiuheiLlich verfaßte sein, die nicht in Klassengegensätze gespalten
ist, sondern eine Assoziation darstellt, die die freie Entwicklung des einzelnen zum
Mittelpunkt hat123•
DieR zeigt, wie a.nf einer heRtimmten Rtufä der Ror.ia.Jgeschicht.lichen Rntwicklung
der Begriff 'Einheit' an das gesellschaftliche Leben herangeführt werden konnte.
Dessen aus den Besitzverhältnissen erwachsender Antagonismus gestattete es Marx,
die Einheit des Proletariats, seinen Zusammenschluß zur Klasse zu prophezeien.
Diese sich bildende soziale Einheit ist der historische Untergrund, auf dem das
gesamte ideologische System des Marxismus steht, ein System, das mit der ihm

119 MARx/ENGELS, Kommunistisches Manifest, MEW Bd. 4 (1959}, 470.


120 Ebd.
121 Ebd., 471.
122 Ebd., 474.
123 Ebd., 482.

144
II. 18. Naliunalslaall.iche Einigung Einheit

eigenen theoretischen Schlüssigkeit die Bedingung seiner Ermöglichung wieder


aufzuheben suchte: die partikulare Einheit einer bestimmten gesellschaftlichen
Klasse sollte sich im dialektischen Umschlag in eine höhere gesamtgesellschaftliche
Einheit auflösen. Über die differierende Wertung des Proletariats durch Marx und
Stein hinaus bezeugen die sich ähnelnden begrifflichen Formulierungen beider -
'Vereinigung der Arbeiter' und 'Einheit des Proletariats'-, daß sich im Vormärz
eine gesellschaftliche Schicht vom. Ganzen loszulösen begann, die dieses Ganze in
Frage stellte. Der Zusammenschluß der Arbeiterschaft wirkte sich dahingehend
aus, !faß auch die anderen gesellschaftlichen Schichten, vor allem Adel und Bürger-
tum, sich in der Frontstellung gegen sie enger zusammenfanden. So gab die „Ver-
einigung" des Industrieproletariats den Anstoß zu einer mehr oder minder deut-
lichen Herausbildung von sozialen Einheiten. 1851 glaubte WILHELM HEINRICH
RIEHL feststellen zu müssen, daß die alten Gegensätze der Radikalen und Konser-
vativen von Tag zu Tag mehr verblassen - dagegen die Gegensätze der Proletarier,
Bürger, Junker etc. immer frischere Farben annehmen 124• Doch blieb trotz aller
sozialen Kontrastierung und Formierung bestehen, daß das Wort und somit auch
der Begriff 'Einheit' im vollen Sinne vorläufig doch noch vorwiegend auf d.ie
Nation und das nationale Ziel angewendet wurden.

13. Der Begrift" 'Einheit' in den Jahrcn der nationalstaatlichen Einigung


Deutschlands
Im Jahre 1866 bezeichnete HERMANN BAUMGARTEN noch einmal die beiden Ziele,
die die Libe.ralen seit zwei Mensc.henaltern vergeblich verfolgt hatten und von
denen eines nun zum Greifen nahe schien: Zwei miteinander aufs innigste zusammen-
hängende Aufgaben waren uns seit 1815 gestellt: wir hatten den unsere Nation zer-
reißenden Particularismus und den mit diesem verbündeten Absolutismus zu brechen;
wir hatten dem Volk die natürliche Tätigkeit im Staat zurückzuerobern und einen der
Bedeutung dieses Volkes entsprechenden Staat zu schaffen125 • Das Scheitern der
Revolution von 1848 hatte jedoch inzwischen bei einem großen Teil der Liberalen
die Überzeugung wachsen lassen, daß Einheit und Freiheit nicht zugleich erreicht
wcruc11 kü1111LC11, uuß lllUll sich vielmehr Jm ci11ern D1mkeu uurchriugeu rnfü!8e, da8
sich an der gegebenen politischen Wirklichkeit und den in ihr angelegten Möglichkeiten
orientierte; nur so werde man das letzte Ziel, die Einheit in Freiheit, erreichen. Die
deutsche. Einheit ist aus der Traumwelt in die prosaische Welt der Wirklichkeit
hinuntergestiegen, so kommentierte JOHANNES VON MIQUEL diese Entwicklung im
Denken der Liberalen 126 • Lunwm BAMBERGERS Parole: Durch Einheit zur l!'reiheit
- formuliert, im Der.ember 1866 in einem Aufruf an die Wähler Rheinhessens 127 -

124 WILHELM HEINR. RrnHL, Die bürgerliche Gesellschaft (1851; 8. Aufl. Stuttgart 1885),
5 f.
126 HERMANN BAUMGARTEN, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, Preuß. Jbb. 18

(1866), 474.
126 JoHANNES v. M!QUEL, Reden, hg. v. Walther Schultze u. Friedrich Thimme, Bd. 1

(Halle 1911), 198.


127 Nationalzeitung, 4. 12. 1866, Morgenblatt, zit. HE1NR. AUGUST WINKL:ER, Preußischer

Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fort-
schrittspartei 1861-1866 (Tübingen 1964), 122.

10-90386/1 145
Einheit II. 13. Nationalstaatliche Einigung

spiegelt den endgültigen Sieg der sogenannten realpolitischen Tendenzen im Libera-


lismus wider. Da Einheit ohne den Einsatz von Macht nicht erreichbar war, wurde
die ältere Zurückhaltung des Liberalismus gegenüber Macht aufgegeben. Die Be-
griffe 'Einheit' und 'Macht' rückten zusammen. Im September 1866 erklärte KARL
TwESTEN im preußischen Abgeordnetenhaus: Wir dürfen niemanden tadeln, wenn
er jetzt die Frage der Macht in den Vordergrund stellt und meint, daß die Frai.Jen der
Freiheit warten können, wenn nur nichts geschieht, was ihnen dauernd präjudizieren
könnte. Wir dürfen auf die freiheitliche Entwicklung nicht verzichten, aber die Ent-
wicklung der Macht unseres Vaterlandes, die Einigung Deutschlands, das ist di:e
wahre, die höchste Gmndlage, welche wir für die Entwicklung der Freiheit schaffen
können, und an diesem Werk können wir jetzt mitwirken 12 s.
Der Gang der politischen Entwicklung spaltete so in der Vorstellungswelt <leR
Liberalismus den ursprünglichen Zusammenhang der Begriffe 'Einheit' und 'Frei-
heit', ließ die Freiheit hinter der Einheit zurücktreten oder zukünftig aus der
Einheit folgen. Hatte das Jahr 1848 zu der Erkenntnis geführt, daß eine durch-
greifende Einigung der Ansichten auf dem Wege der Diskussion niemals gewonnen
werden konnte, so ließ der Versuch Preußens, die Einheit Deutschlands mit den
überkommenen Machtmitteln zu realisieren, die einleuchtenden . . . Parolen ... :
durch Freiheit zur Einheit, als handgreifliche Chimäre erscheinen (Baumgarten) 129 •
Also von der Einheit zur Freiheit, das i.~t der Wf'17, da.~ .~ind dü~ Mittel 1tnserer Pa.rtei,
schrieb die „Nationalzeitung", das führende Blatt des rechten Flügels der preußi-
schen Fortschrittspartei. Der Einfall, Preußen solle erst freier werden, ist eine 1'orheit,
ist jedenfalls eine Verleugnung unseres Programms. Auf diesem steht der - schwerlich
anfechtbare - Satz, daß die Nation mit 11ere·fr1J.en K räft.en ihre gemeinsame Freiheit
leichter gründen kann als bei der Zersplitterung in Kleinstaaten eine dreißigmal zu
gründende Freiheit; dieser Satz spricht für sich selbst130 • Er blieb freilich im liberalen
Lager nicht unwidersprochen. Die den linken Flügel der preußischen Fortschritts-
partei repräsentierende „Volkszeitung" erklärte <lemgegeniiher: TJfr, 1?1:nheit von
Blut und Eisen würde, selbst wenn sie möglich wäre, die letzten Spuren der Freiheit
vernichten ... Die Einheit ohne Freiheit i.~t so ganz ent,w:hied1m, di:e Feindin der Fre1:-
heit, daß, wenn die Freiheit einmal aufatmet, sie sofort die Einheit zerstört 131 •
Damit waren die Fronten klar abgesteckt. Nationale Einheit bedeutete für die
einen ein Prinzip, das den politischen Fortschritt, die Hincntwicklung auf freiheit-
liche Verfassungsformen unter allen Umständen in sich schloß. Für die anderen
blieb Einheit ohne Freiheit unannehmbar. Sie kritisierten die sogenannte real-
politische Position von einem Standpunkt aus, der ganz in der geistigen Tradition
des Frühliberalismus stand. So vermag der Begriff 'Einheit' auf die politischen
SLrüruungen hinzuueuten, ilie sich in der Auseinandersetzung mit einer Position
bildeten, die die Sache der deutschen Einheit nicht ohne die Priorität der Interessen-
politik, des eigenen Machtzuwachses aufgreifen zu können glaubte.
Mit der Reichsgründung Bismarcks gelangte die Geschichte des politischen Ein-

128 Sten. Ber. Preuß, Landtag 1866/67, Bd. 1 (1866), 108, zit. WINKLEn, Prcußißohcr

Liberalismus, 103.
129 BAUMGARTEN, Deutsoher Liberalismus, 623. 618.

130 Nationalzeitung, 3. 8. 1865, Morgenblatt, zit. WINKLER, Preußischer Liberalismus, 78.


13 1 Volkszeitung v. 16. 8. 1865, zit. WINKLER, Preußischer Liberalismus, 78 f.

146
Il. 13. Nationalstaatliche Einigung Einheit

heitsbegrilfä in gewis1:1em Sillile zu ihrem Abschluß und bestimmte in seiner nun-


mehrigen Ausprägung weithin das öffentliche Bewußtsein. Das Kaiserreich von
1871 verwirklichte wesentliche Vorstellungsinhalte über die Form der deutschen
Einheit, die an der Entwicklung des Begriffs abzulesen waren. Es begründete die
nationale Einheit als eine bundesstaatliche, d. li. unter Wahrung der partikularen
Struktur Deutschlands. Wie schon für viele Männer der Paulskirche der politische
Einheitsbegriff im Vordergrund gestanden hatte, so lag er auch jetzt der neuen
Reichsschöpfung zugrunde. Das Prinzip der „Staatsnation" siegte über das der
„Kulturnation", der „politische" über den „natürlichen" Einheitsbegriff. Als typi-
sches Zeugnis für die gedankliche Antizipation der Entscheidung von 1871 stehe
das „Deutsche Staats-Wörterbuch" von BLUNTSCHLI/BRATER (1862): Die Herstel-
lung eines nationalen Staates erfordert keineswegs die Vereinigung aller nationalan
Bestandteile zu einem Staatsganzen, sondern nur ein starkes Zusammenwirken natio-
naler Elemente, daß das der Nation eigene Staatenbild zu sicherer und ausreichender
Erscheinung gelangt 132 • Der nationale Staat als „Vereinigung" der stärksten, die
Nation repräsentierenden Elemente - das war das politische Leitbild, das 1871 in
die geschichtliche Wirklichkeit umgesetzt wurde.
Wenn mit der Errichtung des kleindeutschen Nationalstaats der staatsnational-
bundesstaatliche Einheitsbegriff im politischen Bewußtsein vorherrschend wurde,
so blieben doch noch lange politische Einheitsvorstellungen lebendig, in denen die
Gegenpositionen zu Bismarcks Lösung des Einheitsproblems hervortraten. Auch sie
fanden in den sechziger Jahren ihre endgültige Fixierung und lieferten in dieser Form
fortan den Gegnern der bestehenden politischen Ordnung das Leitbild. Zwei Kon-
zeptionen kamen in ihnen zum Ausdruck: die großdeutsch-mitteleuropäische, in
die zugleich pangermanistische Elemente verwoben waren, die im weiteren Verlauf
dann immer stärker hervortraten, und die demokratische, die sich am westeuro-
päischen Modell orientierte.
Erstere knüpfte an die politische Ordnung des Deutschen Bundes und die Vor-
stellung der Großdeutschen in der Paulskirche an. Ihre Wortführer fanden sich
vor allem in der sich in den fünfziger und sechziger Jahren herausbildenden katho-
lischen Bewegung, die einerseits in einem protestantisch-liberal bestimmten klein-
deutschen Nationalstaat eine unmittelbare Bedrohung sah und in der andererseits
der alte universale Reichsgedanke noch sehr stark lebendig war. Nur in einem
großdeutschen Reich, so schrieb EDMUND JöRG 1863, werde eswalireAutoritätgeben,
d. h. eine Autorität, welche in logischer Wechselwirkung, wie sie soll, mit der aus-
f.JPdehm.te.~ten A1ttonom1:e uerbwnde.n ist; dies sei die wahre Freiheit im Gesetz der
Einheit 133 • Das Schr.eckgespenst des Zentralismus stand Jörg vor Augen. Nur in
einem föderativen Aufbau Deutschlands glaubte er die Freiheit gewährleistet -
nicht zuletzt auch die Freilieit der religiösen Überzeugung. Die Idee eines groß-
deutschen Reichs unter Österreichs Führung kam seinem Eintreten für eine politische
Föderation entgegen. Denn dieses großdeutsche Reich hätte zur Basis nicht die Ein-
verleibung Deutschlands in Österreich, sondern vielmehr die Einverleibung Deutsch-
österreichs in Deutschland. Der deutsche Reichstag würde nun wohl wie jedes Parla-

132 JoH. ÜASPAR BLUNTSCHLI, Art. Nation und Volk, Nationalitätsprinzip, BLUNTSCHLI/

BRATER Bd. 7 (1862), 159.


133 EDMUND JÖRG, „Zeitläufe", Hist.-polit. Bll. f. d. kath. Deutschland 51 (1863), 982.

147
Einheit II. 13. Nationalstaatliche Einigung

ment die Einheit straffer als nötig fassen und zentralisierende Strebungen entwickeln;
aber der großdeutsche Kaiser würde nicht wie der kleindeutsche dieser Tendenz ent-
gegenkommen, sondern er würde ihrem Übermaß ein dreifaches Gegengewicht halten:
als Haupt- und na~ürlicher Vertreter der deutschen Fürsten und ihrer Rechte, als Fürst
seiner Erbländer und erster Interessent an deren Autonomie, als Monarch seiner un-
abhängigen nichtdeutschen Nebenländer 134. Die lockere großdeutsche Einheit schien
Jörg zudem Garantien gegen einen überstürzten Liberalisierungs- und Demokrati-
sierungsprozeß zu. bieten.
Das großdeutsch-föderalistische Einheitskonzept blieb über Jahrzehnte hin leben-
dig, wurde 1919 in den Berliner und Wiener Nationalversammlungen neu ausge-
sprochen und schließlich, völlig denaturiert, unter Aufgabe des Föderalismus,
politisch mißbraucht. Dabei übte ein politischer Denker, CoNSTANTIN FRANTZ,
wiederholt eine erhebliche Wirkung aus, und zwar mit zwei durchaus gegensätz-
lichen Tendenzen: der Ablehnung des Absolutheitsanspruchs des Nationalstaats
und einem expansiven Nationalismus. Dies war nicht ausschließlich eine geschicht-
liche Paradoxie, sondern diese Doppeldeutigkeit war bereits in seinem Denken und
Werk angelegt. Nachdrücklich hat Frantz die Gefährdung der europäischen Ord-
nung durch die Begründung eines kleindeutschen Nationalstaats hervorgehoben
und dem seine Idee eines mitteleuropäischen Föderalismus entgegengestellt, die
sehr stark am System des Deutschen Bundes orientiert war. Gewiß, schreibt Frantz,
sei der Deutsche Bund ein sehr mangelhaftes Institut gewesen, daß es aber ein Bund
war, entsprach durchaus den Verhältnissen und enthielt sogleich die tatsächliche An-
erkennung des in der deutschen Nation lebenden bündischen Prinzips 135 . Der Bund
als besondere Lebensform der deutschen Nation - das war für Frantz ein Axiom,
aus dem sich die Unmöglichkeit des Einheitsstaates von selbst ergab. Ebenso wie
Terrainbildung und geographische Lage der Begründung eines allumfassenden deut-
schen Einheitsstaates widerstrebten, sei auch die deutsche Nation für ihn nicht ge-
schaffen, weil sie selbst kein einheitliches Wesen bildet, sondern von Anfang an -
um einen Ausdruck Schellings zu gebrauchen - sich als „ein Volk von Völkern"
darstellte 136 . Der Kern der deutschen Frage liege in einer föderativen Aufgabe. Nur
dem Föderalismus könne es gelingen, alle die verschiedenen Bestandteile Deutschlands,
die ein eigentümliches Leben besitzen, . . . zu einem lebendigen Zusammenwirken zu
·verainden137 • In den Gedanken einer föderaLiven !IliLLeleuropäischen Ordnung, auf
den sich die Gegner des geschlossenen Nationalstaates dann immer wieder beriefen,
hat jedoch Frantz unübersehbar einen anderen verwoben: den, daß dem „Deutsch-
tum" in dieser Föderation die unbedingte Führungsrolle zukomme. So konnte

13 ' Ebd., 982 f.


1 35 CoNSTANTIN FRANTZ, Der Föderalismus als das leitende Princip für die sociale, staat-
liche und internationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland
(1879; Ndr. Aalen 1962), 225. ·
136 Ebd„ 220. 224.
13 7 Ebd., 241. Vgl. 227: In der Französischen Revolution habe man die Repiiblique une et

·iruU-vü1ible gefortlel'L, •w1ul, rlie llJYukl 1111.'ltde•rn bi11 lte•ute in allen Entwarfen de11 litbl!!rulib"fft'US.
Weiter heißt es: Was ist denn die Parole unseres Nationalliöeralismus, wenn nicht „das ein-
heitliche und unteiThare Deutschland"? Darum auch keine Aussicht auf eine föderative Ver-
fassung, ehe nicht der Liberalismus überwunden sein wird. Das ist jedenfalls eine V orbedin-
gung dazu.

148
II. 13. Nationalstaatliche Einigung Einheit

Frantz später auch von der alldeutschen und völkischen Ideologie als Zeuge heran-
gezogen werden.
Bekämpfte Frantz das politische Konzept der Kleindeutschen und dann den klein-
deutschen Nationalstaat, weil sie seiner Meinung nach der geschichtlichen Lebens-
ordnung des deutschen Volkes widersprachen und ihm den aus revolutionären Wur-
zeln stammenden Einheitsstaat aufzupfropfen suchten, so warfen jene, die sich an
eben dem Einheitsmodell orientierten, das Frantz hier im Auge hatte, den Liberalen
und Bismarck gerade übergroße Zugeständnisse an den zwar historisch begründeten,
aber dadurch keineswegs gerechtfertigten Partikularismus vor. Ein anschauliches
Beispiel hierfür bietet ARNOLD RuGES „Aufruf zur Einheit" (1866) 138, eine scharf
formulierte Kampfansage an den Gedanken einer föderativen Staatsordnung über-
haupt139. In dem geistigen Spannungsfeld zwischen Constantin Frantz und Arnold
Ruge wird dabei zugleich noch einmal der ganze Kompromißcharakter des Bismarck-
schen Werkes und des mit ihm dominant werdenden staatsnationalen Einheits-
begriffs sichtbar. Sah die eine Seite in der Begründung des kleindeutschen National~
staats einen Frevel an dem föderalistischen Lebensgesetz der deutschen Nation,
so konnte die andere Seite diesen Staat als. Hort einer Donquichoterie, eine Über-
spanntheit a•us alten Zeüen werLenH 0 • Rugc mahnte in der Tradition der demokrati-
schen Bewegung des Vormärz: Bedenkt, was zur Einheit geliört, und veryeßt nicht,
daß es das nämliche ist, was zur Freiheitgehört 141 • Dies sei das eine Parlament.
Nur in ihm habe die Nation ihre Existenz, das heißt aber nichts anderes als ihre
Einheit. Die Existenz der Nation ist ein einziges Parlament 142 • E1'8L eine demo-
kratische Verfassungsordnung gab nach Ruge der Nation ihre wahre Einheit, die
eine Einheit in Freiheit war. Dem stehe die monarchische Einzelsouveränität ent-
gegen. Sie sperre ihre Angehörigen immer vom Ganzen ab. Es sei um der Existenz
der deutschen Nation willen nötig, daß die geehrten Herren ihre Narrenkappen auf
dem Altar des Vaterlandes niederleyen ... Laßt Euch die Einheit nicht durch d·ie
8nphi.~tP1n 1for Kin1:gkeit, diese Jagdhunde, die nach den Brocken der kleinen Höfe
und den Ämterehen in den freien Städten schnappen, abdisputieren 143 • Ruge aktuali-

138 ARNOLD RuoE, Aufruf zur Einheit (Berlin 1866).


139 Ruge stand hier ganz in der 'T'radition eines Teils der demokratischen Linken der
Paulskirche, zu der sich dann auch die ersten Sozialisten bekannten. Wer· nach den beiden
deutschen Revolutionen von 1525 und 1848 und ihren Resultaten noch von Füderat-i,vreP'Ublik
faseln kann, schrieb FRIEDRICH ENGELS 1850, verdient nirgends anders hin als insNarrenhaus,
Der rlentRohr, Bauernkrieg, MEW Bd, 7 (1960), 413; vgl. Einheit und Freiheit, 7 (s. Anm. 81);
hier auch eine Fülle weiterer Belege. In diesem Sinne begrüßte auch JoH. PHlL. BECKER,
Sprecher der „Sek~iuu8grnJJJJe ueuL8uhtH' Sprache der intematio11ale11 Arbeiteraesoziation"
im August 1866 in der von ihm redigierten Zeitschrift „Der Vorbote" die preußischen
Annexionen: Preußen solle nur fortfahren, die widerhaarigen Elemente zu verschlingen,
damit die Einheit des Despotismus die Einheit revolutionärer Wirksamkeit herstelle, deren
Ziel die Republik sein müsste, zit. KARL GEORG F ABER, Realpolitik als Ideologie, Rist. Zs.
203 (1966), 10.
140 Mit diesen Au0drückcn cho.mktcrioiorto Rugo dio der deutschen Einheit sich wider•

setzenden partikularen Gewalten, RuoE, Aufruf zur Einheit, 16.


141 Ebd., 14.
142 Ebd., 15.

143 Ebd., 14. 16.

149
Emheit m. Ausblick
sierte damit im Entscheidungsjahr 1866 die demokratische Einheitsauffassung,
wie sie ähnlich, wenn auch in einem anderen Bezugssystem von Marx, Engels,
Liebknecht und Lassalle vertreten und von JOHANN BAPTIST VON SCHWEITZER (1860)
dahingehend zugespitzt wurde, daß er die Einheit als Deutschlands nationale Idee
und die demokratische Partei ... als in Deutschland zugleich die nationale bezeich-
nete144. Föderalistisch-konservativer und zentralistisch-demokratischer Einh!iits-
begri:lf standen sich also in der Diskussion um die deutsche Einheitsfrage unversöhn-
lich gegenüber. Beiden bot das- Kaiserreich von 1871 eine Angriffsfläche, da seine
Verfassungsstruktur föderative wie auch unitarische Elemente enthielt und sich in
ihr konservative mit liberalen Tendenzen verbanden.

m. Ausblick
Der Prozeß der Auffüllung des Einheitsbegriffs mit modernen politischen und
sozialen Bewußtseinsinhalten war in Deutschland um 1870 im wesentlichen abge-
schlossen. Entscheidende neue Elemente kamen fortan nicht mehr hinzu. Überblickt
man den Prozeß als ganzen, soläßt sich folg~mdes festhalten: Der Begriff 'Einheit'
hat anfangl!l einen gewi1111ermaßen staLischeu CharakLe1-. 'Eiuheil,' bezeichnete eine
vorgegebene, wenn auch oft nicht bewußte, verdeckte Einheit. Die Einheit des
Kunstwerkes macht da11 K1m11twP.rk a1rn, iRt. mit dem Kunstwerk gegeben; auch diA
das Kunstwerk übergreifende höhere Einheit, die Einheit der Kunst, der Literatur
in einer Epoche, in einem Land wurde nicht gefordert, sondern als ein vorhandenes
Phänomen konstatiert. Das gleiche gilt z. T. für die Einheit der Nation als einer
Sprach- und Kulturgemeinschaft, in geringerem Maße auch für die Einheit der
Geschichte, sei es der eines Landes (Möser), sei es der Geschichte überhaupt (Hegel).
Selbst im politischen Bereich erscheint Einheit anfänglich als etwas geschichtlich
Vorgegebenes, und hinsichtlich der Anwendung von Organismusanalogien auf den so-
zialen „Körper" läßt sich ähnlicheR RagAn. DP.r P.nt,scheidende Umschlag erfolgte
mit dem Zerbrechen der vorhandenen politisch-sozialen Einheiten im Gefolge des
allgem~inen Revolutionsprozesses Reit flp,r Mitte des 18. Jahrhunderts. 'Einheit'
wurde nun in zunehmendem Maße nicht mehr diagnostiziert, sondern postuliert,
sei es mit dem Blick auf alte, verlorengegangene Einheit - so in Deutschland
besonders aufnationalpolitisohom Gebiet --, sei es in projektivem Sinne (die „staats-
gesellschaftliche Einheit" sowohl in politischer als auch sozialer Hinsicht, die „Ver-
einigung" und „Einheit der Klasse_" als Vorstufe einer neuen, allumfassenden
Einheit). Mit diesem dynamischen, postulatorischen Einheitsbegriff vermochten
sich zugleich Zukunftserwartungen mannigfaltiger Art zu verbinden, die den
ursprüngliuheu Begriffszusammenhang und konkreten Erwartungsinhalt sehr oft
transzendierten. 'Einheit' nahm - zuerst deutlich zu beobachten in der Romantik,
dann aber auch, unter dem Eindruck verwirrender und bedrohlich erscheinender
Veränderungen, im Lauf des Vormärz in breiten Volkskreisen - einen chiliastischen
Unterton an, erhielt - charakteril!lti11eh hierfür die häufigen Rüukgrilfo auf uhrisL-
liche Einheitsvorstellungen, sei es direkt, sei es in Sprache und Wortwahl - eine
quasireligiöse Färbung. Diese Tendenz wurde immer ausgeprägter, je mehr die
Wirklichkeit hinter den konkreten Einheitserwartungen zurückblieb, und begann

144 J OH. BAPTIST v. SCHWEITZER, Der einzige Weg zur Einheit (Frankfurt 1860), 28. 42.

150
m. Ausblick Einheit

schließlich, vor allem nachdem das Ziel der nationalen Einheit erreicht war und
deutlich wurde, daß ein großer Teil der damit verbundenen, oft übersteigerten
Hoffnungen, sowohl in politischer als auch in sozialer Hinsicht, unerfüllt blieb, zu
dominieren. Der Begriff 'Einheit' verband sich jetzt mehr und mehr mit politischen
und sozialen Wunschbildern mannigfaltiger Art, mit denen man der staatlichen und
gesellschaftlichen Wirklichkeit begegnete. 'Einheit' erschien nun vielfach, speziell
in Zukunfterwartung, geradezu als Synonym für Ordnung, Harmonie, Gerechtigkeit,
Glück und wurde in diesem Sinne von allen politischen Gruppen von der äußersten
Rechten bis zur äußersten Linken beschworen. So vermochte sich die irrationale
Faszinationskraft des Wortes in aunserem Jhrhundert ebenso zur ideologischen
Verschleierung der Wirklichkeit wie zur Mobilisierung der Massen zu bewähren.
LOTHAR GALL
DmK Busrns

151
Emanzipation

I. Einleitung. II. Etappen der Bedeutungsausweitung von 'Emanzipation'. 1. Die rö-


misch-rechtliche Tradition. 2. Das Aufkommen reflexiven Wortgebrauchs im außerrecht-
lichen Bereich der frühen Neuzeit. 3. Verzeitlichung und Politisierung des Begriffs im
Zeitraum der Französischen Revolution. 4. Bildung und Funktion des Schlagwortes seit
et.wa 1830. fi. Die geschichtsphilosophische Kondensation des Begriffs um 1840. III. Grup-
pen- und schichtenspezifische Anwendungsbereiche seit dem 18. Jahrhundert. 1. Die
Emanzipation der Katholiken. 2. Die Judenemanzipation. 3. Frauenemanzipation und
Emanzipation des Fleisches. 4. Die Emanzipation der Arbeit und der Arbeiter. 5. Die
Emanzipation der Sklaven. IV. Ausblick.

I. Einleitung*
'Emanzipation', seit den sechziger Jahren ein Schlagwort mit universalem An-
spruch, war früher ein terminus technicus des römischen Rechts. Er bezeichnete
den Übergang aus väterlicher Gewalt in zivilrechtliche Selbständigkeit. Der Sinn
war insofern an die natürliche Generationsabfolge gebunden, als ohne dieses zeit-
liche Gefälle das Rechtsinstitut nicht möglich war: der Sohn konnte vom Vater,
nie der Vat,er vom Sohn emanr.ipiert werd1m. Anderer1;1eitR gehört,e eine F.manr.ipation
keineswegs zu den Regelfällen. Eine Emanzipation konnte, mußte aber nicht ge-
währt werden. Die Geschichte des Wortgebrauches ist nun gekennzeichnet durch
Bedeutungsausweitungen, die auf diesen zwischen Natur und Recht gestifteten
Zusammenhang nie völlig verzichtet haben.
Die Bedeutungsausweitungen vollziehen sich in Etappen, cj.ie insgesamt den Übergang
zur Neuzeit anzeigen. Zunächst erfaßt der römisch-rechtliche Ausdruck nach seiner
Rezeption auch gewohnheitsrechtliche Vorgänge. Dann wird durch den reflexiven
Gebrauch dP.1;1 VerhR rla.R Adjektiv nnrl R11hließli11h a1rnh da.R RnhRt:mtiv hP.ina.hA Rinn
verkehrt: aus der Rechtszuweisung durch den Magistrat wird eine Selbstbefreiung.
Mit dieser - zunächst nur moralisch-theologischen und sozia.lpsychologiRchen -
Bedeutung wandelt sich das Wort zu einem antiständischen Begriff, der alle grup-
penspezifischen Rechtsunterschiede abzuschaffen erheischt. So wird das Wort Ende
des 18. Jahrhunderts zu einem politischen Begriff. Der Vollzug einer Emanzipation
wird teils von den Betroffenen, teils von den Gewährenden geleistet.
Schließlich wird der Vollzug einer Emanzipation der 'Geschichte' übertragen. Der
Ausdruck gewinnt geschichtsphilosophische Valenzen. Der punktuelle, an natur-
hafte Voraussetzungen gebundene Rechtsakt wird überstiegen. 'Emanzipation'
wird verzeitlicht zu einem Prozeß der Befreiung aus rechtlichen, sozialen, politischen
oder ökonomischen Abhängigkeiten, mit deren Beseitigung in Zukunft ein Reich
herrschaftsloser Freiheit eintrete.
Der Ausdruck bleibt dabei nicht nur ein Indikator moderner sozialer und politischer
Ilefreiungskämpfe, er wird auch zu einem wirksamen Faktor der darauf zielenden
Sprache und Sprachpolitik. Seit rund 1830 ist der Ausdruck ein allgemein verwen-
detes Schlagwort, das ein Jahrzehnt später geschichtsphilosophisch reflektiert wird.
Der Ausdruck rückt zu einem zentralen Bewegungs- und Zielbegriff auf. Seitdem

* Für zahlreiche Hilfen danken wir den Herren Jörg Fisch und Horst Günther.
153
Emanzipation n. 1. Die römisch-reehtliche Tradition
umgreift er sowohl den Wandel des politischen Selbstbewußtseins wie den ihm kor-
respondierenden geschichtlichen Veränderungsprozeß. Damit hatte der Ausdruck
einen Bedeutungsraum gewonnen, der zwar nicht immer voll ausgeschöpft wird,
der sich aber kaum noch erweitert hat. Um 1840 hat 'Emanzipation' seine heute
noch verständlich scheinende Modernität erreicht. Dazu gehören auch seine utopi-
schen Gehalte. Das Ziel jeglicher Emanzipation gerät in die Zone des sogenannten
Endes aller bisherigen Geschichte, oder der Begriff erfaßt einen Emanzipationspro-
zeß, der sich denknotwendig so lange fortsetzen muß, wie Abhängigkeiten existie-
ren, aus denen man sich befreien soll.

II. Etappen der Bedeutungsausweitung von 'Emanzipation'

l. Die römisch-rechtliche Tradition

'Emancipatio', aus lat. emancipare, von 'e manu capere', „aus der Hand nehmen,
herauslassen, freilassen, befreien"\ bezeichnete in der römischen Republik jenen
Rechtsakt, kraft dessen ein pater familias sein Kind aus der väterlichen Gewalt ent-
bssen konnte. Da:wiL i;chietl uai; Kwtl vull!ltiinilig au!l der Familie aus, es wurde im
zivilrechtlichen Sinne sui iuris. Politische Bürgerrechte, Handels- und Heirats-
fähigkP-it hP-Raßp,n auch die nicht emanzipierten Söhne, denen allerdings keine Ver-
fügungsgewalt über Eigentum zukam. Ein rechtlicher Anspruch, sich vom Vater
gewaltfrei zu machen, bestand nicht.
Die äußere Form der Emanzipation lehnt sich an eine Bestimmung des Zwölftafel-
gesetzes an: si pater filium ter venumduit, filius a patre liber esto 2 • Der Vater ver-
k11.11fü1 form11.l seinen Sohn dreimal an einen Dritten, den pater fiduciarius, von dem
er ihn jeweils zurückkaufte (bei Töchtern und Enkeln nur einmal), worauf er sein
Kind - vergleichbar zur manumissio eines Sklaven - freilassen konnte. Das römi•
sehe Recht der Kaiserzeit verbesserte langsam die Erwerbs- und Vermögensrechte
der Söhne und verzichtete allmählich auf den umständlichen symbolischen Akt. Es
begnügte sich mit der Erklärung des Vaters vor einem Magistrat - emancipatio
Justiniana, oder mit einem Reskript des Kaisers, das vom Vater erbeten dem näch-
sten Magistrat vorgelegt werden mußte - emancipatio Anastasiana3 •
Beide römische RechtsinsLiLuLe WlU deren Benennung lebten im Bereich des droit
ecrit weitcr 4 • Sie wurden später mit emancipatio nova oder legale bezeichnet, im
Gegensatz zur emancipatio antiqua oder legitime, die schon z. Zt. Justinians überholt
war 5 • Der römischcrechtliche Ausdruck w1m'lfl ila.nn ausgeweitet auf Rechtsfiguren
der emancipation legale im Gewohnheitsrecht und führte zu einer Fülle von termino-
logischen Zusatzbestimmungen, deren die große französische Enzyklopädie allein

1 TLL Bd. 5 (1953), 441 ff. Zum Folgenden FRITZ SCHWIND, Römisches Recht, Bd. 1
(Wien 1950), 45; ERWIN SEIDL, Römisches Privatrecht (Köln 1963), 223f.; MA.x KA.SER,
Das römische Privatrecht, 2. Aufl. (München 1971), 69 ff. 349 ff.
2 G.AIUS, Inst. 1, 132, s. RuDOLPH SoHM, Institutionen. Geschichte und System des römi-

schen Privatrechts, 13. Aufl. (Leipzig 1908), 622, § 102.


3 SoHM, Institutionen, 621, § 102.
4 RICHELET t. 2 (1728), 42.
0 Encyclopedie, t. 5 (Paris 1755), 546 ff.; ZEDLER Bd. 8 (1734), 978 ff.; Dt. Enc., Bd. 8

(1783), 318 ff., vgl. Anm. 9.

154
ß. 1. Die römi8ch rechtliche Tradition.
0 Emanzipation

neunzehn registriert. So lag im französischen Sprachraum 'emancipation' vor, wenn


jemand durch habitation oder commerce separe6 oder durch Heirat, seltener durch
den Tod der Mutter oder durch Trennung der Eltern, schließlich durch Erreichung
bestimmter Ämter und Würden - im Parlament, am Hof oder in der Kirche -
selbständig wurde, hors de pain et pot7 , ohne daß deshalb ein bestimmter Rechtsakt
hätte vollzogen werden müssen. Diese Formen der emancipatio consuetudinaria
wurden deshalb - wie im Bereich des deutschen Gewohnheitsrechtes - auch als
emancipatio tacita umschrieben 8 •
Im Deutschen kam - nach Ausweis der Lexika - die Benennung solcher Vorgänge
mit 'Emanzipation' seltener vor9 , und sie wurde im 18. Jahrhundert als fremdartig
registriert. ZEDLER und die „Deutsche Encyclopädie" sind sich mit RICHELET
darin einig, daß di~ römische patria potestas im Gewohnheitsrecht nichts zu suchen
habe, darum auch nicht die Emanzipation. Kinder würden hier nie als Knechte
betrachtet, die man befreien müsse. Deshalb werde bei den Jliristen eher von einer
quasi Emanzipation gesprochen, wenn die drei üblicherweise damit verbundenen
Tatbestände einzeln oder zusammen auftauchen: wenn die Kinder in den Ehestand
treten oder ihr eigenes vom Vater separiertes Haushalten anstellen10 oder wenn sie
tlati Müudigkeitsalter von 25 Jahren erreicht haben 11 • Die .Kritik war einmal rcchts-
historisch: der Ausdruck sei nicht angebracht, da seit Justinian die mancipatio, also
der vorangehende Verkauf in eines andern Gewalt, entfalle, also auch keine e-man-
cipatio stattfinden könne. Sodann war sie sachlich: weil die väterliche Gewalt vom
Naturrecht begrenzt sei, habe sie ihren Zweck erfüllt, sobald die Kinder nicht mehr
ernährt und erzogen werden müßten. Dann höre die Abhängigkeit von selbst auf.
.fiJs handelte sich also um eine ganz irrige Anwendung des römischen Rechts auf die
dem Deutschen eigenen Gewohnheiten, weRhalh man sich am besten dieser Benen-
nung enthalte12:. Dieser rechtliche Befund leistete sicher am Ende des 18. J ahrhun-
derts der sozialen und politischen Neubesetzung des Wortes Vorschub.
Auch der formale Akt einer Emanzipation fand im 18. Jahrhundert nur noch selten
statt: etwa im Fürstenrecht, wie MoSER1 3 zeigt, oder im Kaufmannsstand, um jun-
gen Söhnen frühzeitig eine selbständige Geschäftsfähigkeit zu verleihen, selbst wenn

6 Eus:EBE DE LAuRIERE, Glossaire du droit fran~iois (Paris 1882), 189 ff.; Du CANGE t. 3

(1884), 250 ff.; Encyclopedie, t. 5, 548.


7 ANTOINE LoISEL, Institutes coutumieres, t. 1 (1607; Ausg. Paris 1783), 61 f.

8 Vgl. Anm. 5.
9 Dt. Enc., Bd. 8, 319 (der römisch-rechtliche Art. Emancipation stammt von dem Gie-

ßener Professor MÜLLER): Emancipation kann immer noch vorkommen; man hat auch Bei-
spiele rlavon, wiewohl sie äußerst selten sirul. Vgl. RICHARD SCHRÖDER/EBERHARD F1m. v.
KüNSSBERG, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl. (Berlin, Leipzig 1932),
817; B. FRESE, Art. Ja.hrgebung, Hwb ..z. dt. Rechtsgesch„ Bd. 2 (1973 ff.), 292.
10 ZEDLER Bd. 8, 980.
11 MÜLLER, Art. Emancipation, Dt. Enc., Bd. 8, 319. Vgl. dazu FRANZ WIEACKER, Privat-
rechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. (Göttingen 1967), 230.
12 MÜLLER, Art. Emancipation, 319.

13 JoH. JAKOB MosER, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 12/2, 2 (Stuttgart 1775), 779 ff.;

JoH. LUDWIG KLüBER, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes, 2. Aufl. (Frankfurt
1822), 400.

155
Emanzipation II. 1. Die römisch-rechtliche Tradition

keine Hausstandsgründung erfolgte. Hier schimmert der traditionelle Sinn noch


durch, nämlich die Fähigkeit zu eigener Vermögensverwaltung zu stiften 14.
Daneben gab es das kirchenrechtliche Institut der emancipatio canonica, die Kinder
von Ketzern aus der väterlichen Gewalt befreite oder die mit dem Eintritt in einen
Orden stattfand; sowie die emancipatio canonicorum, die den rituellen Übergang
eines Stiftsschülers in das Kapitel vollwg 11nd ihm Präbendenfähigkeit verlieh.
Nur noch historisch registriert die „Deutsche Encyclopädie" eine alte Bedeutung
der Wehrhaftmachung im Ritterstand15 •
In der französischen Rechtssprache hatte der Ausdruck offenbar stärker als im Be
reich der emancipatio saxonica auf die zahlreichen Gewohnheiten eingewirkt, die den
Übergang zur zivilrechtlichen Selbständigkeit regelten. FuRETIERE konnte den
Ausdruck sogar als Zustandsbeschreibung nutzen: liberte d'agir en ses a0airs et de
gouverner son revenu sans l'assistence d'un tuteur 16 , also die Freiheit, die das Ergeb-
nis jenes einmaligen Vorganges ist, auf den allein sich der römische Rechtsakt
bezog.
Mit den großen Kodifikationen wurde der Übergang in die zivilrechtliche Selbstän-
digkeit generell normiert, wobei das preußische ALR und das österreichische BGB
don Auodruok 'Emanzipation' vollends fallen ließen 17 . Dagegen wurcle er· im „Cocle
civil" übernommen, um gemäß einigen Vorbildern des schriftlichen und -0.es Ge-
wohnheitsrechtes verwendet zu werden: Emanzipation tra.t. ein de plein droit im
Fall der Heirat (Art. 476 ff.) oder zur Bezeichnung jenes Rechtsaktes, kraft dessen
ein Minderjähriger vorzeitig aus väterlicher Gewalt entlassen oder seinemVormund
entzogen wurde, um - freilich nur beschränkt - geschäftsfähig zu werden. Es war
ein Rer,htflinstit.ut, das nach Ansicht RoTTECKS die Freiheit nur zum 8chein erweitert
und die Mündigkeit auf das 21. Lebernijahr vorwirlP.gt hat.t.e, um in Wirklichkeit
Napoleon den vermögensrechtlichen Zugriff zu ermöglichen, wenn er Wehrdienst-
gegner zum Heer nötigen wollte. Der Knechtssinn sei dadurch nur gefördert
worden 18.
Jedenfalls drang mit dem napoleonischen Gesetzbuch der Ausdruck auch wieder in
die deutsche Rechtssprache ein - in Baden korrekt als Gewalt-Entlassung stili-
siert19, linksrheinisch dagegen im eingedeutschten Wortgebrauch 20 • Im 19. Jahr-

14 ZEDLER zur Emancipatio Justiniana: Es ist dieser Modus in denen Handels-Städten


noch gebräuchlich, da die Eltern ihre zur Kaufmannschaft erzogene Kinder emancipiren,
damit sie ihre Hantierung desto sicherer treiben können; Bd. 8, 980.
15 Vgl. Anm. fi.
16 FURETIERE 3e ed., t. 2 (1708), s. v. emancipation, der diese französische Bedeutung vor

uer römisch-rechtlichen registriert.


17 ALR §§ 210 ff., II, 2. Das „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten deut-

schen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie" (Wien 1811) verweist nur im Register
unter „~mancipation" auf „Entlassung" aus der väterlichen oder vormundschaftlichen
Gewalt (§§ 174 f. 253 ff.).
18 ROTTECK, Art. Familie, Familienrecht, RoTTECK/WELCKER Bd. 5 (1837), 404.
19 Code Napoleon mit Zusätzen und Handelsgesetzen als Land-Recht für das Großherzog-

thum Baden (Karlsruhe 1809), 124 ff.


20 Eine frühe Übersetzung von DAMELS (Gesetzbuch Napoleons, 2. Aufl., Köln 1808,

94 ff.) unterschied zwischen dem Rechtsakt= Emancipirung und dem Ergebnis= Eman-
cipation (Art. 471 u. 477). Diese Differenzierung entfiel später in Anpassung an den fran-

156
II. 2. Das Aufkommen reflexiven W ortgebraucbs Emanzipation

hundert blieb dieser auf die zivilrechtliche Selbständigkeit zielende Bedeutungs-


streifen klar und eindeutig, obwohl das Wort mehr ausdrücken konnte, worauf
schon die französische „Encyclopedie" provokativ hingewiesen hatte: Emanzipa-
tion sei ein Akt, kraft dessen certaines personnes hors de la puissance d' autrui gesetzt
würden. Der rechtliche Sprachgebrauch beschränke sich aber nur auf Minderjährige
un<l Familiensöhne. Il y a encore d' autres personnes qui peuvent etre affranchis de la
puissance d' autrui; mais les actes qui leur procurent cet affranchissement, ne sont pas
qualißes d'emancipation 21 • Damit registrierte die· „Encyclopedie" bereits das
semantische Potential, das dem Ausdruck innewohnte, nämlich jeden Vorgang be-
zeichnen zu können, der aus Untertänigkeit und Abhängigkeit in Unabhängigkeit
und Gewaltfreiheit hinüberführt. Die Ausweitung der Bedeutungen von 'Emanz1pa-
tion' aus dem zivilrechtlich Begrenzten in das Soziale und Politische vollzog sich
aber nicht in der Rechtssprache, sondern zunächst über die reflexive Verwendung
des Verbs und des Adjektivs. ·

2. Da~ Anfknmmf'ln rf'lflf'lxivf'ln Wnrtgf'lhram1fo1 im außerrechtlichen Bereich der


frühen Neuzeit

Der Gebrauch des Verbs 'emancipare' war im Lateinischen zunächst transitiv und
hieß auch, wie noch ZEDLER übersetzt: verkaufen, veräußern, speziell einen Acker.
Nach der Übernahme von Verb und Substantiv in die westeuropäischen Volksspra-
chen - in Italien 22 und Frankreich28 im 14. Jahrhundert, in England 24 und später
in Deutschland im 17. Jahrhundert - ist dann ein reflexiver Gebrauch aufgekom-
men, der, ausgehend vom gewohnhAitRreohtlichen Sinn der Mündigwerdung 25 , ernl-
lich eine Selbstermächtigung indizierte, die von der Rechtssprache gerade ausge-
schlossen war.
König RENE I. VON ANJOU verwendete 1455 das Partizip, als er in einem moral-
theologischen Dialog die fehlende devotio als einen Fehler des emanzipierten Her-

zösischen Wortgebrauch: Emanzipation (Entlassung aus der eUerlichen oder vormund-


11ohu/tUdien Gewalt); vgl. Napoleons Gesetzbuch ... für das Königreich Westfalen (Straß-
burg 1808), 92; Die fünf französischen Gesetzbücher (Zweibrücken 1827), 75 ff.; Der Code
Civil, hg. v. RICHARD LoEw (Kaiserslautern 1883), 92 ff.
21 Encyclopedie, t. 5, 546; Grundsatzerklärung zum Stichwort.

22 SALVATORE BATTAGLIA, Grande dizionario della lingua Italiana, Bd. 5 (Turin 1968),

113 f. Der früheste Beleg stammt danach von DANTE, der in seinem „Convivio" (4, 5, 12)
um 1306/08 Gottes Plan für den Aufstieg Roms nachzeichnet und dabei die Wachstums-
metapher nutzt, um im Jünglingsalter der Stadt die Emanzipation aus der Vormundschaft
der Könige anzusetzen: Se noi consideriamo poi quella per la maggiore adolescenza sua, poi
ehe da la reale tutoria fu emancipata, da Bruto primo consolo infino a Cesare primo prencipe
sommo ... Die verbale Wendung ist zugleich theologisch, politisch und naturhaft lesbar;
Le opere di Dante, ed. Mario Casella (Florenz 1921), 254.
23 FEW Bd. 3 (1934), 216; LITTRE t. 1/2 (1863), 1332: erster Beleg von 1317.

24 MURRAY vol. 3 (1897), 100 f.: erster Beleg von 1605.


26 NICOLAUS VON ÜRESME übersetzte um 1370 in der „Nikomachischen Ethik" das Er-

reichen eines bestimmten Alters und die Selbständigwerdung (n'Y}Alxov xod Xroeun:fj; 1134 b)
mit ... grant et emancipe ou separe d'avequez le pere; Le livre· de Ethiques d'Aristote, ed.
Albert Douglas Menut, t. 1 (New York 1940), 302.

157
Emanzipation D. 2. Das Aufkommen reßexiven Wortgebrauehs

zens (corrigier mon tresmal devot et emancipe euer) geißelte. Die aktive Verantwort-
lichkeit des Emanzipierten zeigt sich bereits an. Weit drastischer sprach RABELAIS
1534· davon, que rien n' est ny sainct, ny sacre aceulx qui se sont emancipez de Dieu et
Raison pour suyvre leurs affections perverses. Aber auch positiv gewendet konnte er
1564 sagen: Vous peu apeu emancipans du servage d'ignorance 26 • Noch in enger An-
lehnung an das natürliche Wachstum dehnt DE FoUILLOUX 1561 den (reflexiven)
Ausdruck metaphorisch aus : Quand j' eu vingt ans, il me print une envie / M: emariciper,
vivre a ma fantaisie 27 • Bald darauf konnte MoNTAIGNE die geistige Selbstabsicherung
im relativen Unterschied zum Tier reflexiv umschreiben: Mais puis que nous nous
sommes emancipez de ses regles (=de la nature), pour nous abandonner ala vagabonde
liberte de noz fantaisies, au moins aydons nous ales plier du coste le plus aggreable 28 •
In den Zusammenhang der Atii.ndischen Ordnung gerückt gewann freilich dieser
Sprachgebrauch der adligen und gelehrten Welt in Frankreich einen pejorativ.en
Akzent 29 • Er meinte Freiheit zur .lfrechheit, die als Grenzüberschreitung und Durch-
brechung gesellschaftlicher Schranken geahndet wird. So bei TRISTAN L'HERMITE
1636, wo 's' emanciper' zu bösen Injurien und gemeiner Unterstellung führt 3 ~, oder
ähnlich bei MOLIERE, wo die Unbesonnenheit der Oberschicht oder die Vorwitzig-
keit der Unterschicht mit dem reflexiven Gebrauch des 'Sich-Emanzipierens' um-
schrieben werden 31 . Damit erhält der zunächst moralkritische und psychologische
fl-e hra1rnh RO ziale Valeuzen.
Zeitlich etwas nachhinkend ist dieser Gebrauch auch im Deutschen registrierbar: so
bei LEIBNIZ 3 ~ oder bei SECKENDORFF, der 1685 von hohen Standespersonen spricht
und von solchen, die sich durch gunst oder andere mittel dem oberlceitlichen einsehen
ent~üh.en können, so gar frey ihren lüsten nachhangen, auch wohl die larvc gar abziehen,
und ohne scheu bekennrm., daß .~ü·. nnn Gntt und der rel1'.gion nichts halten, sondern ihrer
meynung nach sich von solchem zwang sehr weißlich und muthig, und wie sie zu reden
pP,egen, generose, oder cavalierement, und aus galanterie, freygemacht und emancipi-
ret33. Die unterschwellige Anspielung auf die Entlehnung des Wortes aus dem

28 RENE D'ANJou, Le mortifiement de vaine plaisance, ed. Frederic Lyna (Brüssel, Paris

1926), 13; FRANCOIB RABELAIS, Gargantua, c. 31, Oeuvres compl„ ed. Pierre Jourda, t. 1
(Pnria 1062), 120; ders„ Le cinquiesme livre, c. 21, eLu„ L. 2 (1962), 360.
27 JACQUES DTT FOUILLOUX, La venerie et l'adolescence, ed. Gunnar Tilandcr (Karlshamn
1967), 168.
98 MlCHEL DE MoNTAIGNE, Essais, ed. Maurice Rat, t. 1 (l'aris 1962), 56 f ..
29 L'estat Ecclesiastique tout le premier, a este profane et pollu par luymesme: La

Noblesse a prostitue sa can<leur premiere, et le tiers E.~ta.t s' est par trop emancipe, et departi de
son humilite; in: La cause des guerres civilles de la France (Lengres [i. e. Langres] 1595),
5 (dank frdl. Hinweis von Johannes Willms.) Vgl. dagegen den positiven Gehalt bei der
metaphorischen Verwendung des transitiven Verbs bei FRANCOIS DE BELLEFOREST, Les
chroniques et annales de France, t. 1 (1579; Paris 1617), Bl. 2', der von der fälschlichen
Etymologie berichtet, daß le nom de Franc daher rühre, daß das fränkische Volk fut
emancipe de l' obeissance de l' Empire.
3 0 TRISTAN L'HERMITE, La Mariane 1, 3 (1636), ed. Jacques Madeleine, 2e ed. (Paris 1939),

23.
3 1 MOLIERE, Le silicien ou l'amour peintre (1667), Szene 13; Amphytrion 2, 3. Oeuvres

compl„ ed. Georges Couton, t. 2 (Paris 1971), 341. 407.


32 Zit. SCHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 171.
33 VEIT LUDWIG v. SECKENDORFF, Christen-Staat 1, 1, 16 (1685; Leipzig 1716), 20 f.

158
II. 2. Das Aufkommen reflexiven Wortgebrauchs Emanzipation

Französischen taucht auch im 18. Jahrhundert bei MOSER und im 19. Jahrhundert
bei GöRRES auf, als es sich darum handelte, nationale Abgrenzungen zu defi-
nieren 34.
Auf der Lexikonebene werden der reflexive Gebrauch und die pejorative Bedeutung
des Verbs und des entsprechenden Adjektivs erst nach und nach registriert. Noch
1660 wird emancipe mit frey gelassen / emancipatus übersetzt, ohne einen reflexiven
Gebrauch zu nennen3 5 • 1675 heißt es in Basel: s'emanciper, se donner la liberte /sich
befreyen, sich ledig machen/ plus aequo sibi permittere 86 , woraus ZEDLER dann eigen-
tümlicherweise eine intransitive Bedeutung abliest: emancipare, emancipiren, sich
aus des Vaters Gewalt lassen, oder auch m eigen geben 37 •
.zu Anfang des 18. Jahrhunderts hat sich, von Frankreich herkommend, die ab-
schätzige Bedeutung lexikalisch durchgesetzt. FURETIERE 38 nennt als erster den
Befund 1708: s' emanciper signifie aussi s' echaper, prendre un peu trop de liberte et de
licence en quelque chOse, und 1715 übersetzt das „Grand Dictionnaire Royal" ins
Deutsche: s'emanciper, sich selber allzu große Freiheit geben und die Perfektform:
il s'est emancipe, er hat allen Gehorsam verloren 39 • Diese Bedeutung hält sich seitdem
durch - so heißt es etwa bei SCHWAN 1787: sich ungebührliche Freiheiten anmaßen 40
bio zu CAMl'EI, dor 1801 in eoinem Verdeutsohungswörterbuch nach Zedler zum
ersten Mal die rechtliche und reflexive Bedeutung nebeneinander als deutschen
Sprachgebrauch registriert: Emancipiren, frei- oder losgeben, aus der väterlichen
Gewalt oder aus der Leibeigenschaft entlassen. Man sagt aber auch: er emancipirte sich,
und meint: er nahm sich heraus, er unterfing sich, er unterwand sich, dieses oder jenes
zu sagen oder zu tun 41 • Damit war ein abwertender Sinn aufgenommen worden, auf
den man sich je nach Bedarf auch i.u der Folgeztiü btirufäu haL 12 •
In England hatte sich die ganze Wortgruppe schon im 17. Jahrhundert weit aus dem

34 Man wird durch zwo Wege von seinem Vaterland emancipirt, -durch eine fremde Erziehung

und durch die Verwandelung der Denkungs-Art, da man durch geistische Kost und Nahrungs-
Mittel swh Fremde zu Landsleuten macht. Die Haller, die Bodmer, die Zimmermann dürfen
swh wohl Englische Schweizer nennen; [FRIEDRICH KARL v. MOSER,] Reliqien, [Tl. l],
4. Aufl.. (Frankfurt, Leipzig 1767), 239. JOSEF GöRRES, Deutschland und die Revolution
(1819), Ges. Sehr., Bd. 13 (1929), 52 urteilt über Friedrich den Großen, daß das Auswärtige,
dem er . . . den Zugang i'e-rstattet, i'on geistreichen M en~qchen gepfte.gt, wenn. e.q mich jr,tzt dr,r
gereiften Zeit größtenteils als Frivolität aufgedeckt, doch damals als eine kecke, lobenswürdi,ge
Emanzipation erscheinen mußte.
35 Dict. fran9.-all.-lat., t. 1 (1660), 281. Das Substantiv taucht hier nur inl Lateinischen

und Französischen, nicht im Deutschen auf.


36 Dict. fran9.-all.-lat., 2° ed. (1675). Das deutsche Substantiv fehlt ebenfalls als Stich-

wort.
37 ZEDLER Bd. 8, 978.

38 FuRETIERE 3° ed., t. 2 (1708), s.v. s'emanciper; t. 2 (Ausg. 1721), l105. Ähnlich R1-

CHELET t. 2 (1728), 42.


39 PoMEY, Grand Dict. Royal, 5e ed., t. 1 (1715), 325 f.

40 SCHWAN 2. Aufl.., Bd. 2 (1789), 299.


4 1 CAMPE, Fremdwb. (1801), 326; 2. Aufl.. (1813), 283.
42 Die philologischen Wörterbücher haben an diesem pejorativen Sinn länger festgehalten

als es dem polarisierten Sprachgebrauch im 19. Jahrhundert entsprach; vgl. Mozrn 2. Aufl.,
franz. Tl., Bd. 1 (1826), 32: s'emanciper, ..• sich zuviel Freiheit herausnehmen; sich zuviel
erlauben; anmaßen.

159
Emanzipation II. 2. Das Aufkommen reßexiven Wortgebrauchs

Rechtlichen entfernt und zahlreiche Bedeutungen gewonnen, die, vom Wissen-


schaftlichen zum Gesellschaftlichen und schließlich auch Politischen hinführend,
dem Aufklärungsprozeß zuzuordnen sind - ohne daß freilich 'emancipation' zu
einem allgemeinen Zentralbegriff verdichtet worden wäre. Während das Substantiv
zunächst stärker an das römische Rechtsinstitut gebunden blieb, boten sich Verb
und Adjektiv früher zur metaphorischen Verwendung an. So zielte BACON 1605 auf
die Selbsterkenntnis der menschlichen Natur, indem er davon ausging, daß sie jetzt
dazu im Stande sei: For I do take the consideration in general, and at Zarge, of human
nature tobe fit tobe emancipate and made a knowledge by itsel/43 • 1646 stellte Srn THO-
MAS BROWNE antiquity und authority in Frage: For our advanced beliefs are not to be
built upon dictates, but having received the probable inducements of truth, we become
emancipated from testimonial engagements, and are to erect upon the surer base of
reason44 • 1665 stellte der Latitudinarier GLANVILL fest: Obstinacy in opinions holds
the dogmatist in the chains of error, without hope of emancipation 45 • 1774 schließlich
konnte WoRTON die Freiheit und Geistestätigkeit loben, die ein Ergebnis der
national emancipation from superstition sei 46 • Die metaphorische Ausweitung zur
Selbstbefreiung über das Verb zum Substantiv sowie vom Gedankenakt auf gesell-
schaftliche Gruppen ir1t damit umrissen.
Bereits Hi26 hatte JOHN DoNNE den substantivischen Ausdruck entjuridifiziert, als
er in einer Predigt einen frühen Tod als Segen bezeichnete, als a deliverance, a manu-
mission, an emancipation from the miseries of this life 47 • Freilich setzte der -Ober-
~uhriLL au~ der theologischen in eine politische Bedeutung den Wechsel des handeln-
den Subjekts (Gott/Mensch) voraus, der sich am reflexiven Gebrauch des Verbs
ablesen läßt. Noch 1629 konnte es nahe der römis<lh-rP.Chtlichen Bedeutung heißen:
A wiues Emancipating herselfe to another husband. 1699 ist davon die Rede, daß sich
jemand von sklavischen Zumutungen befreit habe (emancipated and freed himself),
ein Vorgang, den der Whig ARBUTHNOT kurz danach auf Gruppen bezog: they
emanci:patp,d themse/,ves from dependence 48 • Zu Anfang des 19. Jahrhunderts sprach
schließlich BENTHAM von dem seltenen Fall, daß Regierungen durch Individuen
gebildet worden seien, who have been emancipated, or hrwe p,manc1'.pated themselves,
from governments already formed4 9 •
Während der englische Sprachgebrauch ein langfristiger Gradmesser für die Ver-
gesellschaftung und Politisierung aufklärerischer Prä.missen ist, bleibt es auffällig,

43 FRANCIS BACON, The Advancement of Learning 2, !), l, An. Fra.nni11 Gny Relhy, vol. 2
(London 1901), 51. Die Passage fehlt in der lateinischen Fassung von 1623 und der darauf
fußenden deutschen Üben1eLt.Wlg vuu 1783.
44 Sm THOMAS BROWNE, Pseudoxia epidemica or Enquiries into very many Received

Tenents and Commonly Presumed Truths 1, 7. The Works, ed. Charles Sayle, vol. 1 (Edin-
burgh 1912), 161 f.
46 GLANVILL, Scepsis scientifica (1665), zit. JOHNSON vol. 1 (1755; Ndr. 1968), s. v.

46 Zit. MURRAY vol. 3 (1897), 101.


47 JoHN DoNNE, Sermons, ed. Evelyn M. Simpson, George R. Potter, vol. 7 (Berkeley

1954), 360, Sermon 14.


48 Belege: MURRAY vol. 3, 100 f.; OHNSON (1854), 391.
49 JEREMY BENTHAlll, Anarchical Fallacies, Works, ed. John Bowring, vol. 2 (Edinburgh

1843), 501.

160
II. 2. Das Aufkommen reflexiven Wortgebrauchs Emanzipation

daß der Ausdruck 'Emanzipation' selten auf den Befreiungskampf der amerika-
nischen Kolonien angewendet wurde. Der rechtliche Sinn einer passiven Befreiung
aus Abhängigkeit durch die Hefl'schaft selber hat vermutlich die Ausdehnung der
Bedeutung auf die amerikanische Revolution blockiert. HoBBES hatte das Verhält-
nis freigesetzter Kolonien zu ihrem Mutterland in enger Anlehnung an das römische
Rechtsinstitut paraphrasiert. So wie Väter von ihren Kindern, whom they emanci-
pate, könnte eine Metropolis von ihren Kolonien nur noch Ehrerbietung und
Freundschaft erwarten 50. Im 18. Jahrhundert war in der Definition von JOHNSON
die römisch-rechtliche Bedeutung bereits verblaßt: Emancipation, the act of setting
free, deliverance from slavery, womit jene historisch-sekundäre, im Mittelalter be-
reits angebahnte 5 1, dann im 19. Jahrhundert wirksame Ausweitung des Sprachge-
brauchs auf die Sklavenbefreiung einsetzte. Wie wenig sich hier die refie:x:ive Be-
deutung der Selbstbefreiung durchgesetzt hatte, zeigt eine Wendung des DUKE OF
RICHMOND aus dem Jahre 1775: If ours (Kolonien) emancipate, it will at least be
some good to humanity 52 • Millionen braver Menschen würden frei und glücklich,
während das Mutterland, wie er in naturaler Metaphorik hinzufügte, von der
Schwäche des natürlichen Alters erfaßt worden sei.
Die langfristige Transformation des juristischen Sprachgebrauchs in die neuen An-
wendungsfelder der Wissenschaft, der Gesellschaft und der Politik, die in England
weit, di:ffärem:ierfa'\r vor Rich ging alR in Frankreich, wirkt,e hier schließlich zurück
auf den legalen Rechtsakt einer Emanzipation. So konnte ~'igaro bei BEAUMARCHAIS
1787 zum Eheschluß des Mündels emphatisch ausrufen: elle vient de s'emanciper~ 3 •
Der Akt der Mündigsprechung wurde durch den Schritt zur Selbstermächtigung
überholt. Der im französischen Sprachgebrauch abwertende Sinn kehrte sich pole-
misch ins Positive. Damit setzte am Vorabend der Revolution jene bewußte Politi-
sierung des Bedeutungsfeldes ein, die die Folgezeit kennzeichnet.
Parallel dazu wird der Ausdruck in geschichtsphilosophische Refie:x:ionen eingeholt,
die die naturgebundene Metaphorik strapazieren, ohne sie ganz verlassen zu kön-
nen. So entblößte der Abbe RAYNAL den Wortsinn seiner minimalen natürlichen
Voraussetzung, indem er schon Kinder der Wilden als von Geburt aus emanzipiert
beschreibt: Point d' etre plus libre que le petit sauvage: il nait emancipe54 • Zugunsten
einer geschichtsontologisch-naturrechtlichen Bedeutung werden die natürlichen
Voraussetzungcn des Wachstums eliminiert, der Ausdruck wird gleichsam geschicht-
lich besetzt. Analog definierte HERDER 1784 die menschliche Konstitution. Das

50 HOBRF.8, Leviathan 2, 24 (1651). EW vol. a (1839), 240.


51 SA:x:o GRAMMATicus (12. Jh.), zit. Du CANGE t. 3 (1884), 250.
62 DUKE OF RwHMOND, Schreiben an Burke, in: Correspondence ofthe Rt. Hon. Edmund

Burke, ed. CHARLES WILLIAM u. a., vol. 2 (London 1844), 29 u. ff. - 1793 schrieb BENTHAM
seinen Aufruf an die Herrschenden: „Emancipate your Colonies. Addressed to the National
Convention of France" (Works, ed. Bowring, vol. 4, 1843, 407 ff.).
53 BEAUMARCHAIS, Le barbier de Seville 4, 8, Oeuvres compl. (Paris: Garnier, 1950), 127.

Für den spärlichen Wortgebrauch von 'emancipation' im Französischen ist der negative
Befund aufschlußreich, den die Wortfeldanalysen der Sprache Condorcets und seiner Mit-
streiter erbracht haben; vgl. ROLF REICHARDT, Reform und Revolution bei Condorcet
(Bonn 1973).
54 GUILLAUME THOMAS RAYNAL, Histoire philosophique des etablissements et du com-

merce des Europeens dans les deux Indes, t. 6 (Den Haag 1774), 14 f.

11-90386/1 161
Emanzipation II. 3, Verzeitlichung und Politisierung

Tier sei nur ein gebückter Sklave, der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöp-
fung; er stehet aufrecht 55 • Er könne sich selbst betrügen, ärger als, ein Tier die eigenen
Fesseln lieben, aber selbst im Mißbrauch seiner Freiheit bleibe er ein König. Die
naturhafte Voraussetzung, die bisher nur denjenigen als emanzipabel zuläßt, so da
redet und Verstand hat 56 , wird überboten, um den Menschen schlechthin als Wesen
zu definieren, das geschichtlich zur Freiheit verurteilt sei. So wurde eine theoretische
Position bezogen, die auch in Deutschland dem Sprachgebrauch von 'Emanzipa-
tion' politische und geschichtsphilosophische Möglichkeiten erschloß. Was sich im
Westen, besonders in England, langfristig abgezeichnet hatte, wird nun in Deutsch-
land binnen weniger Jahrzehnte eingeholt.

3. Verzeitlichung und Politisierung des Begriffs im Zeitraum der Französischen


Revolution

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts dehnen auch in Deutschland Verb und Substantiv
ihren Sinn in soziale, politische und geschichtsphilosophische Felder aus, aber vor-
erst nur sporadisch. Das Wort 'Emanzipation' hat teil am Bedeutungswandel bzw:
Aufkommen der Begriffe 'Aufklärung', 'Fortschritt' und 'Geschichte': insofern ist
auch seine Wortgeschichte Indikator veränderter Zeiterfahrung. Auf der Wörter-
buchebene blieb der juristische Sprachgebrauch zunächst vorwaltend. SCHWAN
übersetzte 1787 das französische Wort noch mit Lossprechung, Entlassung und
J'reilassung aus v&erlicher oder vormundschaftlicher Gewalt. Adelung und Campe
registrieren das Wort als fremdartig nicht. Als CAMPE 1801 'Emancipation' als
Fremdw:ort anerkannte, wählte er eine JJlrklärung, die der Tradition gerecht wurde,
aber auch eine Anspielung auf die erst spii.ter so girnannte Ra1rnrn befreiung ent-
hielt: Emancipation, die Losgebung oder Entlassung, z.B. aus der väterlichen Gewalt,
aus der Leibeigenschaft57 •
WrnT.A Nn war der erste, der 1787 den Ausdruck ins Politische kehrte, und zwar mit
negativem Vorzeichen. Er ging in seiner aufgeklärten, aber an die griechische Her-
kunft gebundenen Geschichtsauffassung davon aus, daß die Menschen zwar nicht
beherrscht werden dürften - sie seien keine Sklaven-, wohl aber regiert werden
müßten 58 • Eine Menge Volks gleiche einer Menge großer Kinder, die in der natürli-
chen Freiheit unfähig sei, sich selbst zu leiten. Bewußt desavouierte Wieland die
naturale Analogie zur Mündigwerdung: für das Kind lcommt eine Zeit, wo es sich
selbst regieren kann, und sofort hört die väterliche Gewalt auf. Für ein Volk gibt' s keine
solche Zeit in der Natur, je größer, je älter, je aufgeklärter es wird: je unfähiger wird es,

85 HERD ER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1, 4, 4 (1784), SW Bd. 13
(1887), 146.
56 POMEY, Großes kgl. Wb., Bd. 3 (1715), 205. Eine Übergangsposition zur modernen Ge-

schichtsphilosophie wird deutlich, als ADAM FRIEDRICH GLAFEY gegen Christian W olff
polemisiert, der den lieben Gott und de,,,,en ... Hp,rrR<:hn,ft ii.lu>,r if.p,n MP.n.11r.hP.n gn.n?. P,7:rJ.udie.rt
und das Fundament bloß auf den in den menschlichen Handlungen liegenden Schaden und
Vorte-il seJ~t ... uls ub GuU den J!I enHclwn yleichsam emancipirt habe; Vollständige Geschichte
des Rechtes der Vernunft (Leipzig 1739), 258 (dank frdl. Hinweis von Horst Dreitzel). ·
57 SCHWAN 2° Eid., t. 2 (1789), 298 f., der 'Emanzipation' noch nicht als deutsches Wort

kennt.
58 WIELAND, Eine Lustreise ins Elysium (1787), AA 1. Abt., Bd. 15 (1930), 100 f.

162
II. 3. Verzeitlichung und Politisierung Emanzipation

s·icli selbst zu regieren (1777) 59 • Zehn Jahre später variiert er diesen Gedanken: die
allgemeine Geschichte bestätige, daß der größte Haufe niemals den Namen eines
aufgeklärten Volkes verdiene. Immerwährende Verwirrung, Anarchie und Rückfall in
die alte Wildheit würde die unausbleibliche Folge einer solchen Emancipation desselben
sein60 • Indem Wieland den Ausdruck 'Emanzipation' als Freiheitsbegriff für ein zur
Selbstregierung strebendes Volk aufgreift, sucht er die Tragfähigkeit der Metapher
als unzureichend zu entlarven. Eine politische Emanzipation führe zur Anarchie.
Die Rechtsfigur läßt sich für ihn nicht so weit denaturalisieren, daß sie in den trans-
personalen Bereich des Politisch-Geschichtlichen übertragbar wird. 1793 fand er
seine Sicht bestätigt. Nur in ironischen Anführungszeichen zitiert er: „Die Mensch-
heit hat in Europa die Jahre der Mündigkeit eneicht''. Sogar die untersten Klassen
Rii.h1m jflt,r.t all11R in ihrnm 11ig1m1m Tnt11rnRR11, rlah11i v11rwanrl11l11 Ririh dPm. P.m.n.nr.ipirtP.n
Franzosen ihr Monarch in einen quasi König 61 •
ln diesem kritischen 8inne drang die entsprechende .Phrase auch in die aktuelle
Politik ein. So wurde 1797 in Mannheim gegen aufrührige Bäcker eine feste Haltung
gefordert, als widrigenfalls und bei Erfolg der weiteren Nachgiebigkeit das Volk sich
noch gänzlich emancipieren, zügellos herumschwärmen und sich um gar keine Obrigkeit
mehr bekümmern würde 62 • ADAM MÜLLER griff diese negative Bedeutung 1809 auf,
als er den Zerfall des Nationalreichtums voraussagte, sobald es dem einzelnen verstattet
1:st, sich mit seüu~m l nteres.~e z11, em.a.nzipfren, wifl flR rlifl Lihflrll.lfln forcfortfln 63 .
Die Polarisierung während der Französischen Revolution führte gleichzeitig zu einer
positiven Besetzung des Bedeutungsfeldes, besonders im Horizont des ':Fortschritts'.
Die gesehichtsphilosophische Dimension einer Befreiung zur Selbständigkeit wird
erstmals umrissen von KANT, als er, ohne das Wort 'Emanzipation' zu verwenden,
1784 'Aufklärung' definierte als den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschul-
deten Unmündigkeit 64 • Durch Freigabe der öffentlichen Kritik soll ein Raum geisti-
ger Freiheit gestiftet werden als Vorbedingung auqh der politischen Freiheit. Die
Aufklärung als.Stimulans und Vollzug der Mündigwerdung erstreckt sich damit auf
eine Zeit, die den einmaligen Akt einer „Emanzipation" übersteigt. Kant hat deshalb
59 Ders., Über das göttliche Recht der Obrigkeit (1777), SW Bd. 30 (1857), 290 f.
60 Ders.; Lustreise, 97.
61 Ders., Betrachtungen über die gegenwärtige Lago des Vaterlandes (1793), AA 1. Apt.,

Bd. 15, 558; Kosmopolitische Addresse an die Französische Nazionalversammlung (1789),


ebd., 328 f. Vgl. Wielands Anm. zu dem Aufsatz „Das Versprechen der Sicherheit, Freiheit
und Gleichheit", SW Bd. 31, 538 über das Verhalten eines auf einmal emancipirten (in
Freiheit gesetzten) Sklaven.
62 Bericht der Präsidialversammlung in Mannheim v. 5. 8. 1797, GLA Karlsruhe 213/804

(dank frdl. Hinweis von Herrn Wolf Buchmann). Vgl. die deutsche Variante bei MoRITZ
v. BRABECK, Einige Bemerkungen, dem gesamten Corps der Hildesheimischen Ritterschaft
in ihrer Versammlung am 20. April 1799 vorgelegt: Sah man vorhin die Verordnungen der
Fürsten als väterliche· Vorschriften, die Verfügungen der ständischen Corps als vormundschaft-
liche Fürsorge an, so glaubt jetzt jeder mündig und der vä_terlichen und vormundschaftlichen
Aufsicht entwachsen zu sein; Annalen d. leidenden Menschheit, H. 7 (1799), 98. Die haus-
väterliche Sprechweise im Erfahrw1gsl'aum der chl'isLlichen und aufgeklärLen FürsLenherr-
schaft legte es besonders nahe, den Weg in die Freiheit als Weg der Mündigwerdung zu
begreifen.
63 ADAM MÜLLER, Elemente der Staatskunst, hg. v. Jakob Baxa, Bd. 2 (Jena 1922), 8.9.
64 KANT, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), AA Bd. 8 (1912), 35.

163
Emanzipation II. 3. Verzeitliehung und Politisierung

den juristischen Terminus, den er in seiner Rechtsphilosophie im Sinne der „emanci-


patio tacita" korrekt verwendet 65 , geschichtsphilosophisch nicht strapaziert.
Wieland hatte den Ausdruck 'Emanzipation' eingebracht, um seine metaphorische
Ausweitung zu entlarven. Kant verzichtete auf den Ausdruck, zumal Emanzipation
im rechtlichen Sinne auch dann vorliegen konnte, wenn die Menschen in dem von
ihm intendierten Sinne gerade nicht zur Mündigkeit vorgestoßen sind. Man mochte
juristisch emanzipiert sein, ohne deshalb politisch 'mündig' geworden zu sein. Die
eigentliche Herausforderung sah Kant darin, daß die Menschen nicht von Menschen,
sondern von der Natur längst freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne
zeitlebens unmündig bleiben66 • Die Übertragung der natürlichen Reifung in ein sitt-
lich-politisches Postulat, das sowohl naturgemäß, aber auch mehr ist alR die Natur,
war ertragreicher als die Metaphorik der juristischen Emanzipation. So knüpfte
Kant seine Zukunftsperspektive zunehmender Selbstbestimmung an den deutschen
Ausdruck 'Mündigkeit' an. Sie sollte, von wenigen Gelehrten z. T. schon erreicht,
ständiges Postulat zum allmählichen Fortschreiten der Menschheit werden. Teils
Wirklichkeit, teils Ziel, wurde damit ein prozessuales Geschehen umschrieben, das
schon bald als 'Emanzipation' bezeichnet wurde.
GEORG FoRSTER war wohl der erste, der 1792 den Ausdruck in jenem positiven Sinne
verwendete, wie er in der englischen Aufklärung des 17. Jahrhunderts schon an-
klang. Mit Herder und Kant schilderte er die Rolle von Vernunft und Moralität nach
der Freisprechung von jedem dogmatischen Zwange. Unsere höhere Empfänglichkeit
wurde vorausgesetzt, als man uns, statt aller Pfiichten, das sanfte Geheiß der freien
Humanität auferlegte: uns zu lieben untereinander. Diese Emanzipation vom blinden
Gehorsam, die alle Zwangmittel und all~ Befehle überfWss,ig rnacltl, 11elzt zugleich voraus,
daß wir dio Richtschnur unseres Ycrhaltcns in unserem Innern besitzen67 • Damit wird
erstmals die Herrschaftsfreiheit als Ziel einer Emanzipation anvisiert. Als Forster
im nächsten Jahr, zur Jakobinerzeit, Zweifel an der schnellen Durchführbarkeit
kamen, berief er sich auf Kant: Seine schöne Erklärung, daß der Anfang jeder Eman-
zipation schlecht und mangelhaft ausfallen könne, dem Wert der Sache unbeschadet,
mag allerdings alles entschuldigen 68 • Schließlich verwendete Forster, begeistert aus
Paris berichtend, das reflexive Verb, um die Selbstbefreiung der UnterklaRRP. im
dialektischen Schema von Herr und Knecht zu beschreiben: eine der entscheidenden
Voraussetzungen der Revolution sei die Abhängigkeit der im Übermaß genießenden
Kla1111e 'vun der 'ihren Begierden dienstbaren gewesen, die sich dadurch immer mehr
emancipirte. Danach formulierte er die mächtigste Wirkung der Revolution. Er sah
sie in der Befreiung des Volkes aus der Abhängigkeit von lobloson Dingen. Der Opfer-
geist habe die Jagd nach Geld und Gewinn überholt und die Bedeutung des Eigen-
tums abgewertet. Darin erblickte Forster die moralische Emanzipation der Franzo-
sen, die ungewollt von den Koalitionsmächten hervorgerufen worden sei 69 •
Als revolutionärer Begriff begann 'Emanzipation' sich zeitlich zu dehnen, während
der einmalige Akt der Mündigkeitserklärung in den Hintergrund trat. Das bezeugt
65 Ders„ Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 29. AA Bd. 6 (1907), 281.
66 Defä„ Wati itit Aufklärung?, 35.
67 GEORG FoRSTER, Über den gelehrten Zunftzwang, Werke, hg. v. Gerhard Steiner, Bd. 3

(Frankfurt 1970), 369.


68 Ders„ Brief v. 10. 9. 1793, ebd„ Bd. 4 (1970), 903.

69 Ders„ Parisische Umrisse (1792/93), ebd„ Bd. 3, 739. 745.

164
Il. 3. Verzeitlichong und Politisierung Emanzipation

auch eine Wendung aus den „Annalen der leidenden Menschheit" (1799), die den
Begriff auf die ganze Menschheit anwandte, auch wenn sie noch als Objekt befreien-
der Tat gedacht wurde: eo oci das Vordionet Luthers gewesen, den Despotismus der
Pfaffheit gebrochen zu haben, er emancipirte die Menschheit vom allerunerträglichsten
Joche für ein selbständig denkendes Geschöpf, dem Zwange des Aberglaubens und der
Beschränkung der Denkfreiheit. Gegen Wieland wurde es für schlechthin falsch er-
klärt, daß der große Haufe zur Emancipation nicht reif sei ... , als ob Freiheit und
Emancipation vom Dmcke der Tyrannei Wohltat wäre itnd nicht Pfiicht? Es gebe kein
größeres Verbrechen, als die Menschen weiterhin im Stand der Haustiere zu halten 7 0.
So setzte der einmal ausgezogene geschichtsphilosophische Erwartungshorizont in
der tagespolitischen Polemik auch einen positiven Sprachgebrauch des Ausdrucks
frei. ÜENTZ hatte den emotionalen Stellenwert erkannt, als er den Ausdruck Bumrns
the emancipating year of 1789 mit Erlösungsjahr übersetzte 71 •
Freilich f.lchlug ilAr n11.tim1.lA HArlmnft.<1Rinn im Rpr11.r.heflhrnnr.h von 'F.manr.ipa-
tion' immer wieder durch. So verwendete HUMBOLDT 1809 den Ausdruck, als er den
Schritt von der Schule zur Universität als die Emancipation vom eigentlichen Lehren
definierte, da der Un-i·vers-itätslehre1· nu1· -von fem das eigene Lernen leitetn. Brnfündcrs
nahe lag es, den natürlichen Reifungsprozeß eines Menschen im Sinne der alten
organologischen Metaphorik zu verwenden, um auch die 'Emanzipation' auf die
Geschichte zu übertragen. So wurden 1820 z. B. die Folgen der Emancipation der
neuen Welt beschrieben. Das arme Europa sehe sich von seinen erwachsenen Kindern,
den immer reicher Wfll'ilflnnfln Amflrikanflrn, 11erl,a.~.~en 1tnd ver.~chmiiht. Die 1Jeraltete
Mutter sinke in Armut, und Rußland lege seine schwere Hand auch auf sie 73 •
Der Vorzug der Emanzipations-Metapher lag freilich darin, nicht nur den natürli-
chen Reifungsgrad zu indizieren, sondern ebenso den rechtlichen Schritt zur Be-
freiung anzuzeigen. In dieser Beziehung zwischen Natur und Recht gewann der
Ausdruck 'Emanzipation' seine geschichtliche Qualität. Er war zugleich normativ
und entwicklungsgeschichtlich lesbar, in seiner Verzeitlichung lag zugleich ein
rechtstiftender, prozessualer Gehalt beschlossen.
'Emanzipation' wird zum authentischen Fall eines geschichtsphilosophischen Pro-
zeßbegriffs. Im Vollzug der Entwicklung wird ein von Natur her angelegtes Recht
erkämpft und legalisiert. Die römisch-rechtliche, die gewohnheitsrechtlichc Kom-
ponente sowie der reflexive Gebrauch des Verbs im Sinne der Selbstermächtigung
gehen allesamt in den Ausdruck ein, der langsam die Kraft eines Leitbegriffs in sich
sammelt.

7 ° K. H., Hat die Französische Revolution der Freiheit der Menschheit genützt?; ders.,

Geist der Zeit, in: Annalen d. leidenden Menschheit, H. 6 (1799), 93. 254.
71 EDMUND BuRKE, Reflections on the Revolution in France (1790), ed. A. J. Grieve

(London 1910; Ndr. London, New York 1967), 34; dt. v. Friedrich Gentz (1793), hg. v.
Dieter Henrich (Frankfurt 1967), 73.
72 WILHELM v. -HuMBOLDT, Der königsberger und litauische Schulplan, AA Bd. 13 (1920),

278.
73 Die Folgen der Emancipation der neuen Welt. Politische Prophezeiung, aus einer nordi-

schen Zeitschrift des Herrn Pastors und Ritters Bartholm, Oppositionsblatt v. 17. 4. 1820.
Vgl. oben Anm. 22 sowie Hobbes, oben Anm. 50: dort wird noch der rechtstiftende Akt
der Metropolis, hier die Eigenmächtigkeit der Kolonien apostrophiert, wenn auch als
naturgemäß erklärt. Dazu auch Anm. 52.

165
Emanzipation Il. 3. Verzeitlichung und Polltisierung

GöRRES hat mit seiner blumigen Sprache diese prozessuale Verzeitlichung des Be-
deutungspotentials kühn genutzt. 1814 entwarf er die Stufen der Geschichte unter
dem Gesichtspunkt zunehmender Befreiung der unteren Klassen: es ·ist das Streben
der neueren Zeit durch ihre ganze Geschichte auf die völlige Emanzipation aller der
Klassen hingegangen, die früher der Überlegenheit des Geistes und der Gewalt ...
unterworfen gewesen seien74 • So konnte er im gleichen Jahr an den preußischen
König appellieren, den sich emanzipirenden Dritten Stand als den Entwicklungs-
träger seines Staates endlich ernst zu nehmen 75 • Über das reflexive, auf die 'Zeit'
bezogene Verb wird die prozessuale Komponente besonders griffig, etwa als Görres,
um die Verfassungskonflikte zu diagnostizieren, vom Geiste dieser nun wirklich sich
emanzipirenden Zeit sprach 76 • ·
In dieser geschichtlich zentralen Bedeutung wird uer Amiuruck auch von den Be-
troffenen aufgegriffen, etwa wenn ~'ABRITIUS 1822 von dem erschrecklichen Zeit-
a.lt.er der Menschenverbesserung spricht. Es herrsche schon lange; abor dio gogon
wärtige Krise ist die gefährlichste und b'edenklichste, wovon die Menschheit je überfallen
werden konnte. Es ist die Orise d' Emancipation - womit zugleich deren Herkunft
aus dem Westen apostrophiert wurde 76a.
Binnen weniger Jahrzehnte hatte sich auch der Anwendungsbereich vielfältig aus-
geweitet. Während Kant noch davor zurückgeschreckt war, den Emanzipations-
begriff aus seiner juristischen Umgrenzung zu lösen, um ihn auf die Geschichte zu
übertragen, und während Wieland es nur in ideologiekritischer Absicht tat, hatte
sich der Ausdruck immer mehr von seinem personenbezogenen, juristischen Her-
kunftssinn abgelöst: er wurde angewendet auf unterständische Klassen, auf Stände,
Gruppen, Völker und die Menschheit, die als Subjekt und/oder als Objekt der
Emanzipation begriffen wurden, wobei die „sich emanzipierende Zeit" alle diese
Positionen bündelte. Dabei diente die biologische Wachstumskomponente des Be-
griffes zur entwicklungsgeschichtlichen Legitimation der Gruppen, die sich auf dem
Wege zu einer allgemeinen Befreiung wußten.
Mit seiner positiven oder negativen Anwendung auf Gruppen wurde der Ausdruck
politisiert, mit seiner Verzeitlichung wurde der ursprünglich punktuelle Übergang
von einem Status in den anderen geschichtlich gedehnt. 'Emanzipation' gewann die
Bedeutung eines prozessualen BcwcgWlgtibegriffeti, ohne deshalb seine normativen
juristischen Implikationen zu verleugnen. 'Emanzipation' lieferte einen justiziablen
Nenner für alle Forderungen, die auf die Beseitigung rechtlicher, sozialer, politischer
oder ökonomischer Ungleichheit zielten. Damit wurde 'Emanzipation' in jedem
Fall zu einem antiständischen Begriff, der sowohl liberal wie demokratisch und
später sozialistisch auslegbar war.

74 GöRRES, Rheinischer Merkur, Nr. 124-142 v. 27. 9.-2. 11. 1814, hg. v. A. Duch

(München 1921), 103. ·


75 Ders„ Die Übergabe der Adresse der Stadt Koblenz ... an den König (1818), Ges. Sehr„

Bd.13, 27.
76 Ders„ Deutschland und die Revolution, ebd„ 133.
76 a KARL MORIZ EDUARD FABRITIUS, Über den herrschenden Unfug auf teutschen Uni-

versitäten, Gymnasien und Lycäen, oder: Geschichte der akademischen Verschwörung


gegen Königthum, Christenthum und Eigenthum (Mainz 1822), 177.

166
Il. 4. Bildung und Funktion des Schlagwortes Emanzipation

4. Bildung und Funktion des Schlagwortes seit etwa 1830

Um 1830 war es soweit, daß alle genannten, einzeln auftauchenden Bedeutungs-


komponenten das Wort so angereichert hatten, daß es allein eine allgemeine Stim-
mungslage treffen konnte. Die Zahl der Belege schnellt hoch, der Wortgebrauch
greift um sich 77 • 'Emanzipation' wird zum Schlagwort. Als solches deckt es die Er-
fahrung und die Gespanntheit nach der Julirevolution von 1830 ab. Wie ein Magnet
richtet der Ausdruck den politisch-sozialen Sprachraum au1;1. HEINRICH HEINE gab
das Signal, als er 1828 fragte: Was ist ... diese große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die
Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindi-
schen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkei;, i;undern es ·ist d'ie Emanz,ipal'ion
der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist (sie!) und sich jetzt
losreißt von dom oioornon Gängolbando dor Bovorroohtoton, dor Aristolcratio78 •
Zehn Jahre später - 1838 - registriert ROSENKRANZ im Brockhaus der Gegen-
wart 79 , wie sehr das Modewort eingeschlagen hat: Jede Zeit schafft sich für die ewigen
Interessen des Geistes ihren besonderen Ausdruck, wie er aus der ganzen jedesmaligen
Entwicklung mit Notwendigkeit entspringt. In unseren Tagen ist es der Gedanke der
Freiheit, der die europäisch-amerikanische Welt als die durchgreifend.Yte Kategorie
durchdringt, und so muß denn mit ihm der entgegengesetzte Gedanke der Knechtschaft
ebenso lebendig werden, denn die sich gestaltende Freiheit ist von ihrer negativen Seite
oin Bofroien. Detr Akt, wodurch der Knecht zum Freien wird, ist die Emancipation.
Ursprünglich habe das Wort der römischen Sklavenbefreiung gegolten, wie der Ver-
fasser irrtümlich fortfährt, und sei seitdem, was auch nur selten zutraf, auf die Frei-
lassung der amerikanischen Sklaven angewendet worden. Seit dieser Periode ist das
Wort auch auf andere Gebiete häufiger übertragen und namentlich seit der Französi-
schen Juli-Revolution zu einem jener vieldeutigen Modewörter geworden, in denen un-
sere Journalistik einen ungefähren Anhalt ihrer zerfahrenen Reflexion findet.
Schon 1831 wurden in der bayrischen Kammer dreizehn Leben,sbereiche unter dem
Aspekt der Emanzipation aufgezählt 80, ohne auch riur die großen Problemkreise zu

77 Nach KAYSER.S „Biicherlexicon" sind 1750-1832 7.wei, 18:l2-184f\ ilag11gim n111m

anonyme Bücher mit 'Emancipation' im Titel erschienen.


78 HEINltICH Il:EINE, Reisebilder, SW Bd. 3 (o. J.), 275.
79 KARL RosENKRANZ, .Art. Emancipation des Fleisches, BnooKII.Aus, CL Gogonwart,

Bd. 1 (1838), 1152 ff., danach zit. [wieder abgedruckt in: ROSENKRANZ, Neue Studien,
Bd. 1 (Leipzig 1875), 1 ff.] Dort auf S. 47 auch der Aufruf an die Königsberger Studenten:
Emancipiren Sie das akademische Leben vom Duellzwang I Die Stadt habe durch Emancipation
von den triihen Vorurteilen des Feudalstaats schon den Ruhm gewonnen, die Vernunft
nicht nur zu begreifen, sondern auch zu verwirklichen.
80 Nach dem FREffiERRN VON CLOSEN 1stünden folgende Emanzipationen aus: der Kinder

von Unwissenheit, der Jünglinge von sechsjähriger Konskription, des Offizierstandes von der
politischen Minderjährigkeit, des Grundeigentums von Bindung und Lasten, der Feldfrüchte
von der Tyrannei deB Wildes, der Landeigentümer von der Kreditlosigkeit, der Gewerbe vom
Konzessionswesen, der Gemeinden vom Ouratel, des Geistes und der Presse von der Zensur,
Emanzipation der Minister durch ein Gesetz iiher ihre Verantwortlichkeit; Emanzipation des
Kabinetts von äußerem Einff,uß; zit. REINHARl> RüRUP, Judenemanzipation und bürgerliche
Gesellschaft in Deutschland, in: Gedenkschrift Martin Göhring. Studien zur europäischen
Geschichte, hg. v. ERNST SCHuLIN (Wiesbaden 1968), 198 f.

167
Emanzipation Il. 4. Bildung und Funktion des Schlagwortes

nennen: erstens die lnstitutionen 81 , besonders die Emanzipation der Rr.hnlP. von
der Kirche, der Kirche vom Staat oder von Rom und zweitens die Gruppen: Völker,
Juden, Frauen, Sklaven und Arbeite!', worauf uel' Autiuruck zunehmend bezogen
wurde. 'Emanzipation' ist seitdem nicht nur Indikator, sondern auch bewußtseins-
bildender Faktor des deutschen Vormärz, dessen allgemeine Unruhe mit ihren ver-
schiedenen Zielvorstellungen der Ausdruck zusammenfaßte. Wie GuTzKow 1835 in
literarischem Kontext deklariert: Emancipation vom System ist Fortschritt 82 • Oder
wie GAUDY 1836 feststellt: Wir leben ... in dem Zeitalter der Emanzipat·ion, wo alle
Barrieren und Vorurteile über den Haufen gerannt werden. Wer zeitgemäß sei, sei
freisinnig und als solcher sei er ein Mann der Zukunft und der Bewegung 83 •
1848 überlappen sich die zahlreichen Emanzipationsfelder, der Ausdruck wird in
der Revolution, was in ihm angelegt ist, zum Erfüllungsbegriff, der letztlich auf
seine eigene Aufhebung zielt. So ruft RICHARD WAGNER aus: Das wird die volle
Enur.nzi'.pation des Mensehengeschlcohtoo, dao wird die Erfüllung de1· 1"ei1t1m Olir·ist·us-
lehre sein, ... deren höherer Vollendung wir nun mit klarem Bewußtsein zuschreiten
sollen. Ist erst einmal die republikanische Volksherrschaft (Demokratie) eingeführt,
so werde auch die Emanzipation des Königtums ausgesprochen, der Monarch werde
zum Freiesten der Freien. Sind wir durch die gesetzkräftige Lösung der letzten Eman-
zipations/rage zur vollkommenen Wiedergeburt der menschlichen Gesellschaft gelangt,
geht aus ihr ein freies, allseitig zu voller Tätigkeit erzogenes neues Geschlecht hervor 84 •
..li:s war die Stärke des Schlagworts 'Emanzipation', daß sowohl der punktuelle
Rechtsakt: die Gleichstellung, die Gleichberechtigung wie auch der Vorgang: die
Entknechtung, die Verbesserung gemeint sein konnten. Juristische Norm und ge-
schichtlicher Prozeß wurden, was von den deutschen Äquivalenten nicht gilt, zu-
gleich abgedeckt. Gerade das Fremdwort konnte zum Schlagwort werden, weil es
die deutschsprachigen onomasiologischen Alternativen in sich ver:;chluckte.
'Emanzipation' war zugleich ein Bewegungs- und Zielbegriff, schließlich ein Erfül-
lungsbegriff geworden. Deshalb kannte er je zwei Bedeutungspole, zwischen denen
sich der Wortsinn ausspannte: entweder wurde die Ablösung aus der Vergangen-
81 Von der „Emanzipation der Gemeinden" war schon 1822 in der badischen Kammer

die Rede; REINHARD RüRUP, Die Judenemanzipation in Raden, Zs. f. d. Gesch. d. Ober-
rheins 114 (1966), 242 und zahlreiche weitere Belege. Vgl. ferner CARLTHEODOR WELCKER:
Wo aber irgend, selhst au.eh wwr ·in der N at·urwissensclutft, die W issenscha.ft sich zu emanci-
piren, ein se1hständiges Reich sich zu erbauen strebt, . . . dort werde sie verfolgt, bis endlich
nach schweren Kämpfen das neue Reich auf den Trümmern des alten sich erbaut; Das innere
und äußere System der praktischen, natürlichen und römisch-christlich-germanischen
Rechts- Staats- und Gesetzgebungslehre, Bd. 1 (Stuttgart 1829), 397. Für die Emanzipation
der Schule von der Kirche vgl. die Debatte in der Paulskirche, Sten.Ber. Dt. Nationalvers.,
Bd. 3 (1848), 2173 ff. Für die Emancipation der katholischen Kirche von Roms. Hist.-Polit.
Bll. f. d. kath. Deutschland 1 (1838), 489. Die entsprechenden Belege lassen sich leicht
vermehren.
82 KARL GuTZKOW, Philosophie der Tat und des Ereignisses, GW 1. Ser., Bd. 12 (Jena

o. J.), 113.
83 FRANZ FRH. v. GAUDY, SW, hg. v. Arthur Müller, Bd. 2 (Berlin 1844), 124 f.
84 RICHARD WAGNER, Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtume

gegenüber? (1848), Sämtl. Sehr. u. Dichtungen, 5. Aufl., Bd. 12 (Leipzig o. J.), 221 f. 226.
Die Emanzipation der Könige im Sinne eines idealen Bürgerkönigtums forderte schon
HEINRICH HEINE, Französische Zustände (1832), SW Bd. 5 (o. J.), 150.

168
II. 5. Die ge11c:bic:ht11philotophUc:he Kondeo11atfoo Emanzipation

heit, die Befreiung betont oder mehr die Richtung in die Zukunft, das Ziel ins Auge
gefaßt: die Freiheit. Gerade indem die beiden Bedeutungspole nicht unterschieden
wurden, war der Ausdruck hinreichend allgemein, um zahllose, auch heterogene
Wünsche abzudecken.
Zweitens wurde der Begriff je nach dem Vollstrecker verschieden zugeordnet:
Emanzipation konnte entweder gewährt oder erkämpft werden. Deshalb unter-
schied MAX STIRNER 1844 zwischen positiver Selbstbefreiung und negativer Eman-
cipation (Freisprechung, Freilassung) im römisch-rechtlichen Sinne, um sich nicht
von anderen wie ein Hund emanzipiert zu finden: der Nicht-Selbstbefreite ist eben ein
Emancipierter 85 • Wo freilich, wie häufig, Emanzipation als Selbstbefreiung verstan-
den wurde, konnte ein politisch Betroffener den Ausdruck als Schlagwort erläutern
für alles das, was man eünnal d·archsetzen z·a rnüsi;en gla•abt 86 • -Andererseits konnte
die Vollstreckung einer Emanzipation dem Staat und seinen führenden Schichten
überlassen werden. In diesem Sinne etwa nahm HINRIOHS in Beinen politisohon Vor
lesungen 1843 das Hegelsche Modell von Herr und Knecht auf, und zwar weniger
revolutionär, als es Forster genutzt hatte 87 : alle Freiheit fängt mit der Emancipation
an. Habe der Herr erst einmal das Bewußtsein seiner Abhängigkeit von dem Knechte
gewonnen, dann respektiere er des.sen Selbständigkeit und läßt ihn frei, emancipiert
ihn ... , an die Stelle der Herrschaft tritt die Freundschaft.
Freilich konnten die aktiven und die passiven Bedeutungen einander bedingen. So
sprach man davon, daß die Juden sich schon von innen emanzipiert hätten und daß
sie jetzt deshalb von außen emanzipiert werden müßten 88 . Oder wie MARX 1811
einen Schritt weiterging: Wir müssen uns selbst emancipiren, ehe wir andere emanci-
piren können 89 .
Stillschweigend oder offen wurde die rechtliche und politische Beweislast für den
beiderseitig zu verstehenden Emanzipationspr.ozeß der 'Geschichte' übertragen.

5. Die geschichtsphilosophische Kondensation des Begriffs um 1840

Selbstverständlich hatte 'Emanzipation' seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer
einen geschichtsphilosophischen Stellenwert im Argumentationshaushalt der den
Awiuruck verwendenden Schichten. Aber erst Ende der dreißiger Jahre wird das
Schlagwort als Leitbegriff aller bisherigen und künftigen Geschichte eingesetzt.
ROSENKRANZ stellte z. B. 1836 den Zusammenhang her, der zwischen allen Eman-
zipationen der Neuzeit herrsche: des Weibes, der amerikanischen Tochterstaaten,
der Negersklaven, der Juden und Frankreichs, das sich durch die Revolution von

85 MA.x STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum (Leipzig 1892), 198.
86 Zit. RüRUP, Bad. Judenemanzipation, 242.
87 HERMANN FRIEDR. WrLH. HINRIOHS, Politische Vorlesungen (1843), zit. Die Hegelsche

Rechte, hg. v. HERMANN LüBBE (Stuttgart-Bad Cannstatt 1962), 97 f. Vgl. CoNSTANTIN


RöSSLER, System der Staatslehre (1857), ebd„ 272. 287. 291. Zu l<'orster: s.o. S. 164.
88 Die Emancipation, das heißt die Mündigsprechung der Juden, geschieht auf zweierlei Art:

von Innen heraus und von Außen herein. Die deutschen Juden haben, wie billig, damit ange-
fangen, sich selbst zu emancipiren, bevor sie den Anspruch machten, daß man ihnen auch
ihre bürgerlichen Fesseln abnehme; BROCKHAUS, CL neueste Zeit, Bd. 1 (1832), 769.
89 KARL MARx, Zur Judenfrage, Dt.-l<'ranz. Jbb. (Paris 1844; Ndr. Amsterdam 1965), 184.

169
Emanzipation II~ 5. Die geschichtsphilosophische Kondensation

seiner Vergangenheit ... emancipirte. Und Rosenkranz wies bereits auf die kritische
Zone hin, in die alle Emanzipation geraten sei: Genug, der Geist hat die Richtung
genommen, alle Fesseln der Tradition ... abzuwerfen und in dem einmal entstandenen
Mißtrauen gegen das Bestehende selbst in Dingen eine Beschränkung der Freiheit zu
finden, welche vielmehr positive Garantien ihrer Existenz sind90 •
1840 hat ScHEIDLER für Ersch/Grubers Lexikon einen Grundsatzartikel geschrieben,
in dem er die politisch-historische Semantik von 'Emanzipation' zusammengefaßt
und geschichtsphilosophisch systematisiert hatDI. Beide Akte, die sprachliche und
die geschichtliche Reflexion, bedingen einander und fallen schließlich zusammen.
'Emanzipation' wurde als regulatives Prinr.ip ilAr Politik und der gesamten Welt-
geschichte zum wichtigsten aller Begriffe erklärt. Dabei hat er sich über die meta-
phorischen Ausweitungen des römisch-rechtlichen Bedeutungsgehaltes volle Re-
chenschaft abgelegt. Nach seiner Erörterung. des römisch- und deutschrechtlichen
Begriffes gibt es nun auch e·ine ·um/a1111ende Bedeutung dieses Wortes im politischen,
philosophischen und welthistorischen Sinne; welche Erweiterung keineswegs zu/ällig
oder willkürlich, sondern in dem Wesen der Menschheit und dem Gange ihrer Entwick~
lung mit Notwendigkeit begründet ist und durch welche die Emancipation zu dem prak-
ti.~r:h uri:r:htigsten a.ller Begriffe, namentlich aber :zu dem Mittelpunkt allor StaatB/ragcn
der Gegenwart oder unserer Zeit geworden ist.
Die Freilassung der Kinder aus der väterlichen Gewalt lasse sich'der Natur der Sache
nach auf alle solche persönliche Abhängigkeitsverhältnisse ausdehnen, deren Beseiti-
gung eine Forderung der Vernunft sei. Allein die Vernunft liefere ila.s Kriterium
zwischen wahrer und falscher Emanzipation, da sich der Begriff sonst schrankenlos
,ausdehnen würde.
Bei einer Emanzipation im politischen Sinne handele es sich entweder um die Auf~
hebung persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse, speziell ganzer Volksclasseri wie
der Bauern, Bürger, Weiber, Juden, Katholiken usw .... , oder sachlicher Abhän-
gigkeitsverhältnisse, z.B. im Bereich der Ehe, des Ackerbaus, der Industrie und des
Handels, der Kirche, der Universität oder der Schule. Dabei registrierte Scheidler
die Temporalisierung der anfänglichen Bedeutung, denn die Emanzipation in die-
sem erweiterten Sinne sei nicht wie ursprünglich eine einzige Handlung, mit der die
Freilassung oder Gleichstellung abgemacht wäre, sondern eine Reihenfolge zusammen-
h.ängrmilP.r Be.strebwngen, oder mit einem Worte, ein politischer Lebensprozeß ... , der
erst nach und nach sich entwickelt.
Über den politischen Begriff hinaus gebe es noch eine weitere Ausdehnung, nämlich
zum philosophischen und welthistorischen Begriff, welcher sich mit Notwendigkeit
ergibt, wenn man den Emancipationsgrundgedanken nicht bloß aitf das staatsbürger-
liche, sondern auf das menschliche Leben überhaupt bezieht. Dann lassen alle bedeuten-
deren Wirkungen und Bestrebungen oder Entwicklungen der Geschichte der Menschheit
im ganzen und einzelnen sich unter diesen Begriff von Emancipationstatsachen oder
Problemen fassen . . . Die Emancipationsfragen unserer Zeit verstehen, (ist) nichts
Geringeres . . . als unsere Zeit selbst begreifen. Vom höchsten Standpunkte aus be-

90 KARL ROSENKRANZ, Die Emancipation des Weibes, aus dem Standpunct der Psycho-

logie betrachtet, in: ders„ Studien, Bd. 1 (Berlin 1839), 94.


91 KARL HERMANN ScHEIDLER, Art. Emanzipation, ERsCH/GRUBER 1. Sect„ Bd. 34 (1840),

2 ff„ dort alle folgenden Belege.

170
II, 5. Die ge11chicht1pbilosophisehe Kondensat.inn Emanzipation

trachtet, erscheine das ganze Leben als ein universeller Emancipationsprozeß, von
dessen V erlaufe alle politischen, religiösen etc. Emancipationsprobleme nur einzelne
Bt!lllundle;ile oder Phasen s·ind. Nur im Ilinblick auf diese wahre Bestimmung des
Menschenlebens könne überhaupt die Geschichte richtig beurteilt und gewürdigt
werden.
Iu Auleh11Wlg an Heruer zeich11eLe Scheiiller eillll anLhropologische Grundfigur,
nach der der Mensch ein Mängelwesen sei, das ihn auf seine Perfektibilität verweise,
um, wie' er im ein~elnen mit Kant weiter argumentiert, ein Reich vernünftiger Frei-
heit zu errichten. Deshalb müsse der Mensch sich aus dreifacher Abhängigkeit be-
freien: aus der Abhängigkeit der äußeren Natur, aus der Willkür anderer Menschen
uml aus den Do.nden des Autoritätsglaubens sowie der Sinnlichkeit. Dann erscheine
das ganze. menschliche Leben als ein dreifacher Emancipationskampf sowie alle eigent-
lichen Hauptepochen der Weltgeschichte als Emancipationsfacta . .Nur in diesem Kampf
haue uer Mensch Gcsclµchtc im cigcntliohcn Sinne, · · so wie er dazu verurteilt sei,
seine Geschichte sich selbst zu machen. Somit konvergierten beide Bedeutungen, die
subjektiv-aktivistische und die objcktiv-cntwicklungsgcschichtlichc, und wurden
al!! 'Emanzipation' auf ihren gemeinsamen Begriff gebracht.
JII h:i.ltlicl1 lii.ßt Kid1 clie GeKcluchLMphilmmphiu alM liuuml uufilliur1:m, Uellll jeuti E111u11-
zipation solle in einen Gleichgewichtszustand einmünden. Aus der Sklaverei der
Na.turgllw11.lt, httfrttitt i.iich der MeLLHch durch Arbeit. lla jeue .AJ:be.iL a!Je.r LLi:ui:. A1J-
hängigkcifovcrhiiltmm10 horvortro1bo, komme OB darauf an, mit Hilfe der Maschinen
die Emancipation unserer Arbeiter zu erreichen, schon um sie davor zu bewahren,
selbst als bloße Maschinen mißbraucht zu werden. Das erste, das physische oder
materielle Emanzipationsideal, führe dann zu einem Gleichgewicht zwischen Arbeit
und Muße für alle.
Der zweite Befreiungskampf zielt darauf, Willkür von MAnRchAn iibAr MAmmhen zu
beseitigen, die Herrschaft des Rechts zu institutionalisieren, indem Staatsgewalt
und bürgerliche Freiheit ebenfalls in ein gegenseitiges Gleichgewicht gebracht wer-
den sollten. Die gesamte Staatenentwicklung und Geschichte als solche (hlit) ·iltre letzte
Beziehung nur in der möglichsten Realisierung jenes Gleichgewichtes, welches mithin
als das politisclie Emancipationsideal zu bezeichnen ist .
.Das dritte, das moralische Emanzipationsideal, fordert vom Menschen, sic.h aus der
V1.m1triokUllg der llieder1m BllgillrUl!ll zu bllfrllillll, Ulll l:lich gllmä.ß uem kategorischen
Imperativ selber zu verwirklichen. Auch wenn die Vernunft über die Glaubwürdig-
keit uer Offenbarung zu befinden habe, bleibt der völlige Unglaube für Scheidler
Folge einer schrankenlosen Emancipation des Geistes in religiöser Hinsicht, die es zu
verhindern gelte. Die sprach- und traditionsgebundene Vernunft müsse die Mitte
finden zwischen positivem Kirchenglauben und purem Unglauben. Das ergebe sich
aus dem religiösen Emanzipationsideal. So lassen sich die Gesamtheit der '/tmancipa-
tion.9tmrs1wlw dc,s M nr1„~oh,nn, 1.tm 111:oh a1.M dnr D1:nnRtbalflcnit dnr 81:nnliohkeit und Selbst-
Mn:lu11n·i..~m111„~ 1ll'1r Fil'1w11l1m.11.1'11;l ·11.n1l 11R..~ A'/IJ.1Yriliil„~glanlmn.~ zu
1J'tu.:}1J. 1:10·1m:e. tle.1:1 M1:n1l,1m.
befreien, unter der Benennung der sittlich-religiösen Emancipation zusammenfassen.
Scheidler hatte damit als Liberaler erstmals 'Emanzipation' a.ls universalen Ober-
begriff für alle politischen Probleme seiner Zeit sowie als Zielbegriff definiert, den zu
verwirklichen eine permanente und nie abschließbare Aufgabe der Menschheit sei.
Wie er sagt, sind alle Hauptzwecke des menschlichen Lebens auf diese dreifache Eman-
cipation zu reduzieren ... , die ökonomisch-industrielle, die politische und sittlich-

171
Emanzipation Il. 5. Die ge&chicht&philosophisehe Kondensation

religiöse. Mit dieser Systematik blieb Scheidler freilich Einzelgänger, wenn auch
symptomatisch für die Begriffsträchtigkeit des Ausdrucks vor der 48er Revolution.
Scheidlers Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht wurde schnell von den
Linkshegelianern weitergetrieben, indem sie auf das liberale Gleichgewichtsaxiom
und auf die unvollendbare Idealität der Zielsetzung verzichteten. Politische Kritik
und geschiehtliche Programmatik wurden verschärft, bis sich der Ausdruck dem der
'Revolution' annäherte, in deren Schatten er dann zurücktrat.
1841 entwarfMosEs HESS die drei Stufen der heiligen Geschichte, die in das Reich der
selbstbewußten freien und sittlichen Tat einmünde. Die drei Mächte der europä-
ischen Triarchie92 , Deutschland, Frankreich und.England, sind die Vorkämpfer die-
ser Entwicklung. Sie führt von der Reformation über die Revolution in das Reich
der Zukunft. Das Rrste 1mserer Zeit war die Emancipation des Geistes von der Kirche.
Die französische Revolution, welche die Sitte von der H erkömmlichkeit emancipirte, war
das Zweite oder Mittlere - 11/Ylil diP. Rm11/Ylc1:pat1:on des Gesetze~ vom kiMlorischen Recht
wird das Dritte und Letzte sein . . . England sei dazu berufen, die Freiheit ganz zu
realisieren, dort werde der <iegensatz von Pauperismus und Geldaristokratie in der
sozial-politischen Freiheit aufgehoben. Dabei hat Heß nicht darauf verzichtet, zur
Legitimation dieser Geschichte des Heiligen Geistes auf die naturale Metaphorik
zurückzugreifen: Die drei ./!Jrna,ncipationen, welche hier entwickelt w<Yrden, sind nur
iierschiedene Emanationen eines und dessßlbßn W escns, der männlichen Selbständigke·it.
Erst in ihrem Mannesalter habe die Menschheit ihre Fesseln abgeworfen oder :>:P.r-
brochen. Immer war dabei für Heß die „Emancipation der Juden" ... ein inte-
grierendes Moment der Emancipation de.~ Gei.~te.~. GP.nau hier setzte im folgenden
Jahr, 1842, die Kritik von Bruno Bauer ein.
BAUER verschärfte in den „Deutschen Jahrbüchern" die Judenfrage93 , indem er die
Emanzipation der Juden für unmöglich erklärte. Sie anzustreben, heiße das· wahre
Ziel der Geschichte verfehlen, nämlich die allgemein menschliche Emanzipation: hiR
ein jüngster Tag anbricht, der die wahre aufrichtige The<Yrie zur Herrschaft bringt
(1125). Der grassierende Wortgebrauch böte keine Sicherheit für die Durchsetzung
der Sache: Allein nur zu oft glaubt man eine Sache schon gewonnen zu haben, wenn
man für sie nur Worte gebraucht, die gleichsam als ein heiliges Zeichen dienen, dem nie-
mand widersprechen darf, wer nicht für einen Unmenschen, Spötter oder Freund der
Tyrannei gelten will. Um vom Wort zum Sachverhalt vorzusLußen, unterzog Bauer
sowohl das Judentum wie den christlichen Staat in seiner preußischen und in seiner
französischen Ausformung des juste milieu der Kritik. Ohne durch das Feuer der
Kritik gegangen zu sein, wird nichts in die neue Welt, die nahe herbeigekommen ist,
eingehen können (1093).
Bauer bestritt den Juden, die an einem jahrtausendealten, längst überholten Gesetz
festhielten, jedes Verdienst an der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, Der
Jude könne als Jude nicht, ohne aufzuhören, Jude zu sein, für die Fortbildung der
K·unMt •und Wissenschaft arbeiten, für Freiheit gegen die Hierarchie kämpfen, sich für
den Staat wirklich interessieren und über die allgemeinen Gesetze desselben nachdenken

92 MOSES HESS, Die europäische Triarchie (1841 ), Philos. u. sozialistische Sohr. 1837-1850,
hg. v. Auguste Cornu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961), 85. 116. 150. 160. 159. 143.
93 BRUNO BAUER, Die Judenfrage, Dt. Jbb. f. Wiss. u. Kunst, Nr. 274-282 (1842),

1093 ff.

172
II. S, Die gcschichtsphilosophischc Kondensation Emanzipation

(1097). Die Geschichte will Entwicklung, neue Gestaltungen, Fortschritt und Umände-
rungen, die Juden dagegen stemmten sich gegen das Rad der Geschichte (1094). Ihnen
fehlten die geschichtlichen Leidenschaften, die Betriebsamkeit der Juden ist eine
solche, die mit den Interessen der Geschichte nichts zu tun hat (1097). Selbst an ihrem
tausendjährigen Martyrium seien sie schuld, da sie nicht wie die Christen die Partei
waren, die den Fortschritt repräsentierte und an welche die Möglichkeit des weltgeschicht-
lichen Fortschritts geknüpft war (1103). Wenn 'Geschichte' nur das genannt zu wer-
den verdient, was eine Entwicklung der allgemeinen menschlichen Freiheit ist, so
sei das Judentum entwicklungswidrig und daher als Judentum unfähig zur Eman-
zipation. Das gelte selbst für die aufgeklärten Juden des 19. Jahrhunderts, die ihre
„Messiaszeit" mit der Emancipation gekommen glaubten (1105); denn solange der
Jude seinem Wesen treu bleibe, betmehte er es 11ls ein Privilegium: seine einzig
mögliche Stellung im christlichen Staat kann also auch nur eine privilegierte, seine
Existenz nur die einer besondern Korporation sein (1119), wie Bruno Bauer auf dieser
Reflexionsebene im Sinne Friedrich Wilhelms IV. argumentiert.
Aber auch die Christen seien unfähig, die Juden zu emanzipieren, denn beide Reli-
gionen lebten vom Ausschließlichkeitsanspruch, der sie gegenseitig hindere, sich als
Menschen anzuerkennen. Selbst der Vorsprung der Christen, eine Konsequenz aus
dAm Judentum :r.n RAin, diA man nicht, 7.nriicikRpnlAn könnA, hincforA rliA CJhrü1tAn
nicht, unfrei zu sein, also anderen nicht zur Freiheit verhelfen zu können.Der Knecht
kann nicht emancipiren (1119). Die Entfremdung (1108) der Juden präge auch den
Christen, der als solcher unfähig sei, allgemeine Menschenrechte zu verwirklichen.
Deshalb müßten die Schranken von beiden Seiten durchbrochen werden, um in
einer neuen Zukunft das Reich der Freiheit zu verwirklichen. Die Emancipation der
Juden ist . . . erst möglich, wenn sie nicht als Juden, d. h. als Wesen, die den Christen
immer fremd bleiben müssen, emancipirt werden, sondern wenn sie sich Z'U Menschen
machen . . . Die Emancipationsfrage ist eine allgemeine Frage, die Frage unserer Zeit
überhaupt. Nicht nur die Juden, sondern auch wir wollen emancipirt sein , . , Auch
wir wollen wirkliches Volk, wirkliche Völker werden. Wollen die Juden wirkliches Volk
werden - sie können es aber nicht in ihrer chimärischen Nationalität, sondern nur in
den geschichtsfähigen und geschichtlichen Nationen unserer Zeit werden (1119 f.).
Indem Bauer die Geschichte als Verwirklichung der Menschenrechte begriff, wurde
der darauf bezogene Ausdruck 'Emanzipation' zu einem Leitbegriff, der in Zukuuft
eine menschliche Gesellschaft zu erringen forderte, in der jeder religiöse Gegensatz
hinter der Anerkennung der Menschen als Menschen verschwinden müsse. Damit
ging Bauer einen Schritt weiter als Scheidler, det noch das Gleichgewicht zwischen
religiösen Traditionen und vernünftiger Selbstbestimmung als Moment seines
Emanzipationsideals definierte. Ebenso ging er über Moses Heß hinaus, indem er
die Emanzipation der .Tuden als Hindernis und nir,hi; als Indikator der Befreiung
ansprach. Nicht aber ging Bauer den Schritt weiter, den Marx dann formulieren
sollte: nämlich in der Beseitigung von Religion überhaupt das Kriterium der voll-
endeten Emanzipation zu erblicken.
MARx94 bezog zunächst die Position Bauers: Solange der Staat christlich und der
Jude jüdisch ist, sind beide ebensowenig fähig, die Emancipation zu verleihen als zu

94 MAB.x, Judenfrage (s. .Anm. 89), 182 ff.


Emamiip11tion II. ö. Die gcschichtsphilosophische Kondensation

empfangen (183). Dann aber kritisiert er Bauer, (nicht) das Verhältnis der politischen
Emancipation zur menschlichen Emancipation . . . untersucht zu haben (186), nach
welchen beiden Aspekten er die bisherige Geschichte von der kommenden unterschei"
det. Die politische Emancipation habe es bisher nur geleistet, die alte Gesellschaft der
Feudalität (204) aufzulösen. Seitdem sei die herkömmliche societas civilis ihres poli-
tischen Charakters entkleidet, privatisiert worden, der bürgerliche 8taat habe sich
zum Diener deR bürgerlichen Menschen degradiert, die politische Emancipation
war zugleich die Emancipaiion der bürgerlichen Gesellschaft von der Politik' (205): Seit-
dem stehe das ganze Leben unter dem Zeichen der Entfremdung. Teils lebe man
noch in einem christlichen Staat, der eigentlich ein Nichtstaat (194) sei, da er für
seine Existenz noch das religiöse Jenseits bemühen müsse. Teils sei man fortge-
schritten, aber selbst der demokratische, der atheistische Staat habe es nur ver-
mocht, den Menschen Religionsfreiheit zu sichern, nicht aber sie von der Religion
zu befreien. Hier emanzipiere sich der Staat von der Religion, indem er sie als Ele-
ment der bürgerlichen Gesellschaft aufrechterhalte. Wo der Mensch als Privateigen-
tümer zugleich über seine Konfession verfüge, fröne er dem Egoismus, dem Krieg
aller gegen alle, und daher komme es, daß die Zersetzung des Menschen in den Juden
und in den Staatsbürger, in den Protestanten und in den Staatsbürger, in den religiösen
Menschen und in den Staatsbürger ... die politische Emancipation selbst ist (193).
So verewige die politische Emanzipation den in sein Privates entfremdeten Men~
sehen, während das Gattungswesen vom Staat nur abstrakt repräsentiert werde.
Die politische Emancipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die
letzte Form der menschlichen Emancipation überhaupt, aber sie ist die letzte l!'orm der
menschlichen Emancipation innerhalb der bisherigen Weltordnung (192). Insoweit
verwendet Marx den Ausdruck 'Emanzipation' auch als eine gesellschaftskritische
und diagnostische Kategorie. Zugleich aber gewinnt sie die Funktion einer utopi-
schen Zielkategorie, die über die Vorgänger hinausweist. Erst wenn die Bedingungen
möglicher Religion beseitigt sind, wird der Mensch Herr seiner selbst, ist er wirklich
emanzipiert. Die menschliche Emanzipation werde es mit sich bringen, daß Staat
und Gesellschaft wieder verschmelzen, daß die Individuen sich sowohl gesellschaft-
lich wie politisch als Gattungswesen wiederentdecken. Alle Emancipation ist Zu-
rückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst. Erst
wenn dies geleistet sei, ·ist d·ie rtieni;cltl·iclte Emancipation vollbracht (207). Mit dem
Rekurs auf den universellen Begriff 'Mensch' und mit dessen Einsetzung als kom-
mendes Subjekt seiner Geschichte gewinnt die Zielkategorie 'Emanzipation' den
Charakter eines geschichtsphilosophisch deduzierten Erlösungsbegriffes, der die
endgültige Aufhebung von Entfremdung überhaupt verheißt.
Die Erfüllung nun erwartet sich der junge Marx durch die Emancipation der Mensch-
heit vom Judentum (209), Von den geschichtstheologiimhen Argum1mten fäurnrs aus-
gehend, fragt er, wer von den beiden, Jude oder Christ, emancipationsfähiger (208)
sei. Dabei sieht er von der jüdischen Religion ab, um auf den wirklichen, weltlichen
Juden (209) einzugehen. Marx erklärt das Judentum zum wahren Kern der bürger-
lich-liberalen Gesellschaft, deren Wesen das Geld, der Schacher und der Egoismus
sei. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Da-
seins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, 1tnd er betet eß an (211). So vollende sich
die christlich bürgerliche Gesellschaft im. Judentum.. Nun wohl! Die Emancipation
vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum, wäre die Selbst-

174
II. 5. Die geschicht11philosophische Kondensation Emanzipation

emancipation unserer Zeit (209). Nur aufgrund seiner Identifikationsthese, die das
Judentum zum Kern der- liberalen Konkurrenzgesellschaft erklärte, kam Marx in
die· Lage, seinen Erlösungsbegriff empirisch stilisieren zu können: Die gesellschaft-
lüJhe Emancipation des ,Juden ist die Emancipation der Gesellschaft vom Judentum
(214).
Hatte Marx in der Schrift zur Judenfrage das negative Bild einer geknechteten Welt
entworfen, so suchte er - ebenfalls in den „Deutsch-Fmnzösischen .fahrbiir,hern"
1844 - auch die offene Frage zu beantworten, wer nun der ·positive Träger der
Emanzipation in praktischer Hinsicht sei. Aus seiner Kritik der Regelsehen Rechts-
philosophie95 deduzierte er eine Antwort, daß nämlich im Bündnis der deutschen
Philosophie mit dem Proletariat jene Aktionseinheit gefunden würde, die die ge-
samte Menschheit befreie, wobei 'Emanzipation' fast unter der Hand mit dem Be-
griff der Revolution verschmolzen wurde.
Marx leitet aus der politischen Rückständigkeit der deuLschen VerhäHnisse gegen-
über den westlichen Staaten eine theoretische Überlegenheit ab, die ihn verarilaßt,
in Deutschland den kommenden Träger einer weltweiten Emanzipation zu suchen.
In Frankreich sei die Revolution eines Volkes mit der Emancipation einer besonderen
Klasse zusammengefallen (82), da sich der Bürgerstand gegenüber Adel und Klerus
::i.l>1 R.Apriüumt.anfam iler Allgemeinheit. hat.t.e hecreifen können. Tn De11famh la.nil Rei
dagegen die Emanzipation theoretisch geblieben, es habe nur eine Reformation statt
einer Revolution stattgefunden: Luther habe den Glauben an die Autorität gebrochen,
weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat ... ; er hat den Leib von der Kette
emancipirt, weil er_ das Herz in Ketten gelegt (79). Nunmehr habe die Philosophie als
Religionskritik die Lehre entwickelt, daß der Mensch das höchste Wesen für den
Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in
denen der Men~ch e·in ern·iedriyles, e·in geknechtetes, eüi verlassenes, e·in veräclitliches
Wesen'ist (79): Hier liege die Chance, das Volk zu befreien. Aber die deutsche Mit-
telklasse, die von ihrem Standpunkt aus den Gedanken der Emanzipation kaum zu
fassen wage, sei der Repräsentant der philisterhaften Mittelmäßigkeit und unfähig
zur Erstürmung dieser emancipatorischen Stellung 96 • Daraus folgert nun Marx para-
doxerweise, daß die politische Emanzipation in Deutschland gleichsam übersprun-
gen werden könne. In l!'rankreich ist die partielle Emancipation der Grund deruni-
·versellen. In Deutschland ·ist d·ie ·universelle Emanc·ipat·ion cond-it·io s-irie q·ua non jeder
partiellen (222). Statt sich stufenweise zu befreien, sei es Aufgabe der Deutschen, im
Bündnis von Philosophie und Proletariat die Rolle des Emancipators für die ganze
Menschheit zu übernehmen. In einer Art von lnversionslogik schließt Marx aus der
UnfähigkeiL und Rückständigkeit der deutschen Zus Lände auf ihre universelle Auf-
gabe: Nicht die radikale Revolution ist utopischer Traum: für Deutschland, nicht die
allgemein menschliche Emancipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische
Revolution (219). Es sei speziell das Proletariat, das alles Unrecht und jede Knecht-
schaft in sich versammle ; diese Klasse bilde jene Sphäre, welche sich nicht emanci-
piren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übri-

95 KARL MARX, Zur Kritik der Regelsehen Rechtsphilosophie, ebd„ 71 ff.


06 Ebd„ 83. 82. Es handelt tiiuh nauh meiner Kenntnis um den ersten Beleg der besonders
aktivistischen Wendung 'emancipatorisch', die Marx aus dem Englischen haben könnte,
wo sie seit 1652 nachgewiesen ist (MURRAY s .. v. emancipatory).

175
Emanzipation m. Grupl"'ll• uud schichleUS1"'l!iifü1Che Anwendung11bereiche
gen Sphären der Gesellschaft zit ernancipiren. Der völlige Verlust des Menschen führe
zur völligen Wiedergewinnung des Menschen (223). In Deittschland kann keine Art der
Knechtschaft gelYrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu lYrechen ... ; die
Ernancipation des Deutschen ist die Emancipation des Menschen. Der Kopf dieser
Ernancipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat (224). Die Philosophie
verwirkliche sich durch die Aufhebung des Proletariats, wie umgekehrt das Prole-
tariat sich nicht aufheben könne, ohne die Philosophie zu verwirklichen.
Dadurch daß Marx seinen Leitbegriff der Emanzipation an der welthistorischen Trä-
gerrolle des Proletariats festmachte, indem er den revolutionären Befreiungskampf
dieser Klasse als die Befreiung des Menschen zu sich selbst begriff, verdrängte er
bereits mehrfach den Sprachgebrauch von 'Emanzipation' zugunsten von 'Revo-
lution'. Die Bedeutungsfelder beider Begriffe färbten sich seitdem gegenseitig ein, bei
Marx auf Kosten des Begriffs einer graduellen und evolutionistischen Emanzipation.
Die „allgemein menschliche Emanzipation" war nur zu begreifen als „radikale Revo-
lution", die über einen politischen Verfassungswandel hinaus die gesamte Sozial-
struktur der Erde umwälzen würde.

m. Gruppen- und schichtcnspezifische Anwendungsbereiche seit dem


18. Jahrhundert

Es kennzeichnet die Bezeichnungsvorgänge für gruppenspezifische Befreiungen, daß


zunächst zahlreiche deutsche Ausdrücke jene Postulate umschreiben, die erst seit
1830 unter dem Schlagwort 'Emanzipation' gebündelt wurden. Kraft seiner Dop-
pf:llbedeutung, sowohl den punktuellen Rechtsakt wie auch die zeitliche Bewegung
meinen zu können, eignete sich 'Emanzipation' zum zentralen Begriff für die Ge-
schichte der sich auflösenden Ständeordnung. Es war ein Begriff evolutionärer oder
gelegentlich revolutionärer Entfaltung bestimmter Gruppen, die zu Freiheit und
Gleichheit strebten, legal gesprochen zur Gleichberechtigung. Nach 1848 blieb der
Ausdruck erhalten, aber seine emotionale Aura verblaßte in vielen Sprachschichten,
der Ausdruck bleibt - vom sozialistischen Lager abgesehen - ein politischer Ter-
minus für solche rechtsstaatlichen Forflerungen, gegen die anzukämpfen immer we-
niger als zeitgemäß betrachtet wurde 97 •
Im ganzen fällt auf, daß der Ausdruck 'Emanzipation' im politümhen Sprachhaus-
halt des Vormärz für die damals zentralen Bereiche vergleichsweise selten verwendet
wurde: weder in den bürgerlichen Verfassungsforderungen tauchte er oft 1/-uf, noch
wurde der Ausdruck auf den zu befreienden Bauernstand bezogen97 a. Als schichten-

97 JoH. CASPAR BLUNTSCHLI, Art. Juden. Rechtliche Stellung, BLUNTSCHLr/BRA'l'lllR Rn. fi


(1860), 441 ff.
97 a Das Oktoberedikt programmierLe, ulles z·u entfernen, was den einzelnen bisher hinderte,

den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maße seiner Kräfte zu erreichen fähig war.
Deshalb dekretierte es, daß alle Vorzüge im Güterverkehr gänzlich wegfallen(§ 1), sowie
die Auflösung der Gutsuntertänigkeit (§ 10). Damit war, wie es im STEINsehen Testament
heißt, die Erbuntertänigkeit ... vernichtet; Ausgewählte Urkunden zur brandenburgisch-
preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, hg. v. WILHELM ALTMANN, Bd.2/1,
2. Aufl. (Berlin 1915), 26 ff. 62. Zur Erläuterung der Städteordnung sprach Stein davon,
Lasten zu vernichten, Hindernisse WP{JZU.räu.me.n, daß die Freiheit der Personen schon verkün-

176
III. 1. Die Emanzipation der Katholiken Emanzipation

spezifischer Ausdruck wurde 'Emanzipation' vorzüglich auf Randgruppen appliziert


und von diesen aufgegriffen.
Je konkreter der Begriff auf bestimmte Gruppen bezogen wurde, desto schwieriger
war es freilich, ihn einzulösen. Wo etwa für Katholiken, Juden, Frauen, Sklaven,
Arbeiter oder wo von diesen Gruppen Gleichberechtigung gefordert wurde, pflegten
sich soziale, ökonomische, religiöse oder „natürliche" Hindernisse aufzutürmen, die
rein legal nicht zu beseitigen waren. Deshalb mußte der Emanzipationsbegriff als
Schlagwort zwischen staatlich einlösbaren rechtlichen Forderungen und zwischen
gesellschaftspolitischen Zukunftsprogrammen schillern. Es war ein Dauerproblem,
daß die Folgelasten einer rechtlichen Emanzipation weiterreichten und länger
währten, als daß sie durch einen legalen Akt schon hätten aufgefangen werden kön-
nen. Das zeigt bereits die in Deutschland lebhaft diskutierte Emanzipation der
Katholiken in Irland, von der Rotteck/Welcker nach dem Gesetz von 1829 sagten,
daß es sich um Früchte handele, die erst noch reifen oder zubereitet werden müßten.

1. Die Emanzipation der Katholiken

BuRKE war offenbar der erste, der 1797 unter diesem Ausdruck die bürgerliche
Gleichstellung der Katholiken in Irland forderte 98 • 1817 definierte der BROCKHAUS
noch ohne generelle Bestimmung ganz konkret: 99 Unter der Emancipation der Ka-
tholiken in Irland, von wekher in der neueren Zeit häufig die Rede gewesen ist, wird die
Aufhebung der bürgerlichen und kirchlichen Beschränkungen verstanden, denen die
lcatholischen Bewohner dieses Landes unterworfen waren und zum Teil unterworfen
sind. Die englische Diskussion, alle V olksclassen für oder wider die Emancipation zu
gewinnen oder zu fanatisiren 100, wurde in Deutschland aufmerksam verfolgt. Die
Parlamentsreden erschienen übersetzt, so etwa von PEEL, der als Rechtsanwalt der

det sei, daß die Bürgerschaften nunmehr frei von der V ormurulschaft handeln können sollten,
daß sie von den .l!'esseln unnützer _!formen befreit werden, daß Rechtsunterschiede zwischen
Bürgern und Bauern (nicht dem Adel!) fallen sollen, daß auch im Soldatenstand alle aus-
schließlichen Ansprüche vernichtet worden seien; Br. u. Sehr„ Bd. 2/2 (1960), 902 ff. 928 ff.
Dieser Sprachgebrauch war unter allen Reformbeamten üblich und drang von da aus in die
Publizistik.
98 EDMUND BURKE, Letter on the Affairs of Ireland (1797), Works, vol. 6 (London 1899),

418. Burke bezeichnet die Verteidiger einer Emanzipation der irischen Katholiken, die auf
einen Verfassungswandel dringen, als third party. In diesem Umkreis entstand auch die
Bezeichnung der aktiven Handlungsträger einer Befreiungsbewegung 'emancipator' und
'emancipationist' (MURRAY), die dann auch auf die Vertreter der Anti-Sklavenbewegung
angewendet wurden.
99 Der sehr englandfreundlich referierende Artikel definiert unter dem Stichwort außer

der zitierten nur die römische Bedeutung; BROCKHAUS 4. Aufl„ Bd. 3 (1817), 396 ff.
Ähnlich auch Rhein. Conv. Lex„ Bd. 4 (1824), 487 f.
ioo KARL HEINRICH JfutGENS, Art. Emancipation der Katholiken in Großbritannien und
Irland, RoTTECK/WELCKER Bd. 5 (1837), 60. Dies ist außer dem Art. „Emancipation der
Juden" von KARL STEINACKER (S. 22 ff.) der einzige unter diesem Stichwort, während für
die Emanzipation der Kinder, der Leibeigenen und Sklaven auf die einschlägigen Stich-
wörter verwiesen wird.

12-90386/l 177
Eman!dpatlon m. 2. Die Judenemanzipation
Emancipation auftrat, oder seines Gegners SADLER, der das Blendwerk zu entlarven
suchte: Irland bittet euch um Brot, und ihr bietet ihm die katholischeEmancipation 10 1 •
Wie komplex die Katholikenemanzipation, wie wenig sie analog zur Gleichberechti-
gung der Dissenters (1828) durchsetzbar war, wurde in Deutschland immer wieder
gezeigt, etwa im „Oppositionsbla.t.t" 1820102 oder von HEGEL 1831. Hegel wies dar-
auf hin, wie im Betriebe der Angelegenheit der Emanzipation . . . die politische Seite
nur vordergründig sei. Freunde und .Feinde der Emanzipation hätten dafür gesorgt,
daß das Etablissement der anglikanischen Kirche als eine Herrschaftsform der Ober-
schicht nicht tangiert würde 103. JÜRGENS betonte im RoTTECK/WELCKER 10 "', daß
es weniger die Katholiken als die Iren seien, um deren Emanzipation es ging: diese
bedürften der Emanzipation, um aus dem Zustande eines unterfqchten Volks befreit
zu werden 'Und ni,cht mehr heimatslose Fremde im eigenen Lande zu sein. Tatsächlich
haben sich die Engländer die (partielle) bürgerliche Gleichstellung der irischen Ka-
tholiken damit bezahlen lassen, daß deren Wählerschaft durch einen Zensus auf ein
Zehntel reduziert wurde. Die Folgelasten rückten damit scheinbar aus der konfes-
sionellen Streitzone, die in Deutschland sowieso als überholt empfunden wurde,
und wanderten in den Bereich des Politischen und Sozialökonomischen ab. Der
Gesetzestext des „Act for the Relief of his Majesty's Roman Catholic Subjects"
verwendete rechtsterminologisch korrekt den Ausdruck 'Emanzipation' nicht, er
widerrief nur· gewisse restraints und disabilities, um den katholischen Iren ein
beschränktes Wahlrecht zuzugestehen, ohne die Gleichberechtigung generell durch-
zuführen105. Gleichwohl wurde der tagespolitisch aktualisierte Ausdruck 'Emanzi-
pation' für das Gesetz üblich.
Bald darauf wurde der konkrete Begriff in Deut.„r,hla.nd lflxika.lisch generalisiert.
Die Enzyklopädien und Wörterbücher sprechen seit rund 1830 nicht mehr von der
'Emanzipation der katholischen Iren', sondern allgemein davon, daß man in neuerer
Zeit unter 'Emanzipation' die Aufhebung aller bürgerlichen und kirchlichen Ein-
schränkungen einer nicht zur Staatsreligion gehörenden Religionspartei verstehe 106.
Der Ausdruck wurde auf eine Religionspartei oder ein Volk schlechthin bezogen10 7 ,
damit auf eine höhere Ebene der Allgemeinheit transponiert, was seine Übertrag-
barkeit steigerte. So konnte der Terminus auch auf die .luden angAwAndet werden.

2. Die Judenemanzipation

CHRISTIAN WILHELM DoHM hatte 1781 in seiner bahnbrechenden Schrift „Über die
bürgerliche Verbesserung der Juden" bereits die meisten Argumente geliefert, die

101 Bibliothek politischer Reden, Bd. 2 (Berlin 1843), 51. 180 ff.
102 Oppositionsblatt, 19. 7. 1820, Leit11,rtikel: K11.t.h.olische Emancipation in Großbritan-
nien, lnit Polemik gegen die englische Oligarchie. Ferner: Neue Monatsschr. f. Deutschland,
hg. v. ]friellrich Buchholtz, 5 (1821), 235: Wird die Emancipation der Katholiken im
großbritannischen Reiche erfolgen ? und wann wird sie erfolgen ?
103 HEGEL, Über die englische Reformbill, Theorie-Werkausgabe, Bd. 11 (Jfrankfurt 1970),
97 f.
10 4 JfutGENS, Art. Emancipation der Katholiken, 53.
105 The Statutes of the United Kingdom of Great Britain and Ireland (London 1829), 49ff.
106 WoLFF Bd. 2 (Leipzig 1835), s.v.
101 Allg. dt,. Conv. Lex., Bd. 3 (1834), 711 f.

178
III. 2. Die Judenemanzipation Emanzipation

im folgenden Jahrhundert ausgetauscht wurden. Er verglich die Rechtlosigkeit der


Juden auch schon mit der Lage der irischen Katholiken108 . Aber den Ausdruck
'Emanzipation' verwendete er noch nicht. In der Auseinandersetzung um die
Judenemanzipation wurde mit einer Vielzahl von Ausdrücken gearbeitet, und zwar
auch, nachdem sich der Terminus 'Emanzipation' seit rund 1830 als Schlagwort
immer mehr anbot. Die verschiedenen Bezeichnungen für die Ziele, die für die und
von den Juden angestrebt wurden, lassen sich grob auf drei Grundpositionen be-
ziehen, die in der Praxis freilich ineinander übergehen und verstrickt bleiben.
Erstens konnte der legislatorische Akt bezeichnet werden, der auf eine bürgerliche
und/oder politische Gleichstellung bzw. Gleichberechtigung zielte. Dabei sprach man
auch von Einbürgerung, forderte, Gleichheit herzustellen, die Juden gleichzustellen, sie
zu Bürgern zu machen oder ihre Erniedrigung zu beseitigen bzw. die Absonderung ab-
zuschaffen, und wie ähri.liche Umschreibungen lauten mochten109 •
Soweit es darum ging, den Juden als Juden gleiche Rechte zukommen zu lassen
wie den christlichen Staatsbürgern, war die Voraussetzung eine konsequente Tren-
nung von Staat und Gesellschaft, speziell von Staat und Kirche, da anders die
jüdische Religion nicht gewahrt werden konnte. Deshalb hatte schon Dohm voll-
knmmwn glP.ichR. RP.chtP. mit allen iibn:gen Untertanen gefordert, nicht nur die i'ollkom-
menste Freiheit der Beschäftigungen und Mittel des Erwerbs, Zugang zu allen Berufen,
sondern ebenso völlig freie Religionsausübung. ln den Oenuß der Rechte der Men8ch-
heit könnten die Juden nur eintreten, wenn man ihnen erlaube, nach ihren eigenen
Gesetzen zu leben und gerichtet zu werden 110• Aus dieser Prämisse entwickelte sich
die liberale Position, die etwa HuM.HOLV'l' bezogen hatte, als er dem Staat den Beruf
absprach, die Juden zu erziehen111 . Ebenso ging W. T. KRUG 1828 davon aus, daß
man Staat und Religion und Recht genau unterscheiden müsse: so ist die Frage
wegen der Emanzipazion der Juden eigentlich schon beantwortet. Krug, der den Aus-
druck wohl als erster auf die Juden anwendete, drängte auf einen einmaligen Ge-
setzesakt und wehrte sich gegen alle halbe Bewilligungen undBefreiungen112 • Ähnlich

108 CHR. WILHELM DoHM, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781; 2. Aufl.

Berlin, Stettin 1783), 93 f. Der Vergleich bezieht sich auf die Unfähigkeit, Boden zu be-
sitzen, auf das Geldleihverbot, Waffenverbot, Einschränkung des Erbrechts. Und gerade
wie bei den Juden, brauchte man hier di<!$e erz-WUngene Folge zur Rechtfertigung jener
Drückung.
109 Siehe die zahlreichen Belege bei ALFRED STERN, Die Entstehung des Ediktes vom

11. März 1812, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem preußischen
Staat, in: ders., Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit
1807-1815 (Leipzig 1885), 225ff.; H.D.ScHMIDT, TheTerms ofEmancipation 1781-1812.
The Public Debate in Germany and its Effect on the Mentality and Ideas of German
Jewry, in: Year Book ofthe Leo Baeck Institute of Jews from Germany 1 (1956), 28 ff.;
RÜRUP, Bad. Judenemanzipation (s. Anm. 81), 241 ff.
uo DoHM, Verbesserung, 118 ff.
111 W. v. HUMBOLDT, Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden,

AA Bd. 10 (1903), 101 f,


112 WILHELM TRAUGOTT KBuG, Ueber das Verhältniß verschiedener Religionsparteien

zum Staate und über die Emanzipazion der Juden (zuerst Jena 1828), Ges. Sehr., Bd. 4
(Braunschweig 1834), 471. 475. Vgl. ders., Die Politik der Christen und die Politik der
Juden im mehr als.tausendjährigen Kampfe (zuerst Leipzig 1832), ebd., Bd. 3 (1835),
227 ff.

179
Emanzipation m. 2. Die Judenemanzipation

forderte STEINACKER strikte Trennung von Staat und Kirche in seinem Artikel über
die „Emancipation der Juden", den er gegen Rottecks hinhaltenden Standpunkt in
dessen Lexikon veröffentlichte. Um seine liberale Forderung nach einem Zustand
vollkommener rechtlicher Gleichheit zu verdeutlichen, hat einer der Vorkämpfer
der Judenemanzipation, GABRIEL RrnsSER, ausdrücklich erklärt: Ich habe mich
seltener des Ausdrucks 'Emancipation' als des Deutschen aller Welt verständlichen
'bürgerliche Gleichstellung' bedient; besonders darum, weil ich glaube, daß es Zeit ist,
Dinge, die in Deutschland immer mehr heimisch werden, mit deutschen Namen zu be-
zeichnen 113.
Auch die liberal motivierten Gesetze verwendeten nicht den Ausdruck 'Emanzipa-
tion', etwa in Frankreich 1791 oder Baden 1808 oder Preußen 1812 114 . Das gleiche
gilt für die Frankfurter Reichsverfassung von 1848, die im§ 146 feststellte: Durch
das religiöse Bekenntnis v.n:rd der Gemlß der bürgerlichen ~lnd .staatsbürgerlichen Rechte
weder bedingt noch beschränkt. Den staatsbürgerlichen Pflichten darf dasselbe keinen
Abbruch tun. Mit dieser Bestimmung, die in den Landesrechten allerdings noch nicht
zum Tragen kam, wurde die Gleichstellung der Juden legalisiert. Waren sie zuvor
religiös, wie im „Allgemeinen Landrecht" (§ 1 ff„ II, 11), nur geduldet, so sollten
ihnen jetzt daraus keine politfachen oder rechtlichen Nach teile mehr erwacfo1en.
Der in den politischen Debatten lebhaft gebrauchte Ausdruck 'Emanzipation' wurde
bei der Legalisierung nicht verwendet. ~benso verzichtet das letzte „Gesetz betref-
fend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerli-
cher Beziehung", das im Jahre 1869 die Emanzipation unter Wahrung der religiösen
Identität der Juden generell sicherstellte, auf diese Bezeichnung116 .
Während das liberale Lager den Ausdruck politisch, aber nicht rechtssprachlich
verwendete, wurde von seinen Gegnern - und damit kommen wir zur zweiten
Position - 'Emanzipation' entweder negativ besetzt oder der damit intendierte

113 STEINACKER, Art. Emancipation der Juden (s. Anm. 100), 35; GABRIEL RIESSER,

Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn
Dr. H. E. G. Paulus (Altona 1831), 15.
114 ]ur .Frankreich: Code fran9ais ou recueil general des decrets de !'Assemblee nationale

sanctionn6s pur lo roi, t. 2 (Paris 1790), 52 (28. 1. 1790: Verleihung der aktiven Bürger-
.rechte unter Wahrung der Privilegien an die portugiesischen, spanischen, avignoneischen
Juden). 221 (16. 4. 1790: Schutz für die elsässischen Juden); t. 3, 149 (7. 8. 1790: Auf-
hebung von Sondersteuern, ohne Entschädigung der Empfänger)'; JEAN-BAPTISTE
DuvERGIER, Collection complete des lois, 26 ed„ t. 3 (Paris 1834), 374 (13. 11. 1791:
Aufhebung aller l'rivilegie11 und Exzeptionen für Juden, die den Bürgereid leisten und
damit in gleiche Pfüohten und Rechte eintreten); t. 15 (1836), 367 u. t. 16 (1836), 248
(30. 5. 1806 u. 17. 3. 1808: dio napoloonisohon Ausnahmebestimmungen gegen die rheini-
schen Juden). Für Preußen: das spg. Emanzipationsedikt vom 11. 3.1812, in: Dokumente
zur deutschen Verfassungsgeschichte, hg. v. ERNST RUDOLF HUBER, ßd. 1(8tuttgart1961),
45 (Edikt betr. die bürgerl. Verhältnisse der Juden indem preußischen Staatev. 11. 3. 1812).
115 HUBER, Dokumente, Bd. 1, 319. Die Debatte in der Paulskirche in: Sten. Ber. Dt.
Nationalvers„ Bd. 2 (1848), 785 ff. 985; Bd. 3 (1848), 2173 ff. Vgl. das Gesetz betreffend
die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung
v. 3. 7. 1869, HUBER, Dokumente, Bd. 2 (1964), 248: Alle noch bestehenden, aus der
Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben.

180
III. 2. Die Judenemanzipation Emanzipation

Sachverhalt für unmöglich erklärt. Der Adressat einer rechtlichen Gleichstellung


war immer der liberal konzipierte einzelne Staatsbürger, der mit RIESSER 116 die
individuelle religiöse Freiheit, sich seine Konfession wählen zu können, beanspruch-
te. Die Gegner verwiesen dagegen auf die Folgelasten, die sich aus der F.ig1mtiim-
lichkeit der jüdischen Kultgemeinschaft ergäben. Sie sprachen nicht von den jüdi-
schen Individuen, sondern von der 'Judenschaft' als einer - mit Religionsgruppe,
Nation, Nationalität, Rasse oder sonstwie definierten - sozialen Gruppe. Dann
tauchten Fragen auf, wie etwa die Juden in den christlichen Alltag einbezogen wer-
den könnten? Wie konnte die messianische Hoffnung und ihr Ausschließlichkeits-
anspruch im christlichen und nationalem Raum bestehen bleiben 1 Wie konnten
schließlich die Riten aufrechterhalten werden, die sich nicht unmittelbar dem Ta-
geslauf der Arbeitsgesellschaft einfügten ? Solche und die Fülle der weiteren, hier
niclit zu behandelnden Einwände bezogen sich immer auf gruppenspezifische Merk-
male. Sie insistierten zunächst auf der Eigenart der jüdischen Religion und ihrer
Gesetzesbindung. Im Maße, als die religiösen Gegensätze durch gemeinsame Bildung
verblaßten oder in den Hintergrund zu treten schienen, verschoben sich die Vorbe-
halte auf die jüdische 'Nation' oder 'Nationalität'. Wo der Volksbegriff substan-
tiell verstanden wurde, blieb ebenfalls kein Raum, ein fremdes Volk in das eigene
hineinzuemanzipieren. Als schließlich die nationale Anpassung der Juden Fort-
schritte zu machen schien, berief mau siuh auf den Unterschied der 'Ilasse', der,
sobald er biologisch natural verstanden wurde, ebenfalls keine F.man:r.ipation mehr
erlaubte.
Innerhalb dieses Rahmens blieb der Ausdruck 'Emanzipation' negativ besetzt 117 ,
und zwar sowohl durch orthodoxe Juden wie durch Vertreter des christlichen Staa-
tes, die den Juden nur korporative Sonderrechte zubilligen wollten, wie schließlich
bei den Antisemiten. So betonte H. PAULUS 1831 den unübersteigbaren religiösei1
und nationalen Unterschied. Die Juden haben nicht Ursache, eine Emanzipation zu
verlangen. Sie sind unter uns schon weit rnehr als Emanzipirte. Sie sind Schutzbür-
ger ... Man hat das frernde Wurt Ernanz·ipation, bei welchem die meisten nichts Be-

116 GABRIEL RIESSER, Kritische ßeleuchtung der in den Jahren 1831 und 1832 in Deutsch-

land vorgekommenen ständischen Verhandlungen über die Emancipation der Juden


(Altona 1833), 62.
117 RADOWITZ: Einzelne Juden können nach dern göttlichen Ratschlusse konvertiert werden,

das Judenturn aber nie (1837). Dieses wunderbare Volk wird ebenso die Verführung über-
dauern wie früher die Verfolgung (1846; Ausg. Sehr., Bd. 3, hg. v. Wilhelm Corvinus,
Regensburg 1911, 87. 192); HEBBEL: Die Ernancipation der Juden unter den Bedingungen,
welche die Juden vorschreiben, würde irn weitern geschichtlichen V erl,auf zu einer Krisis
führen, welche - die Ernancipation der Christen notwendig machte (Tagebuch 1843, zit.
LADENDORF [1906], 150); GRILLPARZERS Gedicht „Emanzipation": Spät ward rnan billig
e:urem GeJJchlechte, / das !laß und Rachsucht mit Schmach beluden / Ihr habt nun alle Bürger-
rechte, / Nur freilich bleibt ihr irnrner Juden (SW, hg. v. Peter Frank u. Karl Pörnbacher,
Bd. 1, 2. Aufl., München 1969, 577). Vgl. RÜRuP, Bad. Judenemanzipation (s. Anm. 81),
297: LUDWIG HÄUSSER, Promotor der liberalen Judengesetzgebung in Baden, referierte
1862 in der badischen Kammer, daß der Übertritt der Israeliten zurn Christenturn sie in den
Augen des Volkes noch keineswegs emanzipiert; sie sind nach der ,populllren Ansicht wuch
dann noch nicht Christen, sondern „getaufte Juden", wonach selbst Häusser auf die Ver-
schfode.nheit der Ra~e als Grund hinwies.

181
Emanzipation m. 2. Die Judenemanzipation
stimmtes sich deutlich zu denken wissen, schon für d1'.e armen Irländer mißbräuchlich
verwendet. Es handele sich um ein fremdartiges Schlagwort - wie auch 'Legitimi-
tät', 'Volkssouveränität' oder 'Souveränität überhaupt' und ähnliche Ausdrücke,
die den Staunenden terminologisch betäuben sollten. Das Recht für Juden, .~ogar
auch Vorsteher, Gesetzgeber, Stellvertreter - der Nichtjuden im Staate zu werden, kann
niemand, der das Wort Emanzipation versteht und nicht mißbrauchen will, als - eine
Entlassung aus der Unfreiheit verlangen wollen. Darin erblickte Paulus eine sonder-
bare Begriffsverwirrung. Schon indem der Staat den Juden eigene Richter und Ge-
setze beließe, habe er sie mehr als emanzipiert. Vielmehr käme es darauf an, zu er-
kennen, daß eine Gleicherklärung der Ungleichbleibenden ein Anspruch ohne Rechts-
grund sei. Besser solle die christliche Staatsgesetzgebung darauf dringen, die Juden
von ihren Rabbinen zu emanzipiren, deren Unwesen zu beseitigen die einzige wahre
Emanzipation sei 118 • Während Paulus die Juden vor die Zwangsalternative stellte,
jüdisch zu bleiben oder christlich zu werden, und so den Weg zu einer Emanzipation
aussparte, wurde der Weg vollends für verfehlt erklärt, sobald die Juden auf eine
'Rasse' reduziert wurden: Bei der parasitischen Lebensweise, auf welche sie ihre Kör-
perbeschaffenheit hinweist und welche aufzugeben sie, ihrem geistigen Hange folgend,
auch nach ihrer sogenannten Emancipation nicht einmal versucht haben, ist eine Ände-
rung ihres Charakter.~ nicht z1' erwarten 119 •
Eine dritte Gruppe plädierte zwar für die liberal gerneinLe Gleichstellung, suchte
aber zugleich die Einwände der Gegner z11 1mtkräften. Dabei gewann der Ausdruck
'Emanzipation' eine geschichtspädagogische Bedeutung. Die Gleichstellung sollte
Ausgangspunkt oder Ziel eines Entwicklungsprozesses sein, das verschieden be-
stimmbar war. Entweder bestand es mehr oder minder offen zugegeben in einer
restlosen Chri,stianisierung der Juden, oder man ging davon aus, daß sich künftig
der Gegensatz zwischen Christ und Jude auf einer höheren Stufe der Menschheit
aufhebe.
In diesem geschichtspädagogischen Zusammenhang wurde eine andere Wortgruppe
verwendet. So berechnete man die Phasen des Übergangs - oder plante sie legisla-
torisch ein-, innerhalb derer die Veredelung, die Bildung, das Emporheben oder die
Erhebung zu wirklichen Staatsbürgern stattfinden solle. Weg und Ziel waren eine
Amalgamierung oder Amalgation, man sprach von der Verschmelzung oder der Assi-
mil.at·i:on, man forderLe ilie Zerstreuung oder Vermischung mit der übrigen Nation
oder wie man sich ähnlich ausdrückte 12 0.
Immer ging es darum, wie der dominante Ausdruck lautete, die bürgerliche Verbes-
serung durchzusetzen, die mit DoHM relativ Zlll' Verderbnis, zur Verderbtheit der
Juden gesehen wlll'de. Duhrn ging davon aus, daß die Juden nur deshalb al.~ Men-
schen und Bürger verderbt gewesen, weil man ihnen die Rechte beider versagt habe 121 •

ns HEINR. EBERHARD GoTTLOD PAULUS, Die jüdische Nationalabsonderung nach


Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln (Heidelberg 1831), 3 f. 6 f. 16. 134. 149.
119 H. NAUDH [d. i. H. G. NoRDMANN], Professoren über Israel (1880), zit. Der Berliner
Antisemitismusstreit, hg. v. WALTER BoEBLIOH (Frankfurt 1965), 191.
120 Vgl. Anm. 109.
121 DoBM, Verbesserung (s. Anm. 108), Vorerinnerung. Dazu ders„ Denkwürdigkeiten

meiner Zeit, Bd. 2 (Lemgo, Hannover 1815), 283 ff. über Joseph II. und Bd. 4 (1819),
482 ff. über Friedrich IT.

182.
m. 2. Die .Judenemanzipation Emanzipation

Es komme darauf an, den politischen Druck und die gesellschaftlichen Bedingungen
zu ändern, um aus schlechten gute Bürger zu machen. Der Appell, die Bedingungen
zu ändern, richtete sich an die Monarchen und an die Christen, um eine Verbesserung
in die Wege zu leiten. Dieser Ausdruck fand dann auch in dem programmatischen,
aber nie eingelösten Artikel 16 der Bundesakte von 1815 seinen Eingang122 •
Für die betroffenen Juden waren die geschichtspädagogischen Ausdrücke von frag-
würdiger Bedeutung. Denn alle Entwicklungsmodelle formulierten in irgendeiner
Weise das Ziel der Verschmelzung, womit die Juden gerade nicht mehr als Juden
emanzipiert, sondern ihre jüdische Existenz aufgehoben werden sollte. Wie KANT
es sah: Die Euthanasie des Judentums ist die reine moralische Religion, in der kulti-
sche Bindungen und Sektenunterschiede schließlich verschwinden würden123 •
Damit wurde ein Ziel formuliert, das mit der später sogenannten 'Emanzipation'
die zu emanzipierende Gruppe selber.aufhebt. Demgemäß lautete 1805 ein Titel:
Der Judenreformator oder wie können die Juden vertilgt werden, ohne einem einzigen
den Kopf abzuschneiden 124 • 1817 forderte das liberale Oppositionsblatt, man müsse
durch Beseitigung der hebräischen S1>rache und der eigenen Gemeindegewalt sowie
durch allgemeinen Zutritt zu staatlichen Schulen und Heeresdienst den Juden einen
Übergang zu den völligen Bürgerrechten bahnen 125 •
Auch wenn die letztlich antijüdisehen Bedeutungen der genannten Ausdrücke· zu-
nächst noch nicht 'unter den Terminus 'Emanzipation' fielen, so gingen sie doch spä-
ter in diesen Begriff ein. Rs kennzeichnet die Elastizität und die Brisanz des Be-
griffs 'Emanzipation', daß er beide Bedeutungsstreifen in sich bündelte: den des le-
galen Rechtsaktes wie auch den eines geschichtlichen Prozesses mit verschieden
besetzbarem Ziel. Deshalb vermochte SCHEIDLER 1850 zwischen der bürgerlichen
und politischen Gleichstellung= äußerlicher Emancipation der Juden zu unterschei-
den und der höheren oder wahren Emancipation, die er aus einem volks- und staats-
pädagogischen Gesichtspunkte heraus definierte. Hier komme es darauf an, daß die
Juden eine innere geistige Befreiung aus der Sklaverei eines blinden positiven Autori-
tätsglaubens und namentlich aus dem Joche eines Zeremonialgesetzes leisteten, während
es im ersten Falle darum ginge, ein wirkliches Sklavenverhältnis zu lösen, was streng
wörtlich zu nehmen sei, während eine Emanzipation der Frauen oder der Schule nur
bildlich gemeint sein könnel26.
Die Vielschichtigkeit des Begriffs erklärt seine polemische Verwendbarkeit. Wie

122 Die Bundesversammlung wird in Beratung ziehen, wie auf eine möglichst Uberein-

stimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jildiscken Glaubens in Deutsch-
land zu bewirken sei, und wie insonderheit denselben der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen
die Übernahme aller BürgerpP,ichten in den Bundesstaaten verschafft und gesichert werden
könne; jedoch werden den Bekennern dieses Glaubens bis dahin die denselben von den einzelnen
Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte erhalten; HUBER, Dokumente, Bd. 1, 80.
123 KANT, Der Streit der Fakultäten (1798), Allg. Anm. von Religionssekten, AA Bd. 7

(1907), 53.
1 2 4 Anonyme Broschüre (Hamburg 1805).
125 Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Oppositionsblatt, Leitartikel,
24.-28. 1. 1817.
126 KARL HERMANN l::lCHEIDLE&, Art. Judenemancipation, ERSCH/GRUBER 2. Sect., Bd. 27

(1850), 265 f. In diesem Artikel zahlreiche Belege für chm Streit um die Judenemanzipation.

183
Emanzipation m. 2. Die Judenemanzipation

GuTZKOW feststellte 127 : Die Emancipation der Juden ist eine so lebhafte Tages/rage,
daß man sie kaum erwähnen kann, ohne zugleich mitten in Polemik versetzt zu sein.
Im politischen Sprachgebrauch meinte der Ausdruck den legalen Rechtsakt, wie er
zugleich als Transformationsbegriff verwendet wurde. Der Emanzipationsbegriff
hat es also geleistet, die Schwierigkeiten beider Ansätze durch gegenseitigen Ver-
weis aufeinander zu beziehen: fand der Rechtsakt plötzlich statt, legal, blieb die
Frage des praktischen Zusammenlebens jüdischer und christlicher Bürger der Ge-
sellschaft und der Zukunft überlassen. Berief man sich dagegen auf die zukünftige
Entwicklung, so vermochte man sich - wie STEINACKER oder Rotteck - den
Legalitätsforderungen des Tages zu verschließen.
Wo der Ausdruck als Transformationsbegriff verwendet wurde, implizierte er immer
einen elitären Führungsanspruch gegenüber den AdressaLen: sei es, daß man die
Juden aufrief, sich zu Ehre und Sittlichkeit emporzuläutern, sei es, daß man an
den Staat appellierte, diesen Vorgang :r.u steuern, sei es, daß man die Christen mahn-
te, sich ihrer Vorurteile zu begeben oder sei es, daß man eine gehörig geläuterte
u.nd belehrte öffentliche Meinung herzustellen suchte 128 • Am radikalsten hat sicherlich
MARX den Transformationsbegriff gefaßt, als er die politisch-sozialen und die öko-
nomischen Bedingungen definierte, mit deren Beseitigung die Bedingung nicht nur
der jüdischen Religion, sondern auch des „wirklichen" Jude11Lu1rn1 aufgehoben
würde 129 • Der Übergang führL nieht nur zur Gleichberechtigung, wie die Liberalen
hoffen mochten, sondern transformiert die Zustände so weit, daß die Bedingung
möglicher Emanzipation selber aufgehoben wird.
'Emanzipation' konnte freilich auch gegenläufig verwendet werden, sobald die Ju-
den einmal in die gleichen Rechte eingerückt waren. Das zeigt Rich nach der Revo-
lution von 1848, als auf der Reichsebene die Gleichstellung erstmals erreicht war.
RICHARD WAGNER bezichtigte sich 1850 seines Liberalismus, er habe Geistesspiele
mit abstrakten Prinzipien ohne Kenntnis des Volkes betrieben. Der Jude ist nach
dem gegenwärtigen Starule der Dinge dieser Welt wirklich bereits melvr al15 emunzipirt:
er herrscht und wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor welche·r all'
unser Tun und Treiben seine Kraft verliert ... Dünkt uns aber das Notweruligste die
Emanzipation von dem Drucke des J wlentumes, so müssen wir e.~ vor alfom für wi:ch#g
erachten, unsere J{räjte zu diesem Befreiungskampfe zu prüfen 130 • Die formale Ähn-
liehkeit von Richard Wagners Argumenten zu denen von Marx darf nicht über den
Unterschied hinwegtäuschen: während Wagner sich von der modernen Wirtschafts-
gesellschaft zu befreien hoffte, indem er sich von den 'Juden' emanzipierte, sah
Marx in Zukunft die Judeufrage in sich zusammensinken, sobald der Kapitalismus
sich überlebt habe und gestürzt wiirrlr..
Die Gemeinsamkeit lag nur in der gemeinsamr.n Gegnerschaft zum Liberalismus
beschlossen. Richard Wagner näherte sich bereits der Position, von der aus das
konservative Staatslexikon WAGENERS 1861 feststellen konnte, die Versagung der

127 KARL GUTZKOW, Säkularbilder. Anfänge und Ziele des Jahrhunderts, GW 1. Ser.,

Bd. 8, 3. Aufl. (Jena 1875), 406.


128 STEINACKER, Art. Emancipation der Juden (s. Anm. 100), 49.
129 s. o. s. 173 ff. .
130 RICHARD WAGNER, Das Judenthum in der Musik (1850), Sämtl. Sehr. u. Dichtungen,

5. Aufl., Bd. 5 (Leipzig o. J.), 68 f. .

184
m. 3. Frauenemanzipation und Emanzipation des Fleisches Emanzipation

Emancipation liege ebensosehr im Interesse des Judentums selbst, als sie von dem
zwingenden Begriff des christlichen Staats und der christlichen Obrigkeit abgewiesen
werden müsse. Letztlich sei es dem Racentypus zuzuschreiben, daß trotz Aufhe-
bung religiöser Gegensätze die Emancipationsfrage unlösbar bleibe 131 • Mit diesem
Argument wurde bald darauf der Antisemitismus abgestützt, der von der bereits
vollzogenen und auch von Treitschke als sittlich und legal anerkannten Emanzipa-
tion ausging 132 •

3. Frauenemanzipation und Emanzipation des Fleisches

Seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts ertönten im Rahmen der antiständi-
schen Kritik bereits Stimmen, die eine Gleichstellung auch der Frauen forderten.
Die Weiber können nach den Rechten nicht viel mehr ohne V urmund und Beihilfe tun
a.ls zu Rette gehen, meinte provokativ THEODOR G. VON HIPPEL in seinem Buch
„Über die Ehe" 133 . 1784 schrieb KANT: Daß der bei weitem größte Teil der Menschen
(darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem, daß er
beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die
die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben 134 •
Terminologie und Kritik wurden ähnlich wie in ilim Schriften zur Judenfrage stili-
siert. Den TiLel vun Dohms Judenschrift variierend, schrieb Hippcl (anonym) 1792
„Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber". Er beschwerte sich, daß die
Weiber bloß Privilegia und nicht Rechte haben, und rief zur Zerstörung der galanten
Bastillen, der häuslichen Zwinger auf. Dabei forderte er - will Condorcet - poli-
tische Gleichberechtigung: das Weib sei fälschlicherweiRA dem Staat nur durch den
111ann verwandt ... Staaten, die zum Schutze der Menschenrechte entstanden, ent-
ziehen ihn der Hälfte ihrer bürgerfllhigen Einwohner 135 • Ebenfalls 1792 erschien in
England die Schrift der MARY WoLLSTONECRAFT 136 , die im folgenden Jahre von
SALZMANN deutsch herausgegeben wurde: „Rettung der Rechte des Weibes".
Hier tauchLe schon der Terminus 'Emanzipation' auf, wenn auch nicht zentral.
Hippel meinte, daß die Zeiten vorbei seien, in denen eine Vormundschaft das andere
Geschlecht sorgloser machte als eine Emancipation, wodurch es sich mit Verantwor-
tungen, Sorgen, Unruhen und tausend Unbequemlichkeiten des bürgerlichen Lebens

131 WAGENER Bd. 7 (1861), 11 f„ Art. Emancipation der Juden.


1 32 BöHLICH, Antisemitismusstreit, 10 f. 38. 64. 75 f. 79. 191. 226 f.
133 THEODOR GoTTLIEB v. llIPPEL, Über die Ehe, 2. Aufl. (Königsberg 1776), 39.
1 34 KANT, Was ist Aufklärung? (s. Anm. 64), 35.
135 [TH. G. v. HIPPEL,] Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (Berlin 1792), 67.19.
71. Sol,ang die Weiber bloß Privilegia und nicht Rechte haben, sol,ange der Staat sie nur wie
parasitische Pflanzen behandelt, die ihr bürgerliches Dasein und ihren Wert nur dem Manne
veroonken, mit welchem das Schicksal sie paarte - wird nicht das Weib den großen Beruf der
Natur: das Weib ihres Mannes, die Mutter ihrer Kinder und kraft dieser edeln Bestimmungen
ein Mitglied, eine Bürgerin und nicht bloß eine Schutzverwandte des Staates zu sein - nur
immer sehr unvollkommen und je 7,änger, desto unvollkommener erfüllen; ebd., 19 ff.
136 MARY WoLLSTONECRAFT, A Vindication of the Rights of Women, 2nd ed. (London
1792), dt. v. FRIEDR. GEORG CHR. WEISSENBORN, hg. v. C.liit. Go·rTHILF SALZMANN u. d. T.:
Rettung der Rechte des Weibes mit Bemerkungen über politische und moralische Gegen-
stände, 2 Bde. (Schnepfenthal 1793/94).

185
Emanzipation m. 3. Frauenemanzipation und Emanzipation des Fleisches
belasten müsse, um frei zu sein. Die Wende sei erreicht: Gesetze erziehen Menschen
und müssen sich, wenn Menschen mündig werden, von Menschen erziehen lassen 137 .
Auch Lady Wollstonecraft verwendete den Ausdruck: I speak of the improvement
and emancipation of the whole sex, ohne daß WEISSENBORN ihn in seiner Überset-
zung benutzte. Er umschrieb den intendierten Prozeß vorzüglich mit Veredlung,
Fortschritte, Vervollkommnung, mit Revolittion der Sitten und ähnlichen Ausdrücken,
wobei der temporale Aspekt in ilie Zukunft weist, in der mehr Gleichheit in die bür-
gerliche Gesellschaft eingeführt werde - bis die Verschiedenheit des Ranges abge-
schafft und damit die Frau aus der Rolle eines Sklaven entlassen sei, in die sie bisher
durch die bürgerlichen Verhältnisse gedrängt war138. Mit der gemeinsamen Erzie-
hung von Knaben und Mädchen sollte in Zukunft die Umerziehung der ganzen Ge-
sellschaft in die Wege geleitet werden. So wurde die Befreiung der Frauen aus der
hausständischen Ordnung zum Indikator des Fortschritts schlechthin.
1808 prägte dann FOURIER die Formel, ilie später von MARX gern zitiert wurde:
Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Eman-
zipation139. Fourier verwendete den Rechtsausdruck 'Emanzipation', um entlang
dem natürlichen Reifuilgsvorgang das geschlechtliche Verhalten zivilisatorisch zu
uurrnieren. Er unterschied die keuschen jouvenelles, die es bis zum 18. Lebensjahr
bleiben müßten, von den emanc'ipee&, die sir,h d:mn je nach amouröser Neigung in
drei KorporaLiurnm gliutluru tmlltun: der Gattinnen, der Halbdamen untl tler Galan-
ten, damit Geschlechtsverhalten und Moral auf naturgemäße WeiRe r.nr ner..kung
kämen und somit jede Heuchelei erübrigten. Je freier die Frau selber iiher ihre
Möglichkeiten befinde, desto fortgeschrittener die Gesellschaftsordnung14o. --
Dieseru DikLwn entsprach in gewisser Weise das Leben in den romantischen Salons,
das die Normen der standesbürgerlichen Ehe erschütterte, als sich etwa Christen
und Juden beiderlei Geschlechts gesellig zm1ammenfanden.
Die Diskussion um eine neu zu definierende Rolle der Frau verlief in Deutschland
zunär,hRt in literarischen Bahnen und literarischen Zirkeln. Goethes „Wahlver-
wandtschaften", Friedrich Schlegels „Lucinde" und deren Verteidigung durch
Schleiermar,her stellten das Herkommen in Frage. Darauf baute eine Kritik, die in
den dreißiger Jahren unter dem Einfluß des St. Simonismus und mit materialisti-
schem Vorzeichen vom „Jungen Deutschland" propagiert wurde.
Es war nun eine Aporie in der ganzen Diskussiull enthalten, weil der natürliche Un-
terschied der Geschlechter einerseits die Voraussetzung jeder Emanzipationsforde-
rung blieb, andererseits Emanz_ipation durch die Wiedereinsetzung des Natürli-
chen141 begründet wurde. Was unter 'Natur' verstanden wurde, hing letztlich von
der Einstellung zur Ehe, Familie, Gesellschaft und Staat ab, so daß hinter allen
Positionen verschiedene politisch-anthropologische Entwürfe standen, die das
Schlagwort in den Streit der Parteien rückten. So sagte z. B. der BROCKHAUS 1844:

137 lIIPPEL, Verbesserung, 191. 209.


138 WoLLSTONECRAFT, Vindication, 261 u. WEISSENBORN/SALZMANN, Rettung, 379. 123;
Synonyma: ebd., 60. 104. 112. 137. 157. 384. 389 ff.
139 KARL MARx, Die heilige Familie, MEW Bd. 2 (1957), 208.

°
14 CHARLES FoURIER, Theorie des q uaLre. mouvements et des destinees generales, Oeuvres

compl., ed. S. Debout Oleszkiewicz, t. 1 (Paris 1966), 134.


1 4 1 KARL GuTZKOW, Rückblicke auf mein Lebfln (Rerlin 1875), 169.

186
III. 3. Frauenemanzipation und Emanzipation de.8 Fleisches Emanzipation

Emancipation der Frauen nennt man die Befreiung des weiblichen Geschlechts von den
Schranken, mit welchen es N aturverliältnisse und gesellschaftliche Einrichtungen um-
geben142. Daraus folgerte die katholische Realenzyklopädie 1847: Schon diese Defi-
nition aber zeigt 11on vorneherein, daß die solches Heischenden sich auf einer falschen
Fährte befinden, weil sie nicht nur die sozialen Verhältnisse, soridern die Natur selbst
umgehen wollen 143 . Vielleicht auch, um diesen Zirkel zu durchbrechen, wurde neben
der Emanzipation der Frauen die des Fleisches gefordert, wobei der nicht auf ein
einziges Geschlecht bezogene Ausdruck die Gleichberechtigung der Geschlechter
artikulieren konnte. . ·
Auch hier war, nach der Beobachtung von Rosenkranz 1837, HEINE der erste, wel-
cher das Evangelium von der Emanzipation des Fleisches aussprach144 • Die Frei-
setzung der Sinnlicl1keit 'i;ullLe ein Hebel dazu sein, das Ziel - in antiidcalistischer
Wendung - „die Rehabilitation der Materie": Wir müssen unseren Weibern neue
Hemden und neue Gedanken anziehen, 11,nd alle unsere Gefühle müssen wir durchräuchern
wie nach einer überstandenen Pest. Der nächste Zweck aller unserer neuen Institutionen
ist . . . die Rehabilitation der Materie, ... ihre V ersöhm"ng mit dem Geiste 145 •
In Frankreich war die St. Simonistische Sekte über der Forderung Enfantins zer-
brochen, der die Frau so weit zu emanzipieren suchte, daß das soziale Iridividuum,
das bis auf den heutigen Tag der Mann allein gewesen, künftighin der Mann und die
Frau werde. In heiliger Gemeinschaft sollLeu Hie eine höhere Einheit finden, aber
niemarid wollte die Emanzipation, die so freigiebig a1tsgeboten ward, wie LORENZ VON
STEIN trocken bemerkte146 •
RADOWITZ erkannte nüchtern, in katholischer Gewißheit der Inkarnation Gottes,
daß die Rehabilitation des Fleisches nicht notwendig das Sittengesetz auflfüm. D1:e
S. Simonisten sind keine Christen, aber sie fassen das Wesen des Christentums tiefer
auf ... als die meisten unserer Zeitgenossen 141 . Damit traf er besser die Intentionen
der Poeten des Jungen Deutschland, der Laube, Mundt oder Gutzkow, als die
moralpolizeiliche Zensur. So nannte MuNDT 1835 in seiner „Madonna" die Trennung
von Fleisch und Qeist den unsühnbaren Selbstmord des menschlichen Bewußtseins .148 So
besprach ROSENKRANZ die Literatur unter der Alternative eines wahren und falschen
Re{]riOe.~: falsch sei die Emanzipation des Fleisches, wenn das Sinnliche selbst zum
Zweck des Geistes würde. In Wahrheit soll sich der Geist von der Natur emancipiren,
indem er sie als Werkzeug seiner OOenbarung ernst nimmt. Im Grunde 'ist daher das

142 BROCKHAUS 9. Aufl., Bd. 4 (1844), 686.


143 MA.Nz Bd. 3 (1847), 963 ff., Art. Emancipation des Fleisches.
144 ROSENKRANZ, Art. Emancipation <l.es Fleisches (s. Anm. 79), 1153 .. BROCKIIAUS,

CL Gegenwart hat keinen eigenen Artikel über die Emanzipation der Frau.
145 HEINRICH HEINE, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834),

SW Bd. 4 (o. J.), 221 f. Vgl. dazu LADENDORF (1906), 266 f., s. v. Rehabilitation der Mate-
rie.
146 BAZARD/ENFANTIN, Sendschreiben an den Präsidenten der Deputiertenkammer

v. 1. 10. 1830, zit. LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von
1789 bis auf unsere Tage, hg. v. Gottfried Salomon, Bd. 2 (1850; Ndr. München 1921), 502.
224 f. 226; vgl. 497 f.
147 RADOWITZ, Ausg. Sehr., B<l.. 3, 97.
148 THEODOR MUNDT, Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen (Leipzig 1835; Ndr.

Frankfurt 1973), 395.

187
Emanzipation m. 3. Frauenemanzipation und Emanzipation des Fleisches

ganze Leben des Geistes eine Reihe von Emancipationsakten; der Gei:st muß die N atür-
lichkeit fortwährend von sich abstreifen, weil er seinem Wesen nach nicht Natur ist, und
doch auf das Innigste mit ihr sich verflechten . ... Erzi'.ehung, Sitte, Religion, Kunst
und Wissenschaft sind in ihrem positiven Wirken zugleich negativ Emancipatio-
nen 149.
Die Debatte der dreißiger und vierziger Jahre hatte den Ausdruck stark diskredi-
diert. So blieb etwa von dem be!ltaunten Vorbild der Georges Sand und ihrer litera-
rischen Aufschlüsselung der Widersprüche von Geist und Sinnlichkeit letztlich nur
das männliche Gebaren übrig, das die Emanzipation als Imitation zu entlarven
schien. Wie die Sachen stehen, schreibt der „Grenzbote" 1847, ist die Emancipation
der Frauen ein wahres Schimpfwort geworden. Ein Wesen, das sich die Haare kurz
schneidet, das Zigarren raucht, Männerkleider anlegt ·und sonst nachlässig, geschmack-
los und verstört in ihrem Äußeren anzusehen ist - das nennt man eine 'emancipierte
Frau' 150 • Der MEYER neutralisierte 1846 den Sachverhalt: Das Wort ist modern, die
damit bezeichnete Sache aber so alt als der Gegensatz zwischen Fleisch und Geist 151 .
Die älter werdenden Vertreter des Jungen Deutschland distanzierten sich nicht
ungern von den Mißverständnissen, die ihre Schriften hervorgerufen zu haben
schienen. Vor allem verl1laßl.e11 iilier dtm ganzen Streit die Postulate nach politi-
schen Rr.chtcn der Frauen, wie sie etwa SrnBENPFEIFFER oder Ro111;mT Rr.nM
erhoben haLLen 1 ~ 2 •
Der Ruf rnuih li'n1,11en hP.frni1mg trP..nnte. die Lager. Demokraten und Sozio,lüiton folg
ten ihm mehr orler wenigP.r, wii.hrnnd die Liberalen im ganzen 19. Jahrhundert dort
eine Grenze zogen, wo sie Familie und Staat bedroht sahen: sie beriefen sich auf die
von der Natur vorgegebenen Untorsohiede: llfit den aus den Fingerspitzen des .suc·iu-
len Raisonnements gezogenen Ansichten der gegenwärtigen Zeit werden wir schwerlich
die zwischen beiden Geschlechtern von der Natur selbst gesetzten Marksteine umznstür-
zen im Stande sein. Aus der Freigabe der Sinnlichkeit folge die Gleichstellung des
Weibes und damit auch ihre Gleichberechtigung in pofüü:1chen Dingen: was mitein-
ander zusammenhänge und deshalb abzulehnen sei. Es sei eine Begriffsverwirrung,
das seine Natur verleugnende und entweibte Weib für die Norm des Weibes anzuse-
hen153. So betrachtet es auch ROSENKRANZ 1836 als eine ganz falsche Wendung,
wenn die Emanzipation die absolute Gleichheit der Weiber mit den Männern ver-
lange. Keine Einheit im Geist könne die physiologisch-psychologischen Unterschiede

149 RosENKRANZ, Art. Emancipation des Fleisches (s. Anm. 79), 1152.
160 Grenzbote 1847, zit. LADENDORF (1906), 66.
151 MEYER, große Ausg., Bd. 8 (1846), 495, Art. Emancipation des Fleisches.
162 PHIL. JAKOB SIEBENPFEIFFER 1832 auf dem Hambacher Fest: Es wird kommen der
Tag ... , wo das deutsche Weib, nicht mehr die dienstpflichtige Magd des herrschenden 1Wannes,
sondern die freie Genossin des freien Bürgers, unseren Söhnen und Töchtern die Freiheit ein-
fiößt; zit. JOHANNES PROELSS, Das junge Deutschland (Stuttgart 1892), 19. Zu Blum vgl.
die von ihm herausgegebenen „Sächsischen Vaterlandsblätter" 1844: „Haben die Frauen
ein Recht zur Theilnahme an den Interessen des Staates ?". LOUISE ÜTTO [-PETERS] antwor-
tete, sie sei nicht allein ein Recht, sie i8t eine Pfiicht der Frauen; I;>as Recht der Fmueu auf
Erwel'b (Hamburg 1866), 76.
153 BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. 2 (1839), 167 ff., bes. 182. 191, Art. Frauenleben und

Emancipation der Frauen, mit stärkeren Vorbehalten als Rosenkranz sie formuliert.

188
III. 3. Frauenemanzipation und Emanzipation des Fleisches Emanzipation

aufheben. Vielmehr sei die vollendete Emancipation des Weibes mit der Ehe gegeben 15 ~.
Ähnlich argumentierten WELCKER und BRATER in ihren Lexika: die unmittelbare
aktive entscheidende Teilnahme an dem gemeinschaftlichen politischen Rechtskriege
sei den Frauen so versagt wie der W affenkrieg 155 • Die wahre Erfüllung fraulicher
Funktionen erfordere die staatsbürgerliche Unselbständigkeit der Fraiten 156 • Oder
wie SYBEL 1870 feststellte, als die Emancipation der Frauen . . . wieder der Gegen-
stand lebhafter Verhandlungen geworden war: die Frauen sollten zwar durch eine ent-
sprechende Erziehung freien Zugang zur Wirtschaft, Industrie, Literatur und Kunst
finden, nicht aber dürften sie, was aus dem allgemeinen Stimmrecht logisch gefol-
gert werde, das aktive Wahlrecht erhalten oder gar in öffentliche Ämter einrücken.
Hier habe die Frau zurückzutreten, so wie im Eherecht der Mann das letzte Wort
behalten miiRRfl 157 • Sybel griff bereits in die zweite Phase der Emanzipationsdebatte
ein, als sich die Frauen aktiv zu organisieren begannen. Seitdem verläuft, die Be-
griffsgeschichte je nach Kla.ssflnlage dichotomisch.
Nach der literarischen Phase, auch weiblicher Publizistik und Vereinsbildung in der
18er Revolution, trat die „Fra1111nh11w11gnng" 18fifi in ilifl Phase der Selbstorganisa-
tion. Lou1sE ÜTTO-PETERS gründete den „Allgemeinen deutschen Frauenverein",
der die Aufgabe hatte, für die erhöhte B?:ldung des weiblichen Geschlechts und die Befrei-
ung der we,ibl-ichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit
vereinten Kräften zu wirken 1 b 8 • Damü Legann jener Emanzipationskampf, uu1· im
Vorfeld politischer Rec.hte vorerst. ilari1m eine, Rintritt in das Berufsleben zu finden.
Es war eine Bewegung der biirg11rlir.h1m Mittelklassen, deren Frauen dort immer
weniger Unterhalt fanden, wo sich die Großfamilien auflösten. Deshalb würde 1866
- wenn auch von Männern der „Lette-Verein" zur Vermittlung wflihliclher
Arbeit gegründet159, um den Frauen bisher verschlossene oder noch nicht entdeckte
Berufswege zu öffnen. Weitere Vereine wurden gestiftet, die sich schließlich 1894
im „Bund deut_scher Frauenvereine" zusammenschlossen. Freilich blieben die Er-
folge, die Hörigkeit der Frau 160 aufzuheben, gemessen an allen europäischen Nach-

15 4 RosENKRANZ, F.mnnr.ipation des Weibes (s. Anm. 90), 115.


155 CARL THEODOR WELCKER, Art. Geschlechtsverhältnisse, RoTTECK/WELCKER Bd. 6
(1838), 635.
1 56KARL BRATER, Art. Frauen, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 3 (1858), 727.
157 HEINRICH v. SYBEL, Über die Emancipation der Frauen (1870), Vorträge u. Aufs.,
3. Aufl. (Berlin 1885), 59 u. ff.
158 Statut abgerlnrnkt bei LoUISE ÜTTO, Recht der Frauen, 87. Dazu AUGUSTE SCHMIDT/

HUGO RöscH,. Louise Otto-Peters, die Dichterin und Vorkämpferin für Frauenrecht (Leip-
zig 1898), 75. 84 f.
159 Statuten des Berliner Vereins zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Ge-

schlechts (Berlin 1866), 2 Bll. Vgl. Die Frauenfrage in Deutschland. Strömungen und Ge-
genströmungen 1790-1930, hg. v. HANS SVEISTRUP u. AGNES v. ZAHN-HARNACK (Burg
1934), 119.
160 So der deutsche Titel der Schrift von JOHN STUART MILL, The Subjection of Women
(1869), dt. von JENNY HmscH, 3. Aufl. (Berlin 1891). Zum Ganzen siehe LILY BRAU~, Die
Fra.uenfmge. Ihre geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite (Leipzig 1901) mit
kritischer Spitze gegen die bürgerliche Bewegung, deren Bund 1894 sozialistische Organi-

189
Emanzipation m. 3. Frauenemanzipation und Emanzipation des Fleisches
barländern und den USA, in Deutschland dürftig. Erst 1893 wurde die Zulassung
zum Abitur, erst um 1900 zu den Universitätr,n r,rkii.mpft Nicht zuletzt weil sioh
Louise Otto-Peters auf „Humanität undSozialismus" berief, mochten die Vorbehalte
gegen ihre bürgerlichen EmanzipaLionswünsche von rechts und links steigen. HEIN-
RICHS, bezeichnenderweise ein männlicher Propagator ihrer Schriften, mußte be-
schwichtigen: Wir stehen noch auf festem Boden - die Tugenden der Germanen, die
Tiefe des deutschen Gemüts, deutsche Treue, deutsche Sitte und Biederkeit sind noch
keine Mythen geworden. - fäe einzige Emancipation, die wir für un1wrc Frauen an-
streben, ist die Emancipation ihrer Arbeit161 •
Mit der Zielsetzung der Emanzipation auf die ökonomische Selbständigkeit im
Rahmen des liberalen Arbeitsmarktes wurde der Begriff eingeschränkt, aber auch
präzisiert. Der liberale Wunsch nach bürgerlicher Selbständigkeit leitete auch die
Frauen, denn wer nicht frei für sich erwerben darf, ist Sklave 162 • Dabei. wurde dir,
Forderung auf das Vorbild der sogenanntfln unteren Stände bezogen, wo die Frau-
enarbeit seit der Frühindustrialisierung zum Elend des Alltags gehörte: dort sei es
für Mann und Frau üblich, daß auch in der Ehe beide tun müssen, was sie unverheira-
tet getan: Fortarbeiten für den Erwerb. Ein gleiches auch ·in den höheren Ständen ein-
zuführen, ist unser Streben 163 •
Damit wurrlfl rliA Rinnfälligkeit von 'Emanzipation' boino.ho gegcnH.iufig: war für difl
wuililiuhcn Mittel.schichten Ilefreiung zw· Arbeit gemeint, so für die Unterschichten
eher Entlastung von unzumutha.mr ArhP.it. Den Weg dorthin sah die SPD in der
Sozialisierung der Produktionsmitfol. WiP. P.A daa Gothaer Parteiprogramm 1875
formuliflrte: Die Befreiung der Arbeit erfordert die V crwandlung der Arbeitsmittel ·in
Gemfli'r'l.(]11.t der Gesellschaft1 64 • Über die sozio.listisohe Fo.ssung des Ilegriffs einer
'Emanzipation der Arbeit' verwandelte sich für die SPD die Frauenfrage in eine
Klassenfrage. ln diesem Sinne setzte CLARA ZETKIN eine Resolution 1896 auf dem
Gothaer Parteitag durch: weil die Oberschicht nur die letzte Stufe der Emanzipation
des Privatbesitzes, nämlich für ihre Frauen, fordere, und weil die kle·inere und mittlere
Bourgeoisie nur den wirtschaftlichen Interessenkampf zwischen Männern und Frauen
schüre, um auf diese Weise Gleichheit zu erzielen, könne deren Programm für das
Proletariat nicht verbindlich sein. Der Emanzipationskampf der Proleta.rie:rinnen ist
... nicht ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse, sondern ein Kampf im
Verein mit den Männern ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse ... lJie .Emanzipa-
tion der proletarischen Frau kann deshalb nicht das Werk sein der Frauen aller Klas-

sationen von vornherein au!lschloß (471 ff. 119 f.). Vgl. dessen Selbstdarstellung und Be-
kenntnis zu unpolitischer Aktivität und für größere sociale Frauenau/gaben, vor allem für den
Gedanken der wirtschaftlichen, socialen und sittlichen Befreiung unseres Geschlechts, bei MARIA
STRITT/IKA FREUDENBERG, Der Bund deutscher Frauenvereine (Frankfurt 1900), 8 ff.
161 LomsE ÜTTO, Recht der Frauen, 79. V.
162 Ebd„ 103, eine gegen die „St1111tshilfc" der Lassalleaner gerichtete Formel.
163 Ebd:, 35.
164 Gothaer Programm, in: Deutsche Parteiprogramme, ·hg. v. Wrr.JIELM MoMMAEN (Mün-

chen 1960), 313.

190
m. 4. Die Emanzipation der Arbeit und der Arbeiter Emanzipation

sen, sonilern ist allein das Werk des gesamten Proletariats ohne Unterschied des Ge-
schlechts165.
Der Begriff einer Emanzipation der Frau wurde damit vollends seines naturhaften
Kontextes entblößt und eingeordnet in den klassenbezogenen Kampfbegriff166 •
Dieser war ökonomisch und politisch zugleich. Nach anfänglichen inneren Debatten
forderte die SPD am konsequentesten auch die politische Gleichberechtigung und
Gleichstellung der Frauen. 1890 trat der Hallische Parteitag einstimmig für das
Wahlrecht der Frauen ein, und 1895 wurde es erstmals im Reichstag beantragt1'67 •
Damit wurde gefordert, was 1919 politisch eingelöst wurde.

4. Die Emanzipation der Arbeit und der Arbeiter

Die sich verschlechternde Lage der handwerkenden und unterständischen Schichten


führte seit dem Ende des 18 .•Jahrhunderts dazu, ihre ökonomische Abhängigkeit in
der aufklärerischen Terminologie von Sklaverei lind Knechtschaft zu umschreiben.
So appellierte Gonwrn 1793 an die Voraussicht der Herrschenden und Unterneh-
mer. Die Arbeiter würden sich in jedem Falle aus der Unentschlossenheit ihrer
Sklaverei und aus den Fesseln der Verzweiflung befreien und sich zu Unabhängig-
keit und besserem Leben emporscha:ffen1 ff 8 • Für dfo St. Simoniotcn w11r la elassG
miti~'i'i! tll!.~ trwn111ill1J'11irH, dunH l' urdru 11w,l<Yriul, olu,8813 q•IJli n' est q·u~ le prolongement dt
c.elles des escl.tJmr.~ rl. rl.P..~ .~P.rf.~ ... 169, nnn RT.A NQTTT 11itnierte flie Arbeiter noch schlech-
ter als die Negersklaven: die Reichen lassen die Armen arbeiten - beinahe so, wie die
Pflanzer ihre Negersklaven arbeiten lassen, nur mit ein wenig größerer Gleichgültigkeit
für das menschliche Leben. Denn der Arbeiter ist kein zu schonendes Kapital wie der
Sklave; sein Tod ist kein Verlust, es gibt immer genügenden Ersatz 17o. Es lag nahe,
die Befreiung aus sozialer und ökonomischer 'Sklaverei' oder 'Knechtschaft' unter

165 Ebd., 120 ff. und zit. LJ:Ly BRAUN, Art. Die Frau in der Socialdemokratie, Illustriertes

Konversations-Lexikon der Frau, Bd. 2 (Berlin 1900), 480 f. Vgl. CLARA ZETKIN, Nur mit
der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen! (1896), Ausg. Reden u. Sehr., Bd. 1
(Berlin 1957), 99 ff.
166 AUGUST BEBEL, Die Frau und der Sozialismus (1879; 50. Aufl. Stuttgart 1919), 482:

Die volle Emanzipation der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann ist eines der Ziele
unserer Kulturentwicklung . . . Das „goldene Zeitalter" . . . wird endlich kommen. Die Klas-
senherrschaft hat für immer ihr Ende erreicht, aber mit ihr auch die Herrschaft des Mannes
iiher die Frau. Vgl. RosA LUXEMBURG, Eine taktische Frage (1902), GW Bd. 1/2 (Berlin
1970), 181 ff.; Frauenwahlrecht und Klassenkampf (1912), GW Bd. 3 (1973), 159 IT.
167 Ln.Y BRAUN, Art. Frau in der Socialdemokratie, 479. 481. Ferner-die Art. Frauenfrage

u. Frauenstimmrecht im selben.Lexikon, Bd.1 (1900), 381 ff. 408 ff.


168 Wn.LIA111 GoDWIN, Inquiry Conceming Political Justice (London 1793), 96, ohne Ver-

wendung des Terminus 'emancipation', den seine spätere Frau Mary Wollstonecraft im
Jahr zuvor schon gebraucht hatte (s. o. S. 185).
169 Doctrine de Saint-Simon. Exposition, ed. C. BouGL:E/ELIE HAL:EVY (Paris 1924), 218,

4. Sitzung v. 28. 1. 1829; vgl. ebd., 216 ff. u. 238 f. die 6. Sitzung v. 25. 2. 1829 zur Eman-
zipation der Plebejer und über die Rolle des Christentums im römischen Reich po11,r q1JR.
l'emancipation devtnt complete (217).
170 AUGUSTE BLANQUI, Instruktionen für den Aufstand. Aufsätze, Reden, Aufrufe, hg. v.

Frank Deppe (Frankfurt, Wien 1968), 64 ff.

191
Emanzipation m. 4. Die Emanzipation der Arheit und der Arbeiter
Dehnung des römischen Rechtssinnes auch mit dem Begriff 'Emanzipation' zu er-
fassen. Allerdings scheint der Ausdruck im Deutschen etwas später als in den bisher
umrissenen Gebieten auf die Arbeiterschaft angewendet worden zu sein. In chm
deutschen Lexika taucht der entsprechende Sachverhalt nicht unter dem Stich-
wort 'Emanzipation' auf171 . Offenbar blieb diese Kombination des Ausdrucks
schichtenspezifisch eingeschränkt17 2.
1847 schrieb KARL BIEDERMANN 173, die Leibeigenschaft und Fronpflichtigkeit sei
weit.gehend aufgehoben worden. Die politische und bürgorliohc Enianzipatfon habe
die unteren Klassen rechtlich, vor dem Gesetze den anderen Klassen gleichgestellt. Aber
ein Gefühl der Bitterkeit und des Unbehagens habe sich der unteren Klassen bemäch-
tigt, welches sie ihre politische und rechtliche Emanzipation nur als ein halbes und
zweideutiges Geschenk betrachten läßt, weil dieselbe nicht von einer sozialen gefolgt ist.
Während hier die Befreiung immer noch von oben erfolgen sollte, vorwieR HA R.KOR.T ·
auf das zunehmende Selbstbewußtsein der „untern Klassen". Die Zeit sei vorüber,
wo die Massen in ruhiger Unwissenheit kaum ein anderes Gefühl nährten als eine U n-
terwürfirfkP.i:t (JP.(JMI, HiihP.rstehende. Das Volk sei seiner Kraft bowußt geworden, tau-
sendjährige Privilegien der höheren Klatitlen brächen zusammen: Es ßndet in diesem
()ebiete des <ieme1:ruin iiollständige Emancipation statt. Deshalb appcllicrt,e H a.rkort a.n
die Gebildeten und verlangte im Bunde mit dem Zeitgeist die Emunv·ipul·iun des
Ge·isles, du'ffl;il künftig jeder Bilrger mit jenem Weisen sagen darf: loh bin ein Mensch
11,nd nü:ht.~ MP.n„~r.h.Ur:.hes 1'.st mfr fremd/ 174
Im lih1m1.ldemokr11.t.iRehen Lager tauchte gerne die Forderung uuf, durch allgemeine
Teilhabe an der Bildung die Klassengegensätze zu entschärfen. In diesen Rahmen
gehören auch die enzyklopädischen Pläne, etwa des MEYER, der 1857 seine neue
Ausgabe folgendermaßen begründete: Intellektuelle Emanzipation ist der Ruf des
Jahrhunderts, ist das Ziel, nach dem heutzu({J,ge Millionen .~trehen. Mnm. will nü:.ht lä.n-
ger das Monopol des Wissens duUen, das so lange auf dem Volke gelastet 175 • Dieser
Tradition stand auch SCHULZE-DELITZSCH nahe, der von der weltweiten Arheits-
teilung und vor allem von der Herrschaft des Geistes über die Materie erwartete, daß
sie allein die wahre Emancipation des Arbeiters, die Erlösung von den rein mechani-
schen, rohsten und aufreibendsten A.rheits11errir,htungen herbeiführen würde 176 .
Seit den dreißiger Jahren wurde das Wort 'Emanzipation' aber auch im Sprachge-

171 Erster Verweis vom Stichwort 'Emanzipation' auf die Arbeiter bei ScHEIDLER, Art.

Emancipation (s; Anm. 91), 7.


172 Vgl. URSULA KRATTINGER, Mündigkeit. Ein Fragenkomplex in der schweizerischen

Diskussion im 11:1. Jahrhundert, vor allem zur Zeit der Armennot von 1840 bis 1860 (Bern
1972). Die Chartistenbewegung in England scheint eher unter den Schlagwörtern 'educa-
tion' und 'improvement' organisiert worden zu sein als unter 'emancipation'; vgl. WILLIAM
LovET'.1'/JoHN CoLLINS, Chartism. A New Organization of the People, 2nd ed. (London
1841), 30.
173. KARL BIEDERMANN, Vorlesungen über Socialismus und sociale Fragen (1847), zit.

ÜARL JANTKE/DIETRICH lIILGER, Die Eigentumslosen (Freihnrg, München 1965), 449.


174 FRIEDRICH HARKORT, Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Eman-

oipation der untern Klassen (Elberfeld 1844), llO. 14.


m MEYER Bd. 1 (1857), 111.
176 HERMANN SCHULZE-DELITZSCH, Capitel zu einem rleut.schen Arbeiterkatechi11mus

(Leipzig 1863), 19 f.

192
m. 4. Die Emanzipation der Arbeit und der Arbeiter Emanzipation

brauch der betroffenen Unterschichten selber üblich. Der Ausdruck kursierte in den
internationalen Zirkeln, etwa der „Fraternal Democrats", die wie im Arbeiterbil-
dungsverein zu London davon sprachen, daß die arbeitenden Millionen ... beharrlich
an ihrer eigenen Emanzipation arbeiten 177 • Bei den emigrierten Handwerkern und
Arbeitern der dreißiger Jahre taucht der Ausdruck auf, wird aber gerne durch deut-
sche Wendungen ersetzt: mit Befreiung von der Knechtschaft oder mit Befreiung und
Wiedergeburt („Bund der Geächteten") oder mit Entsklavung der Menschheit bzw.
mit deren Erlösung („Bund der Gerechten"), womit sich die in den Emigranten-
bünden gehegte Heilserwartung artikulierte 178 • Marx und Engels haben diese reli-
giös vorbesetzten Ausdrücke im „Kommunistischen Manifest" zugunsten konkreter
politisch-revolutionärer Zielansprache fallengelassen. Aber 'Emanzipation' blieb
auch für sie in der 48er Revolution ein zentrales Schlagwort. Es wurde allseits ver-
wendet. So konnte es in einer Petition an die Frankfurter Nationalversammlung
1848 heißen: D-ie Ze;itere'iyn'i1J1Je Ü'ußerten üvre Wirkung auf den Stand der Arbeite1·;
dieser so lanr;e unter dem auf ihm lastenden Druck seufzende Stand begann zu fühlen
... , daß a·uch er Rechte haben müsse . . . Vom Westen her wehte der begeisterte Odem
der Emanzipation, der Mündigkeit dieses Standes 1 79 •
MARX und ENGELS griffen gerne auf den Ausdruck zurück, um dessen revolutionäres
und langfristige Entwicklungen legitimierendes Potential propagandistisch zu
nutzen. So hieß es in der Ncujahr~botschaft der „Ncuun Rhuiu.i1:1uheu ZeiLuug", uuß
die Emanzipation der Arbeiterklasse überhaupt das Losungswort der europäischen Be-
freiung sei, und so lautete das letzte Wort der verbotenen Zeitung: Emanzipation
der arbeitenden Klassen 180 • Auch 1851 faßte Marx in seiner 8chrift über die Klassen-
kämpfe in Frankreich das Geheimnis der Revol1ltion des neu,nzehnten .Tahrhunderts in
dem Ausdruck zusammen: die Emanzipation des Proletariats. Dabei zeigte sich, wie
bewußt der Ausdruck als geschichtlich-politischer Zielbegriff verwendet wurde: was
das Proletariat zunächst eroberte, war das Terrain für den Kampf um seine revolu-
tionäre Emanzipation, keineswegs diese Emanzipation selbst. Oder an anderer Stelle :
So mannigfaltig indes der Sozialismus der verschiedenen großen Glieder der Partei der
Anarchie war, ... in einem Punkte kommt er überein: sich als Mittel der Emanzipation
des Proletariats und die Emanzipation desselben als seinen Zweck zu verkünden 181 •
Ähnlich diente 'Emanzipation' als Leitbegriff in der Präambel zu den Statuten der
„InLeruaLiunalen ArbeiLer-Assoziation" von 1864: In Erwägung, daß die Emanzi-
pation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß; daß der
Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte und
Monopole ist, sondern fiir gleiche Rechte und Pflichten und für die Vernichtung aller

177 Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien, Bd. 1 (Berlin 1970), 657
(1848), 417/421 (the emancipation of the millions 1846 mit der Befreiung der Millionen über-
setzt), ferner 364. 543. 632 ff. Zum Arbeiterbildungsverein: ebd., 179. 643 (STEPHAN BORN)
u. ö.
178 Der Bund der Kommunisten, 975. 982 (Statuten des Bundes der Geächteten, 1834/35).

93. 153 (Statuten des Bundes der Gerechten 1838/43).


179 Petition an die Nationalversammlung v. 22. 7. 1848, zit. Documente des Socialismus,

hg. v. EDUARD BERNSTEIN, Bd. 1 (Berlin 1902), 412.


180 Bund der Kommunisten, 894. 799. 948.
lBl MARx, Die Klassenkämpfe in .Frankreich, .M.l!:W ßd. 7 (llltiO), ~l. 18. 88.

13-90386/1 193
Emanzipation m. ·4. Emanzipation der Arbeit und der Arbeiter
Klassenlterrschaft; daß die ökonomisclte Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneig-
ner der Arbeitsmittel, d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen
zu Grunde liegt - allem gesellschaftliclten Elend, aller geistigen Verkümmerung und
politischen Abhängigkeit; daß die ökonomisclte Em_anzipation der Arbeiterklasse dalter
der große Endzweck ist, dem jede politische Bewegung als Mittel unterzuordnen ist; daß
alle auf dieses Ziel gerichteten Versuche bisher gescheitert sind aus Mangel an Eini-
gung . . . und an der Abwesenlteit eines brüderlichen Bundes unter d~n Arbeiterklassen
der verschiedenen Länder; daß die Emanzipation der Arbeiterklasse weder eine lokale,
noch eine nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welclte alle Länder umfaßt, in
denen die moderne Gesellschaft besteht, usw. schloß sich die erste Internationale zu-
sammen182.
Während Marx in seiner Schrift zur Judenfrage die Etappenfolge noch von der
politischen zur allgemein menschlichen Emanzipation führen sah, lautete dann die
..Prognose: durch die politische Befreiung der Arbeiterklasse zur ökonomischen Ulld
sozialen Emanzipation. In der Pariser Kommune 1871 sah Marx das erste Modell,
das in diese Richtung zielte: sie war die endlich entdeckte politisclte Form, unter der
die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollzielten konnte. Dabei hat Marx seinen
Erwartungshorizont in einen Satz zusammengefaßt: Einmal die Arbait amanzipicrt,
so wird jeder Mensch einArbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigen-
schaft zu sein18a,
Marx hat durch diese seine Wortverwendung den ehemaligen Sinn einer rechtlichen
Gleichstell~g temporal so weit gedehnt, daß die alte Metapher kaum noch durch-
schwingt. Denn es ging nicht mehr darum, gleiche Rechte zu erlangen, Rondern neue
Rechte zu stiften. Es ging nichL mehr darum, 1:1ich zum Eigentümer oder liherii.len
Bürger zu emanzipieren, sondern die gesamte ökonomisch-politische Ordnung um-
zuwälzen. Damit werden Bedeutungsräume eröffnet, die ebenso durch 'Revolu-
tion', 'Diktatur des Proletariats' und analoge Ausdrücke erfaßt werden konnten.
Vielleicht hat Marx auch deshalb darauf verzichtet, den l\.usdruck 'Emanzipation'
in seinem theoretischen Werk zentral zu verwenden: er blieb in erster Linie ein
politischer, propagandistisch wirksamer Leitbegriff geschichtsphilosophischer Her-
kunft.
LASSALLE hatte (als Jurist) versucht, den geschichtsphilosophisch aufgeladenen und
gedehnten Ausdruck strenger an seine Rechtsbedeutung zurückzubinden, ohne den
Begriff seiner Zielfunktion zu berauben. Er stellte ein kulturhistorisches Gesetz auf,

182 KARL MARx, Provisorisohc Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation (engl.


1864), MEW Bd. 16 (1962), 14. Das Programm fast wörtlich vom 5. deutschen Arbeiter-
vereinstag 1868 in Nürnberg beim Eintritt in die 1. Internationale übernommen, auffälli-
gerweise mit einer erläuternden Übersetzung versehen: 1. Die Emanzipation (Befreiung)
der arbeitenden Klassen muß durch die arbeitenden Klassen selbst erobert werden usw. Die
Verbindung mit dem Verb 'erobern' bezeugt eine'gewissc Erstarrung des Schlagworts. Alle
folgenden Pai:teiprogramme ersetzen den Terminus 'Emanzipation' mit 'Befreiung' bzw.
'Freiheit' (vgl. Eiaunuuh 1860, Gotha 1875, ßrfurt 1891, Heidelberg 1925); MOMMSEN,
Parteiprogramme (s. Anm~ 164), 313. 311 f. 350. 464. Der alte Engels hat gelegentlioh aus
stilistischen Gründen den Ausdruck gewechselt, 'Rm1m:r.ipation' hatte im Vokabular offen-
sichtlich keinen dogmatischen Stellenwert gewonnen.
183 KARL MARX, Dei· Bürgerkrieg in Frankreich, MEW Bd. 17 (1962), 342.

194
m. 5. Die Emanzipation der Sklaven Emanzipatjon

nach dem sich der Eigentumsumfang, der Besitz an Produktionsmitteln und die
Verfügung über Überschüsse mit fortschreitender Geschichte vermindern würden.
Dem korrespondiere eine zunehmende Erfüllung der - an sich unbegrenzten -
Freiheit. Das Wart: ,,Emancipiren'', welches man jetzt ineinem verwischten und den
Sprechenden undeutlichen Sinne auf jedes Freiheitsbestreben anzuwenden p-fl,egt, ist
gerade dann ganz zutreffend, wenn man es in seinem ursprünglichen strengen Sinne
auffaßt: e m.ancipio, m.tßer dem Eigentum erklären184• Indes vermochte der historische
Rekurs die politische Schlagkraft des Ausdrucks nicht zu steigern.
Das Wort 'Emanzipation' blieb in der historisch-politischen Sprache allgemein
verwendbar. So konnte BISMARCK 1865 die preußische Krone loben, die Emanzipa-
tion der Leibeigenen herbeigeführt 185 zu haben, und so konnte sein politischer Gegner
R. MEYER ein Buch über den „Emancipationskampf des vierten Standes" (1882)
schreiben. Meyer wiederholte den alten Appell an die Besitzenden, indem er auf die
zilllehnienJe B-ildung und Aufklärung unter den Arbeitern verwies, denen von oben
noch keinerlei Rechnung getragen worden sei. Die Emancipation des vierten Standes
von der Herrschaft des Kapitals hielt er als Erzkonservativer für unvermeidlich und
erstrebenswert 18 6. So konnte der im sozialistischen Sinne stark besetzte Terminus
parteipolitisch auch von rechts, und zwar positiv, wenn auch in pulifüich vurheu-
g1mil11r AhRfoht verwendet werden.

5. Die Emanzipation der Sklaven

Obwohl es üblich wurde, gegen Ende des 18. Jahrhunderts die zu befreienden Grup-
pen 1 oder Institutionen als versklavt oder geknechtet zu bezeichnen, wurde der
Ausdruck 'Emanzipation' auf die Sklaven selber, speziell auf die Negersklaven in
Übersee, relativ spät und relativ selten bezogen. Das mag in erster Linie daran
liegen, daß der Sinn einer Selbstbefreiung das Ausdrucksfeld von 'Emanzipation'
zunehmend besetzt hatte, so daß eine Befreiung durch andere Instanzen, durch den
Staat oder das Parlament, nicht ohne Gedankensprung mit demselben Wort be-
zeichnet werden konnte.
Zwar definierte schon JOHNSON Mitte des 18. Jahrhunderts die Emanzipation als
deliverance from slavery 187 unter Ausweitung des römischen Wortsinnes, allein für
den gemeinten Tatbestand dominierten in den westlichen Sprachen die Ausdrücke
abolishment, abolition oder affranchissement. Letztere Termini prägten während der
Französischen Revolution die Debatten über die westindische Sklaverei, und beide
Ausdrücke gingen auch in die Gesetzestexte ein188 • ·

Das gleiche gilt für die angelsächsischen Länder. 'Emanzipation der Sklaven' blieb,

184 FERDINAND LAssALLE, Das System der erworbenen Rechte, Bd. 1 (Leipzig 1861),

264 f., Anm.' .


185 BISMARCK, Rede v. 15. 2. 1865, FA Bd. 10 (1928), 232.

1 86 RUDOLPH MEYER, Der Emancipationskampf des vierten Standes, 2. Aufl., Bd. 1 (Berlin

1882), 9. 12 sowie 460 ff. der Streit mit dem Säkukirmcnoohcn und nnpoloongloiohen Bis-
marck.
187 JOHNSON 7th ed., vol. 1, s. v. '
188 Vgl. den durchgängigen Negativbefund in der Quellensammlung zeitgenössischer Flug-

schriften: La Revolution franc;aise et l'abolition de l'esclavage, 12 vol. (Paris ·1968).

195
Emanzipation m. 5. Die Emanzipation der Sklaven
wenn überhaupt, alternierend mit anderen Bezeichnungen ein politischer Ausdruck,
in die Rechtssprache drang er nicht ein. So wurde in Philadelphia 1787 - vergeb-
lich - über die abolition of slavery diskutiert189, so lautete die berühmte englische
Gesetzgebung zur Beseitigung des Sklavenhandels von 1807 An Act fo-r the Abolition
of the Slave Tra<le. Der Sklavenhandel wurde abolisheil, prohibiteil and declared to be
unlawful, und das gleiche gilt für das Gesetz, das in den englischen Kolonien 1833
die Sklaverei selber abschaffte, indem es eine mehrjährige Übergangszeit einbrachte
for promoting the industry of the manumitteil slaves und zwanzig Millionen Pfund als
Entschädigungssumme ausschüttete 190 • Ebensowenig verwendete im amerikani-
schen Bürgerkrieg 1862 die berühmte „Preliminary Emancipation Proclamation"
von Lincoln im Gesetzestext den Ausdruck 'Emanzipation', die sinngemäß den
Überläufern aus den Südstaaten zugesprochen und schließlich, um· die Gegner zu
verunsichern, ] 863 allen deren Sklaven zuteil wurde. Eine weitere Absicht Lincolns
war, das Ausland vom Bürnlnis mit den Konföderierten abzuhalten, was ihm auch
gelang, wie Dankadressen aus England bezeugen, die ihn- in politischer Sprache -
zu der total emancipation beglückwünschten 191 •
So wenig wie in den westlichen Ländern hatte sich in Deutschland der Ausdruck
'Emanzipation' ft1r die Sklavenbefreiung generell durchgesetzt. J:i]11 ist auch auf-
fällig, daß in den deutRr.h1m T.Axiln:t, iliA Emanzipation der Sklaven nie unter diosom
Stichwort, sondern meist unter 'Sklaverei' oder 'Sklavenangelegenheit' verhandelt
wurde. Der BROCKHAUS der Gegcnwart192 versuchte, ilie Bedeutungen von Errw,ru,'i-
pation und Abolition zu trennen, in dem erstere sich auf die Aufhebung der Sklaverei
bezöge, deren AbRr.ha:ffung eine Frage des Staatsrechts sei, während 'Abolition'
sich auf die Vernichtung oAs Negerhandels bezöge - ein Problem des Völkerrechts.
Diese Gegenüberstellung ließ sich nicht durchhalten. Im deutschen Sprachraum
wurden andere Ausdrücke bevorzugt, die die aktive Rolle der regierenden weißen
Schichten betonen. So sprach FRIEDRICH IlAUMER 193, der wie List vorübergehend
eine Bodenbindung der zu befreienden Sklaven forderte, mehr von Aufhebung, Be-
freiung oder Freilassung als von 'Emanzipation', das auch in W AGENERS Lexikon
alternativ mit 'Freilassung' verwendet wurde.
Im ganzen nahmen sich die deutschen Lexikographen wohlwollend des Themas an,
lobten die Briten und suchten die Amerikaner zur Freigebung zu stimulieren, der

189 Speeches and Documenta in American History, ed. ROBERT BIRLEY, vol. 1 (London
1944), 106 ff.
190 The Statutes of the United Kingdom of Grcat Britain and lreland 47 (London 1807),

140 ff.; 73 (1833), 666 ff. Einmal wird im Kolumnentitel emancipated für manumitted im
Text eingesetzt (669).
19 1 BIRLEY, Speeches, vol. 2 (1944), 281 ff.; R. A. BILLINGTON u. a., The Making of Ameri-

can Democracy, llth ed., vol. 1 (New York, Toronto 1957), 365 ff.; The Lincoln Reader,
ed. P. M. ANGLE (New York Hl54), 438 ff. Für den allumfaRRAnrlen Gebrauch des Ausdrucks
ist typisch RALPH W. EMERSON, Tbe Complete Works (Boston 1883), vol. 3, 36; vol. 10,
58; vol. 11, 131-175. 286. 293-303; vul. 12, 105.
192 BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. 4 (1840), 1120 u. ff., Art. SklavenangelegenhAit.

193 FRrnnRICH v. RAUMER, Die vereinigten Staaten von Norda.merika, Bd. 1 (Leipzig 1845),

217 ff., Kap. 12: Die Menschenrassen und die Sklaverei; FRIEDRICH L1s•r, Das nationale
System der politischen Ökonomie (1840), hg. v. H. Waentig, 5. Aufl.. (Jena 1928), 55 f.

196
IV. Ausblick Emanzipation

Brockhaus mehr provokativ, MtraHARD imROTTECK/WELCKER19' etwas behutsamer.


Als WAGENER 1865 die Befreiung in den USA registrieren konnte, prognostizierte
er bereits gegenläufige Wirkungen, wenn er feststellte, daß die Aufhebung der Skla-
verei den Racenhochmuth ... gar nicht abgeschaOt, vielmehr verschiirft habe. Auf der
Suche nach Arbeitern, gerade als Folge der Emancipation der Schwarzen, steigere
sich die Ausbeutung der Menschen durch Menschen in einem ungeahnten Maße:
das ist eine Frage, die noch niemand beantworten kannl 9 5.

IV. Ausblick
Im 20. Jahrhundert sind viele der emanzipatorischen Forderungen des vorangegan
geueu Jahrhunuerts eingelöst worden. Die Folgela11ten haben neue, nicht vorher-
gesehene Probleme heraufbeschworen. Die legale Gleichberechtigung hat weder die
Negerfrage in den USA, noch die Lage der ehemaligen Kolonien, noch die Stellung
der arbeitenden Klassen, noch die Rolle der emanzipierten Frau im Sinne der Po-
stulate soweit verwandelt, daß die Forderungen nach weiterer Emanzipation sich
erübrigt hätten. Dabei ist hier zu schweigen von gegenläufigen Bewegungen, die im
nationalsozialistischen Deutsch land zur .Tudenvernichtung geführt haben.
Die begrifflichen Positionen im modernen Sprachgebrauch von 'Emanzipation'
haben indes den geschichtsphilosophisuhen Rahmen des vergangenen Jahrhunderts
kaum verlassen. Sei es, daß ein Ministerium 'Emanzipation' als Richtwert fiir die
Beurteilung von Lernzielen und Instrument ihrer Auswahl bestimmt196 ; sei es, daß
die Sexualität als das größte emanzipatorische Potential gesehen wird197 ; sei es, daß
echte Emanzipation der Frau nur mit der gleichlaufenden des Mannes als möglich be-
griffen wird 198 ; sei es, daß im Rahmen eines Herrschaftssystems jede Emanzipation
nur als Teilbefreiung und daher als repressiv verstanden wird199 • So erhebt sich die
Frage, ob 'Emanzipation' als aktions- und erkenntnisleitender Begri.IT nicht jene
Einsichten und Handlungsweisen verhindert, die die geschichtlichen Spannungen
zwischen Plan und Ergebnis, zwischen Freiheit und Institutionen zu berücksichti-
gen im Stande bleiben, ohne deshalb den Rechtfertigungstitel zu verkennen, der in
jedem Postulat nach Emanzipation enthalten ist.
KARL MARTIN GRASS
REINHART KosELLECK

194 ROTTECK/WELCKER Bd. 14 (1843), 420 ff.


195 WAGENER Bd. 18 (1865), 707. 709, Art. Sclaverei.
196 Richtlinien für den politischen Unterricht in Nordrhein-Westfalen, zit. Süddeutsche

Zeitung vom 9. 6. 1973.


197 JULIET MrrcHELL, Frauen. Die längste Revolution, in: Frauenemanzipation, Sehr. z.

Klassenkampf, Nr. 10 (München 1970), 39.


19 s URSULA SoHMIEDERER, Emanzipation der· Frauen, Das Argument, H. 35 (1965, 3. Aufl.
1970), 42. '
199 HERBERT MARcusE/PETER FURTH, Emanzipation der Frau in der repressiven Gesell-

schaft (Gespräch), Das Argument, H. 23 (1962; 7. Aufl. 1972), 2 ff.

197
Entwicklung, Evolution

I. Einleitung. II. 1. Das Wort 'Entwicklung' vor seiner Anwendung auf die historisch-
politische Welt..2. Begriff der Entwicklung. III. 1. Möser. 2. Herder. 3. Kant. 4. Klassik.
5. Die begriffsgeschichtliche Situation um 1800. 6. Romantik. 7. Savigny und der Historis-
mus. 8. Adam Müller. 9. Spekulativer Idealismus; Hegel. 10. Vormärz. 11. Marx. IV. Aus-
blick.

1. Einleitung
Das Wort 'Entwicklung', ein Verbalabstraktum, bezieht sich in seiner ursprüng-
lichen Bedeutung auf Sachverhalte, die auße_rhalb des Bereiches der politisch-
sozialen Welt liegen. Jede Darstellung der Gcsohiohte des Entwicklungsbegriffs in
seiner Anwe~dung auf die politisch-soziale Welt muß daher berücksichtigen, daß
ihr Gegenstand das Resultat einer mehr oder minder bewußten Übertragung ist. Im
Bereich dieser Welt begegnet das Wort zunächst jedoch nicht im Umkreis des
politischen Handelns, sondern im Umkreis der theoretischen Reflexion, der Ge-
schichtsphilosophie und der GeschichLHschreibung. Von hier aus dringt es in die
Umgangssprache und damit auch in die Sprache der politischen Praxis ein.
Die Geschichte des Wortes 'Entwicklung' isL dadurch gekennzeichnet, daß ihm
ständig neue Bedeutungen zuwachsen; die älteren Bedeutungen verschwinden indes
nicht, sondern bleiben im Sprachgebrauch erhalten. Darin liegt einer der Gründe für
die Vieldeutigkeit und die Unschärfe des heutigen Entwicklungsbegriffs.

II.

1. Das Wort 'Entwicklung' vor seiner Anwendung a.d die historisch·


politische W clt

'Entwicklung', 'entwickeln', ist als Wort im Deutschen erstmals 1645 (PHILIPP VON
ZESEN) nachweisbar; es bedeutet ursprünglich nur das wörtlich verstandene
Auseinanderwickeln von etwas, was in anderer l!'orm schon vorhanden ist; insofern
enb1pricht das Wort der schon im klassischen Latein gebräuchlichen 'evolutio'
( = Entwickeln von Schriftrollen). Die entsprechenden Fremdwörter haben bereits
im 17., vor allem aber im 18. Jahrhundert in den Fachsprachen des Militärs (evo-
lution: Aufstellen der Soldaten in der Schlachtordnung) und der Architektur
(developpement: Vorstellen aller Seiten eines Gebäudes im Profil), aber auch in den
Fachsprachen der Mathematik und der Musik terminologisch fixierte Bedeutungen;
sie greifen jedoch in die Geschichte des Entwicklungsbegriffs kaum jemals ein.
In einem nicht-terminologischen, anschaulichen Sinn wurde das Wort gebraucht,
wenn von der Entwicklung eines Knotens, einer Schriftrolle oder einer Verpackung
die. Rede war. Von hier aus wurde es seit dem Beginn des 18. JahrhunderLs auf
abstrakte Sachverha.ltA iihArtra.gen: so können Begriffe, Vorstellungen, Gedanken,
Beweise, Theorien, aber auch Rätsel entwickelt1 (d. h. analysiert, expliziert) wer-

1 In diesem Sinn wird nur das deutsche Wort 'Entwicklung', nicht aber das Fremdwort
'evolutio' verwendet.

199
Entwicklung U.1. Vor der Anwendung auf die historisch-politische Welt

den. 'Entwicklung' meint dann entweder die Tätigkeit, die einen komplexen Sach-
verhalt in seine einzelnen Momente differenziert, aber auch das Ergebnis einer
solchen Tätigkeit. Auch die Darstellung von Sachverhalten und Begebenheiten
kann als •Entwicklung' bezeichnet werden. In einem ähnlichen Sinne begegnet das
Wort auch in der Poetik, in der es vor allem seit Lessing gebräuchlich wurde:
Entwicklung einer Handlung oder eines Charakters in einer Dichtung bedeutet hier
primär die Kunst der epischen oder dramatischen Darstellung bestimmter Sach-
verhalte2. Erst sekundär sind diese Sachverhalte selbst gemeint; in diesem Fall
spricht man davon, daß Handlungen und Charaktere „sich" entwickeln. Auch das
Begriffspaar 'Verwicklung' - 'Entwicklung' entstammt der Sphäre der Poetika.
Besonderen Einfluß auf die Prägung des politisch-sozialen Entwicklungsbegriffs
hatte die Verwendung des Wortes 'Entwicklung' in der Biologie. Die Rede von
'Entwicklung' im biologischen Sinn kam im Zusammenhang mit den um die Mitte
des 18. Jahrhunderts gefÜhrten Diskussionen über Jen Generationszusammenhang
und die Prinzipien des Embryonalwachstums in Gebrauch. Nach den von Malpighi
und Swammerdam vorbereiteten, mit Hilfe Leibnizscher Begriffe" ausgebildeten
und mit den theologischen Vorstellungen des Deismus gilt vereinbaren Präfor-
mations- oder Evolutionstheorien ruht in der Keimzelle (Ovum, nach anderen
Lehrmeinungen 8perma) das Individuum zwar verklflim~rt, aber doch schon ganz
ausdifferenziert; die Ontogenese wurde daher nur als eine im wörtlichen Sinne ver-
standene „Rntwicklung" (evolutio) von Teilen angesehen, die im Keim bereits
präformiert vorliegen (A. von Haller, Bonnet). Demgegenüber war nach der von
C. F. WoLFF („Theoria generationis", 1759) begründeten, zunächst aber noch
wenig beachteten Theorie der Epigenese der Keim noch wenig differenziert; er
sollte nur allmählich durch Vermittlung einer verborgenen, lebenslang tätigen Kraft
(„vis mmentialfo", „nisus formativus'\ Dildu11g1::1Lrieu) zum neuen Individuum aus-
gebildet werden5 • Auch Ansätze zu phylogenetischen Theorien Rind in diesem Um-
kreis bereits vorhanden gewesen (Robinet u. a. ). Von BUFFON wurde sogar die Ent-
stehung der Erde im Sinne einer Entwicklung gedeutet („Histoire naturelle", 1749 ff. ;
„Epoques de la nature", 1778).
Die mit der Präformationstheorie verbundenen Schwierigkeiten, wie sie vor allem
mit der Annahme einer Ineinanderschachtelung unendlich vieler Keimgenerationen
im ersten Individuum der Schöpfung verbunden waren, erklären es, daß sich in der
Auseinandersetzung die Theorie der Epigenese s<ihließlich allgemein durchsetzen
konnte. Das Wort 'Entwicklung', ursprünglich ein Programmwort der Präformisten,
wurde indessen bald auch von den Epigenetikern benützt. Erst hierdurch wurde
der Entwicklungsbegriff zu einem dynamischen Begriff. Schon ScHELLING verwen-
dete in seinen frühen naturphilosciphischen Schriften (1797ff.) das Wort 'Entwick-

2 Vgl. JoH. GEORG SULZER, .Allgemeine Th11orie der schönen Künste, 2. Aufl„ Tl. 2

(Leipzig 1792), 77 f., Art. Entwiklung.


3 Vgl. Dt. Enc., Bd. 8 (1783), 480 f., Art. Entwickelung.
4 Durch Leibniz kam das Wort 'evolutio' in den allgemeinen wissenschaftlichen Gebrauch;

vgl. EucKEN (1879; Ndr. Hildesheim 1964), 187, Anm. 3.


6 Vgl. JoH. FRIEDRICH BLUMENBACH, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft,

3. Aufl. (Göttingen 1791), 13 ff.

200
II, 2. Begriff der Entwic~ung Entwicklung

lung' im epigenetischen Sinne; dieser epigenetisch verstandenen Entwicklung setzte


er den Begriff der Evolution als präformistisches Korrelat entgegen. Er bezeichnete
die Epigenese aber auch als dynamische Präformation6 ;
Die biologische Entwicklungsvorstellung bildete auch die Instanz, an der man sich
orientierte, wenn man, ebenfalls seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, im psycho-
logischen und anthropologischen Sinn von einer Entwicklung von Anlagen und
Fähigkeiten des Menschen sprach. Wenn nun ungefähr ab 1770 der Entwicklungs-
begriff auch auf Sachverhalte der politisch-sozialen Welt angewendet wurde, so
handelte es sich hier um eine Übertragung des biologischen und anthropologischen
Begriffs. Daneben wurden freilich auch hier immer noch ältere Entwicklungs-
begriffe benutzt. Wenn der Göttinger Geheime Justizrat PüTTER noch 1786 eine
„Ifutori11ehe Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs"
vorlegte, so meint 'Entwicklung' lediglich die sich an den Grundsätzen der pragma-
tischen Geschichtsschreibung orientierende Darstellungsform: die gegenwärtige
Verfassung sollte nicht systematisch, sondern in Gestalt einer Geschichte.7 dargestellt
werden.

2. Begriif der Entwicklung

Es gibt keine Definition des Entwicklungsbegriffs, auf die sich alle, die diesen Begriff
verwenden oder verwendet haben, einigen könnten. Trotzdem sind einige gemein-
same Merkmale gegeben: a) 'Entwicklung' meint eine unumkehrbare, allmähliche,
meist langfristige Veränderung in der Zeit; b) diese Veränderung läßt sich nicht
ausschließlich als Gegenstand bewußten Handelns und Planens verstehen, sondern
folgt eigenen Gesetzen; c) der Veränderung liegt ein identisches und beharrendes
Subjekt imgruwle; bei ihm kann e1:11:1ieh auch um: ein Uberiwliviuuelle1:1 Gebilue, eine
Gestalt des „objektiven Geistes" handeln; d) keine sinnvolle Rede von Entwicklung
kann auf die Anwendung teleologischer Begriffe ganz verzichten.
Diese Merkmale bedingen, daß der Entwicklungsbegriff gut geeignet ist, Kontinuität
in der Veränderring auszudrücken. So wird ihm nicht selten die Funktion abver-
langt, zwischen extremen Auffassungen und Positionen zu vermitteln: Wer eine
Veränd~rung als 'Entwicklung' bezeichnet, kann sowohl den Unterschied zum vor-
hergehenden Zustand als auch den Zusammenhang mit ihm akzentuieren. Außer-
halb des Bereiches der Biologie bezeichnet das Wort 'Entwicklung' im heutigen
Sprachgebrauch einen nur partiell fixierten Gebrauchsbegriff; es nimmt oft Eigen-
schaften eines metaphorischen Ausdrucks an, der nicht wörtlich verstanden werden
will. Die Unschärfe, die der Entwicklungsbegriff im historisch-politischen Bereich
niemals verloren hat, ist ein Kennzeichen aller Gebrauchsbegriffe; sie bildet eine
Schranke für das begriffsgeschichtliche Interesse, das gerade hier der Gefahr aus-
gesetzt bleibt, seinen Gegenstand eindeutiger bestimmt erscheinen zu lassen, als er
in Wirklichkeit ist. Gemeinsam bleibt aber allen historischen Entwicklungslehren,

6 F. W. ScHELLING, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, Werke, Bd. 2

(1927), 46 ff. 61.


7 JoH. STEPHAN PÜTTER, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des

Teutschen Reichs, Bd. 1 (Göttingen 1786), Widmung; vorher gingen seine „Institutiones
iuris publici Germanici" (Göttingen 1770).

201
Entwicklung II. 2. DegriJI del' Entwicklung

daß sie Versuche sind, die Fülle historischer Einzeltatsachen in die Einheit eines
Sinnganzen zu fügen.
Der Sache nach kann man daher leicht versucht sein, Äquivalente zum Entwick-
lungsbegriff auch in solchen Epochen zu suchen, denen die Anwendung des Wortes
'Entwicklung' auf Sachverhalte des politisch-sozialen Bereiches noch fremd war. Von
jeher waren Staat und Gesellschaft Gegenstand von Aussagen, in denen es um
deren Entstehung oder deren Verfall ging. In allen solchen Fällen bietet sich dem
heutigen Interpreten das Wort 'EntwiQklung' an. Auch jede pragmatische Ge-
schichtsdarstellung, sogar jede Kosmogonie oder Theogonie läßt sich im heutigen
Sprachgebrauch als Entwicklungsgeschichte bezeichnen. Das gleiche gilt für Welt-
altermythen, für Lehren von einem Kreislauf der Geschichte und der Verfassungen,
sowie für Geschichtstheologien, die den Verlauf der Geschichte als Verwirklichung
eines göttlichen Heilsplanes deuten; es gilt auch für alle Fortschritts- und Verfalls-
theorien, für Periodenlehren, vor allem für die Geschichtsdeutungen, die von dem
Lebensaltervergleich Gebrauch machen, allgemein: für alle Geschichtsdarstellungen,
die sich nicht darauf beschränken, Ereignisse nach Art einer Chronik isoliert zu
verzeichnen, sondern die einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen zu kon-
statieren versuchen. Der Entwicklungsbegriff wird heute in e:x:tensiver WeiRe und fast
immer unreflektiert bei Deutung und Darnt11lhmg beliebiger historischer Zu-
sammenhänge benutzt. Man sollte dann jedoch daran denken, daß das alteuro-
päischc Staats- .und Geschichtsverständnis eines l!lntwicklungsbegriffs nicht
bedurfte; auch die Antike verwendet keinen vergleichbaren BegriffS. So erscheint
es trotz des hohen Alters der Wachstumsmetapher und des Lebensaltervergleichs
zweckmäßig, sich an der Wortgeschichte zu orientieren.
Auf geschichtliche und politische Tatbestände bezogen findet sich das Wort 'Ent-
wieklung' in Deutschland erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, und zwar
zunächst im Zusammenhang mit der Kritik an bestimmten Geschiehtsauffassungen
der Aufklärung. Zu den Bedingungen, unter denen das Wort zuerst auf den Bereich
der Geschichte angewendet wurde, gehören a) Kritik an Auffassungen, die den
Verlauf der Geschichte als eindeutigen Fortschritt charakterisieren; b) Kritik an
Auffassungen, die die Veränderungen in der Geschichte nur aus dem Handeln von
Individuen erkläre~; c) Kritik an Auffassungen, die im Staat und in den.sozialen
Gebilden keine eigenständigen und irreduziblen Gebilde sehen, sondern sie, wenig-
stens in der Doktrin, durch einen Vertragsschluß der beteiligten Individuen ent-
standen sein lassen. Von geschichtlicher Entwicklung spricht ferner nur der, der den
Gang der Geschichte nicht ausschließlich auf das Wirken des Zufalls zurückführt.
Andererseits schließt die Übernahme einer historisch-politischen Entwicklungs-
vorstellung den Glauben an ein unveränderliches materiales Naturrecht regelmäßig
aus.
Vorbereitet wurde die Rede von geschichtlicher Entwicklung einerseits durch die
bei WINCKELMANN (Geschichte der Kunst im Gegensatz zur Geschichte der Künstler) 9
neu belebte, auf überindividuelle Gebilde angewendete Wachstumsmetapher, sowie
durch die Metaphysik LEIBNIZ', die die gcoamtc Wirklichkeit als System von sich

8Hierüber HEINRICH DöRRIE, Art. Entwicklung, Rlex. Ant. Chr., Bd. 5 (1962), 476 ff.
9JoH. JOACHIM WINCKELMANN, G:eschichte der Kunst des Altertums, Bd. 1 (Dresden
1764), IX f., Beginn der Vorrede.

202
W. l. Mv1:1er Entwicklun~

kontinuierlich verändernden Individualitäten (Monaden) deutete10 ; andererseits


wurde sie vorbereitet durch die pragmatische Geschichtsschreibung und die
Universalhistorie des 18. Jahrhunderts sowie durch die bereits erwähnten Dis-
kussionen innerhalb der Naturwissenschaft. Greifbar wird das Wort 'Entwicklung'
in seinem historisch-politischen Sinn jedoch erstmals bei Möser und Herder. Ver-
einzelte ältere Belege aus außerdeutschen Sprachräumen11 sind zu wenig signifikant,
als daß man sie in einer Geschichte des politisch-sozialen und des historischen
Entwicklungsbegri:ffä berücksichtigen dürfte.

IIT.

1. Möser

J USTUS MösER ist der konservative Begründer der Sozialgeschichte als eines neuen
Gebietes der Geschichtsschreibung. In seiner „Osnabrückisehen Geschichte" (1768)
wollte er nicht als Chronist V orfiille, ohne solchen eine gewisse Ric!Uung zu diesem
oder jenem Ziele zu geben, erzählen und beschreiben; er bemühte sich vielmehr, die
Geschichte unsrer Rechte, Sitten und Gewohnheiten zu, entwick,eln und die Begebenheiten
ziemlich nach dieser Absiohtl2 zu ordnen. Das Wort 'Entwicklung' bezeichnete bei
ihm aber nicht nur die Darstellungsweise, sondern konuLe sich auch auf den
Zusammenhang der dargetitellten Sachverhalte selbst beziehen, wenn er von der
suevischen Verfassung behauptete, daß in ihr Keime zu ganz andern Entwickelungen
lagenia. In einer der „Patriotischen Phantasien" („Von den wahren Ursachen des
RtP.ig1mR 11nil FallenR ilfir Hii.rnmatiRchen Handlung", um 1768) schreibt Möser nach
der Darstellung des Verfalls der Hanse : Freilich erfo"lgte diese Entwickelung nicht so
plötzlich, wie sie hier beschrieben wird; es ging ein Zeitraum von mehr als hundert
Jahren darüber hin14. ·
Möser machte zwar von dem Wort 'Entwicklung' nur sparsam Gebrauch. Der Ge-
danke ist aber überall dort vorhanden, wo ei· auf die von ihm besonders gern
konstatierte Allmählichkeit des Übergangs, Fortgangs, Verfalls überindividueiler
Gebilde hinweist oder wo er von der Notwendigkeit spricht, die Verfassung selbst sich
so nach und nach abändern zu lassen, als es die Bedürfnisse ... erfordert15. Verän-
derungen können indes auch durch eine Gärung in der Nationalmasse hervorgebracht
werden16• Im Hinblick auf bestimmte Wandlungen politischer Zustände spricht er
geradezu von einem Gang der Natur 17 • Wesentlich für seine Geschichtsauffassung
ist, daß nach ihr alle Lebensäußerungen und Kulturgebilde untereinander in einem

10 Quoyque l' Univers fut tousjours egalement parfait, il ne sera jamais souverainement parfait;
rar il change tousjours et gagne de nouvelles perfections, quoyqu'il en perde d'anciennes;
LEIBNIZ, Briefwechsel zwischen Leibniz und Bourguet, Philos. Sehr., hg. v. C. J. Ger-
hardt, Bd. 3 (Berlin 1887; Ndr. Bildesheim 1960), 589.
11 Etwa bei VOLTAIRE, Oeuvres compl., t.13 (1878), 56; t. 28 (1879), 223; t. 35 (1880), 558.
1 2 JUSTUS MÖSER, sw Bd. 12/1 (1964), 31 f.
13 Ebd., 60.
14 Ebd., Bd. 4 (1943), 231.

a Ebd., Bd. 7 (1954), 182.


i& Ebd., Bd. 9 (1958), 380.
17 Ebd., 297.

203
EntwiclJU11g m. 2. Herder
solchen Zusammenhang stehen und daß sich immer nur diese Totalität ändern kann,
niemals jedoch einzelne.Lebensbereiche in isolierter Weise. Der Wechsel der Er-
scheinungen sollte so aber als Entwicklung eines Bleibenden gesehen werden.
Dadurch enthielt der politisch-soziale Entwicklungsbegriff schon hier in seinem
Ursprung einen betont konservativen Zug.

2. Herder

Umfassendere Absichten verfolgte IIERDER18• Er bemühte sich um eine Deutung der


Weltgeschichte im ganzen; er konnte deshalb anders als Möser auf eine Aussage
über ein universales Ziel der Geschichte nicht verzichten. Seine 1774 anonym
veröffentliche Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der
Menschheit" war durch die zeitgenössische Universalhistorie angeregt, gegenüber
der er sich ebenso abgrenzte wie gegenüber dem moralischen FortS1Chrittsglauben
der Aufklärung. Sollte es nicht offenbaren Fortgang urul Entwicklung aber in einem
höhern Sinne geben, als mans gewähnet hat?19 'Entwicklung' wurde nun für Herder
der Ausdruck, in dem sich jener höhere Sinn artikulierte. Aus dieser Frontstellung
erklärt sich der partiell polemische Sinn des Wortes 'Rntwicklung', das hier zum
ersten Mal als häufig benutztes Gebrauchswort auf historische Sachverhalte angewen-
det wird.
Hcrdcr stellte sich die Frage, gibts einen Fa.den der Entwicklung '1Mn1Jchliclier Kräfte
durch alle Jahrhurulerte und Umwarullungen in der Harul des Schicksals 20 • Der
Lebensaltervergleich erhielt die Funktion, die umfassenden Zusammenhänge der
Weltgeschichte auszudrücken: Jedes Volk habe ebenso wie jede KunRt irnil WiRRAn-
schaft in seiner Entwicklung seine. Periode des Wachstums, der Blüte und der
Abnahme gehabt 21 • Dieser Vergleich führte aber gerade nicht zu einer Relativierung
der Perioden: jedes Stadium hat den M-iltelp'unkt seiner Glückseligkeit in sich selbst 22 •
Was bei Herder über den traditionellen Gehalt des alten Lebensaltervergleichs
hinausführte, war vor allem seine Orientierung an dem in den naturwissenschaft-
lichen Diskussionen seiner Zeit geprägten organologischen Entwicklungsbegriff.
So verwendete Herder bei der Deutung geschichtlicher Zusammenhänge gerne das
Bild des Keimes, aus dem sich die späteren Organisationsformen entwickeln. l!'ür
den Organismus gelte aber, daß sein Wrnmn nicht, durch einen außerhalb seiner
liegenden Endzweck bestimmt sei; denn er sei für sich selbst schon Zweck: alles
Mittel urul Zweck zugleich 23•
Herder orientierte seine Geschichtsphilosophie von 1774 am biblischen Bericht der
Genesis und lehrte einen einheitlichen Ursprung der Menschheit von einem Stamm-
elternpaar. Die Patriarchenzeit war ihm das Goldene Zeitalter und entsprach der
Kindheit. Die Vorsehung leitete den Fa.den der Entwicklung weiter - ... zum Nil

18 Vgl. RonoLF ST.illlilLDiUQ, Der historisohe Sinn boi Ilord01• (Hallo 1028); ÜJ1JORGJ1l A.
WELLs, Herder and after. A Study in the Development of Sociology (Den Haag 1959).
19 HERDER, sw
Bd. 5 (1891), 512.
20 Ebd., 588 f.
21 Ebd., 504.
22 Ebd., 512.
23 Ebd., 527.

204
III. 2. Berder Entwicklung

und an die phönizische Küsten 24 • In der nun beginnenden, dem Knabenalter ent-
sprechenden Zeit entwickeln sich Ackerbau und Landbesitz: Phönizien sei ein erster
handelnder Staat ... , der die Welt zuerst über Asien hinaus recht ausbreitete, Völker
pßanzte und Völke1· band - welch ein großer neuer Sclir·itt zur Entwicklung 2 5.
Die griechische Welt entsprach dem Jünglingsalter der Menschheit: Mythologie,
Philosophie und Künste in Griechenland seien Entwickelungen uralter Keime, die
hier Jahrszeit und Ort fanden, zu blühen und in alle Welt zu duften 26• Dem Mannes-
alter entsprach Rom: Der Ä°gypter konnte nicht ohne den Orientalier sein, der Grieche
bauete auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt - wahrhaftig
Fortgang, fortgehende Entwicklung 27 • Mit der Ausbreitung des Christentums ent-
wickelte sich die nordsüdliche Welt. Herder ordnete ihr kein bestimmtes Lebens-
alter mehr zu; in betontem Gegensatz zur vorherrschenden Meinung seiner Zeit
würdigte er das Mittelalter anerkennend. Der mit der Reformation einsetzenden
Neuzeit, besonders aber seiner Gegenwart warf er leblosen JJ.fechan·ismus vor;
gerechtfertigt war sie nur dadurch, daß auch sie ein Stadium im Gang einer höheren
F.ntwir.khmg rnpräfl!mtir,rt;r,, Hr,rdr,r wollt;r, 11ich nicht auf ein Ziel dieimr Entwir.khnie
festlegen, weil ihm alle Entwicklung allein in der Hand Gottes lag.
Die „Ideen zur .Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784/91) versuchten,
die in der Schrift von 1774 entworfone Skizze auszmi.rbeiten. Eine am Stufenleiter-
gedankeu Ilonnets orientierte Naturtheorie sollte mit der Geschichtsphilosophie in
einem einheitlichen Systemganzen vereinigt werden. Herder ging von der Vor-
stellung eines zusammenhängenden Naturorganismus aus; eine durchgehende
ideelle Entwicklungslinie führe vom Stein über die Pflanze und das Tier zum
Menschen. Die geschichtliche Entwicklung sei nur die Fortsetzung der natürlichen
Entwicklung; beide seien nur Spielarten der einheitlichen Entwicklung des von
Gott geschaffenen Kosmos. Der Gedanke der Einbettung der Geschichte in eine
umfassende Natur führte Herder dazu, die geographischen und klimatischen
Bedingungen aller Geschichte zu betonen; insofern machte er GedankenMontesquieus
fruchtbar. Inhalt der geschichtlichen Entwicklung war die von Gott durch Tradition
und organische Kräfte 28 geleitete Erziehung der Menschheit zur vollkommenen
Humanität. Trotzdem behielten die einzelnen Völker mit ihren eigenständigen
Kulturen ihren Eigenwert: Die Cultur rückt fort; sie wird aber damit nicht voll-
lcommener: am neuen Ort werden neue Fahigkeiten entwickelt; die alten des alten Orts
gingen unwiederbringlich unter 29 • Nach Herder zeigt sich der universale Zusammen-
hang der geschichtlichen Entwicklung nu,r beim Überblick größerer Zeiträume, und
er zeigt sich nur dem, der an ein theologisch verstandenes übernatürliches Ziel des
Menschen glaubt; im Detail sind auch Rückschritte möglich. Die Vorstellung des
endzeitlichen Zustandes der Humanität, in dem sich Schönheit und Sittlichkeit
vereinigen sollen, blieb inhaltlich sehr unbestimmt. Dies begründete· Herder theo-

2 ·1Ebd., 487.
25 Ebd., 492.
26 Ebd., 496.
27 Ebd., 513.
2 a Ebd., Bd. 13 (1887), 347.
29 Ebd., Bd. 14 (1909), 205.

205
Entwicklung m. 2. Ile1·der

logisch: die Gestalt jener Welt hat uns der gute Schöpfer verborgen, um weder unser
schwaches Gehirn zu betäuben, noch zu ihr eine falsche Vorliebe zu reizen 30 •
Im Jahre 1792 machte Herder in „Tithon und Aurora" unter dem Eindruck der
politischen Ereignisse, die sehr schnell zu einer Bedeutungsumkehr des Wortes
'Revolution' geführt hatten, den Vorschlag, den Ausdruck ·'Evolution' als Ersatz
für den alten, „vorrevolutionären" Revolutionsbegriff zu verwenden. Er führte
damit das Begriffspaar 'Revolution' - 'Evolution' ein 31 • Eine von ihm selbst nicht
veröffentlichte Vorstudie (um 1793) zu einem der „Briefe zu Befördemng der Huma-
nität" verglich die Reformation mit unsrer Zeit-Krise und setzte Revolution und
Evolution in eine alternative Beziehung: Mein Wahlspruch bleibt also fortgehende,
natürliche, vernünftige Evolution der Dinge; keine Revolution. Durch jene, wenn sie
ungehindert fortgeht, kommt man dieser am sichersten zuvor; durch jene wird diese
unnütz und zuletzt unmöglich. Predigen Sie diesen Spruch den Mächtigen der Erde;
alle Verständigen sind über ihn einiy 32 • Diese Alternative wurde rasch aufgegriffen
und wurde für viele nachrevolutionäre Gestaltungen des Entwicklungsgedankens
hinfort bestimmend. An ihr zeigt sich der durch die Französische Revolution
induzierte Begriffswandel besonders deutlich. Auch bei Herder selbst handelte es
sich nur um eine Antwort auf die Revolution 33 ; es wäre verfehlt, diese Alternative
hereitR fler lilntwir.klnngRlehre Reiner geRr.hicht,Rphilosophi~che.zi. Schriften zu un-
terstellen.
Herder gab niemals eine Definition des Entwicklungsbegriffs. Die Bedeutung dieses
Begriffs muß aus seiner Verwendung erschlossen werden. Für ihn ist, ähnlich wie
für manche andere Begriffe Herders, charakteristisch, daß bislang nur im über-
tragenen oder im logischen Sinn Gebräuchliches nunmehr wörtlich verstanden und
als Realität akzeptiert wurde. Für Herders Entwicklungsbegriff bestimmend ist
1:1tline uiulugfauhe He1·kunft 1:1uwie der Gedanke der Einbettung des Menschen, seiner
Kultur und seiner Geschichte in die Natur; dies ?.ei gt sieh vor allem in den ständigen
Lebensaltervergleichen und in den häufigen Analogien zur „organischen" Welt der
Pflanzen und Tiere.
Vor allem durch diese betonte Rückbezogenheit aller historischen Entwicklung
auf die Natur unterscheidet sich Herders Theorie von LESSINGS Entwurf einer

30 Ebd„ Bd. 13, rn2.


31 Ebd., Bd. 16, 116 ff. Eine merkwürdige und mehrdeutige Vorwegnahme dieses Begriffs-
paars findetsichinLAuRENCE STERNE, The Life and Opinions of Tristram Shandy, 9 vols.
(London 1759-66). Tristrams Vater stellt einmal (5, 3) Betrachtungen über König-
reiche, Provinzen und Städte an, die vergingen, wenn die sie tragenden Prinzipien have
performed, their several evolutions. Das Erstaunen des Gesprächspartners, Onkel Toby,
veranlaßt Shandy zu einer Korrektur: 1 meant revolutions .. „ evolutions is nonsense.
Doch der Partner (als ehemaliger Soldat vielleicht die Bedeutung des entsprechenden
militärischen Fachterminus assoziierend) besteht nun selbst darauf: 'Tis not nonsense.
Vgl. auch die in Hamburg 1774 erschienene erste deutsche Übersetzung von Joh. Joachim
Christoph Bode (5, 3).
32 HERDER, sw Bd. 18 (1883), 332.
33 MANFRED BRIEGEL, Evolution (phil. Diss. Freiburg 1963), 295: Wort und Begriff von

•Revolution' haben sich durch das Weltereignis der Französischen Revolution grundlegend
geändert, und die dann als Gegensatz auftretende •J!:volution' hat vieles von dem älteren
Begriff der •Revolution' übernommen und tritt sogar als dessen Ersatz auf.

206
W. 3. Kant Entwiddung

„Erziehung des Menschengeschlechts" (1780), zu dem im übrigen manche Parallelen


bestehen34 • Der Entwicklungsbegriff hatte bei Herder auch die Funktion, die
Richtungsbestimmtheit und Unumkehrbarkeit des Geschichtsverlaufs auszu-
drücken und doch zugleich der. Irreduzibilität 11nd dem Eigenwert einer jeden
historischen Formation gerecht zu werden. Dazu gehört, daß es sich bei diesen
Formationen um Einheiten handelt, deren Merkmale unter sich auf gesetzmäßige,
„lebendige" Weise zusammenhängen und kein bloßes Aggregat bilden. Man
könne nämlich aus einigen wenigen gegebnen Merkmalen die Summe der ganzen
Konformation und des ganzen Habitus eines Volks, eines Stammes, eines Individuums
leicht finden 35 . Herder wollte mit diesem organologischen Denken jenen Fortschritts-
gedanken kritisieren, der der jeweiligen Gegenwart keinen Eigenwert mehr zuzu-
sprechen bereit war und sie allein im Hinblick auf eine zukünftige Perfektion
betrachtete. Der Entwicklungsgedanke sollte daher zugleich ausdrücken, daß jeder
Fortschritt nur partiell sein könne; er muß immer mit einem Vorlust in einer
anderen Hinsicht bezahlt werden. Die Menschheit ist einmal kein Gefäß der Voll-
kommenheit36. Trotz allem nahm der Ausdruck 'Entwicklung' bei Herder nun
keineswegs eine Sonderstellung ein. Herder .zeigte zwar eine besondere Vorliebe für
das Wort 'Entwicklung', eben wegen der Beziehung zum biologischen Ent.wickhlngR-
begriff; grundsätzlich ist das Wort aber immer noch synonym mit anderen, ebenfalls
häufig benützten Ausdrücken wie 'Fortgang', 'Fortschreiten', 'Fortbildung', 'Bil-
dung', 'Veränderung', 'Progression', 'Verwandlung'.
Der Begriff der Entwicklung hatte somit bei Herder seinen Platz in einer Ge-
schichtsphilosophie, die sich zum rationalistischen Perfektionsgedanken und seinen
Implikationen polemisch verhielt und durch die Verankerung des Menschen und sei-
ner Geschichte im von Gott geschaffenen Kosmos das Eigenrecht einer jeden Epoche
betonte. So konnte dicac Ccachioht1Jphilo1Jophic mit der Betonung dco unrolutivior-
baren Eigenwerts jedes Stadiums und jeder Individualität den Konservativen, mit
der Anerkennung eines nicht in der Gegenwart liegenden Endziels dagegen den
Fortschrittstheoretikern entgegenkommen. Es ist fraglich, ob eine so intendierte
Vermittlung zwischen beiden Tendenzen logisch widerspruchsfrei möglich ist. Für
den Begriff der Entwicklung ist es aber charakteristisch, daß er seit Herder dort,
wo er prononciert verwendet wurde, häufig Vermittlungsaufgaben ähnlicher Art zu
erfüllen hatte.

3. Kant

KANT 37 lobte in einer ausführlichen Rezension (1785) des ersten Teiles von Herders
„Ideen" zwar eine in Auffindung von Analogien fertige Sagazit'ät ihres Autors; Kritik
übte er aber, insofern er die logische Pünktlichkeit von Herders Begriffsbildung in

34 Vgl. M rnrrrn H Ann, F.nt.winklnng 1mil Offnnhn.nme hni l.AAAine (th1ml. DiRR. Tübingen
1928). Lessing wendete das Wort 'Entwicklung' jedoch nicht auf historische Sachverhalte an.
35 HERDER, SW Bd. 18 (1883), 250.
36 Ebd., Bd. 5, 591.

37 Zu Kant vgl. PAUL MENZER, Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte

(Berlin 1911 ). -. KANT, Rez. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,
Tl. 1, AA Bd. 8 (1912), 45.

207
Entwicklung m. 8. Kant
Frage stellte. Vor allem aber kritisierte er Herders Einbettung der Geschichte in die
Natur, weil auf diese Weise die Freiheit, die sich der Natur auch entgegenstellen
konnte, zu kurz komme.
Schon 1784 hatte er in einer kleinen Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte
in weltbürgerlicher Absicht" den Entwicklungsbegriff auf historische Sachverhalte
angewendet. Dort ging es um die Frage, ob die den menschlichen Handlungen zu-
grunde liegende Freiheit des Willens mit der Annahme einer Regelmäßigkeit im
Verlauf der Geschichte vereinbar sei. Prinzipielle Schwierigkeiten sah Kant nicht:
Was man sich auch in metaphysischer Absicht für einen Begriff von der Freiheit des
Willens machen mag: so sind doch die Erscheinungen desselben, die menschlichen
Handlungen, ebensowohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Natur-
gesetzen bestimmt 38• Die Berechtigung, auch im Bereich des menschlichen Handelns
und seiner Ergebnisse Gesetzlichkeiten zu suchen, führte er ähnlich wie schon Her-
der auf die ·Beobachtung statistischer Regelmäßigkeiten zurück; vor allem die
Heiratsstatistiken waren für ihn von Bedeutung. Kant stellte die Frage, ob zu
hoffen sei, daß auf die Art, was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die
Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame
EntwickelungderursprünglichenAnlagen derselben werde erkannt werden können. Nun
zeige die Erfahrung, daß jeder Mensc.h und jedes Volk immer nur seine eigenen
Absichten verfolgt. Liege daher der Weltgeschichte überhaupt, ein Plan zugrunde, so
könne dieser nicht von Menschen bewußt verabredet sein. Denn der Mensch als
vernunftbegabtes Wesen folge zwar nicht seinen Instinkten wie das Tier, aber er
handele auch nicht als ein die Geschichte bewußt planender Weltbürger. Ein Ziel
der Geschichte sei dann aber nur als Absicht der ,,Natur" möglich. Auf diese Weüm
verband Kant den Gedanken einer Entwicklung der individuellen menschlichen
Anlagen IJJ..iL dem Gedanken einer generellen „Entwicklung der Menschheit". Der
Gedanke der Menschheits1mtwicklung war bei Kant jedoch nicht Bestandteil einer
Tatsachenbehauptung, sondern lieferte nur eine Idee, unter deren Voraussetzung
die Historie ihre Gegenstände betrachten und beurteilen kann.
Kant arbeitete eine auf diesen Grundlagen bestehende Geschichtstheorie nicht aus,
sondern gab nur eine vorläufige Skizze. Er ging von einem am Bereich der Natur
orientierten Entwicklungsbegriff aus: Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind
bestimmt, s·iclt e·inrnul ·vollständig und zweckmJJ,ßig auszuwiclccln. Für die Anlagen des
Menschen, sofern sie sich auf den Gebrauch der Vernunft beziehen, gelten indes
andere Grundsätze. Sie entwickelten sich nicht von selbst und nicht auf natürliche
Weise; ihre Ausbildung erfordere Übung und Unterricht. Für die vollkommene
Ausbildung dieser Anlagen sei aber die Dauer des menschlichen Lebens zu kurz;
daher könne das Ziel nicht im Individuum, sondern nur in der Gattung erreicht
werden. Hier setzte Kants Gesellschaftstheorie an: Das Mittel, dessen sich die Natur
bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonism
derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetz-
mJJßigen Ordnung derselben wird. Dieser Antagonismus bestehe beim Individuum
zwischen dem Gesellschafüitrieh imn dP.m Vereinzelungstrieb; der Vereinzelungs-
trieb manifestiere sich nicht nur in der Isolierung von der Gesellschaft, sondern

38KANT, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA "Rd. 8,


17 ff. Hier auch die folgenden Zitate.

208
ID. 4. K.1111u1ik F.ntwiddung

auch in dem Bestreben, den eigenen Willen gegenüber dem Widerstand anderer
durchzusetzen. Daraus folge der Antagonismus der Individuen untereinander;
Antagonismen zwischen Staaten seien auf analoge Weise zu verstehen. Das Ziel
einer vollständigen Entwicklung aller Anlagen des Menschen lassen sich erst in einer
weltweiten bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen. Ähnliche Gedanken trug Kant
in der „Anthropologie in pragmatischer H:ipsicht" vor; sie wurde 1798 veröffentlicht,
geht aber ihrem Inhalt nach auf eine Vorlesung von 1772 zurück.
Bezeichnend ist, wie Kant noch in einer späten Schrift („Der Streit der Facultäten",
1798), angeregt durch J. B. Erhard, das Begriffspaar 'Revolution' - 'Evolution'
übernahm. Er fragte hier danach, ob das menschliche Geschlecht im beständigen
Fortschreiten zum Besseren sei. Ein Beweis für dieses Fortschreiten war ihm eine
Begebenheit unserer Zeit, welche diese moralische Tendenz des Menschengeschlechts
bewe'i.~et. Damit war, entgegen einem verbreiteten Mißverständnis, nicht die Fran-
zösische Revolution selbst gemeint, sondern die Denkungsart der Zuschauer, welche
sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät. Der Fortschritt zum
Besseren durfte nämlich nicht durch Revolution, die jederzeit ungerecht ist, geschehen;
er sollte nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern den von oben herab
erwartet werden. Dazu ist nach Kant aber ein bestimmtes öffentliches Erziehungs-
system nötig sowie ein Staat, der sich von Ze1:t z1' Zeit auch .~elb# reformiere wnd, .~tatt
Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite 39 •
Auch bei Kant war der Entwicklungsbegriff zunächst dem Bereich der Natur
zugeordnet; angewendet wurde er vor allem, wenn von der Realisierung natürlicher
Anlagen die Rede war. Weil nun die Entwicklung bestimmter Naturanlagen beim
Menschen das Individuum übe.:rforderte, mußte die Gattimg als Entwickhmgs-
spielraum zur Verfügung stehen. Auf diese Weise kam es zu einem historisch
orientierten :Entwicklungsbegriff, der indes vorwiegend methodisch relevant war
und daher nicht zur Vergegenständlichung überindividueller Träger dieser Ent-
wickfong oder zur Vergegenständlichung dieser Entwicklung selbst führte. Das
Eigenrecht des Individuums als sittlicher Person und seiner Interessen blieb auf
diese Weise gewahrt.

4. Klassik

Au<;ih im 18. Jahrhundert wurde der historische Entwicklungsbegriff schon frei von
einer inhaltlichen und methodischen Rückbeziehung auf die Natur verwendet. Gute
Beispiele finden sich in SCHILLERS historischen Schriften. So kann Schiller in diesen
Schriften von dem Genie dieser Nation, durch den Geist des Handelns . . . entwickelt
sprechen (1788), unter Verwendung des Reflexivums auch davon, wie gleichförmig,
notwendig und bestimmt sich die Weltveränderungen auseinander entwickeln (1789);
ferner von der Entwicklung, die die Kirchentrennung gehabt habe (1791). Gleich-
wohl waren biologische Methaphern möglich: In einem Essay über die Kreuzzüge
(1790) formulierte Schiller: Durch das ganze Gebiet der Geschichte sehen wir die
Entwicklung der Staaten mit der Entwicklung der Köpfe einen sehr ungleichen Schritt

39 Ebd., Bd. 7 (1907), 79. 85. 87. 92 f.; vgl. JoH. BENJAMIN ERHARD, Ueber das Recht des

Volks zu einer Revolution (Jena, Leipzig 1795), 189. - Über das Begriffspaar 'Revolu-
tion'/'Evolution' vgl. o. S. 206 (Herder).

14-90386/1 209
Entwicklung lll. 4. Klassik .

beobachten. Staaten sind jährige Pflanzen, die in einem kurzen Sommer verblühn ... ;
Aufklärung ist eine langsame Pflanze, die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel,
viele Pßege und eine lange Reihe von Frühlingen braucht40 •
Wichtiger als das bloße Faktum, daß der Entwicklungsbegriff hier auf historische
Sachverhalte angewendet wurde, ist jedoch die Tatsache, daß Schiller diesen
Begriff durchaus nicht im emphatischen Sinn benützte. Er war kein Zentralbegriff
der Geschichtsdeutung und akzentuierte keine .besondere Art geschichtlicher
Zusammenhänge. Ein Unterschied im Gebrauch von Begriffen wie 'Entwicklung',
'Gang', 'Übergang', 'Fortgang', 'Veränderung' ist auch bei Schiller kaum fest-
zustellen. 'Entwicklung' bezeichnet hier noch kein Programm. Eine Sonderstellung
nehmen die unter dem Eindruck Kants geschriebenen philosophischen Schriften
Schillers ein. Hier finden sich Ansätze zu einer allgemeinen Entwicklungstheorie, die
auch d,en Bereich der Geschichte mit einbezog. Es lassen sich al.~o drm: 11M.~<:hif'ilf'mR.
Momente oder Stufen der Entwicklung unterscheiden, die sowohl der einzelne Mensch
als die ganze Gattung notwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen
müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüll,en solkn, nämlich der
physische, der ästhetische und der moralische Zustand 41 •
Go.ffi'.L'HES Werke bieten eine Fülle von Belegen für die Breite der Reile11t.1mgA-
nu11nccn, deren d110 Wort 'Entwicklung' fähig war. So sprach er gerne im Dlick auf
die Erscheinungen der belebten Natur von Entwicklung, jedoch nur mit Vor-
behalten, weil sowohl die Vorstellung der Evolution als auch die der Epigenese den
Begriff eines freien Werdens beschränken. Deshalb bevorzugte Goethe in der Natur-
lehre das Wort 'Bildung'. Eine Anzahl von Stellen beweist, daß uie Übertragung
il11A F.nt.winkl11ngAb11griff.<1 auf gei;ichichtliche Sachverhalte auch bei Goethe durchaus
gebräuchlich war, und dies nicht nur in der Spätzeit. So spricht er etwa von der
.ffipoche, aus der sich im J!'ortgang das Zeitalter des Augustus entwickelt (1822); von
den Epochen der von ihm erlebten politischen, philosophischen und ästhetischen
Entwicklungen (1816), von sich entwickelnden Weltbegebenheiten (1828), VOil der
Entwicklung einer Nation (1819) und von einer sich entwickelnden Kultur (1797).
Doch Belege dieser Art dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, fla,ß das Wort
'Entwicklung' auch hier nie. im emphatischen Sinn gebraucht wurde und immer
ersetzbar war: selbst die Französische Revolution entwickelte sich (1789) 42 • In der
Mehrzahl der Fälle, in denen das Wort begegneL, ist uavon die Rede, daß sich ein
Organismus entwickelt oder aber daß eine Anlage, ein Vermögen, ein Gedanke qder
ein Gefühl entwickelt wird. Wenn Goethe, wie Friedrich Meinecke zu begründen
versucht hat, die entscheidende Gestalt in der· Entstehungsgeschichte des Historis-
mus sein sollte, so wäre diese Stellung weniger durch eine bestimmte Geschichts-
theorie und noch nicht einmal durch seine Auffassungen von der politisch-sozialen
Welt begründet, sondern mehr durch seine allgemeinen Lebensanschauungen, durch
die Vorstellungen, die man gemeinhin unter dem Ausdruck 'Menschenbild'
zusammenfaßt, sowie vor allem durch das im Übermaß zitierte Wort von der
geprägten Form, die lebend sich entwickelt.
40 SCHILLER, SA (o; J.), Bd. 14, 35; Bd. 13, 19; Bd. 15, 6; Bd. 13, 117.
u Ebd., Bd. 12, 92.
42 GOETHE, WA 2. Abt., Bd. 13 (1904), 51; 1. Abt., Bd. 41/1 (1902), 362; 4. Abt., Bd. 43

(1908), 267; 1. Abt., Bd. 7 (1888), 183; 4. Abt., Bd. 12 (1893), 296; 1. Abt., Bd. 35 (1892),
11; 2. Abt., Bd. 3 (1893), 75.

210
m. 5. Begrißiige11ehichllfohe Situation um 1000 Entwicklung

5. Die begriffsgeschichtliche Situation um 1800

.Bei der ]'eststellung der Geschichte des Entwicklungsbegriffs muß man sich darüber
klar sein, daß zwar nicht die Anwendung dieses Begriffs auf Gebilde der historischen
und gesellschaftlichen Welt, wohl aber die Virulenz des so angewendeten Begriffs
erst unter der Voraussetzung einer Bedeutungsmodifikation verständlich wird. Sie
zeigt sich darin, daß das entsprechende, zumal in seiner anschaulichen undin seiner
logischen Bedeutung zunächst nicht reflexiv verwendete Verbum immer häufiger
in der reflexiven Form begegnet. Bei einem Wes~n oder einem Geschehen, das
„sich" entwickelt, sind Subjekt und Objekt der Entwicklung nicht mehr real von-
einander unterschieden, sondern fallen zusammen. Auch das Substantiv 'Entwick-
lung' erfuhr eine analoge Akzentuierung: das Wort 'Selbstentwicklung' ist seit
der Jahrhundertwende häufiger nachweisbar und bleibt bis weit ins 19. Jahrhundert
im Sp1·11.lll1g11l1r11.1rnh. fäL uuu alie1· eiu uud dasselbe Wesen nicht nur Objekt, sondern
zugleich auch Subjekt einer Entwicklung, so liegt es nahe, ihm dynamische Qualitä-
ten von der Art eines Entwicklungstriebes, der die Funktion hat, diese Entwicklung
in Gang zu halten und zu steuern, zuzusprechen. Dann wird es sinnvoll, die selb-
ständige Existenz eines mit dynamischen Qualitäten begabten Trägers dieser
Entwicklung auch do1t zu posLuliereu, wo dies bis dahin nicht üblich war. Folgen-
reich wird dies gerad~ bei der Postulierung überindividueller Träger historischer
Entwicklungen. Annahmen dieser Art darf man den bisher berücksichtigten
Autoren nicht ohne weiteres unterstellen. Bis ungefähr zur Jahrhundertwende wird
'entwickeln' vorwiegend transitiv gebraucht; selbst dort, wo der Entwicklungs-
begriff wie bei Herder gelegentlich programmatische Funktionen übernahm, gab es
noch eine vom Trager der Entwicklung verschiedene Instanz, die hinter ihr stand
imil Rifl RtflnP.rt11 (Gott, VorR11hnng). Daher sind die für den Entwicklungsbegriff
des 19. Jahrhunderts so charakteristischen dynamischen Merkmale hier höchstens
in Ansätzen zu finden.
Ein Autor, an dem sich die erwähnte Bedeutungsverschiebung deutlich zeigt, ist
D. JENISCH. Schon im Titel seines 1801 erschienenen Werkes, das vom Entwick-
lungsbegriff im neuen Sinn in e.x.Lemliv1:1Lem Maße Gebrauch machte, spricht er von
der Entwiclcelung des M cnschcngeschlechts als eines sich fortbiUlenden Ganzen.
Bezeichnend ist, daß in diesem Zusammenhang auch das bald im Sprachgebrauch
heimisch werdende Wort 'Entwicklungsgeschichte' verwendet wurde. Wertvoll sind
einige Bemerkungen, die der Autor zum Sprachgebrauch macht; sie treffen die
begriffsgeschichtliche Situation vor 1800 genau: Die Wörter „Entwickelung, BiUlung,
Ausbildung, Oultur", brauche ich gewöhnlich als Synonyme; so wie nic,ht weniger
diese - Erleuchtung, Aufklärung:______ Vervollkommnung, Veredelung - und einige
verwandte, welche der Leser leicht auffinden wird. Oder später: Die feinen, oft kaum
durch Worte darstellbaren Begriffskreise und Nuancen von Begriffen, in welche so
manche Schriftsteller diese und ähnliche sinnverwandte Wörter einzuschränken, oder
vü1lmehr einzu.2'äu.iwn su.chc.n, pct:nigcn den dnmn n.foh.t fJflllliih.nt.rm. T,ßRßr Rßh.r Vßrgßblich •
. . . Es dürften wenig Wörter in der Sprache gefunden werden, welche, dem Klange
nach verschieden, einen durchaus gleichen, wenngleich noch so verwandten Sinn
darböten 43 •
48 DANIEL JENISCH, Universalhistorischer Ueberblick der Entwickelung des Menschenge-
schlechts, als eines sich fortbildenden Ganzen, Bd. 1 (Berlin 1801), V. VII. 35 f.

211
F.ntwfokhmg m. 6, Romantik
Wie der historische Entwicklungsbegriff um diese Zeit nicht nur in der Geschichts~
philosophie, sondern auch schon im politischen Tagesschrifttum zu Hause war,
wenngleich noch in jenem unspezi:fischen Sinn, in dem er mit verwandten Begriffen
noch leicht auswechselbar war, mag ein Beispiel zeigen: E. L. PossELT schrieb in
der ersten Nummer der bald berühmt gewordenen Cottaschen „Allgemeinen
Zeitung" am 1. 1. 1798, man lebe in der Epoche von Ereignissen, welche so außer-
ordentlich sind, daß wir über ihren bisherigen lcühnen Lauf nur staunen können und
ihre weitere Entwickelung kaum zu ahnen wagen, so weitgreifend in ihren Gmndsätzen
und Fol,gen, daß sie das ganze jetzige und künftige Schicksal des Menschengeschlechts
umfassen 44 • Es gelte, nicht dem Geiste der Zeit einen ohnmächtigen Widerstand
entgegenzusetzen, sondern ihm oinc Richtung zu geben, daß er nie in Ilevolutioueu
ausschlage.

6. Romantik

Die Romantik scheint im Hinblick auf den Entwicklungsbegriff der Sache nach
zunächst noch von Herder abhängig zu sein; die Rede von einer geschichtlichen
Entwicklung der Menschheit ist hier bereits ein fester Topos 45 • Dem Begriff
der geschichtlichen Entwicklung wuohuen 11lmr n11ch den Erfahrungen rl~r Fran-
zösischen Revolution neue politische Valenzen zu. Vielen vermittelte die Revolution
die Überzeugung, daß die Möglichkeiten, den gesamten Bereich politischer und
sozialer Erscheinungen zum Gegenstand planmäßigen Entscheidens zu machen,
prinzipiell begrenzt seien. So wurde nun oft emphatisch das Eigeulebeu der „ge-
wanh.f'!enfm" TnRtit11tiornm gP.gP.niihP.r den bewußt handelnden Individuen betont.
Weniger die kritischen Stimmen der französischen Traditionalisten waren es, die
das Urteil der H.omantik in diesen .!!'ragen beeinflußten, sondern vor allem BuRKES
in der 1793 erschienenen Übersetzung von GENTZ auch in Deutschland vielgelesene
„Betrachtungen über die Französische Revolution"; daR Wort 'Entwicklung' kommt
allerdings bei Burke/Gentz nicht vor.
NovALIS drückte die Überzeugung aus, daß der Stoff der Gesnhinhte fortschreitende,
immer mehr sich vergrößernde Evolu,tüinen Reifm, rlie zu einem Endziel, nämlich einem
Goldenen Zeitalter hinführten 46 • In ähnlichem Sinn formulierte der junge FRIEDRICH
SCHLEGEL im „Gespräch über die Poesie" (1800) die Aufforderung: So laßt uns ...
jeder nach seinem Sinn die große Entwickelung beschleunigen, zuderwirberufensind 47 •
Denn Schlegel erhob (1800) nicht nur den Begriff der Entwickelung zum Hauptbegriff
der Methode 48; auch die Welt selbst verstand er in den Vorlesungen, über „Die
Entwicklung der Philosophie" (1804/05) als eine Reihe von Entwicklungen, in welcher
der Mensch eine bestimmte Stufe einnimmt. Das letzte Ziel aller Weltentwicklung
sei die Wiedervereinigung mit der Gottheit, die Rückkehr zur verlornen Freiheit. Auf

u ERNST LUDWIG rosS'l!ll'..T, :1.iL. LUDWIG 8ALU.MU.N, Ueschichte des J)eutschen Zeitungs-
wesens, Bd. 2 (Oldenburg 1902), 39.
45 Vgl. ALBERT POETZSCH, Studien zur frühromantischen Politik und Geschichtsauffassung

(phil. Diss. Leipzig 1907). ,


46 NovALIS, Die Christenheit oder Europa, GW Bd. 3 (1968), 510.

47 F. SOHLE(Hlf,, sw Rd. 2 (1967), 322.

4R Ebd„ Bd. 12 (i964), 103.

212
m. 7. Sa\ligny und der llii;turismus Entwicklung

dieses Ziel sei auch die Geschichte ausgerichtet. Der Staat sei ein größeres sittliches
Individuum und habe die höhere Bestimmung, die Bildung und Entwicklung des
Menschengeschlechts mit befördern zu helfen49 •
Ilier wird eineEigenart mancher nachrevolutionärer Gestaltungen des Entwioklungs-
gedankens deutlich: Das historische und politische Bewußtsein war weniger an
Zuständen, sondern mehr an Veränderungen orientiert. Diese scheinbare Konzession
an die Revolution wurde aber dadurch neutralisiert, daß alle wesentlichen Ver-
änderungen dem planenden Handeln der Menschen prinzipiell entzogen blieben. So
konnte 'Entwicklung' zum Programmwort werden, das für die Haltung des Kon-
servativen im Angesicht der Revolution charakteristisch ist, weil es sowohl seine
ReRerven ihr gegenüber als auch seine Konzession an die durch sie geschaffene
Situation auszudrücken vermochte.

7. Savigny und der Historismus

Die begriffsgeschichtliche Situation ist dadurch charakterisiert, daß nun dem


Entwicklungsbegriff auch im historisch-politischen Bereich als Korrelat der Begriff
eines überindividuellen Substrates der Entwicklung zugeordnet wird, und zwar
derart, daß es nicht mehr eine bloße R.edeweiRe iRt, wenn mit solchen Entwick-
lungsträgern wie mit selbständig existierenden Wesenheiten operiert wird. Die
Annahme derartiger überindividueller und selbständiger Entwicklungsträger stand
in einem ausschließenden Gegensatz zu jeder Theorie, die Staat und Gesellschaft
durch Vertrag entstanden sein ließ. Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetr.ende
Aufschwung des Geschichtsstudiums erhielt durch das im Entwicklungsbegriff sich
ausdrückende Geschichtsbewußtsein seine besonderen Akzente: Nicht mehr auf
Fakten und Ereignisse, sondern auf di!! sich in der Zeit el'klir'eckemleu Zui:mlll111eu-
hänge, in die sie sich fügen lassen, konzentrierte sich das Interesse des Historikers.
Unversehens erhielten dabei aber diese Zusammenhänge den Rang von „eigent-
lichen" Tatsachen, gegenüber denen die Einzelereignisse nur epiphänomcnalen
Charakter besaßen. Das Geschichtsbewußtsein blieb jedenfalls fortan an den
Veränderungen als solchen orientiert. So ist es auch kein Zufall, daß zwecks Erklä-
rung dieser Veränderungen die Geschichte mehr und mehr mit gegenständlich
verstandenen, angeblich in ihr wirkernleu übel'individuellen „Kräften" ausgestattet
wurde, aus denen die Veränderungen erklärt werden sollten. Nur selten war sich
der Historiker über den rein hypothetischen Charakter solcher „Kräfte" im
klaren.
Die entscheidende Gestalt in der Geschichte des Entwicklungsbegriffs ist FRIEDRICH
ÜARL VON SAVIGNY; er verkörpert die Ideale des sogenannten Historismus am
reinsten 50; Die Historie war ihm nicht mehr bloß Beispielsammlung, sondern der
einzige Weg zur wahren Erkenntnis unsers eigenen Zustandes; denn jedes Zeitalter
eines Volkes sei als die Fortsetzung und Entwicklung aller vergangenen Zeiten zu

49Ebd., Bd. 13 (1964), 15. 142 ff.


50Wirkungsgeschichtlich am wichtigsten ist :;eiue gegen Thibaut gerichtete Programm-
schrift: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Heidelberg
1814); AhenRo rlaR programmatiRche Geleitwort „Ueber den Zweck dieser Zeitschrift",
Zs. f. geschichtliche Rechtswiss. 1 (1815), 1 ff.

213
Entwicklung m. 7. Savigny und der Historismus
denken 51 • Die Geschichte war bei Savigny, für den die Revolution bereits zu den
Vor11.11RRfltr.11ngen de.1:1 Denkens gehörte, eindeutiger noch als bei Herder nicht als
Raum von individuellen Handlungen und Entscheidungen, sondern als Bereich
eines überindividuellen Wachsens und Vergehens bestimmt; sie hatte aber kein
letztes Ziel und folgte auch keinem universellen Plan. Die Geschichte wurde hier zu
einer irreduziblen und eigengesetzlichen Wirklichkeit verdinglicht. Savigny ver-
wendet den Entwicklungsbegriff in einem emphatischen und programmatischen
Sinn; die reflexive Form des zugehörigen Verbums herrscht eindeutig vor, und die
noch bei Herder fast gleichrangig verwendeten Synonyme treten zurück. In der
historischen Rechtstheorie erhielt der Entwicklungsbegriff Funktionen, die denen
des Naturbegriffs im alten Naturrecht analog waren. Die auch hier beliebte Orien-
tierung an der organischen Entwicklung eines Lebewesens bestätigte, daß es sich
um einen Naturbegriff handelte, der Wandel und Veränderlichkeit nicht a111111cl1loß,
sondern in sich faßte.
Die Programmschrift von 1814 richtete sich gegen Thibaut und seine Forderung
nach einem kodifizierten Privatrecht; tnittelbar richtete sie sich gegen die Pri-
vatrechtskodifikationen in Preußen und Österreich, insbesondere aber gegen die
revolutionäre Neuschöpfung des Codecivil. Sie kritisierte das Geschichtsverständnis
der Aufklärungszeit und distanzierte sich vom PerfäktionRgedanken: Sinn und
Gefilhl für die Größe und Eigentümlichkeit anderer Zeiten, so wie für die natur-
gemäße Entwicklung der Völker und Verfassungen, also alles, was die Geschichte
heilsam und fruchtbar machen muß, war verloren: an die Stelle getreten war eine
grenzenlose Erwartung von der gegenwärtigen Zeit, die man keinesweges zu etwas
gr,rfr1{/r,rr,m hP.mfP.n gln.11.hfP., al.~ ?:11.r un'.rklir..he.n Darstellung e1'.ner absoluten Vollkommen-
heit. Darin sah Savigny aber nur bodenlosen Hochmut. Denn befragen müßten wir
die Geschichte, wie sich bei Völkern edler Stämme das Recht wirklich entwickelt hat. Die
Basis des Rechts sei, wie sich hierbei zeigte, die gemeinsame Überzeugung des Volkes,
das gleiche Gefühl innerer Notwendigkeit, welche.~ allen GPilanken an z~tfällige und
willkürliche Entstehung ausschließt. Das Recht sei, hierin ähnlich der Sprache,
derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen wüi jede andere Richtung des Volkes,
und auch diese Entwicklung 8teht unter dem„~r,lhP.n Gesetz innerer Notwendigkeit, wie
jene früheste Erscheinung. Das Recht wächst also mit dem Volke fort, bildet sich aus
mit diesem, und stirbt endlich ab, sowie das Volk se·ine E·igentüml·ichkeit verliert.
Recht sei seinem Wesen nach Gewohnheitsrecht und setze eine ganz ungestörte
einheimische Entwicklung voraus. Paradigmatisch war für Savigny das römische
Recht, welches eine ganz nationale, ungestörte Entwicklung gehabt hat. Denn für die
Römer gelte, daß das neue bloß zur Entwicklung des alten diente; so konnte sich bei
ihnen das Recht fast ganz von innen heraus bilden. Freilich stehe die neuere Zeit
unter anderen Bedingungen, denn es liege eine abgeschlossene nationale Entwicklung
wie die der Alten nicht auf dem Wege, welchen die Natur den neueren Völkern ange-
wiesen hat 52 •
Wenn sich Savigny hier auf die „Natur" berief, so geschah dies keineswegs beiläufig.
Der Begriff des Organismus, der für Savigny eine noch größere Bedeutung hatte als

61 S.A.VIGNY, Geleitwort, 4.
,62 Ders., Vom Beruf unserer Zeit, 4 f., 8. 11. 14. 28. 32 f. 38 f.

214
m. 7. Savipy und der Historismus Entwicklung

für Herder 33, gab den Leitfaden für die Deutung der historischen un<l. puliLi::ichen
Phänomene ab. So wie die Geschicht,e des Römischen Rechts bis zur klassischen Zeit
überall allmiihliche, völlig organische Entwicklung zeigte, wurden auch die anderen
überindividucllcn Erscheinungen als pflanzenhafte Organismen oder als deren
Glieder verstanden: In jedem organischen Wesen, also auch im Staate, beruht die
Gesundheit darauf, daß beides, das Ganze und jeder Teil, im Gleichgewicht stehe 54 • Es
bestehe ein „organischer" Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charak-
ter des Volkes; auch hierin war es der Sprache zu vergleichen. Daher betonte
Savigny nach dem Vorgang von Vico, Montesquieu, Herder und im Gegensatz zum
rationalistischen Naturrecht besonders die individuelle Eigenart und die Autonomie
der naturwüchsigen Völker. Diese Betonung der Autonomie und der eigentüm-
lichen Funktionen der Völker, wodurch sie selbst erst zu Individuen werden, führte
dazu, daß Savigny als Träger der Entwicklung nicht nur des Rechts, sondern auch
des Staates, der Kunst, der Sprache einen organologisch verstandenen Volksgeist
ansetzte und hypostasierte. Das Wort 'Volksgeist' - im Deutschen erstmals 1793
bei Hegel nachweisbar - kommt in Savignys gedruckten Schriftenerstverhältnis-
mäßig spät vor. Die mit diesem Wort assoziierten Vorstellungen finden sich unter
anderem Namen jedoch schon in den früheren Schriften (z.B. höhoro Natur des
Volkes, innerBteB Wesen der Nat1:on) 55 • Unter der Voraussetzung der Existenz eineR
derartigen substantiellen Entwicklungsträgers hatte die Verwendung organologi-
Roher Begriffe keine bloß metaphorischen Funktionen mehr, wie das beim tradi-
tionellen Lebensaltervergleich der Fall war.
Aus der Lehre vom Volksgeist folgen für den, cler 11.11fihrem Boden steht, bestimm-
te politische Konsequenzen und Forderungen: er lehnt äußere Eingriffe in das
Leben dieses Organismus grundsätzlich ab, weil dessen Entwicklungsgesetz
für ihn jeder plltnenden Beeinßus::iung euL:wgen it:1L. Einzelne gezielte, gleichsam
therapeutische Eingriffe sind zwar nicht ausgeschlossen; im ganzen kann die
Entwicklung beispielsweise des Rechts gleichwohl nicht willentlich geplant werden.
Savigny lehnte daher konsequent jeden Einfluß des Gesetzgebers und der staat-
lichen Autorität auf das Recht ab; der Jurist hatte eine wesentlich konservierende
Funktion, wenn ihm die Aufgabe zugesprochen wurde, das überkommene Recht
durch Fortentwicklung zu bewahren. Ist einmal in der allge?neinen Ansicht eine
bestimmte 'und lübl-idte R'iclttung S'iclttbar, so kann diese durch Gesetzgeh11,ng kräftig

53 Dieser Begriff wird gerne gegen die in der Aufklärung beliebten. Maschinen- bzw. Uhr-

werkmetaphern ausgespielt. Zur unmittelbaren Vorgeschichte des Begriffs des Organischen


in der Romantik ist Schellings Naturphilosophie von besonderer Bedeutung; vgl. WILHELM
METZGER, Die Epochen der Schellingschen Philosophie von 1795 bis 1802 (Heidelberg
1911), 85 ff. Viel beachtet wurde C.ARL FRIEDRICH v. KIELMEYERS 1793 vor der Karls-
schule in Stuttgart gehaltene Rede „Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter-
einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser
Verhältniße".
54 SAVIGNY, Vom Beruf unserer Zeit, 32. 42.
55 Zur Wirkungsgeschichte vgl. ERNST v. MOELLER, Die Entstehung des Dogmas von dem.

Ursprung des Rechts aus dem Volksgeist, Mitt. d. Inst. f. Österr. Geschichtsforsch. 30 (1909)
1 ff. ; HERMANN KANTOROWicz, Volksgeist und historische Rechtsschule, Hist. Zs. 108 (1912),
295 ff.

215
Entwieklun8 m. 7. SaTigny und der Hl11tnrl11mm1
·u•ttlersl'Ützt 'Werden, aber M'>''IJO'lgebracht wird sie durch diese nicht, und wo sie gänzlich
.fehlt, wird jeder Versuch einer erschöpfenden Gesetzgebung den gegenwärt1:uen Z11..~tmnil
nur noch schwankender machen und die Heilung erschweren56•
Der Mensch steht demnach immer unter der Herrschaft der Vergangenheit, mag
er dies wollen oder nicht. Denn es gibt einen unauflöslichen, organischen Zusammen~
hang der Geschlechter und Zeitalter, zwischen welchen nur Entwicklung, aber nicht
absolutes Ende und absoluter Anfang gedacht werden kann . . . Die Richtung der
Gedanken, die Fragen und Aufgaben werden auch da noch durch den vorhergehenden
Zustand bestimmt sein, und die Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart wird
sich auch da äußern können, wo sich die Gegenwart absichtlich der Vergangenheit
entgegensetzt 67 • Größere politische und soziale Veränderungen sind unter solchen
Voraussetzungen nur legitimiert, sofern sie langfristig verlaufen und kein möglicher
Gegenstand bewußten Handelns werden. Die historische und die politische Prognose
bekommt unter solchen Bedingungen _besondere Relevanz: sie stützt sich auf die
vorgebliche Einsicht in geschichtlich wirkende „Kräfte". So bleibt dem Entwick-
lungsbegriff fortan die Vorstellung geschichtlicher Triebkräfte zugeordnet.
Savignys Entwicklungsbegriff läßt sich der Sache nach als Ausdruck einer konser-
vativen Haltung verstehen, die sich auf die durch die Revolution geschaffenen
"Rf1dingungen einstellte und sich untflr ihnen zu behaupten suchte. Insofern Ver-
änderung in den politischen und ~ozialen Dingen grundsätzlich akzeptiert wurde,
handelte es sich beim Entwicklungsbegriff um eine Konzession des KonRflrvativen
an die mit dem Ausbruch der Revolution manifest gewordene Wandlung des
politischen BeWl1ßtf1eins. Insofern ein letztes Ziel der Veränderung aber ebensosehr
abgelehnt wurde wie die Möglichkeit, auf sie Einfluß zu nehmen, handelte flR Rinh
darum, konservative Positionen unter den neuen Bedingungen zu behaupten.
Bei Savigny habeu wir zum eri;Len Mal den Entwicklungsbegriff vor uns, der für
den sogenannten Historismus charakteristisch ist und bald eine unentbehrliche
Kategorie in allen sich mit der Geschichte befassenden Wissenschaften wurde, vor
allem auch in der Detailforschung. 'Entwicklung' meinte hier die in der Regel mit
Hilfe biologischer und organologischer Kategorien verstandene zeitliche Ver-
änderung überpersönlicher Gebilde, ohne daß damit die Annahme eines Endziels
oder die Annahme präformierter Anlagen präjudiziert wäre. Bei Savigny standen
'Fortschritt' und 'Entwicklung' in keinem Implikationsvcrhältnis; 'Entwicklung'
meinte hier nur eine stetige; unumkehrbare, ganzheitsbezogene und eigengesetzliche
Veränderung an einem überindividuellen, als beharrend gedachten Substrat. In
einem ähnlichen Sinn sprachen jene Historiker des 19. Jahrhunderts von Ent-
wicklung, die wie Ranke, Droysen, Burckhardt auf die Fortschrittsidee ebenso
wie auf die Organologie des Volksgeistgedankens in ihrer ursprünglichen Form
verzichteten. Hier hatte sich das Wort 'Entwicklung' im Gegensatz zu Herder oder
Savigny seiner metaphysischen Implikationen entledigt; es hatte vorwiegend
funktionale und kategoriale Bedeutung und wurde oft zu einem fast neutralen
Gebrauchswort der Geschichtsschreibung und der historischen Reflexion, der es
darum ging, historische Erscheinungen vnn innen heraus als sich entwickelnde
Individualitäten, eingebettet in einen Gesamtstrom der Entwicklung zu verstehen

se SAVIGNY, Vom Beruf unserer Zeit, 47.


57 Ebd„ 112 f.

216
m. 9. Spekulativer Idealismus; Hegel Entwicklung

(M.!!aNECKE) 58• 'Entwicklung', ursprünglich ein Hilfsbegriff historischen Verstehens,


war hier selbst zur eigentlichen historischen Wirklichkeit erhoben und bezeichnete
weniger ein Mittel, sondern vielmehr das Ziel der Erkenntnisbemühung des
Historikers.

8. Adam Müller

Die Restauration verwendete den Begriff 'Entwicklung' in einem Sinn, der an


Savigny erinnert. Ein zentrales Werk sind die 1809 erschienenen Vorlesungen
ADAM MÜLLERS über „Die Elemente der Staatskunst" 59 • In der Vorrede unternahm
es Müller gegenüber den Staatslehren der Aufklärungszeit die Idee des „Lebens"
und der „lebendigen Idee" auszuspielen; daher bemühte er sich um einen Kanon
vom Staate, wekher der Geschichte entnommen ist. Von hier aus gesehen konnte die
Staatengeschichte als die Entwickelung der Mi/3griffe, deren sich die Menschen in
Entwerfung der Gesetze haben zu Schulden kommen lassen, erscheinen. Die organo-
logischen Grundlagen Müllers werden vor allem in seiner Abgrenzung gegen
Montesquieu, den er als irreligiös tadelte und dessen Gewaltenteilungslehre er
kritisierte, deutlich: Was Montesquieu Übersehe, sei die Geschichte des lebendigen
Gesetzes. Es komme in der Staatskunst darauf an, die Geschichte des Gesetzes selbst
z1t k.ennen, da die Gesetze immer nur allmählich im Laufe der Zeü ent1Jtelten und
nie vollendet sind . .Aufgabe der Staatskunst sei es aber, dafür zu sorgen, daß das
Gesetz auf eine naturgemäße Weise seiner Entstehung gemäß fortlebe, sich immer
mehr entwickele und reinige. Daher habe ilie Gesetzgebung eine permanente Funktion:
Völker und Gesetze bilden sich immer und allenthalben gegenseitig. Die wahre Staats-
kun13t könne diese Entwicklung weder planen noch beherrschen. Sie habe nur ilie
Aufgabe, diese Entwicklung des StaatsorganiBmuß zu erkennen und aus dimior
Erkenntnis die Maßstäbe für das politische ~andeln zu gewinnen; die Staats-
wissenschaft verfehle ihren Gegenstand, wenn sie ihn nicht in seiner Bewegung
auffaßte.
Stark von Müller beeinflußt ist die Sozialphilosophie von FRANZ VON BAADER, die
auf dem Antagonismus von Evolution und Revolution aufgebaut war. Man ver-
gleiche besonders seine Schrift von 1834: „Über den Evolutionismus und Revo-
lutionismus"60, Baader hat den Entwicklungsbegriff auch theologisch, nämlich im
heilsgeschichtlichen Sinn fruchtbar gemacht.

9. Spekulativer Idealismus; Hegel

Nicht eindeutig einzuordnen sind die spekulativen Systeme der Philosophie des
deutschen Idealismus. Hier wurde versucht, das Ganze der Wirklichkeit ebenso wie
die Erscheinungen des Bewußtseins von einem einheitlichen Prinzip aus zu ver-

nR FmEDRIOII MEINEOKE, Aphorismen, Werke, hg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs, Walter
Hofer, Bd. 4 (Stuttgart 1959), 240.
59 ADAM MÜLLER, Die Elemente der i:ltaatskunst, hg. v. Jakob .Haxa, .Hd. l (Jena Hl22),
IX. Xlff. 9.
6 ° FRA.NZ v. BAADE.R, Ueber den Evulutiunitilllus w1d RevoluLionismus oder die positive

und negative Evolution des Lebens überhaupt 1md des socialen Lebens insbesond1m1,
SW Rn. fi _(18fl4), 73 ff.

217
Entwicklung IIL 9. Spekulativer ldealliimus; Hegel

stehen. Dabei leistete der Entwicklungsbegriff nicht nur in der ll-eschichtsphilo-


sophie und in der politischen Theorie nützliche Dienste.
ScHELLING, der im übrigen stark auf Savigny gewirkt hat, versuchte in seinen
zahlreichen spekulativen Entwürfen, die Wirklichkeit als Darstellung eines Ab-
soluten, das zugleich oberstes Prinzip und oberste Realität sein sollte, zu verstehen;
dabei war es oft der Begriff der Entwicklung, der den Zusammenhang zwischen den
einzelnen Teilen des Systems stiftete: Alles, was in der Wirklichkeit vorkommt, ist
nur Entwickelung einer absoluten Vernunft (1798) 61 • Dies galt für den Bereich der
Natur ebenso wie für den Bereich der Geschichte, der seit 1800 („System des
transzendentalen Idealismus") ein immer größeres Gewicht bei Schelling erhielt.
Dieses kosmische Drama der Selbstentfaltung des Absoluten hatte die vollendete
Offenbarung Gottes zum Ziel; alle politischen Institutionen und Herrschaftsformen
hatten ihren Stellenwert nur in dieser Entwicklungsreihe.
FICHTE hat seine konstruktive Geschichtstheorie am ausführlichsten in der Schrift
„Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" (1804) dargestellt. Die Geschichte
erscheint hier als. eine Entwicklung des Menschengeschlechts, die in fünf großen
Epochen aus einem Naturzustand zur vollkommenen Vereinigung von Vernunft
und Freiheit führte. Der Geschichtsforscher, der be'i, e'inern solchen Gegenstande nicht
sogar der Erfahrung vorzugreifen, und die noch ermangelnde durch Vorhersehung,
rwiUelst des Gesetzes der nienschlidien Entw-icklung überliaupt, Z'U ersetzen weiß, hat
nur Bruchstücke in seiner Hand. Denn flA gelt.e der Satz, daß große Weltbegebenheiten
nur äußerst langsam sich entwickeln. Der Zusammenhang des Geschichtsverlaufs,
dessen Tiefpunkt Fichte in seiner umnittelbaren Gegenwart lokalisierte, wurde
durch das wahrhaft entwickelnde Prinzip unsrer ganzen Geschichte gestiftet; dies war
aber die Vervollkommnung der Waffen und die Verfertigung zweckmäßiger oder ne•uer
Mordwe•rkwuge aus .Metallen°D.
Auch bei HEGEL hatte der Entwicklungsbegriff die Funktion, Zusammenhang
zwischen einzelnen Teilen des philosophischen Systems zu stiften: Die Vernunft
entwickelt sich, indem sie versucht, über die Stufen des abstrakten Gedankens,
der Natur und des Geistes zu sich selbst zu kommen und sich ihrer selbst bewußt zu
werden. Wichtig wurde auch Hegels Begriff des „objektiven Geistes". Unter ihm
werden ~'ormationen wie Recht, Familie, Gesellschaft, Staat zusammengefaßt, die
sich nicht auf die Gesamtheit der sie konstituierenden Individuen reduzieren lassen;
für sie gelten Strukturgesetze, die nicht allein aus dem bewußten Planen und
Handeln der Individuen ableitbar sind, wenngleich sie in ihrer Existenz auf das
Bewußtsein und den Willen von Individuen angewiesen bleiben.
Hegel untersuchte den Begriff der Entwicklung an verschiedenen Stellen; für ihn
war Entwicklung schon eine bekannte Vorstellung, sie war etwas, von dem jeder
meint, er wisse es schon. Doch gerade die Untersuchung solcher allbekannter Vor-
stellungen ist das Eigentümliche der Philosophie 63 • Hegel legte seiner Untersuchung
das Begriffspaar 'Vermögen' (potentia, Ansichsein) und 'Wirklichkeit' (actus,
~'ürsichsein) zugrunde: bei jeder Entwicklung müssen diese zwei Zustände unter-

61 SCHELLING, Über Offenbarung und Volksunterricht, Werke, Bd. l (Ndr.1958), 405.


62 J. G. FICHTE, sw Bd. 7 (1846), 185 f. 173.
63 G. W. F. HEGEL, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, hg. v. Johunncs Hoff-

meister, 3. Aufl. (Hamburg 1959), 101.

218
m. 9. Spekulativer Idealismus; Hegel Enlw iclJung

schieden werden. Wenn sich etwas, das als Anlage vorhande!). war, entwickele,
verwirkliche es sich selbst und mache sich für sich zu dem, was es an sich schon
sei. Verschiedene Stadien einer Entwicklung unterscheiden sich daher nicht durch
ihren Inhalt:. Es kommt kein neuer 1nhalt heraus. Der Unterschied liegt, zumal bei der
geschichtlichen Entwicklung, allein in der Form: doch ist diese Form ein ungeheurer
Unterschied. Auf diesen Unterschied kommt der ganze Unterschied in der Welt-
geschichte an 64 • Wenn Hegel nun auch nicht abgeneigt war, auch den Begriff der
geschichtlichen Entwicklung an Hand biologischer Beispiele (z.B. Keim und
Pflanze) zu erläutern, so hatten doch alle Analogien zwischen natürlicher und
geschichtlicher Entwicklung ihre Grenzen. Die Entwickelung, die in der Natur ein
ruhiges Hervorgehen ist, ist im Geist ein harter unendlicher Kampf gegen sich selbst.
In der Geschichte ist die Entwicklung nicht das harm- und kampflose bloße Hervor-
gehen, wip, düi des organischen Lebens, sondern die harte, unwillige Arbeit gegen sich
selbst 65 • Hegel hat in seiner Sprache das Ziel aller Entwicklung in der Welt als
Zusichkommen des Geistes bezeichnet; es bestehe darin, daß der Geist sich erkenne,
sich sich selber gegenständlich mache; im Bereich der Geschichte war damit der
Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit 66 gemeint: Freiheit ist zu ihrer Verwirk-
lichung dar11.11f angewiesen, daß sie bewußt wird. Frei ist man nur imiofern, ahi
man auch von 1:1einer FrAihAit. weiß. Da,rfri l-iegt der große Unterschied, daß der
MP-nsch wei/J, was er ist; erst dann ist er es wirklich. Ohne dies· ist die Vernunft, d'ie
l!'reiheit nichts. Dieses Bewußtsein bedurfte zu seiner Verwirklic11ung der Geschichte.
Der ganze Unterschied zwischen den orientalischen Völkern und den Völkern, wo keine
Sklaverei herrscht, ist, daß diese wissen, daß sie frei sind, daß es für sie ist, frei zu
ooin. J ono sind es auch an sich, a.ber s1'.e existÜ>.rPm. nü:ht nl.~ fre1: 67 • Diesen notwendig
durch das Bewußtsein zu vermittelnden Fortschritt bezeichnete Hegel auch als
'Entwicklung' 68 • Der Gedanke des Fortschritts im .Hewußtsein der Freiheit gab
das Gerüst seiner Geschichtsphilosophie ab: In den orientalischen Reichen war nur
einer frei, nämlich der DeRpot.; bei den Griechen und Römern waren einige frei,
doch ihnen standen unfreie Sklaven gegenüber; erst das Christentum verkündete,
daß alle Menschen frei seien und formulierte damit das Prinzip der germanischen
oder europäischen Welt, in der alle Menschen frei sind und sich frei wissen.
Hegel bezog also das Bewußtsein in seine Geschichtskonstruktion. ein; bewußtes
individuelles Handeln und Geschichtsverlauf stehen sich trotz der Annahme einer
universalen Entwicklung nicht mehr disparat gegenüber, sondern sind durch-
einander -vermittelt, freilich nicht im Sinne einer einfachen Härmonie. Die Hand-
lungen der Individuen haben nicht die Ileförderung der allgemeinen Entwicklung
zum Ziel. Trotzdem bleibt die Entwicklung auf solche Handlungen angewiesen.
Daher kommt dem Individuum ein unreduzierbarer Eigenwert zu und ein Recht, sei-
ne Bedürfnisse zu befriedigen. Hegel benützte bei der Erörterung dieser Zusammen-

64 Ders., SW Bd. 17 (1928), 49 ff. Die Stellen aus Vorlesungen Hegels sind nicht genau

datierbar; sie entstammen zumeist Kollegs, die Hegel zwischen 1818 und 1831 in Berlin
gehalten hat.
65 Ders., SW 'Rd. 11 (1928), 90 f.
66 Ebd., Bd. 17, 52; Bd. 11, 46.
67 Ders„ Geschicht.e der Philo8ophle, 104 f,

es Ders., SW Bd. 11, 92.

219
En~wicklung W. 10. Vormärz

hänge gerne die Metapher des „Weltgeistes". Was dieser Ausdruck meint, ist strit-
tig; keinesfalls bezeichnet er nur den nach Art des romantischen Volksgeistes
konzipierten Träger einer organisch ablaufenden Entwicklung, die durch bewußtes
Handeln nur gestört werden könnte. Einer solchen Deutung kam Hegel mit seiner
Lehre von der „List der Vernunft" zuvor: Die Vernunft stelle das bewußte und
oft revolutionäre Wollen der Menschen, insbesondere das der „welthistorischen
Individuen" in ihren Dienst; gerade dadurch, daß die Individuen ihre persönlichen
Ziele zu verfolgen glauben und auch wirklich verfolgen, treiben sie die Entwick-
lung voran. Die historische Entwicklung kann also auch durch den gefördert
werden, der ihr entgegenarbeiten will. Die Eigenart von Hegels Geschichts-
theorie, insbesondere ihr Freiheitsbegriff, verbietet eine Einbeziehung der Zukunft
in die Theorie; so sprach Hegel immer nur von vergangenen und gegenwärtigen
Sachverhalten als Resultaten der Entwicklung.
Hegels dialektischer Entwicklungsbegriff entzieht sich einer eindeutigen politischen
Einordnung. So ist es verständlich, daß es immer erst einseitige und abstrahierende
Deutungen der Philosophie Hegels waren, die ihr Bild politisch fixierten. Man kann
Hegel, je nach dem Gewicht, das man einzelnen abstrahierten Momenten seiner
Entwicklungslehre beilegt, sowohl für die Restauration als auch für die Revolution
in Anspruch nehmen. Seiner eigenen Intention nach handelte es sich jedoch bei
seiner Lehre um eine reine Theorie, der kein bestimmter politischer Wille zugeordnet
war. Hegel nahm .zwar, im GegensaL1. !l.ur meLaphysfachen Trndition, die Geschichte
mit itll ihrer wirklichen und scheinbaren Kontingenz so ernst, daß die Philosophie
bei ihm so zugleich zur Theorie ihrer Zeit werden konnte. Für diese Zeit kommt sie
aber immer zu spät, als daß sie nor.h 1mmit,tAlh11.rP. politische Relevanz haben
könnte.
Hegels Verdienst blieb es somit, nicht nur einen ~ntwicklungsbegri:ff vorgARr.h faeAn
zu haben, der nicht mehr von dem in der biologischen Diskussion geprägten organo-
logischen Entwicklungsbegriff abhängig war und daher als erster rein geschichtlicher
Entwicklungsbegriff angesehen werden kann, sondern diesen Entwicklungsbegriff
auch zum Gegenstand einer ausführlichen theoretischen Begriffsanalyse gemacht zu
haben.

10. Vormärz

Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Entwicklungsbegriff
immer häufiger verwendet. Die unterschiedlichsten Autornn wie Görres und
Schleiermacher, E. M. Arndt und Bruno Bauer, Carus und L. von Stein, H. Heine
und F. List machten von ihm Gebrauch und artikulierten mit seiner Hilfe die
unterschiedlichsten Vorstellungen und Ziele. Spätestens in der Mitte des 19. Jahr-
hunderts wurde er zu einem der gängigsten Begriffe, in denen sich das politische
und historische Bewußtsein ausdrückte. So konnte das Wort bald im Anschluß an
Savigny verwendet werden, und zwar auch dort, wo man seine metaphysischen
Voraussetzungen (Volksgeist) nicht akzeptierte; es konnte aber auch so gebraucht
werden, daß ihm alle Funktionen eines universalen Fortschrittsbegriffs abverlangt
wurden. Unter diesen Voraussetzungen hielten es nicht nur Kunservati ve für akzepta-
bel, sondP-rn Vertreter der verschiedensten politischen Richtungen. Charakteristisch
für diP-Rlln politisch praktikablen und nicht voll priizisicrbaren Entwicklungs-

220
m. 10. Vormäni Entwicklung

begriff war, daß die jeweils behauptete Entwicklung als ein notwendiges und unaus-
weichliches Geschehen hingestellt wurde, gegen das anzugehen zwecklos wäre.
Schon im Vormärz wurde somit der heutige Sprachgebrauch vorbereitet, der es
jeder politischen Richtung erlaubt, sich bei der Verfolgung ihrer Ziele auf eine
vermeintlich objektive Entwicklung zu beziehen69 •
MosEs HESS verwendete den Entwicklungsbegriff im Sinne der Idee eines univer-
salen Fortschritts. Er sprach 1837 beispielsweise davon, daß sich die Menschheit,
wie jedes Ding in der Natur, nach einem ewigen, notwendigen Gesetze entwickle. Der
Unterschied zwischen der Entwicklung des Menschen und der der anderen Lebe-
wesen lag für ihn darin, daß der Mensch das einzige Wesen unseres Planeten ist,
wekhes noch in seiner Entwicklungsgeschichte begriffen ist ... Die Menschheit ist
aber eben im Begriffe, aus der ersten Entwicklungsart, aus ihrer Entstehungs-
geschichte, in die zweite, zur Selbsttätigkeit, überzugehen (1845). Das Ziel dieser Ent-
wicklung sei die Organisation der Menschheit als einer selbstbewußten Gattung.
Dem Staat bleibe die Aufgabe, solche Entwicklung zu befördern. Politisch ergebe
sich daher nur die Alternative, entweder das, was· sich ohnehin nicht verhindern
ließ, zu unterstützen, oder aber abseits zu stehen 70 •
Andererseits konnte 'Entwicklung' auch zu einem Leitbegriff dei> Kuui>ervaLiviHlllUH
unter den Bedingungen der nachrevolutionären Zeit werden. Man glaubte, revo-
lutionären Ideen zuvorzukommen und sie gleichsam entsohiirfen zu können, wenn
man im Begriff 'Entwicklung' die Notwendigkeit von Wandel und Veränderung
grundsätzlich zwar akzeptierte, sie gleichzeitig aber zu möglichen Momenten der
Bewahrung und Erhaltung umdeutete. Chara.kteristisch hierfür ist eine Rede von
KLEIST-RETZOW, mit der er die altständische Patrimonialgerichtsbarkeit zu retten
suchte (184 7): Kein Institut kann sich erhalten, ohne sich zu entwickeln; das ist kein
rechter Konser'vali'ver, der n'ie'11Utls wuch sulvlw Ände-i"ungen n·iolit will, die ve1·besse1·n,
sondern der, welcher die Entwicklung und Entfaltung auch der alten Wurzel anstrebt.
Die Folge des Gegenteils wird dann revolutionäres Abtun des Ganzen mit der Wurzel 71 •
Wie die von der Zeit geforderte Entwicklung auch anders gedeutet werden konnte,
zeigt der ostpreußische Oberpräsident THEODOR VON ScHÖN, wenn er 1840 durch
eine Verfassungsreform die Rechte des Preußischen Landtags gegenüber der
Beamtenschat't erweitert wissen wollte. Diese Bemühung richtete sich mitnichten
gegen den Suwvem·in; wohl aber gegen die Werkzeuge des Gmwernement.~, wekhe die Oul-
turentwickelung im Volke hemmen, das Volk in Unmündigkeit festhalten wollen. Diese
Zeit der Unmündigkeit sei aber endgültig vergangen. Wenn man die Zeit nicht
nimmt, wie sie ist, und das Gitte daraits ergreift und es in sefr1.er Rntwü:kefong fördert,
dann straft die Zeit 72 •
Gleichwohl blieben die quietistischen Komponenten des .b:ntwicklungsbegriffs
vorherrschend. Vor deren zu einseitiger Betonung glaubte selbst ein Konservativer
69 Viele Belege bei KARL MöcKEL, Der Gedanke der Menschheitsentwickelung im Jungen

Deutschland (phil. Diss. Leipzig 1916).


70 MOSES HEss, Philosophische und sozialistische Schriften (1837-1850), hg. v. Auguste

Cornu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961), 17; ders., Fortschritt und Entwicklung(l845),
ebd., 282f. ·
71 HAN!:! HuGo v. KLEIST-RETZOW, zit. HERMAN v. PETERSDORFF, Kleist-Retzow. Ein

Leben8bild (Stuttgart, Berlin 1907), 90.


72 Ä1rn den Papieren des Ministers ... THEODOR VON SCHÖN, Bd. 3 (Berlin 1876), 236. 239.

221
Entwicklung m.11.Mon

wie EMANUEL GEIBEL warnen zu müssen: Die Zeit zum Handeln jedesmal verpassen, /
Nennt ihr: die Dinge sich entwickeln lassen. / Was hat sich dann entwickelt, sagt mir
an, /Das man zur rechten Stunde nicht getan? 73 Hier wurden die Annahme des
Entwicklungsgedankens und die Bereitschaft zur politischen Aktion_ in ein antago-
nistisches Verhältnis zueinander gebracht. .
Auf der Annahme eines ähnlichen, wenn auch anders bewerteten Antagonismus
basierte die Gedankenwelt des Altliberalismus. Er wollte ein bewußt planendes
Handeln des Menschen grundsätzlich nur für den privaten Bereich .zulassen und
mußte darauf hoffen, daß durch dieses individuelle Plaµen gleichsam automatisch
eine allgemeine Entwicklung befördert wurde, die aber als solche kein möglicher
Gegenstand menschlichen Planens, vor allem kein unmittelbares Objekt eines
staatlich-politischen WollflnR war. nie Entwicklungsvorstellung· war hier so kon-
zipiert, daß ihre quietistischen Konsequenzen allein die staatliche Gewalt betrafen;
private Initiative wurde dadurch nicht nu'r nicht ausgeschlossen, sondern im
Gegenteil sogar geradezu legitimiert.

11.Marx
MARX nimmt in der Geschichte des Entwicklungsbegriffs eine Schlüsselstellung ein.
,Er l!euutzt Hegels Denkmittel, nm eiMn Ent.winkhmgsbegriff zu konzipieren, der
nicht nur von quietistischen Implikationen frei war, sondern sogar, prononciert
verwendet, planmäßig als Mittel und Werkzeug politischen Wollens eingesetzt
werden konnte. Hier wurde manifest, welche ideologischen und prognostischen
Funktionen diesem Begriff zuwachsen konnten: Die Behauptung der Notwendig-
keit einer Entwicklung konnte zugleich das Ziel verfolgen, diese Entwicklung erst
in Gang zu bringen, zu steuern oder zu befördern.
Marx erklärte die Geschichte als eine Entwicklung, die nach unumstößlichen, den
Naturgesetzen vergleichbaren Regeln verlaufe. Ihr Kern ist die Sozialgeschichte.
Alle politischen Institutionen und sozialen Formationen sowie alle Objektivationen
der Kultur sind nur vorübergehende Ergebnisse dieser durch die Dialektik von
Produktivkräften und Produkti.onsverhältnissen bestimmten Entwicklung. Vor-
bereitet in den frühen Schriften und l!1ntwürfen, wurde dieser Entwicklungs-
begriff erRtmalR in dem von Marx gemeinsam mit ENGELS abgefaßten „Manifest der
Kommunistißchen Partei" (1848) exponiert. Es sprach von der Entwicklung des
revolutionären Elements in der zerfallenden feudalen Gesellschaft, der ersten
Elemente der Bourgeoisie, des Handels, der Schiffahrt, der Produktions- und
Verkehrsmittel, der Produktivkräfte, des Kapitals, des Proletariats, der modernen
lndust.rie, der Zivilisation, des Klassengegensatzes, des Klassenkampfes; es entwarf
schließlich als Zukunftshoffnung einen Zustand, in dem die freie Entwicklung eines
jeden die freie Entwicklung aller bedingte. Entscheidend für die Begriffsgeschichte
ist, daß sich 'Entwicklung' und 'Revolution' bei Marx nicht mehr ausschlossen; die
Voraussetzung, daß alle geschichtliche Entwicklung auf Klassengegensätzen
beruhte, machte es möglich, von 'revolutionärer Entwicklung' zu sprechen. So hat

79 EMANUEL GEIBEL, GW 4. Aufl„ Bd. 4 (Stuttgart, Berlin 1006), 00 (nicht genau datierbar;

vermutlich um 1848). ~Diese Verse wurden von FRIEDRICH MEINECKE für Goethe in
Anspruch genommen; Die Entstehung des Historismus, Werke, Bd. 3 (München 1959), 561.

222
m. n. Marx Entwiekluns

die moderne Bourgeoisie in der Geschichte eine höchst revolutioniire Rolle gespielt. Sie
war aber selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Um-
wälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise 74 • Revolutionen sind also keine
Störungen, sondern markante Manifestationen einer umfassenden Entwicklung.
Auch im „Kapital" und in den anderen Schriften nach 1848 machte Marx von dem
·so akzentuierten Entwicklungsbegriff in extensivster Weise Gebrauch. Bezeichnend
ist, daß der historische Entwicklungsbegriff, der sich auf dem Weg von Herder zu
Marx immer weiter von seiner naturgeschichtlich-biologischen Herkunft entfernt
hatte, bei F. Engels schließlich das Vorbild für die K9nzeption einer neuen Vor-
stellung von der Entwicklung in der Natur abgab.
Die historische Entwicklung blieb auf das bewußte Handeln aller Beteiligten
angewiesen; sie beförderten dadurch, daß sie ihre Interessen verfolgten, nur diese
allgemeine Entwicklung. Deren Gesetzlichkeit und Zwangsläufigkeit blieb ihnen
aber zumeist verborgen; sie hatten von dieser Entwicklung, wie von der sozialen
Wirklichkeit überhaupt, ein wohl von dieser Wirklichkeit determiniertes, aber
falsches, die wahren Sachzusammenhänge umdeutend~s Bewußtsein; es blieb
sowohl als Wirkfaktor wie auch als Produkt in diese Entwicklung verflochten. Die
adäquate Einsicht in diese Zusammenh!ingc wiru Ju.1111 eine VurausseLzuug zu ihrer
endgültigen Beseitigung. Nach der Lehre des Manifests haben ilie Kommunisten
theoretisclt 'Vor der übrigen Masso dos Prolotariats die Einsicht in die Bedingungen, den
Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus 75 • Daher
braucht die Einsicht in die allgemeine Entwicklungsgesetzlichkeit die revolutio-
näre Aktivität nicht auszuschließen. Die Entwicklung zur endzeitlichen klassen-
losen Gesellschaft, in der jede Herrschaft von Menschen übe:r Menschen beseitigt
ist, bedarf dieser Einsicht sogar gerade deshalb, weil nur durch ihre Vermittlung
die revuluLiuuii.reu KräfLe lies Proletariats entbunden werden können, die zur
Verwirklichung des Zieles nötig sind. So kann sich der Revolutionär selbst als
Vollstrecker eines allgemeinen Entwicklungsgesetzes verstehen. Besonders diese
Seite des Marxschen Entwicklungsbegriffs wurde in der an seinen Namen sich
anschließenden Bewegung immer wieder betont; revisionistische Formen marxi-
stischer Theorie dagegen sind dadurch gekennzeichnet, daß· sie di.e Notwendigkeit
revolutionärer Aktionen nicht anerkennen und die endzeitliche klassenlose
Gesellschaft als ein schließlich von 11elbst eintretendes Resultat der allgemeinen
historischen Entwicklung erwarten. Wenn man diesen Gegensatz richtig bewerten
will, muß man berücksichtigen, daß· aus taktischen Gründen auch der orthodoxe
Marxismus oftmals revisionistische Vor11tellungen iibernimmt 76 • Der Marxismus
unternimmt so den Versuch, die in der Konsequenz der Französischen R<:lvolution
bewußt gewordene Bewegung und Hntwicklung der politischen und sozialen Ver-
hältnisse durch eine auf sie gerichtete Planung einzuholen und zu beherrschen.
Planung und Entwicklung sind für den Marxisten keine Gegensätze mehr.
Mit Marx sind alle wesentlichen Typen der Gestaltungen des Entwicklungsbegriffs

74 MAJJ.x/ENG!f.LS, Kommunistisches
Manifest (1848), MEW Ild. 4 (1959), 464.
76Ebd., 474. '
76 Evolutionäres Denken tritt andererseits, wie sich leicht zeigen läßt, auch unter den

Bedingungen deR naohriwolutionären Zustandes wieder in den Vordergrund. Der geglückten


Revolution folgt der Evolutionismus auf dem Fuß.

223
Entwicklung IV. Ausblick

festgelegt, wie sie das Bewußtsein von den politischen Dingen bis heute bestimmen.
Spätestens seit Marx gehört aber auch der Begriff 'Entwicklung' nicht mehr nur in
die Sphäre theoretischer Reflexion, sondern zugleich in die Sphäre des bewußten
politischen Handelns.

IV. Ausblick
Dem Entwicklungsbegriff, wie er etwa ab 1850 bis in unsere Gegenwart von den
unterschiedlichsten politischen Richtungen benutzt wird, ist es eigentümlich
geblieben, daß ihm ideologische Funktionen abverlangt werden. Dies zeigt sich
daran, daß sich Forderungen und Ziele eines politischen Wollens gerne hinter
formellen Tatsachenbehauptungen über die Existenz geschichtlicher Entwicklung
verbergen; dieser Zusammenhang braucht dem; der den Entwicklungsbegriff
verwendet, nicht bewußt zu sein und ist es in der Regel auch gar nicht. Oft
wird eine langfristige Entwicklung prognostiziert; man orientiert sich an ihr,
indem man versllcht, 11r.inP. P.igr.nP.n Ziele durc.hzusetzen als etwas, das ohnohin in
der Linie der sehr oft als unaufhaltsam behaupteten historischen Entwicklung liege;
entsprechend wurde eigenes Versagen gerne durch die 'Obermacht einer entgegen-
stehenden Entwicklung entschuldigt. So liefert der Entwicklungsbegriff einen der
gebräuchlichsten Topoi der politischen Diskussion: das eigene Handeln wird oft
damit motiviert, daß es eine objektiv hAstehende Entwicklung nur vollstrecke,
unterstütze oder wenigstens kanalisiere; das Handeln des Gegners soll dagegen
durch den Hinweis darauf, daß es dieser objektiven Entwicklung keine Rechnung
trage und daher von ihr ohnehin überrollt werde, neutralisiert werden. Diese
Entwicklung als vermeinte objektive Wirklichkeit, an der sich politisches Handeln
orientiert und die es in seinen Kalkül einbezieht, ist nicht mehr an der Vorstellung
einer statischen, von Natur, Vernunft oder göttlichem Schöpferwillen sanktionierten
Sozialordnung orientiert oder auf sie bezogen. Sie wird vielmehr als ein objektives,
einer Rechtfertigung oder Begründung weder fähiges noch bedürftiges Geschehen
in einer Welt angesehen, die ihrem Wesen nach ständig in Bew~gung ist. Der
politisch Handelnde verstand und versteht sich oft zugleich als RAoba.chter dieser
Entwicklung, die zu analysieren und deren Prognose zu stellen er bestrebt ist, um die
für sein Eingreifen günstigen Umstände zu bestimmen. Er kann mit seinem Han-
deln dieser Entwicklung gerecht werden, er kann sie aber auch verfehlen. So kommt
der Entwicklungsgedanke dem anscheinend allgemein-menschlichen Bedürfnis
entgegen, dem Faktisohen die Würde des Notwendigen zu verleihen.
Gute Beispiele finden sich schon in Äußerungen BISMARCKS. Ein willkürliches, nur
nach subjektiven Gründen bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung der Geschichte
hat immer nur das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt; und daß die deutsche
Einheit in diesem Augenblicke keine reife Frucht ist, fällt in die Augen (1869). Man
kann Geschichte überhaupt nicht machen, aber man kann aus ihr lernen, wie man das
politische Leben eines großen Volkes seiner Entwicklung und seiner historischen
Bestimmung entsprechend zu leiten hat (1892)7 7 •

n Abgedr. in: Bismarck und der St1111t. Ausgewählte Dokumente, hg. v. IlANS RoTHFELS,
3. Aufl. (Darmstadt 1958), 50. 86.

224
IV. Ausblick Entwicklung

Im Umkreis des Entwicklungsbegriffs hat sich eine Reihe von Hilfsbegriffen gebil-
det. Sie haben ähnliche Funktionen wie der Entwicklungsbegriff und vermögen den
mit ihm gemeinten Sachverhalt auf unterschiedliche Weise zu akzentuieren. So beruft
man sich gerne auf objektiv gegebene 'Trends', 'Triebkräfte', 'Strömungen' oder
'Tendenzen', in denen man dann das Wesen der historischen, politischen und sozialen
Wirklichkeit sieht und nach denen man sein Handeln ausrichtet. Daß derartigen
verdinglichten Trends oder Tendenzen nicht selbst wieder ein hypostasierter Träger
unterschoben wird, beeinträchtigt die Praktikabilität dieser Begriffe durchaus nicht,
sondern steigert sie eher noch. Die von diesen Begriffen Gebrauch machende Rede
sucht ihre Zuflucht freilich oft in Leerformeln, deren Bedeutung dann allein aus
den okkasionellen Umständen erhellt, unter denen sie angewendet und von denen
sie mit Inhalt erfüllt werden. Hieraus resultiert die Anfälligkeit, die diese Begriffe
Ideologien gegenüber zeigen. Gleichwohl drückt sich in der Verwendung solcher
Wörter regelmäßig ein Geschichtsverständnis aus, für das die grundsätzlich immer
in Bewegung befindliche politisch-soziale Welt durch derartige überpersönliche
Kräfte gelenkt wird. Dem entspricht, daß sich politische Gruppierungen nun als
,,Bewegungen'' verstehen können.
Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab drang der Entwicklungsbegri:ffimmer
weiter in die verschiedensten Lebens- und Sprachbereiche ein. Schon 1860 findet
man in der „Enzyklopädie des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens" unter
dem Stichwort 'Entwicklung' die Feststellung: Man trägt diesen BegriU fast auf
alles über, was der Mensch nur irgend kennt und hat 78 , und RUDOLF EucKEN bemerkte
1878, das Wort sei schon so abgenutzt, daß es in der Wissenschaµ, abgesehen von
genau bestimmten Gebieten, fast unverwendbar geworden ist79 • Unter diesen Umstän-
den wurde das Wort 'Entwicklung' auch in der Trivialsprache heimisch. Von nun
an ist es weniger die begriffsgeschichtliche Analyse, die den Schicksalen des Wortes
noch nachspüren könnte, sondern die Sprachstatistik und die Wortfeldforschung.
Wenn das Wort 'Entwicklung' trotzdem im gehobenen allgemeinen Sprachge-
brauch ebenso wie in der Sprache der Politik zeitweilig zu einem Programmwort
werden konnte, so ist dies nicht ohne den von biologischen Theorien ausgeübten
Einfluß zu verstehen. Dies betrifft vor allem die Dezendenztheorie und die Selek-
tionstheorie DARWINS {„On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or
the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life", 1859). Der Gedanke,
den Entwicklungsbegriff nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf die Art
und sogar auf das ganze Tierreich anzuwenden, war als solcher zwar nicht neu,
sondern kannte manche Vorläufer (z.B. Lamarck, Schelling, Oken, Baer, Saint
Hilaire); Darwins Lehre von der natürlichen Auslese war jedoch die erste phylo-
genetische Entwicklungstheorie, die den Gang der Entwicklung nicht mehr mit
der Annahme verborgener Kräfte erklärte, sondern sich auf den Bereich empirisch
nachprüfbarer Behauptungen zu beschränken suchte. Für die Breitenwirkung, die
Darwins Theorien, in Deutschland vor allem nach ihrer Verallgemeinerung und
Popularisierung durch HAECKEL80, ausübten, gibt es in der neueren Wissenschafts-

78 SCHMID Bd. 2 (1860), 130.


79 Runorn EuoKEN, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart (Leipzig
1878), 134.
80 Seit. ERNST HAEOKF.r., Na.türliche Schöpfungsgeschichte (Berlin 18fi8) wurde der Darwinis-

1,5--90386/l 225
Entwicklung IV. Ausblick

geschichte kein vergleichbares Beispiel. Mochte auch die Lehre Darwins auf den
Widerstand der den Schöpfungsbericht der Genesis noch wörtlich verstehenden
Kirchen und auf den Widerstand des bürgerlichen Bildungsbewußtseins stoßen, s.o
hatten die meist auf sehr bescheidenem Niveau geführten Auseinandersetzungen
doch daran mitgewirkt, das Wort 'Entwicklung' zu einem für Ideologien besonders
anfälligen Schlagwort zu machen 81 •
Auch in die Ideenwelt der Politik fanden Darwins Gedanken Eingang; die Wir-
kungen der Rassentheorien sind ohne diesen Hintergrund kaum zu verstehen. Schon
1866 wurde die Politik Bismarcks von 0. F. PESCHEL mit darwinistischen Gedanken
verteidigt. Historische Gerechtigkeit war ihm jene Parteinahme der Götter für den
Siegreichen ... allgemeingültig wie ein Naturgesetz ... Auch wir in Deutschland
sollten die neueste Geschichte wie einen gesetzmäßigen Entwicklungsprozeß betrachten
... ; es ist ein Darwinscher Kampf ums Dasein 82 • Darwinistische Gedankengänge
wurden im Ausgang des 19. Jahrhunderts auch von einer Anzahl von untereinander
sehr heterogenen Autoren vertreten, die sowohl der Industrialisierung als auch der
demokratischen Gedankenwelt zumeist ablehnend gegenüberstanden; man faßt sie
heute unter dem Begriff „Sozialdarwinisten" zusammen83 • In anderer Weise
übernahm NmTZSCHE diesen Entwicklungsbegriff und versuchLe, ilm in verabsohi-
tierter Gestalt für die Kritik der traditionellen Moral und für die Theorie des
Willens zur Macht fruchtbar zu machen: Entwicklung will n·iclit Glück, 11u·rtdem
Entwicklung und weiter nichts (1886)s4.
Heute gibt es kaum ~inen Bereich, in dem der Begriff 'Entwicklung' nicht extensiv
verwendet, würde; davon überzeugt bereits ein flüchtiger Blick in die Tagespresse.
Auf allen Gebieten des Lebens, insbesondere auch in der Wirtschaft sind für das
zeitgenössische Bewußtsein ständig „Entwicklungen" im Gang, an denen sich der
llandelmle urienLierL. Ami uer Umgangssprache des politischen, sozialen und
kommerziellen Lebens läßt sich das Wort 'Entwicklung' nicht mehr wegdenken.
Dieser Umgangssprache ist ein Bewußtsein zugeordnet, für das die Entwicklung
aller Dinge grundsätzlich „ständig im Fluß" ist. Ähnlich wie bei .manchen anderen
Wörtern der Umgangssprache -beruht auch der Gebrauchswert des Wortes 'Ent-
wicklung' darauf, daß es nicht eindeutig definiert ist, sondern einen sehr großen
Bedeutungshof hat. Bezeichnenderweise bevorzugt man heute das Fremdwort
'Evolution', wenn man - vor allem im Bereich der Biologie - eines Begriffes
bedarf, der der definitorischen Präzisierung fähig sein soll.
Eine Sonderstellung nimmt die Entwicklungspolitik ein; sie zielt auf eine plan-

mus in vielen Publikationen, die Massenauflagen erreichten, im Sinne einer Weltanschau-


ung progagiert. Besondere Bedeutung für diese Bewegung besaß der seit 1877 erscheinende
„Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre".
81 WILHELM BAUER, Das Schlagwort als sozialpsychische und geistesgeschichtliche Er-

scheinung, Hist. Zs. 122 (1920), 189 ff.; vgl. bes. 225 f.: Bauer bezeichnet das Wort 'Ent-
wioklnng' 11.lA mode.rne.s Zauberwort, i•or dem alle Türen aufzuspringen scheinen, dfo wu den
Gelieimfäcliern des Wissens füliren.
su Zit. KARL-GEORG F ABER, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands von 1866
bis 1871. Eine kritische Bibliographie, Bd. 1 (Düsseldorf l!l63), 40.
sa Hierüber IIAN:;-GüNTER ZMARZLIK, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschicht-
liches Problem, Vjh. f. Zeitgesch. 11 (1963), 246 ff.
84 FRlEDRIOH NrnTZSCHE, Morgenröte, Nr. 108, Werke, Bd. 1 (1954), 1080.

226
IV. Ausbllck Entwicklung

mäßige Unterstützung von bisher „noch unterentwickelten" Ländern in ihrem Be-


mühen, Anschluß an die Welt der technischen Zivilisation zu gewinnen; die auf diese
Weise den sogenannten Entwicklungsländern gewährte Entwicklungshilfe soll zu -
gleich revolutionären Bestrebungen zuvorkommen.
Besondere Erwähnung verdienen schließlich auch noch der Grundlagenstreit um
das Primärobjekt des Historikers sowie die wissenschaftstheoretischen und metho-
dofögischen Diskussionen um den Entwicklungsbegriff. Diese Diskussionen er-
reichten ihren Höhepunkt zu Beginn unseres Jahrhunderts und sind nicht unab-
hängig von dem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hervortretenden, von der
Naturwissenschaft beeinflußten und in der Sache gelegentlich an Herder erinnern-
den Versuchen, das Weltganze unter der Idee einer einheitlichen und zusammen-
hängenden Entwicklung zu deuten (Evolutionismus). Autoren wie Spencer,
Alexander, Bergson, Croce vertraten derartige Lehren. Auch der bereits erwähnte
Versuch HAECKFJT,s, DarwinR Ergebnisse zu einer Weltanschauung auszuweiten,
gehörte in diesen Umkreis: „Entwickelung" heißt von jetzt an das Zauberwort, durch
das wir alle uns umgebenden Rätsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung
gelangen können 85 •
Beim Grundlagenstreit der Historiker dagegen handelte es sich um eine in der
Wilhelminischen Zeit geführte Auseinandersetzung über Versuche, Geschichts-
wissernmhafL lliehL iu uer Weise uiuur Eiforschung ii.uß~rlieh b1111chreibbarer F<Lkten
uml imlividueller Willenl!!handlungen, l!londern als Suche nach allgemeinen inneren
Zusammenhängen zu betreiben, die durch reale, überindividuelle Triebkräfte
gestiftet werden. Wenn in diesem Sinn K. Lamprecht um die Jahrhundertwende
Cl i eRen wissenschaftlichen Streit gegen die Vertreter der vornehmlich durch Treitschke
repräsentierten Epoche der Geschichtsschreibung eröffnete, so wurden der Sache
nach doch nur ältere Einsichten gegenuber einer in methodischer Hinsicht einseitig
gewordenen Wissenschaft wieder zur Geltung gebracht. Das Wort 'Entwicklung'
wurde hier noch einmal zu einem Programmwort. Doch man darf nicht übersehen,
daß es in dieser Zeit schon so sehr zu einem allgemeinen Gebrauchswort geworden
war, daß die Möglichkeit, auf dieses Wort zu verzichten, gar nicht mehr bestand.
Die im Bereich der Philosophie vor allem von Troeltsch und Rickert angeführte
wissenschaftstheoretische Diskussion erörterte die Frage, ob die Anwendung des
Entwicklungsbegri:ffä auf Erscheinungen der historischen Welt überhaupt rechtens
sei. Sie kam zu keinem eindeutigen Ergebnis, wohl aber zu einer Differenzierung der
Fragestellung sowie zu dem Eingeständnis, daß es keine Definition des Ent-
wicklungsbegriffs gab, die Anspruch auf allgemeine Anerkennung finden konnte.
RICKERT unterschied allein sieben Kategorien, unter die sich die Vielzahl der ein-
zelnen Entwicklungsbegriffe bringen Iieß 86 •
Ein wissenschaftstheoretischer Streit um die „richtige" Verwendung des Begriffs
ist daher müßig; der allgemeine Sprachgebrauch ist erst recht zu vieldeutig, als
daß sich aus ihm ein sicherer Maßstab gewinnen ließe. Daher ist in termino-
logischen Fragen Großzügigkeit geboten: Man kann niemandem verwehren, in
bezug auf politische .und iwziule Phünomcnc das Wort 'Entwicklung' mit einer

85 HAECKEL, Schöpfungsgeschichte (1868), IV.


Ra HEINRICH RICKl!lnT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine
logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 2. Auß. (Tübingen 1913), 389 f.

227
Entwicklung IV. Ausblick

selbstgewählten Akzentuierung zu verwenden, sofern diese nur klar erkennbar ist


und sofern die Minimalbedingung erfüllt ist, daß es sich um einen Begriff handelt,
der die Funktion hat, überindividuelle und über eine gewisse Zeitdauer erstreckte
Zusammenhänge herzustellen und zu bezeichnen. AUf eine solche formale Bestim-
mung des Entwicklungsbegriffs als eines funktionalen Ordnungsbegriffs können
sich alle Beteiligten einigen; Differenzen bestehen nur hinsichtlich der Frage, ob er
mehr ausdrückt als dies. In jedem Fall wird indes zu prüfen sein, ob und inwieweit
das Wort 'Entwicklung' zum Träger verdeckter ideologischer Funktionen geworden
ist. Vor allem aber muß sich der Historiker der Tatsache bewußt bleiben, daß er
historische und politische Zusammenhänge der Zeit vor 1770 in einer Weise deutet,
wie sie dieser Zeit selbst fremd war, wenn er in seinen Aussagen über sie den
Entwicklungsbegriff verwendet.

Literatur

WoLFGANG WIELAND, Art. Entwicklung II, RGG 3. Aufl., Bd. 2 (1958), 510 ff.; ERICH
BRANDENBURG, Der Begriff der Entwicklung und seine Anwendung auf die Geschichte,
Abh. d. säohs. Almd. d. Wiss., phil.-hist. Kl., Bd. 93 (Leipzig 1941), H. 4; MANFRED
BRIEGEL, Evolution. Geschichte eines Fremdworts im Deutschen (phil. Diss. Freiburg
1963).
WOLFGANG Ww.T.A Nn

228
Fabrik, Fabrikant

I. Einleitung. 1. Der lateinische Ursprung. 2. Zur Tradition in den romanischen Sprachen.


3. Das Bedeutungsfeld bei der Rezeption in den deutschen Sprachgebrauch. II. 1. 'Fabrik'
und 'Manufaktur' als synonyme Bezeichnungen an der Schwelle des Industriezeitalters.
2. Die Entfaltung der Wirtschaft im 18. Jahrhundert: ihr Reflex in der Vieldeutigkeit
und Unbestimmtheit von 'Fabrik'. 3. Nationalfabrikatur und Fabrikensystem: 'Fabrik'
als Kollektivbegriff. III. 1. Technisch-organisatorische Kennzeichen der modernen Fabrik.
2. Aspekte des modernen Fabrikwesens. 3. Die neue Fabrikstadt. IV. 1. Von den Frei-
heiten und Privilegien des-Fabrikensystems zur Gewerbefreiheit. 2. Die Klassendichotomie
der Fabrikanten. V. Ausblick: Fabrik, Entfremdung und Demokratie.

1. Einleitung

1. Der lateinische Ursprung

Bereits für das lateinische Wort, 'fahrir.a', P.inP.r 11.iljP.kt,ivümhr.n Ableitung von faber,
dem Handwerker, der· ah1 Schmied oder Zimmermann, als Tischler, Steinmetz oder
ilergleichen an harten Stoffen gestaltend schafft, ist jene Mehrdeutigkeit charakte-
ristisch, die sich zwar nicht in ihrer ganzen Breite kontinuierlich im mittelalterlichen
Latein und den westeuropäischen Sprachen nachweisen läßt, an die aber die
bewußte Aufnahme von 'Fabrik' in den deutschen Sprachgebrauch wieder ange-
knüpft hat. Sie ist daher als Rezeptionsreservoir wenigstens in ihren drei wichtig-
sten Komplexen zu skizzieren 1 :
a) In der Verbinilung mit ars meint 'fabrica' das dem faber eigene Können wie auch
das Feld, auf dem sich seine Tüchtigkeit bewährt: seine spezifische Tätigkeit, die
bei dem nahtlosen Übergang der Sphäre des Handwerks in die der Kunst in der
vorindustriellen Welt die „ars fabrica" auch zur Kunstfertigkeit im engeren Sinne
hat werden lassen. Insoweit ist das Wort jedoch nur als Ausdruck kunstvoller oder
künstlerischer Gestaltung eines stofflichen Materials verwandt worden, nicht aber
auch für literarische Schöpfungen.
In diesem Bedeutungsstand hat CICERO 'fabrica' aufgenommen und mit nachhaltiger
Wirkung in die Philosophie eingeführt zur Bezeichnung solcher Vorstellungen wiP.
der einer Weltschöpfung und einer weltschaffenden Kraft. Die von Cicero geprägte
Bedeutung ist hernach in der antiken Philosophie lebendig geblieben und auch in
die Sprache der Kirche eingegangen. Andererseits aber wird 'fabrica' in der Komödie
mit „List" und „Tücke" gleichgesetzt, und auch diese Variante sollte später wieder
begegnen. ·
b) Daneben kennt die lateinische Sprache die passivische, gegenständliche Wen-
dung 'opus fabricatum' als das vom faber Geschaffene, in Analogie zum 'Fabrikat'
des modernen Sprachgebrauchs.

1 Im folgenden vomehmlich nach ALFONS REHMANN, Die Geschichte der technischen .Be-

griffe fabrica und machirn1. in nen roma.niRchen 8prachen (phil. D.iss. Münster; Bochum-
Langendreer 1935).

229
Fabrik I. 2. T111ditiuu iu den rumanlschcll Sprachen

c) Sodann sind 'officina fabri' und 'officina fabrica' zur Bezeichnung der Stätte
geläufig gewesen, an der ein faber seiner Tätigkeit nachgeht: sie ist Werkstatt des
Handwerkers und Atelier des Künstlers oft genug zugleich und wesentlich in
einem gewesen, und abgesehen von der späteren Akzentuierung dieser räumlichen
Bedeutung bei der Entfaltung des modernen Fabrikwesens findet sich in einem der
ersten Zeugnisse der Rezeption, in ZEDLERS „Universallexikon" (1735), die rück-
schauende und damit für die Geschichte oder Vorgeschichte begriffsgeschichtlicher
Betrachtungsweise nicht unwesentliche Angabe: Fabricae waren un.ter denen Römi-
schen Kaisern gewisse Manufacturen, darinne allerhand Kriegs-Notwendigkeiten ver-
fertigt wurden 2 - für uns zugleich eine von vielen begrifflichen Spiegelungen mer-
kantilistischen Staatsunternehmertums zur Deckung gestiegenen Heeresbedarfs.
Gegenständlicher und räumlicher Bezug haben sich in den Hendiadyoin „opus
fabricatum sive aedificium" verbunden. Von ihm aus läßt sich die bei frühchrist-
lichen Autoren wiederholt auftauchende metaphorische Bedeutung von 'fabrica' für
„Himmelsgewölbe" und „Weltenbau", aber auch für das Gebäude christlicher
Lehre erklären. Ein verwandtes Bild ist in der englischen Sprache, über die Schwelle
des Industriezeitalters hinweg, geläufig geblieben in Reden wie der vom „fabric of
government" oder dem Lob der Gerechtigkeit bei ADAM SMITH: sie sei the main
pillar that itpholds the whole edifice. If it is removed, thc grcat, thc immense fabric of
lvuinun 1wcü:!ly ••• 11'1/ust in a tnotnettt m•umble ·intu utu•ttU1 3•

2. Zur Tradition in den romanischen Sprachen

Wenn die Begriffsgeschichte zur Erhellung der Geschichte von Wirtschaft und
Technik beitragen kann, so ist - wie man in der Tat geschlus1:1en hat 4 - der
Schwund des ursprünglichen lateinischen Bedeutungsreichtums von 'fabrica' zu
jenem kümmerlichen Rest, der im Altfranzösischen übriggeblieben, Zeugnis für
den Verfall gewerblicher Produktion mit dem Untergang der antiken Welt. über-
dies wird 'forge', das im Alt- und Mittelfranzösischen für 'fabrica' tritt und zunächst
gleichfalls noch sowohl die handwerksmäßige Herstellung aller Art wie auch jeweils
deren Stätte bedeuten kann, eingeschränkt auf die Eisenbearbeitung, das Schmie-
den Ulld die Schmiede. Demgegenüber entwickeln sich im Spanischen in 'forja' für
„Goldschmiedeesse", 'froga' für „Backsteinbau" und 'fragua' für „Sr.hmiede" (aber
in übertragener, an jene Variante in der Sprache der Komödie erinnernder Bedeu-
tung auch für „Lügenfabrik") drei erbwörtliche Reflexe von 'fabrica', in denen
neben einer Besonderheit des Spanischen: dem Zusammenhang mit dem seit den
überseeischen Entdeckungen gewonnenen Reichtum an Edelmetallen, wiederum
der allgemeine, für die spätere Begriffsdikussion so wesentliche Bezug auf die Metall-
verarbeitung vermittelt wird ..
Demgegenüber taucht der Wortstamm 'fabrica' in der französischen Fassung als
'fabrique' erst im 14. Jahrhundert wieder auf, und zwar auch als architektonischer
Begriff. Auf diesem l!'elde kann er entsprechend seinem ursprünglichen Sinn als

2 ZEDLER Bd. 9 (1735), 35; vgl. auch Dt. Enc„ Bd. 9 (1784), 370.
3 AnAM SMITH, The Theory of Moral Sentiments (1759), 4th cd. (London 1774), 148.
4 REHMANN, Technische Begriffe, 65.

230
1. 3. Bedeutungsfeld bei der Rezeption ins Deutsche Fabrik

yerbum actionis sowohl die Errichtung von Gebäuden als auch diese selbst be<:leu-
ten, insonderheit das Gotteshaus, sodann die für den Unterhalt kirchlicher Gebäude
bestimmten Fonds wie die zu deren Verwaltung berufenen kirchlichen Instanzen
und sogar, in erneuter Rekonkretisierung, die Plätze, welche von den zuständigen
kirchlichen Persönlichkeiten während der Messe eingenommen worden sind5 • Auf
diesem Wege erhält der Begriff einen juristischen Schatten6 • Den Zusammenhang
mit dem kirchlichen Komplex hat er im Spanischen bis in die Gegenwart gewahrt,
während die architektonisch-künstlerische Komponente in Italien eine größere
Rolle spielen sollte.

3. Das Bedeutungsfeld bei der Rezeption in den deutschen Sprachgebrauch

In die deutsche Sprache scheint 'Fabrik' seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu-
nächst zwar zögernd, sogleich aber in jener traditionellen Vieldeutigkeit Eingang
gefunden zu haben, die den modernen Leser verwirren und ihm gar (nach einem von
Georg Lukacs freilich in ganz anderer Richtung gemünzten Wort) als eine „seman-
tische Nacht" erscheinen könnte, würde er seine vom Informationsbedarf der tech-
nisch-industriellen W alt gesteigerten Bedürfnisse nach eindeutigen Termini zum
Maßstab nehmen. Dieser im Sinne der Semiotik pragmatische Vorbehalt, daß nicht
nur Worte und Begriffe ihre Geschichte haben, sondern auch unser Verhältnis zu
Wort und Begriff als solchen sich grundlegend gewandelt hat, gilt auch für die im
übrigen treffende, im Zusammenhang semantischer Betrachtungen zur industriellen
Entwicklung Europas angestellte Beobachtung Hermann Freudenbergers und
Fritz Redlichs, daß eine verwirrende 'l'erminologie dem Historiker den Schluß
gestatte, daß das in Frage stehende Phänomen noch jung sei 7 • In dAr Tat verraten
die ersten, noch spärlichen lexikalischen Auskünfte über 'Fabrik' im Deutsohen an
der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert mit dem Wissen um die Herkunft aus
dem Lateinischen und Französischen zwar schon das Bewußtsein eines besonderen
Bezugs zur gewerblich-ökonomischen Sphäre in ihrer spezifisch merkantilistischen
Expansion; doch bleibt der Begriff in dieser Konkretion sogar noch bis ins 19. Jahr-
hundert eingebettet in sein überkommenes, differenziertes Bedeutungsfeld, wie es
uns exemplarisch etwa bei RoTH (1788) begegnets: Fabrilce, Fabrica, dM Fiskus bei
den Kirchen und Kapellen, aus welchem die Gebäude und Ornate unterhalten werden.
Sie hat verschiedene Opfer und Vermächtnisse zu Fonds. Davon wird noch im gleichen
Vorstellungskreis abgehoben: Fabricie, eine besondere Kasse bei den Stiftern, welche
gewi.~8e Zinsen und Accidenzien hat, aus welcher die Stiftsgebäude unterhalten werden.
Erst an dritter Stelle findet sich der eigentlich erwartete Hinweis auf Fabriken, in
denselben werden solche Arbeiten gemacht, zu welchen, außer den Händen, auch Feuer,

· 6Dazu neben REBMANN, Technische Begriffe,,75f. schon die deutschen Lexika des 18.
u. 19. Jahrhunderts: ZEDLER Bd. 9, 370; ROTH Bd. 1(1788),196; ADELUNG 2. Aufl.., Bd. 2
(1796), 3; HEYSE 16. Aufl. (1879), 353; J. F. EISELEN, Art. Fabrik, ERSOH/GRU13ER 1. Sect.,
Bd. 41 (1847), 3.
6 Vgl. Encyclopedie, t. 13 (Ausg. 1781), 726; RWB Bd. 3 (1935), 341.
1 HERMANN FREUDENDERGER u . .l!'ruTz REDLIOH, The lndustrial Development of Europa:

Reality, Symbols, Images, Kyklos 17 (1964), 372 ff. 386.


8 ROTH Bd. l, 196.

231
Fabrik II. 1. 'Fabrik' und 'Manufaktur' als synonyme Bezeichnungen

Hammer und ähnliclie Werkzeuge erfordert werden. In dieser dritten, vermeintlich


zukunftsweisenden, in Wahrheit aber ebenfalls traditionell orientierten Bestim-
mung liegt zugleich eine Einschränkung gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch
in der sog. Manufakturperiode.

II.

1. 'Fabrik' und 'Manufaktur' als synonyme Bezeichnungen an der Schwelle des


Industriezeitalters

wenn JOHANN FRIEDRICH VON PFEIFFER sich zu der Feststellung genötigt sieht
(1780), daß man im gemeinen Leben gewohnt sei, die Wörter Manufacturen 11/nd
Fabricken wechselweise und ohne einen bestimmten Begriff damit zu verbinden, zu
brauchen und es wuclt ·in der Tat so leicht nicht sei, die Grenzen zwischen beiden mit
Genauigkeit zu bestimmen9 , so läßt er in Übereinstimmung mit zahlreichen anderen
Autoren des 18. Jahrhunderts 10 erkennen, wie wenig dieses definitorische Bemühen
die Sprache des Alltags hat wandeln können: Den jahrzehntelang wiederholten
differenzierenden Festsetzungen der Bedeutungen von 'Fabrik' und 'Manufaktur'
als Begriffen stehen die Vergeblichkeit solcher Versuche gewissermaßen schon wieder
antizipierende Feststellungen undifferenzierten Gebrauchs dieser von jedermanns
Lippen ohne Unterschied rollenden Ausdrücke gegenüber11 • Die Vermutung liegt
nahe, daß diese so nachdrücklich formulierte und so lange im Bewußtsein fest-
gehaltene Differenz zwischen Begriff und Wort den begri:ffsgeschichtlichen Betrach-
tungen die Gelegenheit bieten könnte, von unterschiedlichen Sprachschichten auf
soziale Verschiedenheiten zu schließen, also etwa den Sprachgebrauch der gelehrten
und gebildeten Welt für bogrifflioh bereinigt im Sinne jener De.finiLiumm :t.u huHen.
Dagegen spricht weniger die mit einer solchen sprachsoziologischen Korrelation ja
durchaus zu vereinbarende Tatsache, daß jene Lexika mit ihren begrifflichen Fixie-
rungen für Leser aller Klassen, besonders 'Unstudierte bestirp.mt sein können, wie es
bei RoTH 1788 heißt, damit gerade ihnen die meisten aus fremden Sprachen entlehnte
Wörter und gewöhnliche Redens-Arten, so in den Zeitungen, Briefen und täglichen
Kun'Versationen vorkommen, klar wnd deutlich erkläret werden (SPERANDER 1727) 12 ;
entscheidend ist vielmehr, daß auch die notwencligerweise um eine gewisse Präzision
bemühte Juristen- und Behördensprache des Merkantilstaates die fragliche Unter-
scheidung nicht macht, sich also an die gemeine Rede hält.
So wird in der „Erneuerten lnstruction vor das General-Oberfinanz-Krieges- und
Domänen-Directorium, erlassen in Potsdam am 20. Mai 1748", von der Anlegung
neuer und im Lande noch nicht vorhandener Fabriq·uen im Rahmen des Von Manu-

9 Jon. FRIEDRICH v. l'FEIFFER, Die Manufacturen und Fabricken Deutschlands nach

ihrer heutigen Lage betrachtet und mit allgemeinen Vorschlägen zu ihren vorzüglichen
Verbesserungs-Mitteln begleitet, Bd. 1 (Frankfurt 1780), Einleitung.
1o Statt vieler nur noch Jon. HEINR. GOTTLOB JusTI, Vollständige Auhandlung von den
Manufacturen und Fabriken, Tl. l (Kopenhagen 1758), 5: Gemeinhin würden 'Manufaktur'
und 'Fabrik' als gleichbedeutend angesehen und gebraucht.
11 PFEIFFER, Manufacturen, Einleitung.

1 2 SPERANDER (1727), Untertitel.

232
n. 2. Vieldeutigkeit im 18. Jahrhundert Fabrik

factursachen handelnden Art. 2 gesprochen13 . Auch daß die wenig später (am 22.Juli
1748) ergangene „Instruction für die Kurmärk:ische Kriegs- und Domänenkammer"
im Art. 8 Wegen Oonservation derer Untertanen als förderungswürdig nebeneinander
aufzählt: Oommercii, Manufacturen, Fabriquen, Handwerker, Künstler 14 , wird
man um so weniger als scharf geschnittene Disjunktion der Begriffe deuten dürfen,
als am selben Tage die „Erneuerte Instruction für die Halberstädtische und Min-
densche Kriegs- und Domänenkammer" gleichbedeutend Linnenfabriken und Lin-
nenmanufacturen (Art. 12) erwähnt1 5 .
Selbst wenn bei solchen Formulierungen eine gewisse Rücksichtsnahme auf sprach-
liche Gewohnheiten der Normadressaten anzunehmen wäre, seien es nun Manu-
facturisten und Fabricanten selbst oder auch Fabriquen-Inspectoren, wie sie beispiels-
weise in einer Instruktion. in den schlesischen und glatzischen Städten (Breslau
1748) 16 zur Erfüllung ihrer kontrollierenden und die Erzeugung fördernden Ob-
liegenheiten beim Besuch von Tuchmacherwerkstätten angehalten worden sind,
so würde eine derartige beabsichtigte Erleichterung der acceptio legis ja nur erneut
bestätigen, daß man gemeinhin keinen Unterschied zwischen 'Manufaktur' und
Fabrik' gemacht hat.

2. Die Entfaltung der Wirtschaft im 18. Jahrhundert: ihr Reßex in der


Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit von '.l.<'ahrik'

Das hartnäckige Festhalten an diesem gemeinen Reden scheint in einer aufdring-


lichen Gemeinsamkeit von Manufaktur und Fabrik seinen Grund zu haben, die
zugleich das ist, was die freilich schon im engen Verstande gefaßten Manufaktur-
und Fabr·ikarbeiten heraushebt aus allen Werken de-r Kwnsl, llliLhiu den Erzeugnissen
jeglichen, auch des herkömmlichen Gewerbefleißes: nämlich daß sie erst in neuern
Zeiten bei einer Nation eingeführet worden oder ... erst bei derselben in Gang gebracht
werden sollen, wie Jon. HmNR. GoTTLOD JusTI 1758 vermerkt hat17 • Dementspre-
chend reflektiert nach den frühesten Belegen der Rezeption bei KRAFFT (1683) und
HoRNECK (1684), bei denen Fabricq oder Fabric ganz allgemein Herstellung oder
Bearbeitung bedeuten18 , und dem seit Anfang des 18. Jahrhunderts immer häufiger
nachweisbaren Bezug auf Räumlichkeiten, dem sich allmählich, zunächst ohne jede
Ausschließlichkeit, durchsetzenden Verständnis von Fabr1;c al11 Werkstatt 19 , gerade
die ungeschiedene und allen Sonderungen widerstreitende Verwendung von 'Fabrik'
und 'Manufaktur' für die verschiedensten gewerblichen Tätigkeiten die-Entfaltung
des Gewerbewesens wie überhaupt den wirtsoho.ftliohcn Aufschwung im 18. Jahr-
hundert. So ist nach einer der ersten exemplifizierenden Aufzählungen (SPERANDERS
„Hand-Lexicon" von 1727) Fabric oder Fabrique, eine Werkstatt, da eine gewisse -
und das soll u. a. heißen: auch als solche neue - Art von allerhand Ware verfertiget

13 Ant11. Rorussica„ Rd. 7 (Berlin 1904), 611 f.


14 Ebd., 714.
lU .l!:bd„ 760.

16 Ebd„ Bd. 8 (Berlin 1906), 189.


17 JusTI, Vollständige Abhandlung, 4.
1 s Zit. scnuLz/BABLER Bu. l (1913), 198.

19 Vgl. z.B. NEHRING (1710), 174.

233
Fabrik II. 2. Vleldeqtlgkelt Im 18. Jahrhundert

wird, z. E. eine Gold- Seiden- Wollen- Strümpf-Fabric20 , eine Reihe, die im selben
Jahr (1727) in ANTON! MoRATORIS „Conversations-Lexicon" noch um Orepon-
Tuch- oder Toback Fabriquen etc. 21 erweitert wird, was 1741 die „Allgemeine Schatz-
Kammer der Kauffmannscha:fft" ob des Verstoßes gegen die begrifflichen Unter-
scheidungen schlicht übel gesprochen 22 nennt.
Solche ja keineswegs in erschöpfender Absicht vorgenommenen Aufstellungen lassen
auch deswegen die Erweiterung des wirtschaftlichen Verkehrs erkennen, weil es
sich jeweils um eine Werkstätte handelt, wo viel Handwerksleute Kaufmanns-
waren verfertigen 23 . Merkmal einer Fabrik, aber auch das Kennzeichen von aller-
hand anderen Arbeiten, d. h. von einer Manufaktur, war also die räumliche Kon-
zentration einer nach damaligen Maßstäben großen Zahl von Arbeitskräften. Sodann
ging es hier nicht mehr um die Herstellung einzelner Stücke, sondern um eine
mengenmäßig bereits ins Gewicht fallende Produktion handelsfähiger Objekte, in
zunehmendem Maße sogar für einen anonymen Markt, abgesehen freilich von der
Deckung eines bestimmten Luxusbedarfs auf feste Bestellung und den Lieferungen
der Gewehr-Fabricken 24 , in denen für den Bedarf stehender Heere Kriegsnotwen-
digkeiten26 hergestellt worden sind. Zudem werden in jener Formel „Handwerks-
leute" und „Kaufmannswaren" zueinander in die durch Produktion vermittelte
Beziehung gesetzt: Ausdruck einer bestimmten Form der schon im Verlagswesen
aUl:lgep.rägten, in der Manufaktur weiter entwickelten und im modernen Fabrik-
wesen bis zur Zerlegung der Vorgänge in elementare Operationen und deren Re-
integration vorangetriebenen Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung 26 •

2o SPERANDER, 252.
21 .ANTONIUS MoRATORI, Bequemes Correspondenz- und Conversations-Lexicon (Nürnberg
1727), 244.
22 Allgemeine Schatz-Kammer der Kauffmannschafft oder vollständiges Lexikon aller

Handlungen und Gewerbe, Tl. 2 (Leipzig 1741), 349.


23 FRISCH, Dt. lat. Wb., Bd. 1 (1741), 236.

2 4 Dt. Enc., Bd. 9, 370.


2G ZEDLER Bd. 9, 35.
26 Neben der Trennung von Produktion und Absatz - einer „Berufsbildilng" im Sinne
von KARL BÜCHER, Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche (1893;
5. Aufl. Tübingen 1906), 5. 7.128.183. 301. 342, über die man sich im 18. Jahrhundert vielfach
in der oben angeführten oder einer ähnlichen Terminologie Rechenschaft abgelegt hat,
wird auch die Arbeitsteilung im engeren Sinne („Arbeitszerlegung") reflektiert. Beispiels-
weise definiert GEORG GoTTFR. STRELIN, Realwörterbuch für Kameralisten und Oekono-
men, Bd. 3 (Nördlingen 1786), 371 f. die Fabrik im Unterschied zum Handwerk u. a. da-
durch, daß die Waren ... nicht von einem Arbeiter· ganz verfertigt werden, sondern durch die
Hände verschiedener Arbeiter gehen, die nicht die ganze Fabrikatian, sondern nur einige dazu
erforderliche Arbeiten verstehen, solche aber zu einer um so größeren Fertigkeit gebracht
haben. Ähnlich GEORG FRIEDR. v. LAMPRECHT, Von der Kameralverfassung und Ver-
waltung der Handwerker, Fabriken und Manufakturen in den Preußischen Staaten und
insonderheit in der Kurmark Brandenburg (Berlin 1797), 2. Offensichtlich ungeeignet ist
dieses Kriterium zur späteren Abgrenzung von Manufakturen und Fabriken · je nachdem
hauptsächlich Arbeitsteilung oder Maschinerie angewandt wird, RoBERT·v. MoBL, Art. Ge-
werbe- und J!'abrikwesen, ROTTECK/WELCKER Bd. 6 (1838), 780. Don · 1893 von Bücmm
in diese Begriffe gefaßten - Unterschied zwischen „Arbeitszerlegung" und „Arbeits-

234
II. 2. Vieldeutigkeit im 18. Jahrhundert Fabrik

Gegenüber allen mit Manufaktur oder Fabrik verbundenen entweder prinzipiell


neuartigen oder doch in ihrer Ausdehnung und Erweiterung als neu empfundenen
Erscheinungen konnten die Bestrebungen, 'Fabrik' und 'Manufaktur' begrifflich
auseinanderzuhalten, um so weniger Anklang finden, als gerade diese Definitionen
im Gewande einer wenn auch fremden Tradition auftraten, in der 'Fabrik' mit der
Metallverarbeitung oder, noch enger, mit der Eisenschmiede assoziiert ward:
Fa'bric, Vom Lateinischen Fa'brica, und Französischen Fabrique, heißt eigentlich offi-
cina in qua plures opifices laborant qui igne et malleo utuntur als Eisen, Messing,
Stahl, Silber und Gold, erläutert 1741 der soeben schon genannte FRISCH 27 • Trotz
dieser ständig wiederholten und auch in neuere Wirtschaftsgeschichten aufgenom-
menen Bestimmung im Hinblick auf die Produktion mittels Feuer und Hammer
bleibt indessen 'Fabrik' ein· Wort, welches eine mannigfaltige und unbestimmte Be-
deutung hat 28 •
Nach dieser noch bis über die Schwelle des 19. Jahrhunderts gültigen Feststellung
unterscheidet 1753 Lunovrn1 29 nicht weniger als sechs Bedeutungen. Diese im Ver-
gleich mit anderen in der Tat wohl vollständigste, aber gegenüber dem tatsächlich
nachweisbaren Sprachgebrauch auch noch lückenhafte Übersicht soll hier kurz
kollllllentiert werden: Im allerweitläufigsten Verstande bedeutete 'Fabrik' alle Arbeit
~.1,nd Handwerk (1). Und wenn Ludovici diesen Gebrauch immerhin schon für den
ungewöhnlichsten glaubt erklären zu dürfen, so widerlegt der Rückschluß aus
anderen gleichfalls auf Begriffsklärung gerichteten Zeugnissen diese Auffassung.
Vielleicht ist sie überhaupt nur aus einer gewissen sozialkritischen Absicht zu ver-
stehen, wie sie aus der These spricht, es geschehe nur um der Ehrsucht der Leute zu
schmeicheln, daß man gewisse Werkstätte der Handwerker, als der Btrumpfwirker,
TU!Jlimaolwr oto;mit dom Namon dor Fabrik beleget; da hingegen die Werkstätte anderer
Handwerksleute, als der Schneider, Schuster, Schmiede, Schlösser, etc. niemals also
genennet werden. Was uns hier als Kritik erhöhten Prestigebedürfnisses entgegen-
tritt, Hißt zugleich auf ein tatsächlich höheres Sozialprestige bestimmter Gewerbe·
zweige schließen und verrät damit die Differenzierung, die innerhalb des Gewerbe-
wesens zwischen überkommenem Handwerk und neuen Manufakturen eingetreten
ist.· Denn um Manufakturen kann es sich schon bei den genannten Beispielen han-
deln, wenn sie dann in Ludovicis trotz aller Bemühungen um Klärung bezeichnender-
weise nicht widerspruchi:ifreien Ausführungen auch als 'Fabriken' im engeren
Verstande (2) aufgeführt werden: gemeint sind solche Anstalten und Orte ... , die
zu Verfertigung gewisser Kaufmannswaren, sie mögen heißen, wie sie wollen, gewidmet
sind. Ludovicis .Ansicht, daß diese zweite Bedeutung zwar nicht die richtigste, so
doch die gebräuchlichste sei, erhärtet im Verein mit den nahezu die gesamte Breite.
merkantilistischer Gewerbeentfaltung widerspiegelnden, nach Ludovici besser als

verschiebung", jedoch ohne Rücksicht darauf, ob der einförmige, gröbste und schwerste Teil
der Arbeit, der Pferde·, Wind-, Waooer- oder Dampfl~raft übertragen iot o,loo Wiodorum
gleichsam quer zur historischen Tendenz - benutzt zur Definition der Fabriken gegenüber
den Manufakturen MoRITZ v. PRITTWITZ, Die Kunst reich zu werden, oder gemeinfäßlicbe
Darstellung der Volkswirthschaft (Mannheim 1840), 103.
27 FRISCH, Dt. lat. Wb„ Bd. 1, 236.

28 Vgl. Anm. 29.


2 9 LUDOVJCI Tl. 2 (1753), 1406 ff.

235
Fabrik II. 2. Vieldeutigkeit im 18. Jahrhundert

'Manufakturen' zu bezeichnenden Beispielen erneut die hier vertretene These, daß


der beherrschende Eindruck der mit 'Manufaktur' und 'Fabrik' assoziierten neuen
Erscheinungen die eher retrospektiv anmutenden Begriffsdifferenzierungen nicht
hat zur Einbürgerung gelangen lassen. 'Fabrik' im strengsten Verstande endlich (3),
die richtigste und zu deutlicher Erkenntnis beste Bedeutung, ist für Ludovici die
durch Verwendung von Feuer und Hammer bei Verfertigung oder Bearbeitung von
Kaufmannswaren definierte. Sodann (4) galt nach dieser Übersicht auch der Münz-
prägungsort als Fabrik. überdies (5) heiße die 11erfertigte Wa,ren .~p,lbst ei:ne Fa.brike,
wekhe man jedoch besser eine Manufactur nennet - womit Ludovici in Kollision
mit seiner zweiten Bestimmung eine analoge Unterscheidung wie die uns geläufige
zwischen 'Fabrik' und 'Fabrikat' im Begriff der Manufaktur wieder aufhebt: Aber
eben der Rückfall in dieses nivellierende Reden sogar noch bei dem Versuch, es zu
vermeiden, kennzeichnet eindringlicher noch als das erkennbare Motiv der Defini-
tionen die tatsächliche Begriffslage. Schließlich (6) gebrauchten die Franzosen
fabrique . . . von der Fa<;on oder der Art und Weise, eine Arbeit zu verfertigen und
auszuführen. So spreche man etwa davon, daß alle Tage neue Zeugfabriken erfun-
den werden.
Bevor diesem letzten Hinweis weiter gefolgt werden soll, bleibt noch zu zeigen, daß
selbst eine so weit gespannte Übersicht nach zwei Seiten hin unvollständig ist:
Zum einen berücksichtigt sie nicht die freilich höchst seltene VerwendUllg von
'Fabrik' im agrarischen Bereich, bei der es weder um Hausindustrie auf dem platten
Lande, aber auch noch nicht um Fabriken auf agrarischer Rohstoffbasis wie beim
späteren Agrarkapitalismus gegangen ist, sondern um die bäuerliche Tätigkeit
selbst. Ro wird in einer Fabrikliste des Amtes Gottorp aus dem Jahre 1775 ver-
merkt, daß die H ufnere . . . mit I nstandehalten auch Verbesserung ihrer Ländereien
und deren Betriebe jahraus, jahrein, als der besten Fabrique im Lande, genug zu tun
haben 30 • Mit dieser Bedeutung ist 'Fabrik' offensichtlich aufgegangen in dem
freilich auch nur vorübergehend auf die Landwirtschaft ausgedehnLcn IndW:!trie-
begriff: Wie ADAM SMITH von der industry of the country sprach, so wurde alsbald
auch im Deutschland des agrarwirtschaftlichen Ausbaus die Industrie des Land-
mannes in die industriöse Bewußtseinsbildung einbezogen 31 •
Zum anderen bleiben übertragene Bedeutungen von 'Fabrik' lebendig. So hat man
scherzhaft oder auch verächtlich von einem Märclwn a'us seiner Fabrik 32 gespro-
chen, wenn angedeutet werden sollte, daß etwas von dem Betreffenden selber
ersonnen oder eben im pejorativen Sinne bloß ausgedacht worden sei. Auf derselben

30 Zit. .!<'RITZ lliHNSEN, Pinneberger Fabriken im 18. Jahrhundert, Jb. f. d. Kreis Pinne-
berg, hg. v. V. Pauls, 5 (1921), 87.
31 ADAM SMITH, An Inquiry into tbe Nature and Causes of the Wealtb of Nations, ed.

Edwin R. A. Seligman (London, New York 1910; Ndr. New York 1954), 3. 113 ff.; analog
bei JoH. PAUL HARL, Vollotändigoo Ho,ndbucb der St110.tswirtscbaft und Finanz, Tl. 1
(Erlangen 1811), 304. Die Formel von der „Industrie des Landmannes" kann sich aber
auch auf „die nutzbare Verwendung seiner ganzen Nebenzeit" beziehen, so bei RocHow,
Der Landmann in Rücksicht auf seine Industrie, Annalen d. Märkisch-Ökon. Ges., Bd. 3,
H. 3 (1802).
3 2 Diosor Hinweis schon bei KRüNITz Bd. 12 (1786), 2; vgl. auch ADELUNG 2. AuH., Ud. 2,

3 u. GRIMM Bd. 3 (1862), 1217.

236
II. 2. Vieldeutigkeit im 18. Jahrhundert Fabrik

Ebene liegen Gedankenfabrik und auch Bücherfabrik 33, womit bloße Machwerke
gemeint sind. Und der im Französischen vielleicht weniger ungewöhnliche wertende
Beiklang tritt im Deutschen beherrschend hervor in der Wendung: sie sind aus der-
selben Fabrik, d. h. vom gleichen Schlage, einer so schlecht wie der andere, sie taugen
also beide nichts 3 4.
Jedoch ist im späteren 18. Jahrhundert als Bedeutungsfeld von 'Fabrik' der öko-
nomische Bereich mit seiner zunehmenden Eigenständigkeit immer schärfer her-
vorgetreten. Und wenn beispielsweise JACQUES SAVARYS wiederholt aufgelegter
„Dictionnaire universel de commerce, d'histoire naturelle et des arts et metiers",
in Übereinstimmung mit der von Ludovici aIS charakteristisch französisch regi-
strierten Bedeutung, für 'fabrique' folgende Definition und Umschreibung gibt:
F&;on, ou maniere de construire quelque ouvrage. On dit tres bien en ce sens: On
invente tous .les jours en France de nouvelles fabriques d'etoffes 35, so wird wieder
der allgemeine Sprachgebrauch - hier im damaligen Frankreich- für den Histo-
riker zur Erkenntnisquelle für die Verbreitung des allenthalben im Europa der
merkantilistischen Epoche in verschiedenen Wendungen beschworenen Esprit de
Fabrique 36 , des Fabricationsgeistes 37 oder Fabrikfieisses 38 • Ihn wachzurufen oder an-
zustacheln wurdenFabriquen-InspektCYren und Fa1Yriken-Kommissionen 39 eben nicht
nur als kontrollierende Instanzen eingesetzt, Fabrikendepartements gegründet und
Fabrikentabellen aufgestellt 40 • Dabei wuchs der regulierende, um Machtgewinn wie
um „Conservation der Untertanen" besorgte Merkantilstaat des 18. Jahrhunderts
allmählich, unter Beibehaltung und sogar weiterer Steigerung direkter Maßnahmen
zur Wirtschaftsförderung, über sich hinaus zum spannungsreichen, paradox er-
scheinenden liberalen Polizeistaat desfrühen 19.Jahrhunderts mit seiner indirekten
Unterstützung des wirtschaftlichen Ausbaus auf dem Wege der Emanzipation.

33 GRIMM Bd. 3, 1217.


34 WANDlilR Bd. 1 (1867), 911.
35 JACQUES SAVARY, Dictionnaire univer~el de commerce d'histoire naturelle et des arte

et metiers, t. 2 (Ausg. Kopenhagen 1760), 489. 'Fabrique' in der Bedeutung maniere dont
une clwse est fabriquee ist seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar, FEW Bd. 3 (1935), 343.
38 JUSTUS MöSER, Patriotische Phantasien 32: Von dem Verfall des Handwerks in kleinen

Städten (1768/69), SW Bd. 4 (1943), 158.


37 In einer ötiterreichlschen Quelle aus dem Jahre 1763 wird darunter das Bestreben ver-

standen, das eigene Einkmnmen durch Industrie und Speku"lation zu vermehren, zit. HELENE
DEUTSCH, Die Entwicklung der S,eidenindustrie in Österreich 1660-1840 (Wien 1909), 75.
as Statt vieler: OHR. ULRICH DETLEV v. EGGERS, Denkwfu·cligkeiten aus dem Leben des
Königlich Dänischen Staatsministers Andreas Petrus Grafen von Bernstorf (Kopenhagen
1800), 22, anschließend (23) das Urteil über Bernstorf, er sei ein eifriger, sehr wohltiitiger
Beförderer jeder angemessenen Fabrikan"lage gewesen.
39 Nach HANS MAUERSBERG, Betriebsform-Modelle der alten Industrien im Struktur-

wandel, in: Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um die Wende
vom lB. zum 10. Jahrhundert, hg. v. Fnrnnnrcrr LüTGE (Stuttgart 1064), 177 ff. 178,
Anm. 1, ist in Basel bereits 1738, zunächst für die Bandindustrie, eine Fabrikkommission
etabliert worden.
40 Dazu aus der umfangreichen, vielseitig orientierten ökonomischen Literatur im Über-

gang vom Kameralismus zum Liberalismus LEOPOLD KRuu, Betrachtungen über den
Nationa1-lteichthum des preußischen Staates und über den Wohlstand seiner Bewohner,
Bd. 2 (Berlin 1805), 218. 379.

237
Fabrik II. 3. 'Fabrik' als Kollektivhegriif

3. Nationalfabrikatur und Fabrikensystem: 'Fabrik' als Kollektivbegriff

Wie wenig indessen der realistische Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten und
Erfordernisse ökonomischer Politik im 18. Jahrhun.dert von begrifflichen Unklar-
heiten getrübt werden konnte, beweisen besonders eindrucksvoll die umsichtigen
Ausführungen des viel gelesenen österreichischen Kameralisten JOSEPH VON SoN-
NENFELS, der sich hinsichtlich 'Fabrik' und 'Manufaktur' nicht nur auf den üblichen
und differ~nzierten Sprachgebrauch beruft, sondern sogar gegen die Puritaner in
den Handlungskunstwörtern Stellung nimmt, welche ganz ohne Berechtigung beide
Begriffe zu trennen suchten 41 • Sonnenfels versteht unter 'Fabrik' wie 'Manufaktur'
alle Beschäftigungen, welche, was immer für einem Stoffe, eine neue Gestalt er-
teilen42. Nur das Handwerk soll ausgenommen werden; denn nur in den erstgenann-
ten Anstalten werde Kaufmannsgut hergestellt. Dabei trägt Sonnenfels auch der
Bedeutung der Landwirtschaft mit Nachdruck Rechnung: Ihr Zustand bestimmt
den Grad der Bevölkerung, den Zustand des Manufaktur- und Fabrikwesens, den
Zustand aller Nahrungsgeschäfte 43 . Überdies hat er klar erkannt, daß die Nationen
wecliselse·itig den V orte·il der FabT'ikat·ur zu wahren trachten. Daher werde der Handel
mit Manufakturware gegen Manufakturware ... wegen der Rechnung, die eine jede
derselben dabe·i findet, dauerhafter wnd ·vun be·iden Se·iten weniger Zwang und Ein-
schränkungen wnterworfen 8ein 44 • In diesem Zusammenhang werden dann a1rnh die
Chancen des Landes- oder Nationalfabrikanten gegenüber einem ausländischen Mit-
eifrer40, die Gefahr sogar eines Untergangs der Nationalfabrik mit einer Umsicht
erörtert, die bei ,der Abwägung gesetzgeberischer Möglichkeiten durchaus schon
der relativen Autonomie des Ökonomischen Rechnung trägt: Zwar könne der
Regent im Zusammenfius.~e seiner Nationalfabrikanten, wo es nötig wäre, als Gesetz-
geber sprechen; im Zusammenfluß der Nationalfabrikanten mit Fremden verhalte er
sich jedoch, wie überhaupt bei der auswärtigen Handlung, nach den Grundsätzen unter
sich wetteifernder Handelsleute 46 . Vor allem aber weiß Sonnenfels, daß Verbote
gegenüber der durchbrechenden Eigendynamik des wirtschaftlichen Bereichs un-
zureichend sind, so etwa wenn die N ationalfabrikatur für das Landesconsummo nicht
stark genug ist; das Bedürfnis muß befriedigt werden, es geschehe, auf welche Art es
wulle 47 • Zugleich lassen derartige Betrachtungen die fließenden Konturen der Be-
griffe 'Nationalfabrikant' und 'Nationalfabrikatur' erkennen, die als Individual-
begriffe eingeführt, dann aber auf das Gewerbewesen eines Staates insgesamt über-
tragen werden. Ein ähnliche Wendung vom konkreten Individual- zum abstrakteren
Kollektivbegriff, doch in anderer Blickrichtung, ist dort zu gewahren, wo 'Fabrik'
(wieder gleichbedeutend mit 'Manufaktur') auf das Verlagswesen sich bezieht.
Während beispielsweise bei NEIIRING (1756) 'Fabrik' als Werkstatt in einer Reihe

41 JosEFPH v. SoNNENFELs, Grundsätze der Polizey, Handlung und Polizeywissenschaft,


Tl. 2 (Wien 1769), 20.
42 Ebd., 3. Aufl., Tl. 2 (Wien 1771), 427.

43 Ders. Politische Abhandlungen (Wien 1770), 10.


44 Ebd., 40.
46 Ebd., 48 ff.
48 Ebd., 295.
47 Ebd., 312.

238
W. 1. Kennzeichen der modemen Fabrik Fabrik

mit der konkreten Ortsbezeichnung das Verlags-Haus 48 steht, beruft sich Luno-
VICIS „Kaufmannslexikon" in einer Neuauflage von 1798 auf ein Gemeinverständnis
von 'Fabrik' Wie 'Manufaktur' auch in dem Betracht, wo ein Unternehmer anderen
einzeln für sich wohnenden Arbeitern rohe oder vorbereitete Produkte vorstreckt und
ihnen dann bei Überbringung der Arbeit den Lohn dafür entrichtet 49 •
Aber auch vom Verlagsunternehmen kann 'Fabrik' auf einer weiteren Stufe noch
abgezogen werden: So meint Louis RENE VILLERME (1840) in seiner berühmten
sozialkritischen Studie z. B. mit la fabrique de Lyon das gesamte Textilgewerbe in
und um Lyon einschließlich der dezentralisierten Hausindustrie 50• Mit diesem
begriffsgeschichtlichen Zeugnis für den bisweilen unterschätzten Fortbestand des
Verlagswesens in der Epoche der Fabrikindustrie ist indessen die -Schwelle über-
schritten, von der an 'Fabrik' durch die neue Maschinentechnik bestimmt Wird.
Das Fabrikensystem hingegen verklammert in seinem Bedeutungswandel Wiederum
beide Epochen: Es ist entstanden im und wesentlich durch den Merkantilstaat,
während sein janusköpfiger Begriff, mitunter gleichbedeutend mit Industriesystem,
einerseits exemplarisch in LEOPOLD KRUGS insoweit rückblickenden „Betrachtun-
gen über den National-Reichtum des preußischen Staates und über den Wohlstand
seiner Bewohner" erörtert Wird 51 , andererseits aber das eigentliche Thema jener
von der neuen Maschinentechnik ausgehenden Analysen geworden ist, für die der
Chemiker und Ökonom Andrew Ure das durch die Vermittlung von KARL MARX
beriihmt gewordene Paradigma geliefert hat 52 •

III.

1. Technisch-organisatorische Kennzeichen der modemen F'ahrik

ANDREW URES 1835 in London veröffentlichte, im selben Jahr auch schon ins
Deutsche übertragene „Philosophy of Manufactures" hebt an mit der (für eine
Selbstreflexion der Begriffsgeschichte vielleicht bemerkenswerten) Feststellung, daß
der Ausdruck 'Manufaktur' nunmehr entgegen seinem eigentlichen Wortsinn ge-
braucht werde 53 • Daß hingegen in der Manufaktur bloß Menschenhände beschäftigt
werden, wurde mit dem gleichen fragwürdigen Recht etymologischer Erinnerung
im selben Jahr in Deutschland definitorisch festgesetzt 54 ; denn daß es sich hierliei

48 NEBRING (1710), 216.


49 LUDOVIOI 3. .Aufl„ Tl. 2 (1708), 1500.
50 Loms RENE VILLERME, Tableau de l'etat physique et moral des ouvriers, employes

dans les manufactures de coton, de laine et de soie, t. 1(Paris1840), 352 ff. Villerme macht
aber einen klaren Unterschied zwischen 'fabrique' und 'manufacture', wenn er definiert:
Fabrique, la ville, "la. localite wnsüleree dans son ensemble oU l'on fabrique certains produits
de l'industrie. Et manufacture, le bdtiment, la maison ou l'on fabrique en grand ces produit..~.
obd., VIII.
n KRuG, National-Reichthum, Bel. 2, 662.
52 MARx, Das Kapital, M.l!:W .Hd. 23 (l!l62), 441 ff.
53 ANDREW URE, The Philosophy of Manufactures or an Exposition of the Scientific,

Moral, and CuIIllliel'cial Ecunumy uf Um FacLul'y Syi;Lem of Gi·eal, Bl'iiain (London 1835;
Ndr. New York Hl67), 1.
&4 WoLFF Bd. 2 (1835), 105.

239
Fabrik m. 1. Kennzeichen der modemr.n Fabrik.
um eine Begriffsbestimmung, nicht aber, wie bei Ure, um eine sprachanalytische
Feststellung handelt, geht zweifelsfrei hervor aus dem benachbarten Hinweis auf
das gewöhnlich gleichbedeutende Wort 'Fabrik' zur Bezeichnung einer jeden Werk-
stau, wo etwas im Großen verfertigt wird. Eben deswegen aber wäre die Begriffs-
geschichte als solche überfordert, würde aus dieser Gegenüberstellung einer briti-
schen und einer deutschen Stimme auf die ansonsten freilich zur Genüge bekannte
relative Rückständigkeit Deutschlands in seiner technisch-industriellen Entwick-
hrng im Vergleich mit der Englands geschlossen werden 55• Überdies wurde bereits
vor Ure auch in Deutschland der Versuch diskutiert, Fabrik und Manufaktur, in
sonderbarer Verschränkung überkommener und zukunftsweisender Bestimmungen,
dadurch voneinander abzugrenzen, daß in Fabriken die Umgestaltung des Urstoffs
mit Hülfe des Feuers, in Manufakturen hingegen durch Maschinenwerke erfolge 66 •
Doch wird diese Einteilung als praktisch undurchführbar und daher unbrauchbar
abgelehnt. Immerhin aber widerlegt diese frühe Kontroverse in Deutschland -
und darin besteht ihre :Bedeutung für den Historiker - die bisweilen anzutreffende
Behauptung, daß die (ohnehin nur partielle) Identifikation von 'Manufaktur' mit
„Handarbeit" und von 'Fabrik' mit „maschineller Tätigkeit" von Ure stamme 57 •
Auch daß sie sich gegenüber der noch weitergeschleppten Abgrenzung durch Hin-
weis auf Verwendung von Feuer und Hammer allmählich durchsetzen konnte und
anders als diese allgemein akzeptiert wurde, ist weniger dem retrospektiv ebenfalls
oft überschätzten zeitgenössischen Einfluß von Mar:x: auf das Denken oder gar die
sprachlichen Gewohnheiten breiterer Schichten zurückzuführen, sondern auf das
manifeste Vordringen der Maschinentechnik selbst. Sie bot das augenfälligste,
Denken wie Phantasie inspirierende Kriterium gerade in den traditionellen Domänen
dor nicht mit Feuer und Hammer arbeitenden Manufaktur, nämlich der nunmehr
auch fabrikmäßig im neuen Sinne betriebenen Textilindustrie. Nach den verarbei-
teten Textilfasern unterscheidet denn auch Ure vier oder fünf Klassen von Fa-
brikcn 58.
Das konstitutive Merkmal des dabei zugrunde gelegten Begriffs der Fabrik69 ist nicht
die Beschäftigung. vieler Arbeitskräfte verschiedener Art und unterschiedlichen

55 Denn dann würde der für die Begriffsgeschichte schlechthin grundlegende Unterschied
zwischen Festsetzung der Bedeutung eines Terminus und Feststellung der Bedeutung eines
Wortes in der natürlichen Sprache übersehen, der selbstverständlich auch und gerade dann
beachtet werden muß, wenn beide, Terminus und Wort, zum Objektbereich historischer
Forschm1g gehüreu, ali;u auuh Lenu.i11ulugii:1uh fei;Lgei;eLzte Betleutw1gen zum Gegenstand
historisch-analytischer Feststellungen gemacht werden. Der angezeigte Unterschied liegt
mithin auf der Ebene des Gegenstandes historischer Darstellung, nicht auf der der Darstel-
lung desGegenstandes,aufwelcherderanaloge (in den letzten Jahrzehnten namentlich von
Otto Brunner bewußt gemachte) Unterschied zwischen quellenorientierter Begriffssprache
und wohldefinierter Terminologie sich bewegt. Im Sonderfall der Begriffsgeschichte stehen
demnach .je11e beiden U11Leriml1ieue zueinanuer im VerhälLu.ii; vu11 ObjekLi;prnuhe u11u
Metasprache.
58 HARTLEBEN Bd. 1 (1824), 296.
57 Dieser doppelte Irrtum über Urheberschaft und Inhalt auch hei FREUDENTIERGRR u.
REDLICH, Industrial Development, 391 (s. Anm. 7).
58 Urm, Philuiwphy of Munufüctures, 2 f.
69 Ebd., 13.

240
m. 1. Kennzeichen der modemen Fabrik Fabrik

Alters noch deren Zusammenwirken zu einem gemeinsamen Produktionszweck,


auch nicht die Größe des Fabriketablissements (die manchen deutschen Besucher
westeuropäischer Fabriken zunächst als das Auffallendste erscheinen mußte}, son-
dern der Antrieb eines Systems von Produktionsmaschinen durch eine zentrale
Kraftmaschine. Wie sehr dieser zweifache, sowohl technische als auch betriebs-
organisatorische Aspekt des Einsatzes der neuen Dampfmaschine beeindruckt
haben muß, läßt eine der bei Ure wiedergegebenen Illustrationen vermuten: sie
zeigt eine große Fabrikhalle, in der lediglich Weilen, Räder und Treibriemen ange-
bracht sind, die also nur die Anlagen für die Transmission der Kraft von der zen-
tralen Antriebsmaschine auf die Arbeitsmaschinen enthält. In derartigen Einrich-
tungen hat das Konzentrationstheorem der Marxschen politischen Ökonomie, so-
weit es technisch bedingt ist, sein anschauliches Fundament. Zwar hat auch vor-
industrielle Technologie im Fabriktyp der Mühle erstaunliche Möglichkeiten zur
Übertragung der ~äfte von Wind oder Wasser, Tier oder Mensch ersonnen. Doch
hat die größere und mit dem technischen Fortschritt in weit gerückten Grenzen
zunächst noch steigerungsfähige Leistung der Dampfmaschine auch auf dem Gebiet
der Transmission neuartige Lösungen sowohl notwendig wie möglich werden lassen.
Hier scheint sich die Rede vom Umschlagen der Quantität in die Qualität anzubie-
ten, ohnehin in jedem Falle nur eine dialektische Abbreviatur für die exakte Be-
schreibung komplizierterer Sachverhalte; vor allem aber ist es kein Zufall, daß in
den technologisch inspirierten Lehren des Marxismus die Transmission als Metapher
eine beträchtliche Rolle spielt.
Aber nicht nur die Abhängigkeit jeweils der gesamten Produktionsanlage von
jenem (bei Ure in chara.kteriatischer Wendung so bezeichneten) one prime mover60
macht das vorindustrielle „Fabrikensystem", die Gesamtheit gewerblicher Betriebe
einer territorialen oder nationalen Wirtschaft, zu einem eben so offenen, unorgani-
sierten (nach Marx: „anarchischen") System von einzelnen Fabriksystemen: hinzu
kommen als wesentliche Erfordernisse für die innere Systemqualität einer Fabrik
in diesem neuen Sinne noch die erst der Dampfmaschine eigene Möglichkeit der
Selbststeuerung nach dem Willen des Menschen sowie die damit zusammen-
hängende Kontinuität und das Gleichmaß der Leistungsabgabe. Wie sehr beides,
wiederum aus der Perspektive der erstaunten Zeitgenossen betrachtet, als zusam-
menhängend angesehen werden mußte, ist umgekehrt aus der, trotz aller Findigkeit
des Menschen, letzthin zuwartenden Frömmigkeit zu erschließen, mit der man
sich bewußt war, daß nicht der Mensch der Gebieter über Wasser und Winde ist.
So impliziert für Ure der im strengsten Sinne verstandene Begriff des Factory
system die idea of a vast automaton 61 , und der Optimismus, der die „Philosophy of
Manufactures" trägt, hat ihrem Autor bei MARX den distanzierend anerkennenden
Namen eines Pirulars der automatischen FalJrik eingetragen62 • Diese im Bezugsfeld
der ersten Industriellen Revolution aufgekommenen Begriffe 'Automation' und
'automatische Fabrik' sind seither für die mechanisierte Produktion bzw. deren
Stätten vielfach nachweisbar bis zu ihrem Bedeutungswandel nach dem Zweiten

80Ebd.
61Ebd.
u MARx, Das Kapital, MEW Bd. 23, 441.

16-90386/1 241
Fabrik m. 2. Aspekte des modemen Fahrikwesellfl
Weltkrieg, da sie (zuerst 1946 bei DELM.AR S. HARDER, dann bei JOHN DIEBOLD) 63
im Hinblick auf das strengere Prinzip der Selbstregulierung, die Rückkopplung
(feedback), umdefiniert worden sind. Aber auch insoweit läßt sich, schon bei Ure,
wieder eine begriffliche Verklammerung ausmachen: sie besteht in der nicht bei-
läufig, sondern zur Kennzeichnung des „Prinzips des Fabriksystems" eingeführten
Kategorie des Prozesses, die auf beide Formen der Automation zutrifft und deren
historische Kontinuität, d. h. die Schwierigkeit einer scharfen, in jedem Fall über-
zeugenden Scheidung64, unterstreicht. Ist aber schon für Ure die konkrete- Pro-
duktion ein Prozeß, dessen Zerlegung in seine konstitutiven Elemente die ältere
Arbeitsteilung abgelöst hat, so ist der Prozeß zu einem schon wieder abstrakten
Grunderlebnis in der modernen Arbeitswelt, seine Kategorie daher nicht von un-
gefähr zu einem Grundbegriff moderner Sozialphilosophien - bei HANNAH
ARENDT 65, HANS FREYER66 u. a. - geworden.

2. Aspekte des mod~rnen Fabrikwesens


In der systematischen Zuordnung von zentraler Kraftmaschine und ihr angeschlos-
senen Arbeitsmaschinen in der Fabrik neuen Typs gewinnen die am Manufakttrr-
betrieb ausgebildeten Bestimmungen von 'Fabrik' naturgemäß einen anderen Inhalt.
Das gilt namentlich für die Hinweise auf den Umfang der Produktion und die Aus-
dehnung der Produktionsstätten (wie überhaupt für alle Anspielungen auf Größen-
ordnungen, die ja ihrer Natur nach kontinuierlich variieren und daher die Fest-
stellung irgendwelcher „Zäsuren" prinzipiell mit Willkür behaftet erscheinen
lassen). So ist die Legaldefinition yon 'Fabrik' im AT,R von 1794, nach der Fa-
briken diejenigen Anstalten genannt würden, in welchen die Verarbeitung oder Ver-
feinerung gewisser Naturerzeugnisse im Großen getrieben werde 67 , zwar durchaus
noch aus der Synonymität von 'Fabrik' und 'Manufaktur' gedacht: sie hatte ihre
Vorläufer wie Nachfolger in jenen zahlreichen Äußerungen von Ökonomen und
Kameralisten, in' denen mit der Erweiterung bestehender und der Einrichtung
neuer Manufakturen dieser Gesichtspunkt der Verfertigung von Waren in Quantität

83 Der Ausdruck 'automaLi.:t.a.Liun' fat zur Bezeichnung des sich selbst steuernden Trans-

ports von Werkstücken mittels Transfer-Maschinen zuerst 1946 von DELMAR S. HARDER
in den Ford-Werken von Detroit gebraucht worden; vgl. etwa PAUL T. VEILLETTE, The
Rise of the Concept of Automation, in: Automation and Society, ed. HowARD BooNE
JACOBSEN u. JOSEPHS. RoucEK (New York 1959), 3. Die Kurzform 'automation' mit
allgemeiner Bedeutung hat 1051 JoITN DmnoLD in der „Harvard Craduate School of
Business" geprägt. Diebold ist vor allem durch seine populäre Darstellung „Automation.
'fhe Advent of Automatie Factory" bekannt geworden, dt. u. d. T.: Die automatische
Fabrik. Ihre industriellen und sozialen Probleme (Nürnberg 1954).
84 Dazu aus der unübersehbar gewordenen Literatur z. B.: Aspekte der Automation. Die
Frankfurter Tagung der List Gesellschaft. Gutachten und Protokolle, hg. v. HARRY W.
ZIMMERMANN (Basel, Tübingen 1960), wo mohrfüoh cm von M. RAINl!lll. LEmros, 26,
HANs-JoAcmM KNEBEL, 76, u. a. Autoren - die Kontinuität der Entwicklung betont
wird.
85 HANNAH ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben (Stuttgart 1960).
86 Zuletzt bei HANs FREYER, Schwelle tler Zeiten, Beiträge zur Soziologie der Kultur
(8tnttg11.rt 1965).
87 ALR, Tl. 2, Tit. 8, § 407.

242
m. 2. Aspekte des modernen Fabrikwesens Fabrik

1:m Großen 68 immer öfter und deutlicher bet~nt worden ist. Andererseits aber konnte
in so formal gehaltene Begriffsbestimmungen, denen bei dieser Sachlage nicht
konstitutive, sondern nur deklaratorische Bedeutung beizumessen ist 69 , die Fabrik
neuen Typs gleichsam hineinwachsen und ihnen dabei in fortgesetzt sich steigernder
Akzentuierung des quantitativen Merkmals einen veränderten Sinn geben: in
struktives Beispiel für den Einfluß der Ambiance 70 • Zugleich mußte das ebenfalls
vielfach (so z.B. bei JusTI 1758) vorgedachte Kriterium der Fabrik als Stätte
bloßer Verarbeitung oder Verfeinerung von Naturerzeugnissen allmählich zurück-
treten hinter dem im Fabrikwesen sich äußernden Anspruch einer immer weiter
ausgedehnten schöpferischen Kraft des Menschen.
Auf ·die philosophisch-anthropologischen Begründungen dieses Anspruchs ins-
besondere bei Hegel und Marx braucht hier nur beiläufig hingewiesen zu werden,
zumal sie namentlich von der jüngeren Marxforschung ganz ins Helle· gerückt
worden sind. Auch sei nur am Rande vermerkt, daß die Wendung der fabrikmäßigen
Produktion vom schieren Raffineruen t dessen, was Natur erzeugt hat, zu einer immer
tiefer in elementare Bereiche vorstoßenden Erzeugung durch den Menschen insofern
eine Parallele in der Begriffsbildung der ökonomischen Theorie hat, als dem Kapital-
begriff in seiner erweiterten, abstrakteren Fassung auch der Boden als Kultur-
produkt subsumiert wird. Wichtiger jedoch als solche Gipfelwanderungen in Philo-
sophie oder Anthropologie auf $1.er einen Seite, den Abstraktionen ökonomischer
Theorie auf der anderen ist für die Begriffsgeschichte die Orientierung an kaum be-
achteten, vergleichsweise unbedeutenden Zeugnissen für jenen Schöpferanspruch
des Menschen, sofern ihnen Esoterik abgeht, dafür aber Plausibilität und Gemein-
verständnis eignet. In diesem Sinne kann ein an sich ganz unscheinbares Wort des
österreichischen Juristen foNA7. Wn.nNF.R imgp,fiihrt wArnAn, zumal es nichts für
die maschinenbetriebenen Fabriken Spezifisches besagt, sondern dem Zusammen-
hang nach auch von der Manufaktur aus gedacht werden kann und damit um so
mehr den homo faher als solchen ins Blickfeld rückt: Indem nämlich Wildner die
Fabriken den Vereinigungspunkt der sehr zweckmäßig gespaltenen Elemente zu einem
wohlfeilen, wertvollen und schnell hervorgebrachten Produkte 71 nennt, geht er mit der
Anspruchslosigkeit dessen, der Selbstverständliches sagt, über das traditionelle,
eingeschränkte Verständnis von 'Fabrikation' auf bloße Verarbeitung und Vcr-
feinerung roher Naturalien7 2, die Erhöhung des Gebrauchswertes der Güter hinaus.
· Daß freilich im letzten der Mensch nicht Schöpfer ist, daß ihm - theologisch ge-
sprochen - die Gabe einer creatio ex nihilo abgehe, er im Prinzip nicht gestalten,
sondern nur· umgestalten kann, unterstreicht nur den vorhin angedeuteten Sach-
verhalt, daß wir uns hier Fragen des Mehr oder Weniger gegenübersehen. Dies trifft
des weiteren auch auf die räumliche Ausdehnung der Produktionsstätten in ihrer

ss STRELIN, Realwörterbuch, Bd. 3, 371 (s. Anm. 26).


69 Konstitut.iv hingegen, weil ohnA R.iir.kRir.ht cfa.rituf, oh .~Ü'. a11.<:h im (JP.mP.fr1,en Leben

Fabrikanten heißen, die Definition dieses Begriffs im ALR, Tl. 2, Tit. 8, § 409.
70 Zur 'ambiance' als rechtstheoretischem Terminus v-gl. l>IETRIOH SCH!NllL.l!lit, Verfas-
sungsrecht und soziale Struktur (Zürich 1932), 92 ff.
7 1. foNAZ WILDNER, Das österreichische .l!'o.brikonrooht (Wien 1838), 8.

7a In Obereinstimmung miL zahlreichen Autoren CmusTIAN JACOB KRAUS, St,aatswirt-


schaft, hg. v. Hans v. Auerswald, Bd. 5 (Königsberg 1811), 188.

243
Fabrik W. 3. Die neue Fahrikstadt

Entwicklung zu systematisch organisierten und mit vo"tfier Maschinenkraft aus-


gerüsteten Fabrikenetablissements zu 73, gilt aber vor allem für die - eben deswegen
ihrer Natur nach quantifizierbaren - ökonomischen Aspekte der Ausbildung des
modernen Fabrikwesens wie den Einsatz einer mit der Erhöhung der maschinellen
Ausstattung ständig steigenden Kapitalsumme, die Zahl der beschäftigten Arbeits-
kräfte, von denen ROBERT VON MoHL schon 1838 meinte, sie gehe nicht selten selbst
in die Tausende 74 , und es gilt z.B. auch für die Beurteilung von Konkurrenz-
chancen usw.: weiß man doch, daß es nicht die Konjunktur ist, sondern die fabrik-
ökonomische Kapazität, welche die englische Baumwollspinnerei gegen die sächsische
in Vorteil setzt' 5 •

3. Die neue Fabrikstadt

Wie sehr schließlich, nach der Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten in der
Manufaktur, von der erst wenige betroffen waren, nunmehr für breite Schichten
auch das äußere Bild ihrer Lebenswelt mit der Entstehung und Ausbreitung des
modernen Fabrikwesens sich verändert hat, ist von dem Wandel des Begriffs einer
Fabrikstadt abzulesen. Zunächst nur gemünzt auf gewerbliche Zentren mit Hand-
werk, Manufakturen und verlegter Arbeit (auch in ihrem weiteren Einzugsbereich
wie eben bei der fabrique de Lyon),·meint er dann jene industriellen Ballungen, von
denen wir im Falle Manchesters nicht nur die als empirisches Gegenstück der Marx-
schen Theorie berühmt gewordene Schilderung von ~'RIEDRICH ENGELs 76 besitzen.
Nicht, minuer einurucksvoll hat Ahllxrn DJ<J TooQUEVILLE das Bild Manchesters
skizziert: Dies sind nicht mehr Städte gewohnten Anblicks, sondern ce sont les landes
de l'industrie: dreißig oder vierzig Fabriken, sechs Stockwerke hoch, zwischen ihnen
erbärmliche Behausungen und eine an tausend Stellen aufgerissene Erde, nicht
mehr ländliche Natur und noch nicht Stadt, die Straßen in ihrer Mehrzahl schlam-
miger, buckliger Boden, Kehrrichthaufen, Trümmer von Häusern, Lachen fauligen
Wassers, das Ganze ein übelriechendes Labyrinth, überlagert von dichtem schwar-
zem Qualm, die Sonne eine matte Scheibe am Himmel, in ihrem verschleierten Licht
und dem wildfremden Geräusch der Maschinen die unablässigen Bewegungen von
dreihunderttausend menschlichen Wesen - c' est au milie•~ de ce cloaque infect ...
que l'esprit humain .~e perfectionne et s' abrutit; que la civilisation produit ses merveilles
et que l'homme civilise redevient presque sauvage 77 • Damit wurde charakteristisch die
Ambivalenz ausgedrückt, die das Urteil über das Fabrikwesen noch ein Jahrhundert
lang bestimmen sollte.

73 GEORG v. VIEBAHN, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Bd. 3

(Berlin 1868), 749.


7 4 MoHL, Art. Gewerbe- und Fabrikwesen, 788 (s. Anm. 26).
7 5 FRIEDRICH GEORG WIECK, Industrielle Zustände Sachsens. Das Gosammtgobiot des säch-

sischen Manufaktur- und Fabrikwesens, Handels und Verkehrs. Historisch-statistisch und


kritisch beleuchtet (Chemnitz 1840), 79.
78 FRIEDRICH ENGELA, Die La.ge der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener An-

schauung und authentischen Quellen (1845), MEW Bd. 2 (1959), 237 ff.
77 '.l.'ooQUF.VlLLE, Voyagr.R r.n Anglet.erre et: en lrla.nde de 1835, Oeuvres compl., 4• ed„

t. 5/2 (1958), 80. 82.

244
IV. 1. "Obergang zur Gewerbefreiheit Fahrik

IV.
l. Von den Freiheiten und Privilegien des Fabrikensystems zur Gewerbefreiheit

Die ambivalente Einstellung zur modernen Fabrik scheint vorgeprägt zu sein in


einem doppeltem Aspekt der Manufaktur: Auf der einen Seite zeigte sich die Hete-
ronomie der Arbeit in einer ihrer schärfsten Formen, wo Manufakturen nach der
ihnen zugrunde liegenden arbeitspädagogischen Idee (->-Arbeit) 78 - angesichts des
Massenbettels und der Verwahrlosung breiter Bevölkerungsschichten-als Zucht-
undArbeitshäuser entstanden sind: Profit und Philanthropie hatten sich.in ihnen ver-
bunden, bis Philanthropie wieder eigenständig werden und Profit vor ihren Richter-
stuhl ziehen sollte 79 • Auf der anderen Seite aber hat die merkantilistische Wirt-
schaftspolitik zum Zweck der in ihren Methoden nicht immer gewaltlosen Gewin-
nung von Arbeitskräften auch Wege eingeschlagen, die letzthin, weit über die
Absicht der Initiatoren hinaus, zum Abbau der Heteronomie der Arbeit führen
sollten, sofern sie durch personale Autorität überhaupt bedingt ist. Erste Schritte
auf diesem weiten, verschlungenen Wege stellten die bekannten Privilegierungen
dar, wie Rie in den AufforderungR- und Einladungsedikten an ausländische Arbeits-
kräfte ausgesprochen worden sind. Daß die aus fremden Landen nach Berlin ziehenden
Manufacturiers, Fabricanten imd Handwerker die h.ierin benannten Beneficia und
Freiheiten genießen sollen, gestattet ihnen beispielsweise ein am 3. August 1734
ergangenes Patentso.
Ihren Formulierungen nach scheinen solche Bekundungen staatlichen Willens zur
Förderung der Wirtschaft lloch in der altständischen Welt beheimatet zu sein,
deren innere Schranken eben in derartigen Maßnahmen indessen schon durch-
brochen worden sind: es ist die Welt der ,,jura et libertates", der differenzierten,
abgestuften Freiheiten, welcher der an solchen Zeugnissen freilich als zu eng erkenn-
bare aristokratische Freiheitsbegriff - im Unterschied zum neueren, demokrati-
schen - zugeordnet ist 81 •
Der Endzweck solcher Privilegierungen, bei wohl eingerichteten Republiken82 , ist nach
weithin übereinstimmender, im folgenden anhand von SoNNENFELs 8 3 wiederge-
gebener Auffassung ein doppelter: in Beziehung auf den einzelnen Manufakturanten
oder Fabrikanten das Verschaffen von Unterhalt und Gewinn durch K11nRta.rheit;
in bezug auf den ganzen Staat aber die Vermehrung der Beschäftigung mit den
angestrebten Folgeerscheinungen wie vor allem der Wohlfahrts- und Machtsteige"
rung. In dieser wie auch immer im einzelnen gefaßten zweifachen Teleologie werden

78 -->- Arbeit, Bd. 1, 165. Dazu (mit Literatur) CARL JANTKE, Vorindustrielle Gesellschaft

und Staat, in: Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur· modernen Gesellschaftskunde,
hg. v. ARNOLD GEHLEN u. HELMUT SCHELSKY (Düsseldorf, Köln 1955), 91 ff., bes. 109 ff.
79 Bahnbrechend für diese humanitäre Wendung JoHN HowARD, The State ofthe Prisons

inEngland and Wales (Warrington 1777).


80 Zur Interpretation und Einordnung vgl. KURT HINZE, Die Arbeiterfrage zu Beginn des

modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preußen 1685-1806, 2. Aufl. (Berlin 1963), 91.


81 Vgl. z.B. die Unterscheidung bei TocQUEVILLE, Etat social et politique de la France

avant et depuis 1789 (1836), Oeuvres compl., 4° ed., t. 2/1 (1952), 61 ff.
82 NEilltINU 10. Aufl. (1756), 216.

83 SONNENFELS, Grundsätze, 3. Aufl., Tl. 2, 137 (s. Anm. 42).

245
Fabrik IV. 1. Vbergang zur Gewerbefreiheit

wiederum zwei. zukunftsweisende Entwicklungen in ihren Konturen sichtbar: ein-


mal das Vordringen des individualistischen Utilitarismus, für den das Gemeinwohl
durch die erstrebte Privatglückseligkeit vermittelt wird oder gar nur in solcher
Vermittlung besteht; und zum anderen die wachsende Abhängigkeit der Wohlfahrt
von der Wirtschaft, die Ökonomisierung des Gemeinwohls.
Insoweit zur Förderung eines solchen Endzweckes „Beneficia und Freiheiten",
Gewährleistungen und Exemptionen neben den Manufakturisten und Fabrikanten
auch den einwandernden Handwerkern zugesagt worden sind, haben sich auch diese
Gruppen vom Handwerkerstatus abgehoben. Entscheidend war dabei die ausdrück-
lich als solche aufgefaßte ;Befreiung vom Joch der Zünfte 84 •
Nahezu in wörtlicher Übereinstimmung beschreiben mehrere Lexika des späten
18. Jahrhunderts 85 die Folgen der Tatsache, daß Fabrikanten, anders als Hand-
werker, in keiner Zunft oder Innungsverbindung stünden und daher die Grundsätze
der Handwerkerrechte auf ihre Verhältnisse keine Anwendung litten: Insbesondere
seien sie in Haltung der Gesellen auf keine Zahl eingeschränkt, worin eine der Bedin-
gungen der Möglichkeit für die Expansion des Fabrikwesens zu erkennen ist; so-
dann beruhten die Anzahl der Lehrjahre wie die Höhe des Lehrgeldes auf dem Vertrag
zwischen Fabrikanten und Lehrling - für uns ein Symptom des in einem solchen
Begriffspaar freilich nur allzu grob erfaßten Wandels von der Statusgesellschaft zur
Verkagsgesellschaft. Schließlich gibts bei Fabriken keine Lossprechung, keine W an-
derschaft und kein Meisterstück; kurz! nüiJiJ,.~ 'tmn 11,llllrn dern, weis Z~tnftwe$en .nach-
zieht.
An diesen Kriterien hat man bis weit ins 19. Jahrhundert während der ausgedehnten
Diskussionen über die Gestaltung der Gewerbeverfassung nicht nur festgehalten,
sondem ihnen sogar Aus1:1chließlichkeitsan1:1pruch zugebilligt. So erklärte 1836 der·
Göttinger Stadtsyndikus FERDINAND ÜESTERLEY 86 , daß ein entscheidendes Merk-
mal einer Fabrik sich nur da angeben lasse, wo Zünfte bestünden. In Ländern ohne
Zünfte unterscheide sich der Fabrikant von dem gewöhnlichen Handwerker nur
durch den größeren Umfang seines Geschäftes, dies aber sei, da er der verschieden-
sten Abstufungen fähig, überall kein wesentlicher Unterschied. Abgesehen von
einer gewissen Grobschlächtigkeit, wie sie allem bloß klassifikatorischen Denken
eignet und sich hier in dem erklärten Verzicht kundtut, komparativen Kriterien
konstitutive Bedeutung beiimmessen, bezeugt die Tatsache, daß eine immerhin
preisgekrönte Schrift noch keinen anderen Wesenszug der Fabrik angeben kann, in
der Tat die Rückständigkeit in der Entwicklung des Fabrikwesens.
Dieses negative Merkmal der Freiheit von zünftigen Bindungen sollte sich politisch
vollends als unzulänglich erweisen: In der bekannten Wahlrechtsdebatte der Frank-
furter Nationalversammlung erklärte KARL JosEPH ANTON MITTERMAIER ·am
20. ·Februar 1849 zu der Forderung, Dienstboten, Handwerksgehilfen, Tagelöhner
und Fabrikarbeiter als „unselbständig'' vom Wahlrecht auszuschließen, daß es
nichts Unbestimmteres als den Ausdruck „Fabrikarbeiter" gebe, denn noch sei es
niemandem gelungen, klar zu bezeichnen, was eine Fabrik sei. Unter der Kategorie
8' Dt. Enc., Bd. 9, 371.
si; Ebd.; STR.ELIN 1 Realwörterbuch, Bel. 3, 372.
ij 6 J!'ERDIN.AND ÜESTERLEY, Von den Ursachen des Verfalls des Gewerbes der Wollweberei

im Königreich Hannover und dell Mitteln. um dasselbe wie<l.er zu hebeu, Hu.11noversd1es


Magazin (1836), 65 ff., hier 177.

246
IV. 2. Klassendichotomie der Fabrikanten Fabrik

der Fabrikarbeiter würden allerlei Leute, selbst Künstler und Kunstarbeiter, die feine
Arbeit machen, eingetragen, wenn sie in einer Fabrik arbeiten, weil sie sich nicht als
Gesellen, als Gehülfen angeben dürfen; denn sonst müßten sie in der Zunft arbeiten 87 •

2. Die Klassendichotomie der Fabrikanten


Was die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, das Problem der Fabrikarbeiterschaft,
von allen früheren Formen des Elends breiter Schichten einschließlich des vor-
industriellen Pauperismus 88 scheidet, ist nicht eine verschärfte Notlage: gerade
insoweit wäre allenfalls wieder eine Ambivalenz namentlich zeitgenössischer Stim-
men festzuhalten; was vielmehr die historische Sonderstellung der sozialen Frage
des Fabrikproletariats ausmachte, war vor allem der durch Aufklärung und bürger-
liche Revolution erreichte Stand der Bewußtseinsbildung und, damit verbunden,
die durch die Idee der Gleichheit inspirierte Reduktion aller sozialen Verschieden-
heiten auf das eindimensionale Kriterium ökonomischer Unterschiede. Die Differen-
zierung im Ökonomischen bei Abstraktion in jeder anderen Hinsicht wird auf
freilich eng begrenztem Feld in den Wandlungen sichtbar, die der Begriff des
Fabrikanten durchlaufen hat. Der Ausdruck fabriqumnt (auch fabricant oder fabri-
cateur), in Deutschland gleichzeitig mit dem Fabrikbegriff seit KRAFFTS „Bedenken
von den Manufakturen" (1683) nachweisbar 89, in Frankreich hingegen für celui qui
fabrique en grand schon 1604 belegt90, meinte zunächst ungeschieden sowohl einen
Mann, der da etwas macht oder selbst verfertigt, wie auch denjenigen, der RohsLo.ITe
verarbeiten und damit Waren fabriciren läßt91 • Von hier stammt als breiter, wenn-
gleich letzthin nioht zukunftstrii.chtige:r begriffsgoschichtliohcr Zweig die Identifi-
kation von •Fabrikant' und 'Verleger', die über die Schwelle der Industrialisie-
rung nachweisbar92 und bezeichnenderweise in der hochindustriellen Epoche mit

87 KARL J. A. MT'l''l'F.RMATlllR, Rede in der 174. Sitzung der Na.tionalversammlung am


20. Februar 1849, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7 (Frankfurt 1849), 5327.
88 CARL J.ANTKE, Zur Deutung des Pauperismus, in: Die Eigentumslosen. Der Deutsche

Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenös-


sischen Literatur, hg. v. ÜARL J.ANTKE u. DmTRIOII HILGER (Freiburg, München 1965),
7 ff.
89 SOIIULZ/BABLER Bd. 1, 198.
90 FEW Bd. 3, 344.
91 MoRATORI, Conversations-Lexikon, 244 (s. Anm. 21). Noch bei BEYSCBLAG 2. ,Aufl.

(1806), 53 gilt der als Fa.bricam.t, de,r Wa.re.11e.rfe.rtiot, ndP.r 11e.rfP.rti:oP.n 'läßt. F.henRo hei ROTH
Bd. l, 293.
92 Bei LuDovrn1 Tl. 2 (1753), 1408 f. ist Fabrikant oder JJilanufacturist u. a. der Verleyer

einer Fabrik. Nach NEHRING 10. Aufl. (1756), 216 wird ein Verleger oder Negociant ein
Fabricant oder Fabricateur genennet. Als Belege aus dem frühen 19. Jahrhundert seien ge-
nannt JULIUS v. SODEN, Die Nazional-Oekonomie, Bd. 2 (Leipzig 1806), 7 u. KARL
HEINlUCH R.ur, Ansicht.en rlf'll' VnlkRwitf,hRf1h11ft. mit. hARnnrlAl'Al' RA:r.iAh11ng auf Deutachland
(Leipzig 1821), 26; neuerdings GERHARD SLAWINGER, Die Manufaktur in Kurbayern. Die
Anfänge der großgewerblichen Entwicklung in dllr Übllrgangsopocho vom Merkautili1:1lllu1:1
zum Liheralismus 1740-1833 (Stuttgart 1966), 2. In Schlesien nannte sich noch in der
Epoche der Hochindustrialisierung - Gleichzeitigkeit dos Ungleichzeitigen - 'Fabrikant'
derjenige, der mit uelll Tragkorb über· die Berge zog, um als Verleger die in IIeimal'heit
Produzierenden aufzusuchen.

247
Fabrik IV. 2. Klassendichotomie d11r Fahrikant"n

einem geringschätzigen Nebensinn aufgeladen worden ist, der den sozialen Abstand
zwischen verlegerischem Fabrikanten und industriellem Fabrikbesitzer nicht in
Vergessenheit geraten lassen sollte93 •
Impliziert schon die Stellung des Fabrikanten als Verleger ökonomische Macht über
die hausindustriell produzierenden(gleichfalls so genannten) Fabrikanten, so reflek-
tieren sich betriebliche Hierarchien mit entsprechenden Macht- und Herrschafts-
positionen um die Wende des Jahrhunderts in. einer gerade noch festgehaltenen
Zweideutigkeit des Begriffs: Nach wierleTholtfim Zeugnis (-+ Arbeiter) galt im
späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als 'Fabrikant' ein jeder Arbeiter in einer
Fabrik ... Besonders der erste und vornehmste unter denselben, der die Stelle des
Meisters bei zünftigen Handwerkern vertritt 94 • Wird man diese im Begriff noch nicht
aufgegebene Gemeinsamkeit in und trotz der Hierarchisierung als Zeichen eines
bestimmten Bewußtseins, einer gewissen, keinesfalls jedoch gemeinschaftsideolo-
gisch nachträglich eingeführten Zusammengehörigkeit deuten wollen, zumal dies
in der heterogenen und.eben deswegen irrelevanten sozialen Herkunft auch jener
ersten und vornehmsten unter den Fabrikanten eine Stütze :finden könnte, so ver-
dient andererseits um so mehr Beachtung, daß solche Gemeinsamkeit im Begriff
zuvor schon gleichsam aufgekündigt worden ist mit der ausschließenden Feststellung
der „Deutschen Encyklopädie" von 1784: Fabricant, Fabrikenherr, Fabrikenmeister,
sind gleichbe<leutende Namen, des Tinternelnners 'VOn e'in 'und anderen Art von Fabri-
ken95. In umgekehrter Exklusivität eTklii.Tt dann CHRISTIAN JACOB KRAUS diejeni-
gen für Fabrikanten, die nach Verding oder nach Zeit bezahlt, in einem ... Fabrik-
hause systematisch bescltäftigt werden: sie stehen nach Kraus unter einem Regierer
oder Fabrikherrn 96 . Damit wird in einer Deutlichkeit, die um so bemerkenswerter
erscheint, als sie noch der sozialkritischen Note entbehrt, der Aspekt der Herrschaft
innerhalb der }j'abrik angesprochen. Zugleich wird die Trennungslinie zwischen
Verleger und Fabrikherrn Init dem Hinweis gezogen, daß nicht nur die Materialien,
sondern auch die Werkstatt und Masclvinen d'il!1wrn Z'UtJeltüren. So schält sich nach der
Jahrhundertwende, zunächst in unsicher tastenden Versuchen97 , das Eigentum an
den Produktionsinitteln, noch keineswegs in dieser terininologischen Fassung und
vollends nicht mit dem theoretischen Anspruch, den es bei Marx erhalten sollte,
doch al8 Kriterium des Fabrikanten im engsten Sinne heraus, des typischen Fabrik-
besitzers der IndusLI-iellen Revolution in ihrer ersten Phase, rler später unter dem
Eindruck der Entstehung korporativer Großunternehmen und der für sie charakte-

93 Alii weitere, für unseren Zusammonhung nioht weiter zu verfolgende Nebenbedeutungen

seien - in Parallele zu entsprechenden Varianten des Fabrikbegriffs - erwähnt: Fabri-


cateur als derjenige, der Münzen prägt, speziell angewandt für Falschmünzer, LUDOVICI
Tl. 2 (1753), 1408. Auch im übertragenen Sinne kann das Wort nach französischem Muster
verwandt werden. So ist für LA FoNTAINE Gott le fabricateur souverain, und bei VOLTAIRE
findet sich die verächtliche Wendung les fabricateurs de systemes, LITTRE t. 3 (Ausg. 1956),
1312.
94 KRüNITz Bd. 12 (1786), 2; fast gleichlautend SCHRÖTER 2. Aufl. (1799), 140 und

ADELUNG 2. Auii„ Hd. 2, 4.


9 s Dt. Enc„ Bd. 9, :l71.

98 KRAUS, Staatswirtschaft, Bd. Ci, 189 (~. Anm. 72).


97 Vgl. z.B. DAntRnhAR Hn.ndwörtcrbuch für die Geschäftsführung, den Umgang und die
Lectüre, Bd. 1 (Leipzig 1805), 283.

248
IV. 2. Klassendichotomie der Fabrikanten Fabrik

ristischen Trennung von Eigentum und Kontrolle zum nur noch „mittelständischen''
Unternehmer herabsinken sollte.
Einen dieser Entwicklung gleichsam vorauseilenden Schatten vermag man in den
Erwägungen der Anforderungen zu erkennen, denen jene Fabrikherren genügen
sollten . .Als Haupteigenschaften eines Unternehmers werden bei STRELIN 1786 auf-
geführt: vollkommene Kenntnis der zu bearbeitenden Produkte und der Art, sie zu
behandeln, genaue Einsicht in die Lage, darinnen er sich befindet und in das Lokale,
Klugheit, Fleiß, Geld u. d. g., und dann kann er den Flor eines Landes nicht wenig
befördern helfen, so wie er im Gegenteil sich selbst zugrunde richten, oder auch, wenn
er mit Monopolien bewaffnet ist, dem Lande mehr nachteilig werden kann98 •
Demnach scheint für den Begriff des Unternehmers das, was er in persönlichem
Risiko einsetzt, nämlich sein Kapital, nicht das wichtigste gewesen zu sein, wäh-
rend man - und das erst läßt die Beiläufigkeit der Erwähnung auffällig erschei-
nen - doch für die Gründung einer Fabrik das Kapital auch damals schon als
entscheidend angesehen hat: Wie wenig das Kapital eine personal gebundene Kate-
gorie ist, sollte sich vollends in seiner Anonymität wiederum bei den Großunter-
nehmen erweisen. Parallel zu dieser Entwicklung haben sich auch die Erwartungen
hinsichtlich der persönlichen Qualitäten eines Fabrikanten gewandelt: Ökonomische
und technologische Fähigkeiten, zunächst noch in buntem Gemenge mit praktischen
Tugenden überhaupt, tmndern sieh von diesen ab und trennen sich schließlich auch
voneinander. Nur in einer freilich gerade in Deutschland lange währen<len Üher-
gangslage und nur in einem so stillen Winkel des industriellen Ausbaus, wie es
Lübeck bis in die hochindustrielle Epoche Deutschlands bleiben sollte, konnte man
behaupten, daß Kaufmann, Techniker, Mechaniker in der Person eines guten Fabri-
kanten vereinigt sein müßten99 • Wurde daraus noch die Forderung nach Studien der
Technologie, Chemie und Mathematik abgeleitet, so trat allmählich eigenständig
daneben und sogar in den Vordergrund die kommerzielle Bildung100• Die moderne
Betriebssoziologie registriert die vorab letzten Stadien dieser Entwicklung: die
technischen Expertenstäbe stehen, unbeschadet ihrer großen Bedeutung, weit-
gehend außerhalb des hierarchischen Systems ökonomisch-administrativer Posi-
tionen.
Welche Möglichkeiten sich schon vor der Höhe des 19. Jahrhunderts einem zu
Reichtum gelangten Fabrikbesitzer geboten haben, hat Ro.BERT VON MoHL 1838 -
allerdings auch im Vorgriff auf eine im damaligen Deutschland erst heraufziehende
Wirklichkeit - anschaulich dargestellt; zugleich ist Mohl einer derjenigen Autoren,
die dao Sehiekoal der Fabrikarbeiter wiederholt ins öffentliche Bewußtsein gehoben
haben, nicht nur aus philanthropischer Teilnahme, sondern auch und vor allem,

98 STRELIN, Realwörterbuch, Bd. 3, 372.


99 Einige Bemerkungen über Fabriken in besonderer Beziehung auf Lübeck, Neue Lübek-
kische Bll. 1 (1835), 247 ff.; im Kontext übrigens nicht ohne Widerspruch, aber auch er
noch scheint dadurch vcrständlich zu werden, daß man in Lübeck glaubte, ernsthaft
erklären zu können, Handelsstädte sollten auf die rrroduzierenden und die fabrizierenden
Klassen mit wenigen, lokal bedingten Ausnahmen verzichten, und das l<'abrikwesen, ohne-
hin nur eine untergeordnete Richtung des Kunstfleißes, sei auf Lübeck nicht anwendbar,
F. BoLDEMANN, Vortrag in der Gesellschaft zur Beförderw1g gemeirmütziger· Tätigkeit
am 22. Jan. 1828, Neue Lübeckische Bll. 1 (1835), 126 f.
100 VIEBAHN, Stat.ist.ik, Rn.::!, 750 (R. Anm. 7::1).

249
Fabrik V. Ausblick

um einer unentschuldbaren Selbsttäuschung der bürgerlichen Gesellschaft ange-


sichts der ihr drohenden Gefahren zu begegnen. Im folgenden Passus bricht die
terminologisch auch nicht mehr im Begriff des Fabrikanten verdeckte Dichotomie
dieser Gesellschaft in ihrer ganzen Schärfe auf: Von allen Seiten zuströmender
Reichtum mache bei dem minder Sparsamen die Wohnung zum Schlosse, aller Glanz
der Vornehmen, jeder Genuß des Schwel,gers und Eitlen umgibt ihn; er streckt seine
Hand ruwh Verbindungen mit den ersten Geschlechtern des Landes aus. Bei dem ernster
und nützlicher Gesinnten aber gibt der Ankauf großer Ländereien, die stete Ausdeh-
nung des Geschäftes, die reichliche Versorgung der Kinder Zeugnis von der Größe des
schnell und anscheinend mühelos erworbenen Reichtums. Der große Fabricant und der
reiche Bankier nehmen in der jetzigen Gesellschaft einen der ersten Plätze ein, und
zwar ist jener nicht bloß in dem geldgierigen Zeitalter seines Geldes wegen angesehen,
sondern· es wird ihm auch ein Einfiuß in Staat und Gemeinde. In der Mitte seines
Arbeiterheeres erscheint er gleich einem mäcltt,iyen Hä'uptlinge der Feudalzeit; die
Wahlen in den Rat der Volksvertreter, die Ernennungen'in den Senat fallen auf ihn,
denn er ist eine politische Macht ... Nun aber zur Schattenseite. Aller dieser Wohlstand,
diese fürstlichen Reichtümer werden erworben mittelst der zahlreichen Fabrikarbeiter.
Auf einen Herren kommen Hunderte, vielleicht Tausende derselben. Faßt man nun
abP.r dn„~ 8ch1:cksa.l d1:eser 111'.el.en 1:ns Auge, so findet man einen solchßn Abgrund von
Elend, eine solche Masse von giftigen, in demselben gärenilen Übeln, duß, kierrn'it ver-
glichen, das übermäßige Glück einzelner, au.~ .~ütl1:chem 11,nd aus wirtschaftlichem
Gesichtspunkte, ganz verschwindet 10 1 •
Das war nicht mehr der herkömmliche Pauperismus, nicht daR Massenelend der
über ökonomische Tragfähigkeiten hinausgewachi;enen Bevölkerungen: nicht die
naturwüchsig entstandene, sondern die künstlich produzierte Armut, wie der junge
MARX diesen Unterschied in scharfe Begriffe gefaßt hat, um, gerüstet mit Regel-
seher Dialektik, an den völligen Verlust des Menschen im Proletariat die Erwartung
der völligen Wiedergewimiimg du Mensclien durch die RevuluLiu11 2.U k11Upfen 100 •

V. Ausblick: Fabrik, Entfremdung und Demokratie


Waren bei Marx die Kritik des Fabrikwesens und dessen Bejahung aus historischer
Einsicht in die Notwendigkeit dialektisch vermittelt, so traten bei anderen Autoren,
die einen solchen Widerspruch in der Reflexion nicht auszutragen vermochten, die
negativen oder positiven Aspekte jeweils schärfer hervor, bis die Geschichte selbst
das Urteil goflproohon zu haben schien: Ihr Spruch, gefäfü illlu1rhalb der sozialisti-
schen Bewegung durch kritische Prüfung der Marxschen Lehre, bestätigte die
Fabrik nicht nur als Ursprungsort des dichotomischen („letzten") Klassenantago-
nismus, sondern zugleich auch als die Stätte, von der eine gegenüber aller bisherigen
Geschichte unvergleichliche Verbesserung der materiellen Verhältnisse breitester
Schichten ausgegangen isL. Allein, erst diese sich allmählich abzeichnende Möglich-
keit eines Massenwohlstandes im Gefolge des Fabrikwesens, der immerhin die äuße-
ren Voraussetzungen für eine Emanzipation des Menschen im anspruchsvollen

101Mom., ArL. Gewe!'be- und Fabrikwesen, 795 f. (s. Anm. 26).


102M Anx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, l!:inleitung, MEW Bd. 1 (10li7),
390.

250
V. Ausblick Fabrik

Marxschen Sinne bieten könnte, hat den Blick wieder freigegeben für das funda-
mentale Problem, das MARX in den Begriff der Entfremdung gefaßt hat 103. Der
fabrikmäßige, historisch zugespitzte, gleichwohl nur derivative Aspekt der Ent-
fremdung findet sich u. a. in der Alternative, in der Marx die von Ure in ihrer
wechselseitigen Bedingtheit dargestellten Elemente des Fabriksystems: die syste-
matische Arbeitsorganisation und die zentrale, sich selbst regulierende Antriebs-
maschine, in eben dieser Vereinigung gegeneinander ausgespielt hat: Ist der kombi-
nierte Gesamtarbeiter oder gesellschaftliche ArbeitskiYrper als übergreifendes Subjekt
und der mechanische Automat als Objekt anzusehen - oder ist der Automat selbst
das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen
beigeordnet und mit denselben der zentralen Bewegungskraft. untergeordnet? 104 Die
automatische Fabrik der Gegenwart hat dieses Problem mit seiner letzten Ver-
schärfung zugleich obsolet werden lassen: Die Verdrängung oder Entlassung der
ArheitAkräfte aus dem eigentlichen Produktionsvorgang, freilich nicht auA seinen
Vorstufen, hat den Subjektcharakter des Automaten vollends bestätigt und dabei
aufgehoben, indem der Automat zum Subjekt ohne Objekt geworden ist105 • Dafür
taucht das Problem der Entfremdung in der gegenwärtigen Diskussion unter gleich-
falls derivativen Aspekten außerhalb der Fabrik gewissermaßen a tergo wieder auf:
in der Kritik eines lediglich korummorientierten Freizeitv11rhll.ltfmR 11nfl flim Dar-
stellungen moderner „Sachzwänge" 106, diesen Visionen einer gnadenlosen Hetero-
nomie der Sachra.tionalität nach Liquidierung der personalen Autorität. Der pro-
gressive Abbau persönlicher Herrschaftsverhältnisse auch innerhalb des Fabrik-
betriebes, ihre Reduktion auf funktionale Autoritätsbeziehungen107, ist indessen
nicht nw bedingt durch technisch"' Funktionszusammenhänge, sondern auch durch
ein politisch-soziales Homogenitätsprinzip, das sowohl als strukturelle Gegebenheit
sich geltend macht wie auch zur Maxime bewußter Gestaltung der Fabrikverfas-
sung erhoben wird. In jenem ersten und fundamentalen Sinn wird es in so konträren
Fällen wie uur BeuuuuhLung BRUNO lIILDEHRANDB, daß sich in jeder britioohon
Fabrik der britische Staat spiegele 108, und der Darstellung der von leibeigenen

ios Aus der neueren Literatur hier. nur HELMUT KLAGES, Technischer Humanismus
Philosophie und Soziologie der Arbeit bei Karl Marx (Stuttgart 1964).
1 " ' MAitx, Du.M KupiLul,_ MEW Ild. 23, 112.

io 5 Subjekt und Objekt hier zwar weiterhin im Sinne von Marx, doch erscheint bemerkens-
wert, daß die auf Reflexionsphilosophie und Logistik basierende dreiwertige „Metaphysik
der Kybernetik" von GOTTHARD GüNTHER, Das Bewußtsein der Maschinen (Krefeld,
Baden-Baden 1957) den dritten Bereich durch Ausgliederung aus der Subjektivität des
traditionellen Denkens gewinnt; dazu auch die anderen neueren Arbeiten Günthers.
106 Vgl. die heftig diskutierten Thesen von HELMUT ScHELSKY, Der Mensch in der wissen-

schaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Ges. Aufs.
(Düsseldorf, Köln 1965), 439 ff.
107 HEINZ HARTMANN, Funktionale Autorität. Systema.tische Abhandlung zu einem sozio-

logischen Begriff (Stuttgart 1964).


108 IlRUNO HILDEBRAND, Die Nationalökonomie cler Gee11nwa.rt und Zukunft (Frankfurt

1848), hg. v. Hans Gehrig (.Jena 1921), 76.

251
Fabrik V. Ausblick

Arbeitskräften betriebenen Fabriken des alten Rußland bei TuGAN-BARANOWSKIJ 169


festgehalten.
Derartige Experimente zeigen aber auch die Grenzen, die der Gestaltung der
Fabrikverfassung auf Grund politisch-sozialer Homogenitätsvorstellungen gesetzt
sind: Zwar orientierten sich das patriarchalische Prinzip, denaturiert in der herr-
schaftswidrigen modernen Welt zum Herrn-im-Hause-Standpunkt, das totalitäre
Führerprinzip, das militaristische Prinzip der Arbeiterbrigaden, aber auch die vom
Verfassungsdenken OP.1'1 19 .•JR.hrhunderts zehrenden, von den Prinzipien der Fabrilc-
monarchie ausgehenden Einrichtungen der konstitutionellen Fabrik 110 jeweils an
tatsächlichen oder vermeintlichen, ideologisch gesehenen Strukturen der Gesell-
schaft außerhalb der Fabrikhallen, entsprachen aber zmnindest nicht den Entwick-
lungstendenzen moderner Gesellschaft oder vernachlässigten das · instit1ltionelle
Eigengewicht der Fabrik init ihren spezifischen sachlogischen Erfordernissen. Wird
heute nicht selten zwischen fortAohrnitcnder Demokratisierung der Gesellschaft
und fabrik- oder betriebsinternen Notwendigkeiten eine Spannung gesehen, welche
die plane Übertragung demokratischer Strukturen zumal dann nicht möglich er-
scheinen läßt, wenn ein seinerseits ideologisch fixiertes, totalitärer Implikationen
verdächtiges Demokratieverfifändnis hindurchscheint, so kann doch kein Zweifel
bestehen, daß Demokratie ubd Fabrik, 11ufgckommen in parallelen, sich wech<1Hl-
seitig fördernden Ilevolutiomm, zu weltweiter Verbreitung gelangt in einer säku-
laren, Freiheit auch von Not verheißenden Ernanr.ipationsbewegung, historisch wie
sachlogisch zusammengehören.
DIETRIOH HILGER

109 M:roHAIL TuGAN-BARANOWSKIJ, Geschichte der russischen Fabrik, dt. Ausg. hg. v.

R Minzc11 (Berlin 1900).


110 HEINRICH FREESE, Die konstitutionelle Fabrik (Jena 1909), 6: über Prinzipal, Fabrik-

parlament und Wähler als die an der Gesetzgebung der Fabrikmonarchie Beteiligten: die Auf-
zählung oben im Text in freier Anlehnung an HELMUT ScHF.LSKY, .AufgaLen uml Grenzen
der Betriebssoziologie, in: Wege zum sozialen Frieden. Beiträge zur Mitbestimmung und
sozialen l'artnersohaft in d01· Wirtschaft, hg. v. HEINZ-DIETRICH ÜRTLIEB u. H~n.M 11•1•
SoHELSKY (Stuttgart, Düsseldorf 1954), 224 f.

252
Familie

I. Einleitung. II. Der Familienbegriff im Mittelalter und der frühen Neuzeit. 1. Das
Problem eines Begriffs der Familie in der vorwissenschaftlich-mittelalterlichen Sprache.
2. Der Begriff der Einzelfamilie unter dem Einfluß der aristotelischen Ökonomik. 3. 'Fa-
milie' als terminologische Einkleidung des Hausbegriffs im 18. Jahrhundert. III. Die
Veränderungen des Familienbegriffs seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. 1. Die Rück-
bildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente des Familienbegriffs. 2. Der Begriff
der Familie im Spannungsfeld ihrer Verinnerlichung und ihrer sozialen Funktion; das
Entstehen des „bürgerlichen" Familienbegriffs. a) Der Ausgangspunkt. b) Ansätze zur
sozialen Entpfl.ichtung der Familie und zu ihrem Abbau als sozialem Grundbegriff. a) Der
individualrechtliche Aufbruch der Familie; der vertragsrechtliche Familienbegriff. ß) Die
begriffliche Dekomposition des Rechts- und Sozialgebildes „Familie" in der Romantik.
c) Die F.rmmerung von 'Familie' als sozialem Grundbegriff; uer· b ilrge1·liuhe F1unilienbegl'iIT.
IV. Ausblick.

I. Einleitung
Heute versteht man unter 'Familie' in der Regel das Elternpaar mit den unselbständi-
gen Kindern als Einheit des Haushalts (Kleinfamilie, Familie im engsten Sinne). Z1"r
Familie im weiteren Sinne gehört wach d·ie V e:rwaniltscliaft, zumal dann, wenn sie einen
gern.m:n.~nrnen Hau.~lialt führt (IlROCKHAUS 1968) 1 • Die modernen lexikalischen Defi-
nitionen lassen also erkennen, daß im Bedeutungsfeld der Familie zwei Komponen-
ten angesiedelt sind, zum einen die einer Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft auf-
grund von Eheschließung und ehelicher Zeugung, zum anderen die der Verwandt-
schaft (Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft). Es wird ferner erkennbar, daß
das zuletzt genannte Bedeutungselement im heutigen Familienbegriff einem Ver-
kümmerungsprozeß ausgesetzt ist 2 • Die Familie als Verwandtschaft wird mehr und
mehr zu einer blassen Beziehung, zu einem sozial nicht mehr bedeutsamen und auch
als solchem zurückgebildeten Privatverhältnis; als sozialer Körper erscheint sie -
außer im Adel und in bezug auf die adelige Familie - als historische Reminiszenz.
Bezeichnenderweise begreift die führende Familienwissenschaft, die Familiensozio-
logie, ausdrücklich oder stillschweigend unter 'Familie' allein die Lebensgemein-
schaft der Eltern und der noch im Elternhaus lebenden Kinder und erweitert diei:1en
Personenkreis wiederum lediglich im Aufweis geschichtlicher Zusammenhänge 3 •

1 BROCKHAUS, Enz., Dd. 6 (1968), 48.


2 Vgl. Das Große Duden-Lexikon, Bd. 3 (Mannheim 1965), 27: danach beschränkt sich der
Begriff heute auf die Einheit der verwandtsc'haftlich verbundenen Menschen. Er meint heute
in der Regel inner'halb dieser Einheit nur noch die Lebensgemeinsc'haft der ,Eltern mit den
unselbständigen Kindern.
3 Vgl. FRIEDHELM NEIDHARDT, Die Familie in Deutschland, in: Deutsche Gesellschaft im

Wa.11dcl, hg. v. K.IBL MAUTIN P.ornlil, P.rl. 2 (Hn,mhnrg, Opl11don 11)70), 15: In itberein.~im­
mung mit der neueren familiensozwwgischen Termin&ogie definieren wir Familie als eine
Grwppe, in der ein Ehepaar mit seinen d~rekten Nachkmnmen, also den eigenen K·i1ulem, ~·u­
sammenlcbt. Zur Verdeutlichung wird für diesen Tatbestand auch der Begriff 'Kernfamilifi'
verwendet und der 'Verwandtschaft' gegenübergestellt; vgl. GÜNTHER LüsoHEN, Familie
und Vorwandtsohaft. lnteraktion und die Funktion von Ritualen, in: Soziologie dor F11.-
milie, Kölner Zs. f. Soziologie u. Sozialpsychologie, Sondflrh. 14 (1970), 270 ff.

253
Familie II. 1. Vorwissenschaftlich-mittelalterliche Sprache

Nach der Absicht des Lexikons erscheint es daher gerechtfertigt, die folgende be-
gri:ffsgeschichtliche Untersuchung auf die Familie als einer an Eheschließung und
Zeugurig anknüpfenden Lebensgemeinschaft (im folgenden: Einzelfamilie) zu zen-
trieren; die verwandtschaftlichen Bezüge können dabei schon deshalb nicht ganz
außer acht gelassen werden, weil die Einzelfamilie im Eltern-Kind-Verhältnis eine
ganz wesentliche verwandtschaftliche Bindung enthält.
Die Begriffsgeschichte der Fa~e ist Schwierigkeiten ausgesetzt. Diese resultieren
aus den Konstanten der Geschlechts- und Verwandtschaftsverhältnisse, die das Sub-
strat des Familienbegriffs ausmachen. Daß Mann und Frau mit ihren Kindern, mög-
licherweise mit weiteren Personen, in einer Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft zeit
ihres Lebens oder auf gewisse Dauer zusammenleben, ist für unseren geschichtlic;hen
Raum eine Urerfahrung. Freilich unterliegt diese Lebensgemeinschaft vielfachen
Wandlungen, etwa bezüglich des Kreises der ihr angehörenden Personen, ihrer sozia-
len Funktion und ihrer inneren Struktur; ferner erweist sich die Veränderbarkeit
auch auf anschauungsgeschichtlicher Ebene, indem die Familie in den sozialen Ent-
würfen einen jeweils unterschiedlichen Platz erhält und eine jeweils unterschiedliche
Gestalt annimmt. Infolgedessen ist auch die Wandlung des Familienbegriffs und die
Aufspaltung in Familienbegriffe zu registrieren. Solche Wandlungen sind aber nach
bisheriger historischer Erfahrung begrenzt; ein völliges Umschlagen des Familien-
begriffs wäre nur bei einem gii.nzliehen Auswechseln des gemeinLen sozialen Sach-
verhalts denkbar, der sich aber nicht ereignet hat und der sich erst wird ereignen
können, falls sowohl Geschlechterliebe und Kinderzeugung als auch Kindererzie-
hung ganz aus einer wie immer gearteten Lebensgemeinschaft herausgelöst sein
werden, wofür die unpersonale .l:l:rzeugung des Menschen und die gänzliche Soziali-
11ienmg fler En:iehung vorauszusetzen sind. Angesichts der Konstanten wird die
geschichtliche Mobilität der Familie im Bereich ihrer Anschauung größer sein als im
Bereich des Funktionellen und Strukturellen - obwohl sie auch hier bedeutend
sind - : Begriifägeschichte als die· Geschichte des im Wortsinn von 'Familie' be-
wußt gewordenen sozialen Zusammenhangs wird dann in höherem Maße als bei
anderen sozialen Begriffen in die Nähe von Anschauungsgeschichte, Deutungsge-
schichte, Modellgeschichte geraten; Modellentwurf und Begriff stehen in einer nicht
aufhebbaren wechselbezüglichen Relation. Gegenüber· einer bloßen Modellgeschichte
wird es im folgenden jedoch auf diejenigen begriffsgeschichtlichen Veränuerungen
aukommen, denen - ungeachtet ihrer Einbettung in die vor allem seit der 2. Hälfte
des 18. Jahrhunderts auswuchernden sozialen Konzepte - übergreifende und daher
tendenziell allgemeinhewifflir.he Relevanz zukommt. Die folgende Untersuchung
setzt
.
mit dem Spätmittelalter ein und.
endet um die Mitte des 19. Jahrhunderts;

II. Der Familienbegriff im Mittelalter und der frühen Neuzeit

1. Das Problem .eines Begriffs der Familie in der vorwissensehaftlieh·


:mittelalterlichen Sprache ·

Ob es im Mittelalter einen hinreichend konturierten Begriff der engeren Lebensge-


meinschaft (Ilausgerneirnml111.f!„ Eiuzelfamilie) gegeben hat, ehe die Verwissen-
schaftlichung der Rechtskultur spürbar wird, erscheint zweifelhaft. Die rechts- und
verfassungsgeschichtliche ]!'orschung erfaßt heute freilich die einzelfamiliären wie

254
II. 1. Vorwissenschaftlich-mittelalterliche Sprache Familie

auch die verwandtschaftsrechtlichen Zusammenhänge mit Hilfe von Begriffen wie


'Haus', 'Hausgemeinschaft', 'Hausgenossenschaft', '8ippe' u. a. lJamit steht jedoch
nicht fest, daß diese Bezeichnungen, soweit sie der mittelalterlichen Sprache ent-
nommen sind, auch schon Begriffe im Mittelalter dargestellt haben. Fest steht ledig-
lich - entgegen den überwiegend sprachgeschichtlich und eben nicht strukturge-
schichtlich basierten Anfechtungen von KARL KROESCHELL 4 - die Existenz der mit
den Vokabeln 'Ha.us', 'Sippe' u. a. gemeinten sozialen Gebilde: einerseits der typi-
scherweise im Zusammenhang mit Geschlechtsverbindung und Kinderzeugung
stehenden wirtschaftlich-personalen Lebensgemeinschaft, andererseits der Ver-
wandtschaft. Zu dem sozial- und rechtsgeschichtlichen Befund gehört freilich die
Tatsache, daß sich die beiden Bezüge durchdringen, so daß die Person zugleich
einzelfamiliär wie verwandtschaftsrechtlich bestimmt erscheint, ohne daß die Be-
zugselemente generell voneinander getrennt werden könnten; dort, wo 'parentes'
auftreten, erscheint es nicht selten zweifelhaft, ob die Eltern oder die Verwandten
gemeint sinrl. Die einzelfamiliären und die vcrwandtschaftsrechtlichen Beziehungen
stehen gleichsam in konkurrierendem Verhältnis zueinander. Die Vielfalt der über-
kommenen Einzelregelungen lädt dabei nicht zu generalisierenden Aussagen ein.
Nur anhand von konkreten Konfliktslagen erscheint das Problem faßbar: so bei
der Frage der Erbfolge in das der Einzelfamilie zur Verfügung stehende Vermögen
(„Hauserbrecht"-„ Verwandterrnrhrr.cht" 1S); so bei der Frage der Zuständigkeit
des - dem kanoniimhen Recht zum Trotz aufrechterhaltenen - familiären Ehebe-
willigungsrechts, als dessen Inhaber in spätmittelalterlichen Quellen vielfach nicht
allein Vater oder Eltern, sondern - namentlich wenn nur noch ein Ehegatte lebt
(auch wenn es der Vater ist!) - die Verwandten erscht1i111m 6 ; 1111 bei der Frage der
Bestimmung eines Vormunds für das verwaiste oder halbverwaiste Kind 7 • Ein
Hervortreten der Hausgemeinschaft gegenüber den verwandtschaftlichen Bindun-
gen läßt sich auch im Spätmittelalter vor Wirksamwerden der Rezeption des rö-
mischen Rechts nicht a.llgP.mr.in konRtatiP.rr.n. Völlig unabhängig davon, wie haus-
rechtliche und verwandtschaftsrechtliche Bezüge sich zueinander verhalten, kann
jedoch festgestellt werden, daß die Stellung der Person - seit der Feudalisierung
politischer Funktionen auch in bezug auf politische Rechte - ganz wesentlich
familiär bestimmt ist.

4 KARL KRoESCHELL, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht (Göttingen 1968);

derli., Die Sippe im gP.rmR,niFmh1m HAr.ht,, ZR. f. Rechtsgesch., germanist. Abt. 77 (1960), l ff.
6 Näheres bei RUDOLF HÜBNER, Grundzüge des deutschen Privatrechts, 5. Aufl. (Jena

1930), 661 ff. 7621f.; RICHARD SoHRÖllJ!llt, Geschichte clell ehelichen GüLtu·rt:chLs in Deutl!ch·
land, Tl. 2/1-3 (Stettin 1863-1874); H.-R. HAGEMANN, Art. Erbrecht, Hwb. z. dt.
Rechtsgesch., Bd. 1 (1971), 971 f.
6 Nachweise: ÜTTO STOBBE, Handbuch des deutschen Privatrechts, 1./2. Aufl., Bd. 4

(Berlin 1884), 335; FERDINAND FRENSDORFF, Verlöbnis und Eheschließung nach hansi-
schen Rechts- und Geschichtsquellen, Hansische Geschichtsbll. 23 (1917), 319 ff. Zur Rolle
der Verwandtschaft bei der Eheschließung: INGEBORG SOHWARZ, Die Bedeutung der Sippe
für die Öffentlichkeit der Eheschließung im 15. und 16. Jahrhundert (Tübingen 1959).
7 Zur Rückbildung der Rolle der Verwandten auf diesem Gebiet siehe FRIEDRICH R.1vE,
Geschichte cler deutschen Vormund1mhaft, Bd. 2/2 (Braunschweig 1866), 1 IT.; HANs FEHR,
Die Rechtsstellung der l!'rau und der Kinder in den Weistümern (Jena 1912), 177 ff.

255
Familie II. 1. Vorwissenschaftlich·mittelalterliche Sprache

Die Frage nach Begriffen für die genannten sozialen Zusammenhänge fördert ein
auf den ersten Blick überraschendes Ergebnis zutage. Ein vorwissenschaftlicher
Begriff kann nämlich eher für die Verwandtschaft als für die Einzelfamilie ange-
nommen werden. In den mittelalterlichen Quellen ist das Bedürfnis für eine sum-
marische Bezeichnung der Verwandten, die als solche gemeinsam handelnd auftre-
ten, zu verspüren. Dafür werden in der lateinischen Sprache die Wörter 'parentes'
und 'parentela' 8, in der deutschen - neben 'Sippe' und 'Magschaft' 9 - die Wörter
'Freunde' und 'Freundschaft' 10 (von ahd. friunt, mhd. vriunt) gebraucht. Gerade
daß die Freunde (der Rat der Freunde) 11 als handelndes Subjekt oder als Haftungs-
gemeinschaft verstanden werden, weist darauf hin, daß das Sinnfeld dieser Bezeich-
nungen den sozialen Zusammenhang mitumfaßt.
Sehr viel schwieriger ist zu beurteilen, ob für die engere Lebensgemeinschaft der
Einzelfamilie in der vorwissenschaftlichen Sprache ein Begriff aufzuweisen ist. In
der lateinischen .Rechtssprache bietet sich zunächst als Träger eines Familienbegriffs
die Vokabel 'familia' an. Die römische Rechtssprache der Antike kennt 'familia'
mit einem sehr gestreuten Bedeutungsbereich, innerhalb dessen der Hinweis auf
die vom „pater familias" beherrschte Hausgemeinschaft nur eine Variante dar-
stellt; 'familia' bezeichnet zum Teil nur die Haussklaven oder das Hausvermögen12,
andererseits enthält sie eine verwandtschaftliche Bedeutungskomponent.fl13 . Die
Vokabel er11eheint also als Bezeichnung für fomiliiiro Vorhiiltnissc aller Art geeignet.
Im Gegensatz dazu gebraucht die mittelalterlich-vorwissenschaftliohe Rechtsspra-
che 'familia' nur gelegentlich in diesem Sinne14• Vielmehr erscheint der Terminus
spezialisiert auf die Erfassung des grundherrlichen Gesindes oder einer anderen
Mehrheit abhängiger Personen (familia rP{fali.~, p,r,cl.e.sia.e) und steht ferner für ge-
wisse, nach heutigem Verstande „überfamiliäre" Gemeinschaften wie die Kirche
(familia Dei)1 5 • Generell deutet der Gebrauch von 'familia' überwiegend auf Ab-

8 JAN FREDERIK NIERMEYER, Mediae Latinitatis lexicon minus, Fasciculus 8 (Leiden

1960), 763; Du ÜANGE t. 6 (Ausg. 1883-87; Ndr. 1954), 170 f.; ANDREAS HEUSLER,
Institutionen des Deutschen Privatrechts, Bd. 2 (Leipzig 1886), 586, Anm. 2. Auch:
cognati et amici, s. FRENSDORFF, Verlöbnis und Eheschließung, 317.
9 Sachsenspiegel 2, 30: van sibbe halven. Noch die Württembergische Eheordnung von

1553, 3, 1: SippBchaft oder Magschaft, zit. GusTAV KLEMENS ScHMELZEisEN, Polizei- und
Landesordnungen. Quellen zur Neueren Privatrecht,~gei:whichte Deutschlands, Bd. 2/2
(Weimar 1969), 16.
10 RWB Bd. 3 (Hl35), 866 ff.1 KLUOiil/M:cTzKA 20. Aufl. (Hl67), 218.
11 Quellen: FRENSDORFF, Verlöbnis und Eheschließung, 315 ff.

u MAx K.AsER, Das römische l'rivatrecht, Bd.1 (München 1955), 44; JEAN GAUDEMET,
Art. familia, Rlex. Ant. Chr„ Bd. 7 (1969), 286 ff.; H. HEUMANN/EMIL SECKEL, Hand-
lexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 10. Aufl. (Graz 1958), 208 ff.
13 Vgl. Dig. 50, 16, 195.
14 ~. R Lex Salica 1, § 3; dazu KROESOHELL, Ham1 und Horroohaft, 28. Die Bedeutungs·

variante ist z. B. nicht ausgewiesen bei NIERMEYER, Lexicon minus, 407 f. u. Du ÜANGE
t. 3, 409 f.
16 KRoEsCHELL, Art. Familia, Hwb. z. dt. Rechtsgesch„ Bd. 1, 1066 f.; NIERMEYER,

Lex:icon minus, 407 f.; Du ÜANGE t. 3, 409 f.; LORENZ Drnl!'.i.JNBAOH, Glossarium Latino-
Germanicum mediaA At infima.A n.etn.t.is (Frankfurt 1857), 224 gibt 'familia' hauptsächlich
als „gesinde" u.ä. wieder.

256
II. 1. Vorwissenschaftlich·mittelalterliche Sprache Familie

hängigkeitsverhältnisse hin: Die Einzelfamilie bezeichnet sie gerade bei Hörigen16.


Erst in der wissenschaftlichen Sprache der Philosophie (Ökonomik) 17 und des rö-
mischen Rechts gewinnt 'familia' den weiten Bedeutungsraum zurück, den sie in
der Antike gehabt hat. Auch das Wort 'domus' bietet im Ganzen keine begriffliche
Erfassung des sozialen Komplexes der Einzelfamilie, obwohl von ihm aus die An-
sätze dazu ausgehen. Der Wortgebrauch schließt sich nach Ausweis der Fachlexika
der mittelalterlichen Latinität relativ eng an die ursprüngliche Bedeutung der do-
mus als Baulichkeit an und greift von dort auf den gegenständlich-wirtschaftlichen
Bereich und die dazugehörigen häuslichen Bediensteten (domestici), mithin auf die
häusliche Wirtschaft hinüber1 8 •
Ebenso scheint die vorwissenschaftliche deutsche Rechtssprache allenfalls auf dem
Wege zur Bildung einer einigermaßen konturierten begrifflichen Erfassung der Ein-
zelfamilie zu sein. Verdeutschungen von 'familia' sind selten19• Die Vokabel 'h~im'
(v<>n ahd. hfwon, hiwun = Hausgenossen, hiwo = Ehemann, hiun = Eheleute,
hiwiski =Haushalt) spielt im Bedeutungszusammenhang der Hausgenossenschaft im
Spätmittelalter nur gelegentlich eine Rolle 20 • In Fülle verwendet wird das Wort 'Haus'
\hauß', 'hus'), dessen Bedeutung jedoch ähnlich schmal erscheint wie die der domus.
Die Belege, die z.B. das „Deutsche Rechtswörterbuch" für Sinnvarianten ausweist,
die sich vom Haus als räumlichen Bezirk (Hausfriede!) 21 ablösen, sind erstaunlich;
sie betreffen in erster Linie - wie bei der domus - das häusliche Wirtschaften
und die Adelsdynastie 22 • Ein Ansatz zur begrifflichen Erfassung familiärer Bezüge
ist jedoch in Wortzusammensetzungen mit 'Haus' zu verspüren. ln der Bezeich-
nung 'Hausherr' ('husherro', 'husherre') und 'Hauswirt' (oder 'Wirt' schlechthin 23 ;
'Hausvater' hingegen ist sehr viel jiinger und bildet die Üher11etimng von 'pater

16 KRoESCHELL, Haus und Herrschaft, 32.


17 Q1rnll1m: RARTNF. KRti"GF.R, 7.11m VArRtändniR dAr 0Anonomir.a KonradR von MAgenberg,
Dt. Arch. 20 (1964), 546 f.
18 NIERMEYER, Lexicon minus, 354 f.; Du CANGE t. 3, 177 f.
19 Zwei Beispiele bringt das RWB Bd. 5 (1953), 417 (huijBghesin enrle familien) u. Bd. 3,

417 (familie enrle geBelBchep).


20 Vgl. RWB Bd. 5, 586 f.: hU8 vnrl heim.
91 Dazu EvuAltD ÜSEN.llRÜGGEN, Der Hausfrieden. Ein Beitrag ZU!' deutschen RechLs·

geschichte (Erlangen 1857); ÜTTO BRUNNER, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965),
256. Die Bedeutung des Hauses als Stätte der Familie lädt freilich zu einer vorsichtigen
F.rwoit.orung doFJ SinnfoliloFJ 1Jin, boi rfor j1Jd1Jnh fler nrRpriinelinh iirt.linhe <ih:i.rn.kter Rpiirha,r
bleibt, so z.B. im Sachsenspiegel 1, 5, § 2: De tochter, de in me h(J,s is umbestadet, de ne
teilit nicht ir müter räde mit der tochter, de uzgerddet i8. Die '.lugehörigkeit zur Hausgemein-
schaft oder ihre Beendigung wird im Sachsenspiegel auch mit dem Hinweis auf den Emp·
fang des Unterhalts im Hause ausgedrückt: Sunrlert vader unrl muder enen iren Bone Oller
ene ire rlochter van in mit irme gude, Be tvein Bik mit der kost oder ne dun (1, 13, § 1), MG
Fontes juris Germanici antiqui, Bd. 1 (1933), 24. 27.
22 RWB Bd. 5, 377 f.
23 Münchner Stadtrecht, Art. 122, hg. v. :FRANZ AuER (München 1840), 49: Wirt ain /rau

nach irs wirts tod von irn chinten getailt, unrl nimpt ainen anrlern wirt; zu 'Wirt', 'Wirt-
schaft' siehe .F'nlilNSDORFF, Verlöbnis und .h:hoschlioßung, !WU; ÜTTO ßnuNNER, Adeliges
Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Rohberg
1612-1688 (Salzburg 1949), 242 f.

17-90386/1 257
Familie II. 2. Einßuß der aristotelischen Ökonomik

familias') 24 ist vielfach der eherechtliche Bezug enthalten: Suo zuei zusamini
cumin an rechtir ewi, is dan daz die vroiwi einin vatir heit, die sg,l zu rechti di vor-
muntscaph uftazi, suanni su uri huisherri bislaphin heit eini nacht 26• Ähnlich wird
mit 'Hausfrau' ('hausfraw', 'husfrowe') im Spätmittelalter häufig die Ehefrau be-
zeichnet: Stirbt ain man dn geschaeft, und laet hie hausfraun und chint, so sol deu
witub der chint und des guots gewaltich sein 26 • 'Hausherr' (-'wirt') und 'Hausfrau' er-
scheinen in dieser Bezeichnung als Inhaber ihrer familiären Rollen, und zwar nicht
nur in wirtschaftlicher Beziehung. Zur Erfassung aller Hausangehörigen dient gele-
gentlich das Wort 'Hausgesinde': was dem selbigen geschiecht mit slegen oder mit
stössen aus dem haus, des schol der wirt und sein hausgesint unentgolten sein (österrei-
chisches Weistum von 1400) 2 7.
Man wird sagen können, daß es zwar einen Begriff für den Komplex der personalen
und wirtschaftlichen Beziehungen der Einzelfamilie in der vorwissenschaftlichen
Sprache nicht gegeben hat, daß aber in den Wortverbindungen die Eignung der'
Vokabel 'Haus' aufleuchtet, zum Begriff der _Einzelfamilie zu werden. Aus diesem
begriffsgeschichtlichen Befund strukturgeschichtliche Schlüsse zu ziehen, wäre un-
zulässig. Die vorwissenschaftliche Rechtssprache ist konkret, ihre Termini gehen
den Weg der Abstraktion nur aus zwingendem Anlaß. Bei der Beschreibung einzel-
ner familiärer Sachverhalte besteht eine solche Veranlassung jedoch kaum, die Glie-
der der Einzelfamilie können in ihrer Rolle als Eheleute, Vater, Mutter, Kinder,
Brüder etc. hinreichend genau angesprochen werden. Es ist auch z.u bedenken, daß
der Erfassung des Hauses als eines nach bestimmten Prinzipien striikturierten Ge-
bildes die Überlagerung durch die geschilderten verwandtschaftsrechtlichen Bin-
dungen entgegenstand. Bei der Mehrzahl von Vermögensmassen, die faktisch zur
Unterhaltung der Hausgemeinschaft zur Verfügung stehen (Erbe, Lehen, Heer-
gewäte, Gerade, Leibzucht u. ä.), die aber durchaus unterschiedliche rechtliche
Schicksale erleiden können, kann noch nicht einmal von einem einheitlichen Haus-
vermögen die Rede sein 28 • Bei allen Versuchen, die mittelalterliche Verfassung <ler
Einzelfamilie von einer einheitlichen Hausgewalt („Munt") her zu konstruieren, in
der dann eheherrliche, väterliche und herrschaftliche Gewalt zusammenfließen
sollen, wäre zu fragen, ob nicht die Vorstellungen der aristotelischen Ökonomik
unzulässigerweise zur Deutung der viel komplizierteren Verhältnisse herangezogen
werden.

2. Der· Begrift' der Einzeffamllie unter dem Einfluß der aristotelischen Ökonomik

Einen voll ausgebildeten Begriff der Einzelfamilie, den sie in die .Neuzeit weitergibt,
wAiRt rliA RpittmittAfaltf'lrlir.hA WiflflATIAr.hn.ft auf. D11bf.li m11g die Rezeption dcfl rö
mischen Rechts mit seiner Vorstellung von der durch den „pater familias" beherrsch-

24 Vgl. RWB Bd. 5, 472 f.


25 Mühlba.user Reichsrechtsbuch (um 1230), 22, 1, hg. v. lf1rn.RF.wr M1ffF.R (W11im11,r rn:lfi),
136.
u Müuuhuei· SLauLnmhL, .At·L. 124; weiLere Belege RWB Bd. l'l, 397 f. „Wirtin": FRl!l.Ns-
DORFF, Verlöbnis und Eheschließung, 299.
21 Nach RWB Bd. 5, 417. .
ER S. H.l!lUSL.l!lR, Deutsches PrivatrMht, Rrl. 2, 555 ff.; lIAGEMANN, Art. Erbrecht,

Hwb. z. dt. Rechtsgesch., Bd. 1, 97a,

258
II. 2. Einßuß der aristotelischen Ökonomik Familie

ten Hausgemeinschaft 29 eine Rolle gespielt haben; den weit größeren Anteil an der
Begriffsbildung kommt jedoch der Neubelebung der antiken Ökonomik durch Phi"
losophie und Theologie zu. Den Juristen geht es um die rechtlichen Einzelbezüge,
für deren Behandlung nach den Quellen des römischen und kanonischen Rechts die
begriffliche Erfassung der Familie als eines strukturierten sozialen Komplexes im
allgemeinen nicht erfprderlich ist. Die Philosophie hingegen plaziert eine Theorie
des Hauses in die Staatslehre, für die sie politische und wirtschaftliche Einsichten
gewinnt; die Theologie gewinnt in der Anschauung der Familie den Ort praktischer
Ethik. Wo in der juristischen Literatur ein konturierter Begriff der Einzelfamilie
entwickelt wird, wie etwa im Zusammenhang des Naturrechts, ist der Einfluß der
Ökonomik sichtbar, häufig schon an der Wahl des Terminus 'oeconomia', welcher
der römischen Rechtssprache der Antike fremd gewesen ist 30.
Wenngleich die Ökonomik des Altertums selbst erhebliche Unterschiede aufweist
und ihre Überlieferung in die Scholastik vielschichtig ist 31, kommt bei diesem Vor-
gang der aristotelischen Hauslehre (ol"oPoµt"tJ) die größte Bedeutung zu. Denn in
ihr erfolgt - im Gegensatz zu den Ökonomiken, die lediglich oder hauptsächlich
von der Hauswirtschaft handeln - jene Verschmelzung der hauswirtschaftlichen
init den personalen, d. h. ehe- und kindschaftsrechtlichen Elementen, die für den
Begriff der Einzelfamilie für lange Zeit typisch wird.
Nach der „Politik" des ARISTOTELES, ilie nelien <l.er „Nikomachischen Ethik" und
einer pseudoaristotelischcn „ Ökonomik" die mittelalterliche Philosophie in beson-
derem Maße angeregt hat, besteht die Polis aus Hausgemeinschaften als ihren Tei-
len32. Das Haus (ol"o>;, ol"lcx) bildet eine natürliche Lebensgemeinschaft, deren
Strukturen eine Analogie zu den politischen aufweisen, wenngleich Haus und Polis
der So.ehe nach streng geschieden werden; dem Haus fehlt die Eigenschaft des
Sich-Selbst-Genügens, die nur der Polis zukommt 33 ; es bildet auch keinen der Polis
nach Wesen wid Zweck entzogenen Bereich, sondern wird auf die Zwecke der Polis
ausgerichtet 34 . Im einzelnen besteht das Haus aus drei Verhältnissen, nämlich
zwischen Mann und Frau, Vater und Kindern, Herrn und Sklaven. Diese Bezüge
werden als Herrschaftsverhältnisse eingeführt: Der oikonomos herrscht über die
Frau nach Art der Polisherrschaft oder - wie es in der „Nikomachischen Ethik"
heißt - der Aristokratie; über die Kinder nach Art des Königtums; über die Skla-
ven nach Art der Despotie u<l.er Ty1·annis 35 . Indes schöpft das Element des Herr-
schens nur die Beziehung zu den Sklaven aus, nicht das eheliche und kindschaft-

29 Näheres KAsER, Römisches Privatrecht, Bd. 1, 45 ff. 290 ff.


30 Deshalb im allgemeinen auch der legistischen Literatur: Das „Repertorium juris
utriusque" des JOHANNES BERTACHINUS (Nürnberg 1483) weist 'oeconomus', 'oeconomia'
nicht auf, das „Dictionarium iuris utriusque" von .A,L:eERICUS DE RosATO (Ausg. Lyon
1539) kennt den 'yconomus' als kirchlichen Gutsverwalter.
31 Näheres: KRÜGER, Oeconomica, 475 ff.
32 ARISTOTELES, Politik 1252a l-1253a 39; s. bes. 1253b 1 f.

3 3 Ebd. 1252b 30 ff.


34 Besonders deutlich: Politik 1260 b 13 ff. Deshalb kommt der Polis z. B. das Recht einer

für unsere Begriffe einschneidenden Gesetzgeb.ung über Ehe und Erziehung zu; vgl.
Politik 1334 b 29 ff. 1337 a 8 ff.
35 Ders., Politik 1259a 37-1259b 17; Nikomachische Ethik 1160a 31-116la 9.

259
Familie II. 2. Einßd der aristotelischen Ökonomik

liehe Verhältnis. Die Gewalt des Hausherrn bildet keinen Selbstzweck, sondern ist
auf die Zwecke des Hauses (als Integration der Zwecke der Einzelverhältnisse) hin-
gerichtet36. Demzufolge gibt es eine der jeweiligen Beziehung eigene Tüchtigkeit
(decriJ) 37 , Freundschaft (qnJ.ta) 38 und Gerechtigkeit (&"aioa-61117) 39 • Zusammen-
gefaßt enthält die Ökonomik demnach eine Lehre vom Eherecht (yaµi"1]), Eltern-
recht (•e"voiwi11n"1]) und Herrenrecht (&anon"1]) 40 • Das Haus - die Gemein-
schaft des täglichen Lebens 41 - bildet demnach auf der einen Seite den Inbegriff
der zwischen den Hausgliedern bestehenden personalen Beziehungen. Auf ihnen
liegt das Hauptgewicht; die Sorge des Hauses, sagt der Philosoph, soll sich mehr
auf die Menschen richten als auf den leblosen Besitz, mehr auf die Vortrefflichkeit
der Menschen als auf die Fülle der Güter 42 • Zugleich ist das Haus aber wirtschaft-
liches Gebilde; die Ökonomik als die Seinsweise des Hauses enthält zugleich die
Hauswirtschaft einschließlich der Erwerbskunst, letztere allerdings nur - auch
hier erweist sich der Vorrang des Personalen -, soweit sie auf die Befriedigung der
häuslichen Bedürfnisse abzielt 43 • Die Sklaven gehören zum Hause als Bestandteile
der Hauswirtschaft. Somit stellt das Haus eine gegliederte Einheit dar, zusammen-
gesetzt aus den Elementen der Ehe, Elternschaft, Konsumgemeinschaft und des
Wirtschaftsbetriebs, verbunderrnicht zuletzt durch die Herrschaft des Hausherrn44.
Mit der Scholastik lebt die Lehre von der oeconomia wieder auf45 und bestimmt den
Ilegri:ff von der Einzelfamilie bis ins 18. Jahrhundert. Allenthalben entsteht seit
dem Spätmittelalter das literarische Genus der „Oeconomia", des Ham1lmcl1R 46 ,
welches die Lehre vom Haus den geschilderten Grundlinien gemäß ausfaltet, zum

36 DoROTHEA WILLERS, Die Ökonomie des Aristoteles (phil. Diss. Breslau 1931), 14 f.
37 .ARISTOTELES, Politik 1259b 18-1260b 7.
38 Ders., Nikomachische Ethik 116la 7-1162a 33.
39 Ebd. 1134a 9-1136a 7.

4 0 Ders., Politik 1213b 1 ff.; s. bes. 9.

41 Ebd. 1252b 12 ff.: i} ... el~ naaav i]µieav avveGT1J"via "oivwvia.


42 Ebd. 1259b 18~1260b 25; s. bes. 1260b 8 ff.

43 Vgl. ebd. 1253b 1 ff.; 1256a 1 ff.


44 Die „Nikomachische .b:thik", welche das Verhältnis von Mann und Frau, Eltern und
Kindern, Herr und Sklaven im Zusammenhang mit der Freundschaft behandelt und die
Einheit des Hauses nicht so stark zum Vorschein kommen läßt, relativiert freilich die
Hausherrschaft des Mannes gegenüber der Frau; der Mann herrscht nur in dem, worin
er zuständig ist, das andere überläßt er der Frau; will er über alles herrschen, so verwandelt
er ilie ArüiLukratie iu eiue Oligarchie (111!8a 18 ff.).
45 Vgl. THOMAS VON A.QUIN, Sententia libri ethicorum 8, 10; Summa theologica 1, qu. 92,
art. 1, ad 2; 2, 2, qu. 57, art. 4.
4 6 Für die Zeit ab dem 16. Jahrhundert spricht man von „Hausväterliteratur"; dazu ÜTTO

BRUNNER, Art. Hausväterliteratur, Hwb. d. SozWiss., Bd. 5 (1956), 92 f. mit weiterer


Literatur; ders., Das „ganze Haus" und die alteuropäische Ökonomik, Zs. f. Nationalökono-
mie 13 (1958), auch in: Neue Wege der Verfäs1m.11gs- und Sozialgeschichte,2. Aufl. (Göttingen
1968), 103 ff.; JULIUS HOFMANN, Die „Hausväterliteratur" und die „Predigten über den
christlichen Hausstand" (Weinheim, Berlin 1959). Für Italien siehe z.B. LEON BATTISTA
AL:aERTI, Della famiglia (1437---41), dt. Ühers. v. Walter Kraus (Zürich, Stuttgart 1962).
Für die englischen Ökonomien und conduct books: LEVIN L. ScHÜCKING, Die puritanische
Familie in literatur-soziologischer Sicht (Bern, München 1964), 27 :ff.; ÜHILTON LATHAM
PowELL, English Domestio Relations 1487, 1653 (New York 1917), 101 :ff.

260
Il. 2. Einßuß der aristotelischen Ökonomik Familie

Teil unter Hereinnahme einer detaillierten Landwirtschaftstechnik und anderer


nützlicher „Künste", so daß die Ökonomik zum Treffpunkt der 'Wissenschaften
werden kann. Wichtiger als die Entstehung dieser Literatur selbst ist die Tatsache,
daß das aristotelische Bild von der Einzelfamilie vielfach in die religiöse Literatur,
auch in die Predigtliteratur eingeht, von der die Vorstellungswelt des Großteils der
Bevölkerung bestimmt wird.
Dabei ist eine Fortentwicklung der antiken Hauslehre insofern zu beobachten, als
dem Haus nunmehr auch eine besondere religiöse Funktion zuwächst: Es entsteht
die oeconomia christiana. In der Entfaltung der christlichen Hauslehre kommt die
Führung dem Protestantismus zu, weil er - anders als die katholische, vom gött-
lichen Sakramentenrecht geprägte Doktrin - die ehelichen Beziehungen ohne
Schwierigkeiten in den sozialen Zusammenhang der Familie bringen kann. Der
christliche Hausbegriff beschränkt sich jedoch nicht auf die reformatorische Litera-
tur. Seine Ursprünge liegen zudem früher 47 • Die Hereinnahme des Ehelebens in den
Rahmen des Hauses wird z. B. schon bei BERTIIOLD VON REGENSBURG (1272) spür-
bar, der in seiner Ehepredigt den Kanon der Eheführungspflichten mit der Auffor-
derung beginnt du solt reinez gesinde han, als verre unde du ez behüeten maht 48 • Im
Katalog der ehelichen Pflichten treten die auf das Ham1wirtschaftliche sich bezie-
henden Aufgaben neben die personalen Bezüge und sind mit ihnen verwoben. In
einem Augsburger Druck von 1472 49 , d11r sich auf Aristoteles beruft, heißt es im
Rahmen der Eheführungspflichten: fraw du solt dein hauß gesind / knecht vnd meyd
an weysen vnd straffen . . . Es sol ain fraw bewaren das gesinde / das es nit vnerlich
lebe nit in zwayung noch in e:Y,,elkeyt. Die Frau und ihr Mann sollen verhindern, daß
das Gesinde an heiligen Tagen Messe und Predigt versäumen; gestatten sie es,
begehen sie eine Todsünde vnd haben verloren ir haußzucht vnd ere ... fraw / du solt
wallten deines hauß klugliclt. ALBRECHT VON EYB (1420-1475), der in seiner Schrift
„Ob einem manne sey zunemen ein eelich weyb oder nit" da:; eheliche Ver-
hältnis und die Beziehung der Elt.11rn zu den Kindern ohne Zuhilfenahme des
„Hauses" behandelt 50, bringt den häuslichen Rahmen in seinen „Spiegel der Sit-
ten" (1474) ein: Die erst sorg des haußuaters soll sein gen der haus/rauen/ wie erdie
lieben mag und sy jm nit hässig sey ... Die ander sorg des haußuaters sol sein gen den
kindern . . . Die dritt sorg soll sein gen knechten vnd dienern den sol er freüntlich sein
vnd sy nit verschmähen. Der Hausvater mahnt, lehrt und straft Frau, Kinder und
Gesinde: darumb wirt er ain haußuater gehaißen / wann von den allen ist er pfticlitig
got dem herren rechnung zu thun 51 •
Au.s den zitiert.11n Texten ergibt sich, daß die aristotelische olula in der deutschen
Literatur als 'Haus' wiedergegeben wird; diese Vokabel wird zur terminologischen

47 KRÜGER, Oeconomica, 529.


48 BERTHOLD VON REGENSBURG, Predigt „Von der e", Predigten, hg. V. Franz Pfeiffer
u. Joseph Strobl, Bd. 1 (Ndr. Berlin 1965), 318.
49 Ain nüczliche lere vnd predig / wie sich zway menschen in dem sacrament der heiligen

Ee halten süllen, gedr. bei JOHANN BÄMLER /Augsburg, zit. Catalogue of Books Printed in
the 15th Century Now in the British Museum, part 2, Germany (London 1912), 331.
so ALBRECHT VON EYB, Das Ehebüchlein: Ob einem manne sey zunemen ein eelich weyb
oder nit, Dt. 8chr., hg. v. Max Herrmann, Bd. 1 (Berlin 1890), 5 ff.
61 Zit. nauh dem Druck Augsburg 1511, 126; verwiesen sei ferner auf die Aufrrnhmc der

aristotelischen Hauslehre bei JOHANN NYDER (1380-1438), Aurei sermones, sermo 34.

261
Familie II. 2. Einßuß der aristotelischen Ökonomik

Hülle des wissenschaftlichen Begriffs von der Einzelfamilie. Das ist auch bei LUTHER
der Fall, dessen Hausbegriff als der für die frühe Neuzeit maßgebliche näher zu
beschreiben ist. 'Haus', 'Haushalten', 'oeconomia' 52 meinen bei dem Reformator
das soziale Gebilde der gemeinsam lebenden, arbeitenden, wirtschaftenden und be-
tenden Einzelfamilie mit Einschluß sowohl der personalen Beziehungen unter den
Hausgliedern als auch der wirtschaftlichen Elemente. Das Haus besteht, vom
Hausvater aus gesehen, aus weyb urul kirul, knecht urul magd, vieh urul futter 5 3. Die
Mitte des Hauses bilden die personalen Bezüge, insbesondere die Ehe, von der das
Haus nicht getrennt wird: eyn ehlich leben urul haushallten 54 erscheint als Paarfor-
mel. Durch seine Teilnahme an der Hochzeit zu Kanaa hat Jesus auch das 4. Gebot,
die Eltern zu achten, geehrt, quia ubi est sponsus et sponsa, pater et mater, da mus
hause und hofe sein, kinder, familia, pecora, agri, victus, nachbarn 55 ; die Ehe ist
fons oeconomiae56 • Die Ehe - durch das katholische Sakramentenrecht im Kern
der irdischen Ordnung entzogen - erhält im Haus ihren wiederum sozialen Platz.
Nicht aber der Gedanke des Hauses - etwa in Gestalt des Strukturprinzips der
Hausherrschaft -:- prägt die Ehe, sondern umgekehrt. Gewiß „regiert" der Mann
auch die Frau als der durch die Schöpfungsordnung dazu Berufene; die Grundbe-
ziehung der Gatten ist jedoch die Liebe: Denn welchen ich nicht lieb habe, dem
gönne ich weder ehre noch guts, werde jm auch nicht viel gehorsam noch dienst erzei-
yen07. Auch im Verhältnis zu den Kindern bildet die Hausherrsohaft nicht die vorge-
gebene Struktur, sondern eher einen Denkrahmen. Wie vielfach schon im Spätmit-
telalter0s tritt an die Stelle des aristotelischen Vater-Sohn-Schemas das Gegenüber
von Eltern und Kindern, wie die Ehefrau auch gegenüber dem Gesinde als Mitre-
gentin fungiert. ·
Die FunktionP.n des Hauses werden mit Hilfe von Begriffen beschrieben, dio in der
poliLischen Welt beheimatet sind. Die häuslichen Pflichten werden in, .Amter aufge-
spaltet, etwa des Spitalmeisters, Richters, Schulmeisters etc. 59 • Hausvater und
-mutter bilden zudem eine „Herrschaft" und „Obrigkeit", sie üben ein „Regiment".
Der Hausvater ist die viva lex 60, der Hausgesetzgeber. Das Haus bildet einen dem
Prinzip nach für alle individuellen Bedürfnisse zuständigen Mikrokosmos, in dem
gesellschaftliche und obrigkeitliche Funktionen geübt werden. Das bedeutet nicht
die Gleichsetzung von Haus und politischem Körper; aus den Häusern als den

6 2 Die Vokabel 'oeconomia' wird von Luther in anderen Zusammenhängen auch in bloß
wirtschaftlichem, den Hausbereich überschreitenden Sinne gebraucht, s. WERNER ELERT,
MorphologiA illlR T.uthert.ums, verbe1i11erter Ndr. d. 1. Aufl., Bd. 2 (Münohon 1058), 6il f.
63 LUTHER, Der 127. Psalm ausgelegt an die Christen zu Riga (1524), WA Bd.15 (1899), 364.
61 Ebd.

65 Ders., Predigt am 2. Sonntag nach Epiphaniä (1533), WA Bd. 37 (1910), 10.


6 8 Ders., Vorlesungen über 1. Mose (1535-1545), WA Bd. 42 (1911), 354; vgl. auch:
Das 15. Capitel der Ersten Epistel S. Pauli an die Corinther (1532), WA Bd. 36 (1909),
568: man 1mil WP.ih, kind, 1111.11„~, hoff, knec.h.t 1111d megds und, was mohr ßum Ehoownd gehöret,
OOder aus dem selben kompt.
1 7 Der11., Einander Hochzeit predigt im 1536. jar, WA .Hd. 41 (l!HO), 559.
6 8 Vgl. aus dem in Anm. 49 genannten Druck von 1472: Das weyb sol hersehen über das
in dem hauß ist.
6 9 Vgl. TiU'l'HER, Predigten übel· das 2. Buch MoAA (lll24-1527), WA Bd.16 (1899), 490.
00 Ders., Vorlesungen über 1. Mose (1535-1545), WA Bd. 44 (1915), 704.

262
II. 2. Einfluß der aristotelischen Ökonomik Familie

kleinsten sozialen Körpern ist vielmehr die ,;politia" zusammengesetzt61 , die in


ihrer Zweckdefinition über das Haus hinausgeht. Das Sozialmodell Luthers lebt
demgemäß nicht von der Gegenüberstellung von Staat und Individuum oder von
Staat und einem Abstraktum „Gesellschaft". oeconomia und politica - die eccle-
sia kommt hinzu - bezeichnen vielmehr untereinander verbundene Seinsweisen des
Menschen, durch die er sozial bestimmt ist. Die drei genannten Größen deutet
Luther als Stände, denen der Christ gleichzeitig angehört: Aber die heiligen orden
und rechte stiffte von Gott eingesetzt sind diese drey: Da.~ priester ampt, Der Ehestand,
Die weltliche öberkeit . . . Uber diese drey stifft und orden ist nu der gemeine orden der
Christlichen liebe 62 • Daraus ergibt sich, daß - wie der Staat - auch das Haus als
Institution der Schöpfungsordnung, als naturrechtliches Gebilde gedeutet·wird6 3 ;
das Haus ist demnach institutionenrechtlich bestimmt, es verdankt seine Einrich-
tung und Beschaffenheit nicht menschlicher Willkür. So wird auch verständlich,
daß Luther im Rahmen der Dreiständelehre zwischen Staat und Haus keine weite-
ren Ordnungen (Zünfte etc.) einschiebt, denen die Qualität als natürliche Institu-
tionen nicht zukommt. Selbst die Nachbarschaft, die man als suprafamiliäres Ge-
bilde auffassen kann, wird in den Lebens- und AnSchauungsbereich der Familie
einbezogen64 •
Die Anschauung von Staat und Haus als miteinander verbundene Naturkörper for-
dert die Frage nach der Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten heraus. Es ist für den
Begriff des Hauses besonders typisch und folgenreich, daß Luther und ihm folgend
die Ökonomik keine Abwehrlinie des Hauses gegenüber dem Staat akzentuieren,
ein Zeichen dafür, daß vonseiten des Staates eine Gefährdung des Hauses nicht er-
wartet wird. Vielmehr ist das Haus hingerichtet auf die Zwecke des größeren Ge-
meinwesens, dessen Grund es bildet. Aus Anlaß der Behandlung der Kindererzie-
hung wird deutlich ausgesprochen: Da mercke da bey: wenn man nicht kinder zeucht
zur lere und kunst, sondern eitel freslinge und sewferckel machet, die allein nach dem
f'uttei travltten, wo w-il man pfarher, prediger ... nemen? Wo wollen könige, furstcn und
herrn, stedte und lender nemen Oantzler, rethe, schreiber, amptleute? 65 Auch wirtschaft-
lich gesehen unterhält das Haus Könige und Fürsten66 . Der Reformator zögert
daher auch nicht, die Korrektur des Hausregiments durch die politische Obrigkeit
zu fordern; Eltern, die ihre Kinder schlecht erziehen, soll die Obrigkeit allzumal an
leib und gut straffen odder zur welt a'us iayen67 •

61 Vgl. ders., Vorlesungen über 1. Mose (1535-1545), WA Bd. 42, 354.


u Dtl!·1:1., Vuw Auti11dmahl Ch.l'isti, Dekenntnis (1528), WA Bu. 26 (1000), G04 f.
63 Vgl. JusTus MEmus, Oeconomia ch.ristiana (Wittenberg 1529), II: Gottes werck vnd

schepffung; CHRISTOPH LAsrns, Schatzkammer Göttlicher Narung /und wolgefäßte Ord-


nung/ von Christlicher Hausregierung (Straßburg 1561), A III. ·
64 Vgl. LUTHER, Predigt;, WA Bd. 37, 10; MEmus, Oeconomia, XIV. Zur Hereinnahme

der Nachbarschaft in das familiäre Empfinden: REINHOLD JACOBI, Jörg Wickrams


Ruwu.uu (phil. Di!le. Donn 1970), 32!) f. E1 gibt dcmnu,eh einen im Ccdo.nlr.on O(lfl Hn.nAAA
begründeten Verhaltenskodex gegenüber den Nachbarn, vgl. FRANcrscus PHILIPPUS
FLoRINus, Oeconomus prudens et legalis oder allgemeiner klug- und rechts-verständiger
Haus-Vatter 1, 1, 16, Tl. 1 (Frankfurt, Leipzig 1705), 97 ff.
65 LUTHER, Vorrede zu Justus Menius' Oeconomia Christiana (1529), W A Bd. 30/2 (1909), 62.

RR Ders„ Predigt, W.A Bd. 37, 12.

67 Ders„ Vorrede, WA Bd. 30/2, 61.

263
Familie II. 2. Einßuß der aristotelischen Ökonomik

Der Konnex der Zwecke verbindet ferner Haus und Kirche. A-.;tch im religiösen
Bereich üben die Eltern Ämter gegenüber den Kindern und den anderen Hausmit-
gliedern aus; sie sind ihnen Apostel, Bischöfe, .Pfarrer68 • Wie der Staat ist auch die
Kirche im Hause abgebildet, oder vielmehr: das Haus ist Kirche. Wie eine selige
ehe were das, wo so"lchs ehevolck beysamen were und stunde also yhren kindlin für,
Fürwar yhr haus were eine rechte kirche, ein auserwelet klöster, ja ein Paradiss, Denn
Vatter und Mutter werden Gott hie gleich, denn sie sind Regenten, Bisschoff, Bapst,
Doctor, Pfarrer, Prediger, Schulmeister, Richter und Herr, der Vatter hat alle namen
und ampt Gottes uber seine kinder 69 •
Über die Kennzeichnung der häuslichen Funktionen als Ämter, Herrschaft und
Obrigkeit darf freilich nicht der gemüthafte Zug vergessen werden, der seit dem
Spätmittelalter in das Assoziationsfeld des Hauses gelangt; die Verbindung von
Familie und Idylle kündigt sich an. Nach ALBRECHT VON EYB ist die Ehe ein frölichs,
lustpers vnd suß ding, sie hebt an mit lieb/ und wirt rn:iU liebe hant gehabt. Eine ähn-
liche Kennzeichnung erfährt die Elternschaft: was mag frolicher 1md sußer gesein,
dann der name des vaters, der muter vnd der kinder, so die hangen an den helsen der
eltern vnd manchen sußen kuß von in empfahen? 70 Auch bei LUTHER ist im Zusam-
menhang mit der Aufwertung des ehelichen gegenüber dem monastischen Leben
viel von der Lust die Rede, in die sich die Beschwerden des familiären Daseins ver-
wandeln, wenn die Ehe naoh Gottes Wort und in Gottvertrauen geführt wird. Das
Motiv dafür bildet ohne Zweifel ein besonderes Bewußtsein von der Gefährdung der
Familie. Die Familie wird abgelehnt durch die Sektenbewegungen, sie wird - nach
Luthers Auffassung - unterbewertet durch das mittelalterliche Keuschheitsideal,
sie wird verächtlich gemacht durch die kluge hure, di_e naturliche vernunfjt 71 • Das
lnnewerden der Gefahr für die Familie und das Abwehrmotiv erzeugen eine fami.
lienkonservative Theorie und fördern die Begriffsbildung - ein Vorgang, der sich
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederholen wird.
AnRchauung und Begriff doo Hauses bleiben in der frühen Neuzeit durch die ge-
schilderten Züge geprägt: Das Haus bildet einen sozialen Körper der Schöpfungs-
ordnung, in dem der einzelne je nach seiner familiären Rolle als Hausvater, -mutter,
Kind, Knecht oder Magd den Platz seines alltäglichen Lebens, den Raum für seine
persönliche Entfaltung und für seine Pflichten, die Befriedigung seiner Bedürfnisse
findet. Der 110?.ia.le Status des Menschen ist vom Haus besLiuunL, nur die Rolle des
Hausvaters weist über das Haus selbst hinaus, indem er dill Familie im „Außen"
vertritt. Das Haus enthält potentiell alle Lebensbereiche, so etwa Arbeit und Kon-
sum („Nahrnnc"), Rr?.illh1mg, Gottesdienst. Die Per1mn ist in das Haus hineinin-
tegriert. Das Haus als Bestandteil und Analogon des Staates ist aber rechtlich
hineingebunden in die ~wecke des politischen Gemeinwesens, seine soziale Funk-
tion wird von der Obrigkeit kontrolliert und korrigiert, seine Gestalt ist schon vom
institutionellenAnsatz her eine wesentlich rechtliche. Generell fehlt dem geschilderten
Hausbegriff das Element des Abweisenden gegenüber der politischen Obrigkeit.

68 Ders., Vom ehelichen Leben (1522), WA Bd. 10/2 (1907), 301.


69 Ders., Predigten iihllr rlns 2. Buch Mose, W .A Bd. 16, 490.
7n ALBRECHT VON EYB, Ehebüchlein, Dt. Sehr., Bd. 1, 68; ders., Spiegel der Sitten (s. Anm.
51), 121.
71 LUTHER, Vom ehelichen Leben (1522), WA Bd. 10/2, 295.

264
II. 2. Eüißuß der aristotelischen Ökonomik Familie

Mit dem geschilderten Inhalt geht der Hausbegriff als der einzig konturierte Begriff
von der familiären Lebensgemeinschaft in die religiöse, philosophische und schließ-
lich - vielfach unter Verlust des spezifisch religiösen Elements - über das Natur-
recht in die juristische Literatur und die Gesetzgebung - etwa den „Codex Maxi-
milianeus Bavaricus Civilis" (1756) - ein. Die Frage nach der Übereinstimmung
mit den sozialen Verhältnissen und Strukturen drängt sich auf.
Denkbar wäre, daß der Hausbegriff bloß als philosophisch-literarische Tradition
und im Widerspruch zur Wirklichkeit mitgeschleppt wurde. Dagegen spricht freilich
sehr viel: die zu einem Begriff des Hauses hinstrebende vorwissenschaftliche Sprache
ebenso wie die strukturgeschichtlichen Befunde, vor allem aber die praktische Aus-
richtung der Ökonomik. Allerdings besteht eine starke, am „Betriebselement" des
Hauses erweisbare Vermutung dafür, daß die Familienverhältnisse in der sozialen
Realität durchweg differenzierter gewesen sind, als die Lehre vom Haus erkennen
läßt. Ein Umstand wird vielfach in den Lehren von der oeccinomia entweder gar
nicht oder nur gelegentlich angedeutet, nämlich der ständische Bezugspunkt des
Hauses. Zwar wird die oeconomia und werden die familiären Rollen selbst 72 als
'Stände' bezeichnet. Darüber hinaus hätte man jedoch eine ständerechtlich bedingte
Pluralität des Hausbegriffs oder standesverschiedene Hausbegriffe erwartet, denn
es ist ganz offenbar, daß die Familien des Hochadels, des Landadels, des Stadt-
patriziats, der Handwerker, der Bauern, der Taglöhner etc. ein unterschiedliches
Dasein hatten und daß die Familienzugehörigkeit für den einzelnen die wesentliche
ständische Zuweisung vermittelte. Der in den rechtlichen Darstellungen des „Deut-
schen Privatrechts" enthaltene Ansatz zu jeweils unterschiedlichen Ständeprivat-
rechten 73 knüpft gerade an die familiären Verbindungen an. In der rechtsgeschicht-
lichen Wirklichkeit stand der geschilderten Hausgenossenschaft vor allem das ade-
lige Haus (Dynastie) als Inbegriff der an einer gebundenen Vermögensmasse (ein-
schließlich nutzbarer Hoheitsrechte) unmittelbar oder mittelbar berechtigten oder
der an erblichen Geschlechterrechten beteiligten Verwandtschaft gegenüber, die
als Corpus und Sozialgebilde selten in den Ökonomien, wohl aber vor allem in der
Literatur des Lehn- und Stammgüterrechts faßbar wird. Damit scheidet der Adel
aus dem aristotelischen Hausbegriff nicht unbedingt aus, wie die für Verhältnisse
der landadeligen Agrarwirt~ehaft gedaehte Ökonomie HELMHARDS VON HoHBKKG 74
zeigt; aber der Adel als Verwandtschaftsgebilde wird nicht von der Ökonomie er-
griffen. Die ständisch aufgespaltete, unter dem Namen FRANCiscus PHILIPPUS
FLORINUS veröffentlichte Ökonomik (1705/1719) widerlegt diese These nicht 75 • Es

12 MENIUS, Oeconomia, II.


73 Vgl. z.B. Jusrus FRIEDRICH RuNDE, Grundsätze des allgemeinen deutschen Privat-
rechts 2, 3, §§ 60 ff. 602(Göttingen1791), 458 ff.; KARL FRIEDRICH EICHHORN, Einleitung
in das deutsche Privatrecht 1, 1, 3. Aufl. (Göttingen 1829), 149 ff.
74 Dazu BRUNNER, Adeliges Landleben, 237 ff. (s. Anm. 23); CHRISTOPH HERING ließ

daher seinem Buch „Oeconomischer Wegweiser / Das ist: Die gemeine Haußbaltungs-
Wissenschaft" (Jena, 1680) eine Ergänzung folgen: „Kurtz begriffene Nachricht Wie
mit Zuziehung des Oecon. Wegweisers / uf Forwergen / Ritter - oder anderen Frey-
güthern / weitleufftiger Haußhalt wohl zu verführen" (Jena 1680).
76 Dem „Oeconomus prudens et legalis oder allgemeiner klug- und rechts-verständiger

Haus-Vatter" (s. Anm. 64) steht ein „Oeconomus prudens et legalis continuatus, oder
grosser Herren St,anrls unrl arlelicher Haus-Va,t,ter" (Nürnberg 1719) gegenüber.

265
Familie Il. 3. 'Familie' als terminologische Einkleidung des Haoshegmfs

wird hier unterschieden zwischen einer allgemeinen Hauslehre (gemeine Oeconomie)


und der adeligen (Oeconomie des Hofs)7 6 • Gerade die letztere geht jedoch über einen
dynastischen Hausbegriff weit hinaus; indem sie in Gestalt einer Regierungs- und
Verfassungslehre eine Theorie des fürstlichen Territorialstaats entwirft; das Bild
der vom Hausvater regierten, zusammen wirtschaftenden Einzelfamilie wird auf die
große Staatshaushaltung appliziert und damit der Raum auch des Dynastisch-
Familiären überschritten. Der „ökonomische" Hausbegriff hat demnach die adelige
Dynastie ebensowenig im Blickfeld wie Einzclfümilicn, die den Konstituanten des
Hauses nicht gerecht werden, wie wir das bei Lohnarbeiterfamilien erwarten dür-
fen. Er erweist sich somit als ein unausgesprochen ständischer, applikabel auf die
typischen stadtbürgerlichen und bäuerlichen Verhältnisse.

3. iFamilie' al8 terminologische Einkleidung des Ilausbegrilfs


im 18. Jahrhundert
Zum Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird die Vokabel 'Familie',
bis dahin nur vereinzelt nachzuweisen, in der deutschen Sprache heimisch 77 • Bei der
Bildung dieses Fremdworts spielt nicht nur die lateinische, sondern auch die franzö-
eillchc Spro.chc eine Rollu, wlu Wll gdegeuLliche Vtirwtiuuuug vuu 'famillr.' hAwAiRt. 70 .
Auf Einzelheiten der Etymologie, so auch auf die Frage nach der Rolle des engli-
schen 'family', kann hier nicht eingegangen werden. Wichtiger ist die Frage, welche
Vorstellungsgehalte mit Hilfe der Vokabel 'Familie' Einzug halten. Zum Verständ-
nis sei das Bedeutungsfeld von 'familia' und 'fümille' in der frühen Neuzeit abge-
steckt.
'Familia' wird in gelehrten Abhandlungen häufig gebraucht. Im genealogischen
Schrifttum bedeutet es das (adelige) Geschlecht 79 • Die am römisr.him RAr.ht oriAn-
tierte Rechtswissenschaft kennt die divergierenden Bedeutungen der familia aus
dem Corpus Juris unu führt sie fort: 'familia' kann z.B. die (weitere oder nähere)
Verwandtschaft, vor allem im Recht der Erb- und Lehnsfolge und im Recht der
Stammgüter bezeichnen80 ; ferner meint das Wort mehr oder minder deutlich die
Hausgemeinschaft von Rhelent.An, Kindern und Dienerschaft. Es wirkt auch die im
Mittelalter vorherrschende Bedeutung der familia als Gesinde nach. Dabei ist zu

76 FLORINUS, Oeoonomus prudcns et lcgalis continuatu~, Vorrede.


77 GRIMM Bd. 3 (1862), 1305; KLuoE/MrrzKA, 183.
78 Vgl. ADAM FRIEDRICH GLAFEY, Recht der Vernunft 4, 1, § 16 (füankfurt, Leipzig 1732):

Offt hat ein Mitglied einer Familie einen .~olchP.n .Fehler an 1Jich; bei Joll. GlilOBG EsTOR,
Bürgerliche Rechtsgelehrsamkeit der Teutschen, Tl. 1 (Marburg 1757), 382. 402 f. steht
famili (§§ 885. 932. 934).
79 Vgl. die genealogischen Titel: REINER REINEccrns, Syntagma de familiis, quae in

monarchiis tribus prioribus rerum politiae sunt (Basel 1580); ELIAS REUSNER, Opus
genealogicum catholicum de praecipuis fämiliis imperatorum, regum, principum, comi-
tum (Frankfurt 1589).
so Siehfl et,wa rliA 7.11Ra.mmAnRt11llnne hAi "PFITT.TPP KNTP1>1:rm:r.nT, Tractatu~ de fideicomuli.1i11ii1
familiarnm nobilium, Von Stamm-Giit,11rn (Köln 1715), 9 ff.; für die vcrwandtschafts.
erbrechtliche Bedeutung z.B. BENEDIKT 0.ARPZOV, Jurisprudentia forensis Romano-
Sa.x.uniua, parH ~. oonflt. 18, def. 29 u. const. 9, def. 15. 16 (Frankfurt 1644); SAMUEL
STRYCK, Opera, vol.15/16 (Ulm 1755), cons. 13G, Nr·. 7G.

266
ß. 3. 'Familie' als terminologische Einkleidung des Hausbegriffs Familie

registrieren, daß der Gebrauch der familia im Sinne der „Hausgemeinschaft" -


außer in Zusammensetzungen wie 'paterfamilias', 'materfamilias', 'filiifamilias' -
in juristischer Literatur keineswegs als Hauptbedeutung angesprochen werden
kann. Die Lcgisten traktieren die familiären Beziehungen zwischen Mann und Frau,
Eltern und Kindern regelmäßig nicht auf der Grundlage einer Hauslehre, sondern ·
isolieren die Individualbeziehungen; ein Bedürfnis, in diesem Zusammenhang die
Lebensgemeinschaft des Hauses als Ort und Rahmen dieser Beziehungen namhaft
zu machen und als rechtliches Gestaltungselement ins Spiel zu bringen, scheint
vielfach nicht verspürt zu werden. Das „Haus" scheint am ehesten bei der Frage
des Ausscheidens der Söhne aus der väterlichen Gewalt durch Errichtung einer
eigenen oeconomia eine Rolle zu spielen, ein Mechanismus, der gerade entgegen dem
römischen Recht entwickelt worden ist 81 . Die Sinnvariante der familia als Lebens-
gemeinschaft des Hauses steht jedenfalls nicht im Vordergrund. Der Jurist JusTus
HENNING BoEHMER sieht sich zu umständlichen begrifflichen Erläuterungen ver-
anlaßt, um Mißverständnisse des Satzes auszuschalten, wonach derjenige, der aus
der väterlichen Gewalt ausscheide, die iura familiae verliere 82 • Demgegenüber gibt
es Literaturgattungen, die schon seit dem Spätmittelalter83 mit der Vokabel 'fami-
lia' primär und präzise die Lebensgemeinschaft von Ehegatten, Eltern und Kin-
ilf~rn, H11.11RhP.rr imil H11.m1gARinilA hAzAinhnAn nnd die familiären Beziehungen von
diesem Begriff her erfassen, nämlich Ökonomik und Naturrecht: Die naturrecht-
liche Literatur der Neuzeit nimmt den aristotelischen Hausbegriff auf und legt ihn
dem Familienrecht zugrunde. Neben oder an die Stelle der Bezeichnungen 'domus',
'oeconomia', 'societas domestica' für das so verstandene Haus tritt - so etwa bei
Grotius, Hobbes, Pufendorf und Thomasius - clie 'familia' 84 ; ähnliCJhes registrieren
wir bei Ökonomiken, die in lateinischer Sprache verfaßt sind 86 •
Als Ergebnis kann festgehalten werden: 1) Einen deutlichen Begriff von der Ninzel-
familie als Sozialgebilde können wir µur in solchen Literaturen erwarten, die von
der aristotelischen Ökonomik beeinflußt sind; es sind dies, neben den.Ökonomiken

81 Dies im „usus modernus pandectarum" unter Berufung auf die einheimischen mores

gegenüber dem römischen Recht, vgl. CARPZOV, Jurisprudentia, pars 2, const. 10, def. 1;
die oeconomia des lateinischen Textes ist in den deutschen Belegen als Ha-ußlialt·ung •und
Nahrung wiedergegeben; desgl. JOHANN BRUNNEMANN, Commentarius in libros pandecta-
rum, lib. 1, tit. 7, Abschn. 31, 3. Aufl. (Frankfurt 1683), 31.
R2 JusTus HENNING BoEHMER, Exercitationes ad pandectas, Bd„ l (Hannover, Göttingen

1745), Präfätio, 34 ff.


83 Belege: KRÜGER, Oeconomica, 546f.; BRUNNER, Adeliges Landleben, 256.
84 THOMAS HOBBES, De cive (1642), 3, 9, 10: Paterfamilias, liberi servique ejus, virtute

imperii paterni, in unam personam civilem coa.liti, familia dicitur; HUGO GROTIUS, De iure
belli ac pacis libri tres 2, ,5 (1625; Ausg. Leipzig 1758); SAMUEL PuFENDORF, De iure
n11tur110.ot.gontium libri octo 6, 3, § 1 (1672; Ausg. Fr11nkfurt, Leipzig 1744): Qiuni ad-
modum familiae ex marito et uxore tanquam primariis partibus constant, quorum coniunctione
suboles excitatur: ita secundario iisdem accedunt servi; CHRISTIAN THOMAsros, Institutiones
jurisprudentiae divinae 3, 1, § 12, 7. Aufl. (Halle 17~0), 287: domum seu familiam.
Hingegen gebraucht CHRISTIAN WoLFF in seinem Naturrechtssystem die Vokabel 'fämilia'
für die Hausgemeinschaft nicht.
85 Ar.sTF.D'I' 3. Aufl., Bd. 3 (1649), 136 ff.

267
Familie II. 3. 'Familie' als terminologische Einkleidung des Haushegrift's

selbst, vor allem die naturrec~tlichen Entwürfe 00 • 2) In diesen Literaturen wird die
'familia' als Bezeichnung der Einzelfamilie heimisch; die Begrenzung auf die Ge-
meinschaft von Ehegatten und ihren Kindern unter Ausschluß der Dienerschaft ist
noch nicht festzustellen. 3) Im übrigen steht 'familia' vorwiegend für Verwandt-
schaft, Dynastie, Geschlecht und trifft sich auch insoweit mit dem Bedeutungsfeld
von 'Haus'. Zutreffend stehen bei NEHRING (1717) folgende Bedeutungen der fami-
lia nebeneinander: Familia, das Geschlecht oder Stamm. Item, das Haus-Gesind.
Ferner/ wird darunter auch verstanden die ganze Haushaltung/ als das Weib/ Kinder
und alle/ die im Hause und unter eines Gewalt sind. Weiter/ die Erbschaft 87 •
Für 'famille' gelangen wir zu einem vergleichbaren Befund. Das Wort bezeichnet im
Spätmittelalter sowohl die Dienerschaft als auch die Gemeinschaft der durch Ver-
wandtschaft oder Ehe verbundenen un:d unter demselben Dache lebenden Perso-
nenB8. Seit Ende des 15. Jahrhunderts wird der paterfamilias als 'perefamille'
('pere de famille') wiedergegeben89 • Daneben steht als Bezeichnung für die Einzel-
familie die ältere Vokabel 'maison' (lateinisch 'mansio'; auch: 'mesnage') 90 • Auch
bei 'famille' scheint jedoch in der frühen Neuzeit der häusliche Sinnbezug nicht im
Vordergrund gestanden zu haben. Der „Dictionnaire" der Academie Fran9aise
(1694) führt zwar als Bedeutungsvarianten von 'famille' auf: Toutes les personnes
qui vivent dans une mesme maison, sous un mesme ehe/, fügt aber dann hinzu, daß
das Wort in dieser Bedeutung kaum in Gebrauch sei, außer in den Verbindungen
a
Chef de famille, avoir une grande famille nourrir. Demgegenüber hebt das Lexikon
die Bedeutungen „Verwandtschaft", „Geschlecht" (auch hier in Konkurrenz zu
'maison' mit subtilen Akzentunterschieden) hervor91 .
Noch die 4. Auflage des „Dictionnaire" (1762) mar,ht die gleichen Angaben92 . Dies
ist nicht nur deshalb sehr erstaunlich, weil wir aus dem 18. Jahrhundert Texte
haben, in denen 'famille' als selbstverständliche Bezeichnung der J!]inzelfamilie ge-
braucht wird, sondern weil es auch ältere Quellen dieser Art gibt. JEAN BoDIN
(1583) entwirft in seiner Staatslehre ein Modell der famille als Vorbild des Staates
(la vraye image de la Republique), als seine Quelle und sein Ursprung (la vraye
source et origine de toute Republique); gemeint ist selbstverständlich nicht die Ver-
wandtschaft als körperschaftliche Einheit, sondern die Haushaltung ( mesnage),
bestehend aus ehe/ de /wm-ille, 'rri,ere de farnille, den Kindern, Freigelassenen und freien
Personen, die sich freiwillig unter den Gehorsam des Hausherrn begeben93 • Wie in
der lateinisch verfaßten, naturrechtlich orientierten Literatur die familia, so bietet
auch in den vergleichbaren französischen Werken die famille das terminologische

86 Das schließt nicht aus, daß mitunter auch in der legistischen Rechtsliteratur die aristo-

telische Hauslehre herangezogen wird; so etwa bei JOHANNES ÜALVINUS [KAHL], Lexicon
juridicum juris Romani simul et canonici (Frankfurt 1600), 756.
87 NEHRING 7. Aufl. (1717), 373.

8s FEW Bd. 3 (1934), 408.

se Ebd., Bd. g (1958), S.


90 Ebd., Bd. 6/1 (1969), 234 ff.

Yl Dict. Ac. fran9., t. 1 (1694), 436.


92 Ebd., 4e ed., t. l (1762), 718. Der Dict. de Trevoux, t. 2 (1721), 1654 macht

hingegen .~ulehe Ein~ehrä11ku11ge11 nicht; famille bedeutet danach unter anderem


wn mbi.a.ge. compose d'un chef et de ses domestiqiies, soit femmes, enfans ou serviteurs.
93 BODIN, Les six livres de la republique 1, 2 (Paris 1583), 10 f.

268
II. 3. 'Familie' als terminologische Einkleidung des Hausbegriffs Familie

Vehikel des aus der aristotelischen Ökonomie stammenden Hausbegriffs. Bonrn


stellt keinen Einzelfall dar; in der genannten Bedeutung dringt die famille auch in
die Gesetzessprache ein, wobei das Familienmodell der Staatslehre als Quelle nicht
zu übersehen ist. Eine das Eherecht betreffende Deklaration aus dem Jahre 1639
beginnt mit der Formel: Oomme les mariages sont le seminaire des etats, la source et
l' origine de la societe civile, et lefondement des familles, qui composent les republiques9 4.
Es scheint,, als gebe es für 'famille' mehrere Sprachebenen, eine allgemeine, auf der
das Wort die Einzelfamilie nur in bestimmten Wendungen und Zusammensetzun-
gen (insbesondere 'chef de famille', 'pere de famille' etc.) bezeichnete, und eine be-
sondere, auf der es den hauptsächlichen Terminus für die aristotelische oikia und
ihre Fortbildungen darstellte. Es darf die Vermutung ausgesprochen werden, daß
die Vokaheln 'familia' und 'famille' als Träger eines spezifischen Begriffs der Ein-
zelfamilie erst von der wissenschaftlichen (staatsrechtlich-ökonomischen) Sprache
her in die allgemeine eingedrungen sind.
Die Vokabel 'Familie' nimmt zur Zeit ihres Aufkommens an der Vieldeutigkeit ihrer
romanischen Vorbilder teil. Sie bezeichnet auf der einen Seite verwandtschaftliche
Größen und Gebilde, entweder die Verwandtschaft allgemein95 oder die vornehme
Dynastie und ihre Genealogie96 oder die erbberechtigte Verwandtschaft, insbeson-
dere die Verwandten, die als Gesamtheit in rechtlicher Beziehung zu einem Fami-
lifmgn f-. (FirlAilrnmmiß, F11.miliAnRtll.mment) RtAhAn, orlAr Rr.hlir:ßlir.h ifaR F.rhe;nt
RelhRt97 • Auf der anderen Seite bezieht sich 'Familie' auf die einzelne Haushaltung,
und zwar in unterschiedlichem Sinne. Vielfach benennt 'Familie' das Objekt des
hausherrscha.ftlichen Imperiums; das Wort. bA:r.eichnAt, d11.nn r:nt,wAdr:r nur diA
Dienerschaft oder das ,;Hausgesinde" in einem weiteren Sinn, nämlich unter Ein-
schluß der Kinder08 , oder den Herrschaftskreis des Hausvaters unter Einschluß der
Frau- aber ausschließlich des Hausherrn selbst-: Farnilie, Farrml,it,iwm, Fam'ille.
Hausgesinde, worunter zu weilen nur die Bedienten eines Herrn, vielmals aber alles,
wa.s im Hmise ist, Frau, K1:nder und Ges1:nde be.gr1:ffen werden (JABLONSKI 1721)99 ,
Die zuletzt genannte Bedeutung berührt sich mit dem Gebrauch der Vokabel im
Sinne der aristotelischen oikia, die den Hausherrn selbst mitumfaßt. Die genannten
Sinnvarianten zeigen ein Zusammenwachsen des „gesinderechtlichen", primär
wirtschaftlich gedachten Bedeutungsfelds mit dem gemischt personenrechtlich-
wirtschaftlichen der oikia. So wird bei ZEDLER (1732) zunächst die Familie als eine
Anzahl Personen, welche der Macht und Gewalt eines Hausvaters ... unterworfen
sind, gekennzeichnet, sodann wird aber festgestellt, daß die Familie auch beim Tod
eines Ehegatten (also auch des Ehemannes!) fortbesteht 100•

94 Nach FRAN90IS !S.AMBERT / ALPHONSE TAILLANDIER / DECRUSY, Recueil general des

anciennes lois Fran9aises, t. 16 (Paris 1829), 520.


95 In dieser Bedeutung ausschließlich bei EsTOR, Rechtsgelehrsamkeit,§§ 885. 932. 934 (Tl. l).
96 BUDDEUS (1709/14), passim. .
97 Vgl. 7.1mTiF.R Rfl. 9 (l Wfi), 20fi.
98 Vgl. HoBBES, De cive 3, 9, 10. Bei ADELUNG Bd. 2 (1775), 1024 steht unter „Haus-

gesinde": lJJheJiem wurde auch die ganze l•'amilie, d. i. die Glieder der hlluslichen Gesellsclmft
mit .Ausschließung des Hausherren und der Hausfrau das Hausgesinde genannt; ebenso Dt .
.JJ:no., Bd. 14 (178Y), 58Y.
99 JABLONSKI (1721), 195.
100 ZEDLER Bd. 9, 205.

269
Familie II. 3. 'Familie' als terminologische Einkleidung des Haushegrift's

Die Vokabel 'Familie' bildet im Verlauf des 18. Jahrhunderts einige Bedeutungs-
variant.en zurück, so etwa die Sinnbeschränkung auf das „Gesinde" alleinlo1, und
steht - in beidem konkurrierend mit 'Haus' - sowohl für verwandtschaftliche
Größen als auch für die Einzelfamilie. Auch was die letzteren betrifft, werden aus
den Wörtern 'Familie' und 'Haus' (im Sinne der oeconomia) Synonyma. Eine Über-
setzung von GROTrns' „De iure belli ac pacis" (1721) gibt 'familia' als Haus oder,
Familie, Familie oder Haus-Gesellschaft 102 wieder. Die Lexika bringen vielfach die
Lehre von der Hausgemeinschaft mit den dreifachen Beziehungen zwischen den Ehe-
gatten, Eltern und Kindern, Herrschaft sowohl unter dem Stichwort 'Haus' wie
unter dem Stichwort 'Familie' - und tauschen die Vokabeln beliebig aus. Haus ...
wird entweder materialiter genommen ... oder juridice und civiliter, vor eine Familie
und bestelltes Hauswesen von unterschiedenen Personen (ZEDLER 1735) 1 0 3 • Das Haus
... in engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, eine Gesellschaft, welche ohne unmittel-
bare Beihülfe einer andern, die Erhaltung des natürlichen Lebens und die Bequemlich·
keit ihrer Glieder besorget, diejenigen Personen, welche eine häusliche Gesellsclia/l wu11-
machen, zusammen genommen, eine Familie, eine Haushaltung (ADELUNG 1775)1° 4 •
Die vom aufgeklärten Naturrecht abhängige Gesetzessprache überträgt den geschil-
derten Synonymgebrauch von 'domus', 'societas domest!ca' und 'familia' ins Deut-
sche. Das „Project des Corporis Juris Fridericiani" (1749) definiert die Familie alg
häusliche Societaet 105 , der KRF.TT'l'M AYRsche Kommentar zum „ Codex Maximilianeus
Bavaricus Civilis" bestimmt sie unter der Kapitelüberschrift Von dem Haus- oder
Jlamilienstande wie folgt: Familie oder Societas domestica bedeutet in sensu proprio
eine Versammlung von mehr Personen, welche unter einem gemeinschaftlichen Haus-
vater beisammen lebenI06.
Das Eindringen der Vokabel 'Familie' in die deutsche Sprache induziert demnach
keine neuen Vorstellungsgehalte. Der Ham:1begriff der Ökonomik und des Natur-
rechts wird als Familienbegriff fortgeführt. l':\e1t Jj)nde des 18. und im Laufe des 19.
Jahrhunderts erhält von ilim konkurrierenden Termini 'Familie' das Übergewicht
über 'Haus' 107 , das - bei einer nicht einheitlichen Entwicklung - in Richtung auf
den örtlichen Lebensraum der Familie veräußerlicht wird: Das Haus ... ist die

101 Vgl. Dt. Enc„ Bd.9 (1784), 484ff.; FERDINAND WACHTER, Art.Familia, ERSCH/

GRUBER 1. Sect., Bd. 41 (1845), 314 ff.; PIERER 2. Aufl„ Bd. 10 (1842), 235; anders noch
AnF.LUNG Bd. 2, 38 (Kinder, Gesinde).
102 HuGo GROTIUS, Drey Bücher von Kriegs- und Friedens-Rechten 2, 5, 8. 3, 14, 5 (Frank-

furt 1721), l04f. 190 ff. D11Rgl11ir.h1m wirn niA .~Pipnratin nb oecon-O'ln.ia. pa.f(!rna„ durch die der
Sohn die Wirkungen der Emanzipation erreicht, sowohl als Anstellung der eigenen Haus-
l1albwny w1ul Nultmny wie als Sonderung von väterlicher Familie wiedergegeben, so bei
GEORG ADAM STRUVE, Jurisprudenz, Oder: Verfassung derer Land-üblichen Rechte 1, 12,
§ 4, 5. Aufl. (4eipzig 1732), 128.
103 ZEDLER Bd. 9, 873.
104 ADELUNG Bd. 2, 1016 ff. 1018.
10 • Project des Corporis Juris Fridericiani 1, 1, 7, § 2, Tl. 1 (Halle 1749), 14.
100 WIGULAEUS XAVER ALoYs FRH. v. KREITTMAYR, Anmerkungen über den Codicem

Maximilianeum Bavaricum Civilem l, 4, Bd. l (1756; Ausg. München 1844), 106.


107 z. B. wird 'Haus' nicht mehr als Stichwort mit dem hier zu untersuchenden Sinn aus-

gewiesen bei: BROOKHAUS 8. Aufl„ Bd. 4 (1834), aber noch Wortverbindungen wie 'Hau11-
verträge'; ERSCH/GRUBER 2. Sect:, ßd. 3 (1828), aber: 'Hausarrest', 'Haushaltung' etc.;

270
m. Veränderungen des Familienbegriffs seit 1850 Familie

Veste der Familie (MANZ 1847) 108. Erst seit der Sinngabelung von 'Familie' und
'Haus' kann deren erneute Gleichsetzung in einem Teil der Literatur des 19. Jahr-
hundert!; einen poleIDit:mhen Charakter annehmen; familienrestaurative Lehren
können dann die Wandlungen der Familie mit Hilfe eines historischen Hausbegriffs
sichtbar machen. Nicht also das Eindringen der Vokabel 'Familie' in die deutsche
Sprache signalisiert einen Begriffswandel, sondern das Verdrängen und historisie-
rende Zurückholen von 'Haus' in den Anschauungsbereich der Einzelfamilie.
Im übrigen verdrängt auch auf dem allgemeinen Felde des Verwandtschaftsrechts
die Familie als Terminus das Haus; Begriffsgeschichte der Verwandtschaft ereignet
sich unter der Signatur der Familie. Dem Haus bleibt jedoch in diesem Zusammen-
hang ein besonderer Sinngehalt, der schon vor dem 18. Jahrhundert im Vordergrund
gestanden haben mag: Es bezeichnet zwar nicht mehr die Verwandtschaft im allge-
meinen109, aber in prägnantem Sinne, edles fürstliches Geschlecht (GRIMM 1877) 110
oder allgemein ein vornehmes Ccsohlcoht, weshalb sich die verwandtschaftsrecht·
liehe Bedeutung auch in Verbindungen wie 'Hausverträge' ,'Hausgesetze' 111 hält.
Der Übergang wird bei ADELUNG (1775) deutlich: Das Haus ... in noch weiterer
Bedeutung, ein Geschlecht ... ob man es gleich in diesem Verstande im Hochdeutschen
freilich nur von angesehenen Familien und Geschlechtf)rn braucht112 • Das Haus behält
seine Bedeutung als Träger eines spezifisch adeligen Familienbegriffs.

m. Die Veränderungen des Familienbegriffs seit der 2. Hälfte des


18. Jahrhunderts
Der von der aristotelischen oikia geprägte Begriff von der Familie als Lebensge-
meinschaft erfuhr seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine den Kernbe-
reich erfassende Umformung. Eine Bezeichnung, mit der die begriffsgeschichtlichen
Vorgänge einheitlich signiert werden könnten, steht meines Erachtens nicht zu
Gebote. Die Begriffsgeschichte erweist sich vor allem deshalb als schwierig, weil
sich zwischen die Zeit der unangefochtenen Geltung des „alten" und der Verfesti-
gung des „neuen" Familienbegriffs eine Epoche schiebt, in der die Tendenz zur
begrifflichen Auflösung der Familie vorherrscht. Gerade der Zeitraum zwischen
ca. 1780 und dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist in Deutschland von
Programmen erfüllt, welche die soziale Rolle der Familie zurückzudrängen suchen.
Dies erklärt, warum das erneute Aufgreifen der Fainilie vielfach in Verbindung mit

MANZ Bd. 5 (1847), aber: 'Hausfriede', 'Hausrecht'. Bei PrERER 2. Aufl., Bd. 13 (1843),
426 steht 'Haus' als Träger einer familiären Bedeutung nur noch mit verwandtschaftlichem
Sinngcho.lt: ... 4) die zu einer Familie gehörenden Personen; 5) dah. (sie!) so v. w. Geschlecht.
108 MANZ Bd. 5 (1847), 133.
109 Wie etwa bei JABLONSKI (1721), 274: In Rechten die Abstammung, Abkunft und
Sipschaft.
110 GRIMM Bd. 4/2 (1877), 650.
111 Haus-Vertrag, ein Vertrag, welcher in adlichen Familien beBonderB zur Bestimmung der
Erbfo!go oi1igO(Jan(Jon wird, HlllINfllll Bd. a (lROO), 880. H11„1u1g11f111ts:11 (im, t1:u.t1mh1m, Priv111.t-
rechte), .Bind die N armen, welche in Bezug auf die eigentümlichen Standesverhältnisse des
hohen, z·wweile1i auch detJ wieder-n Adels •.. gelten, GusTAV EMMINGHAUS, Art,. Hau11g1mot1-
sen, ERSCH/GRUBER 2. Sect., Bd. 3 (1828), 178 f.
m ADELUNG Bu. 2 (1775), 1016 ff. 1019.

271
Familie m. 1. Rückbildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente
einem Restaurationsbewußtsein erfolgt; paradoxerweise vollzieht eioh dio Bildung
des neuen Familienbegriffs, den wir den „bürgerlichen" nennen können, nicht in
einer Konfrontation mit dem „alten", sondern eher in wehmütiger Erinnerung an
ihn und unter Rückgriff auf manchen der alten Assoziationsgehalte. Daß gleich-
wohl die aristotelische oikia keine Renaissance erfährt, wird näher darzulegen sein.
Ferner ist zu beachten, daß mit dem Pluralismus der sozialen Theorien wie bei übri-
gen sozialen Begriffen auch ein Pluralismus der_ Familienbegriffe entsteht. Die be-
grifflichen Veränderungen von der oeconomia christiana zur bürgerlichen Familie
des 19. Jahrhunderts sollen anhand zweier Problemfelder aufgewiesen werden.

1. Die Rückbildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente des Familienbegriffs

Typisch für den alten Familienbegriff ist die Verschmelzung der personalen Bezie-
hungen der Familienglieder mit den Bezügen einer wirtschaftlichen Zweckeinheit,
die nicht nur das Element des Konsums, sondern auch die des Erwerbs und der Er-
werbssicherung (Vermögenserhaltung) enthält. Idealtypisch ist die Familie danach
Grundform des Betriebes und zugleich Konsumgemeinschaft, der Verwaltung un-
terliegen die res domesticae in dr!lifacher Beziehung: tum quatenus comparandae, tum
quatenus utendae, tum quatenus conservandae (CHRISTIAN_ W OLFF 1766) 113 . Die
Ökonomik enthält daher die Lehre von den Produktionstechniken und von der Ver-
mögensverwaltung. Die Arbeits- und Berufswelt erscheint nicht bloß durch eine
Unterhaltspflicht mittelbar familiengebunden, die den Familiengliedern lediglich
die Pflicht auferlegen würde, aus ihrem (außerhäuslich gedachten) Einkommen das
Nötige für den gemeinschaftlichen Verbrauch in die Familienkasse einzuzahlen;
vielmehr ist die Arbeits- und Jjjrwerbspflicht schlechthin als Familienpflicht ausge-
staltet. Noch die „Deutsche Encyclopädie" (1789) beschreibt den Hausvater als das
gewerbtreibende Oberhaupt einer Familie. Seine Pfiichten sind, wie der Gesichtspunkt,
aus dem wir ihn ansehen, als 1) Oberhaupt einer Familie, als 2) gewerbtreibende Per-
son, 3) als Gatte, 4) als Vater, vierfach 114•
Dies ist der Grund, warum auch die dem Hausvater zur Hand gehenden männlichen
Bedienten begrifflich zur Familie gehören. Auch die Tätigkeit der Hausfrau ist
nicht auf den Konsumgüterbereich beschräukL. Gewiß wird der Frau nach einer
Naturordnung der Geschlechter hauptsächlich eine Rolle innerhalb des Hauses zu-
geschrieben. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie von der Erwerbswelt getrennt wäre;
auch diesbezüglich ist sie Gehilfin des Mannes. Dem Ehemann gegenüber besteht
die Pflicht: Seiner gewynnung sollt du ym hilflich sein, Darzu auch sein beste behalterin
(Der frawen Spiegel, 1520) 115 • Die Frau ist ain sorgfältige mehrung der Narung (Jo-
HANN NASS, 1534-1591) 116 . Denn weil sie des Mannes Gelvülfin heisset /so soll sie

113 CHRISTIAN WoLFF, Jus naturae methodo scientifica pertractatum 7, § 422 (Frankfurt,

Leipzig 1766).
114 Dt. Enc., Bd. 14 (1789), 610.

116 Der fra wen Spiegel in welchem Spiegel sich das weyblich byld /jung oder alt beschauwen

_mler leme11 /zu geliraucheu / ilie woltat gegen irem eeilchen gemahel (Straßburg 1520),
BI. 3v,
118 JOHANN NASS, Sechs wohlbegründete Hauspredigten, zit. Ü.ARL HRAUN, Dio k11tholischc

Predi~t während der ,Jahre 1450 bis 1650 über Ehe und Familie, Erziehung, Unterricht
und Berufswahl (Würzburg l!J04), 16.

272
m. 1. Rückbildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente Familie

ihm nicht nur essen / sondern auch arbeiten helfen: Will sie es nicht tun / so hat der
Mann sie dazu ernstlich anzuhalten / ein göttliches Recht (FRANCISCUS PHILIPPUS
FLORINUS 1705) 117 • Der sorgende Umgang mit erzielten Einkommen wird der Frau
geradezu als Hauptaufgabe aufgebürdet: Darumb wie es gleich löblich ist/ erworben
gut erhalten / und etwas von newem erwerben / Also ist auch ein redliche hausmutter / so
das erworben gütlin zusamen helt / nicht geringer ehren und lobes werd / denn der haus-
wirt /der es erwirbet (JusTus MENIUS 1529) 118 • Im gleichen Zusammenhang steht
auch die häusliche Arbeitspflicht der Kinder, die nicht zufällig ·als 'Gesinde' be-
zeichnet oder mit den Bediensteten in einem Atemzug ('Kind und Gesind') genannt
werden119 • Ihre Dienstpflicht bezieht sich auf die ges~mte Haushaltung einschließ-
lich des Erwerbsbetriebs: Sie sollen / ein jedes nach seiner Art und Geschlecht /
fieissig arbeiten (FLORINUS 1705) 120• Familiäre Verbindungen kennzeichnen denn
auch den Beginn der Handels- und Produktionsgesellschaften, die z. T. mit Hilfe
einer familiären Terminologie benannt werden 121 .
Die weitere Entwicklung des Familienbegriffs ist gekennzeichnet durch die Rück-
bildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente. Dieser Vorgang begrenzt die
wirtschaftliche Anschauungsweise der Familie auf den Konsumbereich; auf der
anderen Seite ermöglicht er den Zug zur begrifflichen Personalisierung der familiären
Beziehungen. Die Rückbildung des Betriebscharakters der Familie läßt sich an
einigen begriffsgeschichtlichen Entwicklungen ablesen,
a) Der Begriff der Ökonomie löst sich, indem er seinen Sinnbezug zur Gesamtheit
wirtschaftlicher Vorgänge behält und ausbaut, aus der J. .ebenswelt der Rim:elfamilie
heraus 122 • Die oeconomia trug seit jeher eine Mehrdeutigkeit in sich; neben ihren
familiären Sinngehalt traten schon seit dem Alt.ert.um rein wirtschaftliche, der per-
sonalen Elemente entbehrende Nebenbedeutungen123 vor allem in Beziehung auf
den agrarischen Betrieb und - historisch wichtiger - in Beziehung auf die Wirt-
schaft eines größeren sozialen Körpers wie Staat und Kommunen124• Im Verlaufe
des 18. Jahrhunderts wird im Rahmen wirtschaftlicher Lehren die zuletzt genannte

117 FLORINUS, Oeoonomus prudons ot lcga,lis l, 1,6, § 10, Tl.l, 36 (s.Anm.64); vgl.auch

HERING, Oeconomisoher Wegweiser (s. Anm. 74), 65: die Absicht der Hausmutter soll
darauf gerichtet sein, im Hause nebenst df!,m Haußwirthe zuerwerben.
118 MENIUS, Oeconomia, VIII (s. Anm. 63).
119 Zur Formel „Kind und Gesind": OTTO KÖNNECKE, Rechtsgeschichte des Gesindes in

WeRt- und Riiil-De11tAr.hlR.nd (MR.rburg 1912), 289 ff. 294.


12 °FLORINus, Oeconomus prudens et legalis 1, 1, 10, § 9, Tl. 1, 65.

u1-+ Brüderlichkeit, Bd. 1, 556f.


122 Zum Folgenden: BRUNNER, Adeliges Landleben, 245. 300 f. (s. Anm. 23); ders. Das

„ganze Haus", 118 f. (s. Anm. 46).


123 Für die Bedeutung des oeconomus als Gutsverwalter im Mittelalter: KRÜGER, Oecono-

mica, 54:! (s. Anm. 17).


124 Vgl. ALsTEDT Bd. 3, 136 ff. Hier wird zunächst eine oeconomica generalis, die auch das

Ehe- uml Kindschaftsrecht enthält, ausführlich behandelt; sodann (160 ff.) wird eine
oeconomica specialis kurz erwähnt. Die letztere zerfällt in vier Arten: regia, satrapica,
politica, privata; mit dor oooonomioa. priva.tu ist der la.ndwirtschaftliche Betrieb gemeint.
RatRhiiu.sUch.e Oewru:rmie: Project des Corporis Juris Fridericiani (1749), 1, 1, 6, § 6 (s.
Anm.105).

18-90386/1 273
Familie m. 1. Rüekbildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente
Sinnvariante in Gestalt der economie politique 125, political oeconomy (politische
Ökonomie, Nationalökonomie) zur hauptsächlichen Bedeutung, so daß mit der Zeit
der einzelfamiliäre Bezug der Ökonomie einer besonderen Kennzeichnung ( economie
domestique !)126 bedurfte.
b) Signal für das Ausscheiden der erwerbswirtschaftlichen Komponente aus dem
Familienbegriff ist auch der Umstand, daß sich seit Ende des 18. Jahrhunderts all-
mählich die Vokabeln 'Hauswesen' und 'Haushalt'; die zur Bezeichnung der fami-
liären Wirtschaftseinheit bis heute lebendig geblieben sind, auf das Bedeutungsfeld
der Konsumgemeinschaft beschränken. Das wird überall deutlich, wo die Frau von
der Gehilfin des Mannes im Hauswesen zu dessen Leiterin „aufsteigt"; sie soll damit
natürlich nicht zur Chefin d~s Erwerbsbetriebs, sondern der täglichen Verbrauchs-
verwaltung werden. Das österreichische ABGG (1811) spiegelt noch den älteren
Sprachgebrauch wider: Der Mann hat das Recht, das Hauswesen zu leiten(§ 91); die
Frau ist verpflichtet, dem Mann in der Haushaltung und Erwerbung nach Kräften
beizustehen (§ 92). Anders bereits die Sprache der ALR (1794): Die Frau ist schuldig,
dem Hauswesen des Mannes nach dessen Stande und Range vorzustehen (Tl. 2, Tit. 1,
§ 194). Wo immer ein derart reduzierter Haushaltbegriff angewendet wird, kann die
Mitarbeitspflicht der Frau im Gewerbe deR MannflR, die unter ständischen Voraus-
setzungen auch vom BGB (1900) aufrechterhalten wurde, nicht einfach durch die
Arbeitspflicht im Haushalt ausgedrückt werden, Rondflrn muß alR Sondp,-rpfl.icht
neben den Haushaltsbereich treten. Die Fassung des BGB von 1900 gehört noch
beiden Rpra,r.lumhir.htfm an: nifl Frau iAt VArpflichtet, da,s gem.(J1'.nscha,ftlichc Ha.us-
wesen zu leiten .. ferner aber im Hauswesen und im Ge.~chiifte dR.~ Mannes 7.U arbeiten
(§ 1.356); es werden also zwei Arten von „Hauswesen" unterschieden, ein konsum-
wirtschaftliches, das gemeinschaftlich ist un<l. von <l.er Frau geleitet wird, und ein
erwerbsbezogenes, das dem Mann zugeschrieben wird und in dem die Frau unter der
Voraussetzung sozialer Üblichkeit mitzuwirken hat. Daß die zweite Sinnvariante
bereits veraltet war, zeigt eine Erläuterung des Gesetzes: A.ußerdem ist die Fra1i
aber auch zu Arbeitsleistungen im Geschäfte des Mannes, also außerhalb des eigentlichen
Hauswesens, verpflichtet (Lunwm KUHLENBECK 1901)127 •
Die Reduzierung des Familienhaushalts auf den gemeinschaftlichen Verbrauch ent-
läßt die Berufswelt des Mannes (an die der Frau wird zunächst nicht gedacht) aus
dem familiären Bereich und überantwortet sie der Individualentfaltung. Nur mittel-
bar erscheint die Erwerbstätigkeit familiär gebunden, nämlich durch die Alimenta-
tionspflicht (Unterhaltspflicht), die sich aber gar nicht primär als Arbeitspflicht
darstellt, sondern als Schuldigkeit, aus Kapital oder Arbeit den gemeinschaftlichen
Verbrauch zu finanzieren. Die Wissenschaft vom römischen Recht hatte dieses Prin-
zip zur Hemmhaft gebracht. Dafür, daß das BGB die Mitarbeitspflicht der Frau im

12 5 Ursprung bei .ANTOYNE DE MoNTCHRETIEN, Traicte de l'oeconomie politique (1615),


zit. EDGAR SALIN, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl. (Bern, Tübingen 1951), 53.
128.So bei RoussEAU, Discours sur l'economie politique (1745), Oeuvres compl., t. 3 (1964),

241.
12 7 LUDWIG KUHLENBECK, Von den PamlekLeu zum Bürgerliuheu GetieLzliuuh, Btl. 3
(Berlin 1901), 45. Das BGB in der Fassung des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. 6.1957
(BGB!. I 609) führt nunmehr die Trennung von Haushalt, den die Frau in eigener Ver-
antwortung führt, w1d Mitarbeitspflicht im Beruf oder. Geschllft des anderen Ehegatten
folgerichtig durch.

274
m. ],. Rückbildung der erwerhswirtschaftlichen Komponente Familie

Betrieb des Mannes überhaupt noch aufrechterhalten hat, waren zwei Gründe maß-
gebend. Zum einen betonte ein Teil der sog. Germanisten („Wissenschaft vom deut-
schen Privatrecht") unter dem Einfluß familienrestaurativer Tendenzen die Mit-
arbeitspflicht: Die Frau ist Genossin des Mannes und nimmt Teil an seiner Ehre und
seiner Arbeit (GEORG BESELER 1866) 128. Zum anderen trug die Mitarbeitspflicht,
die nur auferlegt wurde, soweit eine solche Tätigkeit nach den Verhältnissen, in denen
die Ehegatten leben, üblich ist(§ 1356 BGB), der fortdauernden ständischen Bezogen-
heit des Familienbegriffs Rechnung. Die Mitarbeitspflicht war schon unter der Herr-
schaft der Ökonomik ständisch differenziert worden129 ; auch nach der Rückbildung
des Betriebselements sind ähnliche ständische Unterscheidungen festzustellen 130 .
c) Im Zusammenhang mit der Reduzierung der Familie auf eine konsumwirtschaft-
liche Größe steht schließlich das Ausscheiden der Beziehung zwischen Herrschaft
und Hausbediensteten aus dem Familienbegriff, das im übrigen gleichfalls den lang-
fristig gesehen vergeblichen Protest familienrestaurativen Schrifttums im 19. Jahr-
hundert hervorrief. Die Familie stößt damit einen ihrer drei Stände ab und über-
läßt ihn dem Recht der Dienstmiete und des Arbeitsrechts. Die Bedeutung dieses
begriffsgeschichtlichen Vorgangs für Aufschlüsse über das Verhältnis von Familie
und Betrieb muß freilich angesichts der wirtschaftsgeschichtlichen Realität relati-
viert werden. Die vom alten Familienbegriff veranlaßte Vorstellung, nach der man
die familiäre Einschmelzung der Arbeitsverhältnisse im Spätmittelalter und in der
frühen Neuzeit schlechthin für sozialtypisch halten könnte, trifft auf differenzierte
Betriebsverhältnisse. Einerseits gibt es schon im Spätmittelalter Produktionszweige,
bei denen die Arbeiter regelmäßig nicht in die Hausgemeinschaft des Dienstherrn
aufgenullllllen wurden, so bei Bauunternehmen, Weberei- und Bergwerksbetrie-
ben131, zum Teil auch in der Landwirtschaft132. Andererseits ergeben die Rechts-
quellen, auch was den städtisch-handwerklichen Kleinbetrieb betrifft, eine deut-
liche Unterscheidung zwischen Handwerksgesellen und Hausgesinde 1s3 ; die Gesel-
len leben zwar im Hause des Meisters und unterliegen daher zwangsläufig seiner
Hausgewalt, ihre Rechtsstellung im Ganzen ist aber bedeutend weniger familien-
rechtlich bestimmt als die des Gesindes 134. Dem entspricht die Duplizität des obrig-

128 GEORG BESELER, System des gemeinen deutschen Privatrechts, 2. Aufl. (Berlin 1866),

555; demgemäß die Motive zum .b:ntwurf des BGB, Bd. 4 (1888), 107: Aber auch das Ge-
schäfts- und, Berufsleben wird nach deutscher Auflassung von der ehelichen Gemeinschaft mit
ergriffen.
129 KBElTTMAYR, Anrn11rknng1m, "Hd. l; 201: nahP.r 7., B. e.in.e.r a.delic.hen. Dame der Dienst,

wekhen sonst gemeine Bürger- oder Bauersweiber zu verrichten pflegen, nicht wohl zuzumuten
würe.
130 Vgl. JoH. ÜASPAR BLUNTSCHLI, Deutsches Privatrecht, 2. Aufl. (München 1860), 419,

der zwischen der Mitarbeitspflicht in höchsten Kreisen, im niederen Adel, im höheren


Bürgerstande und im vierten Stande unterscheidet.
131 WILHELM EBEL, Gewerbliches Arbeitsvertragsrecht im deutschen Mittelalter (Weimar

1934), 27. 86.


132 WERNER ÜGRIS, Ceschichte des Arbeitsrechts vom Mittelalter bis in das 19. Jahr-
huridert, Recht der Arbeit 20 (1967), 293; KöNNECKE, Rechtsgeschichte des Gesindes, 248.
1 39 ÜTTO v. GIERKE, Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: .Jj'schr. HEINRICH BRUNNER
(München, Leipzip; 1914), 47; KöNNl'lCKE, Rechtsgeschichte des Gesindes, 244 ff.
134 Näheres bei E:BEL, Arbeitsvertragsrecht, 28 ff.

275
Familie m. 1. Rückbildung der erwerLswirtschaftlichen Komponente

keitlichen Reglements in den Zunft- und Gesellenordnungen einerseits, den Gesinde-


ordnungen andererseits; dem entspricht ferner der suprafamiliäre „berufsständi-
sche" Zusammenschluß der Handwerkergesellen, der beim Hausgesinde keine Ent-
sprechung hat. Unter diesen Umständen berührt das Ausscheiden des Gesindes aus
der Familie den Bereich des Handwerks nur mittelbar, nämlich allenfalls in Gestalt
einer weiteren Entfamiliarisierung des Meister-Gesellen-Verhältnisses, die sich im
19. Jahrhundert nur zögernd vollzieht, wo immer der Kleinbetrieb aufrechterhalten
bleibt.
Nach dem ALR ist der Meister verpflichtet, über das Betragen der Gesellen Aufsicht
zu führen, sie zum Besuch des öffentlichen Gottesdienstes und zu einem stillen und
regelmäßigen Lebenswandel zu erma~nen und von Ausschweifungen und Lastern
abzuhalten (Tl. 2, Tit. 8, § 356); er kann zwar keine häuslichen Dienste verlangen,
aber der Geselle ist schuldig, den häuslichen Einrichtungen seines Meisters, solange
er bei ihm arbeitet, Folge zu leisten(§ 365). Der Lehrling hingegen ist noch dem Ge-
sinde zugezählt: Er hat auch in häuslichen Angelegenheiten Gehorsam. zu leisten
(§ 295), darf zu Gesindediensten herangezogen werden, soweit die Erlernung des
Handwerks dadurch nicht versäumt wird(§ 297) und unterliegt der quasiväterlichen
Zucht des Meisters. Dieser darf aber dabei die einem Vater vorgeschriebenen Grenzen
nicht überschreiten(§ 299). Noch die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund
vom 21. Juni 1869 (BGBl. 245) spricht von der väterlichen Zucht über die Lehrlinge
(§ 127); sie führt auch die bis heute formal gültige Formulierung fort, daß Gesellen
und Gehilfen verpflichtet sind, Anordnungen der Arbeitgeber in Beziehung ... auf
die häuslichen Einrichtungen Folge zu leisten(§ 121). Man kann sagen, daß sich die
„.li:ntfamiliarisierung" des Arbeitsverhältnisses im Bereich der gewerblichen Arbeit
weniger durch die Veränderung des Handwerksbetriebs als dadurch ereignet hat,
daß dieser infolge der Veränderung der Produktionstechniken durch den Großbe-
trieb überholt worden ist.' Der Industriebetrieb hat in der Tat mit der Familie
nichts mehr zu tun, auoh wenn man auf ihn im 19. Jahrhundertdon Hausbogriff
wegen des damit verbundenen Herrschaftsgedankens anwendete 135 und schließlich
die Idylle vom Betrieb als Familiengemeinschaft (im übertragenen Sinn) entwarf136 •
Obwohl also das Ausscheiden des Gesindes aus dem Familienbegriff nicht die Ar-
beitswelt insgesamt erfaßt, bietet dieser Vorgang gleichwohl einen wesentlichen
Hinweis für die Rückbildung des Betriebselements der Familie. Denn unter 'Gesinde'
sind nicht nur die Hausangestellten im modernen Sinne zu verstehen, sondern in der
Agrarwirtschaft auch die in der Gütererzeugung Tätigen. Damit ist die Bedeutung
OP.R RP.eriffRwarn'IP.lR lrninP.RWP.ßR a11f oiP. hii.1rnrfü~hP. ll'amiliP. hP.R<ihrii.nkt: A1rnh im
städtischen Haushalt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit wurde in be-

130 Es geschah dies in der Abwehr der Arbeiterorganisationen und ihrer Ansprüche durch

die Indm1triellenvereinigungen: Dann bleibt der TlnternRhmRr nir.ht HM·r im Ri!JRnRn Ha1.i.~R,
Zentralverband deutscher Industrieller (1884), zit. HEINRICH HERKNER, Die Arbeiterfrage,
7. Aufl. (Berlin, Le1pz1g l!:l:.!1), 411.
136 Nach dem von ERMEOKJil fmtwickeltfm ~,Familia.rismus" sollen daneben auch andere

menschliche Gemeinschaften familienhaften Charakter besitzen („Menschheits-", „Volks-


familie"), Gus'.l.'AV :h:RMEOKJil, DAr FamiliariRrnlJR a.lR OrdnungRic'lf'lf'l llnrl Orrln11ngRirlm1,l rlAR
sozialen Lebens (Paderborn 1947).

276
m. 1. Rückbildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente Familie

stimmtem Umfang mit Hilfe des Gesindes agrarische Produktion betrieben 137 • Dem-
gemäß definiert die Preußische Gesindeordnung von 1746, die für Berlin und 1753
für die Städte in Kleve, Moers und der Mark erlassen wurde, wie folgt: Zuvorderst
werden alle diejenige Leute und Personen, welche sowohl bei vornehmen oder sonst
distinguierten Herrschaften als andern Einwohnern hiesiger königlicher Residenzien
mittlern und geringern Standes jahraus jahrein in einem beständigen Lohn und Brote
stehen und zum standesmäßigen Wohlstand, Bequemlichkeit und andern in der Wirt-
schaft vorkommenden Arbeit gebrauchet, gehalten werden müssen, unter dem Namen
vom Gesinde verstanden; darunter werden u. a. aufgezählt: Jäger, Dienstgärtner
und Brauknechte13 B.
Daß das so begriffene Gesinde gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr zur Fa-
milie im eigentlichen Sinne gehörig empfunden wird, wird in der lexikalischen Lite-
ratur deutlich. Während noch um die Jahrhundertmitte der „Codex Maximilianeus
Bavaricus Civilis" (1756) und das Naturrechtssystem von Christian Wolff (1764)
das Haus mit seinen drei Verhältnissen entworfen hatten, heißt es bei' ADELUNG
(1775) unter „Familie": 1) Personen, so eine häusliche Gesellschaft ausmachen, Ehe-
leute und ihre Kinder, als ein Oollectivum ... Zuweilen begreift man unter diesem
A11,.~drucke auch das Gesinde 139 ; nach der „Deutschen Encyclopädie'' (1784) gehören
zur Familie eines Hausvaters Weiber, Kinder, Anverwandte, die zusammen in unzer-
trennter H attshaltu.ng leben, cla.s Ges1:ncle a.be:r wircl r1111.r 't:n !JP.Uri.~.wm. bP-.~ond,erm, V p,r-
stande dazu gerechnet 1 40.
Die naturrechtlichen Entwürfe der J!'amilie im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhun-
derts erwähnen z. T. die häusliche Dienerschaft nicht mehr141 . Auf einer Übergangs-
stufe stehL ilie Lehre KANTS (1797) von der „häuslichen Gesellschaft". Kant rech-
net das Gesinde (zu dem er die mündig gewordenen, im Hause verbleibenden Kinder
zählt!) nicht mehr zur „Familie", wohl aber zum „Haus" 142 ; Haus und Familie ge-
hen also auseinander, das Haus bezeichnet mehr den äußeren Rahmen für die pri-
mär personal begriffene Familie, in der das Gesinde keinen Platz mehr findet. Die
Wissenschaft vom Römischen Recht im 19. Jahrhundert sieht bei Behandlung des
Familienrechts von der Erwähnung des Gesindes völlig ab; FRIEDRICH CARL VON
SAVIGNY gedenkt zwar noch der Sklaven der Antike, nicht aber des Gesindes: Die
J!'amilie ist in den drei Gestalten zu betrachten, die im heutigen Römischen Recht allein
noch übrig sind: Ehe, uäterliche Gewalt, V ormnnd.~r:hn,ft, da d.a.~ im. ·Riim.i.~chen Recht
bis zur spätesten Zeit enthaltene Sklavenrecht längst verschwunden ist 143 . Wo in der

137 Vgl. FR.rnmi.mH Lit'l'rrn, Dm1t,Roh11 So:r.ial- nnd WirtRohaftRgAschichtr., 3. Aufl. (Berlin,

Heidelberg, New York 1966), 259.


138 Nach ScmrnLZEISEN, Polizei- und Landesordnungen, Bd. 2/2, 306 (s. Anm. 9).

1 39 ADELUNG Bd. 2 (1775), 38.

1 40 Dt. Enc., Bd. 9, 487; ähnlich ALR (1794), Tl. 1, Tit. 1, §§ 3. 4.


141 z. B. THEODOR v. ScmrALz, Das natfuliche Familienrecht (Königsberg 1795); AuGUST

Llmwm ScHLÖZER, Allgemeines Statsrecht und Statsverfassungslere (Göttingen 1793),


Metapolitik, Abschn. 3: Häusliche Gesellschaft.
142 KAN'l', Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 30. AA Bd. 6 (1907), 282 f.; vgl. auch

FRANZ v. ZEILLER, Commentar über das allgemeine bfugerliche Gesetzbuch, Bd. 1 (Wien,
'l'ricst 1811), Anm. l zu§ IH: Glieder der F'amilie - Hausgenossen (Dienstpersonen).
14 3 FRIEDRICH CARL v. SAVIGNY, System des heutigen RömiRch11n Rimhts, Bd. 8 (Berlin

1849), 119.

277
m. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen" Familienbegrill's
rechtswissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts das Gesinde zur Familie
gerechnet wird, geschieht es - wie etwa in einigen Lehrbüchern des sog. Deutschen
Privatrechts - bereits unter dem Eindruck des Versuches, gewisse Elemente des
„alten Hauses" gegenüber den neuen Entwicklungen wiederzubeleben 1 44. Lange
noch, wenn auch aus anderen Gründen, halten Gesindeordnungen den familiären
Zug des Herrschaft-Gesinde-Verhältnisses aufrecht, nämlich in der Hoffnung auf
die Wirksamkeit des väterlich-häuslichen Regiments im Interesse von Ruhe und
Ordnung. Insofern der Dienstherr als Familienhaupt die häusliche Ordnung handhabt,
überträgt die Polizei dem Dienstherrn die Wachsamkeit über das Dienstgesinde, und in
Zuversicht auf diese häusliche Wachsamkeit begibt sich die Polizei jeder Einmengung
in Dienstboten-Angelegenheiten in so lange, als solche das Innere der Haushaltungen
nicht überschreiten, oder der Dienstherr und Gesinde ihren Beistand anzurufen nicht
notwendig findetl4.5.
Siguali1::1ierL da1::1 begriffliche Ausscheiden des Gesindes aus der Familie deren Reduk-
tion auf eine konsumwirtschaftliche Größe, so hätten doch zumindest die Haushalts-
gehilfinnen der Hausfrau ihre Stellung in der Familie behalten können. Der Um-
stand, daß auch diese im Familienbegriff keinen Platz mehr fanden, verweist auf
tieferreichende Umformungen des Familienbegriffs. •

2. Der· BegriJf der F:amllie im Spannungsfeld ihrer Verinnerlichung wid ihrer


sozialen Funktion; das Entstehen des „bürgerlichen" FamllienhcgriJfs

Gleichzeitig mit dem Verlust der erwerbswirtschaftlichen Komponente erfährt der


Familienbegriff Vcrändcrungcn, die den Kern der personalen Beziehungen berühreu.
Bewegungsbegriffe, die den Vorgang präzise bezeichnen könnten, gibt es nicht. Das
liegt unter anderem daran, daß die neue Einzelfamilie sich nicht einfach aus dem
alten llaus entwickelL. Viel.utehr giuL u1::1 eiue Übergaug11phase, in der die wissen-
schaftlichen Literaturen - zum Teil noch in der Hülle der Ökonomik - die Familie
als sozialen Begriff abzubauen bestrebt sind. Die erneute Plazierung der Familie als
gesellschaftliche Grundeinheit seit Ende des 18. Jahrhunderts kann somit gegen-
über solchen Versuchen den Charakter einer Familienrenaissance oder einer Restau-
raLiuu tragen und grenzt sich daher weniger vom alten Raus als gerade von den
dekompositorischen Kräften ab. Begriffsumbildung ereignet sich paradoxerweise
unter Hervorhebung der Kontinuitäten. Das Feld, auf dem die zu beschreibenden
Veränderungen stattfinden, läßt sich wie folgt umgrenzen: Es geht um die Eigen-
schaft der Familie als soziales Gebilde und die sich daraus ergebenden Konsequen-
zen für ihre Struktur und ihre Seinsweise gegenüb'er dem Staat; es geht um das
SpannungEJvorhiiltnia zwiaohcn pcmönlichcr Freiheit und Personalität auf der eiueu
und gesellschaftlicher Verpflichtung der Familie auf der anderen Seite.
a) Der Ausgangspunkt. Nach den alten Vorstellungen war die Familie ein durch
institutionelles Natur- und Gottesr~cht strukturierter sozialer Körper, hingerichtet

144 z. Il. K.A.RL FRIEDRICH EICHHORN, Einleitung in das deutsche Privatrecht, 4. Aufl.
(Göttingen 1836), 795 f.; FERDINAND WALTER, System des gemeinen deutschen Privat-
rechts (Bonn 1855), 111 if.; IlLUNTSCRLI, PJ"ivatrecht, ll20 f .
.145 Aschaffenburger Gesindeordnung von 1811, zit. KöNNEOKE, Rucht11gu11chfohte des
Gesindes, 322.

278
a) Der Ausgangspunkt Familie

auf die Zwcokrationalitiit oinofl flpozifüiohon „bonum oeconomiae" und durch ihre
Aufgaben der Zeugung, der Aufzucht und des Wirtschaftens gebunden an die Ziel-
setzung des Staates. Ein feindliches Gegenüber zwischen häuslichen und staatlichen
Wirkbereichen wurde nicht gespürt. Im status civilis wird eine Familie, wie jedes
andere subordinierte Corpus betrachtet, und hat mithin alle Jura und obligationes sub-
ditorum auf sich (KREITTMAYR 1756) 146 . Der ältere Familienbegriff vertrug infolge-
dessen, zumindest in bestimmtem Umfange, das obrigkeitliche Regiment über die
Familie, die Familienpolizei. Die Realität des absolutistischen Staates weist eine
kräftige Kontrolle der familiären Verhältnisse auf. Die Rechtsbeziehung zwischen
Herrschaft und Gesinde erhielt in den Gesindeordnungen eine ins kleinste gehende
Gestaltung; das Leben der Familie wurde auf der Konsumseite, etwa durch Kleider-
ordnungen, streng reglementiert; auch die persönliche Lebensentfaltung stand
unter den Anforderungen einer von den Konsistorien gehandhabten Zucht und
Ehrbarkeit. Vielfach scheint der Hausvater, dessen Autorität in bemerkenswerter
Weise herausgestellt wird, eher als Organ de:i; obrigkeitlichen Sittenpolizei ange-
sehen worden zu sein147 . Der Zusammenhang zwischen Familie und obrigkeitlichem
Regiment weist z. B. noch die „Deutsche Encyclopaedie" (1784) aus, welche die
T,ehre von· der Einzelfamilie unter dem Stichwort Familien, polizeimäßig bringt148 •
Das Bild wird ergänzt durch die Tatsache, daß die Obrigkeit seit dem Spätmittel-
alter in zunehmendem Maße die Eheschließung und die Emanzipation für eine Viel-
zahl der Fälle oder sogar generell unter einen behördlichen Erlaubnisvorbehalt
stellte 149 und sich vorbehielt, die elterliche Ehebewilligung durch staatlichen Spruch
zu ersetzen150, so daß die Familien- und Haushaltsgründung zu staatlich konzes-
sionierten Veranstaltungen werden konnten. .
Bei der gängigen Verankerung der Familie und des Vaterrechts in der natürlichen
und göttlichen Ordnung hätte man unter solchen Umständen eine ausführliche
Diskussion ~ur Begrenzung staatlicher Gewalt über die Familie erwartet. Die An-
sätze dazu sind indes rudimentär. Der gelegentlich hingeworfene Satz PUFENDORFS,
die Zivilregierung könne der Mutter die Gewalt über die Kinder nicht gänzlich neh-
men, verdient bereits hervorgehoben zu werden151 • An eine Beseitigung der elter-

146 KREITTMAYR, Anmerkungen, Bd. 1, 107.


147 Vgl. Kursächs. Mandat vom 30. 9. 1609, Corpus Juris Saxonici (Dresden 1673), 205:
wie Wir dann ferner einen ieden Haußvater hiermit ernstlich vermahnen / daß er ihme und
den seinen seihst zum besten/ alles/ was zur Unzucht und Hurerey Ursache und Anlaß geben
mag / bey Zeiten mit Fleiß aus dem Wege räume.
us Dt. Enc., Dd. 9, 487.
149 Nachweise für die Eheschließung: DIETER ScHW.All, Grundlagen und Gestalt der staat-
lichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Bielefeld
1967), 195 ff.· 234 ff. Für die Emanzipation z. B. STRUVE, Jurisprudenz l, 12, § 4 (s.
Anm.102).
150 z. B. Württembergische Ehegerichtsordnung von 1537, zit. AEMILIUS LUDWIG RICHTER,

Die eva.ngefü1chen Kirchenordnungen de11 16. Jahrhundert11, .Bd. 1 (Weimar 1846), 280.
151 PUFENDORF, De iure naturae et gentium 6, 2, § 3, 3. Häufig wird die Frage behandelt,

ob eile Ji:ltern noch das Recht hll.tten, die Kinder 11:11 v1wka11fen 01ler 11:11 tllten. Ri11 wird im
allgemeinen verneint, z.B. bei JoH. KARL NAEVE, Jus patrum, Vater-Recht 5, §§ 2. 6 f.
(Ausg. Chemnitz 1717), 173 f. 181 f. Daß das Tötungsrecht zu der als sacree et inviolable

279
Familie m. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen" Familienbegriffs
liohon Gow11lt durch den Staat dachte man ohnehin nicht; es fehlLe generell ein
Gefährdungsbewußtsein in dieser Richtung. Das natürliche „ius patrum" hat mit
dem „polemischen" Elternrecht des 19. und 20. Jahrhunderts nur wenig zu tun. Der
Verzahnung von Staat und Familie entspricht die wesentlich rechtliche Struktur
der Familie, die auch insoweit den obrigkeitlichen Staat abbildet. Wie ernst der
Begriff des häuslichen Gesetzes zu nehmen ist, zeigen Regelungen, wonach bei häus-
lichen Vergehen der Söhne der Vater dem Richter die Strafe diktieren konnte 152 und
wonach die Eltern ihre widerspenstigen Kinder dem öffentlichen Gefängnis über-
antworten durften1 sa.
Vor diesem Hintergrund ist die weitere begriffsgeschichtliche Entwicklung zu be-
trachten. ·

b) Ansätze zur sozialen Entpßichtung der Familie und zu ihrem Abbau als
sozialem Grundbegriff. o.:) Der individualrechtliche Aufbruch der Familie; tler ver-
tragsrechtliche Familienbegriff. Die zentrale Frage des politischen Naturrechts der
Aufklärung nach der Legitimation von politischer Herrschaft führte zur Demontage
der institutionell schöpfungsrechtlichen Begründung der Monokratie. An die Stelle
der Herrschaftstheologie trat entweder eine weltimmanente Begründung des Absolu-
tismus (Hobbes!) oder aber die Doktrin des Gesellschaftsvertrags, die unter der
Fiktion der Zustimmung des Staatsbürgers zm; bürgerlichen Regierung Herrschaft
und Freiheit in Übereinstimmung brachte. Der Abbau des politischen Gottesgnaden-
Luml:! kunnt1:i sein Analogon, die gottgegebene Herrschaft des Hausvatp,rs, nicht un-
beriihrt la.RR!ln. Auch hier stellte sic.h die Frage nach der Vereinbarkeit mit der natür-
lichen Freiheit der Familienglieder. Da die Strukturanalogie von Staat und .Familie
fortgeführt wurde, lag es nahe, auch die Familie aufvertragsrechtliche Grundlagen
r.11 Rtiillim M11.n kann, wo immer der „consensus subditorum" zur B11siEJ fomiliiiror
Gewalt gemacht wurde, von einem vertragsrechtlichen FamilieuuegriIT sprechen153a,
wenn auch seine konsequente Ausformung vielfach unterblieb. Typisch in diesem
Zusammenhang ist die Vereinzelung der familiären Bezüge gegenüber einem ge-
schlossenen Vorstellungsbild von der Familie.
Ausgangspunkt ist die Ehe. Daß sie durch den consensus der Nupturienten zustan
dekomme, ist die traditionelle, aus tlem römischen Recht (Dig. 50, 17, 30) entnom-
mene Lehre der katholischen Kirche. Mit dieser Aussage ist ein vertragsrechtlicher
Ehebegriff freilich noch nicht gegeben: Der Vertrag bildet den Begründungsakt,
stellt indes nicht die Ehe selbst dar. Ist die Ehe geschlossen, dann entsteht viel-
mehr nach katholischer Auffassung ein der individuellen Verfügung enthobenes

proklamierten väterlichen Gewalt gehöre, behauptet BoDIN' Les six livres de la republique
1, 4. Zum Problem: THEO BINGLER, Studien zum Elternrecht bei den Naturrechtsphiloso-
phen des 16. und 17. ,Jahrhundp,rt,R (jnr. Diss. F-rAihnre l!l60),
152 z.B. NAEVE, Jus patrum 5, § 8, S. 183; als aufgehoben ist dieses väterliche Recht be-

ha111lelL z.B. bei J.l!lit.l!JM!A!:! FitA.NUK.l!J.N.BJ!lltu, lnstltutionum imperialium praxis moderna 1,


40 (Frankfurt, Leipzig 1698).
IGS Nachweise bei EsTOR, Rechtsgelehrsamkeit, 'l'l. 1, 373 (§ 865).
108ß Näheres: DIETER RmrwA'fl, Die Familie als VeI'kagsgesellschaft im Naturrecht der
Aufklärung, Quaderni .l!'iorentini per la storia de! pensiero giuridico moderno 1 (1972), 357 ff.

280
b) Ansätze zum Abbau als sozialem Grundbegriff Familie

naturrechtlfohes und - bei der christlichen Ehe - sakramentalrechtliches Band.


Nicht wesentlich anders sind die Aussagen der protestantischen Ehelehre: Die Ehe-
schließung erzeugt ein „pactum supra partes", das eben mit dem Vertragsschluß
dem Vertragsrecht entzogen ist. Disponibel sind nach weithin übereinstimmender
theologischer Auffassung weder die Ehezwecke noch die eherechtlichen Strukturen,
noch die Gründe für die Beendigung der Ehe, die auch für die protestantische Dok-
trin in der Offenbarung festgelegt sind.
Nach dem Ehemodell des aufgeklärten Naturrechts hingegen beginnt die Ehe nicht
nur mit einem Vertrag, sondern sie ist Vertrag, nämlich Gesellschaftsvertrag mit
personalen Besonderheiten, und unterliegt daher dem Vertrags- und Gesellschafts-
recht. Der Inhalt des Vertragsschlusses bestimmt die Struktur. Die ehemännliche
Autorität beruht demnach nach vielfach akzeptierter Auffassung auf einem (still-
schweigenden) Unterwerfungsvertrag154, ebenfalls der männliche Vorrang bei der
Gewalt über die Kinder 166. Denkbar wäre sonach ein Vertragsschluß, bei dem das
„imperium coniugale" der Frau eingeräumt würde oder in dem der ehemännlichen
Herrschaft nach Art einer Kapitulation (AUGUSTIN VON LEYSER 1751 )166 Schranken
gesetzt würden. Allein dem Vertragsinhalt wären auch die anderen Gestaltelemente
der Ehe zu entnehmen. Nach CHRISTIAN THOMASIUS sind naturrechtlich weder die
Ausschließlichkeit der Sexualbeziehungen und die beständige Lebensgemeinschaft
der Partner geboten, noch ist die Polygamie ausgeschlossen157 . Auch die Auflösungs-
gründe sind dem Gesellschaftsrecht entnommen: Die Ehe endet mit dem Ablauf der
ZAit, fiir rlie sie eingegangen ist, mit der Zweckerreichung, mit der Aufkundigung
durch einen Partner bei Vertragsverletzung des anderen etc. 158 . Der Scheidungs-
grund dP.r gAgAnRAitigen Einwilligung bildet die gängigste Folgerung aus dem ver-
tragsrechtlichen Ehebegriff und geht, freilich isoliert, in aufgeklärte Rechtsord-
nungen ein. Auch die Ehezwecke geraten unter das Prinzip der vertraglichen Dis-
positionsfreiheit159, so etwa bei KARL LUDWIG PöRSCHKE (1795), der die Vertrags-
ehe folgerichtig zu Ende denkt : Die Ehe ist ein Vertrag zwischen Personen beiderlei
Geschlechtes, um zusammen in der engsten Verbindung zu leben ... Der Zweck bei der
Ehe muß jedes Willkür überlassen werden, jeder darf bei seiner Heirat Bedingungen
eingehen, welche er will, er darf die Ehe auf so lange als er will schließen und sie mit
Einwilligung des andern Teiles auch vor der Zeit aufheben ... Nur durch Verabredun-
gen 11,nd du,rch Einun:lligwng erla.ngt ei:n Tei:l di:e Herr8chaft iiber den a.ndern 166 .
Vom Vertragsmodell her wird vielfach auch, vorwiegend für das Verhältnis der zur

154 z. R. TJJOMASIDS, ,JnriRpruflenti11. flivim1, a, 2, §§ lOS ff., s. Sl 1 (A •.Anm. 84); Wor.F.F,

Jus naturae 7, §§ 488 ff.


1 6 6 So bei PUFENDORF, De iure naturae et gentium 6, 2, § 5.
156 AUGUSTIN v. LEYSER, Rechtliche Abhandlung von Schuldigkeit der Ehemänner ihren

Frauen zu folgen, neue Aufl. (Wittenberg 1751), 6 (gibt sich als Übersetzung).
157 THOMAsrns, Jurisprudentia divina 3, 2, §§ 100. 102. 200 ff., S. 310. 311. 325.
158 F.hcl. a, 2, §§ llfiff., fUH2f.; vgl. PATTT. MTKAT, R.er.htRgflAl1hir.htlir.hfll!Ildrechts-

politische Erwägungen zum Zerrüttungsprinzip, Zs. f. d. gesamte Familienrecht 8 (1962),


498.
159 Schon JoH. BAPTIST ANTHES, Zufällige Gedanken vom Zweck der Ehe (Frankfurt

1774), lfü.
180 KARL LUDWIG PÖRSCHKE, Vorbereit.ung zu einem populären Naturrecht.e (Königsherg

1795), 230. 231. 234.

281
Familie m. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen•• Familienbegrift's
Verstandesreife gelangten Hauskinder zu den Eltern, die elterliche Gewalt gedeutet.
Warum unterliegt der erwachsene junge Mensch, solange er im Elternhaus lebt, der
Anordnung des Vaters ? Constituitur autem isthoc imperium patris in liberos iam
adultos ex pacto tacito (PuFENDORF 1672) 161. KANT qualifiziert diesen Pakt als Ge-
sindevertrag162. Sogar auf das Verhältnis zwischen Eltern und unmündigen Kindern
wird der Vertragsgedanke appliziert. Jedes Imperium, so lehrt CHRISTIAN WoLFF,
beruht auf der Zustimmung der Beherrschten; ilie Zustimmung der Unmündigen
zur elterlichen Gewalt muß freilich präsumiert' oder fingiert werden ( conventio ficta,
quasi pactum)1 63 . Mit diesem Kunstgriff kann die elterliche Gewalt limitiert werden:
Sie besteht nur, soweit das Kind sich ihr bei gedachter Einsichtsfähigkeit unter-
worfen hätte. Dieser Gedanke findet sich bei RousSEAU (1762), der im übrigen die
väterliche Gewalt auf die Natur gründet: la famille est donc si l'on veut le premier
modele des societes politiques; le ehe/ est l'image du pere, le peuple est l'image des enfans,
et tous etant nes egaux et libres n'alienent leur liberte que pour leur utilite164, Ähnlich
PöRSOIIKE: Es findet zwischen Eltern und Kindern ebensowenig als zwischen den übr'i-
gen Bürgern Ungleichheit statt, denn die Eltern befehlen dem Kinde nur in seinem Na-
men das, was das Kind selbst sich bei voller Vernunft befehlen würde 165 . Die Anwen-
dung deR VertragRmodells auf das Verhältnis von Eltern und unmündigen Kindern
erweist sich freilich als Oberspitzung der individualrechtlichen Deutung der Fami-
lie, die im Naturre0ht deR 18 .•Jahrhunderts nicht allenthalben Zustimmung gefun-
den hat. An dem Ergebnis des Aufbruchs der elterlichen Gewalt zugunsten der Indi-
viilnalfrAihAit ändert das jedoeh nichts. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten aufgc
klärte Denker, indem sie die elterliche Gewalt nicht eigentlich als Herrschaft, son-
dern als Pflichterfüllung deuteten: The Power, then, that Parents have over their Chil-
dren, arises from that Duty which is incumbent on them, to take care of their Off-spring,
during tlie imperfect state of Childhood (LOCKE 1690) 166 . Danach stehen die Kinder
den Eltern als Inhaber subjektiver Rechte gegenüber, zwar nicht als Vertragspart-
ner, aber als Träger ihrer Menschenrechte. Wozu die Eltern verpfiichtet sind, dazu
sind die Kinder berechtigt (PÖRSCHKE 1795) 167, bei den Kindern ist zu achten auf
ihre Menschenwürde, auf ihre Menschenrechte (CoNRAD GoTTLIEB RIBBECK 1798) 168,
die Kinder haben alle Rechte der Menschheit im Verhältnisse zu ihren Eltern sowohl
als deren 8tetlvertretern und dem Staate (WILHELM TRAUGOTT KRUG 1817) 169 •

161 PUFENDORF, De iure naturae et gentium 6, 2, § 10.


Metaphysik der Sitten, Roohtolohro (1707), § 30. .AA Bd. 6, 282 f.
1 82 K..4.NT,
183 WoLFF, Jus naturae 7, § 196. § 634.
184 RoussEAU, Contr.at social 1, 2. Daß die väterliche Gewalt auf Natur und nicht.auf

Gesellschaftsvertrag beruhe, hatte RoussEAU im „Discours sur l'economie politique"


(1745) behauptet, Oeuvres compl., t. 3, 241.
18 5 PöRSCHKE, Populäres Naturrecht, 244.
188 JoHN Looxm, The Second Treatise of Govornmont, § 58; vgl.§§ 65. 67; vgl. auch

NAEVE, Jus patrum 2, § 3, S. 42 f.; TnoMASIUS, Jurisprudentia divina 3, 4, § 28, S. 373.


in PöRSCHKE, Populäres Naturrecht, 242.
168 CONRAD GoTTLIER RrnsF.CK, Predigten für Familien zur Beförderung häuslicher

Tugend und Zufriedenheit, Erste Slg. (Magdeburg 1798), 17.


189 WILHELM 'l'RAUGOT'I' K1um, System der praktischen Philosophie, Bd. 1: Dikäologie

oder philosophische Rechtslehre (Königsberg 1817), 476.

282
b) Ansätze zum Abbau als sozialem Grundbegrift' Familie

Die Deutung der familiären Beziehungen von einem individualrechtlichen Grund-


gedanken her bewirkt einen Emazipationse:ffekt zugunsten der Frau170 und der
Kinder gegenüber dem Inhaber familiärer Gewalt. Die ursprüngliche Freiheit der
Kinder verträgt Begrenzungen nur mehr im Rahmen des Erziehungszieles, das in
nichts anderem als der Führung zur Mündigkeit bestehen kann171 • Mit dem Errei-
chen dieses Zieles hört die elterliche Gewalt von selbst auf: when the business of
Education is over it ceases of it self (LoCKE) 172 ; einer Zustimmung des Vaters zur
separatio ab oeconomia paterna soll der erwachsene Sohn, einer elterlichen Ehebewil-
ligung sollen erwachsene Kinder nicht mehr bedürfen173• Die Erreichung eines be-
stimmten Reifealters (annus discretionis, age ofreason) und die Fähigkeit, sich wirt-
schaftlich zu unterhalten, sollen einen Anspruch auf Freiheit von elterlicher Gewalt
verleihen. Auch für die Zeit des Bestehens der elterlichen Gewalt mußte sich ihre
auf die Erziehung zur Selbständigkeit gerichtete finale Begrenzung bemerkbar ma-
chen. Je mehr aber bei den Kindern der Verstand zunimmt, je mehr soll auch die
strenge Potestät der Eltern abnehmen und sich allgemach in eine vernünftige Direktion
verwandeln (JOHANN HEINRICH ZoPF 1734) 174 ; nach THEODOR voN SCHMALZ (1795)
sind die Eltern nicht befugt, vernünftige Handlungen ihrer Kinder zu hindern ... Mit
dem Heranwachsen der Kinder, so wie diese allmählich sich ausbilden zu Erfüllung
ihrer Bestimmung, wird die elterliche Pflicht und das elterliche Recht allmählich einge-
schränkt, und sie hören so allmählich ganz auf1 75 • Daher klingt auch der Gedanke der
Beachtlichkeit des Kindeswillens bei grundlegenden Lebensentscheidungen an:
Stul,id,urn twrnen S'imul et 'in,iquum, ·inv·itos biberos compellere ad genus vitae, a quo ipso-
rum genius abhorret (PuFENDORF 1672) 176 • Auf der Grundlage einer solchen Deutung
der elterlichen Gewalt beruht die Regelung des ALR, wonach der Vater bei Be-
stimmung der „Lebensart" des Sohnes u. a. auf dessen Neigung Rücksicht zu neh-
mAn hfl.t. nnil WOTifl.(lh nAr Aohn ah RAinAm 14-. T.AhenRjahr e;Ae;An fliA F.nt.Rnheiflnng
des Vaters das vormundschaftliche Gericht anrufen kann17 7. Daß der Staat das

170 Vgl.ScHLÖZER, .Allgemeines Statsrecht, Metapolitik, §§ 13. 14, S.52ff.: Die Ver-

letzung dieser Rechte, und somit das Unglück der Menschheit, fängt hier im Hausstande an.
Der Sta~ sollte künftig dem Verderben steuern, aber oft vermehrt er es noch ... Blasphem ists,
daß man sogar die schöne Ohrist1"8religion, diese standhafte Vert.eidiuerin de.~ Na.turrecht.~,
zur Komplize dieser Tyrannei gemacht hat, und immer noch aus manchen Liturgien das un-
menschliche, „Er soll dein Herr sein", brüllt.
171 Vgl. LOCKE, Second Treatise of Goyernment, § 59; THOMASIUS, Jurisprudentia diYina 3,

4, § 32, S. 374; RoussEAU, Contrat social l, 2.


l ?B LOUK.l!l, Second Trea.tise of Government, § 69; vgl. THOMASIDS, J urit!pruuenLla. ul V iua 8,
4, § 53, S. 376; RoussEAU, Contrat social 1, 2; WoLFF, Jus naturae 7, § 775; KANT, Meta-
physik der Sitten, Rechtslehre, § 30.
173 Der Weg lief über eine Aufnahme des vom mittelalterlich-kirchlichen Eperecht er-

arbeiteten Grundsatzes, wonach die elterliche Bewilligung nur ex honestate, nicht ex neces-
sitate nötig sei und ihr Fehlen daher die Eheschließung nicht ungültig mache; so WoLFF,
Jus naturae 7, § 953.
i 74 JoH. HEINRICH ZOPF, Jurisprudentia naturalis, c. 5, sect. 3, § 4 (Halle 1734).
1 7 3 SCHMALZ, Familienrecht, 24. 28 (s. Anm. 141).
178 PuFENDORF, De iure naturae et gentium 6, 2, § 11.

i77 AL.lt Tl. 2, Tit. 2, §§ 110. 112 ff.

283
Familie m. 2. Das Entstehen des ,;bürgerlichen" Familienbegriß's
Kind und seine Rechte gegen die Familie zu schützen habe, wird vielfach ausge-
drückt178.
Insgesamt kann man sagen: Die individualrechtliche Deutung der familiären Be-
ziehungen verlagert die Familie von einer institutionen- auf eine vertragsrechtliche
Ebene; zum Teil - soweit nämlich familiäre Bezüge disponibel werden - löst sie
die Familie von ihrem sozialen Zusammenhang, zum Teil reduziert sie ihre soziale
Funktion gegenüber den Individualrechten der Beteiligten. Die Beteiligten werden
aus den familiären Bindungen partiell entlassen. Letztlich wird die Familie zur
tendenziell auflöslichen Größe: En un mot la petite /amille est destinee as' eteindre, et
a se resoudre un jour en plusieurs autres familles semblables (RoussEAU 1745) 179. Die
Erleichterung der Ehescheidung im 18. Jahrhundert ermöglichte in der Tat ein
häufiges Auswechseln familiärer Verbindungen und baute somit den statusbestim-
menden Charakter der Ehe ab. Das geschilderte Konzept paßte in das Programm
des aufgeklärten Absolutismus, der das vom älteren Familienrecht ererbte obrig-
keitliche Familienreglement im Sinne einer als staatsnützlich empfundenen Befrei-
ung der Person von familiären Bindungen handhabte.

ß) Die begriffliche Dekomposition des Rechts- und Sozialgebildes „Familie" in der


Romantik. Weit mehr noch als im aufgeklärten Individualrecht wird die Familie als
soziale Grundeinheit durch einen seit der Mitte des Jahrhunderts in Deutschland vor-
dringenden sensiblen Individualismus in Frage gestellt, der mit der Ausweisung des
Rechts aus dem Kern der familiären Beziehungen auf die politische }}ntpfüchtung
der Familie hinsteuert. Der geistesgeschichtliche Vorgang hängt mit einem Wandel
der Auffassungen von der ehelichen Liebe zusammen. Daß die Ehegatten sich lieben
sollen, ist ein altes christliches Postulat. Bei allen Differenzierungen weist die ehe-
liche Liebe aber nach ihrem älteren Begriffe insgesamt folgende Züge auf: 1) Sie
bildet nicht, denknotwendig die Fortsetzung einer schon für die Eheschließung
kausalen Zuneigung, sondern bildet ein Verhaltensgebot aufgrund der Ehe-
schließung180. Auch wenn die ältere Eheliteratur davor warnt, die Kinder wider
ihren Willen zur Ehe zu bestimmen, bildet die Zuneigung nicht das Essentiale der
ehelichen Verbindung. 2) Die eheliche Liebe - in ihrer groben Deutung nichts an-
deres als die Summe häuslicher Verha.ltern1pflichten - enthält weder das Element
der völligen psychischen Verschmelzung der Ehegatten noch rlaA rler F.rotik. Auch
dort, wo gemüthafte Züge stark hervortreten, wie in der reformatorischen und puri-

178 z. B. von PöRSCHKE, Populäres Naturrecht, 240. 242; KRUG, Praktische Philosophie,

Bd. 1, 479 ff.


t 79 RoussEAU, Discours sur l'economie politique, Oeuvres comp!., t. 3, 242.
180 Vgl. MENIUS, Oeconomia, VII (s. Anm. 63), der sich mit dem Liebesbegriff auseinander-

setzt: Das dritte stuck ist/ das ein ehemann sein weib sol lieb haben/ .•• Hie ist aber zu
mercken / von waserley liebe die schrifft sar;et / Denn es Tw,t die Liebe gar ein großen vnter-
scheid / . . . Da gegen ein Gottseliger fromer eheman sihet an seinem weibe nichts mehr an/
denn Gottes gepot vnd w·ilfon / vnd vmb des wilkn all1dn / du1J ylvm 1Julch Mt!Jin we'iTJ •oun Gutt
seinem schepffer vnd herrn zur gehülffyn vnd gemalh gegeben ist / hat er sie als eine Gottes
yuT1P. / 1md1 aottes se.ines herrn willen / lieb vn werd / vnd nimpt also mit yhr /ur gut / wenn
auch gleich etwas an yhr i1Jt J du1:1 ylm wol eckeln möchte / als 11ngP.,falt / arm11,t / odrJ,p,r dP.r
gleichen anderley /eil vnd gebrechen.

284
b) Ansätze zum Abbau als sozialem Grundbegrift' Familie

tanischen Literatur, bleibt das eheliche Verhältnis objektiviert181. Eheliche Liebe


ist Freundschaft, sie dient weder der psychischen Hingabe noch dem Lustgewinn,
sie trägt asketische Züge 182 . So wird davor gewarnt, eine Geliebte zur Ehefrau zu
nehmen1s 3 und die eheliche Liebe zu übertreiben184. Es gibt demnach einen Dualis-
mus von ehelicher („keuscher") und außerehelicher Liebe; in die letztere wird die
Erotik hineingedacht und dabei entweder disqualifiziert (Sünde), oder der kirchli-
chen Moral zum Trotz vergöttert, so daß Verfeinerungen der Geschlechterliebe die
Ehe unberührt lassen. 3) Der Pflichtcharakter der ehelichen Liebe bedingt ihre
Ausrichtung an den sozialen Zwecken der Familie.
Die folgenreiche Umdeutung des ehelichen Verhältnisses im Verlauf des 18. Jahr-
hunderts macht eine die gesamte Person engagierende psychische Disposition zum
Wesen der Ehe selbst. Die Vorgeschichte dieser Eheauffassung ist verwickelt. Seit
dem Humanismus wird vereinzelt die Unvereinbarkeit der Gemüter und Sitten als
Scheidungsgrund postuliert. Dem seelischen Verhältnis der Ehegatten wird damit,
ohne daß man schon von einer „romantischen" Eheauffassung sprechen könnte,
erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Von hier aus führt der Weg vereinzelt schon im
17. Jahrhundert, wie etwa bei JOHN M1LTON, zu einer personalistischen Ehekonzep-
tion 185. Die IIervorkehrung des Gemüthaften in der Ehe durch die englische Litera-
tur des beginnenden 18. Jahrhunderts hat an der Entwicklung bedeutenden Anteil.
In Deutschland mehren liich titÜL uer Jahrhundert1nitte die Stimmen, die in der Ehe
eine Gemütsverbindung 1 B6 sehen und als Ehezweck die Freundschaft angeben 187.
Folgerichtig kann .die Liebe zur Voraussetzung der Ehe gemacht und Init ihr letzt-
lich identisch werden. In dem Ehebuch DANIEL DEFOES, dessen deutsche Über-
setzung mehrere Auflagen erlebte, heißt es: Ich .~age, daß die Ehe nicht vor recht-
mäßig halten kann, wo nicht eine herzliche, unverfälschte und befestigte Liebe stattge-
funden, ehe die Heirat vollzogen worden 188 • Mit dem Fortschreiten der sensiblen

1 8 1 Dazu PAUL KLUCKHOHN, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahr-

hunderts und in der deutschen Romantik, 3. Aufl. (Tübingen 1966), 64 ff.


182 Näheres: HEINRICH K.LoMPs, Ehemoral und Jansenismus. Ein Beitrag zur Über-

windung des sexualethischen Higorismus (Köln 1964), 11 ff.


183 Dazu RICHARD KoEBNER, Die Eheauffassung des ausgehenden deutschen Mittelalters,

Arch. f. Kulturgesch. 9 (19ll}, 136 ff. 279 ff.


1 84 ALBRECHT VON EYB, Ehebüchlein, Dt. Sehr., Bd. l, 9 (s. Anm. 50): In einem frembden

weyb ist alle lieb ein vntugend vnd strafflich, vnd in dem eygen weyb ist große, UherfiU8sige
lieb schentlich.
186 Näheres: Mm.AT, Zerrüttungsprinzip, 273 ff. 497 ff. (s. Anm. 158).
186 So NAEVE, Jus patrum 4, § 1, S. 120; vgl. auch: Die wohlaufgerichtete Hohe Schule

des Ehe-Standes (Frankfurt, Leipzig 1740, anonym), 367: Die Erfahrung wird euch be-
lehren, daß an der Übereinstimmung der Gemüter das meiste im Ehestande liege.
187 Oder, wie manche Autoren des 18. Jahrhunderts, die Stillung der Liebeslust, nach

ANTHES, Zweck uer Ehe, 70; zum Ganzen: K.LuCKHOHN, Auffassung der Liebe in der
Literatur, 148 ff.
188 DANIEL DEFOE, Conjugal Lewdness, or, Matrimonial Whoredom (1727), später u. d. T.:

A Trea.tiRe Conmirning the Use and .Abuse of the Marriage Bcd; hiernach: Der rechte
Gebrauch und Mißbrauch des Ehe-Bettes, 3. Aufl. (Leipzig 1740), 157. EPHR.AIM
HEINRICH PRaTORIUS sieht sich schon 1781 vcru.nfoßt, gegen clio bloß aufgrund der Liebe
geschlossenen Ehen zu polemisieren: Ueber die Ehen (Göttingen 1781), 125.

285
Familie m. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen" Familienbegriffs
Lebenshaltung unter den Gebildeten in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wird
schließlich der Dualismus von Freundschaft und Sinnlichkeit überwunden und das
Liebesverhältnis moralisiert189 • Wenn unter diesen Vorzeichen auch vielfach eine
ehefeindliche, auf die bürgerliche Geldehe zielende Literatur entstand, so scheint
man für die geistig-sinnliche Liebesbeziehung auf die Dauer nicht ohne den legiti-
mierenden Titel 'Ehe'.ausgekommen zu sein. Das gilt auch für die Romantik, die
dem empfindsam-erotischen Verhältnis der Geschlechter die letzte Steigerung gege-
ben hat: Die Liebe ist Ehe, auch ohne Trll.uung und bürgerliche (kirchliche) 7.Are-
monien. Ehe bedeutet das Einswerden (Seelenvereinigung) von Mann und Frau in
der Liebe 190. Von einer solchen Warte aus kann das, was gewöhnlich und herkömm-
lich 'Ehe' genannt wird, gründlich verachtet werden. Fast alle Ehen sind nur Kon-
kubinate, Ehen an der linken Hand oder vielmehr provisorische V ersuche und ent-
fernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen . . . darin be-
steht, daß mehrere Personen nur eine werden sollen (ScHLEIERMACHER 1798) 191 •
Die Verlagerung der Substanz der Ehe in ein psychisches Internum bedingt den
Verweis des Rechts an die Peripherie. Das Naturrecht FICHTES (1796) diene als
Beispiel. Nach ihm besteht die Ehe in einem geistig-erotischen Verhältnis - Liebe
der Frau, Großmut des Mannes-, in dem jeder Teil seine Persönlichkeit dem ande-
ren völlig hingibt. Jeder Teil will seine Persönlichkeit aufgeben, damit die des anderen
Teils allein herrsche; ... dü~ Umtausohung der Herzen wnd rkr Willen wird vollkom-
men192. Ein solches Verhältnis ist primär sittlich, nioht rechtlich. Um die Eh,e zu
errichten oder zu bestimmen, damit hat das Rechtsgesetz nichts zu tun, sondern die weit
höhere Gesetzgebung der Natur und Vernunft, welche durch ihre Produkte dem Rechts-
gesetz erst ein Gebiet verschafft ... Erst muß eine Ehe da sein,· ehe von einem Ehe-
rechte ... dfr, Rede se1:n kann 193• Das Reoht kann Entstehen und Untergang der auf
ewig gedachten, abei: permanent vom Zerfall bedrohten Seelenverbindung nur kon-
statieren. Einer solchen psychischen '.L'atsache soziale Aufgaben durch das politische
Recht aufzubiirden, wäre unsinnig. Konsequent entfällt daher der Ehezweok: Aber
die Ehe hat keinen Zweck außer ihr selbst; sie ist ihr eigner Zweck 194 • Der Rückzug des
Rechts bedeutet auch den Rückzug des von ihm gewährten Individualschutzes.
Es bleibt ein „natürliches" und darum unanfechtbares Geschlechtsverhältnis, in dem
die Frau wiederum untertan ist. Fichte geht von der in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts verbreiteten Vorstellung aus, die Frau sei ilie stärker Liebende
und finde in der Liebe ihre Bestimmung195 • In der Liebe der Frau steckt aber nach
der um diese Zeit üppig ins Kraut schießenden vergleichenden Geschlechterpsycho-
logie das Element der UnterwArfnng und Aufopfärung. Die Ruhe des Weibes hängt
davon ab, daß sie ihrem Gatten ganz unterworfen sei und keinen andern Willen habe

189 Grund.legend KLucKHOHN, Auffassung der Liebe in der Literatur, 176 ff.
190 Ganz deutlich in FRIEDRICH SCHLEGELS Roman „Lucinde" (Berlin 1799); siehe Ml:KAT,
Zerrüttungsprlnzip, 500.
191 FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Fragmente, Athenäum 1/2 (1798), 11.
192 FICHTE, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, l.Anh.:
Familienrecht,§ 7. AA 1. Abt., Bd. 4 (1970), 103.
193 Ebd., § 9, S. 106.
s.
194 F.hfl., § 8, 104 f.
rn• KLUCKHOHN, Auffassung der Liebe in der Literatur, 104 ff.

286
c) Erneuerung von 'Familie' als sozialem Grundbegriff Familie

als den seinigen196 • Der Mann beherrscht und repräsentiert also die eine Person,
welche die Ehegatten ausm;tcht; er besorgt die öffentlichen juridischen Handlun-
gen, während die Frau wegen ihrer Disposition zur Unterwerfung keine Staatsäm-
ter ausüben kann; der Mann ist Eigentümer der Güter der Frau197 • Ein Rechts-
schutz zugunsten der Frau während bestehender Ehe ist, da doch die Gatten eine
Seele sind, nicht denkbar1 9s.
Man möchte erwarten, daß in der Romantik unter solchen Umständen für die Vo-
kabel 'Familie' gar kein Platz sei. Es ist dies aber nicht der Fall. Willst du die Mensch-
heit vollständig erblicken, so suche eine Familie. In der Familie werden die Gemüter
organisch eins, und eben darum ist sie ganz Poesie (FRIEDRICH Scli:LEGEL 1800) 199 •
Es muß demnach auch das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ähnlich wie die
Ehe als vorrechtliches, wesentlich sittliches gedeutet werden. Auch dies geschieht
bei FICHTE: Das ursprüngliche Verhältnis zwischen .Eltern und Kindern wird nicht
lediglich durch den bloßen Rechtsbegriff, sondern durch Natur und Sittlichkeit be-
stimmt200. Das Recht und damit der Rechtsschutz ziehen sich zurück: Das Kind hat
kein Zwangsrecht auf Erziehung, ihm gegenüber sind die Eltern Richter in eigener
Sache, souverän 201 • Es kann zwischen Kindern, die noch erzogen werden, und Eltern
keinen Rechtsstreit geben 262 • .
Die romantische Familienauffassung deutet familiäre Beziehungen demnach als
im Psychischen gegründete-Naturverhältnisse, die dem Zugriff des Rechts noch
nicht einmal für den Individualschutz, geschweige denn für andere soziale Anforde-
rungen offenstehen.

c) Die Erneuerung von 'Familie' als sozialem Grundbegriff; der bürgerliche Fami-
lienbegriff. Der Aufbruch der alten Familie durch das Individualrecht und ihre De"
komposition als soziale lnstitution durch die Romantik stellten ihren Fortbestand
als gesellschaftswiRsenschaftlichen Begriff in Frage. Ein lexikalischer Niedersohlag
dieses Trends ist deshalb schwierig aufzufinden, weil die zwischen 1780 und den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts publizierte Literatur bei gleichen oder eng
zusammenliegenden Publikationsdaten unterschiedlichen Entwicklungsstufen an-
gehört. Immerhin ist auffällig, daß bei CAMPE (1813) 2 03 unter „Familie" nur die
Bedeutungsvariante „Sippschaft" angegeben ist und daß z. B. im BROCKHAUS
von 1815 die Stichworte „Familie" und „Haus" nicht ausgeworfen werden, wäh-
rend die Auflage von 1834 - wie die übrigen Lexika seit den dreißiger J ahrcn des
19. Jahrhunderts - die Familie ausführlich behande1n20 4 • Nimmt man die anar-
chistischen und die zum Teil familienfeindlichen sozialistischen Theorien hinzu, so
wird das Ausmaß der literarischen Gefährdung der Familie deutlich. Hinzu kommt,

1 98 FICHTE, Grundlage des Naturrechts,§ 7. AA 1. Abt., Bd. 4, 103.


197 Ebd., §§ 34. 37, S. 129 ff. 133 f.
19s Ebd., § 15, S. 113.
199 "FRHlDRIOH SoHLEGEL, Ideen, Athenäum 3 (1800), 32.
200 FICHTE, Grundlage des Naturrechts, § 39. AA 1. Abt., Bd. 4, 136.
go1 Ebd., §§ 44, 45, s. 141 r.
202 Ebd., § 52, S. 145.

~ua CAMPE, Fremdwb., 2. Aufl. (1813), 311.


20 ' Vgl. BROCKlfAUR 3. Aufl„ Bd. 3 (1815) mit dor 8. Aufl.., Bd. 4 (1834), 26. Nicht als

Stichwort findet sich 'Familie' ferner bei HEINSE Bd. 2 (1800).

287
Familie 111. 2. Das .Entstehen des „bürgerllehen" FamilienbegriJls

daß das Gesellschaftsmodell des Liberalismus mit einem individualistischen Pro•


gramm zu wirken begann mit dem Ziel, die sich im Privateigentum entfaltende Per-
son aus den traditionellen familienrechtlichen Verbindungen herauszulösen und ihr
Eigentum damit „frei" zu machen. Um die begriffsgeschichtliche Entwicklung zu
verstehen, muß man die Ebene des Verwandtschaftsgüterrechts und die der Einzel-
familie unterscheiden. Auf jener nämlich bringen die bürgerlich-liberalen Kräfte ihr
Bestreben ins Spiel, um der Freiheit des Eigentums willen die familienrechtlich-
erbrechtlichen Bezüge abzubauen. Bezeichnenderweise betreffen diese Bestrebun-
gen in erster Linie das adelige Stammgüter- und Fideikomißrecht auf der einen, die
bäuerlichen Besitzrechte und die bäuerliche Hoferbfolge auf der anderen Seite, die
zugunsten der Dispositionsfreiheit des jeweiligen Eigentümers in einer keineswegs
geradlinigen und sich ins 20. Jahrhundert erstreckenden legislatorischen Entwick-
lung „entfeudalisiert" werden (--+-Eigentum). Insofern kann man sagen, daß die
liberale Bewegung „familienfeindlich" gewirkt habe, weniger mit Hilfe eines Fami-
lien- als. eines Eigentumsbegriffs.
Im Anschauungsbereich der Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern hingegen
erhielt die Familie als sozialer Grundbegriff im allgemeinen auch in· der liberalen
Literatur eine glamwolle Erneuerung. Dies wird an der Multiplikation der Wort-
verbindungen im sozialwissenschaftlichen Gebrauch seit Beginn des 19. Jahrhun-
derts deutlich. Währenrl hAi ADELUNG (1775) nur fünf Wortverbindungen mit
'Familie' gebildet werden, sind es bei GRIMM (1862) bereits neunzig, von denen viele
eine sozialwissenschaftliche Bedeutungskomponente ausweisen. Es gibt 'Familien-
leben', 'Familienliebe', 'Familienheiligtum' 205, 'Familienglückseligkeit', 'Fami-
liemiiLLlichkeiL'306, 'Familienordnung' 2 07 , 'Familienerziehung' 208, 'Familienwe-
sen'209, 'Familienverfassung' 210 lind - als Pendant zum Volksgeist - den 'Fami-
liengeist'211. Die Familie wird alti bevorzugter Gegenstand der Politik postuliert 212 ,
für sie wird eine eigene Wissenschaft gefordert~ 13 . Dabei beginnt die Familie die

205 KARL AUGUST MoRITZ SCHLEGEL, Biblische Predigten-über Gegenstände des Privat-

und Familienlebens (Göttingen 1817), IV. 30. ,


206 HEGEL, Phänomenologie des Geistes (1807), SW Bd. 2 (1927), 365; ders., Vorlesungen

über die Philosophie der Geschichte (entstanden 1822-1831, 1837 hg. v. Eduard Gans),
SW Bd. 11 (1928), 74.
207 CARL v. ROT'l.'EOK, Art. }'u:niilie, Familienrecht, RoTTECK/WELOKER Bd. 5 (1837), 386.
208 HUMBOLDT, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der WirkRamkeit des Staats zu be-

stimmen (1793), AA 1. Abt„ Bd. 1 (1903), 145.


209 R.unoLF Bossli1, Da11 Familienwesen, odor Foraohungon über 0cinc Nutur, Oe!chichte

und Rechtsverhältnisse (Stuttgart, Tübingen 1835).


°
21 FRIEDRICH CHRISTOPH l>AHLMANN, llie l'olitik 4, 88, 2. Aufl. (Leipzig 1847), 80.
211 AUGUST WILHELM REHBERG, Ueber den deutschen Adel (Göttingen 1803), 123;

HEGEL, Phänomenologie des Geistes, SW Bd. 2, 351.


21 2 Vgl. schon PRÄTORIUS, Ueber die Ehen (s. Anm. 188), 168: Ehen, so viel wie möglich,

?.11. hP.fiirdp,rn, ist 11ii.c.h11t dem, Nahr11.ng dRn UntBrtanon ;;~~ voroohaffcn, die s:wote wichtige

Hauptsorge des Staats; BossE, Familienwesen, 141: das Wohl und Wehe der Familien ist
doth die Ha·uptr-uck11iclit bei aller Uesetzgebung, und darauf beziehen sich zuletzt alle Gesetze.
213 z.B. WILHELM HEINRJOH R.rnm., Die Familie (1854; 2. Aufl. Stuttgart, Augsburg

1855), !), Hinzuweisen ist auf die seit Ende des 18. Jahrhumlerts entstehende Literatur-
gattung dei· „Philosophie dAr ~~he": FR.nmR,TOrr NATlIAN VOLKMAR, Philosophie der lfüe
(Halle 1794); WILHELM TRAUGOTT KRuG, Philosophie der Ehe (Leipi1ig 1800).

288
c) Emeuerung von 'Familie' als sozialem GrundbegriJr Familie

Qualität eines handelnden Subjekts anzunehmen, den Charakter eines lebendigen


Wesens, am deutlichsten dort, wo sich der Organismusgedanke ihrer annimmt. Die
Familie erscheint als eine Person, in der nach FRIEDRICH SCHLEGEL (s.o.) die Ge-
müter organisch eins werden, sie wird moralische Person, Gesamtpersönlichkeit 214 •
Der Geist der l?amilie, die Penaten sind ebenso ein substantieltes Wesen als der Geist
eines Volkes im Staate (HEGEL 1822/31) 215 . Dieses Wesen kann handeln, nicht allein
in seinem individuellen, sondern auch in seinem phänomenologischen Sein; die
Familie vermählt den Verwandten dem Schoß der Erde (HEGEL 1807) 216, sie schaffe
durch Erziehung Volksbildung (FRIEDRICH CHRISTOPH DAHLMANN 1835) 217 . Vor
allem wird von der Familie ausgesagt, daß mit ihr etwas geschieht (oder nicht ge-
schehen darf) 218, sie ist hineingenommen in den historischen Prozeß, ihr wächst das
Element der Entwicklung zu; mit anderen Worten, sie erhält ihre „Geschichte" als
Naturwesen, die gegen die Mitte des Jahrhunderts und seitdem unablässig geschrie-
ben wird.
Die Relevanz der Familie für .das Politische kündigt sich an in Ansätzen zu einer
familiarisierten politischen Sprache; Volk, Staat, Menschheit und schließlich soziale
Einheiten wie der Betrieb können als Familie begriffen oder postuliert werden: Die
Urfamilie ist Urstaat; jede Familie, unabhängig dargestellt, ist Staat, weshalb Rich <ler
Staat in der Staatenfamilie vollenden soll (DAHLMANN 1835) 219 •
In der Gesellschaftstheorie erhält die Familie wiederum ihren fön<lamentalen Platz,
und zwar mit Hilfe einer Terminologie, <lie aus der Anschauung des aristotelischen
Hauses stammt: Sie ist Grundpfeiler der biirgerlichen Gesellschaft (F.1u1mitWH NA-
THAN V OLKMAR 1794) 220 ; Die häusliche Gesellschaft legte den Grund_ zu den übrigen
(ERNST FERDINAND KLEIN 1801) 221 ; Die Familie ist die Grundlage des Staat..~
(BROCKH ATTR 1R:i4) 222 ; Rie bleibt die Grtindlafje a-lle"~ P-dlP-rn menschlichen und bürger-
lichen Lebens, alles menschlichen und biirgerlichen Glücks (CARL VON RoTTECK
1837)223,
Gegeniiber den individualrechtlichen Anschauungen der Aufklämng findet vielfach
ein Austausch des einzelnen zugunsten der Familie statt. Der Gesellschaftsvertrag
wird nicht unter Individuen, sondern unter den durch die Väter repräsentierten

. 214 KRUG, Praktische Philosophie, Bd. 1, 447; RoTTECK, Art. Familie, RoTTECK/WELCKER
ßd. 5, 385.
215 HEGEL, Philosophie der Geschichte, SW Bd. 11, 75.
216 Ders., Phänomenologie des Geistes, SW Bd. 2, 345.
m7 DAIILMANN, Politik 12, 261, S. 282.
218 z. B. ebd., Einleitung 11, S. 7: Der schlechte Staat ... verschlingt die Familie; RIEm.,

Familie, 91:. die Familie mu/J politisch emanzipiert werden.


219 DAHLMANN, Politik, Einleitung 3. 16, S. 3. 10.
220 VoLKMAR, Philosophie der Ehe, 9 (s. Anm. 213).
221 ERNST FERDINAND KLEIN, System des Preußischen Civilrechts (Halle 1801), 335.
22 2 BROCKHAUS 8. Aufi., Bd. 4 (1834), 26. Vgl. auch: JosEPHUNGER, Die Ehe in ihrer welt-

historischen Entwicklung (Wien 1850), 3; JoH. JosEPH RossBACH, Vier Bücher Geschichte
der Familie (Nördlingen 1859), 254: Ist die Familie der unterste Pfeiler der Staatsordnung,
so muß, wo sie erschüttert wird, der ganze Ba1i erbeben, mul, wenn .~ie in ihrer Wurzel fault,
zusammenbrechen; ebu., 256 auch die Verknüpfung von Familie und Patriotismus.
223 RoTTECK, Art. Familie, RüTTlilOK./Wli1Ul'Kli1ll. "Rrl. ll, :!86; vgl. ÜAHLM..u!N, Politik 12,
261, S. 282: Die Familie iBt die Bedingung von allem, was ein Volk gut und groß macht.

19--90386/1 289
Familie m. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen" Familienbegrift's
Familien geschlossen. Die Paziszenten sind vollbürtige, also freie Hausväter, infolge-
dessen ist der Staat ein Familienverein (AUGUST LUDWIG ScHLÖZER 1793) 224 • Die
politische Gesellschaft ist nur aus Familien zusammengesetzt, für sie kommt nur die
Familie in Betracht und niemals das Individuum (L. G. A. DE BoNALD) 22 5. In den
Familien nun sind die Keime des Staats enthalten, und der ausgebildete Staat hat die
Familien, nicht die Individuen unmittelbar zu Bestandteilen (SAVIGNY 1840) 226 •
Erneut also wird, den emanzipatorischen Tendenzen der Aufklärung zuwider, der
einzelne in die Familie hineingeschmolzen; der neue Begriff der Familie hat einen
restaurativen Anstrich. Das bedeutet aber nicht, daß wir es mit einer auf die poli-
tische Restauration beschränkten Begriffsbildung zu tun hätten; auch die klassische
Literatur des Liberalismus weist das Ausspielen der Familie. gegen den einzelnen
auf. Im Familienbegriff treffen sich - so scheint es ,---- Liberalismus und politische
Restauration, freilich mit unterschiedlichen Folgerungen für die politische Verfas-
sung (Patrimonialstaat auf der einen 227 , Republik der Familienväter auf der ande-
ren Seite). Der familienrestaurative Charakter ihrer Lehren dringt gegen Mitte des
Jahrhunderts vielfach in das Bewußtsein der Autoren vor, so dort, wo die Vokabel
'Haus' wiederum für die Einzelfamilie, und zwar mit polemischer Tendenz gegen die
neueren Entwicklungen, verwendet wird: das ganze Haus (WILHELM HEINRICH
RIEHL 1854)228; ferner dort, wo erneut die Zurechnung des Hausgesindes zur Fa-
milie verlangt wird 229 • Der dogmatisierte Rückblick auf das „alte" Haus ist dem
neuen Familienbegriff jedoch nicht allgemein eigen. Langfristig hat sich der Termi-
nus 'Haus' für die Einzelfamilie nicht gehalten, die Restauration des Gesinderechts
wurde vergeblich verlangt. Hingegen erhält der von familienrestaurativen Anschau-
ungen gebildete Familienbegriff Konstituanten, die bis heute wirksam sind. Sie
sollim im folgenden entwickelt werden.
Trotz der Übernahme einiger Aussagen aus der alten Hauslehre unterscheidet sich
der neue Familienbegriff vom aristotelischen fundamental. Aus der Romantik wird
nämlich die Aussage von der primär sittlichen, natürlichen, organischen Wesensart
der·Familie und der familiären Beziehungen übernommen, werden Ehe und Familie
als höchstpersönlich-innige Verbindungen - wenn auch mit ganz anderen Konse-
quenzen - gedeutet. Die Familie ist natürliches sittliches Gemeinwesen (HEGEL
1807) 230, sie ist ein ethiscli-organisches Ganzes (FRIEDRICH ScHMIT'l'Hl!lNNl!l.& 1839) 231 •

224 ScBLÖZER, Allgemeines Statsrecht, §§ 18. 19, S. 64.


226 N11,11h R.mnmrr R'PA ll1M ANN, Der Ur~pnmg der Soziologie aue dem Geist der Restauration.
Studien über Louis Gabriel Ambroise de Bonald (München 1959), 100.
»» 0 SAVfüNY, Römisches Recht, Bd. 1 (Berlin 1840), 343 f.
2 27 Vgl. CARL LUDWIG v. HALLER, Restauration der Staatswissenschaft, 2. Aufl., Bd. 2
(Winterthur 1820), 20 ff.
22s RIEBL, Familie, 142.
229 r.. B. nooh b11i R.n'l''l'F.f1K, Art„ F11.milie, R.oTTECx/WELCXEB Bd. 5, 405 f.; vor allem

aber bei einem Teil der deutschrechtlichen Literatur, die in diesem Punkt Gelegenheit.
zum Protest gegen das römische Recht findet, z.B. JoH. CASPAR BLUNTSCBLI, Deutsches
Privatrecht 4, § 185, Bd. 2 (München 1854), 261; WALTER, DeutsoheR Privatrecht, 111
(s. Anm. 111).
2so HF.GF.r„ Phänomenologie des Geiste1:1, SW Bu. 2, 342.
231 ~'RIEDRICH ScHMITTHENNER, Zwölf Bücher vom Staate, Bd. 1 (Gießen 1839), 204.

290
c) Erneuerung von 'Familie' als sozialem Grundbegriff Familie

Ehe und Eltern-Kind-Verhältnis bleiben verinnerlicht: Die Ehe ist die innigste V er-
einigung zwischen Mann und Weib (KARL SALOMO ZACHARIÄ 1802) 232 • Wie bei
Fichte enthält diese Aussage eine das Recht aus dem familiären Internum auswei-
sende Tendenz: Das Recht, welches dem einzelnen auf den Grund der Familien-
einheit zukommt und was zunächst sein Leben in dieser Einheit selbst ist, tritt nur inso-
fern ·1:n die Form Rechtens als des abstrakten Moments der bestimmten Einzel-
heit hervor, als die Familie in die Auflösung übergeht ... Das Recht der Familie
besteht eigentlich darin, daß ihre Substantialität Dasein haben soll: es ist also ein
Recht gegen die Ä-ußerlichkeit und gegen das Heraustreten aus dieser Einheit (HEGEL
1821) 233 • An und für sich ist nun freilich die Familie nichts Juristisches, sonst würde
ja fol9en, daß ihr '7,wp,r,k f'.ir1, j1,ri,~tischer sei. Im Gegenteil ist sie zunächst und der
Hauptsache nach etwas Sittliches; nur hat sie zugleich auch ihre rechtliche oder juri-
stische Seite, und soweit das nun der Fall ist, reicht eben das Familienrecht, während
-im übrigen die Familienverhältnisse außerhalb des Rechtsgebietes liegen (DIECK
1845)~ 34 • Auch das Eltern-Kind-Verhältnis ist ein reines Naturverhältnis, wofür
demnach auch nur die Natur - versteht sich die höhere, nämlich sentimentale und
moralische Natur - nicht aber die Jurisprudenz gesetzgebend sein kann (RoTTECK
1837) 236 •
Gegenüber der romantischen Eheauffassung erscheint dies als nichts Neues, so daß
man auch hinLer solchen Thesen di~ Fortsetzung der familienauflöscndcn Tendenzen
vermuten könnte. DaR Oegenteil ist der Fall. Der Kategorie des Sittlichen wächst
nämlich ein neues Element zu: der verpflichtende Charakter. Gerade der sittliche
Begriff der Familie sollte es nicht zulassen, die Ehe, so sehr sie auch weiterhin als
Gemütsvereinigung aufgefaßt werden mag, mit einllr bloßen, vergänglichen 8tim-
mungslage zu identifizieren. HEGEL lehnt die Deutung der Jfüe als bloßes Ge-
schlechtsverhältnis und lediglich bürgerlichen Vertrag ab, um fortzufahren: Die
dritte ebenso zu verwerfende Vorstellung ist die, welche die Ehe nur in die Liebe setzt,
denn die Liebe, welche Empfindung ist, läßt die Zufälligkeit in jeder Rücksicht zu, eine
Gestalt, welche das Sittliche nicht haben darf. Die Ehe ist daher näher so zu bestimmen,
daß sie die rechtlich sittliche Liebe ist, wodurch das Vergängliche, Launenhafte und
bloß Subjektive derselben aus ihr verschwindet 236 • Die Liebe wird also mit Hilfe des
Sittlichen objektiviert, sie erhält verpflichtenden Charakter, indem sie das Aufge-
hen des einzelnen in der Person der Familie verlangt.
Daraus ergeben sich Konsequenzen für das Recht der Eheschließung und der Ehe-
scheidung. Besteht nach den Romantikern die Eheschließung im Entstehen der auf
ewig goda.ohton Seelenverbindung selbst, dcrgegenüber die kirchliche od11r hiir1311r-
liche Trauzeremonie als bloße Formalität erscheint, so wird bei Hegel der öffentliche
Eheschließungsakt wiederum wesentlich: Die eheliche Verbindung ist nur durch das
Vorangehen dieser Zeremonie als der Vollbringung des Substantiellen durch das Zei-

232 !URL 8.ALOMO ZAOHARIÄ, Über die Erziehung des Menschengeschlechts durch den
Staat (Leipzig 1802), 62; s. auch KRUG, Philosophie der Ehe, III, der vielfach die Aussagen
Fichtes übernimmt und mit völlig anderen Folgerungen versieht.
233 HEGEL, Rechtsphilosophie (1821), § 159 u. Zusatz. SW Bd. 7 (1928), 238 f.
~ 84 DrnoK, Art. Familienrecht, ERson/GRUBER 1. Sect., Bd. 41 (184/S), 342.
?.35 RoTTEUK, Art. F1unilie, RoTTEOK/WELOKER lld. 5, :196.
2 3 6 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 161, Zusatz. SW Bd. 7, 240.

291
Fumilie m. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen" Fawllieubegrlffs
chen, die Sprache, als das geistigste Dasein des Geistigen ... , als sittlich konstituiert.
Die Eheschließung ist also etwas, wodurch das Wesen dieser Verbindung als ein
über das Zufällige der Empfindung und besonderer Neigung erhabenes Sittliches aus-
gesprochen und konstatiert wird, und die Meinung, die sie für eine bloße äußere For-
malität hält, leugnet vielmehr das Sittliche der Liebe 237 • Deshalb kann auch die ro-
mantische Vorstellung von der Eheauflösung als bloßem Wegfall der Liebe (als
psychischer Tatsache) nicht akzeptiert werden; die Ehe steht unter einem göttli-
chen Gesetz, das die Relativität der flüchtigen Empfindung fordert: T>a,r1"m ist aber
auch die Ehe an sich für unauflöslich zu achten; denn der Zweck der Ehe ist der sittliche,
der so hoch steht, daß alles andere dagegen gewaltlos und ihm unterworfen erscheint ...
Aber sie ist nur an sich unauflö8lich, denn wie Christus .~agt: N?i,r 11,m ihrl'~~ Herzens
Härtigkeit ist die Scheidung zugestanden. Weil die Ehe das Moment der Empfindung
enthält, ist sie nicht absolut, sondern schwankend und hat die Möglichkeit der Auflö-
sung in sicli. Aber die Gesetzgebungen müssen diese MIJgz.iclike-it aufs Höchste erschwe-
ren und das Recht der Sittlichkeit gegen das Belieben aufrechterhalten 238 • Damit ist
die Formel gefunden, die eine personalistische Deutung des ehelichen Verhältnisses
mit seiner Stabilität aussöhnt, die Verinnerlichung mit dem Prinzip der von streng
formulierten Ausnahmen durchbrochenen Unauflöslichkeit verbinden kann. Die
Abwesenheit ehelicher Empfindung kann also nur indirekt auf das Bestehen der Ehe
wirken; sie muß nämlich, um es zu können, den Filter der Sittlichkeit durchlaufen.
·Nur so kann verstanden werden, daß wiederholt von der Familie die allgemeine
sittliche Erneuerung erwartet werden kann239 •
Die Abkehr vom romantischen Eheideal in diesem Punkt - ebenso wie von dem
nor,h im AT,R normierten individualrechtlichen - vefi!Li:irkt i,iich auf die Jahrhun-
dertmitte zu. ScHLEIERMACHER, zunächst ganz auf der Linie der romantischen
Identifizierung von Liebesempfindung und Ehe, propagiert 1818 die Unauflöslich-
keit der Ehe, von der der Staat Ausnahmen machen kann, die aber doch begrenzt
ooin sollen: Die Kirche soll einem solchen Scheidungsrecht gehorohc11, durn-il nfrht
die selbstsüchtige Hartherzigkeit, die leidenschaftliche Wildheit verdorbener Menschen
zu einer rohen Verbindung treibe, die aller g.öttlichen Ordnung und christlichen Sitte
Hohn spricht 240 • SAVIGNY betreibt in Preußen die Abschaffung des Scheidungs-
grunds des gegernieitigen Einverständnisses und der unüberwindlichen Abneigung.
Bei ihm wird besonders deutlich, daß die Definition der Ehe als primär sittliches
Verhältnis (in der schon bei Hegel und Schleiermacher vorhandenen Verbindung
mit einer göttlichen Ordnung) als Hebel für einen wiederum institutionellen Ehe-
h11griff v11rwendet werden ka,nn: Die W iirde der Ehe als Institution begründ<Jt don
wichtigsten und eigentümlichsten Gesichtspunkt, der hierin für die Gesetzgebung zu be-
achten ist. Ihre Ehrfurcht gebietende Natur gründet sich darauf, daß sie, in Beziehung
auf die einzelnen, eine wesentliche und notwendige Form des menschlichen Daseins
überhaupt ist, in Beziehung auf den Staat aber unter die unentbehrlichen Grundlagen

231 Ebd., § 164, S. 243 ff.


2ss Ebd., § 163, S. 241 fl
239 ScHLF.GEL, Biblische Predigten, V; BROCKHAUS 8. Aufl., Bd. 4 (1834), 26: Die Bittliche
Ordn·ung der Familie ist der Maßstab der Oivilisation.
240 Nn,ch Mm:AT, Zerrüttungsprinzip, 502; dort auch Näheres zu Sohloiorm11ohor1:1 Ent-
wicklung.

292
c) Emeuerung von 'Familie' als sozialem Grundbegrift' Familie

seines Bestehens gehört (1844) 241 . Daß dabei die eheliche Gesinnung, weiterhin Grund-
lage der Ehe, von den romantischen Überspanntheiten befreit wird, ist folgerich-
tig242. Damit gewinnt die Familie wiederum-häutig mit Hilfe eines göttlichen Ge-
setzes und einer säkularisierten Sakralität - an Stabilität.
Der familiäre Innenraum hingegen wird, wie in der Romantik, vom Recht möglichst
freigehalten, so daß er wiederum der Raum einer rechtlich ungebundenen Herr-
schaft des Ehemannes und Vaters werden kann. Die Unantastbarkeit des fami-
liären Innenraums spiegelt sich wider in der nun proklamierten „Heiligkeit" der
Familie: Die Familienverbindung ist die natürlichste, älteste und heiligste unter den
Menschen (BROCKHAUS 1834) 243, der französische Staat wurde in Staub gelegt, als
das Heiligtum der Familie geschändet wurde (JOHANN JosEF RossBACH 1859) 244 ; die
Interessen des Staats dürfen ins Heiligtum der Privat- und häuslichen Erziehung
nicht störend einwirken (RoTTECK 1837) 245 . Wie beim -+Eigentum zielt die
8akralisicrung darauf ab, staatliche Eingriffe abzuweisen. Daher liegt e1:1 1111J1e,
die Familie oder die elterliche Gewalt in die durch die Bürger- und Menschen-
rechte garantierten Individualpositionen aufzunehmen. Abweichungen von dem
natürlichen Gesetz, politischer Interessen willen, können hier nur wenig erlaubt sein,
schon darum weil ... die Anerkennung umil Gewährleistung der natürlichen Familien-
rechte als ein Hauptartikel des bürgerlichen Vereinigungsvertrags zu betrachten ist
(RoTTECK 1837)~ 46 • l>ifl Worte rle11 4. Gebots „Du sollst Vater und Mutter ehren"
sollten die er.~te Hauptregel in jeder christlichen Familie, das erste Reichsgrundgesetz
in jedem christlichen Staate ausmachen (KARL AuGUST MoRITZ 8CHLEGEL 1817) 247 .
Der Grundrechtscharakter der Familie wird vor allem dort deutlich, wo sie zusam-
men mit dem Eigentum geschützt wird 248 oder wo -wie bei Il.oTTF.CK -familiäre
Beziehungen mit Hilfe eines. personalisierten Eigentumsbegriffs gedeutet werden 249 .
Die ausdrückliche Aufnahme der Familie in die Grundrechtskataloge blieb indes

2 41 SAVIGNY, Darstellung der in den Preußischen Gesetzen über die Ehescheidung unter-

nommenen Reform (Berlin 1844), z. T. abgedr. in: Zs. f. d. gesamte Familienrecht 16


(1969), 2.
DU Ebcl., 3 : Es ·ist le·icht, aber unfruchtbar, sich ein solches Verhältnis so zu idealisieren, als

müsse es in ununterbrochener Übereinstimmung der Gesinnungen und Neigungen, also in


steter ungetrübter Zufriedenheit bestehen.
243 BROCKHAUS 8. Aufl., Bd. 4 (1834), 26; vgl. DAHLMANN, Politik 12, 261, S. 282 f.;

s. auch RIEHL, Familie, 115: Die Familie ist uns aber nicht bloß religiös, sondern auch social
und politi8ch ein Heiligtum.
244 RosSBACH, Geschichte der Familie, 528.

245 RoTTECK, Art . .ll:rziehung, RoTTECK/WELCKER Bd. 5, 267;


24 8 Ders., Art. Familie, RoTTECK/WELCKER Bd. 5, 386.

247 SCHLEGEL, Biblische Predigten, 159.


248 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Straf-

goaotzbuohoo, des Militärstrafgeilet:i:buchli und des C'-.eRet7.AFI iihAr rliA PmRRA vom 17, De-
zember 1894, Art. l, § 130, Abs. 2: Danach soll denjenigen eine Geldstrafe bis 600 Mark
oder eine Gefängnisstrafo bis zu zwei Jahren treffen, welcher in einer den iJ'!fentliclien Fr'iede·n
gefährdende.n. Wei'.se. rUP. RP.li{Jirm., dif, Monarchie, die Ehe, die Familie oder das Eigentum
durch bescltünp/en1le Xußerungen öf}entlich angreift.
249 RoTTECK, Art. F:i.miliA, RoTTEOK/W .l!lLUK.l!l1' Bc.l. 5, 398: D-ie K·inder Bind das wahrP. und

unbestreitbare Eigentum der Eltern.

293
Familie W. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen" Familienbegrift's

dem 20. Jahrhundert vorbehalten (Weimarer Reichsverfassung, Art. 119. 120;


Grundgesetz der BRD, Art. 6).
Der Verweis des Rechts aus dem unantastbaren familiären Internum bedeutet das
vorläufige Ende der emanzipatorischen Bestrebungen des Individualrechts. Die
vergleichende Geschlechterpsychologie verweist die Frau als den sich aufopfernden,
liebenden Teil in den familiären Innenraum und spricht ihr politische Handlungs-
fähigkeit ab 250 • Erst durch die Verbindung mit einem Manne bekommt das Weib einen
öffentlichen Charakter (KRUG 1802) 251 • Das männliche Geschlecht ist immer in gewis-
sem Maße für ein öffentliches Leben bestimmt, das weibliche nur für das häusliche
(SCHLEIERMACHER 1826) 252 • Diese Disqualifikation kann dadurch verhüllt werden,
daß man die politische Rolle nicht eigentlich dem Fainilienvater, sondern „der Fii.-
milie" zuweist. Besonders deutlich wird dies bei WILHELM HEINRICH RIEHL (1854):
Das Weib existiert nicht für sich, sondern nur in und mit der Familie ... Die eigenste
Weise des Hause.~, .~ein individueller Charakter wird fast immer bestimmt dMrcli &ie
Frau . . . Das Weib wirlct in der Familie, für die Familie; es ltringt ihr sein Bestes
ganz zum Opfer dar ... Nun kann aber doch wahrlich die Frau fordern, nicht daß der
Staat ihre Person teilnehmen lasse an dem öffentlichen Leben, wohl aber, daß er die
große politische Macht OR!f Familie, in weit höherem Maße als gegenwärtig, berücksich-
tige bei der Volksvertretung wie bei der Staatsverwaltung. Das ist die Antwort, wAlfthe
die bürgerliche Familienkonzeption auf die um die Jahrhundertmitte erneut erho-
benen Gleichberechtigungsforderungen gibt: Die Familie muß politisch emancipirt
werden, dann sind die Frauen emancipirt 253• Die Familie ist also nach außen höchst-
bedeutsame politische Größe, nach innen unantastbarer Privatbereich unter Herr-
schaft des Familienvaters, dem als solchem besondere politische Qualifikationen m-
wachsen 254. Der Vorstellung, die Frau nehme wenigstens intern an der politischen
Meinungsbildung teil 255 , tritt die Trivialliteratur Init der Idylle des unpolitisuhen
Familienlebens entgegen. Der ersten Nummer der „Gartenlaube" (1853) ist eine
Ansprache an die Leser heieAgAhAn, die folgen.de Sätze enthält: E1:n Blatt solls werden
fürs Haus und die Familie, ein Buch für Groß und Klein, für jed~n, dem ein warmes
Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat am Guten und Edlen! Fern von aller
raisonnierenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions- und anderen Sachen
wollen wir Euch in wahrhaft guten Erzählungen einführen in die Geschichte des Men-
schenheruns und der Völker 2 56,
Die Unantastbarkeit des familiären Raumes bedingt das Bestreben, die Fainilie von
Rechtsstreitigkeit~n freizuhalten und Inithin gegenüber den Familiengliedern den

250 Vgl. HEGEL, Rechtsphilosophie,§ 166, Zusatz.

aai K.1wu, Philosophie der Ehe, 132.


252 ScHLEIERMACHER, Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, SW 3. Abt., Bd. 9: Erziehungs-

lehre (1849), 359.


25a RIEHL, Familie, 18. 20. 91.
254 Der Familienvater ist ein besserer Staatsbürger und Patriot als. der Junggeselle:

KRUG, Philosophie der Ehe, 234; VoLKMAR, Philosophie der Ehe, 188.
2 aa Vgl. FrcHTE, Grundlage des Naturrechts, § 34. AA 1. Abt., Bd. 4, 129 ff.; RIEHL,

Familie, 93.
268 Zit. RUTH HoROVITZ, Vom Roman des Jungen Deutschland zum Roman der Garten-

laube. Ein Reitrag zur Geschichte des deutschen Lihara.lismus (phil; Diss. Basel; Breslau
1937), 48.

294
c) Erneuerung von 'Familie' als sozialem GrundbegriB' Familie.

at1111tlichen Individualschutz weitestgehend z11 vP.rAaetin. Dl:tR geschieht im Ver-


trauen auf die Naturinstinkte, die auch ohne Gesetz und Gericht dem Mißbrauch
der familiären Herrschaft steuern. Die Familie wird als kon:.fliktlos geuachL unu
idealisiert. Für die elterliche Gewalt ist dieser Standpunkt von LocKE vorbereitet 25 7,
von RoussEAU - der sich andererseits heftig über die Mißbräuche der elterlichen
Gewalt beklagt 258 - verbreitet: Les devoirs du pere lui sont dictis par des sentiments
naturels, et d'un ton qui lui permet rarement de desobeir 259 • Das Eltern-Kind-Verhält-
nis verträgt, wenigstens im Raum des Personalen, den Rechtsstreit nicht. Für das
häusliche Leben hat durchaus die Form des Gesetzes keinen Ort, indem die elterliche
Autorität sich keinem Gesetze unterwerfen darf (ScHLEIERMACHER 1826) 260 • Der
Deutung des Eltern-Kind-Verhältnisses als eines konßiktlosen dient die Theorie
von der Einheit der Person von Vatern und Kindern 261 • Die individualrechtliche
Deutung wird ausdrücklich verworfen. RoTTECK (1837) verteidigt seine These vom
Eigentum. der Eltern an ue11 Kimlern: Sollte ·wolil d·iue Theorü eine gegen dio Kinder
lieblose, eine sie schutzlos dem bösen Willen, sei e.s der .Eltern, sei es der Fremden,
preisgebende sein? ____: Offenbar nein!, vielmehr eine den Kindern weit günstigere, als je-
ne, die sie an das kalte Recht verweist und die Eltern bloß zu ihren Schuldnern machen
will . . . Alle Zwangspfiichten sind lästig und werden nimmer mit Liebe und nicht gern
über das Maß der Erzwingbarkeit hinaus erfüllt. Rechtlicher Zwang würde die Eltern
nur zu einer notdürftigen Erfüllung der Erziehungspllicht zwingen können. Wir
also geben den Kindern eine weit reichere A usstaUung als ihr. Wir weisen sie an das
Naturgefühl der Eltern und an ihre moralische Pflicht 262 • Die elterliche Gewalt bleibt
daher weithin unbegrenzt, das Kind kommt nur infolge eines Rechtsreflexes und
'nichL aufgrund eines eigenen Anspruchs in den Genuß cltcrlioher Pflichtbindung.
Auf den ersten Blick erscheint es als paradox, daß eine solche Anschauung von der
elterlichen Gewalt zu einer Zeit entfaltet wird, in der die Programme einer öffent-
lichen Erziehung allenthalben verkünueL uml J!;Ulll Teil realisiert werden und in
der die Erziehung Gegenstand ~iner spezifischen Wissenschaft zu werden beginnt.
Gerade das Problem des Schulzwangs hätte das Problem des elterlichen Erziehungs-
rechts aktualisieren müssen. Es ist höchst bemerkenswert, daß die pädagogische
Literatur mit ihrer Leitfigur des Erziehers an dem Problem der Elternerziehung
häufig vorbeigeht 263 • Wo die Frage nach der Legitimität einer öffenLlichen Erzie-
hung gestellt wird, findet sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorwiegend

257 LOOKF., 'l'hr. Rr.oond Treatise of Government, § 74, vgl. auch §§ 64 ff.
258 In einem 1782 geschriebenen Zusatz zu: Discours sur l'origine de l'inegalite parmi les
hommes, Oeuvres compl., t. 3, 205 (1:1. Anm. 126).
259 RoussEAU, Discours sur l'economie politique, ebd., 242.
260 ScHLEIERMACHER, Vorlesungen aus dem Jahre 1826, SW 3. Abt., Bd. 9, 358.
2 81 DIECK, .Art. Familienrecht, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 41, 345 f.
262 R.OTTFJ!TK, Art. Familie, ROTTECK/WELCKER Bd. 5; 400f.; siehe schon SCHMALZ,
Familienrecht, 21 (s. Anm. 141): Es wäre wohl sehr l,ächerlich, dies vollkommne äußere
Recht des Kirule!J efa Zwunylfrecltt ~·u ·1tennen. Wollen wfr nie u1isern A!Uldruvh: Zwati,gorooht,
Zwangspfiicht, fahren lassen?
~63 Das gilt z. B. nicht für AuGuST WILHELM REHBERG, Priifüng clttr Erzitihwi.gskimst
(Leipzig 1792), 47, der die neuen Erziehungslehren gerade um der familiären Erziehung
willen verurteilt: An die.Stelle dieser Familienverhältnisse kann daher nichts andre1J treten •

.295
Familie W. 2. Das Entstehen des „bürgerlichen" Familienbegrift's

das Bemühen, familiäre und öffentliche Erziehung in eine Konkordanz zu bringen 2 64.
Das deutet darauf hin, daß von der Seite der öffentlichen Erziehung eine Gefahr für
die Familie im allgemeinen nicht erwartet wird, so daß insofern der Aufbau einer
dezidierten Abwehr gegen staatliche Übergriffe nicht provoziert ist. Gewiß werden
Grenzen der Staatserziehung aufgewiesen 266 , ohne daß jedoch im allgemeinen der
Bedarf des Staates im Erziehungswesen geleugnet würde. Die pädagogische Fort-
schrittsidee läßt demnach die im Elternrecht angelegten Ansätze zu einer Auswei-
sung des Staates aus dem Bereich der Menschen- und Staatsbürgerbildung nicht zur
Entfaltung kommen. Zu stark ist die Erkenntnis, daß die .l!'amilie zu der gesamten
Bildung des jungen Menschen gar nicht in der Lage ist, zu stark mithin das Bewußt-
sein und die Hinnahme eines familiären Funktionsverlustes. Hinzu kommt aber das
Vertrauen darauf, daß die öffentliche Erziehung keine antifamiliäre sein werde. Es
äußert sich zum Beispiel bei ScHLEIERMACHER (1813/14) in der Vorstellung, daß
die öffentlioho Schule ständisch differenziert werden würde: Du uber die Einwir-
kung des Familienlebens doch bleibt und flieh die Schule auf einen Typus desselben
beziehen muß: so wird sie auch verschieden eingerichtet sein müssen, wenn es große
Differenzen im Familienleben gibt 266 •
Es ist von entscheidender Bedeutung, daß die juristische Literatur des 19. Jahr-
hunderts, voran die Wissenschaft vom Römischen Recht, den vorrechtlich-sittlichen
Familienbegriff übernommen hat. Die Formel von dem primär natürlichen und
sittlichen Wesen der Familienverhältnisse begegnet allenthalben. Ilierau.~ folgt, tl<iß
die Familienverhältnisse nur zum Teil eine juristische Natur an sich tragen, ... ja wir
mü.~Rr-n hinzMsetzen, daß die jur·ist·ische Seüe ·iltres Wesens gerade die geringere ist, indem
die wichtigere einem ganz anderen Gebiete als dem des Rechts angehört (SAVIGNY
1840) 267 • Der metajuridischen Seite werden dabei die personalen Beziehungen, also
annli die Ausübung der Macht des Familienoberhaupts über Fmu und Kinder und die
Erziehung, der rechtlichen hingegen die Vermögem1beziehungen zugeschlagen. Das
Erziehungsbedürfnis findet seine Befriedigung allerdings in der väterlichen Gewalt, aber
nicht eigentlich in der rechtlichen Seite derselben, sondern in der rechtlich unbestimmten
Macht, die der Vater ohnehin über das Kind, auch ohne Rücksicht auf dessen Alter, hat.

2 6 4 Vgl. HUMBOLDT, Grenzen der Wirksamkeit des Staats, AA 1. Abt., Bd. 1, 140 ff.
ScHLEIERMACHER, Über den Beruf des Staates z:ur Erziehung. Gelesen in der Plenarsitzung
der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 22. Dezember 1814, SW 3. Abt„ Bd. 3
(1835), 227 ff.; vgl. auch ders., Vorlesungen aus dem Jahre 1826, ebd„ Bd. 9,
187 ff.; ZAcHARIÄ, Erziehung des Menschengeschlechts, 166 ff.
266 Vgl. ScHLEIERMACHER, Vorlesungen aus dem Jahre 1826, SW 3. Abt„ Bd. 9, 368: Der

Schule kommt allC8 zu, was Unterricht und Übung der Fert·igke-it ·i8t 'ffdt A•Uif1wh-rne der Kennt-
nisse una. Fertigkeiten, die sich auf eine speziellere Geschäftstätigkeit beziehen. Diese fallen in die
Familie •.. Ebenso hat die Schule die Verpflichtung, dasjenige auf dem Gebiete der Gesinnung
zu entwickeln, was sich unmittelbar auf das öffentliche Leben in seinem re"lativen Gegensatz zu
dem Familienleben bezieht. Der Familie würde übri(I bleiben, die Ge11innung weiter zu ent-
wickeln aus dem religiösen und al/,gemein ethischen Standpunkt.
266 SCHLEIERMAOIIEit, Zm• Püdo.gugik, SW 3. Abt„ Dd. 9, GGG.
267 SAVIGNY, Römisches Recht, Bd. 1, 347; vgl. etwa auch BERNHARD WINDSCHEID,

Lehrbuch des ra11dekten.reuhLt1, 7. Aufl„ Rd. 2 (.l!'rankfurt 1891), 764. Es gibt indes auch
andere Stimmen; der individualrechtliuhe Ansatz fümiliäror Beziehung.an brioht, nicht
völlig ab.

296
c) Emeueruog von 'Familie' als sozialem GrundbegriJf Familie

Alles Übrige aber, also gerade die oben bemerkte rein juristische Einwirkung auf das
Vermögen, hat mit der Erziehung gar keinen Zusammenhang 26 B.
Infolgedessen zieht sich die Rechtsliteratur aus der Behandlung des persönlichen
Eherechts und des Erziehungsverhältnisses mehr und mehr zurück. In den Lehrbü-
chern des Zivilrechts schrumpft die Behandlung des. persönlichen Familienrechts
vielfach auf einige Seiten zusammen, während die Behandlung des familiären Ver-
mögensrechts in den Vordergrund tritt. Die Pandektistik vollzieht bezeichnender-
weise die in das BGB eingegangene scharfe Trennung von elterlicher Sorge und Er-
ziehung als personale, rechtlich nicht erfaßbare Leistung einerseits und dem Unter-
haltsanspruch der Kinder andererseits. In der Privatrechtsliteratur des 19. Jahr-
hunderts verschwindet ein Rechtsbegriff der Einzelfamilie sogar fast völlig. Gegen-
stand der rechtlichen Behandlung ist nicht die primär sittliche Familie, sondern sind
einzelne äußerliche, für das Recht faßbare Bezüge. Der seit Ende des 18. Jahrhun-
derts auftauchende Terminus 'Familienrecht' nimmt von vornherein eine unspezi-
:fische Bedeutung an. Er meint das Recht von „Familienverhältnissen", näherhin
der Ehe, Elternschaft, Vormundschaft, Verwandtschaft, ohne auf ein Sozialgebilde
„Familie" abzuzielen 269 • Das widerspricht dem oben Gesagten nur scheinbar: Da
die Familie selbst dem Recht entzogen ist, behandelt das Recht nur noch gewisse
juristische Folgerungen in ihrer Vereinzelung.
Seit der Mittt1 tles 19. Jahrhundtirts stoßen zudem das öffentliche Recht und din
juristische Staatslehre unter dem Eindruck eines schärfer gefaßten Staatsbegriffs die
Familie als Gegenstand und Begriffin zunehmendem Maße ab 270 • Die politische und
soziale Aufwertung der Familie auf der einen, die Privatisierung der familiären Be-
züge auf der anderen Seite sind auch in diesem Zusammenhang typisch für den
Familienbegriff271 •
Der geschilderte Familienbegriff hat im BGB von 1900 in wesentlichen Zügen ge-
setzliche Realität erhalten. Als Rechtsbegriff kommt die Familie (trotz der Über-
schrift „Familienrecht" über das viertP. Ruch) nicht vor, es werden einzelne Bezie-
hungen abgehandelt. Das Familieninnere wird so weit wie denkbar frei von Rechts-
konflikten gehalten, indem dem Ehemann ein nur bei „Mißbrauch" begrenztes Be·

268 SAVIGNY, Römisches Recht, Bd. 1, 353. VgL auch CARL FRIEDRICH v. GERBER, System

des Deutscheu Privatrechts, 13. Aufl. (Jena 1878), 606.


269 Im Begriff 'Familienrecht' ist der verwandtschaftsrechtliche Akzent vorherrschend,

der seinen Ausgang von dem zuerst gebräuchlichen Plural 'Familienrechte' ('iura fämiliae'
= Rechte einer Familie i. S. der erbberechtigten Verwandtschaft) nimmt. Vgl. :r.. R
BROCKHAUS 8. Aufl., Bd. 4 (1834), 27: Familienrecht nennt man das Recht der Familien
überhaupt, das Recht zwischen Mann und l!'rau, Eltern und Kindern, Geschwistern und ent-
f erntern Seitenverwandten; dann aber die besondern Rechte (sie!) einzelner Familien, welche
durch Hausverträge, Statuten, Gewohnheiten, Testamente gegründet sind,; ähnlich PIERER
2. Aufl., Bd. 10 (1842), 236; MANZ Bd. 4 (1847), 110.. Die Ehe gehört ins Familienrecht,
weil sie Verwandtschaft begriindet; die elterliche Gewalt, weil sie Teil einP.r Verwandt-
schaftsbeziehung ist.
270 Ein öffentliches Eherecht kennt freilich noch LORENZ v. STEIN, Handbuch der Verwal-

tungslehre, 3. Aufl., Tl. 2 (Stuttgart 1888), 20 ff.


271 Vgl. JoH. CASP.Alt BLUNTSCHLI, Allgemeines Staatsrecht, 2. Aufl., ßd. 1 (München

1857), 117 ff., der die Familie einexseit.s nem Privat.rncht zuweist, andererseits ihre Be-
deutung für die Staa.tswohlfahrt hervorhebt.

297
Familie ID. 2. D1111 Ent11tehen des „bürgerlichen" Familienbegriffs

stimmungsrecht über die Frau (§ 1354) und die gesetzliche Vertretung sowie die vor-
rangige Bestimmungsgewalt hinsichtlich der Kinder eingeräumt wird(§§ 1627.1630.
1634). In die Handhabung des elterlichen Personenrechts greift das Vormund-
schaftsgericht nur bei Vorliegen einer außerordentlich eng umgrenzten mißbräuch-
lichen Gefährdung der Kinder ein (§ 1666). Im personalen B.ereich der Erziehung
steht den Kindern keine formale Rechtsposition gegenüber den Eltern zu, ein Rechts-
streit über die Berufswahl - wie nach dem ALR ~ ist nicht vorgesehen.
Die Familiii alR Ror.ial11r GMmdh11griff t.rägt demnach folgende Züge: 1) Der Familie
wird grundlegende Bedeutung für Sittlichkeit, Staat und Gesellschaft zugespro-
chen, sie wird als geschichtsinächtige Kraft subjektivitiert, ihr wächst das Element
des Entwir.klungRpror.esses ?.U. 2) Die Familie verdrängt vielfach als politische
Grundeinheit den einzelnen, der in sie hineingeschmolzen wird. 3) Die ihr zugespro-
chene soziale Funktion wird - da sie als natürlicher und sittlicher Organismus an-
gesehen wird - nicht als rechtlich kontrollierbar und erzwingbar empfunden. Das
bedingt den Rückzug auch des rechtlichen Individualschutzes aus der Familie; eine
unkontrollierte ehemännliche und elterliche Gewalt ist die Folge. 4) Die familiären
Beziehungen werden ähnlich wie in der Romantik verinnerlicht, mit dem Unter-
schied, daß sie mit Hilfe der Kategorie des Sittlichen von bloß psychischen Disposi-
tionen abgelöst un:d damit erneut institutionalisiert werden. So können Verinner-
lichung und Stabilität der Familie miteinander versöhnt werden. 5) Die Familie
steht nach außen im Bereich des Öffentlichen, nach innen im Bereich des Privaten.
Das erklärt, daß zur gleichen Zeit eine Familienpolitik postuliert und gleichwohl das
Familienrecht dem Privatrecht zugeschrieben wird. Es kann daher nicht einfach
von „Privatisierung der Familie" die Rede sein. 6) Durch die Abschließung des
familiären Internums nach außen reicht allein der Mann in den Raum des Öffent-
lichen; Frau und Kinder werden politisch mediatisiert.
Die Bildung eines solchen Begriffs ereignet sich auf dem Hintergrund von Funk-
tionsverlusten der Familie auf dem Gebiet des Wirtschaftens und der Erziehung, die
im großen und ganzen - wenn auch gelegentlich wehmütig - hingenommen wer-
den. Das Bewußtsein der Gefährdung der Familie durch das Individualrecht auf
der einen, durch sozialrevolutionäre Bestrebungen auf der anderen Seite hat die Be-
griffsbildung augenscheinlich gefördert. Unschwer läßt sich der so gebildete Fami-
lienbegriff als ein spezifisch bürgerlicher erkennen, wenn dies auch nicht häufig aus-
gesprochen wird; er bleibt also ständisch orientiert. Für die adelige Lebensform war
die Vorstellung von der verinnerlichten, der· Ökonomie entfremdeten „kleinen"
Lebensgemeinschaft nicht pamiend. Sie entsprach auch nicht der bäuerlichen Fami-
lie, welche die traditionelle Einheit von Familie und Betrieb fortführte. Der vierte
Stand schließlich, die Masse der Industriearbeiter insbesondere, erschien aus dem
Familienbegriff gedankliuh ausgeklammert. Das Ideal der Ehefrau, die im Hause
und als dessen Seele ihre eigentliche menschliche und soziale Bestimmung erfährt,
war nicht für eine Klasse gedacht, für welche die Frauenarbeit zur Existenzbedin-
gung gehörte. Ungeschminkt hat dies RIEHL zum Ausdruck gebracht: Dazu kommt
BinB anderß Noubiklung, der vierte Stand, in welchem d·ie Fan.,,.il·ienlos·igke-it geraiiez·u
die Regel wird. Wo hier die Familie auftritt, ist sie meist zur Existenz gar nicht berech-
tigt ... Der Stand setzt sonst das Haus voraus; der vierte Stand hat aber kein Haus 272 •

272 RnmL, Familie, 45.

298
IV. Ausblfok Familie

Daß zur erlaubten Familiengründung eine wirtschaftliche Grundlage gehöre, bleibt


die Überzeugung des 19. Jahrhunderts. Interessanterweise nahm die Gesetzgebung
seit 1830 eine speziell gegen Unbemittelte gerichtete Ehehindernisgesetzgebung
wieder auf, die vom aufgeklärten Absolutismus vielerorts beseitigt worden wa:rns.
Die ständische Ausrichtung des bürgerlichen Familienbegriffs hindert freilich nicht
seine tendenzielle Allgemeingültigkeit. Es zeigt sich dies sowohl im liberalen Pro-
gramm der Entfeudalisierung der adelig-familiären Besitzrechte als auch in der ver-
schiedentlich geäußerten Vorstellung, durch Hebung des allgemeinen Reichtums
solle möglichst vielen der Zugang zur Familiengründung eröffnet werden 274 • Das in
den bürgerlichen Gesetzbüchern verankerte Familienrecht gibt sich denn auch als
klassenindifferent; nur gelegentlich, so im Unterhaltsrecht, klingt in der Vokabel
'standesmäßig' (vgl.§ 1610 Abs. 1 BGB) die Realität eines schichtspezifisch aufge-
spaltenen Familienbildes an.

IV. Ausblick
Die entwickelten Züge des „neuen" Familienbegriffs sind typisch für die erste
Hälfte des 19. Jahrhunderts; sie wirken bis in die Gegenwart- jedenfalls im Rah-
men der nichtsozialistischen Anschauungswelt 2 75 - fort, freilich nicht ohne bedeu-
tende Relativierungen, Differenzierungen und Widersprüche erfahren zu haben und
nicht ohne der Verunsicherung durch den modernen Begriffspluralismus ausgesetzt
zu sein: Man denke an die Konzepte einer nicht nach dem Verwandtschaftsprinzip
gebildeten „Großfaffiilie" als Wohn- und Lebensgemeinschaft. Zu den Konstanten
gehört die soziale Grundbegrifflichkeit der Familie, die sich sowohl in der politischen
als auch in der soziologischen Sprache erweist. Dabei lehnt sich der politische Be-
griffshorizont vielfach an den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfaßten an:
Familie ist schutzwürdiges Natur- und Sozialgebilde, persönlicher, glückhafter Ent-
faltungsraum und gleichzeitig Grundlage von Staat und Volk. In der Soziologie
hingegen wird die Familie vorwiegend funktional innerhalb einer dynamisch ver-
standenen „Gesellschaft" und also im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ab-
läufen gerleutet unrl analysiert 276 • Die Familie als Gruppe 277 wird - trotz des ihr
zugeschriebenen Intimcharakters 278 - gerade in ihrer Abhängigkeit von anderen
sozialen Phänomenen gesehen, mit denen sie - etwa beim Vorgang der sozialen

270 Nachweise: FRil!lDfilOH THUDWHUM, Über unzulässige Beschränkw1geu t.l.el! Rech Lt!

der Verehelichung (Tübingen 1866), 27 ff.


274 z.B. PRÄTORIUS, Ueber die Ehen, 143 (s. Anm. 188); VoLKMAR, Philosophie der Ehe,

196 (s. Anm. 213).


276 Die Entwicklung des Familienbegriffs in sozialistischen Systemen fällt aus dem Zeit-

rahmen, den sich unsere Untersuchung gesetzt hat, heraus.


u7 s Zum derzeitigeu Staud: GEORG SCHWÄGLER, Soziologie der Familie. Ursprung und
Entwicklung (Tübingen 1970), 109 ff.; NEIDHARDT, Familie in Deutschland, 11 ff.
277 Dazu RENE KÖNIG, Familiensoziologie, in: Soziologie, hg. v . .ARNOLD GEHLEN u.

HELMUT ScHELSKY, 7. Aufl. (Düsseldorf, Köln 1968), 141.


278 Dazu z.B. HELMUT SCHELSKY, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart,

4. Aufl. (Stuttgart 1960), 350 ff.; KÖNIG, Familiensoziologie, 126 (Emanzipation der Eho
von der Familio). ·

299
Familie IV. Ausblick

Integration des Menschen 279 - in einer Art Konkurrenzverhältnis steht. Die Er-
kenntnis der sozio-ökonomischen Voraussetzungen ihrer Daseinsform relativiert die
Stabilität ihrer Wesenszüge und stellt ihre „Naturgegebenheit" in Frage 28 0. Die
Temporalstruktur des Familienbegriffs wird daher akzentuiert. „Familie" scheint
ganz wesentlich auf „Wandlung" bezogen 28 1, der Familienbegriff erhält namentlich
seit Aufkommen des wissenschaftlichen Sozialismus zahllose historisch-systemati-
sche und strukturbezogene Aufspaltungen (bürgerliche, vorindustrielle, patriar-
chalische, partnerschaftliche Familie etc.).
Im Abbau befindet sich die Zuweisung eines das Individualrecht absorbierenden
und konfliktlosen Charakters an die Familie. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts stoßen sich der bürgerliche Familienbegriff und der mit ihm gegebene
Begriff des Familienvaters als Autokrat an den wiedererweckten Forderungen des
Individualrechts, die zunächst zugunsten der Frau (Emanzipation, Gleichberechti-
gung), dann auch zugunsten der Kinder und ihrer „Befreiung 282 erhoben und zum
Teil rechtsformal realisiert worden sind. Die Wiederentdeckung des einzelnen und
seiner Lebensrechte geht dabei einen sehr vielgestaltigen Kompromiß mit den das
Individuum einschmelzenden Zügen des Familienbegriffs ein, mit der Folge einer
unscharf begrenzten Öffnung des Begriffs selbst. Mit dem Einzug des Individual-
rechts verstärkt sich das familiäre Konfliktbewußtsein. Große Bedeutung kommt
in diesem Zusammenhang der Psychoanalyse und der Psychotherapie zu, die sich
mit der Familie als Feld spezifischer Störungen und demgemäß als „Patient" be-
schäftigen283. Auch die Soziologie erfaßt die Familie als den Ort und die Austra-
gungsstätte von Rollen- und Generationskonflikten, die unter anderem auf fami-
liäre Funktions- und Substanzverlustc im gesellschaftlichen Ablauf zurückgeführt
werden. In diesem Zusammenhang entsteht vielfach das Bewußtsein einer Fami-
lienkrise, in dem das Ideal ihrer Stabilität und ihrer inneren Befriedung fortwirkt.
Auf dem Rückzug befindet sich ferner der ständische Charakter des Familienbe-
griffs, teils weil infolge der Entwicklung und Umschichtung der Einkommen viel-
fach das Bild der Hausfrauenehe auch in der Arbeiterschaft Eingang gefunden hat,
teils weil in neuerer Zeit die Hausfrauenehe als Idealtypus im Abbröckeln begriffen
ist, teils weil schließlich eine expansive Bildungspolitik gegen die schichtzuweisende
Funktion der Familie antritt.
Im ganzen zeichnet sich der heutige Familienbegriff im Gegensat,r. zum bürgerlichen
des 19. Jahrhunderts durch eine gewisse Unschärfe und Offenheit aus, die eine Dis-
kussion zwischen den auf Beharrung und den auf Entwicklung angelegten Fami-
lienlehren ermöglicht. Das „Aufweichen" der Regriffselemente eestattet ein Auf-
nehmen und Abstoßen einzelner Assoziationsgehalte, ohne daß der Begriffim ganzen

279 Vgl. Die Familie als Sozialisationsfäktor, hg. v. GERHARD WURZBACHER (Stuttgart

1968).
28 ° FRANZ MüLLER-LYER, Die Familie (München 1921), 388 sagt voraus, daß die Familie

alle sozialen Funktionen verlieren werde.


281 Vgl. die Titel: HELMUT BEGEMANN, Strukturwandel der Familie (Hamburg 1960) u.

ScHELSKY, Wandlungen (s. Anm. 278).


282 Vgl. FRITZ WITTELS, Die Befreiung uaM Kir1ueM (Stuttgart, Berlin, Zürich 1927).

2 83 Hon.sT-Ei:mn:nARD RICHTER, Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von


Konflikten in Ehe und Familie (Reinbek 1970).

300
IV. Ausblick Familie

in Frage gestellt werden müßte. Deshalb - so hat es den Anschein - entsprechen


den beschleunigten kulturellen und sozialen Umbrüchen unseres Jahrhunderts
keine deutlichen begri:ffsgeschichtlichen Zäsuren 284 •
DIETER ScHwAB

284 Dem entspricht auf struk.turgeachichtlichcr Scito eine relative Veränderungsresistenz

der l<'amilie im sozialen Wandel, dazu: Max HORKHEIMER, Theoretische Entwürfe über
Autorität und Familie, Allgemeiner Teil, in: Emorr FROMM u. a„ Autorität und Familie,
Bd. 1 (Paris l!l36), 53.

301
Fanatismus
1. Einleitung. II. Die religiöse Grundbestimmung. 1. Antike und christliche Bedeutung.
2. Reformationszeit. 3. Kampfbegriff in den konfessionellen und politischen Auseinander-
setzungen Englands und Frankreichs. 4. Festhalten an der religiösen Gebundenheit des
Begriffs in Deutschland. 5. Die revolutionäre Wende des Begriffs vor 1789. 6. Gesteigerte
Politisierung und Anwendbarkeit infolge der Französischen Revolution. a) Fanatisme de
l'irreligion. b) Politischer. Fanatismus. 7. Bestätigung und Ausweitung des Begriffs im
19. Jahrhundert. III. Ausblick.

I. Einleitung
Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung von 'Fanatismus' lind 'Fanatiker' muß,
wie die Quellenlage (17.-19. Jahrhundert) ergab, zwei auf verschiedenen Ebenen
liegende Bedeutungsstränge verfolgen. Auf der einen Seite sind beide Wörter primär
im religiösen Bereich inhaltlich de:finiert1. Auf der anderen Seite heben sie als for-
male Begriffe auf die Wirkung dieser inhaltlichen Bestimmung ab. 'Fanatismus'
bezeichnet dann „eine agressive Affektform von besonderer Stärke und Nachhaltig-
keit, meist im Dienste einer Idee" 2 , beliebig welchen Inhalts, ist also auch im poli-
tischen Bereich anwendbar.
'Fanatismus' und 'Fanatiker' sind auf weite Strecken hin - als „Feind"-Bezeich-
nungen -Wörter der aktuellen religiöRP.11 111111 polit,iRnlien Polemik und daher mit
geschichtlichen Bewegungen verbunden. Sie gewinnen demgemäß gerade für die
Zeit der beginnenden „modernen Welt" im Zusammenhang mit dem Säkulari-
sierungsprozeß besondere Bedeufamg.

II. Die religiöse Grundbestimmung


I. Antike und christliche Bedeutung
Die auch heute noch im Deutschen alsFremdwörter 3 empfundenenWörter 'fanatisch',
'Fanatiker', 'Fanatismus' gehen auf das lateinische 'fanaticus' zurück 4 ; Während

1 Hierfür werden die Untersuchungen von ROBERT SPAEMANN, „Fanatisch" und „~'anatis­
mm~", Arch. f. Begriffsgesch. 15/2 (1971), 256 ff. vorausgesetzt.
2 WILHELM HEHLMANN, Wörterbuch der Psychologie, 2. Aufl. (Stuttgart o. J.), 149.

3 Das Substantiv 'Fanatiker' tritt erst Ende des 18. Jahrhunderts auf. Vorher ist auch im

Zusammenhang eines deutschen Textes nur das lateinische 'fanaticus' üblich. Wesentlich
früher belegt ist das Adjektiv 'fanattisch' (1588). Durchsetzen kann es sich nicht, d~nn die
Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts bieten für das lateinische 'fanaticus' und das
französische 'fanatique' kein deutsches 'fanatisch' an. Das Wort bleibt also bis in die Mitte
des 18. Jahrhunderts selten. Auch das abstrakte Substantiv 'Fanatismus' wird erst in der
zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts üblich. Es löst das vorher gebräuchliche 'Fanaticismus'
ab, mit dem es eine Zeitlang parallel läuft. Ende des 18.Jahrhunderts sind alle drei Wort-
arten im Deutschen allgemein verfügbar, lassen sich aber nur i;1 Frenulwül'Lerbüuhern
nachweisen. SCHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 204 f.; cf. auch die Lexika: erst die Dt. Enc.,
Bd. 9 (1784), 490 und RoTH Bd. 1 (1788), 205 bringen das deutsche 'Fanaticker', während
vorhei· das Stichwort lateinisch ist, so bei GLADOW (1728), 257; ZEDLER Bd. 9 (1735), 212;
JABLONSKI (1748), 319; WALCH 2. Aufl. (1740), 913; ÜERTEL 2. Aufl., ßd. 1 (1806), 256;
CAMPE, Fremdwb., 2. Aufl.. (1813), 311 f.
4 Zur Etymologie vgl. KLUGE/MITZKA 18. Aufl. (1960), 183.

303
Il. 2. Reformadonszelt .

'fanum' im Römischen ein so weiter Begriff war, daß er wertfrei auf alle Gottheiten
angewendet werden konnte und erst bei den christlichen Autoren „ci:tm nota abo-
minationis" das „sacrum gentilium" bezeichnete, war 'fanaticus' im engeren Sinne
von Anfang an auf den Bereich der Kulte außerrömischer Gottheit bezogen (Bellona,
Magna Mater, Isis, Kybele und Serapis). 'Fanatici' hießen die Priester dieser orgi-
astischen Kulte 5 • Von der Staatsreligion her gesehen benannte man also mit 'fana-
ticus' den Außenseiter.
Das Wort war so einerseits terminus technicus für fremde Kulte· mit bestimmten
Erscheinungsformen. Andererseits, im weiteren Sinne, war es synonym mit 'divino
furore tactus' oder sogar mit 'insaniens', 'furiosus', bezeichnete damit also eine Ver-
haltensweise oder einen psychischen Zustand, der vom Maßstab der römischen
aequitudo animi negativ bewertet und als Krankheit angesehen wurde. So werden
bei HoRAZ die im fanaticus error Begriffenen denen, qui sapiunt, gegenübergestellt6 •
Im christlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff dann - ohne die Erschei-
nungsform zu berücksichtigen - generell den heidnischen Kult(diener), so daß
'fanaticus' im Sinn von 'daemoniacus' („vom bösen Geist besessen")7 nur noch
pejorativ gegen- oder außerchristlich verwendet werden konnte. Der Wahrheit
christlichen Glaubens wird fanaticus error entgegengestellt, 'fanaticus' und 'paganus'
werden - wie auch im Mittelalter - gleichgesetzt8 •

2. Reformatiomzeit

Inwieweit der Begriff 'fanaticus' in der theologischen Auseinandersetzung dieser


Zeit eine besondere Rollo gospiolt hat, läßt sich an Hand dor bis heute erschlossenen
Belege nicht abschließend beantworten. Auf jeden Fall scheint es kein zentraler
Begriff in dem Konflikt zwischen dem Papsttum und den Reformatoren gewesen
zu sein9• Diese Stelle haben wohl eher die Wörter 'haereticus' und vielleicht 'super-
stitio' eingenommen. 'Fanaticus' ist, wo es belegt werden kann, zur Bezeichnung
religiöser Splittergruppen verwendet worden. So hebt LUTHER 1520 fanaticas
opiniones der anabaptistae als religiös verwerflich, aber ohne Bezug zu politischen
Folgerungen hervor10 . Die 1588 erschienene Streitschrift von F. JOHANNES NASS
„Anarieosis. Vieler wunderbarlichen Religions händel beschreybung . . . Denen
zuwider/ So ilieReR Jar Christi Achtzig acht/ zu gar Fanattisch haben verdacht/
samb es alles müst zu Boden gehn", eine Geschichte der Ketzerei einschließlich
Luther, führt zwar 'fanattisch', vielleicht um auffallend zu wirken, im Titel, macht
es aber keineswegs zu einem hervorgehobenen Terminus des Textes. Das Wort war

5 TLL Bd. 6 (1913), 269 ff.


8 HORAZ, Ars poetica 453 ff.
7 TLL Bd. 6, 270.
8 Du CANGE L. 8 (Nu1·. 19M), 413.
9 Die Überprüfung einer Auswahl Lutherischer Schriften (deutsch und lateinisch), die den

möglichen Sachbereich treffen, war negativ. Auch das Luther-Wörterbuch von Dietz brachte
keinen Erfolg, was wenig heißen will. Eine Überprüfung der von SIEGFRIED HOYER, Luther
und die Häresien des Mittelalters, in: 450 Jahre Reformation, hg. v. LEo STERN u. MAX
STEINMETZ (Berlin 1967) herangezogenen Stellen war ebenfalls negativ.
io LUTHER, WA Tischreden 5232b, Bd. 5 (1919), 20.

304:
Il. 3. K.ampfhegrift' in England und Frankreich Fanatismm

offenbar im Deutschen noch nicht heimisch. Dazu paßt, daß das deutsche Wort
'fanatisch' sehr lange keinen Eingang in die Wörterbücher findet, wenn lat. 'fana-
ticus' übersetzt werden soll, während franz. 'fanatique' und ital. 'fanatico' immerhin
seit dem Ende des 17. Jahrhunderts als Übersetzung für 'fanaticus' nachzuweisen
sind11•
Gegen 'fanaticus' als Terminus von besonderer Bedeutung spricht auch, daß BE-
SOLD diesen Begriff zwar kennt, aber· keinen Artikel „fanaticus" führt. Seine Defi-
nition von 'fanaticus' bezieht sich noch allein auf den religiösen Bereich und deckt
sich weitgehend mit der von 'haereticus'. So verwendet Besold die beiden Begriffe
unterschiedslos, wenn er an einer Stelle von den Wiedertäufern sagt: Homines
fanatici ... nullo fudicio nixi rationis et legis naturae expertes, omnia divina et huma-
na pervertere coeperunt ... quo ... nullus esset magistratus, nullis viveretur legibus, an
anderer Stelle die Häretiker definiert: H aeretici plerumque etiam sunt seditiosi, rerum
novandarum in politicis avidi: eorum proprium est mentiri et demonstrationes quaerere,
enthusiasthe et anabaptistico furore perciti ad horrenda etiam facinora sunt proni 12 •
Neben dem Vorwurf der religiösen „Unvernunft" (d. h. eines Glaubens, der sich
nicht auf die richtige Urteilsinstanz bezieht) wird aber bereits bei Besold deutlich,
daß auch die politisch-sozialen Wirkungen dieser religiösen Sektierer im Blick sind:
Sie stellen eine Bedrohung der gefügten Ordnung (des Staats, der Gesetze) dar,
weil sich ihre religiöse Haltung in unerwünschtem Handeln äußert. Dieses Prädikat
der politischen Aktivität, das noch bei Luther nicht unbedingt dem Begriff anhing,
tritt in der Folgezeit zunehmend hervor, ohne daß der Aspekt des Aufständischen
eo ipso im Begriff 'fanaticus' enthalten sein muß.

3. Kampfbegriff in den konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen


Englands und Frankreichs
Die Übertragungen in den Wörterbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts machen
deutlich, daß 'fanaticus' über eine engere theologische Bedeutung hinausgehen und
sich von ihr lösen konnte. Das Wort konnte sodann eine formale psychologisch
bestimmte Bedeutung - wie schon in der Antike - gewinnen und allgemein „Be-
sessenheit, Außersichsein, Extravaganz" bezeichnen13• In solchem Sinne wurde
vom „homo fanaticuR" gesprochen. RoHJlllt'l' Es'l'IENNE defilllert 1538 einen homo
fanaticus als transporte et hors de soy und spricht bereits damals von fanatici philo-
sophi14, wobei aber nicht zu erfassen ist, welche Vorstellungen er damit verbindet.
Vielleicht ist es nur eine Anleihe bei Cicero (Div. 2, 118). Fanaticus ist für ihn 1549
neben furiosus, rabidus, rabiosus eine lateinische Übersetzung für das französische
enrage16 • STIELER übersetzt 1691 das Wort vage mit Flattergeist. Klarer wird der
religiöse Bezug wiederhergestellt, wenn er Geisterei mit persuasio fanatica oder

11 Dict. Ac. fran9„ t. 1(1694),436; CASTELLI (1700), 252; vgl. Anm._3.


12 BESOLD (1641), 949. 461. Die späteren Ergänzungen zu Besold bringen nichts Neues.
1s Hierzu französische Belege schon aus dem 16. Jahrhundert bei FruTz SCHALK, Über fana-
tique und fanatisme, in: ders„ Exempla romanischer Wortgeschichte (Frankfurt 1966), 70.
B ESTIENNE (1538), 286.
lo Ebd„ 2e 6d. (1549), 625.

20---90386/1 305
Fanatismus II. S. Kawpfhegrift' in England und. Frankreich

superstitio überträgt und fanaticus und superstitiosu.~ als Synonyme gebraucht16 •


Das französische Akademiewörterbuch von 1694 gibt einen ganzen Fäoher von
Bedeutungen für· fanatique, das also damals schon als französisches Wort existierte :
fou, extravagant, aliene d'esprit. Qui croit avoir des inspirations, schränkt aber weit-
gehend, wie bisher abwertend verstanden, auf den religiösen Bereich ein: Il ne se
dit guere qu'en fait de Religion1 7 •
An der Wende zum 18. Jahrhundert ließ sich fanaticus mit besessen, unsinnig 18 ,
schwärmerisch, Schwärmer, Schwindelgeist 19 , von einem Geist besessen, ein Phantast 20
übertragen, nicht aber mit einem deutschen 'fanatisch'.
Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß das im Deutschen um 1700 noch
kaum eingebürgerte Wort zwar traditionell auf den religiösen Bereich beschränkt
geblieben, aber von paganus über haereticus zu „sektiererisch" und zur abwerten-
den Bezeichnung für „intUitive Inspiration", gegensätzlich zu „rechtgläubig", ge-
worden war, d. h. inhaltlich definiert wurde, von da aus aber auch psychologisch -
formal - im Sinne von Besessenheit oder Außersichsein verallgemeinert und sekun-
där auf Konsequenzen im politischen Bereich übertragen werden konnte.
Während 'Fanatismus' in der Folgezeit im theologisch-philosophischen Bereich aus-
giebig verwandt und - so in England und Deutschland - zusammen mit den
Phänomenen „Schwärmerei" und „Enthusiasmus" abgehandelt wurde 21 , drang
auf der anderen 8eite '~'anatiker' in den Sprachgebrauch der aktuellen politischen
Riohtungokiimpfc. Entgegen der Meinung in der For11chung 22 , die KLUGE/MI1'ZKA
folgt, ist nicht zuerst in Frankreich, sondern in England 'Fanatiker' zu einem zen-
t.ralen Begriff in der politisch-religiösen Auseinandersetzung geworden. Hier finden
sich auch die ersten ausführlichen Definitionen. Die Restauration der Mon11.rohie
und damit auch der englischen Staatskirche brachte seit 1660 vorübergehend ei:ne
Flut polemischer, meist anonymer Literatur hervor, die gegen die 'Fanaticks' ge-
richtet war. Der Personenkreis der Adressaten läßt sich nicht genau erfassen, ge-
hörte aber insgesamt den verschiedenen pruLesLanfomhen Splittergruppen an. 1661
wird z. B. von Anabaptists, Fifth-monarchymen, Levellers and Quakers 23 gesprochen.
Wahrscheinlich war 'fanatick' eine allgemeine Bezeichnung für die Dissenters. Der
Begriff wurde zum diskriminierenden Attribut für politische (und religiöse) Gegner
und fand Aufnahme in die politischen Pamphlete. Das wird besonders deutlich in
der „Bibliotheca Fanatica or the Fanatick Library ... Presented to the College of
Bedlam" (1660) 24 • Hier werden bedeutenden Politikern der radikal-puritanischen
Seite fingierte literarische Erzeugnisse zugewiesen, die angefüllt sind mit aktuellen
Anspielungen.

18 STIELER (1691), 638 f.


17 Dict. Ac. frans;., t. 1 (1694), 436.
1 8 Nouveau dictionnaire du voyageur, 3e ad. (Genf 1703), 446.
19 CASTl!lLLI (1700), 252.
20 POMEY, Magn. Dict. Reg. (1709), 124.

~ 1 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei SPAEMANN, Fanatismus, 258 ff.
22 SCHALK, Fanatique und fanatisme, 61.
23 Semper iidem, or a Parallele betwixt the Ancient and Modem Fanaticks (1661), abgedr.

in: Tlie Harleian Miscellany, vol. 7 (London 1810), 251.


24 Ebd., 141 f.

306
II. 3. Kampfhegriff in England und Frankrdeh Fanatismus

Charakteristisch für den englischen 'fanatick' war hiernach in den sechziger Jahren
die untrennbare Verquickung theologischer und politischer Motivation, die als ver-
dammenswert bewertet wurde. Dies zeigt deutlich eine Definition in einem Pam-
phlet aus dem Jahre 1661: „Semper iidem or a Parallel betwixt the Ancient and
Modern Fanaticks" (historischer Abriß von 1414-1660): The ancient and modern
fanaticks agreed exactly in these particulars; First, They pretended the motion and
impulse of the Spirit for what they did. Secondly, They declared against kings and magi-
strates. Thirdly, Against payment of tithes. Fourthly, Against the Whore of Babylon
and popish clergy ( only our moderns have gone farther, against even all kinds of clergy),
Fifthly, Against swearing in any case; and they alledged scripture for whatsoever, they
asserted, 'We will not', says The Door of Hope, 'hav~ any thing to do with the anti-
christian magistracy, ministry, tithes, etc. wich are none of our Lord's appointment, -
bitt false and Babylonish.' From such saint.s, am.d su.ch ma.rtys, gnnd T,nrd deli11er m1.r
gracious king and all his kingdoms26.
Bezeichnend ist auch, daß die fanatics in eine Reihe mit anderen bis dahin bekann-
ten und gescheiterten (!) „Irrgläubigen" gestellt wurden (vgl. oben Nass, Ana-
neosis), so daß ihre Diskriminierung zusätzlich geschichtlich begründet wurde. Ein
weiteres Beispiel für die affektiv polemische Belastung des Begriffs bietet .1 ORN
MILTON. Er prägt den Begriff des antifanatic 26 und gibt den Fanatismusvorwurf an
die Gegenseite zurück, wenn er die Predigt eines Gegners so foul a libell ... against
tlte whole reformed . . . church in comparison wherof you and your Prelatical party
are more truly schismatic and sectarians, nay more properly fanatics in your fanes
and childed temples, then those whom you revile by thi.~ nam.e.~ nannte 27 • Noch eindeu-
tiger läßt sich die aktuelle Bedeutung des Begriffes fassen, wenn er in einer Warnung
vor dem Königtum an „Rückfällige" ihn auf die Royalisten anwendet und die Ironie
durch Profanisierung erhöht28 •
Auch sieht Milton bereits die später immer Wieder - so besonders von Hmrn 29 -
erörterte Verbindung von Fanatismus und Freiheit. Betrachtet man die Ausschrei-
tungen des Fanatismus, it may be come with reason into the thoitght of a wise man,
whether all this proceed not partly, if not chiefly from the restraint of some lawful liberty
which ought tobe giv'n men and is deny'd them 3 0.
So stellte sich das Problem der Toleranz statt der Verketzerung der fanatics als

25 Semper iidem, 264, Das Bild des 'fanatick' wird durch eine weitere Schrift ergänzt Un.d

besonders hinsichtlich seines äußeren Erscheinens differenziert. Demagogische Züge, pathe-


tisches Auftreten, übertriebene Rhetorik treten in den Vordergrund. Die Gewichte scheinen
1675 gegenüber den Ausführungen der sechziger Jahre verschoben. Die politische Proble-
matik wird nur in allgemeinen Sätzen behandelt: „The Charakter of a Fanatick. By a
Person of Quality" (1675), in: The Harleian Miscellany, vol. 8 (1810), 79 ff.
26 Mn.TON, Brief Notes upon a Late Sermon Titl'd the Fear of God and the King (1660),
The Werks of John Milton, vol. 6 (New York 1932), 152.
27 Ebd., 162.
28 Ders., The Ready and Easie Way to Establish a Free Commonwealth and the Excellence

the1·of (1660), ebd., vol. 6, 139.


29 Dazu SPAElllANN, Fanatismus, 261 f.

so Mn.TON, The Ductrine and Discipline of Divorce (1643), The Works of John Milton,
vol. 3/2 (1931), 426.

307
Fanatismus II. 3. Kampfhegrüf in England und Frankreich

„madmen", d. h. einer nonkonformistischen Minderheit, die geschützt, statt aus-


getilgt werden sollte, die sich aber dafür politischer Agitation weitgehend enthalten
wollte 31 • Für HoBBES dagegen war gerade die religiöse Toleranz in der Zeit des
„Commonwealth" Signum für eine Zeit ohne Frieden: Nor were there any human
laws left in force to restrain any man from preaching or writing any doctrine concerning
religion that he pleased, and in this heat of the war, it was impossible to disturb the
peace of the state, which then was none 32 . Überhaupt sieht Hobbes in den fanatics nur
ein negatives Störelement und pernicious to peace. Auch er identifiziert: And what
is a fanatic but a madman?33
Im England des 17. Jahrhunderts ist also 'fanatick' ('fanatic'), sowohl formal wie
auch inhaltlich definiert, zum geläufigen Kampfbegriff geworden, der auf ordnungs-
gefährdende, nonkonformistische Gruppen angewandt wurde. Religiöses und poli-
tisches Anliegen sind verbunden, was HuME später klar ausspricht, wenn er den
Begriff der political fanatics prägt: Perhaps, the levellers, who claimed an equal
distribution of property, were a kind of political fanatics, which arose from the religious
species, and more openly avowed their pretensions. Zwischen den beiden Gruppen der
fanatics besteht bei Hume letztlich nur ein gradueller Unterschied. Ihre gesellschaft-
liche Wirkung wird in diesem Zusammenhang negativ gewertet: But the civil magis-
trate very justly puts these sublime theorists on the same footing with common robbers,
and teaches them by the severest discipline, that a rule, which, in speculation, may seem
the most advantageous to society, may yet be found, in practice, totally pernicious and
destructive 34 .
Auch in Frankreich wurde im Zusammenhang init den religiös-politischen Span-
nungen das l3edürfnis zu einer ähnlichen Wortverwendung wach . .Im Sinne staats-
katholischer Wertung nach der Aufhebung des Edikts von Nantes wurden diejeni-
a
gen, q1,i sont restez attachez l'Mresie de Calvin, als /anatiques bezeichnet, so beson-
ders die fanatiques des Oevenne~ 35 . Noch 1760 wurde darauf Bezug genommen:
Vocabantur ille fanatici Gebennenses prophetas sese ferebant divinoque afflari spiritu
simulabantur et catholicos quosdam per nomina citatos interfici praecipiebant 36 . Auf
der gleichen Linie liegt die Aussage ZEDLERS: Bezeichnung ... von denen, welche ...
die W afjen zur Verteidigung ihre.~ Glauben.~ ergriffen, weil sich wirklich einige unter
ihnen befunden, welche sich dergleichen Offenbarungen rühmten 37 . Wie gut verwend-

31 A Fanatic's Address, Humbly Presented to the Kind and his Peers, and also to his

Poeple in their Representative the Commons House of Parliament, in: A Collection of


Scarce and Valuable Tracts (Lord Somers), 2nd ed. by Walter Scott, vol. 7 (London 1812),
259. .
32 HOBBES, An Historical Narration Concerning Heresy and the Punishment thereof, EW

vol. 4 (1840), 407.


33 Ders., An Answer to a Book Published by Dr. Bramhall, late Bishop of Derry called the

„Catching of the Leviathan", ebd., 328.


34 HUME, An Enquiry Concerning the Principles of Morals, EW vol. 4 (1882), 188. 187; vgl.

SP..i.EllLl.NN, Fanati1im\1il, 262.


36 Dict. de Trevoux, 4° 6d., t. 2 (1734), 1656.

38 Di0Liu1111irium thcologicum portatile in quo cunc1J11i fidci dogmata et doctrinac mu1·a.l.is

placita ... exponuntur (Augsburg 1760), 191.


37 ZEDLER Bd. 9 (1735), 212. Die Rolle, die Jurieu dabei spielte, ist nicht ganz klar; vgl.

Dict. de Trevoux, t. 2 (Ausg. N ancy 1737), 1656: excitez par les pretendues propheties de J urieu;

308
Il. 3. Kampfhesrlil in England und Frankreich Fanatismus

bar 'Fanatismus' gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Kampf der Konfessionen
geworden war, zeigt die Kontroverse zwischen Bossuet und Jurieu, in der jeweils
der konfessionelle Feind zum Fanatiker gestempelt wurde. Das „innere Licht"
wurde von Bossuet als das Prinzip des Fanatismus (Protestantismus) im Gegensatz
zum consentement de l'eglise universelle bezeichnet, während Jurieu die katholische
Mystik als notwendigerweise zum Fanatismus führend herabsetzte 38 •
Aufschlußreich für die Beurteilung des Aufstands der Camisarden aus katholischer
Sicht ist das 1712 erschienene Buch von DE BRUEYS „Histoire du fanatisme de
notre tems" 39 • Als Vorwort gibt der Autor eine begri:ffserklärende Einführung, in
der der fanatique ausschließlich negativ beurteilt wird. 'Fanatisme' wird als maladie
d' esprit, als medizinisches Problem definiert. Die eigentlich theologische Auseinan-
dersetzung erscheint überholt: Le Fanatisme est proprement une maladie d' esprit, ou
a
une espece de melancolie et de manie, qui porte ceux qui en sont atteints se persuader
qu'ils emt le pouvoir de fair miracles et de propMtiser 40 • Die Gefahr der „Ansteckung"41
konstatiert er als eine Erfahrung dieser Zeit. Diese faux prophäes 42 , wie De Brueys
sie auch nennt, seien von den Sekten eingesetzt worden, pour se maintenir, nachdem
ihre Versammlungen verboten waren 43 • Es geht De Brueys darum, dem aufstän-
dischen VerlmlLeu auch vom religiö11en Standpunkt her den Bodon im entziehen,
eine politisch ins Gewicht :fallende Gruppe theoretisch zu bewältigen. Zwischen den
alten und neuen Häretikern sieht er einen grundlegenden Unterrmhied: Nous avons
v-a que ceux-ld ne se sont jamais souleves, ni n' ont pris les armes contre les Puissances
temporelles, lors meme qu'ils ont ete persecutes par elles pour des choses qui regardoient
a
le f onds de la Religion, et qui appartenoient Dieu; et que ceux-ci se sont soulevez et ont
pris les armes contre leur Roi, pour des choses qui regardoient l'exterieur de la Religion
a
et qui appartenoient Oesar 44 •
Sein „Traite de l'obeissance des chretiens aux Puissances temporelles", vorher ge ·
sondert erschienen, bildete 1775 das vierte Buch seiner „Histoire du Fanatisme".
Es ist diesem Problem gewidmet, das sich seiner Ansicht nach nur in den Staaten
mit verschiedenen Konfessionen stellt. Ausgehend von dem biblischen Satz: Il faut
rendre a Oesar ce qui appartient a Oesar et a Dieu ce qui appartient a Dieu sucht er
nachzuweisen, daß die politischen Handlungen von der Gegenseite gegen die auch
von den Protestanten anerkannten göttlichen Gebote verstoßen haben. Seine Aus-
führungen gipfeln darin, daß er der religiösen Minderheit eines Landes jedes Wider-
standsrecht abspricht, wenn ihre innerenreligiösen Gesetze mit den weltlichen kol-

ebenso D:E BRUEYS (s. Anm. 39); dazu auch CHR. K. HOFMANN, Geschichte des Aufruhrs in
den Sevennen unter Ludwig XIV. (Nördlingen 1837), 33 f.; er wendet sich gegen De Brueyti.
38 Zit. SPAEMANN, Fanatismus, 258.
39 D. A. DE BRUEYS, Histoire du fanatisme de notre tems, nouvelle ed., augmentee du

Traite de l'obeissance des chretiens aux puissance temporelles, 4 t. (La Hay 1755). Das
Datum der ersten Aufl. differiert, so bei HERZOG: l 70!1-l 7lfi; im Dict. de Trevoux dagegen
wird als Datum 1712 angegeben.
40 Ebd., t. 1, 13 f.
4 1 Ebd., 14 f.

40 Ebd., 14.
43 Ebd., 22.

44 Ebd., t. 4, 250 (Traite).

309
Fanati11D1m TI. 4. RP.Jigiöse Gebundenheit des Begrifi'11 in Deutschland

lidieren. Ihre einzigen Waffen sind Flucht, des supplication, des larmes, et des prie-
res45. Er beruft sich dabei auf Autoritäten wie Melanchthon, Luther und Calvin46.
Es geht De Brueys also letztlich nicht darum, seine Gegner theologisch zu widerle-
gen, sondern darum, sie politisch auszuschalten. Wenn er von 'fanatique' spricht,
ist mit der theologisch-inhaltlichen Komponente untrennbar die Art verbunden,
wie sich diese Haltung politisch umsetzt. Letzteres steht bei ihm im Vordergrund
und macht für ihn das Typische des Fanatikers aus, nämlich: leur desobeissance
criminelle ... ' leur revoltes ... ' le z~le, qui les transporte . . . la prise des armes contre
leur Roi ·... , des cruautes4 7 • .
Auch in Frankreich hat sich also die Art, wie sich die religiösen Gruppen politisch
äußerten, im Begriffsverständnis niedergeschlagen. Neben traditionellen inhalt-
lichen Begriffsbestimmungen tritt nun in aktuellen religiös-politischen Auseinander-
setzungen immer mehr die politische Erscheinungsform und ein ganz bestimmter
pathologischer Aspekt, nämlich Grausamkeit in den Vordergrund. Entsprechend
wird im „Dictionnaire de Trevoux" zwar von der religiösen Wurzel des Fanatismus
ausgegangen, aber die politisch-soziale Konsequenz besonders hervorgehoben: Ces
fanatiques qui contrefont les inspirez sont les seditieux capables de tout entreprendre
pour executer les pretendus reve'lations, .oder: Le fanatisme . . . est pernicieuse et la a
a
religion et la societe48.'
Auch BAYLE sieht in den fanatiques vorzüglich ihre Gefährlichkeit für den Staat,
ihre Fähigkeit, Völker aufzuwiegeln, und die Ansteckungsgefahr, die von ihnen aus-
geht49. Bei ihm zeigt sich allerdings schon eine wichtige Differenzierung in der Beur-
teilung, wenn er die „echten" Fanatiker, die er eher positiv bewertet, von denen
unterscheidet, die Fanatismus nur heucheln, um ihre eigenen Interessen zu verfol-
gen, qui n' ont pour mtt q~te d' exciter des guerres et des seditions . . . ce sont de.~ pe.~te.y
publ·iques 50 •

4. Festhalten an der religiösen Gebundenheit des Begriffs in Deutschland

Die englische und französische Politisierung des Begriffs ist in Deutschland kaum
mitvollzogen worden. Ganz im alten Sinne sagt GLADOW (1728): fanaticus heißt ein
Schwärmer, der d·ie He·ilige Schrift verwirft und wunderliche und gefährliche Lehren
hegt51 • Ihm folgt JABLONSKI wörtlich (1748) 52 ; ebenso definiert HÜBNER, der aber
noch folgenden Zusatz bringt (1737): Wiewohl heutzutage mancher rechtschaffener
Ohriste, der nebst der reinen Lehre auf ein frommes Leben dringet, sich mit diesem Na-

45 Ebd., 248.
48 Ebd.
47 Ebd., 255 f.; das FEW Bd. 3 (1949), 409 deutet die Möglichkeit an, daß sich von hier aus

die Bedeutung „fän11,ti!]_11A: CJ.ll'un 7.AlA 11,v1111gl11 po11r l.a. religion pousse a des excea" entwik-
kelt hat; dann sei die Bedeutung auf 'fanatisme' übertragen worden.
18 DicL. lle Trevoux, 4° M., t. 2, 1656.
49 BAYLE 5e ed., t. 5 (1734), Register, 40.
60 Ebd., t. 2 (1734), 151.

61 GLADOW (1728), 275.


52 JABLONSKI (1748), 319; 2. Aufl. (1767), 439.

310
Il. 4. Rellgi&e Gebuudeuheil dea Begriffs in D-tscbland Fanatismus

men spottweise muß belegen lassen53 • Ähnlich wird auch bei HöNN (1743) tätiges
Christentum mit der Bezeichnung 'fanaticus' zusammengebracht,; auch hier wehrt
sich der Autor gegen eine solche Bezeichnung54 • Der Begriff meint 'hier also nicht
mehr den verwerflichen, ja gefährlichen Außenseiter im Sinne von ,;Schwärmer,
Ketzer, Aufrührer", sondern den von seineni inneren Christenleben aktiv Zeugnis
gebenden Gläubigen. Auch als „Sektenname" („Fanatiker" in der Nachfolge Jakob
Böhmes) ist das Wort belegt55 • Von da ~us ist es nur noch ein kleiner Schritt zu
weiterer Dehnung des Begriffs, wenn, wie in England und Frankreich56, die Unver-
nunft oder die gefühlsmäßige Eingebung des „Fanatikers" nicht mehr nur am
kirchlich bestimmten Dogma, sondern auch oder gar stattdessen an Normen pro-
faner Vernunft hr.w. am VArhaltim Aines durch Vernunft disziplinierten Menschen
gemessen wird. Schon LEIBNIZ (1704) tat diesen „Schritt von der orthodoxen zur
rationalistischen Fanatismuskritik" 57 , indem er nicht nur das „innere Licht" un-
mittelbarer Offenbarung, sondern auch die Bestätigung uer O.ITenbarung durch
Wunder in Frage stellte. Er unterschied zwischen ph.ilo.~ophie raisonnable und philo-
sophie fanatique und rückte 'Enthusiasmus' und 'Fanatismus' in einen engen Sinii-
zusammenhang58. So auch WALCH in seinem „Philosophischen Lexikon" (1740):
Eigentlich ist z·wisclten dem Enthusiasmo und dem Fanaticismo dieser Unterschied,
daß ein Enthusiasthe in Sonderheit mit göttlichen Eingebungen und Regungen zu tun
!tat; e·in Fanaf;ic·us aber zu seinem objecto nicht allein dieses, sondern auoh nooh aller
hand närrische Dinge, die er .9ich bloß für wahr einbildet und eben nicht als göttliche
Eingebungen ausgibt (17 40) 59 •
ROTH definiert 1788: Fanatiker ist ein Mensch, welcher keine festen Grundsätze in der
Religion hat, dessen Religionsmeinungen ·in kidnem vernünftigen Zu.~amm.enhange
stehen, sondern einander entgegenlaufen und die weder mit der Heiligen Schrift noch
mit der gesunden Vernunft bestehen können, ein 'l'räumer in Religionssaclten 60 • Dazu
paßt die Definition von 'Fanatismus' als einer leeren Einbildung, die ein Mensch von
s·iclt rnacltt, daß tJr ·unter e·iner wnm·ittelbaren Leitung und Erleuchtung Gottco oteho
(1777) 61 •
In der „Deutschen Encyclopädie" (1784) wird das Spektrum der deutschen Ver-
wendungsmöglichkeiten des Begriffs im 18. Jahrhundert mnfassend mitgeteilt. Der

53 HÜBNER (Ausg. 1737), 353; ebenso die Ausg. von 1745. Der Zusatz fehlt in der Ausg.

von 1769.
54 GEORG PAUL HöNN, Betrugs-Lexikon (Ausg. Leipzig 1743), Fortsetzung, 28. Vgl.

SPAEMANN, Fanatismus, 258.


56 Dict. de Trevoux, 4e 0d., t. 2, 1656.
5 e SPAEMANN, Fanatismus, 259 f.
57 Ebd., 261.
58 G. W. LEIBNIZ, Nouveaux essais sur I'entendement humain, Opera, 204.
59 WALCH 2. Aufl. (1740), 913; ähnliche Ausführungen finden sich bei ZEDLER; cf. auch

HÜBNER, Handlungslex., 6. Aufl.. (1731), 723; er siedelt den Begriff sowohl in weltlichen
als sond,erlich in geistlichen Dingen a,n.
00 ROTH Bd.1(1788),205; die Definition wurde als Variante in die Dt. Enc. aufgenommen.

61 Wider den Fanaticismus (Frankfurt, Leipzig 1777, anonym), 5. Vgl. ähnlich WIELAND,

Teutsoher Merkur (1775), zit. SCHALK, Fanatique und fanatisme, 62.

311
Fanatismm II. 5. Revolutioniirc Wende vor 1789

Autor geht aus vom religiösen Ursprung des Begriffs, als dessen Kriterien innerliche
Triebe und Gefühle oder auch Begeisterungen zum Bestimmungsgrunde des Glaubens
oder der Handlungen angegeben werden. Solch gefühlsbetontes Christentum, das in
der Fertigkeit guter Gesinnungen und Handlungen bestehe, sei nicht zu tadeln und
nicht mit der Wertung des Fanatismus zu belegen. Zum Fanaticismus werde es erst
dann, wenn es nicht im göttlichen Worte gebunden, sondern vielmehr selbst als Be-
stimmungsgrund angesehen werden solle. Doch kennt der AutOI' auch die psycholo-
gische Freisetzung des Begriffs (Enthusiasmus, Begeisterung, Schwärmerei). F anati-
ker sei ein allgemeiner Begriff, von welchem der Enthusiast und der Schwärmer nur
besondere Arten sind. Unwissenheit und Aberglaube - sei dieser von der Heiligen
Schrift oder von der gesunden Vernunft aus gemessen - lägen der Verworrenheit des
·Fanatikers zugrunde. Im Ansatz wird der Bezug zum politisch-sozialen Bereich
hergestellt, wenn festgestellt wird, daß der Schwärmer zum Fanatiker werde, wenn
er missionarischen Eifer zeige, .~ei>ne M ei:nu1n-r1en andern müteüt, sie ausbreitet und
sich Anhang zu machen sucht 62 • Doch werden, anders als in Frankreich und England,
keine weiteren Folgerungen gezogen. 'Fanatismus' ist hier nicht zum politischen
Kampfbegriff geworden. Aber die Bindung an die christliche Rechtgläubigkeit ist
gelockert, wie bei MEISTER, der 1775 erklärt: Der Unglaube hat so gut seine Fanatiker
(J,l.~ ib:e Religinn .~elbP.r63,

5. Die revolutionäre Wende des Begriffs vor 1789

Während im Deutschland des 18. Jahrhunderts der .Fanatiker ein Außenseiter


gegenüber der wohlgeordneten Welt blieb, die durch die versöhnliche Verbindm1g
von HeiligAr Schrift und Vernunft gekennzeichnet war, wurde in Frankreich, beson-
ders durch Voltaire und die Encyklopädisten, die Kluft zwischen Vernunft (lu-
mieres) und katholischer Rechtgläubigkeit (obscurantisme) aufgerissen. Damit
wurde das Verdikt dctJ „blinden" Eifers (Fanatismus) in der Sicht der „philo11ophe11"
von den nicht mehr wichtigen ketzerisch-schwärmerischen Randexistenzen der
Gesellschaft gelöst und auf den kirchlich geförderten Wunder- und „Aberglauben",
damit aber auf die Kirche selbst, auf „Priesterherrschaft" und das mit ihr verbun-
dene politische System im ganzen übertragen. So verstanden, rückte VoLTAIRE
superstition und fanati:.wne eng zusammen. Das bisher einzige gescLicLLlicLe Bei-
spiel einer nicht fanatischen Religion war für ihn die „philosophische Religion" des
Konfuzianismus 64 . Klarer und umfassender als bei Voltaire wurde in der „Ency-
clopfldie"65 f(J,nati,~m.P. alR .~npP.rstü11#on m.ise en a.cti:on zum geschichtsphilosophischen
Inbegriff aller bisherigen Religionsgeschichte sowie der überfälligen kirchlich-politi-
schen Verfassung am Vorabend der vorausgesehenen großen Wende, in welcher der
durch verordneten Irrglauben und Fanatismus verderbte Zustand der menschlichen

82 Dt. Enc., Bd. 9 (1784}, 490.


83 LEONHARD MEISTER, Ueber die 8chwermerei. Eine Vorlesung (Bern 1775), 53.
84 Belege bei RPA F.M ANN, Fanatismus, 264.
85 Encyclopedie, 3e ad., t. 32 (1779), 71 ff., Art. Superstition; dieselben Ausführungen

finden sich Rchon Ahn., t,. 15 (1765) tmter dem Artikel-Stichwort „Fanatisme", 669 ff.; zitiert
wird im Folgenden nach der 3. Aufl..

312
II. ö. Rcvolutionllre Wende vor 1789 Fanati11mn11

Welt durch ein Zeitalter der „Humau.iLäL" abgelöst werden sollte. Der fanatische
Aberglaube, c' est le plus terrible ßeau de l'humanite. L' atheisme meme ( c' est tout dire)
ne detruit point cependant les sentiments naturels, ne porte aucune atteinte aux lois, ni
aux moeurs du peuple; mais la superstition est un tymn de.~potiq11,e qui /ait tout ceder a
a
ses chimeres. Ses prejuges sont superieurs tous les. autres prejuges. Un athee est
a
interesse la tranquillite publique, par l'amour de son propre repos, mais la superstition
/anatique, nee du trouble de l'imagination, renverse les empires 66 • Der Fanatismus
wird verantwortlich gemacht für toutes les erreurs de quinze siecles ... le glaive tire
entre le fils et le pere; des usurpateurs, des tyrans, des bourreaux, des parricides et des
sacrileges violant toutes les conventions divines et humaines par esprit de religion
voila l'histoire du /anatisme et ses exploits 67 •
Aus dem im Artikel ausführlich beschriebenen Verlauf der heidnischen, islamischen
und christlichen Geschichte des Fanatismus (les progres du /anatisme) 68 folgt seine
historisch begründete Definition: 0' est l' efjet d'une /ausse conscience qui abuse des
choses sacrees, et qui asservit la religion aux caprices de l'imagination et aux dereglemens
des passions 69 • Aus einem „wahren Bewußtsein" soll und wird demnach die Befrei-
ung der Menschen (le peuple libre) vom Fanatismus folgen. L'esprit philosophique
est le grand pacificateur des etats 70 . 'Fanatismus' war also das Merkmal der bisherigen
GeRr.hir.hte, die sich nicht nur von cfor Vernunft, sondern auch von Christus, dem
plus lmrnwin des legislateurs, und seinem esprit de charit671 entfernt hatte. lm .Kr-
wartungshorizont der kommenden Welt des .lfriedens hatte Fanatismus keinen
Platz mehr.
Als dieser Artikel, cfor repräsentativ für die auf die Revolution vorausweisende fran-
zösische Aufklänmg stehen kann, geschrieben wurde, war es noch nicht, wie nach
1789, möglich, den Vorwurf des Fanatismus von der Seite der angegriffenen Kirche
an die „philu1:1uphe8" zurütJk:wgeben. Denn noch fehlte die Erfahrung cincß „F11na
tismus" derjenigen, die eine neue Zeit gegen die bisherige Geschichte des Fanatismus
heranzuführen hofften. Doch ist es bemerkenswert, daß im gleichen Artikel, außer-
halb des eigenen Denkzusammenhangs, mit einer gewissen Zurückhaltung registriert
wurde, daß es une sorte de /anatisme dans l'amour de la patrie gebe, der wie ein culte
des /oyers in den national-religiösen Sitten gegründet sei. Der patriotisme der Römer
sei dafür das große Vorbild. Der Verfasser löst sich von der These seiner Geschichts-
philosophie, wenn er hier feststellt: On ru~ pe1J,t rien produire de grand sans ce zele
outre qui ... met au jour des prodiges incroyables de valeur et de constance 72 •
Nur nebenbei und gegensätzlich zur propagierten Bedeutung wird hier also ein Weg-

66 Ebd., 71.
67 Ebd., 80.
68 Ebd., 77.
69 Ebd., 80.
70 F.h<l., 8~ f.
71 Ebd., 77.
·72 Ebd., 86. In der Forschung wird im allgemeinen für eine positive Wertung.des negriffs
aufRousseau verwiesen und von hier der Bogen zu Hit.ler geRp1mnt: VmTOR Kr.EMFERER,
Die unbewältigte Sprache, 3. Aufl. (Darrm1Ladt 1900), 07; DERNING (1964), 75 spricht von
„einer ganz vereinzelt stehenden Wertung von FanatiRmuR"; HcmATiK, .lfanatique und
fanatisme, ßl weiRt mit Recht auf die Ambivalenz des Begriffes bei M1'1" de Stael hin.

313
F1111atismas II. 5. Revoh1tionäre Wende vor 1789

weiser für eine grundsätzlich neue Richtung der Begriffsgeschichte von 'Fanatis-
mus' aufgestellt: der ursprüngliche Bezug ist aufgegeben; mit Hilfe des Vielseitig
verwendbaren psychologischen Aspekts wird der formalisierte Begriff inhaltlich neu
gebunden und affirmativ umgewertet.Was in der „ Rncyclopedie" nur nebenbei und
ohne Verbindung zum „philosophischen" Programm festgehalten wurde, das ge-
hörte bei RoussEAU in die Mitte seiner politischen Philosophie. 'Fanatismus' wird
von ihm trotz seiner Grausamkeit als eine passion grande et /orte bezeichnet qui
eleve le coeur de l'homme, qui lui fait mepriser la mort, während die irreligion, et en
general l' esprit raisonneur et philosophique, zur Verweichlichung und zur Niedrigkeit
des Partikularinteresses führe und damit les vrais fondements de taute societe zerstöre.
Die volonte generale (wenn auch an dieser Stelle des 11 Emile" nicht ausdrücklich
genannt) bedarf, so kann der Kontext gedeutet werden, fanatischer Tugen<l.bewäh-
rung. Im Gegensatz dazu steht die indifference philosophique, die zur Todesruhe des
Staats unter dem Despotismus passe und daher zerstörerischer als der Krieg selber
sei. Mit 'Fanatismus' bezeichnet also Rousseau Leidenschaft und ungebrochene
Kraft des Willens zum Kampf für Werte, die oberhalb der Selbstliebe und des Eigen-
interesses stehen und den einzelnen zur Opfertat für das Gemeinwohl befähigen 73 •
Rinschränkend ist allerdings zu bemerken, daß die angeführte Stelle im „Emile"
offenbar bei Rousseau vereinzelt ist. Auch wenn, wie z. B. ausführlich im „Discours
sur l'P.r.onomie politique", von Vaterlandsliebe und Römertugenden die Rede ist,
wird das Wort 'fanatisme' dabei nicht gebraur.ht. Es war also entbehrlich und wurde
vor der Französischen Revolution offenbar wenig im Sinne der neuen Wertung
Rousseaus verwendet. Das galt besonders für den deutschen Sprachraum, wo sowohl
die Sicht_ der „Encyclopedie" als auch die Rousseausche Umwertung des Begriffs
allenfalls nur abgeschwächt belegbar sind. So betonte WIELAND die Beziehung von
Aberglwube'lb •wnd Fanatismus, denen er - skeptischer als die „Encyclopedie" - den
Geist der Toleranz entgegensetzte 74 • J!'anaticismus war für ihn traditionell etwa
gleichbedeutend mit Schwärmerei, die als Krankheit der Beele dem Enthusiasmus
(=wahres Leben der Seele, in der Gott wohnt) gegenübergestellt wurde7 5 •
Andererseits wurde von antirationalistischer Position aus, vorsichtiger als bei
Rousseau, 'Fanatismus' politisch aufgewertet und - gleichfalls inhaltlich entleert-
in die Nähe von 'Enthusiasmus' gerückt, so in des Schweizers LEONHARD MEISTERS
Vorlesung „Über die Schwermerei" (1775): Gefährlich ist immer der poli:ti.Yche
Enthusiasmus, gleichwohl scheint er nicht weniger bei großen Unternehmungen not-
wendig76. Die Frage, ob ein Verhalten gut oder verwerflich sei, wird danach beur-
teilt, ob der Gegenstand wahr und .~olid i.yt 77 , und damit ein irrationa,les Verha.lt.en, für
das nunmehr auch das Wort 'Fanatismus' zur Verfügung stand, positiv gewertet. So
konnte be~ ein und demselben Autor politischer Enthusiasmus (l!'anatismus) ver-

73RoussEAU, Emile, Oeuvres, t. 4 (1823), 116; vgl. SPAEMANN, Fanatismus, 265 f.


74 WIELAND, Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen, AA 1. Abt.,
Btl. 15 (1930), 154 f., zit. SuHALK, J!'a.na.tique und f'anatisme, 64. Vgl. dazu KANT, zit. ebd.,
_66.
73 WIELAND, Teutsoher Morkur 4 (1775), 152 f.
78 MEISTER, Schwermerei, 17.
77 Ebd., 20.

314
II. 5. Revulutioniire W endfl Tor 1789 Fauatu111us

teidigt und ein religiöser Fanatismus als Feind der Vernunft und Religion7 8 scharf
verurteilt werden.
Schärfer noch konnte zu dieser Zeit gegen eine Philosophie zu Felde gezogen werden,
bei der das Beste am Mcnsohen VMnunft ist; strenge richtige Kälte derselben gilt über
alles ... Ein Lichttempel voller Eiszapfen 79 . Das Problem religiöser Schwärmerei ist
nach STOLZ' Ansicht nicht behandelt, wenn man, wie das vielfach, z. B. bei Vol-
taire, geschah, auf die Bartholomäusnacht hinwie~: H·ie·r meine Ilerren ist auch so
einer, der ebenfalls einmal so die bürgerliche Ruhe stören und Unheil anrichten könnte 8o.
Dabei sollte für die religiöse Schwärmerei Raum gewonnen werden, indem ihre poli-
tische Gefahr negiert wurde. Dies lag für Deutschland auch ohne weiteres nahe und
wurde am Beispiel der Pietisten erörtert: Unserm Zeitalter Winke und so hämische
Winke geben, sich vor Schwärmerei in acht zu nehmen, dünkt rrvich ebenso tiefklug, wie
wenn ich Hottentotten vor Mißbrauch· wolfischer Philosophie warnte ... 81 . Die so
geheißenen Pietisten sind im Stillen, te-ilen 1J"iclt wewig m·it, und ilire Denkart breitet sich
selten weit umher . . . 1)1an vergleiche anbei eine Versammlung pietistischer Menschen
mit einer assemblee parisischer beaux esprits und frage sich dann, woher m:ehr Unheil
in die Welt komme, welche mehr zur Propagation· menschlichen Unglücks beitragen,
welche:s System konsequent befolgt,, den Thronen der Könige und der Sicherheit der
Staaten und dem Segen der Familien nachteiliger sei und sein werde 82 •
Gegen einen kalten Ilationalismus setzte man sich so mit der Aufnahme des negativ
zugedachten, nun aber mit positiven Inhalten gefüllten Begriffs 'Fanatismus' zur
Wehr: Wenn dies (d. h. Sehnsucht nach einer Erscheinung und Offenbarung des
Herrn) Schwärmerei ist, gesegnet seid ihr mir, Schwärmer, gelbsüchtige, splenetische
wunderliche Fanatiker, die -ilvr lmag1:nation nicht vertilget, Gefühl nicht tötet, Men-
schenreligion nicht verschwinden laasct, Monsohan Trost und Stärke nicht ins Wasser
schmeißet und Christi Kraft nielit an den N!frdpul ·ve'/'setzet ... De·i Famatisme zeigen
sich doch noch Kräfte, es läßt sich noch was hoffen, aber woher neue Kräfte, wann die
alten ver&rwucAt s·ind?83
Bei den Gegnern des Fanatismus aber ist gerade die politische Gefährlichkeit einer
theologisch falschen Position im Blick. Ungebundenheit gegenüber den menschli-
chen Gesetzen unter Berufung auf die von Gott gewährte Freiheit und chiliastische
Tendenzen werden als Bedrohung jeder weltlichen Ordnung empfunden: Stehen wir
unter der unmittelbaren Gnade des Geistes, lehrt er u.ns .~fllber, wa.~ wahr, gerecht und
anständig ist . . . Was haben wir menschliche Gesetze nötig, den Gerechten ist kein Ge-
setz gegeben ... Es ist ja auch bekannt, daß vornehmlich die Fanatiker sich Hoffnung
machen, ihr König Jesus werde ... e1:n trw.~tmdjnhr1:(Jfl.~, .~1:chtharp,.~ hlühendes Reich

78 Ebd., Bd. 2 (Bern 1777), Vorrede, III.


79 JOSEF GEDEON KR. [d. i. JoH. JACOB STOLZ], ÜberSchwärmerey, Toleranz undPredigt-
wesen (Upsal [d. i. Leipzig] 1776), 6 f.
80 Ebd., 5.

81 Ebd., 76; das Kapitel ist überschrieben: „Ob unser Zeitalter reich an würklichenSchwär-

mern sei, die dem Staate gefährlich werden könnten", ebd., 75. Das Argument der Staats-
gefährdung konnte in Deutschland leicht durch die Erfahrung der Pietisten widerlegt
werden. Da.bei wurde eine Diskussion um das Problem des Fanatism11R, wie es <lie „En-
cyclopedie" sah, umgangen.
82 Ebd., 79 f.
83 Ebd., 74 f. 83.

315
Fanatismus II. 6, Gesteigerte Politisierung nach 1789

a'uf Erden anrichten, wo alle weltliche Unterschiede und Regierungsformen abge-


schafft sein werdens"'.
Als Fazit des neuen Umgangs mit dem mehrdeutig gewordenen Begriff des Fana-
tismus kann HERDERS Feststellung angeführt werden, daß es gute und böse En-
thusiasten, so wie ... Fanatiker und Schwärmer gebe. Auf alle diese wird der Satz
bezogen: Ohne Begeisterung schlafen die besten Kräfte unseres Gemüts ... Es ist ein
Zunder in uns, der F·unken will; e·ine ·ideen- wnd tatengebärende Kraft, die, wenn sie
nicht recht befruchtet wird, Ungeheuer gebiert 85 • Wenn Herder auch nicht ausdrücklich
einen ausschließlichen Gegensatz zwischen Enthusiasmus und Schwärmerei (Fana-
tismus) feststellt, sieht er gute Wirkungen menschlicher Gefühlsdynamik eher bei
den Enthusiasten als bei den Schwärmern oder Fanatikern als möglich an. Der
Schritt zur Affirmation von Fanatismus wird vermieden. Auch darin ist Herder
typisch für die deutsche Zurückhaltung, den Begriff 'Fanatismus' inhaltlich zu ent-
fesseln, daß er 'Enthusiasmus', 'Schwärmerturn' und 'Fanatismus' noch historisch
auf die zahlreichen Sekten oder Freikirchen und für die Gegenwart auf die Metho-
disten bezieht.

6. Gesteigerte Politisierung und Anwendbarkeit infolge der Französischen


Tl1wolntion
Hatte der Begriff 'Fanatismus' vor der Französischen Revolution bereit!; so an
Weite gewonnen, daß er auf die verschiedensten Inhalte angewandt werden konnte,
so war doch der religiöse Fanatismus - wenn auoh mit seinen politischen Auswir-
kungen-, je nach Position verschieden definiert, immer noch der Kern der Be-
griffsverwendung geblieben. Das änderte sich nach l 78U.
a) Fanali11me de l'irreligion. Die Geschichtsphilosophie und die Prognose der „En-
cyclopedie" sollten sich nun erfüllen. Der literarische Kampf der „Philosophen"
gegen die kirchlich-politische Herrschaft wurde zur Revolution gesteigert und sollte
zur Überwindung des vom Aberglauben genährten Fanatismus führen. Doch in dem
nun ausbrechenden „Parteien"-Kampf zwischen Revolution und Gegenrevolution
wurde 'Fanatismus' von seinem endgültig maßgebend werdenden, psychologisch be-
stimmten Verständnis her beliebig zur Herabsetzung des jeweiligen Gegners ver-
wendbar. Der Vorwurf des Fanatismus wurde den „Philosophen" zurückgegeben.
Die Erfahrungen mit den im Angriff befindlichen Revolutionären führten dazu, daß
das Prädikat 'fanatisch' diesen in aktuellerem Sinne zugesprochen werden konnte als
ihm in die Defensive gedrängten Vertretern der alten Ordnung, speziell der katholi-
schen Kirche. BRANDES schrieb schon 1792: Unter denen, die die Konfiskation der
geistlichen Güter in Frankreich rieten, waren mehrere fanatische Philosophen, die durch
die Hoffnung, die Religion umgestürzt zu sehen, die, wie sie sehr gut berechneten, dem
Volke gehässig werden mußte, sobald es täglich die Kosten des Unterhalts fühlte, zu
diesem Schritte eifrigst arbeiteten 86 •
84 Wider den Fanaticismus, 135. 139. Vgl. dazu VOLTAIRE, Dictionnaire philosophique
(1764), Oeuvres cumpl„ ~. 11) (1879), 80: Les lois sont encore tres inpuissantes contre ces
acces de ra{JP..
85 IIERDER, Andrastea, SW Bt.l. 24 (1886), 149. l/Sl; vgl. SPAEMANN, Fanatismus, 269.
86 RRNAT °RRANmis, Ueher einige bisherige Folgen der französischen Revolution in der
Rücksicht auf Deutschland (Hannover 1792), 153.

316
a) Fanatisme de l'irreliglon Fanatismua

Die schärfste Umkehrung des Fanatismusvorwurfs vollzog 1797 der von der Revo-
lution zum Katholizismus bekehrte JEAN FRAN901s DE LA ILrnPE 87 : Wenn Fanatis-
mus - un zele de religion aveugle et outre - zu Intoleranz und Unterdrückung führe,
jusq'a vouloir soumettre par la force l'opinion d'autrui jusqu'a violenter la conscience,
alors c'est un tyrannie aussi odieuse qu'insensee, que tous les hommes doivent detester
et que tous ont le droit et l'inter~t de repousser 88 • Diese allgemeine Aussage war für La
Harpe theoretisch auf den religiösen Fanatismus anwendbar. Doch hielt er diesen
nicht mehr für ein zeitgemäßes Problem. Statt dessen galt die Aussage in Wirklich-
keit für den neuen, drohenden Gegner, den fanatisme de l'irreligion: Qui peut nier sur-
tout que le seul f anatisme qui se fit sentir de nos jours ne fut eminemment le f anatisme
de l'irreligion, porte a un exces d'intolerance et de fureur, dont les ecrits des philosophes
a
fourniront, l'examen, des preuves sans nombres 89 •
Hatte La Harpe sich bis dahin bei seinen Definitionen ironisch des Begriffs der
„langue du bon sens" bedient, so schließt er in polemischer Wendung mit einer Be-
griffsbestimmung von 'fanatisme' dans la langue inverse, appelee revolutionnaire .•.
a
dans cette langue monstrueuse90 : Le f anatisme est la croyance une religion quelconque,
l' attachement a la foi de ses peres, la conviction .de la necessite d' un culte public, l' obser-
vation de ses ceremonies, le respect pour ses symboles: enfin cette deference reciproque
q·ui est de tous les peuples polices, et qui lcs oblige respectivcmcnt a ne violer nulle part
les signes exterieurs de la religion. Voilti le fanat·ism,e. Qwiconq-ue Mt est atteint, est 'u1·~
enncmi public et do-it elre e:r.tP.rm1:ruf91 •
Der Gedanke eines „fanatisme de l'irreligion" wirkte in uie Erneuerungsbewegung
der Kirchen, vornehmlich auf katholischer St!iL!:l, hinein. JOSEPH GöRRES sprach im
Hinblick auf die gottlose Hiwolution vom scheußlichen, jetzt grassierenden Fanatis-
mus ... , der ohne Gla-uben, ohne Religion, oft oline Gott ... bis zum tiefsten Herzens-
blute alles infizierend, das gesamte öffentliche Leben untergraben, Staat und .Kirche
unheilbar zerrüttet und die Völker verwüstet und verdorben habe. Die Kirche hat er unter
den Fuß des Staates gelegt, den Staat aber dafür unter jene Rotte erbärmlicher Sophisten,
die nur in ihrem besten Teile an jene attischen Volksverführer grenzen, in Masse aber
aus dem leersten, nichtigsten Pöbel sich zusammensetzen, wie er aus der tiefsten Entar-
tung mndP.rner Bildung ausgeschäumt 92 • Ähnlich äußerte sich RADOWITZ über den
Götzen des politischen Begriffs, dem man die Menschenopfer zu bringen ... sich ver-
pflichtet erachtete. Aus der Anmaßung absoluter· Wahrheitsgewißheit folge jene

87 JEAN F'RAN90Is DE LA liARPE, Du fana,tisme dans la langue 1·evolutiom1aire ou dela

persecution suscitee par fos Barbares du dix-huitieme siecle contre la religion chretienne et
ses Ministres (Paris 1797); dt. Wien 1797.
88 Ebd., 3.
89 Ebd., 8 f.
90 Ebd., 9. Der Autor versucht, so oft sich Gelegenheit bietet, die Revolutionäre durch ihre

Sprache als „barba,res" zu erweisen. Die Abhandlung ist daher eine Fundgrube für pole-
mische Begriffsdefinitionen der Revolutionssprache. Ebd., 129 f. argumentiert La Harpe
sprachwissenschaftlich: Ce mot fanatiser n'est pas moins barbare, il est contraire a toutes les
regles de la formation des mots ... Aucun adjectif en -ique ne peut produire un verbe en -iser.
Sprachwissenschaft wird so selbst zum Vehikel politischer Polemik.
01 Ehd„ 9; ZUill Vorwurf, statt von Religion von Fanatismus zu sprcohcn, ebd., 55. 91.
92 JOSEPH v. GöRRES, Achim von Arnim, Ges. Sehr., Bd. 15 (1958), 313.

317
D. 6. Gei!Leigerte l"olltil1lerung nach 1789

goUeslästerliche Identifizierung ihres Programms mit dem göttlichen Gebote und die hier
aus geschöpfte Befreiung von der Moral des natürlichen Menschen 93 .
La Harpe steht außerdem beispielhaft für die in die Restaurationszeit weiterwir-
kende Tendenz, die Frontstellung gegen die Jakobiner durch deren Charakterisie-
rung als „Fanatiker" zu bestätigen94 , wie in Deutschland WIELAND und andere95 •
Die Zuordnung eines verwerflichen Fanatismus zu 'Partei' und 'Parteigeist' ist eine
bleibende Errungenschaft in der Nachfolge der Französischen Revolution.

b) Politischer Fanatismus. In Deutschland ist unmittelbar nach der Französischen


Revolution der Begriff 'politischer Fanatismus' sehr oft nachweisbar und mit den
französischen Ereignissen verbunden. Neue, vielsagende Wortverbindungen mit
'Fanatismus' als Formalbegriff nehmen schlagartig zu.
So wird 1792 vor einem Koalitionskrieg gegen Frankreich gewarnt, gegen eine
Nation, die jetzt Hunderttausende von politischen l!'anatilcern zählt, die der Donner des
Himmels zwar vertilgen, aber keine Macht der Krieger belehren kann. Diese Schwärme-
rei scheint jetzt nicht allein in Paris, sondern auch in allen Provinzen ihre größte
Periode erreicht zu haben; auch ist sie mehr oder weniger bei alt und jung, in allen
Winkeln und in allen Ha.ndlungen sichtbar 96 • Frankreich sei ein Land, wo sich alles
empört und der politische Fanatismus nicht rastet97 • Derselbe Autor nennt Paris eine
Stadt, wo der politische Fanati.~m1t.~ tä1jl1:ch. soi,iel (freuet als 1'ugenden entwickelte98 •
WrnLA.Nll betrachtet die Vorgänge in Frankreich mit Skepsis. Er spricht von gerech-
ter Furcht, die herrlichen Fol,gen schwerlich zu erleben, welche die fanatischen Priester
der Freiheit, der Gleichheit und des Körvigs]U),sses ihren Gläubigen von der Revolution
vom 10. A'l.l{/1J,.~t verheißen (1792) 99 • In seiner Abhandlung „Über Krieg und Frieden"
(1794) warnt er davor, die Macht der fram:öRiRr.h1m Bewegung zu unterschätzen:
Nennen wir immer (wenn es uns so vorkommt) die dermalige Stimmung des größten
Teils des französischen Volkes Betörung, Wahnsinn oder Verzauberung: nur schmei-
cheln wir uns nicht m1:t der falsr:lum. Hoffnw1.g, d.a.ß dieser demokratische Wahnsinn so

03 J. v. RADOWITZ, Politisoher F1matismua (1851), Ges. Sehr„ ßd. 4: Fragmente (Berlin


1853), 221 f.
94 Vgl. SPAEMANN, .lfanatismus, 267.

96 REINHARD, Nachschrift des Übersetzers zu „Briefe von Andre Chenier. Ueber die Ur-

sache der Unordnung, die Frankreich zerrütten und der Bestgründung der Freiheit im
Woge stehen", Minerva 2 (1793), 86: von den Jakobinergesellschaften wird gesagt, ihre Frei-
heitsliebe sei bereits zum politischen Fanatismus geworden. Auch Chenier· gebraucht den
Begriff im Zusammenhang mit diesen Gesellschaften, in denen fanatische Leute Betrügern
ge'horchen, Ueber die neuesten Intrigen der französischen Demagogen, Minerva 3 (1792),
8; WIELAND, Teutscher Merkur (1788), zit. SPAEMANN, Fanatismus, 267 (Zitat konnte von
uns nicht nachgewiesen werden).
9 ~ Jon. WILill!lLM v. Anonl!lNHOLZ, Ili8torieche NacluiuhLe11 vom mme1-e11 Frankreich,

Minerva 2 (1792), 226.


U'/ ~bd„ 227,

98 Ders., Reise des Herausgebers von Paris naoh Doutsohland, Minerva 3 (1792), 109.
99 WIELAND, Fmnzösische Korrespondenz: Schreiben an einen Korrespondenten in .Paris,

A A 1. Abt., Bd. 15 (1930), 524. Die Stelle zeigt, wie der' ursprünglich religiöse Bereich die
Metaphorik der Sprache evozierte.

318
b) Politischer Fßllatismus F11Datismus

bald und so leicht vorüberyelten werde Blutige Erfahrungen sollten uns, auf Un-
kosten so vieler Myriaden unglücklicher Opfer der hartnäckigen Entschlossenheit und
korybantischen Wut, womit die Franzosen für ihre eingebildete Republik fechten, end-
lich einma~ überzeugen, daß Gewalt wenig oder nichts ge{Jen diesen Fanatism11,.~ der
Freiheit und Gleichheit vermag, von welchem die große Mehrheit des französischen Vol-
kes nun einmal besessen ist 100• Man spricht von fanatischen Freiheits- und Revolu-
tionspred·iyern101 und verabscheut den greulichen Fanatismus, es für den größten
Ruhm zu halten, sich selber Königsmörder und Tyrannenwürger ... zu nennen 102 .
Die Ermordung Marats wird auf den politischen Fanatismus zurückgeführt103.
So war das Schwergewicht·der Anwendung des Begriffs deutlich vom religiösen auf
den politischen Bereich verlagert worden. Das schlug sich früh auch in den Wörter-
büchern nieder. Schon 1806 heißt es als zweite Hauptbedeutung zu 'Fanatismus'
bei ÜERTEL: Politische Schwärmerei, Staatsschwärmerei 104.
Als wache und persönlich gefährdete Beobachterin der Revolution führte MADAME
DE STAEL den fanatisme politique auf den die Armen aufreizenden Charakter des
ordre social zurück und stellte 'Fanatismus' vor allem in den sozialen Wirkungs-
zusammenhang von Eigentumsverteilung und passions populaires. In dieser Hin-
sicht schließt sich für sie der politische an den religiösen Fanatismus an: Les deux
eUmens du fanatisme religieux et du fanatisme politique subsistent toujours: la volonte
dans ceux qui sont au haut de la ro11,e, l' ardeur de la faire tourner dans ceux qui sont en
bas. Tel est le principe de toutes les violences. Auch für diese realistische Sicht galt
aber die zeitgemäße Hoffnung der dem Liberalismus entgegengehenden gemäßigten
„philosophoA", daß die Abscheu erregende Erscheinung des Fanatismus durch den
Fortschritt der Staatsverfassung ihren Anreiz verlieren und demnach verschwinden
werde oder könne: Le remei1e aux passions populaires n' est pas dans le despotisme
rruvis duns le 'l'eyne de la lüi ... ; la Ub~rti seul peut le (i. c. fönatiome) oalrrMJr 11>6 •
Doch im Gegensatz zum Artikel der „Encyclopedie" war Madame de Stael frei von
utopischen Erwartungen. Ohne die Wertung Rousseaus anzunehmen, betonte sie
1794 scharfsinnig die Notwendigkeit des Fanatismus in exaltierten Zeiten, wie die
Franzosen sie erlebten, und erkannte das Janusgesicht der durch fanatisches Han-
deln bestimmten Revolution, die durch Verbrechen zur „Tugend" finden sollte.
TO'ule la pu·issance de la revolution consiste dans l'art de fanatiser l'opinion pour des
interits polit1:q11.es ... Dan.~ un temps de revolution, il faut du fanatisme pour triompher,
et jamais un parti mixte n'inspirera du fanatisme ... Le fanatisme est une passion
a
tres siiiguliere dans ses effets; elle reunit la Jois la puissance du crime et l' exaltation de
la vertit ... O'est c.e contra.~t.e„ c'est cette double energie qui rend le fanatisme la plus
redoutable de toutes les forces humaines; et il n' est paii de periode plus heureuse dans une
revolution politique, que celle ou le fanatisme s' applique a vouloir l' etablissement

10 0 Ders., Über Krieg und Frieden (1794), AA 1. Abt„ Bd. 15, 646.
101 Dt. Magazin, Bd. 6 (Juli 1793), 883.
102 Ebd„ 899. .
103 Ebd., Bd. 4 (November 1793), 1379.
lo 4 ÜERTF.T. 2. Aufl„ Bd. 1 (1806), 256; CAMPE schlägt für den nicht-religiösen Bereich die
Übersetzung 'Meinungswut' vor, Fremdwb„ 2.· Aufl. (1813), 312.
l05 MD1° DF. S'l'Aih., (Jonsiderations sur les principaux evenements de la Revolution fran9aise,
t. 2 (Paris 1820, posthum). 112 ff„ bes. 114,

319
Fanatismus Il. 6. Gesteigerte Politisierung nach 1789

d'un gouvernement dont on n'est plus separe, si les esprits sages y consentent, par aucun
nouveau malheur106 • Die Entgegensetzung von religiösem und politischem Fanatis~
mus war in der Sicht Madame de Staels aufgehoben in der Erkenntnis, daß es sich
bei der Verkündung der revolutionären Zukunftsparolen beim Erwartungsbegriff
wiederum um „Religi~n" handelte: Eh bien! ce chimerique systeme d'i,galite est une
religion politique dont le temps et le repos peuvent seuls affoiblir le redoutable fanatis-
melo7.
Die Erkenntnis Madame de Staels, daß Fanatismus, seit der Revolution weder
ausschließlich religiös, noch ausschließlich politisch bedingt, als Konsequenz
„politischer Religion" in moderner Verwandlung einer menschlichen Veranlagung
entspreche, daß er durch liberalen Verfassungsfortschritt überwunden werden kön-
ne, bei revolutionären Erschütterungen aber notwendig ausbrechen müsse, kann als
ein 'von nun an sich verbreitendes Verständnis von 'Fanatismus' in und nach der
Revolutionsepoche angesehen werden. Ähnlich sah CHRISTIAN GARVE (1802) die
fanatische Schwärmerei 108: Unser Zeitalter sieht von dieser Schwärmerei ein in seiner
Art einziges Beispiel. Diese religiös-politische Mentalität sei grausam und verfol-
gend, . . . gleichgültig gegen eigene Wunden. Sie geht auf das Unsichtbare, auf eine
Ordnung der Dinge, die doch nirgends ist und von der nicht einmal ein bestimmter Be-
griff vorhanden ist. Sie sieht diese neue Ordnung als etwas Göttliches, die Bewirkung
de1·selben als etwas über alle anderen I'fl-icliten Erhabenes an 109•
Die schlagartige Aktualitätssteigerung des Fanatismusbegriffs seit 1789 wird auch
dadurch angezeigt, daß schon im Jahre II der revolutionären Zeitrechnung die
neuen Wörter '(do)fanatiser, fönatiscur, fanatioo-royalistc' auftauchten, von denen
'fanatisieren' und 'Fanatisierung' als Bewegungsbegriff ins Deutsche übernommen
und seitdem gebräuchlich geblieben sindllO.

106 Dies., Reflexions sur la paix (1794), Oeuvres compl., t. 2 (Paris 1820), 43. 140.
107 Ebd., 50. Vgl. IlAit'l'L.l!lß.l!l~ Bd. 1 (1824), 306: Es gibt einen politiBchen FanatismuB, der
gewiBBe Lehren· als einer allein seligmachenden politischen Kirche angehörend geltend machen
will; vgl. auch BRUNOT t. 9/2 (1937), ü2ü, de1· auf die zahlreichen Wortübernahmen aus dem
religiösen Bereich hinweist.
1os CIIBISTIAN GARVE, Ueber die Schwärmerey, in: ders., Versuche über verschiedene Gegen-
stände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben, Ild. 5 (Ilreslau 1802),
335 ff.
109 Ebd., 372 ff.
110 Vgl. SCHALK, Fanatique und fanatisme, 73. Zur Geschichte der franz. Termini vgl.

MEROIER t. 1 (1801), 258: O'est un fanatiseur qui n'est point fanatique, il n'est pas dans le
delire religieux, mais il voudrait le faire paBser dans les ames faibles ardentes et timorees, qu'il
abuse par des idties dont le principe e&t d'ailleur rcspectable; außerdem FELDMANN, 255 und
FREY, 120: 'fanatiser' trat während des Krieges gegen die „Chouans" derVendee schlag-
wortartig auf. ln der ßedeutung „agir en fanatique" war es bereits vorher bekannt. Neu
war seit der Revolution der transitive Gebrauch „rendre fanatique". In den französischen
RevoluLium1zeiLungen hatte es oft die Bedeutung „contrer~volutioner" angenommen. Zum
„ehrlichen Fanatiker" vgl. auch die Ausführungen bei WIELAND, Freymüthige Gespräche
über einige neueste Weltbegebenheiten: Rrst.es Gespräch. AA 1. Abt„ Bd. 14 (1928), 353.

320
II. 7. Bestlltignng und AusweitDDg im 19. Jahrhundert Fanatismus

7. Bestätigung und Ausweitung des Begriffs im 19. Jahrhundert


Nachdem „Fanatismus" im Zusammenhang mit der französischen und europäischen
Erschütterung nach 1789 für die „Parteien" der Revolution und der Gegenrevolu-
tion in gleicher Weise sowohl pejorativ wie, zurückhaltender, auch affirmativ ver-
fügbar geworden war, ist diese breite Auffächerung im Laufe des 19. Jahrhunderts
fortgesetzt und bestätigt worden. Alle Bedeutungsvarianten blieben bekannt und
wurden verwendet.
So wurde die alte B~deutung der Religionsschwärmerei oder eines überspannten
religiösen Enthusiasmus 111 festgehalten, oder es wurden allgemeine Definitionen
zu geben versucht, so z. B. von HERMANN ScHEIDLER (1845): Die wesentlichen Merk-
male dieses Begriffs sind erstlich: schwärmerische Vorstellungen oder Einbildungen, die
für unbedingt wahr, ja für ein höheres Erkennen als Folge einer besonderen Erleuchtung
von dem Fanatiker gehalten werden ... ; die übermacht efr1,e.~ dunklen Gefühls und
blinden Triebes, wodurch der Fanatiker gleichsam wie von einem Dämon oder bösen
Geist besessen erscheint; drittens da,s Ausbrechen solcher verwirrten Gedanken, Gefühle
wnd Triebe ,in wfrkliche, ,verwerfliche Handlungen, und zwar Gcwalttätigkoiton, doron
V erübung dem Fanatiker nicht bloß erlaubt, sondern selbst verdienstlich erscheint112 •
Oder in einem protestantisch-theologischen J_,exikon (18fifi): Fanatismus ist blind,
einseitig und ausschließend. Charakterisierend ist demnach für denFanatiker 1), daß er
sich der Kla,rheit de.~ V er.~tande.~ verschließt, sich dem :Spiele der Phantasie ... hinzu-
geben liebt, wobei 2) gerne eine Idee die fixe in ihm wird ... Es fehlt ihm gleichmäßig
an der Ausweitung des Kopfes durch die Bildung wie an der Aufgeschlossenheit des
Herzens durch die Liebe, so daß e.y ihm rm:n wnmiiglich i.~t, .~ich auf einen anderen Stand-
. punkt zu versetzen ... Darum behandelt er alles nach einer, nämlich nach seiner Scha-
blone und ist 3) ausschließend, feindselig, verfolgungssüchtig gegen alles, was nicht er
selbst ist113 • RoTTEcK definierte (1837) ganz formal: Jeder übermäßig - namentlich
bis zur Grenze der Wut oder Verrücktheit gesteigerte - Eifer für oder gegen eine Sache,
sei es eine Idee oder eine praktische Richtung, oder auch eine Person oder was sonst für
ein Gegenstand der Anhänglichkeit oder der Abstoßun,q. der Liebe oder des Hasses,
kann mit dem Namen Fanatismus ... belegt werden 114 •
Von solchen Begriffsbestimmungen aus war das Wort praktisch unbegrenzt auf die
verschiedensten Inhalte anwendbar. Die Ausweitung und demgemäß die beliebige
Gebrauchsmöglichkeit, wahrscheinlich auch eine gewisse Abneigung gegenüber dern
Fremdwort, führten aber auch zur Abwehr gegenüber der Verwendung. Gegen
ÜAMPES Vorschlag, Fanatism, Lat. Fanatismus, oder Fanaticismus durch Schwär-
merei bzw. Glaubensschwärmerei oder Glaubenswut zu ersetzen 116, wandte SoHJJ:WLER
ein, <laß da.~ Wort wohl nicht zu entbehren sein werde, da es nicht nur einen religiösen,
sondern auch einen politischen, wissenschaftlichen, sittlichen u. s. w. Fanatismus
gebens.

111 KRUG 2. Aufl., Bd. 2 (1B33), 9.


112 KARL HERMANN ScHEIDLER, Art. Fanatismus, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 41 (1845),
365.
113 CARL BECK, Art. Fanatismus, HERZOG Bd.-!> (1855), 324.
114 KARL v. RoTTECK, Art. Fanatismus, Fanatiker, ROTTECK/WELCKER Bd. 5 (1837), 434.

m CA111PE, Fremdwb., 2. Aufl. (1813), 311.


11s SCHEIDLER, Art. J!'anatismus, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 41, 366.

21-90386/1 321
Fanati1m1111 II. 7. Beetitignng und Ausweitung im 19. Jahrhundert

a) Religiöser Fanatismus wurde im Zusammenhang mit der konfessionellen Polemik


der jeweils anderen, gegnerischen Konfession immer wieder vorgeworfen117 • Dabei
hat aber die Polemik gegen den katholischen Fanatismus vorgewogen, weil hier
nicht nur der Konfes!)ionsstreit, sondern die Tradition der Aufklärung die Argu-
mente lieferte, so in populär geschriebenen Kampfschriften, wie vor allem ÜTTO
JuLIUS BERNHARD v. CoRVIN-WIERSBITZKIS „Historische Denkmale des christli-
chen Fanatismus" (Leipzig 1845). Doch stand dem, bereits ebenso traditionell, die
Forderung der „christlichen Toleranz" entgegen, in derem Geiste z. B. in HERZOGS
protestantisch-theologischem Lexikon nicht nur die geschichtlichen Greuel des
katholischen Fanatismus, sondern auch der protestantischen Kirchen hervorgeho-
ben wurden 118 . Ein Ausdruck der zugespitzten anti.katholischen Erregung in der
Kulturkampfzeit war die Feststellung (1872): Zumeist aber wird das Wort nur auf die
Ultramontanen angewendet 119 •
b) Der politische Fanatismus stand - abgesehen von der Aufgipfelung des konfes-
sionellen Kampfes der sechziger und siebziger Jahre - meist im Vordergrunde des
Bewußtseins, besonders im Vormärz und in der Revolution 1848/49. RoTTECK be-
zeichnete ihn als ganz vorzugsweis einen cliarakteristischen Zug der neuesten Zeit 126•
Welche Differenzierungsskala dabei entstanden war, zeigt ein Fanatismus-Katalog
um die Jahrhundertmitte: Es gibt im Politischen Fanatiker der Ruhe, die 'Ruhe haben
um jeden Preis' und denen unter allen Umständen 'Ruhe ist die erste Bürgerpflicht' ... ;
Fanatiker d,er Bewegung, deren einziges Evangelium der Umsturz ist; Fanatiker des
Fortschritts, bei denen immer das Neueste das Alte überbietet ... ; Fanatiker des Rück-
sclir-iUs, d'ie alles daran setzen, 'die Welt zurückzuschrau,ben'; Ji'anatiker der Freiheit,
bei denen aber die Freiheit gerade so weit geht, als nicht ein anderer sie auch für sich und
seine Überzeugung in Anspruch nimmt ... ; Fanatiker geistiger Knechtschaft ... ;
Fanatilccr des Kosmopolitismus, Wt!lclie ·iliren Grwndsüt-an z·u Eltren zwm Verrate des
Vaterlandes bereit sind ... ; Fanatiker der Nationalität, denen noch heute alles Fremd-
ländische · als barbarisch und verwerflioh gilt ... ; Fanatiker des weltbeglückenden
Philanthropismus, die Individuen und Völker wider ihren Willen zum Glücke zwingen
will, für das sie noch gar nicht reif sind, und Fanatiker des Obskurantismus, nach
welchen jeder nur so weit sehen soll, als sie gerade wollen; Fanatiker der Aufklärung,
des Rationalismus, der 'spekulativen Pliilosophie', denen jeder wissenschaftliche Geg-
ner als ein Dummlcopf crsoheint oder als ein Bchurke 121 •
In dieser Aufzählung des vom Standpunkt „christlicher Toleranz" schreibenden
Verfassers sollte keinem der Fanatismen irgendein Vorrang eingeräumt, sie sollten
wegen der verwerflichen Verhaltem;weise des ungerecht Eiferns insgesamt verur-
teilt werden. Doch war eine so überparteiliche Wertmessung nicht die Regel. Viel-
mehr läßt sich in zweifacher Hinsicht eine zeitgemäße Differenzierung bemerken:
1) durch Unterscheidung von echtem und unechtem Fanatismus, die sich schon bei

11 7 Im Vergleich zu BECK (s. Anm. 113): FRrrz, Fanatismus, Fanatici, Fanatiker, fanatisch,
ßd. 3 (1849), 898.
Wl!l'l'Zl!l!t/W.l!lLTE
118 BECK, Art. Fanatismus, HERZOG Bd. 4, 324 f.

119 REICHENBPERGEit 3. Aufl. (1872), 34.


uo RoTTECK, Art. Fanatismus, RoTTECK/WELCKER Rn. 5, 434.
12 1 ßECK, Art. Ji'anatismus, HERZOG Bd. 4, 324.

322
ll. 7. Bestitipng und A1111weitnng im 19. Jahrhundm Fanatismus

Bayle nachweisen läßt, 2) du,rch unterschiedliche Einstufung mit Rücksicht auf di~
Position der Fanatiker. Im Zeitalter zunehmender oder erstrebter Mitbestimmung
des Volkes, in der Beeinflussung und Willensbildung von „Massen" in den Blick
traten, wurde stärker als schon im 18. Jahrhundert das Problem der politischen
Manipulation vorsätzlich „fanatisierter" Massen gesehen. Daraus ergab sich die
Unterscheidung zwischen gläubigen, echten Fanatikern und berechnenden Anstif-
tern oder Nutznießern, die nur scheinbar vom Fanatismus für ein großes Ziel er-
griffen waren. RoTTECK ging diesem Zusammenhang moralisierend nach. Er hob
den „Selbstsüchtigen" vom „Fanatiker" ab. Jener folge egoistischen Zielen. Dieser
habe die VeT'wirkl,icliung einer Idee - wohl auch eines bloßen Traumbi"ldes - oder den
Triumph einer Sache, als eines Prinzips, eines Glaubens oder Aberglaubens, oder auch
einer solche Ideen oder Gritndsätz.e reprä.sent1:e.rF'iflilfm, Per.~on oder Persönlichkeit oder
die Vertilgung der jenen feindlich entgegenstehenden Mächte zum Ziel, ohne Rücksicht
oder doch mit nur untergeordneter Rücksicht auf die dadurch für sich selbst zu erringen-
den Vorteile oder abzuwendenden Nachteile. Der „Selbstsüchtige" regt den Fanatismus
künstlich auf; ... sein Eifer ist Verstellunu, ist künstlich vorgenom?nene Maske. Er
setze sich wissentlich über Recht und Pflicht hinweg. Die Fanatisierung von Men-
schen üit fUr ih11 LakLi1:1che Be:rnclmwng. Der F!anatikt;r dagegen ist auf'riohtig und
wahr; er ist wirklich, du.rch{Jliiht uon dem J!'euer, das er in sein Handeln legt und begei-
stert für den objektiven Zweck, worauf .es sich richtet ... Der Fanatism1t.~, ln:ernru:h,
obschon in seinen Äußerungen absche-1.J,lich und in seinen Wirkungen verderbend, er-
scheint moralisch gleichwohl minder verwerflich und heillos als die Selbstsucht 122 .
Der Fanatiker wurde in solcher Sicht zum Verführten. In der langen Reihe der Ver-
brechens- und Leidensgeschichten, von denen Rotteck ähnlich wie vor ihm die „En-
cyclopedie" die Welt- und Kirchengeschichte erfüllt sieht, seien denn doch die ei-
gentliclien Fanatiker ?nehr nur als Werkzeuge denn als Urheber aufgetreten. Die fana-
tisierte gläubige Masse wird als blindes Werkzeug der Ehr- und Herrschsucht erkannt.
Auch für die oben genannte zweite Tendenz, inhaltlich verschieden bezogene Fana-
tismen in ideologisch bestimmte Rangstufen einzuordnen, ist Rotteck ein besonders
herausragendes Beispiel. Für ihn als einen gesinnungsethisch motivierten Politiker
war es zwingend, 'Fanatismus' nicht absolut und gleichmäßig zu verdammen. So
waren für ihn die Männer der Reaktions- oder Absolutistenpartei i11 Neapel und Spa-
nien 11tärker als die Schreolccnsmänner im revolutionären Frankreich zu verabscheu-
en, und er bekannte, daß unter den republikanischen Fanatikern Frankreichs viele
Männer von angeborenem Geistes- und Gemütsadel sich befunden; Männer, welche zu
jeder herm:.~chen Tugendübung die Kraft und den Willen in sich trugen und nur infolge
einer aus den Umständen hervorgegangenen -ja großenteils auf Rechnung der Feinde
zu setzenden- Überreizung zu Verbrechen hingerissen wurden. Für die übrigen Greuel-
taten sah er den Grund in jener allgemeinen Roheit, Unvernunft und Bestialität, welche
gewöhnlich unter einem großen Teil der Massen gefunden werden und die nichts mit
dem Fanatismus ge?nein haben12a.
Trotz solcher ideologisch bedingten Bevorzugung war es jedoch für Rotteck und
wohl allgemein für die deutschen Liberalen ein Glaubenssatz, daß Fanatismus als
Verhaltensweise und als politisch·moralischer Stil durch den Fortschritt zu liberal

12 2 RoTTECK, Art. Fanatismus, ROTTEOK/WELOKER Bd. 5, 435.


128 Ebd., 437.

323
Fanatismus II. 7. Beatätigung und Auweitung im 19. Jahrhundert

verfaßten Staaten überwunden werden könne und müsse: Nun ist aber der Fanatis-
mus, mag der Charakter der Nation sein welcher er wolle, stets nur das Kind der Un-
cultur, d. h. des Mangels an Verstandesbildung und humaner Sitte; wo Aufklärung im
Volke herrscht und die edlere Oivilisation Wurzel geschlagen hat, da kommt die fanati-
sche Wut nicht auf. Die Bildung des Volkes ergibt sich als Aufgabe des Staates, der
sich nicht der Verbreitung des Lichts, zumal in unseren Volksclassen scheuen sollte.
Fanatischen Gruppen kann man am besten durch der Vernunft und der Wahrheit
gewährten Rede und allseitige Mitteilung entgegentreten. Letztlich wird eine gerechte
und weise Regierung, die die Aufklärung, also auch die Gesittung und den Wohlstand
so viel tunlich zum Gemeingut aller Olassen zu machen strebt . . . dem Gewissen seiner
Angehörigen keinen ungebührlichen Zwang antut, noch antun läßt, die beste Voraus-
RP.b:nng RP.in, den Fanatismus zu verhindern. Eine aitfgeklärte, freie, gerecht regierte
und sich glücklich fühlende Nation bringe keine Fanatiker hervor124 •
Vieser 'l'endenz in der Nachfolge der Aufklärung stand ARNOLD RuGES Behauptung
entgegen, daß Fanatismus auch in der Gegenwart nicht nur in alten Positionen
fortdauere, sondern der jüngsten radikalen Bewegung, dem Oommunismus, in einer
Weise zugehörig sei, wie sie auch für geschichtlich bekannte Erscheinungen des
Fanatismus schon typisch gewei;eu wa1-. Ruge i;praeh vu11 di;r ne'uen Religion des
Vommunismus, die fetzt .~clwn all,e Eigp,n.~cha,ften der alten entwickelt: ihre Einfalt, das
diplomatische Geheimnis: 'selig sind die Armen an Geist', ihre Illusion, das tausend-
jährige Reich der seligen Gemeinschaft, die vor der 1'ür ist, ihren Fanatismus, der nur
die Ungläubigen schlachtet 125 . Er nannte die Prediger des Oommunismus ökonomische
P/aUl3n, l13'ils lteitere ... , teils fanatische; die fetzt schon ihre Bannfiüche gedruckt oder
ungedruckt ausgehn lassen und ihre Bullen mit der Guillotine siegeln 126 . Der Kommu-
nismus könne sich im Kampf und im Siege zum Fanatismus ausbilden und wie das
Ohristcntuni, trott aller Bruderliebe, mit Feue,r wnd Schwert dare·infaliren 127 • Der Kuru-
munismus war nach seiner Ansicht besonders anfällig für den Fanatismus, da er na_ch
schneller Verwirklung der Idee strebe und dieses Ziel mit einem Fanatismus der
Propaganda 128 verfolge. Daß dieser moderne, die Massen bewegende Fanatismus im
Grunde eine pseudo-religiöse Erscheinung, eine Religion der Tat, war, betonte
Ruge: Beide opfern die Erde dem Himmel oder die Wirklichkeit der Phantasie, die Reli-
gion in Gedanken, der Fanatismus in der Tat. 'Verlaß Vater und Mutter, opfere Weib
und Kind, laß es fahren dahin, sie habens kein Ge1111>nn' ! prp,d1:gt der Religiöse, der
Fanatilcer tut es 129 .
In der Revolution 1848/49 wurde 'Fanatismus' als Feindbegriff verwendet und als
sozialpsychologisches Phänomen beobachtet. Dip, Schlange des pol#1:schen Fanatis-
mus130 erschien in Reden und Flugblättern zwecks Diffamierung der Gegner. Das
war nichts Neues, sondern nur eine Steigerung dessen, was auch vorher verfügbar

124 Ebd., 438.


125 .ABNOLD RuGE, Zwei Jahre in Paris, Tl. 1 (Leipzig 1846), 40.
m Ebd., 66 f.; vgl. 320. 343.
127 Ebd., 87.
128 Ebd., 105.
u 9 Ebd., 378.
180 So in einem Flugblatt „Die Darmstädter Zwiebelhelden zu Kranichstein" (23.Juli 1848).

8tadtarchivFrankfurt.

324
m. Ausblick Fanatismu11

gewesen war. Bemerkenswert aber war, daß der Begriff noch einmal eine Schlüssel-
stellung zur Deutung der erregenden Vorgänge erhielt, indem er von LUDWIG BAM-
BERGER in „Die intolerante Toleranz" (1848) affirmativ dem Begriff 'Partei' zuge-
ordnet wurde. So wie Religion verächtlich sei, welche nicht Prn.~elyten machen will und
nicht fanatische Religion sei, so gelte es auch für den Einsatz der Anhänger für die
politische Gemeinschaft der Partei. Die Menschen hätten plötzlich erfahren, daß sie
„Parteien" zugehörten. Die neue Lage gebiete es, die Ursachen und die Unvermeid-
barkeit der Parteiverhaltnisse zu begreifen, d. h. den Parteienkampf zu bejahen und
fanatisch zu führen. Die Religion unserer Zeit heißt: Politik und unser Bekenntnis:
Freiheit! Und wir können uns nicht denken, wie ein Freiheitsgläubiger den - seiner
Ansicht nach - freiheitsfeindlichen Systemen sachte und schonend entgegentreten
kann. wer uns verübelt, daß wir pochen und stürmen, der hat keinen politischen wie
der „Tolerante" keinen religiösen Glauben, der ist ein Gleichgültiger, und nur der
Gleichgültige, dem der häusliche und städtische Friede des .Essens und Spazieren-
gehens über alles geht, kann sich über uns skandalisieren. Wir gestehen es: Wir sind
politische Fanatiker! Fanatismus erhielt von da als Methode parteilicher Aktivität
seinen Sinn: Wir lassen den Professor, wir lassen den konstitutionellen Fanatiker in
.Ehren gelten, sie sind Diener ihrer eigenen Über"wuyw1i,y; 1Z.u aber teurer F1·eund, der
Du uns zwischen vier Wänden gestehst, daß Du ein he1:ßer Repithlikaner seist, daß aber
nicht dü~ Ze-it da se·i, es zit sagen-verzeih cs Freund - du bringst uns ziim La.chen 13 I.
„Parteifanatismus" besagte, daß nicht nur Bambergers „wahre" Republikaner
fanatisch sein durften. Polemisch wurde bemerkt, daß sich diese Monarchisten aufs
gewissenhafteste selbst fanatisieren 132 , und so kam das paradoxe Schlagwort Fana-
tismus der Ruhe133 auf und wurde in vielen Varianten verwendet. So sprach man im
Zusammenhang mit der Märzrevolution von Fanatismus für Stülstand und Ruhe
(BRUNO BAUER 1849) 1 °'. MiLglieder der deutschen Ilandwcrk:wcrcinc in Puris
waren schon 1846 ironisch als sogar fanatisch legitim und gottselig (ARNOLD RuGE) 135
bezeichnet worden. Oder Börne wurde nachgesagt, er habe einen wahren Fanatis-
mus für Solidität, einen Heroismus für das Bürgerliche (GuTzKow) 136 •

III. Ausblick
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich furLgesetzt, was sich bis dahin ergeben
hatte: unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit eines nur noch psychologisch bestimm-
baren Begriffs, zugleich aber auch Festhalten an bestimmten, traditionell einge-
prägten Applikationen im religiös-konfessionellen und im (davon oft, nir.ht streng
abtrennbaren) politischen Bereich. Als Kampfbegriff im Streit der Konfessionen

131 LUDWIG BAMBERGER, Die intolerante Toleranz, aus: Flitterwochen der Preßfreiheit

(Mai 1848), Ges. Sehr., Bd. 3 (Berlin 1848), 42 ff.


m Flugblatt (!. Anm. 130).
133 Schon bei dem preußischen Landtagsabgeordneten v. THADDEN-TRIEGLAFF am 13. 4.

1848; vgl. LADENDORF (1906), 79; ALBERT GoMBERT, Noch einiges über Schlagworte uml
Redensarten, Zs. f. dt. Wortforsch. 3 (1902), 174 f.
134 BRUNO BAUER, Die bürgerliche Revolution in Deutschland (Berlin 1849), 2'16.

135 RuGE, Zwei Jahre in Paris, Tl. 1, 340.


136 KARL GUTZKOw, BömeR Leben, 3. Aufl., GW 2. Ausg., Bd. 12 (Jena o. J.), 364.

325
Fanatiem11e m. Ausblick
spielte 'Fanatismus' noch Ende des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche Rolle; heute
kann dieser Traditionsstrang als abgetan angesehen werden. Dagegen ist die seit
der „Encyclopedie" immer von neuem tradierte, geschichts- oder moralphiloso-
phisch begründete Antinomie zwischen liberaler Humanität bzw. rational bestimm-
ter Toleranz und „blindem", auf Glaubenseifer beruhendem, zur nackten Gewalt
führendem Fanatismus bis zur Gegenwart bewußt geblieben. Spaemann, der hierzu
Belege anführt, weist darauf hin, daß auch der heutige Sowjet-Marxismus trotz
seines Prinzips der Parteilichkeit und trotz seiner Ablehnung liberaler Harmoni-
sierungshoffnung, die jener antinomischen Geschichtsdeutung innewohnt, doch
ihrem Ansatz verpflichtet ist; denn „die Parteilichkeit beansprucht, sich selbst
theoretisch vermitteln zu können"l37.
Demgegenüber lag es in der Konsequenz der gegen „Aufklärung" und „Humani-
tät" gerichteten Ideologien, die geschichtlich zum „Faschismus in seiner Epoche"1 38
führten, daß 'Fanatismus' betonter und häufiger als bei Rousseau als erwünschtes
Verhalten verherrlicht wurde, das zur Durchsetzung der nationalen und weltpoliti-
schen Zwecke im Kampf gegen die absolut angesehenen und daher der Vernichtung
ausgesetzten Feinde notwendig erschien. Der Ballast der negativen Wertung des
Begriffs mußte da.her o.bgoworfcn worden. Hierfür ist bezeichnend, daß zwii;eheu
1941 und 1943 in HITLERS „Mein Kampf" ein (ausnahmsweise) pejoratives fana·
tisch in .~atani.~ch umgeändert wnrde 139 . Hitler fo~mulierte in höchster Zuspitzung
der bisherigen Nebenströmung eines affirmativen Gebrauchs des Begriffs: Die Na-
tionalisierung der breiten Masse kann niemals erfolgen durch Halbheiten, durch schwa-
ches Betonen eines sogenannten Objektivitätsstandpunkts, sondern durch rücksichtslose
und fanatisch einseitige Einstellung auf das nun einmal zu erstrebende Ziel . . . Die
1'riebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde lag zu allen Zeiten weniger
in einer die Masse beherrschenden wiss6nsohaftliohon Erlocnntnis als in einem sie besee-
lenden Fanatismus und mancn,mal in einer sie vorwärtsjagenden Hysterie 140 • Hitler
ging so weit, allein im Fanatismus die Grundlage für die Sicherung der von ihm er-
strebten Herrschafts- und Vernichtungsprinzipien zu sehen: In der ewig gleichmäßi-
gen Anwendung der Gewalt allein liegt die allererste Voraussetzung zum Erfolge. Diese
Beharrlichkeit jedoch ist immer nur das Ergebnis einer bestimmten geistigen Überzeu-
gung. Jede Gewalt, die nicht einer festen geistigen Grundlage entsprießt, wird schwan-
kend und unsicher sein. Ihr fehlt die Stabilität, die nur in einer fanatisohcn W eltan-
schauung zu ruhen vermag 141 . Dem entsprach die Absicht einer Fanatisierung der

137 SPAEMANN, Fanatismus, 271 :ff., bes. 273.


l8S ERNST NoLTE, Der Faschismus in seiner Epoche. Action franc;aise, Italienischer Fa-
.schismus, Nationalsozialismus (München 1963). Hinweis auf die häufige Verwendung im
Italienischen des Faschismus bei SCHALK, Fanatique und fanatisme, 74.
189 BERNING, 76 f.

uo lirrLER, Mein Kampf, 636.-640. Aufl. (München 1941), 370 f.


1 41 Ebd., 188. Zu1· pusiLiven Wel'Lllllg vgl. aueh das Vorwort von RUDOLF SCHNEEit zu:
ROBERT LEY, Durchbruch der sozialen Ehre (Berlin 1935), VII: Ley zeichne sich durch
n.lch.t.9 zu erschütternde Treue zum Führer, eine fanatisclte .Liebe zum schaffenden deutschen
M6n8choo und derb !beißen Willen, ohne jede Rücksic°ht auf sich 8eib8t ulk Krn/t ei't&Z1u11etz1m,
für das Wohl des Führers, aus.

326
m. Auablick Fanatismus

'l'ruppe, die er, je mehr im Zweiten Weltkrieg die Fronten wankten und schließlich
brachen, seinen Generalen zur Pflicht machtel42,
Mit dem Ende des Nationalsozialismus ist auch diese Verwendung des Begriffs
offenbar an ihr Ende gekommen. Es bleiben heute lediglich die Ubiquität und damit
die Abnutzung sowie, falls auf Inhalte bezogen wird, ein Vorwiegen der im Gefolge
der „Aufklärung" stehenden Deutung.
WERNER ÜONZE
HELGA REINHART

148 Befehl HrrLEBS vom 13. 3. 1945, zit. KARL DEMETER, Das deutsohe Offizierkorps in
Gesellschaft und Staat 1650-1945, 4. Aufl. (Frankfurt 1965), 209.

327
Faschismus

I. Einleitung: Bis zur Gründung der „Fa.sei di combattimento". II. 1. Die Entwicklung
des Begriffs im Verständnis Mussolinis: vom transitorischen Instrument zur Weltbe-
wegung. 2. Der Begriff des Faschismus in gegnerischer Interpretation: italienische Eigen-
tümlichkeit oder universales Phänomen? 3. Die Nationalsozialisten und der Begriff des
Faschismus. 4. Das Ringen der antifaschistischen und der antitotalitären Auslegnng
bis 1945. III. Ausblick.

I. Einleitung: Bis zur Gründung der „Fasci di combattimento"


Das Wort 'fascio' in der Bedeutung „Bund", „Bündel", abgeleitet vom lat.
'fasces', taucht im politischen Leben des geeinigten Jt.afüm erstma.lR :i:nr Re:i:einh-
nung von .Arbeiterorganisationen auf; es trägt für ein halbes Jahrhundert einen
außer- und antiparlamentarischen Charakter; eine Assoziation mit dem altrömi-
schen Herrschaftszeichen des „Rutenbündels" wird nicht unmittelbar erkennbar,
ist aber anzunehmen, da das Sinnbild schon in der Französischen Revolution
verwandt, von den italienischen Jakobinern übernommen worden war und im
Risorgimento die Einheit der italienischen Nation symbolisierte. Der anarchistische
„Fascio di Bologna." wurfle 1871 gegründet. Zahlreiche ähnliche „Fasci" entstanden
während der nächsten Jahrzehnte in beinahe allen Teilen des Landes. In Mailand
standen einander als konkurrierende Organisationen der „Fascio dei lavoratori"
und das „Consolato operaio" gegenüber, bis sie sich mit a.nderen Gruppen 1892
zur Sozialistisohcn Arbcitorp11rtoi voroinigton. In g11nz Europ11 wurden infolge der
äußerst gewaltsamen Reaktion des Ministerpräsidenten Crispi die „~'asci siciliani"
bekannt, welche 1893-94 die Organe der sozialen Unruhe in Sizilien waren. In
diesem Zusammenhang taucht um die Jahrhundertwende auch der Terminus
'Fascismo' gelegentlich auf1. Den revolutionä:ren Sinn behält das Wort noch
in den „Fasci d'azione rivoluzionaria", in denen sich diejenigen Sozialisten und
Syndikalisten zusammenschlossen, die entgegen der Politik des Partito Socialista
ltaliano für einen Kriegseintritt Italiens an der Seite Frankreichs und Englands
Stellung nahmen, an ihrer Spitze Benito Mussolini und Filippo Corridoni. Ein
möglicher tiefgreifender Bedeutungswandel kündigte sich aber erstmals an, als
sich 1917 vornehmlich rechtsgerichtete Kräfte der Kammer zur Verfolgung einer
energischeren Kriegspolitik zum „Fascio parlamentare" zusammenschlossen.

II.

1. Die Entwicklung des Begrift's im Verständnis Mussolinis: vom transitorischen


Instrument zur Weltbewegung

Die „Fasci di combattimento", die von Mussolini am 23. März 1919 gegründet
wurden, wollten offenbar insofern den überlieferten Sinn des Wortes bewahren,
ahi 1:lie nach dem Wunsche Mussolinis den l·inken Flügel der nationalen Demokratie

1 So bei NAPOTiF.ONE CoLAJANNI, L'Italia nel 1898. Tumulti e reazione (Mailand 1898).

329
Faschismm II. 1. MUBSolini

(Bd.14, 131 )2 darstellen sollten. Parteioffizielle Berichte wiesen mitNachdruck auf den
populären und subversiven Charakter der Gründungsversammlung hin (Bd. 12, 338).
Der Terminus 'fascisti' ist schon früh geläufig; dagegen empfindet Mussolini das
Wort 'Faschismus' offenbar noch gegen Ende des Jahres 1919 so sehr als Neo-
logismus, daß er es in Anführungszeichen setzt, offenbar auch deswegen, weil das
Wort nicht von ihm allein geprägt worden war 3• Über die Bedeutung der jungen
Bewegung finden sich bei ihm in der frühesten Zeit sehr bescheidene Aussagen:
es handle sich um eine temporäre Organisation zur Lösung bestimmter Probleme,
die keine eigenen Endzwecke habe, da ja ihr Programm im wesentlichen mit dem
der sozialistischen Partei identisch sei, welche man lediglich von ihrem „bolsche-
wistischen Rausch" befreien müsse (Bd. 14, 131). Die großen Erfolge, die der
Faschismus 1921 als antislawische und schroff antisozialistische Kampforganisation
zunächst in Triest und der Venezia Giulia erzielt, sind für Mussolini zuerst
offenbar eine Überraschung; sie führen ihn jedoch gleichwohl schon bald zu der
sehr viel anspruchsvolleren Aussage, der Faschismus befinde sich oberhalb von
Proletariat und Bürgertum, er werde eines Tages die herrschende Kraft der Nation
sein (Bd.15, 273). Schon wenig später läßt er den Faschismus aus dem tiefen Instinkt
der Verreid·igung br Rasse (stfrpe), ·u11,Serer -m·iuelm,wrlärul1isclwn und arischen Rasse
hervorgehen (Bd. 16, 131). Damit ist die Anknüpfung an die römische Tradition
erfolgt, welche durch die Einführung des Rutenbündels (Fascio Littorio) als
Parteiemblem noch stärker hervorgehoben wird. Der faktischen Rechtsentwicklung
der Partei entspri~ht es, wenn Mussolini Anfang 1922 jene primitiva ordatura ver-
spottet, die den Faschismus zunächst als eine Bewegung der Linken habe erscheinen
lassen (Bd. 18, 277). Insgesamt nimmt die Tendenz, den Begriff immer mehr mit
rechtsgerichtetem Inhalt zu erfüllen und ihm eine immer größere Ausdehnung zu
geben, einen konsequenten Fortgang, wenn auch nicht ohne ein gewisses Wider-
streben Mussolinis. (der den Gedanken eines Friedensschlusses mit den Sozialisten
nur zögernd und unter dem Druck seiner radikalen Anhängerschaft aufgab) und
sicherlich nicht ohne die Einwirkung der großen Ereignisse wie des Marsches auf
Rom und der Ermordung Matteottis. Zugleich wird er durch unverwechselbare
Äußerungen mit dem spezifischen emotionalen Inhalt gefüllt, von dem er sich nie
wieder befreien sollte - und wollte. In der Wahlrede vom 3. Mai 1921 droht
Mussolini den Südtirolern: Wir werden euch auf faschi.~tische Weise die Knochen
brechen (Bd. 16, 301). Vom März 1923 datiert die berühmt-berüchtigte Äußerung,
notfalls werde der Faschismus abermals über den mehr oder weniger zersetzten Leich-
nam der Göttin Freiheit hinwegschreiten (Bd. 19, Hlf>f.). Am ersten Jahrestage des
Marsches auf Rom beziffert Mussolini die präsumtive Lebensdauer des Faschismus
auf sechzig Jahre. Nach dem endgültigen Bruch mit der Opposition im Jahre 1925
proklamiert er den rücksichtslosen Kampfgegen alle Prinzipien der Französischen
Revolution. Um die gleiche Zeit übernimmt er von seinen extremeren Gefolgs-

2 Die in Klammern gegebenen Hinweise zu den folgenden Mussolini-Zitaten beziehen sich

auf die Ausgabe der „Opera omnia" in 36 Bänden (Florenz 1951 ff.).
3 Vgl. ENzo PoNZI, Genesi e finalta del fascismo (Modena 1922); PIETRO GoRGoLINI,
n fascismo nella vita italio.no. (Turin 1922); MAssIMO RoccA, Idee sul fascismo (Florenz
1924); n fascismo e i partiti politici italiani. Testimonianze del 1921-1923, ed. RRNZO
DE }'ELICE (Bologna 1966).

330
II. 2. Gesnerüche Interpretation Fasehi11mua

leuten den Terminus regime totalitario (Bd. 12, 379) und spricht von der feroce volanta
totalitaria des Faschismus (Bd. 21, 326). Je unverkennbarer er aber bei den konser-
vativen Kräften des Landes Anlehnung sucht, um so nachdrücklicher betont er
zugleich den ;,revolutionären" Sinn des Faschismus, den er schon vor dem Marsch
auf Rom für konservativ und subversiv zugleich erklärt hatte (Bd. 17, 258). Und auch
die Einschränkung auf Italien findet bald ein Ende. Bereits gegen Ende 1927
erklärt er (zu unrecht}, die These, daß der Faschismus keinen „Exportartikel"
darstelle, stamme nicht von ihm; der Geist sei vielmehr seiner Natur nach universal,
und man könne daher ein faschistisches Europa vorhersehen (Bd. 24, 283). Wenige
Wochen nach Hitlers Machtergreifung nimmt er „die faschistische Bewegung",
die sich jenseits der Grenze entwickle, für sich in Anspruch, und im Sommer 1933
bezeichnet er nicht nur Deutschland ausdrücklich als faschistisch, sondern er glaubt,
darüber hinaus überall faschistische Fermente der politischen und geistigen Erneuerung
der Welt und damit die Anfänge eines faschistischen Jahrhunderts erkennen zu
können (Bd. 26, 45).

2. Der Begrift' des Faschismus in gegnerischer Interpretation: italienische Eigen·


tümlichkeit oder universales Phänomen?

Bei den innenpolitischen Gegnern Muasolinis fand die Tendenz, dem Begriff des
Faschismus einen möglichst umfassenden Inhalt zu geben, wenig Zustimmung.
Ihnen erschien der Faschismus vielmehr als charakteristisches Produkt der Zurück·
gebliebenheit Italiens gegenüber den politisch und ökonomisch fortgeschritteneren
Staaten des Nordens und des Westens. Für PmRo GoBETTI, den Vorkämpfer einer
„liberalen Revolution", ist der Faschismus die jüngste Gestalt des Transformismus,
also ein Versuch, den normalen politischen Kampf durch staatliche Gewaltan
wendung zugunsten der etablierten herrschenden Cliquen zu verhindern4 ; der
Sozialist ARTURO LABRIOLA hält ihn für unabtrennbar von der italienischen Ge-
sellschaft, in welcher er eingewurzelt sei5 ; dem Historiker Lurn1 SALVATORELLI
gilt er als Ausdrucksform des an rhetorischen Prunk gewöhnten humanistischen
Kleinbürgertums 6 • Für die Emigranten LUIGI STURZO und FRANCESCO SAVERIO
Nl'l"l'I stellt er sich um die Mitte der zwanziger Jahre als das Resultat einer niederen
Kultur dar, die freilich nicht nur in Italien vorherrscht, sondern im Osten Europas
mit dem Bolschewismus eine vergleichbare politische Erscheinung hervorgebracht
hat 7 • Selbst die „Thesen von Lyon" der Italienischen Kommunistischen Partei
(Januar 1926) hoben die lokal-italienischen Charakterzüge des Faschismus stark
hervor.

4 PIERO GoBETTI, Scritti politici, ed. Paolo Spriano (Turin 1960), 644, zit. ERNST NoLTE,

Vierzig Jahre Theorien über den Faschismus, in: Theorien über den Faschismus, hg. v.
ERNST NoLTE (Köln, Berlin 1967), 29, Anm. 30.
6 Vgl. NoLTE, Theorien, 21.
8 LUIGI SALVATORELLI, Nationalfaschismus, abgedr. in: Theorien über den Faschismus,

134; vgl. NOLTE, Theorien, 30 f.


7 Vgl. NoLTE, Theorien, 43 f. 47.

331
Faschismus II. 2. Gegnerische Interpretation

Dagegen haben die Verlautbarungen der Kommunistischen Internationale im


Faschismus von früh an ein universales Phänomen gesehen. Bereits in der Ein-
gangsrede des IV. K<:mgresses (November-Dezember 1922) spricht GEORGIJ
SrnowJEW von einer Epoche <les Faschismus, die möglicherweise eine ganze Anzahl
mehr oder weniger faschistischer Umwälzungen in Zentraleuropa in sich schlie-
ßen werde 8 . Aber wie diese Äußerung in den habituellen Optimismus Sinowjews
gleichsam nur eingesprengt ist, so ist in diesen frühen Jahren die kommunistische
Interpretation noch nicht dogmatisch fixiert. So kann KARL RADEK erklären, er
sehe in dem Siege des Faschismus nicht nur einen mechanischen Sieg der W afjen
der Faschisten, sondern ... die größte Niederlage, die der Sozialismus und <ler
Knm.m.11m.1:.~m.1t.~ .~P.it RP.ainn dP.r PP.rindP. dP.r WP.ltrm1nl11,tinn P.rlütP.n hii.tt.1m 9 . f1r.AR.A
ZETKIN nennt den Faschismus einen außerordentlich gefährlichen .und furchtbaren
Feind des Proletariats und fordert unter dem Eindruck der italienischen Niederlage
mit Nachdruck und Überzeugung eine defensive Einheitsfront der Arbeiterklasse 1 0.
Und Sinowjew wiederum findet keinen Widerspruch, als er ein gespanntes Verhält-
nis zwischen der Industriebourgeoisie und dem Faschismus konstatiert, der in
erster Linie eine Waffe in den Händen der Agrarier sei.
Während der Folgezeit entwickelte sich die kommunistische Auslegung aber -
wesentlich unter dem Einfluß innersowjetischer Vorgänger - in eine andere
Richtung. Die Diffamierung der Sozialdemokratie als 'Sozialfaschismus' 1 0"' ver-
nichtete die Möglichkeit einer defensiven Einheitsfront, indem sie dem Begriff des
Faschismus den weitestmöglichen Umfang gab (Anti-, ja Nichtkommunismus
überhaupt); der künstlich erneuerte und durch den Eintritt der W eltwirtschaf'ts-
krise geförderte revolutionäre Optimismus setzte sich über Radeks Warnungen
hinweg, und je schroffer sich die Polemik wieder gegen den alten Gegner, „das"
Bürgertum einschließlich der Arbeiteraristokratie, richtete, um. so nachdrücklicher
wurde der Faschismus mit ihm identifiziert. Die Folge war die Definition des
XIII. Plenums des Exekutivkomitees der Komintern vom Dezember 1933, die
sogleich kanonische Gültigkeit erlanite: Der Faschismus ist die offene terroristische
Diktatur <ler am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Ele-
mente des Finanzkapitals 11 •
Die meisten Auslegungen, die der Faschismus biS zum Jahre 1933 fand, bewegen
sich in der Mitte zwischen der lokalitalienischen Auffassung vieler italienischer
Emigranten und der universalen Konzeption der Komintern. So sieht ERWIN VON
BECKERATH 1927 im Faschismus ein Wiederauftauchen des absolutistischen
Staates, der bei einer Fortdauer der Krise auch über Italien hinaus Raum zurück-

8 Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale (Hamburg 1923),

45; vgl. NoLTE, Theorien, 22.


"l'rotokoll del!l Vierten Kongres8es, 310; vgl. NoLTE, Theorien, 22.
1 ° CLARA ZETKIN, Der Kampf gegen den Faschismus, in: Protokoll der Erweiterten

..l!;xekutive der Kommunistischen lnternationale Moskau ll!.-l!3. Juni 1Yl!3 (Hamburg


1921), abgedr. in: Theorien über den Faschismus, 88; vgl. NoLTE, Theorien, 23.
10 "' Vgl. SIEGFRIED BAHNE, „Sozialfaschismus" in Deutschland. Zur Geschichte eines

politischen Begriffs, International Rev. of 8ocial History 10 (1065), 211 ff.


11 Zit. NoLTE, Der Faschismus in seiner Epoche (München 1963), 552, Anm. 40.

332
U. 3. Die Nationallozinfü1f.P.n Faschismus

gewinnen könne 12. HERMANN HELLER zeichnet das Bild des italienischen Faschis-
mus als abschreckendes Beispiel für die europäischen Demokratien, die bei Strafe
ihres unweigerlichen Untergangs zu der Einsicht kommen müssen, daß sie oberhalb
der Klassengegemiätze eine handlungsfähige Regierung nicht entbehren können1 3 •
Dennoch wird ein „Sieg des Faschismus in Deutschland" durchweg für unmöglich
gehalten, da alle Theoretiker sich darüber einig sind, daß Italien und Deutschland
sowohl ökonomisch wie sozial zu verschiedenartig seien, als daß sie beide von einem
„abnormen" Typus des politischen Regimes regiert werden könnten. Noch zu
Beginn des Jahres 1933 erschien im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozial-
politik" ein Aufsatz von FRANZ BoRKENAU, der zu zeigen versucht, daß der
italienische Faschismus eine Entwicklungsdiktatur zur Schaffung der Grundlagen
des Kapitalismus sei, ·daß aber in Deutschland das vollentwickelte industrielle
Bürgertum auf die Ausübung der Herrschaft nicht verzichten könne. Die Macht-
ergreifung des .Nationalsozialismus mußte für diese weitverbreitete Auffässu11g
·eine schwere Krise bedeuten14.

3. Die Nationalsozialisten und der Begriff des Faschismus

Daß der Nationalsozialismus sich als dem Faschismus eng verwandt betrachtete
ließ sich nicht übersehen. Die tiefe Re1mNndfo/rwng für den großen Mann südlich der
Alpen, die HITLER schon in „Mein Kampf" zum Ausdruck brachte 15 , war mehr
ideologischer als persönlicher Natur: sie galt dem „Vernichter des Marxismus".
Im Vorwort zu der deutschen Übersetzung eines Buches von Vincenzo Meletti
über den Faschismus spricht Hitler von der inneren Verwandtschaft der italienischen
und der deutschen Prä{f1MUJ der neuen Staats,idee 16 und JOSEPH ltoEBBELS erklärt
1!)34, der Fasohirimuo ooi dem Nationalsozialismus 10 Jahre vorau,s 17. Daß Hitler
sich selbst und seine Anhänger ausdriicklir.h als 'deutsche Faschisten' bezeichnete,
blieb exzeptionell18, aber selbst in den Zeiten sr.ha.rfär politischer Spannung zwi-
schen den beiden Regimes wurde die ideologische Verwandtschaft nur selten
bestritten, seit 1936 wurden Versicherungen dieser Art zu Gemeinplätzen, und
selbst das „Versagen" Italiens im Zweiten Weltkrieg wurde im allgemeinen nicht
dem Faschismus, sondern dem Volloicharakter zur Last gelegt.

12 Vgl. NoLTE, Theorien, 48.


13 HERMANN HELLER, .JJ:uropa und der Faschismus, 2. Aufl. (Berlin, Leipzig 1931), 1118;
vgl. NOLTE, Theorien, 33.
14 FRANZ BoRKENAU, Zur Soziologie des Faschismus, abgedr. in: Theorien über den
Faschismus, 156 ff.; vgl. NoLTE, Theorien, 39 f.
u AnoLF HrrLER, Mein Kampf, 636.-64.0. Aufl. (Miinr.hAn 1941), 774.
16 VINCENZO MELETTl, Wesen, Wollen, Wirken des Faschismus (Berlin 1935), 5 f.; vgl .

.NoLTE; 'l'heorien, 58.


17 JOSEPH GoEBBELS, Der Faschismus und seine praktischen Ergebnisse, zit. NoLTE,

Der Faschismus in seiner Epoche, 343.


18 HITLER, Ansprache an die faschistische Jugend,. 26. 7. 1933, Völkischer Beobachter;

Siiddt. .Ausg., Ausg. V, Nr. 208 (27. 7. 1933).

333
Fa1chUmW1 II. 4.. Antüuchistisohe und antitotalitiire Auslegung bu 1945

4. Das Ringen der antifaschistischen und der antitotalitären Auslegung bis 1945

Die These Lenins, daß die wesentliche Alternative der Epoche nach dem Ersten
Weltkrieg in der Entscheidung zwischen „prole.tarischer Diktatur und bürger-
licher Demokratie" bestehe, war spätestens seit 1933 nicht mehr zu halten. Sie
lebte zwar zunächst in der kommunistischen Überzeugung fort, daß der Faschismus
nichts weiter als eine Erscheinungsform der bürgerlichen Demokratie sei. Aber die
innere Schwäche dieser Interpretation lag am Tage, und sie wurde gerade von
Außenseitern des Kommunismus bzw. von Linkssozialisten herausgestellt. ERNST
BLOCH deckte die „Ungleichzeitigkeit" großer sozialer Schichten und ganzer
Altersgruppen in der modernen Gesellschaft auf, die von der Demokratie so wenig
angesprochen werden konnte wie vom dogmatischen Marxismus 19 ; WILHELM REICH
glaubte in der jahrtausendealten sexuellen Repression die vom Marxismus unbe-
achtete Energiequelle der fa1:1uhl1:1Lii:ml1e11 R11w11g11ngen identifiziert zu haben 20;
lGNAZIO SILONE führt den Erfolg des Faschismus auf den Appell an die „ererbte:ii
Urinstinkte" zurück 21 ; FRITZ STERNBERG konstatiert die Verant.wortlichkeit
gerade der kommunistischen Taktik für den Sieg der Faschismen in Italien und
Deutschland22 • Vor allem aber wurde die Leninsche These nach Hitlers Macht-
ergreifung zu einer Lebensgefährdung für die Sowjetunion, da sie die westlichen
Demokratien geradezu auf den Weg eines Bündnisses mit Hitler und Mussolini
drängen mußte. Sie wurde daher auf dem VII. Weltkongreß der Komintern 193ri
durch eine „antifaschistische" Konzeption abgelöst, die das Bündnis aller demo-
kratischen Kräfte zum Kampf gegen den Faschismus postulierte 23 • Die neue
Auffassung wurde zwar in ihren Konsequenzen nie radikal durchdacht, erlebte
aber eine Blütezeit praktischer Auswirkung in den Jahren der .Französischen
Volksfront und des Spanischen Riireflrkri11gR. fä1.ß Rie jedoch niemals .zur Allein-
herrschaft gelangte, haLLe lllehrere Ursachen~ Einmal waren die englische und die
französische Regierung schon aus machtpolitischen Interessen gezwungen, auf
einen Awigleiuh mit Italien hinzuarbeiten und sich der antifaschistischen Auf-
fassung, die eine Allianz zwischen Hitler und Mussolini für unausweichlich hielt,
zu widersetzen. Zum zweiten sahen sich alle diejenigen, die der kommunistischen
Volksfront mißtrauten und das abschreckende Beispiel des stalinistischen Rußland
vor Augen hatten, zu einer anderen Grundalternative geführt, derjenigen von
„democracy versus dictatorship", wie sie etwa schon 1934 in Aufrufen der Labour-
partei formuliert ist. Schließlich zog die rapide Entwicklung des Nationalsozia-
lismus die Blicke vom Parallelfall des faschistischen Italien und erst recht von den

19 Vgl. ERNST BLOCH, Der Faschismus als Erscheinungsform der Ungleichzeitigkeit,

abgedr. in: Theorien über den Faschismus, 182 ff.; vgl. NoLTE, Theorien, 38 f.
20 Vgl. NoLTE, Theorien, 56.
21 Vgl. ebd., 53. 56.
22 FRITZ STERNBERG, Der Faschismus an der Macht (Amsterdam 1935).
23 Vgl. GEORGI DIMITROFF, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommu-

nistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschis-
mus, abgcdr. in: WILHELM PIECK / GEORGI DIMITROFF / P .ALMIRO ToGLIATTI. Die Offensive
des FaschiHmus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen
Krieg und Faschismus (Berlin 1957), 114 ff. u. ö.

334
m. Ausblick Fa11chi11mua

zahlreichen kleineren Bewegungen ab, die sich faschistisch lliUlllLell uuer minue1:1Lem1
in Mussolini und Hitler ihr Vorbild sahen. Für den konservativen Denker HERMANN
RAUSCHNING hat der Nihilismus der doktrinlosen nationalsozialistischen Revolu-
tion als Vollendung des Aufstandes der Massen viel mehr Ähnlichkeit mit dem
Kommunismus als mit dem italienischen Faschismus 24, und für den Katholiken
EDGAR ALEXANDER hat das nationalsozialistische Reich ohne Gott mit seiner
haßerfüllten Blutmystik seine Parallelen weniger in der Gegenwart als in einer
frji,hgeschichtlichen götzendienerischen Barbarei 25 • So durfte GrnsEPPE ANTONIO
BoRGESE schon 1936 auf wenig Beifall rechnen, wenn er der Meinung war, nichts
rechtfertige die landläufige Auffassung, wonach der Nationalsozialismus eine weit
schauerlichere Ungeheuerlichkeit sei als der Faschismus 26 •
Erst die Herstellung der endgültigen Kriegskonstellation zog den temporären Sieg
der antifaschistischen Konzeption nach sich. Aber schon der Kriegsverlauf selbst
führte zu einer ersLen Schwächung dieser Auffassung, da das nationalsozialistische
Deutschland sich als ein sehr viel stärkerer Gegner erwies als das faschistische
Italien. Noch stärker sprachen die antisemitischen Untaten, deren Kenntnis sich
bereits während des Krieges verbreitet hatte, gegen eine Identifizierung der beiden
Regimes.· i944/45 kämpfte die amerikanisch-sowjetisch-englische Koalition gegen
den „Nazismus" oder gegen „Deutschland", aber kaum noch gegen den
„Faschismus".

m. Ausblick
Der Schwächung der antifaschistischen Konzeption folgte wenig später das Zer-
brechen des Kriogsbündnisses. Es bedeutete sogleich das Wiederauftauchen der
ii.lteren Fa1:1ehi1:1niu1:1Legriffe. In der Sowjetunion wurden 'Faschismus' und 'bürger-
liche Demokratie' erneut in eins gesetzt, und selbst ein Mann wie Tito wurde zum
Faschisten erklärt. In der westlichen Welt gelangte der Totalitarismus-Begriff zur
Herrschaft, der den Nationalsozialismus mit dem Bolschewismus zusammenstellt
und in einer freilich anders akzentuierten Wiederaufnahme der Thesen Sturzos und
Nittis den italienischen Faschismus als die bloß autoritäre Vorstufe des eigentlichen
'l'otalitarismus versteht. Erst in jüngster Zeit scheint eine Auffassung Raum zu
gewinnen, die im Faschismus ein kennzeichnendes, nicht auf Deutschland. und
Italien beschränktes, durch ideologische und strukturelle Eigentümlichkeiten
sowohl vom Bolschewismus wie von der parlamentarischen Demokratie wie von blo-
ßen Entwicklungsdiktaturen verschiedeneR Phänomen der europäischen Zwischen-
kriegszeit erblickt. Ob die nach Umfang und Intensität überraschende Renaissance
eines Marxismus, für den die Analyse des :Faschismus bloß ein Kampfmittel gegen
den „Kapitalismus" ist, sich als dauerhaft und produktiv erweisen wird, bleibt
abzuwarten.

24 HERMANN RAUSCHNING, Die Revolution des Nihilismus (Zürich 1938); vgl. NoLTE~

Theorien, 60.
26 EDGA..R ALEXANDER, Der Mythus Hitler, abgedr. in: Theorien über den Faschismus,

337; vgl. NoLTE, Theorien, 59 f.


26 GrnsEPPE ANTONIO BoRGESE, Der Marsch des Faschismus (Amsterdam 1938), 338,

:r.it. NoLTE, Theorien, 61.

335
1''aschismm m. Amblick
Literatur

01•1•0 BAUJ!lR / HJ!lRJIJ!lH.'l' MARousl!l / ARi•HUR RosENBERG, Faschismus und Kapitalismus.


Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, b,g. v. Wolfgang
Abendroth (:l!'rankfurt 1967); CoNSTANZO ÜASUCCI, II fascismo. Antologia di scritti critici
(Bologna 1961); Faschismus-Theorien 1-111, Das Argument, H. 30. 32. 33 (1964/65);
RENZO DE FELICE, Le interpretazioni del fascismo (Bari 1969); REINHARD KfumL, Formen
bürgerlicher Herrschaft, Liberalismus - Faschismus (Reinbeck 1971); ERNST NOLTE, Der
Faschismus in seiner Epoche. Action fran9aise, italienischer Faschismus, Nationalsozialis-
mus (München 1963); ders., Die faschistische Bewegungen, dtv-Weltgeschichte des 20. Jahr-
hunderts, Bd. 4 (München 1966); EuGEN WEBER, Varieties of Fascism (Princeton 1964);
The European Right. A Historical Profile, ed. HANS RoGGER u. EuGEN WEBER (Berkeley,
Los Angeles 1965); WOLFGANG ScmEDER, Art. Faschismus, SDG Bd. 2 (1968), 438:6'.;
GERHARD SCHULZ, Faschismus - Nationalsozialismus. Kontroversen und theoretische
Kontroversen (Frankfurt, Borlin, Wion 1071).
ERNST NoLTE

336
Feudalismus, feudal

I. Einleitung. II. 1. Vorgeschichte des Begriffs in der Rechtssprache. a) Ursprung des


Wortes. b) Aufzeichnung der Lehnsrechte. c) Ansätze zur Bildung des Begriffs 'Lehns-
staat'. 2. 'Feodalite' in Frankreich. 3. Deutschland: 'Lehenssystem', 'Feudalverfassung',
'Feudalismus'. 4. Hegel uiid Marx. III. Ausblick.

I. Einleitung
'Feudalismus' taucht als Neologismus im deutschen Sprachgebiet erst während
der Französischen Revolution auf, nachdem im Französischen 'feodalite' im
18. Jahrhundert vom Rechtsterminus zum Verfassungstypenbegriff mit geschichts-
pl1ilo:;opl1i:;che1· WerLung geworden war. Seitdem ist 'Feudalismus' zu einem ge-
schichtlichen Grundbegriff geworden, der in den politischen Richtungskämpfen
(Liberalismus, Sozialismus) zur geschichtsphilosophischen Deutung verwendet und
erst spät von der Geschichtswissenschaft unter Anknüpfung an den alten Rechts-
terminus zu einem historischen Typenbegriff entwickelt worden ist.

II.

1. Vorgeschichte des Begrift's in der Rechtssprache

a) Ursprung des Wortes. Die Termini 'Feudalismus', 'feudal' gehen auf das
mittelalterliche '1'eudum' zurück. ~s taucht in der .l!'orm 'feus' u. ä. am .Heginn
des 10. Jahrhunderts in Südfrankreich auf. Dieses Wort, vermutlich von fränkisch
fohu „Vieh, Geld, Vermögen" abgeleitet, wird in seiner Bedeutung auf das „Ritter-
lehen" eingeschränkt und zu einem rechtlichen terminus technicus. Die lateinische
.l!'orm 'feodum', 'feudum' ist lautlich wahrscheinlich in Analogie zu dem Gegen-
begriff 'Allod', 'alleudium' ('Eigen') gebildet worden. Es erscheint zuerst in Frank-
reich um 1000 und hat von hier ausgehend den ganzen, vom Lehenswesen mehr
oder minder bestimmten Teil EuropaR erfaßt und die älteren, vieldeutigen Wörter
'beneficium' und 'honor' verdrängt1. Das J_,ehnsrecht existiertfl in verRchie<farnir
Gestalt in der praktischen Anwendung, als landschaftlich differenziertes Gewohn-
heitsrecht. Dieses Lehnsrecht betraf die „rittetmäßigen" oder „rechten Lehen",
wenn die Termini 'Feudum' und 'Lehen' in verschiedenen Zeiten und Land-
schaften auch auf andere Leiheformen angewendet wurden.

b) Aufzeichnung der Lehnsrechte. Seit dem 12. und 13. Jahrhundert wurde das
Lehnsrecht aufgezeichnet. In Frankreich erscheint es in die Landschaftsrechte
(Coutumes) eingeordnet, im „Sachsenspiegel" (1225) stehen Landrecht und Lehns-

1 HERMANN KRAWINKEL, Feudum. Jugend eines Wortes. Eine Sprachstudie zur Rechts-

geschichte (Weimar 1938); K. J. HoLLYMAN, Le developpement du vocabulaire foodale


en France pendant le haut moyen äge (Paris 1957), 41 ff. - WILHELM HoMUTH, Vom
EinB.uß des Lehnswesens und Rittertum!! auf den französischen Wor·tschatz, Romanische
]j'orsch. 39 (1926), 201 ff. bietet nichts für unser Thema. Zum Aufkommen des Wortes in
Deutschland: RWB Bd. 3 (1935/38), 521 f., s. v. feudum.

22-90386/1 337
Fe111lall1mtü D. 1. Vorgnchichte des Begrift's

recht nebeneinander, ebenso in dem nach dem Vorbild des „Sauhi;em1_piegels" um


1275 verfaßten, in Süddeutschland verbreiteten „Schwabenspiegel". Von be-
sonderer Bedeutung für ganz Europa wurden die im 12. Jahrhundert in der Lom-
bardei verfaßten, dem ÜBERTUS DE ÜRTO und anderen zugeschriebenen „Libri
feudorum", die die Rechte der Vasallen stark betonten. Sie galten als Anhang des
„Corpus iuris civilis" und teilten dessen Rezeption in Europa. Sie galten als subsi-
diäres Recht, wenn auch nicht unbestritten; sie waren eben ein Stück italienischer
Rechtskultur (Zivilrecht, Kirchenrecht) und wurden wie dieses im hohen und späten
Mittelalter glossiert, kommentiert und in Summen zusammengefaßt und damit
systematisiert. Daher stammt ihre begriffliche Überlegenheit und ihr Ansehen als
Teil des „Kaiserrechts".
Die „Libri feudorum" wurden daher neben dem römischen Recht zum Studium
auch der humanistisch geschulten Juristen des 16. Jahrhunderts. Der humanistischen
Denkweise entsprechend, tritt hier die ..l!'rage nach den Ursprüngen, den „fontes'',
hervor. Vertreter dieser Richtung wie ULRICH ZAsrns (1461-1535) in Deutsch-
land, der in engem Anschluß an das einheimische Recht über Lehnsrecht las und ein
Kompendium veröffentlichte, oder GUILLAUME Bum~ (1467-1540) suchten den
Ursprung des Lehnsrechts im römischen Recht, versuchten 'feudum' von ':fides'
oder von 'foedus' herzuleiten und verwiesen auf irgendwie ähnliche Rechtsinstitute
Wie clicntcla oder patrocinium oder auf andere spätrömische Rechtsbegriffe wie
JACQUES DE CuJAS (1522-1590), der bereits von den Ansichten der „Feudisten"
beeinflußt war 2 • Denn diese Kenner des in Frankreich gültigen Lehnsrechtes,
ilie sich gegen ilie italienii;ehen, „ultramontanen" Rechtslehrer wandten, ver-
fochten die ~igenständigkeit des französischen Reohts. So hat der vorübergehend
auch in Tübingen tätige CHART,"FJS DuMoUT.IN in seiner Einleitung zu seinem
Kommentar der „Coutume de Paris" (1530) eine Geschichte de11 Lehnswesens
gegeben, die die Unanwendbarkeit des römischen Rechts und des mit ihm ver-
bundenen lombardischen Lehnsrechts in Frankreich postulierte. Das Lehns-
wesen sei eine Schöpfung der fränkischen Könige, die er bis in die Zeit vor Christi
Geburt zurückführte, der „Francigermani".
Neben anderen Schülern hat vor allem FRAN901s HoTMAN (1524-1590), der
Protestant war und lange außerhalb Frankreichs in Straßburg, Genf und Basel
lehrte, den fränkischen Ursprung des Lehnswesens verfochten, so in der Schrift
„De feudis" (1573) und in der im selben Jahr erschienenen „Francogallia". Die
enge Verknüpfung konfessioneller und ständischer Rechte ließ hier die Franken
als die Vorkämpfer der Freiheit und das römische Recht als die Wurzel der
„Tyrannis" erscheinen. Diese Thesen, der Gegensatz der Freiheit der Franken,
des Adels, zu den als Galloromanen verstandenen breiten Schichten hat das poli-
tische Denken Frankreichs im Zeitalter des Absolutismus und noch der Französi-
schei:i Revolution bestimmt.

c) Ansätze zur Bildwig des Begriffs 'Lehnsstaat'. Ein anderer Ansatir.punkt


für das neuere Verständnis des Feudalismus ist in Großbritannien festzustellen.
Der in Frankreich geschulte Schotte Sm THOMAS CRAIG (1538-1608) hat in seinem

2 DONALD R. KELLEY, De origine feudorum: The Beginning of an Historical Problem,


Speculum 39 (1964), 207 ff.

338
c) Bildung de11 BegriJis 'Lehnsstaat' Feudalismus

1603 erschienenen „Jus feudale" das Lehnsrecht als politisches Herrschaftssystem


erklärt, eine Vorstellung, die älteren Jahrhunderten unbekannt war. Hier war
neben dem Wunsch, in den wirren schottischen Verhältnissen Ordnung zu schaffen,
die Kenntnis des in Schottland subsidiär geltenden englischen Lehnsrechts maß-
gebend, das seit der normannischen Eroberung ein abgestuftes Lehnssystem
kannte, das im König gipfelte, aber keineswegs allein die Grundstruktur der eng-
lischen Verfassun:g besti~mte. Craig kannte :Zudem die Schriften Jean Bodins, die
ihn zur Konstruktion einer Art von Lehnsstaat angeregt haben mögen.
Der Engländer Srn HENRY SPELMAN (t 1641) hat, an Craig anknüpfend, in seinem
1622 erschienenen „Archäologus" und in späteren Schriften ein analoges System
dargestellt, in dem nun auch als unterste Stufe die bäuerlichen Leihen einbezogen
wurden. Spelmans Absicht war, die Rechte der Peers, des Oberhauses, aber auch
des Königs gegen die Commons, das Unterhaus, abzusichern. In dem heraufziehen-
den Konflikt stützten sich seine Gegner, vor allem Srn EnwARD COKE, auf das
Common Law und die damit gegebene Ancient Constitution, derzufolge das Parla-
m1mt Rr.hon in ane!llf1ächsischer Zeit bestanden haben sollte. Beide Parteien ent-
wickelten ein Bild von der Vergangenheit, das den tatsächlichen Verhältnissen
iilchL e11L1:!p1·ach und noch weniger der Gegenwart. Denn in England ißt do,o Lohno
recht 1660 endgültig aufgehoben worden. Diese Diskussion verlor seit dem Ende
de1:1 17. Jahrhunderts allmählich ihre Bedeutung. Die All!!ii.tze, die man hier für
die jüngeren Begriffe 'Lehrn1staat' und 'Feudalgesellschaft' erkennen kann, bleiben
vorerst ohne Bedeutung3 •
In Deutschland hat der in Straßburg wirkende JOHANNES SCHILTER (1632-1705)
in seinem „Codex iuris Alemanici feudalis" (1697') das Lehnsrecht des 11 Schwaben-
spiegels" ins Lateinische übertragen und dainit die Voraussetzungen 4 für den
Vergleich Init den „Libri feudorum" geschaffen. Lehu1:1rechL wurde im 17. und
18. Jahrhundert an vielen Universitäten teils aufgrund der „Spiegel" oder tcrri-
t~rialer Lehnsrechte, teils aufgrund der „Libri feudorum" vorgetragen. Es ent-
-standen große Sammlungen des Lehnsrechts (LÜNIG 1727; SENKENBERG 1740 u.
1772 und zahlreiche Darstellungen, so noch WEBERS „Handbuch" 1807/18) 5 •
Das Lehnsrecht wurde als besonderer Rechtskreis dem Privatrecht zugerechnet,
wie denn auch lehnsrechtliche Prozesse vor allem durch Erbstreitigkeiten veran-
laßt wurden.
Schilter hat aber auch, angeregt von Craigs „Jus feudale", den Versuch unternom-
men, die im „Sachsen-" und „Schwabenspiegel" enthaltene Heerschildordnung zur
Konstruktion des Reiches als eines im König gipfelnden Lehnsstaates heranzu-

3 JoHN G. A. PococK, The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English

Historical Thougt in the Seventeenth Century (Cambridge 1957; Ndr. New York 1967).
4 ÜTTO HERDING, De iure feudale, Vjschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. 28 (1954),

207 ff.
6 JoH. CHRISTIAN LÜNIG, Corpus juris feudalis Germanici, 3 Bde. (Frankfurt 1727);

HEINRICH ÜHRISTIAN FRH. v. SENKENBERG, Corpus juris feudalis Germanici oder Voll-
ständige Sammlung der Teutschen Gemeinen Lehens-Gesetze (Gießen, Frankfurt 1740),
2. Aufl., 3 Bde., hg. v. Joh. Friedrich Eisenhart (Halle 1772); GEORG MICHAEL RITTER
v. WEBER, Handbuch des in Deutschland üblichen Lehenrechtes nach den Grundsätzen
G. L. Böhmers, 4 Bde. (Leipzig 1807/11); vgl. ERNST LANDSBERG, Geschichte der deutschen
Rechtswissenschaft, Bd. 3/1 (München 1898), 455 ff.

339
Feuilalil!lwll!I II. 2. 'Feodalite' in Frwikreich

ziehen, eine Vorstellung, die zum Teil bis zur Gegenwart nachwirkt. Doch standen
das positive Lehnsrecht und seine einzelnen Rechtsinstitute als Privatrecht im
Vordergrund, während im Staatsrecht des Reiches und der Territorien das Lehns-
recht nur als ein keineswegs tragender Faktor erwähnt wurde. So hat CHRISTIAN
AUGUST BECK in den Jahren 1754/59 dem Erzherzog Joseph (dem späteren Kaiser)
ein umfassendes System des Rechts vorgetragen; in dem auf das Reichsstaatsrecht,
wo auf die Reichslehen und auf die Reichsallode hingewiesen wird, die Grundsätze
des Lehnsrechts folgen 6 • Doch wird zur gleichen Zeit auch in der Wortbildung
'Lehensverfassung' ein erster Schritt dazu getan, das Lehnsrecht historisch-
typologisch zu verstehen. J USTI bezog (1758) die Lehensverfassung, geschichtlich
zurückblickend, auf den Zustand des Staats, daß man kein beständiges Kriegesheer
unte1·hielt, sondern die adelige Reiterei mit verliehenen Landgütern verwendete,
weil man in alten Zeiten wenig Geld hatte. Dies gelte nicht mehr. Also verbindet uns
die gesunde Vernunft, die Lehensverfassung abzuschaUen 7 •

2. 'Feodalire' in Frankreich

Auch in Frankreich war im Lehnsrecht der dingliche Charakter geg1miiher il1m


persönlichen Bindungen in den Vordergrund getreten. Dazu kommt, daß die in
den Seigneurien geübten Herrschaftsrechte durch den königlichen Verwaltungs-
apparat in einem seit langem in Gang gekommenen Prozeß stark zurückgedrängt
worden waren. Die Seigneurie verlor weitgehend ihre Funktionen, und ihre Rechte
erschienen daher als sinnlos. 'Feodalite' bezeichnet seit dem 16. Jahrhundert das
Lehnsrecht, wobei das Schwergewicht aber auf dem Bodenrecht lag. Die in der
Spätzeit Ludwigs XIV. hervortretende Adelsopposition suchte ihre Rechte zu ver-
teidigen. So hat der Co111TE HENRI DE BouLAINVILLIERS (1658-1722) in seiner
nach seinem Tode im Haag 1727 erschienenen „Histoire de l'ancient gouvernement
de Ja. Fra.nce" fäoda.lite als Regierungssystem (gouvernement fäodal) gesehen, das
er, wie schonDumoulin undHotman, auf die Franken zurückführte8 . Entscheidend
jedoch wurde MONTESQUIEU, der in seinem „Esprit des lois" (17 48) die Jois fäocfales
als Auflösung der öffentlichen Gewalt, als Zerstückelung des französischen Staates,
als Zerfall in lokale Herrschaftsbezirke betrachtete, an deren Überwindung das
Königtum arbeitete 9 • Damit bezeichneten Termini wie 'lois fäodales', 'systemes
fäodales' nicht nur das adelige Lehnsrecht, sondern auch das seigneuriale System,
die lokale Herrschaft über Untertanen. 'Feodalite' wurde zum Begriff eines politi-
schen Systems, zunächst gegen den zentralisierenden Königsstaat gerichtet.

6 Recht und Verfassung des Reichs in der Zeit Maria Theresias. Vorträge zum Unterricht

Erzherzog Josephs in Natur- und Völkerrecht sowie im deutschen Staats- und Lehnrecht,
hg. v. HERMANN CoNRAD (Köln 1965); ZEDLER Bd. 9 (1735), 686 ff., Art. Feudale jus,
Feudum.
7 JoH. HEINR. GoTTLOB v. JusTI, Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller

Oekonomischen und Cameral-Wissenschaften, Bd. 2 (Leipzig 1758), 404 f.


8 ROBERT BoUTRUCHE, Seigneurie et fäodalite (Paris 1959), 12 ff.
9 MoNTESQIDEU, De t'esprit des lois, c. 30. Oeuvres compl., t. 2 (1951), 883 ff. Ober das

tatsächliche Verhältnis vgl. MARTIN GöHRING, Die Feudalität in Frankreich vor und nach
der großen Revolution (Borlin 1034).

340
Il. 2. 'Feodalite' in Frankreich Feudalismus

VOLTAIRE sah im 'systeme fäodal' die Teilung der staatlichen Gewalt durch unzählige
kleine Tyrannen und meinte auch, daß dieses Phänomen nicht nur in Europa,
sondern auch in Asien nachzuweisen sei, wie denn bereits die französischen Juristen
des 16. Jahrhunderts Vergleiche mit der inneren Struktur des Osmanischen Reiches
gezogen hatten 10• Damit war der erste Schritt zum universalgeschichtlichen Typen-
begriff getan.
In der „Encyclopedie" haben die Bearbeiter der betreffenden Artikel („Fief",
„Feodalite", „Etat"), vor allem der rechts- und verfassungsgeschichtlich geschulte
BoucHER n' ARGIS, ein sachlich weithin zutreffendes Bild der Rechtsverhältnisse
gegeben, wobei die „lois fäodales" bzw. das „gouvernement fäodal" sorgfältig
historisiert wurden, so daß die Zustände der Gegenwart zu dem günstigen ge-
schichtlichen Bild des Feudalwesens im frühen und hohen Mittelalter implizit im
scharfen Kontrast erschienen. DrnEROT ging darüber hinaus, indem er das gou-
vernement feodal zum Inbegriff einer ungerechten Verfassung machte, in . der
la noblesse et le clerge eurent long-temps le droit exclusif de parler au· nom de toute
la nation, ou d'en etre les uniques representants. Das Volk, d. h. der zahlreichste,
arbeitende, nützliche Teil der Nation, habe nicht für sich selbst sprechen können.
Le gouvernement feodal ne nous montre que des souverains sans forces, et des peuples
ecrases et avilis par une aristocratie, armee egalement contre le monarque et la
natfon 11 •
Mit dieser Auffassung antizipierte Diderot die 1789 erscheinende Schrift des
ABBE SIEYES „Qu'est-ce que le tiers etat 1", die die Nation auf die Gleichheit vor
dem Gesetz basierte und unter Bezug a11f die Frankentheorie die Ansprüche des
Adels (und der Kirche), der „Bevollmächtigten der Feudalität", der „Privilegier-
ten", bekämpfte. Dem entsprach die Vereinigung der drei Stände, der „Etats
generaux", zu einer „Assernlilee 1rnLiuuale" am 17. Juni 1789 und deren Dekret vom
11. August, in dem das „Regime fäodal" für aufgehoben erklärt wurde.
Bis zur großen Revolution hatte in Frankreich die Gewalt der lokalen Herrschafts-
gebilde, der 'Seigneuricn' - ein Wort, das in der französischen Verfassungs-
geschichte alle unter dem König stehenden Lokalgewalten bezeichnet - noch im
Vordergrund gestanden, obwohl ihre Bedeutung durch den Verwaltungsapparat
des Königsstaates soweit zurückgedrängt worden war, daß 'fäodalite' von der
Wertung der vereinheitlichenden Krone aus a.ls „Z1m1tiickelung der Souveränität"
aufgefaßt werden konnte. Da in Frankreich das Lehenswesen fast völlig durch-
gedrungen war, ließ und läßt sich dieser Zustand und in Analogie auch anderwärts
als 'fäodalite', 'Feudalismus' bezeichnen. Hier wird der T1mninus für eine politische
Struktur verwendet, in der Unterstaaten unter einer übergeordneten Herrschaft
von verschieden starker Relevanz bestehen.
Die Aufhebung der Feudalrechte bedeutet aber auch das Verschwinden der bäuer-
lichen Abhängigkeit, der seigneurialen Bindung und, da gleichzeitig alle Korpo-
rationen aufgehoben worden waren, das Entstehen einer vor dem Gesetz des Staates

10 VoLTAIRE, Essai sur !es moeurs et l'esprit de1:1 naiions, c. 38. Oeuvres compl., t. 11 (1878),
349. Vgl. c. 33.
11 DNNIS DwNROT, Art. Rep1·esentans, Encyclopedie, t. 28/2 (Ausg. Lausanne, Bern

1778 ff.), 364; vgl. EBERHARD WEIS, Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der
französischen F.nzyklopädie (Wiesbaden 1956), 43.

341
Feudalismus Il. 2. 'Feodalite' in Frankreich

gleichen, von diesem abgehobenen Gesellschaft. Hier aber standen der Gleichheit
vor dem Gesetz der Unterschied im Besitz und die dadurch geschaffene wirtschaft-
liche Abhängigkeit entgegen.
So sah schon der A:BBE Smrls die „Nation" als Wirtschaftsgesellschaft, als „nation
commerc;ante et industrielle", als eine „nation qui travaille". Bei Sieyes erscheint
demgemäß anstelle der verworfenen und durch die Revolution beseitigten 'etats',
Stände, der Begriff der durch die wirtschaftliche Situation bestimmten 'classe',
der auch auf die Feudalität älterer Jahrhunderte übertragen wurde1 2 •
Immerhin bestand auch in Frankreich nach der Revolution ein Großgrundbesitz,
dessen Besitz sich hier wie in anderen Ländern als 'feudal' bezeichnen ließ. Schon
während des Direktoriums forderte der „Ko~mnniRt" G-RM1CHT.TS B.A.Bli:UF 1797),<t
der eine „Verschwörung der Gleichen" anzettelte, ein Ackergesetz, das eine gleich-
mäßige Verteilung des Grundbesitzes forderte 13. Die Beseitigung der fäodalite
machte den überkommenen Begriff der Herrschaft problematisch. So konnte der
dieser Welt entstammende CLAUDE HENRI DE SAINT-SIMON (1760-1825) in seinen
seit 1802 erscheinenden Schriften die Aufhebung aller Herm~haft ("R.Agie.mng,
gouvernement), auch der gegenwärtig konzentrierten, und ihre Ersetzung durch
eine von der Wissenschaft bestimmte Verwaltung fordern. Sein Bild der Weltge-
schichte zeigt den Fortschritt von der durch die Sklaverei bestimmten Antike zu
den „theokratisch-feudalen" Institutionen des Mittelalters, in uem ilie Sklaverei
durch die „Leibeigenschaft" abgelöst worden war. Der aus der Eroberung erwach-
sene Feudalismus und sein kriegerischer Geist werden immer mehr durch die als
'Industrialismus' bezeichnete friedliche Arbeit überwunden. Die Arbeit aller, ohne
Herrschaft, wird damit zum konstitutiven Begriff für eine neue, der fäoilaliM
entgegengesetzten Gesellschaft. In der von Saint-Simons Schülern in den Jahren
1829-1830 verfaßLen „Exposition de la doctrine de Saint-Simon" erscheint als
Ziel eine „association universelle", eine klassen- und herrschaftsluse Gesellschaft, in
der das „gouvernement des hommes" durch das „gouvernement des choses"
ersetzt ist, in der allein die Arbeit und nicht das Recht der Geburt, der El'Oberung
durch die Stärkeren bestimmend ist. Besitz ist eine Quelle der Ausbeutung. Daher
erscheint in der Folge der Ausbeutungsverhältnisse auch die Feudalität in der
Gestalt von Grundherren und Leibeigenen. Dabei übernehmen Saint-Simon und
seine Schüler die FrankenLheurie. Danach gab es in Frankreich zwei Klassen:
die .Franken als die Herren und ilie Galloromanen als die Sklaven, die für ihre
Herren Ackerbau und Gewerbe trieben14. Hier ist die fäodalite zu einem histori-
schen Problem geworden, das die französische Geschichtsschreibung des Hl. Jahr-
hunderts lange beherrschte.
Der Geschichtsschreiber AUGUSTIN THIERRY (1795-1856), der einige Jahre
Saint-Simons Sekretär gewesen war, erklärte den Ursprung der Feudalverfassung
aus Eroberung, da der spätere Adel das eingesessene Volk seiner Unabhängigkeit
beraubt habe. Er sah die französische Geschichte seit dem 12. Jahrhundert von'
uem .Bündnis zwischen Königtum und tiers etat bestimmt, den er der Bourgeoisie

12 EMANUEL SIEYES, Qu'est-ce que le tiers etat?, 3e 6d. (o. o. 1789).


1 s KARL H. Babeuf. Gleich und Ungleich (Köln 1965).
IlERGMANN,
14 MAxlME LEROY, Les precurseurs du socialisme fra.n9ais (PariR 1948); rne T.ehre Saint-
Simons, hg. v. GoTTFRIED SALOMON-DET.ATOUR (Neuwied 1962).

342
II. 3. 'Lehemsystcm', 'Fcudalverfosmng', 'Feuilalismu'

gleichsetzte. Für FRAN901s GmzoT (1787-1874) ist die Feudalverfassung aus der
Barbarei, aus dem Gegensatz der Franken und der Galloromanen entstanden und
war immer. verhaßt, da hier die launenhafte Willkür des einzelnen und nicht das
Recht bestimmend war. Es hat aber auch positive Beurteiler der Franken gegeben,
wie MoNTLOSIER und CHATEAUBRIAND 15 •

3. Deutschland: 'Lehenssystem', 'Feudalverfassung', 'Feudalismus'

Auch in Deutschland wurde, wenngleich zunächst noch nicht mit einer festgelegten
Bezeichnung, das Bestreben deutlich, einen Verfassungs- oder Systembegriff über
die reqhtliche Beschreibung des Lehnsverhältnisses hinaus zu bilden. Es war wohl
eine Folge der deutschen Reichsverfassung, daß dies zurückhaltender als in Frank-
reich geschah. Die Begegnung mit der Französischen Revolution beschleunigte diese
Tendenz. Bezeichnend und typisch für das politische Bewußtsein der deutschen
„Aufklärung" um 1790 ist nicht nur die Historisierung des Lehnssystems in der
Folge kriegsgeschichtlicher PeriodP.n, Rnnrlflrn auch rlie abwertende historische
Einordnung in der Geschichte der Gesetzgebung. Das Lehnssystem wurde, so in den
Kronprinzenvorträgen von BvAREZ, als zweite .Periode im geschichtlichen Fort-
schritt der „Kultur" eingestuft und im Rückblick des zivilisierten Menschen als das
fürchterliche System bezeichnet, in dem es - weuu auuh mit Abstufungen - nur
zwei Klassen von Menschen, Adel oder Lehensherren und Leibeigne oder Sklaven
gegeben habe 16 •
Aus solcher geschichtlich begründeten Wertung ergab sich angesichts der „Ab-
sc.hafümg" oP.r fP.orlaliM in Frankreich, daß der Begriff des Lehens- oder Feudal-
systems von größter Bedeutung für die deutschen Auseinandersetzungen um eine
eigentlich schon vergangene und doch noch gegenwärtige politisch-soziale Lebens-
ordnung werden mußte. So sah selbst FRIEDRICH LUDWIG VON DER MARWITZ, der
einen erbitterten Kampf gegen die Reformer in Preußen führte, zwar die „Feudal-
verfassung" als keineswegs völlig überholte Grundlage des älteren Staates an,
beschrieb sie aber so ausführlich, weil er wußte, daß sie von einer „Gesellschaft von
Staatsbürgern" ersetzt worden war, in der freilich nach seiner Meinung der Adel als
Stand wiederum seinen Platz haben sollte 17 •
ADAM MüLLER bemerkte im Jahre 1809; daß das Wort 'Feudalismus', durch das
alle mittel- oder unmittelbaren Folgen des Lehnsrechts . .. als eine Masse politischer
Greuel verdammt würden, seit zwanzig Jahren in dem Munde des großen Haufens
von Europa ... kursiert hat. In seiner 14. Vorlcsung „ Von dem Wesen des Feudalis-
mus" polemisierte er vor allem gegen das unbedingte, absolute und ausschließende
Privateigentum des römischen Rechts, dem er den Grundgedanken des Lehns-
systems als lebenserhaltendes Prinzip gegenüberstellte: Es gibt nur Nießbrauch, aber
keinen unbedingten Besitz. Er wendete also den pejorativen Sinn des neuen, zum

15 PETER STADLER, Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789 bis


1871 (Zürich 1958).
18 CARL GOTTLIEB SVAREZ, Vorträge über Staat und Recht, hg. v. Hermann Conrad u.

Gerd Kleinheyer (Köln, Opladen 1960), 222. 592.


17 FRIEDRICH AuG. LUDWIG v. DER MARWITZ, Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der

Befreiungskriege, hg. v. Friedrich Meusel, Bd. 2/2 (Berlin 1913), 60 ff.

343
Feudalismus II. 3. 'Lebenssystem', 'Feudalverfassung', 'Feudaliswus'

Schlagwort werdenden Begriffs in sein Gegenteil und stellte der Geschichtsdeutung,


der überfällig gewordene Feudalismus sei durch eine neue bürgerliche Staats- und
Wirtschaftsverfassung zu überwinden, die These möglicher Kontinuität entgegen.
England sei ein erhebendes Beispiel dafür, daß der feudalistische Geist, weit entfernt,
der ewigen Erweiterung des Reichtums zu schaden, ihn vielmehr beleben, befruchten und
sichern hilft18 •
Doch ist trotz der Aussage von Adam Müller daran zu zweifeln, daß das Wort
'Feudalismus' in einem weitgespannten polemisch-politischen oder gar geschichts-
philosophischen Sinne um 1800 im deutschen Sprachbereich wirklich breit rezipiert
oder neu gebildet worden ist. Die Wörterbücher der Zeit definieren 'Feudalsystem'
oder 'Lehnswesen' in der Regel noch fast gänzlich als Begriff des historischen und
z. T. noch gültigen Lehnsrechts und meiden die neue Wortbildung 'Feudalismus'.
Ebenso übersetzen Fremdwörterbücher 'Feudum', 'feudal' mit 'Lehen', 'lehen-
rechtlich' und kennen 'Feudalismus' nicht 19 •
Dagegen erscheint der Begriff im Rotteck-Welckerschen „Staatslexikon" (1834).
WELCKER versuchte, in dem ausführlichen Artikel „Alodium und Feudum" das
„Alodium" als unbeschränktes Privateigentum an Grund und Boden, als Grund-
lage des Staatsbürgervereins und der in diesem geltenden Freiheit darzustellen
und setzte es dem aus privaten „Schutzverbindungen" entstandenen Feudal-
system, dem Feudalismus entgegen. In der in der Hauptsache historischen
Darstellung steht zwar noch das Lehnsrecht im Vordergrund, doch wird darunter
auch der ganze Komplex grundherrschaftlicher Rechte und darüber hinaus der
auf Adelsherrschaft beruhenden Verfassung verstanden20 • Bei Welcker und den
Germanisten des Vormärz wurde dieser Feudalismus, der Auseinandersetzung im
Frankreich des 18. Jahrhunderts folgend, scharf verworfen. Er wurde historisiert,
nicht im Sinne einer Stufenfolge im Fortschl'iLL uer KulLur, imudern des Dreischritts
von einem ursprünglichen Idealzustand altgcrmanischer Volksfreiheit über die
Fehlentwicklung des auf Faustrecht und Usurpation beruhenden Feudalismus
zur Verfassung garantierter Volksfreiheit in der nunmehr anbrechenden neuen
Zeit. „Die Feudalverfassung wird in allen Grundlinien als das genaue Gegenbild,
die Verneinung der staatlich-genossenschaftlichen und freiheitlichen germanischen
Ordnung vorgestellt" 21 • Daher wurde auch von Feudaldespotie und Feudalanarchie
gesprochen 22 • Solche Wortverbindungen mit dem Adjektiv 'feudal' uud 'Feudalis-
mus' selbst wurden im Vormärz erst recht zu Schlagwörtern. Von konservativer
Seite wurde dieser wissenschaftlich unbrauchbare, polemische Gebrauch des
Wortes ebenso abgelehnt wie die RP.griffsbildung Feudalstaat im Gegensatz zum

1 9 ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst, hg. v. Jakob Baxa, Bd. 1 (Wien 1922),
264.267.269.282.
19 LoEBEL Bd. 2 (1797), 22 f.; KRüNITZ Bd. 69 (1796), 54 ff.; HEINSE Bd. 2 (1800), s. v.;

BROCKHAUS 7. Aufl.„ Bd. 6 (Ndr. 1830), 508 ff.; Rhein. Conv. Lex„ 4. Aufl.., Bd. 8 (1841),
29 ff.; GEORG wAITZ, Art. Lehnwesen, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 6 (1861), 357 ff.; HEYSE
Bd. 1 (1804), 291 f.; ADELUNG Bd. 3 (1777), 122 f.; CAMPE Bd. 3 (1809), 72.
2° CARL WELCKER, Art. Alodium und Feudum (oder Lehen), RoTTECK/WELCKER Bd. 1

(1834), 468 ff„ bes. 470; vgl. ders., Art. Adel, ebd„ 257 ff.
21 ERNST-WOLFGANG BöcKENFÖRDE, Die deutsche verfassw1g1:1geschichtliche Forschung

im 19. Jahrhunded (Berlin 1961),74 ff., bes. 90. ·


22 Ebd„ 90;-+ Anarchie, Bd. 1, 69.

344
II. 4. Hegel und Marx J.<'eudalismus

modernen E'inlieitsstaat: WAGENER wendete sich gegen die Begriffsverwirrung durch


f eudastrisclie Phrasen sowie die unrichtige Verwendung des Wortes 'feudal' als
Synonymum von lobenden oder verwerfenden Be~wörtern wie: christlich, historisch,
konservativ, monarchisch, aristokratisch, ständisch, junkerhajt, reaktionär, absoln-
tistisch, servil usw. oder die Anwendung auf Personen und Saclien, welche keinen
Lehenverband haben, z.B. politisclie Parteien, Zeitungen, Programme u. dgl. oder
endlich die Beziehung auf falsche Gegensätze, wie da sind liberal, national, progressiv,
tolerant, aufgeklärt, zeitgemäß und ähnliche Partei-Eigenschaften, welche sehr wohl
mit der Feudalität bestehen können, wenn man nur demokratisch und demagogisch
ausnimmt 23 • Die Auslaugung der ursprünglichen Substanz des Begriffs im poli-
tischen: Tageskampf um die Mitte des Jahrhunderts war damit vom antiliberalen
Standpunkt aus treffend bezeichnet.

4. Hegel und Marx

Schon bei Saint-Simon war 'Feudalismus' im geschichtsphilosophischen Schema


(etwa im Sinne Condorcets) als eine Stufe im Fortschritt der Menschheit - vom
'Feudalismus' zum 'Industrialismus' - eingebaut worden. Auch in HEGELS
Geschichtsphilosophie steht das „Feudalsystem" oder die „Fe.11dalherrse.haft." an
hervorgehouener SLelle de~ hisLorischen Prozesses. Wenn auch hierbei der Bezug
zur Arbeit - Saint-Simon vergleichbar - und damit die verbreitete Vorstellung
von der Ablösung einer auf Krieg und Gewalt gegründeten Feudalherrschaft durch
eine auf Frieden gerichtete bürgerliche Arbeitsverfassung impliziert ist 24 , so ist für
Hegel der Feudalismus weltgeschichtlich uereits durch den Staat bzw. die moderne
Monarchie prinzipiell überwunden worden. Das Feudalsystem ging dem monar-
chischen Staat nicht nur zeitlich voran, sondern forderte ihn als das versöhnende
Prinzip gegenüuer den Verletzungen der Freiheit heraus. Hegel si11ht di11 Feudal-
herrschaft als ein System von Privatabhängigkeit und Privatverpftichtung, in dem das
allyerne·ine Un-recht, d·ie allgemeine Rechtslosigkeit institutionalisiert ist. Das Feudal-
recht ist also ein Recht des Unrechts. Anstelle einer allgemein verbindlichen Instanz,
die Freiheit und Rechtsgleichheit schützt, galt nur die eü1enM:nnige Rohhe1:t de.~
partikulären Rechts 25 • Weltgeschichtlich war für Hegel das Feudalsystem abgetan,
als eine gegenwärtig nicht mehr mögliche, frühere Stufe im Prozeß, d'urclt den der
Geist in der Geschichte sein Ziel verwirklicht 26 • Hegel faßte diese Schwelle der
Geschichte konzentriert zusammen: Der Fortschritt hat die negative Seite, daß er im
Brechen der subjclctivcn Willkür und der Vereinzelung der Macht besteht; die affirma-
tive ist das Hervorgehen einer Obergewalt, die ein Gemeinsames ist, einer Staatsmacht
als solcher, deren Angehörige gleiche Rechte erhalten und worin der besondere Wille
dem substanziellen Zweck unterworfen ist. Das ist der Fortschritt der Feudallierrschaft
zur Monarchie ... Die Feudalherrschaft ist eine Polyarchie: es sind lauter Herren
und Knechte. In der Monarchie dagegen ist einer Herr und keiner Knecht, denn die

23 WAGENER Bd. 7 (1861), 380, Art. Feudal.


Arbeit, Bd. 1, 184 ff.
2 4 __..
25 lIEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. v. Georg Lasson, Bd. 4

(Leipzig 1920), 8Ia.


20 Ebd., Bd. 1 (1917), 53.

345
Feuilalismus II. 4. Ilegel und Mux

Knechtschaft ist durch sie gebrochen, und in ihr gilt <las Recht und <las Gesetz; aus ihr
geht die reelle Freiheit hervor 27.
LORENZ VON STEIN (1815-1890) geht von Hegels Begriff der bürgerlichen Gesell-
schaft aus und betrachtet die vorrevolutipnäre Gesellschaft als eine· Welt der
Unfreiheit. Denn diese auf Privilegien, Stand oder Kaste beruhende „herrschende
Klasse" habe seit tausend Jahren auf dem Lehnswesen beruht, auf Grundbesitz, der
nicht durch .Arbeit, sondern zumeist durch Waffengewalt erworben worden war28 • Zu
einer genaueren historischen Analyse der Feudalwelt hatte Lorenz von Stein
angesichts der Zielsetzung seiner Bücher keinen Grund.
Dasselbe gilt von KARL MARX. Auch er fußt auf den in der Französischen Revo-
lution hervorgetretenen Tendenzen und den Schriften der Frühsozialisten. Auch er
spricht von den sogenarvnten Gewohnheiten der Privilegierten, die ihm Gewohnheiten
wider das Recht sind 29 • Der Feudalismus im weitesten Sinn ist das Tierreich, die
Welt der geschiedenen Menschheit im Gegensatz zur Welt der sich unterscheidenden
Menschheit, deren Ungleichheit nichts anders ist als die Farbenbrechung der Gleich-
heit30.
Entscheidend wurde dann für Marx und dem mit ihm verbundenen FRIEDRICH EN-
GELS das intensive Studium der klassischen Schule der Nationalökonomie. Die
wirtschaftlichen Verhältnisse wurden zum Fundament der Geschichte als einer
Gosohichto von Klassenkämpfen. Im „Manifest der Kommunistischen Partei"
(1847) heißt es wie bei Saint-Simon, Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer,
Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Geselle, kurz Unterdrückter und Unterdrückte
standen im steten Gegensatz zueinander 31 • Marx kennt im Mittelalter außerhalb der
Städte nur 11 FeudaTherrn" und „Leibeigene". In seinem Hauptwerk „Das Kapital"
hat er gemeint, der Oberbefehl in Krieg und Gericht sei in der Feudalzeit ein At-
LriuuL ues GrunueigeuLWlll:! gewesen, wie jetzt der Oberbefehl in der Industrie
ein Attribut des Kapitals seia 2 • Eine nähere Ana.lyse der fettdalen ProdukLionsweise
lag nicht in der Absicht dieses Buches 33 . Unmittelbare Herrschafts- und Knecht-
schaftsverhältnisse hätten im Mittelalter wie in der Antike und in den modernen
Kolonien zu einer Kooperation im Arbeitsprozeß geführt. Er stellt die „Feudalen"
seiner Zeit der Bourgeoisie und der Volksmasse entgegen und spricht von der
Verschwendung der fiotten J/eudalherren im Gegensatz zum schmutzigsten Geiz der
Kapitalisten. Die ökonom·ische St·rukt·ur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervor-
gegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft 34 •
In Marx' Geschichtsbild war 'Feudalismus' eine Stufe der progressiven ökonomischen
Gesellschaftsformen, eine der Produktionsweisen. Während im Rahmen eines von

21 Ebd., Bd. 4, 859 f.


28 LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 3. Aufl.., Bd. 1
(1850; Ndr. München 1921), 157.
29 KARL MARx, Debatten über das Holzdiebstahlgesetz (1842), MEW Bd. 1 (1956), 115.
30 Ebd.

81 MEW Bd. 4 (1959), 462.


32 MARx, Das Kapital, MEW Bd. 23 (1962), 352; vgl. Bd. 25 (1964), 401.

33 Ebd., Bd. 25, 627.


84 Ebd., Bd. 23, 620. 743. Dazu JOSEPH ScHUMPETEß, Kapitalismm~. 8mr.ialiRmn11 nnrl
Demokratie, 2. Aufl, (Bern 1950), 36 ff.

346
III. Ausblick FeudalDmus

Europa her bestimmten Geschichtsbildes die Antike der Sklavenhalterkultur, das


Mittelalter dem Feudalismus und die Neuzeit dem Kapitalismus gleichgestellt
wurde, hat Marx im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" (1859)
asiatische, antike, feuilale und modern bürgerliche Produktionsweisen unterschieden3 5 •
Die Agrarstruktur außereuropäischer Kulturen, aber auch Rußlands, als asiatisch
und nicht als feudal zu bezeichnen, dazu war Marx durch die englische Literatur
über Indien angeregt worden. Die Frage, ob man eine asiatische von der feudalen
Produktionsweise unterscheiden könne, wurde im Marxismus lange, so auch von
LENIN erörtert36 . Doch hat sich die Ausweitung des Feudalismusbegriffs auch auf
außereuropäische Verhältnisse und damit die Einordnung des Begriffs in ein allge-
mein gültiges, weltgeschichtliches Ablaufschema weitgehend durchgesetzt3 7•
Friedrich Engels folgt den Gedankengängen von Karl Marx. Auch bei ihm stehen
„Feudalherren" und „Leibeigene" einander entgegen38 . Eine nähere Analyse der
älteren Herrschaftsverhältnisse gibt er so wenig wie Marx. Auch er legt entscheiden-
des Gewicht auf das Fehlen oder die geringe Bedeutung des Warencharakters der
feudalen Produktion39 •
Auf konservativer Seite wurde das Wort 'Feudalismus' im 19. Jahrhundert auch
nach Adam Müller weiter verwendet, da es sich eingebürgert hatte und mit unter-
schiedlicher Deutung oder Definition verwandt werden konnte. So diente 'feuda-
listisch' bei FRIEDltlCH J. STAHL zur verfassungstypologischcn Unterscheidung,
wenn er die Partei der Le,gitimität, d. h. die Anhänger der Monarchie, in drei Gruppen
unterteilte: die .Anhänger der absoluten Monarchie, die der altständischen Monarchie,
die er als die feuilalistischen Legitimisten bezeichnete, und die der .~tiindisch konsti-
tt1t1'.one1.TP.n M nnarohie, derimtitUtionellen Le,gitimisten, zu denen er sich selbst zählte 40 •

m. Ausblick
Sowohl die hiRtorische Einordnung und Bewertung des Feudalismus in den ver-
schiedenen Richtungen des „Marxismus" all; auch die klassisch-liberale Feudalis-
musdeutung haben bis zur Gegenwart nachgewirkt und sind in der politischen
Alltagssprache zum KliR<ihee erstarrt. Der simplifiiierte, zum Schlagwort gewordene
Begriff ist seit dem 19. Jahrhundert außerdem häufig abwertend auf moderne

35 MA.Rx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 13 (1961), 9 .


.36Die wichtigsten LENINst.ellen sind gesammelt bei GIANNI SoFRI, Über asiatische Pro-
duktionsweise (Frankfurt 1972); außerdem FERENO TÖKEI, Zur Frage der asiatischen
Produktionsweise (Neuwied 1969); KARL A. WITTFOGEL, Die orientalische Despotie
(Köln 1962).
37 Zur gegenwärtigen Lage des Feudalismusproblems im Marxismus vgl. HELMUT NEU-

BAUER, Art. Feudalismus, SDG Bd. 2 (1968), 477 ff.


38 FfilEDRIOH ENGELS, Der deutsche Bauernkrieg (1850); MEW Bd. 7 (1960), 327 ff.; ders.,

Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie (1884), MEW Bd. 21
(1962), 392 ff.
89 Ders., Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Bd. 19
(1962), 189 ff. .
40 FRIEDRIOH JULIUS STAHL, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (Berlin

1863), 319. 325. 328.

347
Feudalismus m. AW1blick
Sozialphänomene wie auf industrielle Unternehmer oder Betriebsverfassungen,
neuerdings z. B. auch auf Professoren und Universitätsordnungen, anwendbar ge-
worden. Eine noch weitere, unbestimmtere Bedeutung nahm das Wort 'feudal' im
8inne von „vornehm", „anspruchsvoll", „aufwendig" in den letzten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts an. Es soll in diesem Sinne etwa 1885 in studentischen Kreisen
aufgekommen sein 41 •
Während also in der politischen Publizistik der Sinn des ursprünglich geschichts-
philosophisch begründeten. Begriffs für eine überholte Periode bzw. einen absolut
gewordenen Verfassungstypus erhalten, weiterentwickelt und bei schwächer
werdendem Aktualitätsbezug gewissermaßen ausgelaufen ist, wurde bis vor kurzem
'Feudalismus' in der Geschichts- und Sozialwissenschaft nur zögernd oder gar
nicht angewandt, sofern es sich darum handeln sollte, in den Begriff mehr hinein-
zulegen als nur 'Lehnswesen' bzw. 'Lehnsrecht' im eng begrenzten Sinn 42 .
Auch Bücher, die auf die iimeren ZusLärnle aui:;führlieh eingingen, wie KARL WIL-
HELM NITZSCHS „Geschichte des deutschen Volkes" (1882) oder KARL LAMPRECHTS
„Deutsche Geschichte" (1891-1909), verwendeten den Begriff 'Feudalismus' noch
nicht4 3 . Dasselbe gilt von den Handbüchern der Rechts- und Verfassungs-44 sowie
der Wirtschaftsgeschichte 45 . Sie stellen Lehnswesen, Grundherrschaft, Wirtschaft
und Verfassung der Dorfgemeinden und der Bauernhöfe dar, ohne von 'Feudalis-
mus' zu sprechen oder besohriinkcn den Terininus 'Feudalsystem' auf das Lehn1:1-
wesen. GusTAV ScHMOLLER, der bedeutendste Vertreter der jüngeren Schule der
Nationalökonomie, behandelt unter dem Schlagwort 'Feudalsystem' das Lehns-

4l SCHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 210 f.


42 Die vier Auflagen des „Handwörterbuchs der 8taatswissenschaften" (Jena 1890/1929)
enthalten keinen Artikel „Feudalismus". Wenn JiF.OPOLD VON RANKl!l einmal das „feuda-
listisch-hierarchische" dem „städtisch-popularen" Element gegenüberstellt (zit. RUDOLF
VIERHAUS, Ranke w1d die 11rnr.iH.le Welt, Mün.9ter 1957, 94), so greift er wohl auf einen
allgemeinen Sprachgebrauch zurück. FRIEDR. ÜHRisTOPH DABLMANN, Die Politik (1835),
hg. v. Manfred Riedel (Frankfurt 1968), 124 ff. sieht im Lehnsstaat Zersplitterung der
öffentlichen Rechte; vgl. WAI·1·z, Art. Lehnwesen (s. Anm. 19), in dem der mittelalterliche
Staat hauptsächlich als Lehnsordnung angesehen wird.
40 KARL LAMPRECHT, Deutsche Geschichte, !'ldr. der 2. Aufl. von 1892, hg. v. Bruno

Opalka (Stuttgart 1959). Auch ein das deutsche Geschichtsbild stark bestimmendes Werk
wie GusTAV FREYTAGS „Bilder aus der deutschen Vergangenheit" (1859/62) meidet den
Ausdruck _'Feudalismus'.
44 KARL FRIEDRICH EICHHORN, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte (seit 1808 im Er•

scheinen), 5. Aufl., ßd. 2 (Göttingen 1843), 339 ff.; P Aur, RoTH, Feudalität und Unter-
tanenverband (Weimar 1863). Die Handbücher und Grundrisse der Deutschen Rechts-
geschichte (Heinrich Brwmer, :Richard Schröder, Hermann Conrad u. a.) halten im
Prinzip an dieser Position fest. Dazu GEORG v. BELOW, Der deutsche Staat des Mittel-
alters (Leipzig 1914; 2. Aufl. 1925), 1 ff. Erst Mitteis (s. Anm. 53) hat einen umfassenderen
Feudalismusbegriff herangezogen.
45 KARL THEODOR v. INAMA-STERNEGG, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 4 Bde. (Leipzig

1909). Dasselbe gilt von JOSEF KULISCHERS „Allgemeiner Wirtschaftsgeschichte des


Mittelalters und der Neuzeit", die in Rußland entstanden war und dort noch 1927 eine
7. Auflage erlebte. Sie erschien deutsch München 1928 und wurde 1954 in Ostberlin (ah1
Materialsammlung, wie der Herausgeber Jürgen Kuczynski sagt) nachgedruckt.

348
ID. Ausblick Feudalismus

wesen 46 • WERNER SoMBART, der vom Studium des Marxismus ausgegangen ist,
verwendet den Terminus 'Feudalismus' nicht, obwohl er in Band 1 seines
Hauptwerkes die vorkapitalistische Wirtschaft in Grundherrschaft und Dorf
eingehend dargestellt hat 47 • Doch findet sich bei Sombart die Bezeichnung 'Feudal-
herren' für die adeligen Grundherren 48 • Im letzten Band seines „Modemen Kapitalis-
mus" gebraucht Somba.rt in unbestimmter Form den Ausdruck 'Feudalisierung' als
Erstarrungsfaktor des Hochkapitalismus (neben 'Verrentung') 49 •
Das Denken MAX WEBERS ist durch den bürokratischen, gesetzespositivistischen
Staat seiner Zeit und durch seine kritische Auseinandersetzung mit Karl Marx
bestimmt. Anders als Marx geht es Weber nicht einfach um die „Appropriation von
Grundeigentum", sondern um die der „Herrschaftsmittel". Max Weber behandelt
den Feudalismus im Rahmen seiner Herrschaftssoziologie als eine „traditionale
Herrschaftsform". Es ist eine dezentralisierte Form der Machtausübung, bei der
die Herrschaftsmittel und -rechLe in der Hand lokaler Gewalten liegen. Max Webers
typisierende Denkweise macht es möglich, seinen Feudalismusbegriff, ähnlich wie
den marxistischen, zu verallgemeinern50 . Doch hat Max Weber hier eine diff~ren­
zierte Typologie entwickelt. Die Hauptunterscheidung zwischen abendländischem
Lehens- und orientalischem Pfründenfeudalismus läßt die Sonderart des abend-
ländischen Ruropa und den Ursprungsraum des Begriffes 'F1mdalismus' deutlich
hervurLl'eten. Vom modernen Staatsbegriff her hat GEORG VON BELOW ähnlich wie
Max Weber den Feudalismus als Durchbrechung des Untm·tanenverbandes durch
Verpfändung von Hoheitsrechten gesehen 51 • Da diese Erscheinung nicht nur in
lehnsrechtlicher Form vor sich geht., unterscheidet Below zwischen 'Feudalstaat'
und 'Lehnstaat' im engeren Sinne. Entgegen dieser engeren verfassungsgeschicht-
lichen Deutung hat ÜTTO HINTZE (1929) auf die militärische und wirtschaftlich-
soziale Funktion des Feudafüanus hingewiesen sowie auf das Überwiegen peroön
licher gegenüber am1taltlicher Herrschaftsformen. Dazu trat für ihn das eigenartige
Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt. So erscheinen bei Hintze Aus-
bildung eines hochqualifizierten Kriegerstandes, die Grundherrschaft als ökono-
mische Grundlage und die lokale Herrenstellung als Kennzeichen des abend-
ländischen Feudalismus. Von diesem Idealtypus ausgehend, der dem System den
Namen gab, prüft Hintze sodann mit Vorsicht alle unter verschiedenen Gesichts-
punkten als 'Feudafümus' bezeichneten a.11ßereuropäischcn Erscheinungen52 •

46 GusTAV ScHMOLLER, Grundriß der allgemoinon Volkswirtschaftslehre, Bd. 2 (1900/04;

Ndr. München 1923), 587 ff.; dazu PAUL SANDER, Feudalstaat und bürgerliche Ver-
fassung (Berlin 1906).
47 WERNER SoMBART, Der moderne Kapitalismus, 2. Aufl., Bd. 1 (München, Leipzig 1916),

40 ff.
48 Ders., Der Bourgeois (München 1913), 102.
49 Ders., Der moderne Kapitalismus, Bd. 3/2 (1927), 1013.
60 MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., hg. v. Johannes Winckelmann

('l'übingen 1U56), 148 ff. und Register; GUN'l'.li.l!J.K A.1rn.AM:öwsxr, Das GeschichtMbihl Mux
Webers (Stuttgart 1966), 127 ff.
61 BELOW, Staat (s. Anm. 44), XXI. Ähnlich die Darstellung der „Feudalverfassung" bei

RUDOLF KöTZSCHKE, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalte1·s (Jena 1923), 322ff.


6.2 ÜTTO HINTZE, Wesen und Verbreitung des Feudalismus, in: ders., Staat und Ver-

349
Feudalismus m. Ausblick
Dabei treten sowohl die Grenzen der Anwendbarkeit dieses Begriffs wie die Vielheit
der dieses Phänomen bestimmenden Faktoren hervor. Diesen weiteren Begriff des
Feudalismus hat HEINRICH MITTEIS übernommen, aber nur um die spezifische
Eigenart des abendländischen, seinem Ausgang nach fränkischen, Lehnsrechts
herauszuarbeiten5 3 •
Seit Max Weber und Hintze ist 'Feudalismus' zu einem wissenschaftlich verwend-
baren Typen- und Periodisierungsbegriff geworden und trotz wiederholt aus-
gesprochener Vorbehalte - un mot fort mal choisi (MARC BLOCH) 54 -wissenschaft-
lich auch außerhalb der marxistisch bestimmten Geschichtswissenschaft eingebür-
gert worden. Die Entstehungsgeschichte des Terminus läßt verstehen, daß sich
dabei 'Feudalstaat' und 'Feudalgesellschaft' unterscheiden lassen 55 • Der wiRRfln-
schanlich begründete und abgesicherte Gebrauch des Wortes ist aber bis heute
eben aufgrund der Entstehungsgeschichte von 'Feudalismus' als Kampfbegriff
und des dadurch bestimmten allgemeinen Verständnisses nic~t ohne ständig neue
Anfechtung.

Literatur

ÜTTO BRUNNER, „Feudalismus". Ein Reitrag zur Begriffsgeschichte (1958), in: ders.,
Nouo Woge der Verfassungs· und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1908), 128 IT.;
HF.IDE Wu.NDJi:R, Einleitung: Der Feudalismus-Begriff. Überlegungen zu Möglichkeiten
der historischen Begriffsbildung, in: Feudalismus. Zehn Aufsätze, hg. v. H. WUNDER
(München 1974), 10 ff.
ÜTTO BRUNNER

fassung, Ges. Abli. z. allg. Verfassungsgesch., hg. v. Gerhard Oestreich, 2. Aufl. (Göttingen
1962), 84 ff.
53 HEINRICH MrrTEIS, Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterlichen

Verfassungsgeschichte (Weimar 1933; Ndr. Darmstadt 1958); ders., Der Staat des hohen
Mittelalters, 4. Aufl. (Weimar 1954), 66; ders., Deutsche Rechtsgeschichte (1949),.11.Aufl..,
hg. v. Heinz Lieberich (München 1969).
•.4 MARC BLOCH, La societe feodale (Paris 1939), 3.
55 CLEMENS BAUER, Art. Feudale Gesellschaft, Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 3 (1959), 242ff.;

ders., Art. Feudaler Staat, ebd., 246 ff.; HANS THIEME, Art. Feudalismus: I. Rechts.
historische Aspekte, Ilwb. d. SozWiss., Bd. 3 (1961), 506 ff.; ÜTTO BRUN.Nl!lR, Art. Feuda-
lismus: II. Soziologische Aspekte, ebd., 509 ff.

350
Fortschritt

T. Einleitung. II. 'Fortschritt' in der Antike. III. 'Profectus' im Mittelalter und 'Fort-
schritt' im religiösen Bereich der Neuzeit. IV. Die Ausprägung des neuzeitlichen Fort-
schrittsbegriffs. 1. Denaturalisierung der Altersmetaphorik und Erschließung des unend-
lichen Fortschritts. 2. Von der 'perfectio' zum 'perfectionnement' und zur 'perfectibilite'.
3. 'Vervollkommnung' und 'Vervollkommlichkeit'; Kant. 4. Von den 'Progressen' zum
'Fortschritt'. 5. For·tschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen. a) Wis-
senschaft und Technik. b) Kunst und Philosophie. c) Moral und Gesellschaft. d) 'Fort-
schritt' und Menschheit. e) 'Fortschritt' und soziale Schichten. f) Das hypothetische Subjekt
des Fortschritts und dessen Beschleunigung. 6. Hegel: Fortschreiten als Prozeß. V. 'Fort-
schritt' als Leitbegriff im 19. Jahrhundert. 1. Die Lexikonebene. 2. 'Fortschritt' als
Schlagwort. 3. Das empirische Substrat. 4. Der Fortschritt als Kategorie einer Ersatz-
religion. 5. 'Fortschritt' als geschichthcher Perspektivbegrifl'. 6. DAr idAologilwhe Be1:1et-
zungszwang. 7. Marx und Engels. VI. Ausblick.

J. Einleitung*
Ausdrücke, die auf die Geschichte bezogen werden, stammen meist aus den vor-
waltenden F.rfahrungsbereichen der jeweiligen Zeitalter. Sie entstammen der Natur
oder dem Mythos, der Kirche oder Theologie, dem Verfassungsleben, der Dichtung,
den Wissenschaften oder der Wirtschaft und Technik, um nur wichtige Gebiete zu
nennen. Die historische Terminologie wird also von Faktoren geprägt, die selber
nicht primär historisch sind. Begriffe, die schließlich auf die Geschichte beschränkt
wurd1m, sind selLen und dienen meist, wie Perelman gezeigt hat1, der Selbst-
bcEJtimmung von Epochen, wie 'Rena.issanm~' nilAr '"R.1ifnrmation' oder, was sich
künftig h1irausstellen mag, 'Fortschritt'.
Dabei leben alle geschichtlichen Ausdrücke, weil Zeit selber nicht anschaulich ge-
macht werden kann, von natürlichen und räumlichen HintergrundsbedeuLungen,
die metaphorisch auf die Geschichte und ihre „Bewegungen" ausgeweitet werden.
Auch 'Fortschritt' ist ein solcher Begriff. Er hat zunächst, vom Schreiten her-
rührend, eine physische und eine räumliche Komponente, die freilich - durch den
Vollzug des Schreitens - zeitlich ang1ir1iichert ist. Denn Schreiten ist, wie Mauthner
betont 2, immer Fortschreiten. Deshalb ist 'Fortschritt' eine Relationsbestimmung,
die räumlich hier und dort, zeitlich jetzt und dann und früher auf'.einander bezieht.
Dem räumlichen Weg entspricht immer eine Zeitfolge. Als allgemeine Relations-
kategorie ist ,'Fortschritt' so neutral wie elastisch, um alle geschichtlichen Bewegun-
gen benennen zu können, die ilich raum-zeitlich vollziehen.
Da es zu allen Geschichten gehört, daß verschiedene Handlungsträger, ihre Tätig-
keiten und Erfahrungen, in wechselnde Beziehungen zueinander treten, kann es
nicht überraschen, daß die darauf zielende Terminologie ihre weit in die Ver-

* Für zahlreiche Hilfen danke ich den Herren Jörg Fisch und Horst Günther sowie den
Teilnehmern eines gemeinsamen Seminars.
1 CHAiM PERELMAN, Sens et categories en histoire, in: Les categories en histoire, ed.

CH. PERELMAN (Brüssel 1969), 133 ff., bes. 142.


2 MAuTHNER 2. Aufl., Bd. 1 (1923), 508, s. v. Fortschritt.

351
Fortschritt 1. Einleitung

gangenheit reichende Geschichte hat - obwohl der Ausdruck 'Fortschritt' erst im


späten 18. Jahrhundert geprägt wurde.
Die äl~eren Verlaufs- und Relationsbestimmungen bezogen sich auf eine Vielfalt
historischr.r Bewegungen oder Veränderungen, die ihrerseits erst im18. Jahrhundert
von einem gemeinsamen Begriff, dem der 'Geschichte selber', gebündelt wurde.
Die Begriffe 'Fortschritt' und 'die Geschichte' tauchen gleichzeitig auf. In diesem
Befund liegt ein Vorgebot für unsere Darstellung. Eine Aufgabe der folgenden
Analyse ist es, die Entstehung und Herkunft der Bewegungskategorie 'Fortschritt'
so weit zu klären, daß ihr neuzeitlicher Gehalt, den es zuvor so nicht gegeben hat,
in den Blick rückt.
Die Wortprägung von 'Fortschritt' geschah beiläufig, die Begriffsbildung aber ist
Ergebnis eines tiefgreifenden Erfahrungswandels. Sie verweist auf eine Dynamik,
die von den Vorläuferausdrücken 'Progrt1ß' n1'1Ar 'Fortgang' noch nicht erfaßt
werden konnte. Als moderner Bewegungsbegriff l1at der 'Forümhritt' seine Her-
kunftsbedeutung denaturalisiert und in Vergessenheit gebracht. Die vorausge-
gangenen Begriffe 'Progreß' oder 'Fortgang' zehrten noch mehr von der Wachstums-
metaphorik und blieben eingebettet in ein naturhaft-kreisläufiges Verständnis aller
Geschehensabläufe. Nicht so der 'Fortschritt', Er sollte oino genuin geschichtliche
Zeit auf ihren Begriff bringen. Diese „ Verzeitlichung" führte freilich in theoretische
Schwierigkeiten, die in der politischen Spraoho gerne ideologisch aufgelöst werden.
Der neue Begriff erfaßte sukzessiv oder zugleich ein ganzes Bündel neuzeitlicher
Bewegungsstrukturen: .
1) bezieht sich der 'Fortschritt' auf die eine Menschheit, die als Subjekt ihrer
eigenen Geschichte angesprochen wurde. 'Fortschritt' wird zum geschichtsphilo-
sophischen Universalbegriff;
2) 11bcr bleibt 'Fortschritt' oft auf einzelne Sektoreu uuer auf konkrete Handlungs-
einheiten bezogen, die sich in einer zeitlichen Spannung zueinander verhalten.
Jedem Zuvor entspricht ein Nachhinken bzw. das Postulat zum Aufholen, Einholen
oder überholen. 'Fortschritt' wird zum Partei- und Aktionsbegriff;
3) kann 'Fortschritt' selbst zu seinem eigenen Subjekt werden, wodurch die Be-
wegung auf sich selbst zurückbezogen wird. Damit wird der Ausdruck ideologisch
besetzbar und läßt sich ideologiekritisch angreifen.
4) Obwohl der Ausdruck gelegentlich auch Abläufe zum Schlechteren hezeichnen
kann, meint 'Fortschritt' in der Regel eine Bewegung zum Besseren. 'Fortschritt'
wird zu einem quasi religiösen Hoffnungsbegriff;
5) zielt der 'Fortschritt' auf einen Vt1rfa11f, der als nicht zirkulär gedacht wird, im
Gegensatz zu den antiken Abfolgemodellen, die ihre Wiederholbarkeit voraus-
setzen. Sprachlich hat der 'Fortschritt' den 'Rückschritt' zum Gegenbegriff, aber
es gehört zur modernen Fortschrittstheorie, daß die Rückschritte immer kürzer
sind, als die Fortschritte voranführen. Dieser 'Fortschritt' erlaubt zwar Diskontinui-
täten, bleibt aber ein linearer Richtungsbegriff.
6) Die Zielbestimmung des 'Fortschritts' schwankt zwischen endlicher Perfektion,
die unerreichbar bleibt, und einer endlosen Zielverschiebung, weil die Zwecke, die
der Fortschritt erfüllen soll, selber als fortschreitend entworfen werden. 'Fortschritt'
wird zum temporalen Perspektivbegriff, enger gefaßt zum Planungsbegriff;
7) indiziert 'Fortschritt' häufig eine· Beschleunigung, die im Unterschied· zur
physikalischen Akzeleration nur von geschichtlichen Kräften ausgelöst und bewirkt

352
D. 'Fortschritt' in der Antike Fortschritt

werden kallll. Irnlelli imlche Kräfte als „progressiv" definiert worden, wird 'Fort
schritt' zum geschichtlichen Legitimationsbegriff.
Alle diese Bestimmungen, die sich gegenseitig ergänzen und abstützen, sind in den
Begriff eingegangen. Sie tauchen kaum zusammen auf, schfü1ßen sich streckenweise
sogar aus, kennzeichnen aber insgesamt die moderne Welt. Sie sind utopisch und
erfahrungsgesättigt zugleich. Der „Fortschritt" ist Indikator - und Faktor - der
langfristig sich anbahnenden, dann immer schneller vorangetriebenen Industriali-
sierung, die zahlreiche Bedingungen des sozialen und politischen Lebens verändert
oder neu gestiftet hat. Die als „Fortschritt" begriffene Neuzeit scheint sich aus
ihren natürlichen Vorgegebenheiten zu entfernen und in eine offene Zukunft hin-
ein zu entwerfen.
Wie die 'Geschichte selber' ist unsere Kategorie ein neuzeitlicher Begriff, der den
Handlungs- und Erfahrungsraum der Ges~chte sowohl theoretisch wie praktisch
zu bestimmen sucht. Damit haben allo genannten Kriterien ihren bestimmbaren
sozialen und politischen Stellenwert, deren Beziehungen zueinander im folgenden
untersucht werden sollen. ·
REINHART KosELLECK

II. 'Fortschritt' in der Antike


Worte, die im übertragenen Sinne 'Fortschritt' oder 'Fortschreiten' bezeichnen,
hat es in der Antike viele gegeben. Unter den Verben sind im Griechischen zumal
em&r50110(1. {„r.un11hm1m", „wachsen", „vorankommen", „fortschreiten") und
:n:goxo1n:ew (wohl: ,,sich voran- [oder: einen Weg] schlagen") zu nennen. Als
Substantiv herrscht anfangs, im 4. Jahrhundert, i:n:lr5oat~ vor, später tritt
:n:eojeottt} dazu, z. T. an Ufä8ell Stelle; daneben steht immer aiJC1iuu; („Vcrgröße
rung", „Wachstum"). Ileoxon~ wird von Cicero mit „progressus" und „prd-
gressio" übersetzt. In ähnlicher Bedeutung werden „progredi" und „processus"
sowie „profectus" gebraucht 3 . Mit diesen Worten wurde ein Zunehmen, eine Ver-
besserung oder auch Verschlechterung von etwas in bestimmten Hinsichten be-
schrieben. Besonders oft etwa die Vervollkommnung des Einzelnen in Bildung und
Tugend 4 • Aber auch die Zunahme von Städten und Reichen, etwa an Macht und
Wohlstand. Oder das Vorankomm1m der Wissenschaften. Subjekte wie Bereiche
dieses Fortschreitens sind in der Regel partiell, die zeitliche Dimension eng begrenzt.
Nie hat sich ein Fortschrittsbegriff gebildet 5 • Mindestens in der heidnischen Antike

3 Hinzukommen vor allem :n:eoayew, :n:eoßißaCew, :n:eoxwee'iv. Vgl. auch provent·us


rerum artiumque (PLimus, Nat. hist. 2, 117). Aufstellung bei KLAUS THRAEDE, Art.
Fortschritt, Rlex.Ant.Chr., Bd. 8 (1972), 141 f. Dieser Artikel enthält sehr viel Material,
ist aber unzuverlässig, legt einen ausgefransten Fortschrittsbegriff zugrunde und ist ohne
hil'lreichende Berücksichtigung der :i.nt,ik1m BeRonderheiten gearbeitet. Beste Darstellung:
LUDWIG EDELSTEIN, The Idea of Progress in Classical Antiquity (Baltimore 1967).
1 z.B. MAx PoHLENZ, Die Stoa, 4. Aufl., [Bd. l] (Göttingen 1070), lü1; WALTHER VÖLKER,

Fortschritt und Vollendung bei Philo von Alexandrien (Leipzig 1938), 235 ff.
6 Darauf weist schon die Vielfalt der Verben und ihr rein deskriptiver Gebrauch. Weitere

Möglichkeiten der Darstellung von Fu!'Lscluitt: die komparativische (THUKYDIDES, vgl.


JACQUELINE DE RoMILLY, Thucydide et l'idee de progres, Annali della Scuola Normale

2~90386/l 353
Fortschritt II, 'Fortschritt' in der Antike

ha.t ma.n nie gemeint, uaß ilie ge8efü1chafLlichen und ethischen Bedingungen sich
prozessual verbesserten, ja daß die Geschichte in einem umfassenden Veränderungs-
prozeß bestehe. Es werden mehr die Dinge, die sich verändern, als die Veränderung
wahrge11ommen. Man findet in der Zeit keine einheitliche Richtung zum Besseren.
Entsprechend können Vorstellungen vom Fortschreiten in einer Beziehung neben
solchen vom Verfall in einer anderen stehen, ohne daß dies einen Widerspruch
bedeutet hätte. „Fortschritt" bleibt eine rein deskriptive, sachgebundene Fest-
stellung. Alle Fortschrittswahrnehmung bleibt eng an Empirie in einer nur beschränkt
sich wandelnden Gesellschaft gebunden und bezieht sich in der Regel mehr auf
Vergangenheit und Gegenwart als auf Zukunft. Erst bei den Christen lockert sich
die enge Bindung an die Empirie.
Von Interesse sind hier die wenigen Fälle eines ausgeprägten Bewußtseins davon,
daß die Menschheit oder das menschlicae Können in allen als mutabel gedachten
oder doch in wichtigen Bereichen im Fortschreiten begriffen sei. Die Menschheit
wird dabei zunächst von den Griechen vertreten (solange diese naiv von den
übrigen als Barbaren absahen). Mindestens in den ersten beiden Fällen spiegelt sich
der ungeheure welthistorische Umbruch, der sich in der Antike vollzog und diese
Kultur zu neuen, kühnen Veränderungsleistungen freisetzte.
Das älteste Zeugnis stammt von XENOPHANES (um 500 v, Chr.): Wahrlich nü;h,t mn
Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles enthüllt, sondern mit der Zeit "finden
sie suchend das Bessere 6• Der Zusammenhang ist unbekannt. Jedenfalls wird die
Konsequenz gezogen aus zahlreichen seit dem 7. Jahrhundert eröffneten Möglich-
keiten des Handelns und Veränderns; die Griechen hatten mit immfir nP.nP.n MP.tho-
den das Leben erleichtern und verbessern, endlich auch die politischen Probleme
meistern können. Jetzt zogen sie daraus Schlüsse auf die Geschichte der Zivilisation.
Statt nach dem Bilde der goldenen Zeit und des Abfall8 uavuu lernte man die
Kulturentstehung als Prozeß langsamer Überwindung sehr primitiver Zustände
verstehen: zunächst aufgrund göttlicher Gaben, etwa des Prometheus 7 ; dann
aufgrund zunehmender Entdeckung und Ausbildung von Fertigkeiten (Schutz
gegen Tiere, Ernährung, Hausbau, Ackerbau, Seefahrt, Recht, politischer Zusam-
menschluß 13tc.) 8• Der Mensch antwortete auf die Herausforderung der Natur mit
Zivilisation. Diese Lehre hat im Bewußtsein des 5. Jahrhunderts, mindestens in
Athen, eine sehr große Rolle gespielt9 • 8oweit wir 2ehen, bezog sie sich aber nur
auf die ferne Vorzeit, machte auch keine Unterschiede zwischen den Völkern. Sie
fragte nicht nach der „Geschichte", sondern es ging ihr eben darum, die Kultur-

Superiore di Pisa, Ser. 2, Jg. 35 (1966), 160. Ähnlich .ArusTOTELEs, Pol. 1286b 8 ff.; 1297b
16 ff.) und die Häufung der Komposita mit bd (THUKYDIDES 1, 70, 2. 7; 1, 71, 3). -
Die Erwartung stand in enger Korrelation.zur Erfahrung von Fortschritt (ERic R. DoDDS,
The Ancient Concept of Progress; Oxford 1973, 25), eine Ideologie hat sich darum nie
gebildet. .
6 XF.NOPlfANF.R, Frngm. 18, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Hliln.MANN nmr.n
u. WALT:HER KRANZ, 12. Aufl., Bd. 1 (Dublin, Zürich 1966), 133; vgl. DoDDS, Progress, 4.
1 Dunns, Progress, 5 ff. .26 :ff.
8 WoLDEMAR GRAF UxKULL-GYLLENBAND, Griechische Kultur-Entstehungslehren (Berlin

1924); ROMILLY, Thucyclide, 148 ff.; DoDDS, Progress, 11; EDELSTEIN, Idea of Progress,
22 ff. Vgl. bes. ARcHELAOS, Fragm. A 4, DIELs/KRANZ, Fragmente, Bd. 2 (1966), 46.
9 ROMILLY, Thucydide, 146.

354
D. 'Fortschritt' in der Antike Fortschritt

entstehung als Menschenwerk zu begreifen, d. h. als Prozeß langsamer Steigerung.


Die Fortschrittskomponente blieb ganz eingelagert in den sachlichen Zusammen-
hang.
Eine Brücke zur Gegenwart und zugleich die Darstellung des Fortschreitens der
Griechen (unter völligem Absehen von den orientalischen Kulturen) finden wir
nur in der Archäologie des Thukydides. Dort interessiert die Ent_stehung der
Grundelemente der Zivilisation kaum. Es geht um die Fortschritte in Technik,
Wirtschaft und Macht, aus denen schließlich das einzigartige Potential resultierte,
mit dem die Griechen im Peloponnesischen Krieg aufeinandertrafen. Dabei werden
die Griechen als fortgeschritten gegenüber den Barbaren dargestellt10• Ob diese
Zunahme an Kenntnissen und Machtmitteln sich fortsetze oder gar zu strukturell
anderen Machtverhältnissen führe, bleibt o:ffen 11 •
Darüber hinaus läßt sich im 5. Jahrhundert ein ausgeprägtes Bewußtsein davon
greifen, daß man weit über alles Bisherige hinausgekommen seirn. ·Mau mtliuLe,
ganz neue Fähigkeiten politischer Planung und Durchsetzung gewonnen zu haben.
Selbst der Zufall sollte in gewissen Grenzen berechenbar sein13• Im Ethischen
gesellte sich dazu das Axiom der Lehrbarkeit der Tugend (freilich nur für engere
Kreise) 14 • Man setzte offen auf Neuerung, denn notwen<lig ... behält, wie bei je.der
Fertigkeit, das Neue (i:a bi1y1yv6µe1Nx} die Oberhand 16 • Unter Künstlern WlU
Philosophen, zumal Sophi1:1ten, hemmhfa1 geradezu ein Modcrnitätsbewußtsein.
Man empfand das Alte als lächerlich, wollte das Neue als Neues, setzte seine Situa-
tion in Parallele mit der Regierung des „jungen Zeus" nach dem Sturz des Kronos 16 •
In der Medizin setzten sich neue Theorien teilweise über bewährte Erkenntnisse
einfach hinweg17 •

10 Dazu (etwas übertreibend) ROMILLY, Thucydide, 159 :l:f. - Spätere Fortführung dieser
Gedanken bei DEMOSTHENES 9, 47 und Polybios (s. u.).
11 Vgl. dazu ROMILLY, Thucydide, 175 ff. 179 ff.; KARL REINHARDT, Thukydides und

Machiavelli, in: ders„ Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur PhilosophiA und
Geschichtsschreibung, hg. v. Carl Becker, 2. Aufl. (Göttingen 1966), 184 ff„ bes. 205. 214.
Anders SIEGFRIED LA.UFFER, Die Lehre des Thukydides von der Zunahme geschichtlicher
Größenve1·hältnisse, in: Spengler·Studicn, Fsohr. Manfred Schröter, hg. v. ANTON MmKo
KoKTANEK (Göttingen 1965), 177 ff.
1 2 Vgl. RoMILLY, Thucydide, 143 ff.
13 DEMOKRIT, Fragm. B 119; KruTIAS, Fragm. B 21, DIELS/KRANz, Fragmente, Bd. 2,

166 f. 385. Vgl. VICTOR EHRENBERG, Sophokles .und Perikles (München 1956), 117. Vgl.
das hohe Vertrauen in das menschliche Erkenntnisvermögen, dem das rationale Beweis-
verfahren vor Gericht (und die Rhetorik) entspringt; FRIEDRICH SoLMSEN, Antiphon-
Studien (Berlin 1931), 47 ff.
14 WILLIAM K. C. GUTHRIE, The Sophists (London 1971), 250 ff.
16 THUKYDIDES 1, 71, 3; EDELSTEIN, ldea of Progress, 37 f. 52. 54; vgl. XENOPHON,

Kyropädie 1, 6, 38; ARISTOTELES, Pol. 133la 12 ff. u. v. a.


18 PLATON, Hippias maior 28ld u. a.; JOHANNES ÜVERBECK, Die antiken Schriftquellen

zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen (1868; Ndr. Hildesheim 1959), 1657.
1663. 1700. - TIMOTHEOS, Fragm. 21 bei ATHENAIOS 3, 122 c. d.; vgl. Ps.PLUTAROH,
De musica 12; EDELSTEIN, ldea of Progress, 35 f. 100; ARISTOPHANES, Wolken.
17 HIPPOKRATES (?),De vetere medicina 2-4; vgl. EDELSTEIN, ldea of Progress, 37 ff„

modifiziert durch Du1ms, Progress, 11 ; IIANS HERTER, Die kulturhistorische Theorie der
Hippokratischen Schrift von der alten Medizin, Maia 15 (1963), 464 ff.

355
Fortschritt II. 'Fortschritt' in der Antike

Ähnlich müssen auch die Politiker, die neue Institutionen einführten, dies bewußt
als ein Voranbringen der Stadt verstanden haben. Hippodamos, der durch seinen
Gesellschaftsplan jenseits der üblichen Verfassungen neue Möglichkeiten zu er-
schließen suchte, setzte auf den Vorschlag institutioneller Verbesserung Prämien
aus 18. ARISTOPHANES verspottete später die politische Neuerungssucht. Danach
galt, daß etwas neu ist, als Argument, es einzuführen. Ein guter Politiker tue nie
Getanes, nie Gesagtes 19. Das mag in der Polemik stark übertrieben sein. Aber die
Art, in der A1scHYLOS in den „Eumeniden" (458) den Gegensatz zwischen Alt und
Neu vor dem attischen Volk durchspielt 20, ist ein Indiz für das Bewußtsein nicht
nur des Bruchs mit dem Herkömmlichen, sondern auch der Gewinnung neuer
politischer Gestaltungsmöglichkeiten21 . Ob das Neue als solches in politicis schon
etwas galt (und Neuheit hier als Argument gelten konnte), ist nicht zu sehen.
Immerhin sind nach Aischylos die Anhänger des Neuen und die des Alten fast gleich
stark, die Entscheidung füllt so knapp wie nur möglich.
Wir finden im 5. Jahrhundert also auf breitem Feld ein Bewußtsein von Fortschritt
(zumal Fortgeschrittensein), vör allem bei den Athenern und für die Athener, die
dann auch einmal die typischen vew-reeonoiol genannt werden und von denen
es, freilich zumal im Hinblick auf die äußere Politik, heißt, für sie sei Haben und
Hoffen be'i allem, was sie planen, eins; das Erwart1ite werde gleichsam immer schon
als sicher verbucht22.
Dieses Bewußtsein war weit v1irbreitet; wenn auch nicht konstant und konsequent.
Es war begünstigt durch eine lange dichte Reihe verschiedenster Erfolge 23 • Es bezog
sich auf Evidem:. Es erstreckte sich freilich höchstens auf die Griechen, lr.ht1i in
naiver Selbstbezogenheit, maß sich wohl nur vage an Urzeit und archaischer Vor-
geschichLe. Vor allem war die Feststellung von Fortschritten nur ein Nebenprodukt
des Bewußtseins neuer Möglichkeiten des Handelns. SOPHOKLES spriuhL etwa im
berühmten Chorli1id in der „Antigone" von der Findigkeit des Menschen, nicht von
der Mehrung der Erfindungen, von seiner Ungeheuerlichkeit, nicht von seinem
Fortschreiten24 • .ffintsprechenJ hatten die Vorstellungen politischer Verbesserung

18 .ARISTOTELES, Pol. 1267b 22 ff.; 1268a 6 ff. Da.mals bikleLen ilie Verfassungen des

späteren Kanons noch keine quasinaturalen Gegebenheiten: das trat erst nach Abschluß
der großen Veränderungsbewegung ein.
19 ARlsTOPHANES, Ekklesiazusen, bes. 456. 577 ff. 586 f. (erst ca. 392 aufgeführt, als

dieserart Impulse sich endgültig ad absurdum führten).


20 AiscHYLos, Eumeniden, bes. 162 ff. 490 ff. 693 ff. 778 ff. 808 ff. 848 ff. 881 ff. Zur Ent-

scheidung: ebd. 751.


21 Damals könnte durchaus auch die Demokratie als Fortschritt angesehen worden sein.

In den, zumeist späteren, Quellen hat sich nichts davon bewahrt (nur, daß sie als letzte
Verfassung entstand).
22 THUKYDIDES 1, 70, 2. 7 f.; 1, 71, 3; vgl. 3, 38, 5. 7; 6, 18, 6; DEMOKRIT, Fragm. B 191,

DIELS/KRANZ, Bd. 2, 184 f.


23 Vgl. ARISTOTELES, Pol. 1341a 28; PLUTARCH, Perikles 28, 5 f. für das selbstbewußte

Sich-Messen an der heroischen Vergangenheit, die bis dahin als unerreichbar gegolten
hatte; vgl. HERMANN STRASBURGER, Homer und die Geschichtsschreibung (Heidelberg
1972), 28. Auch THUKYDIDES 2, 36, 3 f.; 6, 18, 6; PLUTARCH, Perikles 20, 4; Nikias 12, 2;
Alkibiades 17.
24 SOPHOKLES, Antigone 332 ff.

356
ß. 'Fortschritt' in der Antike Fortschritt

vermutlich wesentlich mehr mit der Fähigkeit zu umfassender institutioneller Ver-


änderung als mit einem allmählichen, etwa gesellschaftlichen und moralischen
Verbesserungsprozeß zu tun. Der eigentliche Bruch mit den archaischen Vorgegeben-
heiten bestand darin, daß die Bürgerschaften nach der wirtschaftlichen Konsoli-
dierung darauf kamen, daß ihre zentrale gesellschaftliche Problematik politisch zu
lösen sei: nachdem man Ordnung lange als von Göttern gesetzt und im Wirtschaft-
lichen, Sozialen, Ethischen und Staatlichen zugleich bestehend verstanden hatte,
fanden jetzt weite Schichten, daß sie ihre - jetzt: rechtlichen und politischen -
Ansprüche durch entsprechende Einrichtung der Polis sichern konnten. Ihre Pro-
blematik wurde ins Politische übersetzt und schien durch Institutionenschöpfung
unmittelbar lösbar zu sein. Der Begriffswandel des 5. Hahrhunderts spiegelt dieses
Bewußt,<;iein Aehr gnt: die neuen kratistischen Verfassungsbegriffe, der politische
Gleichheitsbegriff, der Rechts- und jetzt: Gesetzesbegriff des v6µo~, der .8ürger-
begriff2& u. a. beziehen sich insgesamt auf die Möglichkeit einer unmittelbaren
Verwirklichung politischer Ordnung. Es gab wohl keine Erwartung eines allmähli-
chen Wandels, einer Verbesserung, „die die Zeit bringt". Sofern man Idealstaaten
entwarf, rechnete man damit, sie aus dem Stand zu schaffen, dachte nicht an .all-
mählich heranreifende Voraussetzungen 26 • Statt einer Verzeitlichung ergab sich eine
Politisierung und damit „Pragmatisierung" der gesellschaftlichen Orientierung.Wohl
erwartete man weite.re Verbesserungen, abAr AA warnn weAtmtlich solche politisch-
institutioneller Art, eine Sache gleichsam der Institutionentechnik, nicht des allmäh-
lichen Werdens. Und die Erwartungen waren recht unbestimmt und begrenzt. Ver-
gangenheit und .vor allem Zukunft lagen im gleichen Raum. Überspitzt könnte man
sagen, es sei nicht ein (zugleich Wirtschaftliches, Soziales, Ethisches) umfassender
weltbemächtigender Fortschritt - wie in der Moderne-, sondern eine (auf das im
weitcßtcn Sinne Teehnioehe konzentrierte) fortschreitende Weltbemächtigung be-
griffen worden. Techniker in diesem Sinne, nämlich WiRsenRchaftler, Künstler,
Politiker, Militärs erdachten und verwirklichten die neuen Möglichkeiten, deren
Voraussetzungen einesteils in der archaischen Geschichte, vor allem aber in dem
demokratischen Umbruch lagen, der erst die Weite des Spielraums, des Ent-
scheidens zwischen Alternativen erschloß 27 •
Wie weit die Fortschrittsauffassungen darüber hinaus verbreitet waren, ist nicht
zu sehen. Sie blieben jedenfalls eng an bestimmte Umstände der Ereignisgeschichte
gebunden. Außerdem standen sie immer in Konkurrenz mit schweren und verbreite-
ten Bedenken, für die etwa das ganze Werk Herodots als Beispiel dienen kann,
ebenso die Zuordnung der Gefallenenrede zur Pestschilderung bei Thukydides, vor
allem SOPHOKLES' Chorlied, in dem es vom Menschen heißt: Im Erfinden nimmer
verhoffter Dinge Meister, geht er die Bahn so des Guten wie des Bösen 28 •

25 CHRISTIAN MEIER, Entstehung des Begriffs 'Demokratie' (Frankfurt 1970), 36 ff.; ders„

Clisthene et le probleme politique de la polis grecque, Rev. internat. des droits de l'anti-
quite 20 (1973), 137 ff.; ders., Rez. MARTIN ÜSTWALD, Nomos and the Beginnings of the
Athenian Democracy (Oxford 1969), Rist. Zs. 218 (1974), 372 ff.; RUDOLF HrnzEL, Themis,
Dike und Verwandtes (Leipzig 1907), 250 f. 420 f.
26 Vgl. z.B. PLATON, Politeia 47lc. d; 473c ff.; 592b; Ep. 7, 327a; 328b. c; 335dff.
27 Tomo HöLSCHER, Griechische Historienbilder des 5. u. 4. Jahrhunderts v. Chr. (Würz-

burg 1973), 205 ff.


28 CHR. MEIER, Die Entstehung der Historie, in: Geschichte - Ereignis und Erzählung,

357
Fortschritt D. 'Fortschritt' in der Antike

In den folgenden Jahrhunderten ziehen sich die Annahmen langfristigen Fort~


schritts auf bestimmte Bereiche zurück, intensivieren sich dort aber in einem fast
modern anmutenden Ausmaß. Das Fortschreiten ist dann nur noch Sache kleiner
Kreise, kann freilich über diese hinaus sich auswirken. Die eigentliche Zunahme ist
künftig die des Wissens, das Bewußtsein von Fortschritt gehört in der Regel zu
den Fachleuten der Wissenschaften u~d technischen Fertigkeiten 29 •
Nur zu Anfang, in Fortwirkung des lmp~es des 5. Jahrhunderts wird versucht,
grundlegende Verbesserungen der Verfassung, ja eine ideale Ordnung zu erreichen.
Die Entwürfe dazu sind, mindestens bei Platon, insofern als Ausdruck menschlichen
Fortschritts zu verstehen, als jetzt ganz neue Erkenntnis- und Handlungsmöglich-
keiten gegeben zu sein scheinen. PLATON ist sich dessen auch bewußt30• Er rechnet
mit Fortfmhrit.ten dieser Art auch als Komplement zu den mit der weiteren Ausbil-
dung der Kultur notwendig auftretenden größeren Schwierigkeiten 31 • Seine Ent-
würfe gehören aber wesentlich schon in den Zusammenhang des Fortschritts von
Philosophie und Wissenschaft. Sie replizieren nicht auf Erwartungen und rufen
solche kaum hervor.
Seit dem späten 5. Jahrhundert gewinnt das Ideal der :n<:freior; :noJ.n:elrx. an Boden32 •
Politisc.he Verbesserung wird nun wesentlich immer auch als Wiederherstellung
verstanden. Weder erscheint die Gegenwart mehr.als Höhepunkt noch die Zukunft
als mögliche Steigerung. Rechte Verfassung ist von der Bewegung in der temporalen
Dimension unabhängig geworden (wenn sie nicht eher in der Vergangenheit gesucht
wird). Von neuen Einrichtungen erhofft man sich nicht mehr viel. Denn erfunden
ist so ziemlich alles, aber manches hat man noch nicht miteinander verbunden, anderes
gebraucht man nicht, obwohl man es kennt33• Die Verbesserungen in Verwaltung und
Politik, zumal auch Wirtschaftspolitik, die etwa Xenophon vorschlägt, bewegen
ßich nicht weit über daB Gegebene hinaus. Sie sind kurzfristig erreichbar, man muß
nur die Hebel geschickt ansetzen. Ebenso steht es mit der moralischen Verbesse-
rung, die XENOPHON sich von einer Hebung des Wohlstands verspricht 34 • Daß man
in Verwaltung, Wirtschaft oder Moral auf die Dauer immer weiter vorankommen
werde, verlautet nicht.
Auf dem Feld der Erkenntnis aber sowie gewisser Methoden und Techniken, z. T.
auch der Kunst, bildete sich seit dem 5. Jahrhundert ein sehr ausgeprägtes Bewußt-
sein des Fortschreitens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Das früheste
Zeugnis dafür findet sich in der Schrift „De vetere medicina" : Die Heilkunst aber

hg. v. REINHART KOSELLECK u. WOLF-DIETER STEMPEL (München 1973), 300 ff.;


REINHARDT, Thukydides (dazu, daß die vermeintlich so überlegenen Athener den Krieg
verlieren); SOPHOKLES, Antigone 332 ff. Dazu RoMILLY, Thucydide, 146; DoDDS, Progress,
8. 99 f.; ders„ The Greeks and the Irrational (Berkeley 1951), 189 ff.
29 Zum Folgenden ist das Material bei EDELSTEIN, Idea of Progress zu finden. Zu Platon

und Aristoteles vgl. vor allem DoDDS, Progress, 14 ff., zu Platon auch KoNRAD G.AISER,
Platons ungeschriebene· Lehre (Stuttgart 1963), 211 ff. 226 ff.; s. auch im Folgenden;
-+ Geschichte.
30 GAISER, Platon, 217.
31 PLATON, Nomoi 679 d. e. Später zur Ambivalenz des Fortschritts: SENECA, Ep. 90.
32 ALEXANDER Fuxs, The Ancestral Constitution (London 1953); DoDDS, Progress, 13.

33 ARISTOTELES, Pol. 1264a 3.


84 XENOPHON, Hieron 9, 7 ff.; EDELSTEIN, Idea of Progress, 100 f.

358
II. 'Fortschritt' in der Antike .l<'ortschritt

verfügt schon lange über alles, und man hat für sie den Ausgangspunkt und den Weg.
gefunden, auf dem ihre zahlreichen und trefflichen Entdeckungen im Laufe langer Zeit
gemacht wurden und auf dem der Rest gefunden werden wird, wenn ein begabter Mensch,
der das Gefundene beherrscht, diese Erkenntnisse seinen weiteren Forschungen zugrunde
legt. Denn es gibt nichts bei den Menschen, was nicht, wenn man es untersucht, mit der
Zeit gefunden wird, sagt der Tragiker CHAIREMON (um 400) 36 . Ähnliche Zeugnisse
finden sich bis in die römische Kaiserzeit. Immer wieder werden Betrachtungen dar-
über angestellt, wie die Forschung prozeßhaft voranschreitet; sobald einmal der
erste Schritt getan sei, folgten die anderen automatisch; die Erforschung der Wahr-
heit ergebe sich aus der Zusammenfassung unendlich vieler einzelner Beiträge3 6 •
IsoKRATES sagt, die Zunahme (bdt501n~) der methodischen Kenntnisse und
Fähigkeiten (Texva:i) wie aller andern Dinge gehe von denen aus, die nicht beim
Bestehenden verharren, sondern verbessern wollten ·und wagten, zu verändern, was
sich nid1,t y'ut ·verhalte 37 • Immer wieder setzt man sich von den Früheren ab, und
immer schneller scheinen die Erkenntnisse zu veralten38 . Je weiter das überblick-
bare Stück Forschungsgeschichte wird und je mehr sich die Wissenschaft verbreitet,
um so weiter werden zugleich die Zukunftsperspektiven. Keiner möge bezweifeln,
daß die Zeitalter immer voranschreiten (saecula semper proficere), sagt PLINIUS.
Es wird d'ie Zeü kummen, da V erstand und gewissenhafte Forschung eines längeren
Zeitraums ans Licht bringt, was jetzt verborgen ist ... , da unsere Nachkommen sich
wundern, daf3 wir so offensichtliche Dinge nicht gewuf3t haben, meint SENECA zur
Astronomie. Er eröffnet zugleich weite zeitliche Perspektiven: Vieles uns Unbe-
kannte wird die Menschheit einer kommenden Zeit (venientis aevi populus) wissen.
Vieles ist für die Jahrhunderte, welche sein werden, wenn die Erinnerung an uns
erloschen ist, reserviert. Eine Winzigkeit wlJ,re das Weltull, wenn wicht jedes Ze-italte1·
in ihm nwa.~ z11, erfor.~chen hätte. In Fortsetzung von geographischen Forschungsim-
pulsen des Späthellenismus rechnet Seneca sogar mit der Entdeckung neuer Konti-
nente jenseits des Atlantik. Andererseits stellt Plinius fest, daß in seiner Zeit trotz
sicheren Friedens nichts durch neue Forschung hinzugelernt würde, nicht einmal
die Einsichten der Älteren mehr übernommen würden 39 .
Die Erfahrung vom Fortschreiten der Wissenschaften war so mächtig, daß schon
PLATON dessen Notwendigkeit in seinen Verfassungsentwürfen berücksichtigte. Er
versuchte zugleich, die Erfahrung der allgemeinen Zunahme der menschlichen
Verhältnisse mit dem Axiom der Unendlichkeit der Zeit in Einklang zu bringen -

36 IIIPPOKRATES ( ?), De vetere medicina 2. - CHAmEMON, Fragm. 21, in: Tragicorum


Graecorum fragmenta, hg. v. AUGUST NAUOK, 2. Aufl. (1889; Ndr. Hildeshe:i.nl 1964),
789; vgl. ALEXIS, Fragm. 30, in: Comicorum Atticorum fragmenta, hg. v. THEODOR KoOK,
Bd. 2/1 (Leipzig 1884), 309.
38 EDELSTEIN, Idea of Progress, 84. 143 f. 169 u. ö.; ARISTOTELES, Nikom. Ethik 1098a22

(wo die Zeit geradezu zum Subjekt des Fortschritts wird); Soph. Elench. 183b 17. Anders
!SOKRATES, Paneg. 10; THRAEDE, Art. Fortschritt, 149 f. Vgl. EDELSTEIN, Idea of Pro-
gress, 88 f. 148 f. 152; ARISTOTELES, Metaphys. 993a 31; weitere Bedingungen: ARlsTO·
TELES, Metaphys. 98lb 23; POLYBIOS 10, 47, 11; SENEOA, Ep. 90, 12 f. 21. 25; 71, 36.
3 7 IsoKRATES, Euagoras 7; vgl. SENEOA, Ep. 33, 10 f.
38 EDELSTEIN, Idea of Progress, 73. 141 ff. u. ö.
39 PLINius, Nat. hist. 2, 62; SENEOA, Nat. quaest. 7, 25, 4 f.; 7, 30, 5; Me,dea 374 ff.;

PLINIUS, Nat. hist. 2, 117 f.

359
Fortsehritt II. 'Furl.!rehrltt' In der Antike

und konnte dies nur, indem er immer neue Sintfluten und immer neue Anfänge
annahm 40.
Die Stoa hat kaum Gedanken an den Fortschritt gehegt (abgesehen von dem des
Individuums). Die Kosmopolis wurde nicht als Ziel historischer Bewegung ver-
standen41. Anders die Epikureer: LUKREZ gab ein zusammenhängendes Bild der
Geschichte der Erfindungen, die er sich über die Gegenwart fortgesetzt dachte und
als deren Summe er festhielt:
usus et impigrae simul experientia mentis
paulatim docuit pedetemptim progredientis.
sie unum quicquid paulatim protrahit aetas
in medium ratioque in luminis erigit oras:
namque alid ex alio clarescere corde videbant
artibus ad summum donec venere cacumen 42 •
Daß man in Wissenschaft und Technik Unerwartetes erwarten konnte, ergab sich
aus der Erfahrung. Aber diese Fortschritte blieben im ganzen folgenlos. Die Wissen-
schaft blieb unter sich, sie fand außerhalb ihres Kreises wenig Interesse oder Förde-
rung. Der Lohn des Forschers war die Erkonntnio, a.n pra.ktfoohc Anwendung dachte
man kaum 43 . Größere Auswirkungen hatte der geistige Prozeß nur in der Kriegs-
technik. Ein wirtschaftlicher Veränderungsprozeß resultierte ilaraus nicht. Das
Interesse an Intensivierung der Produktion war nicht stark und verbreitet gen11g,
um immer weitere Neuerungen anzuregen, um die vielen Dämme der Gewohnheit
zu durchbrechen und einen irgend beträchtlichen Innovationsprozeß mit seinen
vielen Hin- und Herwirkungen in Gang zu setzen. Wenn gelegentlich bemerkt wird,
alles habe zugenommen und swh verbessert, so handelt e1:11:1ich um ganz pauschale
FeRtf1telhmg1m, 1fo'\ vor a.Ilem nur dafür Zeugnis ablegen, wie wenig da.ma.lo a.l.ß
mutabel und verbesserungsfähig erschien 44 •
Endlich kam ein Bewußtsein umfassenden Fortschritts der Menschheit im Zusam-
menhang mit der römischen Reichsbildung und der christlichen Apologetik im
römischen Reich auf. PoLYBIOS war fasziniert von dem einzigartigen Schauspiel, in
dessen Folge Rom zu seiner Zeit eine Weltherrschaft, wie es sie nie gegeben, ge-
wann. Alle einzelnen Geschichten (:nea~ei,) schlossen sich zu einer Geschichte
(lcn:oetoi) zusammen. Darin - nicht freilich in den voraufgegangenen Geschichten
- sah er einen höheren Plan (ol"ovoµloi) oder die -rvxr1 wirksam. Alles neige sich
einem Ziel (a"o:no,, -reilo,) zu4 5 • Neben diesen Feststellungen steht - ohne frei-
lich ausdrücklich dazu in Beziehung gesetzt zu sein - die Erkenntnis des Polybios,

40 EDELSTEIN, Idea of Progress, 102 ff.; PLATON, Nomoi 676a. b; 721 c; 677 c. d.
41 Ausnahmen: PosEmomos, vor allem bei SENEC.A., Ep. 90, und SENEC.A. selbst (ebd.),
die darin aber über die Schule hinausgehen.
42 LuKREZ, De rerum natura 5, 1452 ff.; dazu DoDDS, Progress, 20.
43 LUDWIG J!:DELSTEIN, Motives and Incentives for Science in Antiquity, in: Scientific

Change, ed. ALISTAIR C. CROMBIE (London 19ß3), 15 ff. Später zu Recht etwas modi-
fiziert in ders., Idea of Progress.
4 ' DEMOSTHENES 9, 47; IsoKR.A.TES, Nikokles 32; PoLYBIOR 9, 2, 5; 10, 77, 12.
45 PoLYRTOR J, l, 5; 1, 4, 4; 8, 2 (4), 3. -1, 3, 4; 1, 4, 1. -1, 4, 3; 9, 44, 2. - 1, 4, 1. -
1, 3, 4; 1, 4, 1.

360
ll. 'Fortschritt' in der Antike Fortschritt

daß auf allen Gebieten der Erfahrung und des technischen Vermögens ein außer-
ordentlicher Fortschritt stattgehabt habe: die menschlichen Erkenntnisse hätten
sich alle zu methodischen Wissenschaften fortgebildet 46 • Für beide Arten von Fort-
schritt verwendet Polybios den Terminus :n:eo:ieon1], der bis dahin nur für die sittli-
che Vervollkommnung des Einzelnen bezeugt ist. Wie die Geschichte weitergehe,
bleibt offen .. Nichts spricht dafür, daß Polybios die neo:ieon?] zum Weltreich für
endgültig gehalten hätte 47 • Man weiß auch nicht, wie weit diese und ähnliche Ge-
danken sich damals verbreiteten.
Auch später war die Zunahme des römisc)len Reiches Gegenstand vieler Überlegun-
gen und Deutungen. Man legitimiert sie durch die Annahme einer römischen Mis-
sion zur Herrschaft. Man stellt Rom in die Abfolge der Reiche, sei es negativ im
Sinne der ursprünglichen Oppositionsfunktion der Vierreichelehre 48 , sei es positiv
als größtes, dauerhaftestes und bestes der Reiche (ohne daß es deswegen aber vor
den Christen als Ziel der Welt.geschichte erschienen wäre) 49 • Tn der KaiRerr.eit ver-
bindet sich dann mit dem römischen Reich auch das Bewußtsein eines Fortge-
schrittenseins der Menschheit, allerdings weniger der historischen Bewegung als der
unter der „pax Romana" erreichten Errungenschaften. Vorwaltend ist dabei, so-
fern frühere Zustände ins Bild kommen, nur der Gesichtspunkt des Vergleiches.
Dabei kommt etwa AELIUS ARISTIDES im 2. Jahrhundert dahin, zu finden, daß
Herrschen-Können erst eine römische Errungenschaft sei (welche mit der Größe
des Reiches entstanden sei und diese zugleich befördert habe). Rom sei in jeder Hin-
sicht über die früheren Reiche hinaus: in Militärwesen, rechtlicher Verwaltung,
Sicherheit des Verkehrs, Schönheit der Städte, allen Segnungen des Friedens. Es
herrsche als erstes Reich über Freie 50 . Wie im 5. Jahrhundert v. Chr. der Fort-
schritt vor allem als Weltbemächtigung bewußt wurde, so hier als Friede. Er ist
impliziert, wird aber kaum akzentuiert, außerhalb der Wissenschaft auch J:!icht für
die Zukunft erwartet. So ist es auch ein Zeugnis nicht so sehr für ein Fortschritts-
bewußtsein wie für ein Sich-Vergleichen mit (evtl. jüngst) vergangenen Zeiten,
wenn TRAJAN die Berücksichtigung anonymer Anklagen gegen Christen ablehnt,
weil dies nec nostri saeculi est 51 •
Ein völlig neues Fortschrittsverständnis ist dann in Teilen der christlichen Literatur
anzutreffen. Mit Hilfe klassisch-antiker Termini und Vorstellungen wird dort auf.

46 POLYBIOS 9, 2, 4 f.; 10, 47, 12. Vgl. 3, 59, 4; 3, 58, 4; 4, 40, 1 ff.
47 Vgl. im Gegenteil ebd. l, 12, 7; 3, 4, 2. - 2, 37, 8 ff.; 6, 9, 12; 6, 57, 4. ~Geschichte II.
48 JOSEPH WARD SwAIN, The Theory of the Four Monarchies. Opposition History under

the Roman Empire, Classical Philol. 35 (1940), 1 ff.; vgl. FRIEDRICH VITTINGHOFF, Zum
geschichtlichen Selbstverständnis der Spätantike, Ilist. Zs. 198 (1964), 551 ff.; KLAUS
KocH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken am Beispiel des Buches Daniel, ebd. 193
(1961 ), 1 ff.
49 DIONYS VON HALIKARNASS, Ant. Rom. l, 2 f.; APPIAN, Rist. Rom., praef. 8 ff.
60 AELIUS ARISTIDES, In Rom. 57 f. 80. 67 f. 94; vgl. TERTULLIAN, De anima 30. Zum
Frieden und Hoffnungen auf Abrüstung HARALD FucHs, Augustin und der antike
Friedensgedanke (Berlin 1926), 194 ff.
61 Bei PLINIUS, Ep. 10, 97. Für 'saeculum' = „gegenwärtige Zeit" oder „Generation":

A. N. SHERWIN-WHTTF., 'T'he Let.ters of Pliny (Oxforn 1966), 557. TntereRRant aus der
gleichen Zeit die relativierende Auffassung vom geschichtlichen Wandel bei TACITUS,
Ann. 3, 55, 5.

361
Fortschritt ll. 'Fortschritt' in der Antike

Herausforderungen geantwortet, die aus den Problemen der Selbstbehauptung, dem


Missionsanspruch, der Parusie-Verzögerung, endlich angesichts der Christianisie-
rung des Reiches resultieren. Daß dabei säkulare Fortschrittsauffassungen ent-
standen, ist nicht so sehr durch die Übernahme vorchristlicher Vorstellungen wie
durch die ganze Situation der Christen in ihrer antiken Umwelt bedingt. Als sich
die Frage nach dem Wirken Gottes in der Geschichte stellte, deutete man alte Kul-
turentstehungslehren um, indem man die dort vorausgesetzte Bedürftigkeit des
Menschen auf die providentia Dei zurückführte 52 • Vor allem suchte man - anknüp-
fend an Polybios - Gottes ol"ovoµla. (oder :rr:eovoia oder :rr:ocl<5ev<1t~) in der Ge-
schichte. Dabei brachte es die christliche Gottesvorstellung mit sich, daß man,
anders als Polybios, das römische Reich als Ziel nicht nur eines Geschichtsab-
schnitts, sondern der Weltgeschichte insgesamt verstand. Früh wurde ein provi-
dentieller Zusammenhang zwischen Christi Geburt und der Konsolidierung des
Reiches unter Augmitm1 fäRtgeRtiillt. F-TRt im TömiR11hfln Hflioh seien die für die Mis-
sion notwendigen Verkehrsverhältnisse gegeben 53 • Damit geriet rückwärts die Ab-
folge der Weltreiche unter den Aspekt eines von Gott gewollten Fortschrittspro-
zesses, und zwar in Politik, Gesittung, Religion. Gleichzeitig wurde der Friede und
Wohlstand des Reiches als Wirkung des christlichen Gottes beansprucht und deren
Vervullku=nung infolge dieser Wirkung behauptet54 • Damit lag es aber auch
schon ganz nahe, den Gedanken in die Zukunft zu wenden und das apologetische
Argument zu einem Argument für die Mission zu verlängern. Nach ÜRIGENES lag
die Gewähr für die Macht und Sicherheit des Reiches in der Anerkennung Christi.
Die Christen tragen durch ihre Gebete zum Siege bei, erst sie schaffen Concordia 65 •
So wandten sich die Erwartungen zum ersten Mal in der Antike sehr intensiv auf
einen künftigen allgemeinen Fortschritt. Dies freilich voll erst nach dem 8ieg unter
KonRtantin 56 . N1wh T,AKTAN:>: wiTfl 8-ntt ilfln flwig1m FTifldAn herbeiführen. EusE-
BIOS rechnet mit der Vollendung des Reiches, durch die allein auch der endgültige
Sieg der (mit diesem providentiell verbundenen) Kirche möglich sei. Vielfach glaubt
man an einen Fortschritt, der nicht nur außenpolitisch, ·sondern vor allem auch
- das ist das eigentlich Neue -moralisch sein und der ganzen Welt zugute kom~
men soll5 7. Die gegnerischen Vorwürfe, die Christen verdürben das gute Alte, führ-

59 Origenes lind Laktanz, s. THRAEDE, Art. Fortschritt, 167 ff.


63 Ebd., 163 f. 170 f.; .AMos FUNKENSTEIN, Heilsplan und natürliche Entwicklung.
Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters
(München 1965), 31 ff.; MELITON VON SARDES bei EusEBIOS, Rist. eccles. 4, 26, 7 ff.;
JusT~, Apol. 1, 32, 4; ÜRIGENES, Contra Cels. 2, 30; EusEBIOS, Rist. eccles. 1, 2, 17 f.;
Praep. ev. 1, 4, 2 ff.; THEODOR E. MOMMSEN, St. Augustine and the Christian Idea of
Progress. The Background of the City of God, Journal of the History ofldeas 12 (1951),
360 f.; PRunENTIUS, Contra Symm. 2, 578 ff.; TERTULLIAN, De anima 30; Apol. 40, 13.
64 MELITON (s. Anm. 53); TERTULLIAN, Apol. 40, 13; MoMMSEN, St. Augustine, 357 f.
66 ÜRIGENES, Contra Cels. 2, 30; 2, 72 f.; 4, 69; 8, 68 ff. Vgl., anders, zum Gedanken der

allmählichen Vervollkommnung der Gotteserkenntnis THEOPHILOS, zit. THRAEDE, Art.


Fortschritt, 163 f.
66 MoMMSEN, St. Augustine, 358 f.

6 7 LAKTANZ, De mortibus persec. 52. Vgl. EusEBIOR, PanAg. 16 und mehrere andere,
s. MoMMSEN, St. Augustine, 363. - EusEBIOS, Rist. eccles. (MoMMSEN, St. Augustine,
357); vgl. ÜRosrns, Adv. pag. 1, prol. 13; 3, 20, 12. - ÜRIGENES, ARNOBIUS und

362
W. MitteJalter und religiöser Bereich der Neuzeit Fortschritt

ten bei AMBROSIUS VON MAILAND zu einer bewußten Betonung des Wertes des
Neuen: N ullus pudor est a<l meliora transire. Vor allem: Omnia . . . in melius pro-
/ecerunt5B. Auch die Schöpfung habe sich erst allmählich entwickelt.
Der Gedanke an einen Fortschritt auf Erden, im römischen Reich, zur Vervollkomm-
nung der Menschheit wurde also an vielen Stellen und in verschiedenen Variationen
im damaligen Christentum vertreten. Er fand seine zusammenfassende historische
Darstellung im Geschichtswerk des Orosius. Wie schon im 5. Jahrhundert v. Chr.
führte die Erfahrung des ganz Neuen zu neuen Erwartungen. Wie damals blieben
diese aber wesentlich an die politische Situation gebunden und verschwanden mit
dieser. Sie hatten ohnehin nur in Teilen der Christenheit Fuß gefaßt.
CHRISTIAN MEIER
m. 'Profectus' im Mittelalter und 'Fortschritt' im religiösen Bereich
der Neuzeit
Entsprechend den Bewegungsverläufen; den mutationes aller menschlichen HaJ,ld-
lungseinheiten, ist es selbstverständlich, daß es auch im christlichen Mittelalter so
etwas wie Fortschreiten gegeben hat. Über einen unspezi:fischen Gebrauch der (im
Lateinischen mit 'pro' und im Deutschen mit 'ver-', 'vor-' oder 'fort-' verbundenen)
Rewegungskategorien hinaus wurden aber auch Erfahrungen artikuliert und Posi-
tionen bezogen, die den modernen Fortschrittsbegriff prädisponiert haben. Das soll
schematisch skizziert werden.
'Fortschritt' als geschichtlicher Oberbegriff für die Geschehenseinheit auf dieser
Welt blieb solange undenkbar, als man sich seit Christi Erscheinen im letzten Zeit-
alter der Welt wuj3te, in dem sich grundsätzlich nichts Neues mehr ereignen konnte.
Indes entstanden durch das Ausbleiben der Parusie Folgelasten, die den Gläubigen
zwangen, sich mit iriliselwu Ereignissen abzugeben, die nun auch als fortciohroitond,
in Friedenszeiten sogar zum Besseren, verstanden werden konnten. Freilich blieb
der Zielpunkt aller christlicher Hoffnung die Vereinigung mit Gott. Insoweit sind
alle lnterpretamente, die so etwas wie Fortschreiten zulassen, entweder trans-
historischer Art oder sie beziehen sich, soweit geschichtlich,. nur auf veränderliche
Konstellationen des Daseins.
AUGUSTIN hat sich strikt gegen jede Identifikation der Kirche und der Gläubigen mit
der jeweils wechselnden politischen Manhtlage gewehrt und somit der eusebischen
Euphorie, das christianisierte römische Reich als progressives Element der göttli-
chen Ökonomie zu deuten, das Wort abgeschnitten. Die Bewegungsverläufe der
beiden auf verschiedene Ziele zueilenden R.!1inhe, der civitas Dei und der civitas terre-
na, werden als procursus (procurrere) oder excursus (excurrere) beschrieben 59 • Es
handelt sich um rein temporale Verlaufsbestimmungen mit der Möglichkeit ambi-
valenter Beurteilung, weshalb Augustin auch den Terminus excursus für angemes-

EusEBIOS, s. MoMMSEN, St. Augustine, 362 f.; ÜRosrns, Adv. pag. 1, prol. 14; ERIK
PETERSON, Monotheismus als politisches Problem (Leipzig 1935), 68 ff.
58 AMBROSIUS VON MAILAND, Ep. 18, 7. 23; In psalm. 118, 16, 45. Vgl. TERTULLIAN,

Apol. 6, 14; Ad nat. l, 10; CHARLES NoRRIS CocHRANE, Christianity and Classical Culture
(London 1968), 145; PRUDENTIDS, Contra Symm. 2, 274 ff. 303 ff.; MANFRED FUHRMANN,
Die Romidee der Spü.tantike, Hist. Zs. 207 (1968), 556 ff. - AMDnosms spricht auch von
chri~tiana tempora (Ep. 17, 10).
59 AUGUSTIN, De civitate Dei 1, 35; 10, 32; 15, l; 15, 21.

363
Fortschritt m. Mittelaher und religiöser Bereich der Neuzeit
sener hielt als procursus&o, um den Sinn des Vorankommens in der Silbe 'pro' abzu-
blenden. Selbst wo er von dem genere humano progrediente atque crescente 61 spricht,
kann die Bedeutung pejorativ sein, weit' damit die Vermischung der Reiche voran-
getrieben und so die Ungerechtigkeit ausgebreitet werde.
Dort aber, wo von gläubig erfahrbarem Vorankommen ( proficere) die Rede ist, zielt
es darauf, den einmal wiedergeborenen Menschen aus irdischen Verstrickungen zu
lösen und der Zeit zu entheben 62 • Dieser vorausweisende Weg, den der auserwählte
Teil des Menschengeschlechts zurücklegt, ist sekundär ein geschichtlicher, primär
ein Weg zu Gott. Sicut autem unius hominis, ita humani generis, quod ad Dei populum
pertinet, recta eruditio per quosdam articulos temporum tamquam aetatum profecit
accessibus, ut a temporalibus ad aeterna capienda et a visibilibus ad invisibilia sur-
geretur63. Die Erziehung zielt selbst in ihrer zeitlichen Einstufung nicht auf 'Ge-
schichte', sondern dient dazu, die Erwählten aus dem Zeitlichen in das Ewige hin-
uberzuleiten. 'Fortschritt' ('profectus') ist msofern kein geschichtlicher Begriff. Sein
Ziel liegt - wie später ein Diktum von PAULINUS VON AQUILEIA zusammengefaßt
wurde - außerhalb der Zeit: Perfectio non in annis, sed in animis 64 •
VINCENZ VON LERIN hat 434 am schärfsten betont, daß die christliche Religion einen
Fortschritt (profectus) kenne, aber ebenso, daß dieser Fortschritt- gegenläufig zur
heutigen Vorstellung - nichts Neues bringe. Zum Fortschritt einer Sache gehöre,
daß sie nie vP.rii.nilArt, sondern nur, etwa die Religion, vertieft oder erweitert werde.
Sein Oegenbegriff ist die permutatio, die im La.nfä der Zeit ( proce1J1J1u temporis) eine
Sache in eine andere verwandele. Siquidem ad profectum pertinet ut in semetipsum
unaquaeque res amplificetur; ad permutationem vero, ut aliquid ex alio in aliud trans-
vertatur. Der religiöse Fortschritt wird stärker als bei Augustin an die naturale Me-
taphorik zurückgebunden, an die Gesetze des Wachstums, die vom Samen bis zur
Frucht, vom Kind bis zum Grois dio Idontitiit drni SubjcktB wahren: ita etiam Oliri-
stianae Relig1:oni.~ dogma seq1iatur has decet profectuum leges ... 65 Die „Gesetze des
Fortschritts", die die Religion auf ihre dauerhafte Identität verweisen, werden meta-
phorisch an die Natur und ihr Wa.cl1stmn zurückgebunden.
Auch die differenzierende Lehre des THOMAS VON AQUIN bewegt sich, was den Fort-
schritt anlangt, in ähnlichen Bahnen. Natur, Lebewesen und die Menschen haben
ihre je eigenen Grade an Vollkommenheit, deren höchste nur der Mensch erreichen
kann. Dabei gibt es auch zeitliche Epochen: Perfectio autem naturac cst quae fuit in
principio saeculorum. - Perfectio vero gloriae erit in fine saeculorum. - Et quia per-
fectio gratiae media est inter utramque, ideo Christus per quem gratia /acta est, circa
medium saeculorum venit 66 • Diese zeitliche Gliederung war noch in sich gestuft - Ro
60 Proc11.rs1im. sit>e dicere maluimus excursum (übrigens entgegen dom Spro.chgcbrauch in

„De civ. Dei"), zit. C. LAMBOT, Lettre inedite de S. Augustin relative au „De civitate Dei",
Rev. Benedictine 51 (1939), 112; vgl. MoMMSEN, St. Augustine, 371.
61 AUGUSTIN, De civ. Dei 15, 22. 62 Ebd. 15, 5. 63 Ebd. 10, 14.

64 PAULINUS VON AQUILEIA, Liber exhortationis, vulgo de salutaribus documentis, c. 43


(ca. 795), MIGNE, Patr. Lat„ t. 99 (1864), 246 A. Der zitierte Randtitel zu dieser pseudo-
augustinischen Schrift findet sich bereits in: AUGUSTIN, Opera, t. 4 (Paris 1541), 256 D
u. Opera, t. 4 (Basel 1541), 1070 und stammt wohl von ERASMUS.
66 VINOENZ VON LNmN, Commonitmium primum, MIGNE, Patr. Lat„ t. 50 (1865), 666 ff.
66 THOMAS VON AQUIN, Scriptum super sententiis map;istri Petri Lombardi 3, 1, qu. 1,

art. 4, ad 1, ed. Maria Fabianus Moos, t. 3 (Paris 1933), 27.

364
m. Mittelalter und religiöser Bereich der Neuzeit Fortschritt

war die lex vetus ... quasi paedagogus puerorum - 67 und bereitete den Menschen auf
den Empfang der Gnade vor, wonach er der Vollkommenheit näherrückt. Successit
enim status novae legis statui veteris legis tanquam perfectior imperfectiori68 • Freilich
kann sich der Stand der Welt im Zeichen der Gnade nicht mehr ändern: Unde non
potest esse aliquis perfectior status praesentis vitae quam status novae legis: quia tanto
est unumquodque perfectius, quanto ultimo fini propinquius 69 • Seit Christi Erscheinen
ist jeder dem Ende gleich nah, nur daß er sich mehr oder minder vollkommen auf
diese Zukunft einrichten kann. Innerhalb dieses Bereichs gibt es deshalb nur einen
relativen Fortschritt, den Thomas üblicherweise mit profectus umschreibt statt mit
dem eher ambivalenten Ausdruck progressus 70 • Liebe, Erkenntnis, Gnade, Ver-
dienst, Wissenschaft oder Tugend können sich dann entsprechend den „operatio-
nes" der Individuen im Hinblick auf den irdisch unerreichbaren Stand der Glück-
seligkeit vervollkommnen 71 ; difl Zflit in ihrflm Vflrla11f ist nur !:)in Vehikel solch rela-
Li ven FurLschreitens.
Der transhistorische Fortschritt der skizzierten Positionen enthält zwei konträre
Momente:
1) zielt die irdische Bewegung auf ein zeitlich noch ungewisses, aber sicheres Ende
diosor Welt. Ihr Verlauf ist linear und endlich zugleich, ohne daß er als solcher eine
Verbesserung bieten könnte. Vielmehr altert die Welt, auch wenn der Glaube jung
bleibt- sofern er nur festhält am „Alten", nämlich der einmal vorgegebenen Offen-
barung72. Häresie ist daran erkennbar, daß sie Neues hinzufügt, vor allem Worte
ändert, die ein für allemal feststehen: Si prophana est novitas, sacrata est vetustas ...
1l.t mtm d?:ca.~ 1w1Je, non dica.~ nova 73 • Der irdische Wandel- besonders irdischer Ver-
fall - bleibt heterogen, gemessen an der Homogenität der ewigen Botschaft, von
der kein Wort verändert werden darf.
2) Wahrer PrufecLus lfosL aus uen Ver1lechLungen der Welt; er zielt auf die Annä.he-
rung an Gott. Olov yaQ XQ1'}1it\; ~cxl ßd#QOll :TiQO~ t:"iv t:eÄelwuw ?} evJ.dßetcx74 • In
AUGUSTINS Worten: Crescat ergo Deus qui semper perfectus est, crescat in

67 Ders., Summa theologica 1, 2, qu. 107, art. lc.


&M J<.:bd. 1, 2, qu. 106, art. 4c („Utrum lex nova sit duratura usque· ad finem mundi");
vgl. ebd. 2, 2, qu. 183, art. 4, ob 1: Secundum harw differentiam inchoationis, profectus et
per/ectionis, dividuntur gradus caritatis.
69 Ebd. 1, 2, qu. 106, art. 4c.
70 Vgl. A Lexicon of St. Thomas Aquinas Based on the Summa theologica and Selected

Passages of His Other Works, ed. RoY JOSEPH DEFERRARI and M. INVIOLATA BARRY
(Washington 1948/49), s. v. processio, processus, progressio (in der „Summa" nur einmal
belegt), progressus (dort 15mal belegt), profectus (dort 40mal belegt).
71 Profectus caritatis: S. th. 2, 2, qu. 24, art. 6c; cognitionis: 2, 2, qu. 1, art. 7, ad 2;

Suppl. qu. 91, art. lc; gratiae: 3, qu. 39, art. 4, ad 2; meriti: 1, qu. 94, art. 3, ad 3; scientiae:
1, qu. 94, art. 3, ad 3; 3, qu. 12, art. 2 c; virtutis: 1, qu. 43, art. 6, ob 2; 1, 2, qu. 87, art. 7 c.
72 AUGUSTIN, Sermo 81, c. 7-9, MrnNE, Patr. Lat., t. 38 (o. J.), 503 ff.; JOHANNES SPOERL,

Das Alte und das Neue im Mittelalt.er. St.udien zum Problem deß mit.t.ela.lterlir.hen Fort-
schrittsbewußtseins, Rist. Jb. 50 (1930), 517.
73 VINCENZ VON LERIN, Comm. prim., 666 f.

74 BASILIUS MAGNUS (um 330-379), Homiliae in Hexaemeron 1, 5, M:rGNE, Patr. Gr.,

t. 29 (1857), 16 A; vgl. ders., Opera, dt. v. H. Schwciokhardt (Ingolstadt 1691), 5: dann


die wahre Religion und Gottseligkeit / ist gleich ein Fundament unnd Grurul,tfeste / zu der
Vollkommenheit fortzuschreiten.

365
Fortschritt m. Mittelalter und religiöser Bereich der Neuzeit
te 73, oder IsmoRs: Profectus hominis donum Dei est 76 und wie zahlreiche
ähnliche Stellen lauten, die noch 'um 1700 eine Sammlung theologischer Topoi bün-
deln konnte77.
Nun blieb freilich dieser transhistorische Fortschrittsbegriff nicht ohne Rückwir-
kungen auf das irdische Verhalten und die daraus sich ergebende Geschichte. Zu-
nächst wurde durch die Gespanntheit :;i.uf die göttliche Vollkommenheit ein dyna-
misches Element eingebracht, das einen Christen unter aktiven Handlungs- und
Erkenntniszwang stellte, sich „fortschrittlich" zu verhalten, wie uns noch die-
selbe Stellensammlung belehrt. Quanto namque amplius proficimus, tanto amplius
ascendimus. Qui enim non ascendit, descendit et qui non proficit, deficit 78 • Oder: In
m:a vitae nnn prnlJrPili, rP,f,rn1JrPil1: e.~t 79 • • • N emn qnippe perfect1t.~, q1ti perfectior esse
non appctitRo. Die Folgen einer solchen Einstellung auf die menschlichen Tätigkeits-
felder und damit auf das, was man später als 'Geschichte' zusammenzufassen be-
gonnen hat, sind mannigfach und vielfältig greifbar. Der transhistorische Fort-
schritt, vorerst dem Glauben zugeordnet, imprägniert auch innerweltliche Bereiche.
So wird der geistlich-geistige Erkenntnisvollzug spätestens seit der Scholastik als
ein mit der Zeit zunehmender Vorgang begriffen. Der Gedanke allmählicher Ent-
faltung drängt sich unbeschadet der Rückbindung an den sich gleichbleibenden
Tfo1prnng lll.ng1u1.m vor. ANRF.T.M VON flA N'l'RRRTTR.V (10::\::\-1109) hr.tnnte, rfal'! lieben
der Kirchenväter sei zu kurz gewesen, als daß sie alles hätten sagen können, was sie
bei längerem Leben gesagt hätten. Deshalb müsse man weiterhin voranschreiten
(proficere), um die veritatis ratio auszuschöpfen 81 • Ähnlich konnten sich die „Mo-
derni" des 12. Jahrhunderts als Zwerge verstehen, die, auf den Schultern der Riesen
(=Alten} sitzend, weiter schauen als diese 82 • Und so wurde der Satz des PRISCIANUS
zitiert: quanto iuniores, tantö perspicaciores 83 • Ohne freilich je über die Anschauung
der Apostel binausgelangen zu können, wurde gleichwohl die Zeitenabfolge als
Prozeß der Erkenntniszunahme begriffen. Oportebat, ut secundum processum tem-

76 AUGUSTIN, In Joannis evangelium tractatus 14, 5 (zu Joh. 3), CC Ser. Lat., Bd. 36

(1954), 144.
76 ISIDOR VON SEVILLA, Sententiae 2, 5, 3, M:rGNE, Patr. Lat., t. 82 (1862), 604; vgl.

ROBERTUS t. 2 (1700), 394.


77 RoBERTUS, s. v. crescere, perfectio, profectus; 'progressus' fehlt als theologisch offenbar

neutraler Ausdruck.
78 De spiritu et anima (12. oder 13. Jahrhundert), M:rGNE, Patr. Lat., t. 40 (1845), 817.

Der Verfasser ist unbekannt; vgl. MrGNE, Patr. Lat. Suppl.Bd. 2 (1960), 1364 f.
79 BERNHARD VON CLAIRVAUX, Sermones de sanctis. In purificatione B. Mariae 2, 3,

M:rGNE, Patr. Lat., t. 183 (1854), 3690.


80 Ders., Epistolae ad dragonem monachum, § 1, M:rGNE, Patr. Lat., t. 182 (1862), 100.
81 ANSELM VON CANTERBURY, De fide trinitatis et de incarnatione verbi, praefatio, M:rGNE,

Patr. Lat., t. 158 (1853), 259-261. Weitere Belege und Darstellung bei JOACHIM RITTER,
Art. Fortschritt, Hiat. Wb. d. Philos„ Bd. 2 (1972), 1035.
82 BERNHARD VON CHARTRES <t 1141), zit. nach JOHANN VON SALISBURY bei WALTER

.l!'REUND, M.odernus und andere ~eitbegrift'e des Mittelalters (Köln, Graz 1957), 83. Vgl.
ROBERT K. MERTON, On the Shoulders of Giants (New York 1965).
83 PRISCIANUS, Grammatik, zit. HANS ROBERT J.A.uss, LiLerarische Ti·adition und gegen-

wärtiges Bewußtsein der Modernität, in: Aspekte der Modernität, hg. v. HANS STEFFEN
(Göttingen 1965), 158 mit weiteren Belegen.

366
m. Mittelalter und religiöser Bereich der Neuzeit Fortschritt

porum crescerent signa spiritualium gratiarum, quae magis ac magis ipsam veritatem
declararunt, ut sie cum effectu salutis incrementum acciperet de tempore in tempus
cognitio veritatis 84 •
Wie noch NIKOLAUS VON Kmis formulieren konnte: quod quanto proficimus plus in
doctrina, tanto capaciores sumus, et plus proficere appetimus, et hoc est signum incor-
ruptibilitatis intellectus 86 - womit die Positionen der „fortschrittlichen" Erkennt-
nisdynamik, des Zuwachses in der Zeitfolge und die Zeitenthobenheit des Erkennt-
nisbereiches gebündelt wurden. Eine spezifisch ereignisbezogene Variante dieses
theologischen Fortschrittskonzeptes bestand in der Temporalisierung, kraft derer
sich der Sinn der Schrift; besonders der Apokalypse, zunehmend enthüllte. Mit jeder
neuen Deutung und Applikation nähere man sich - so etwa bei GERHOCH VON REI-
CHERSBERG (1093-'.--1169) 86 - der letzten und damit endgültig wahren Deutung, die
dem Weltende vorausgehe. ·
So vermochte der transhistorische Fortschritt über den religiösen Erkenntniszu-
wachs streckenweise auch den geschichtlichen Verlauf thec;ilogisch-„progressiv" zu
imprägnieren. 'Profectus' wird dann geschichtstheologisch verwendet, ohne freilich
zu einem festen Begriff zu gerinnen.
Schon bei AuGUSTTN ist nir,ht zu verkennen, daß die ausbleibende Parusie nicht nur
als Verzögeriing des Endes, sondern auch gegenläufig als zunehmende Rrfüllung
erfahren werden konnte: •ut n-urn1:Yrus urnn·i·urn nustr·urn ·usq·ue ·in finem poss•it ünpler·i87.
Der quanLitative Zweck, die Zahl aller Erwählten zu sammeln, gewann entsprechend
den dafür erforderlichen und deshalb von Gott auch eingeplanten Zeitspannen einen
qualitativen, einen „progressiven" Oberton. Mit der faktischen Zunahme der Zeiten
eröffnete sich dann ein Erfahrungsraum, der zwar im gleichen Erwartungshorizont
der Wiederkehr Christi verblieb, gleichwohl eine zunehmende Periodisierung seit
Christi Tod erlaubte. Innerhalb solcher Periodisierungen konnten dann neben welt-
bezogenen Alters- und Verfallslehren auch Schemata des Fortschreitens konzipiert
werden, etwa in den Lehren der Ost-West-Bewegungen, der „translationes studii et
imperii". Dann konnte - dank der Kirche, besonders der Orden -,--- auch der irdi-
sche Verlauf insgesamt einen Weg zum Besseren indizieren. Der geistliche Fort-
schritt färbt die irdischen Hoffnungen ein. So sagte JOACHIM VON FIORE (ca. 1130
bis 1202), die Position des Vincenz von Lerin aufnehmend, aber umwertend: Opor-
tet mutari vitam, quia mutari necesse est statum mundi 88 • Mit der neu erschlossenen
Erwartung eines dritten Reiches, dem des Heiligen Geistes, wäre die Enttäuschung
groß gewesen, wenn der Jüngste Tag schon eingetroffen wäre. Die Joachiten haben
das progressive Element wachsender Erkenntnis und zunehmender Religiosität
auch auf eine in der Zukunft sich herausbildende vergeistigte innerweltliche Lebens-
ordnung bezogen.

84 ANSELM VON HAVELBERG (t 1158), Dialogi 1, 1, 13, M:cGNE, Patr. Lat., t. 188 (1890),
1160A; vgl. HERBERT GRUNDMANN, Studien über Joachim von Floris (Leipzig 1927), 93.
85 NIKOLAUS VON KuEs, Excitationes 5, Opera, t. 2 (Paris 1514; Ndr. Frankfurt 1962), 83'.
88 PETER CLASSEN, Gerhoch von Reichersberg. Eine Biographie (Wiesbaden 1960), 108 ff.

215 ff. 293 ff. Dazu FuNKENSTEIN, Heilsplan (s. Anm. 53).
87 AUGUSTIN, Enarrationes in Psalmos 34, 2, 9. CC Ser. Lat., t. 38 (1956), 318; vgl.

HENRI·IRENEE MARRou, Das Janusantlitz der historischen Zeit, in: Zum Augustin-
Gespräch der Gegenwart, hg. v. CARL ANDRESEN (Darmstadt 1962), 353.
88 JOACHIM VON FloRE, zit. GRUNDMANN, Studien, 106; vgl. seine These auf S. 117 f.

367
Fortschritt m. Mittelalter und religiöser Bereich der NelUleit
Nun blieben solche vereinzelt auftauchende geschichtstheologische Fortschritts-
positionen umstritten und rückten kaum in das Zentrum geschichtlicher Erfah-
rungs9. Diese blieb vielmehr - soweit schriftlich erkennbar - zurückgebunden an
die Lehren der Kirche als Sachwalterin des letzten Zeitalters. Innerhalb dessen
war freilich Raum auch für sektorale Fortschritte: etwa in der Musik, in der Bau-
kunst9o, im Kirchenrecht91 oder in den Wissenschaften überhaupt92 und den techni-
schen Fertigkeiten, deren Kehrseiten initgesehen wurden93 . THOMAS kennt eine
Ausweitung menschlichen Wissens im Horizont weltlicher Praxis94 , die dann von
Roger Bacon entschieden vorangetrieben wurde.
Im ganzen sprengen diese sektoralen Fortschritte nicht den transhistorischen reli-
giösen Erwartungsraum. Erst init der Revolution der Wissenschaften bilden sich in
der frühen Neuzeit Leitsektoren, deren Fortschritte den religiösen Erfahrungsraum
einengen und zurückdrängen. Deshalb haben auch die zahlreichen theologischen
Konzepte, die in der Neuzeit die Religions- und Kirchengeschichte im Rahmen
einer Weltgeschichte progressiv deuten, einen anderen Stellenwert: sie reagieren,
seit dem 18. Jahrhundert, bereits auf einen innr.rwr.lt.lir.hr.n Forfamhritt, der sich
- unbeschadet seiner christlichen Antriebe - als ein genuin geschichtliches
Prinzip verselbständigt hatte. ]freilich läßt sich eine kontinuiHrliel1e Tra111:1po-
sition des religiösen Fortschreitens in r.imm weltgeschichtlichen Fortschritt zeigen,
unbeschadet der Bedeutungen, die noch hinzukommen nmßLen, um den modernen
Fortschrittsbegriff freizusetzen.
Das Argument, daß Christus noch nicht alles offenbart habe, um den Nachfolgern
neue Wege zum Besseren freizugeben, greift um sich. Spero, Deum imposterum
quoque daturum Ecclesiae profectum. Er hoffe, schrieb CoccEJUS 1661, daß Gott der
Kirche auch künftig Fortschritt schenken werde, denn er teile nicht die Meinung
derer, die glauben, daß von den Vorangegangenen den Nachfolgenden alles voreilig
entrissen worden sei (praeripi) 95 • Non haec -ita qwidern ye1Jta l!wnt, nihil ut posteris,
quod emendarent et perficerent, relictum fuerit: multa sane relicta sunt ergänzte
MosHEIM96 , indem er den Nachfahren eine von Gott freigegebene fortschrittliche
89 Das ist gegen die zahlreichen Zitate festzuhalten, die ROBERT .FLINT, History of the

Philosophy of History (Edinburgh, London 1893), 99 ff. zusammengestellt hat.


90 Vgl. SPOERL, Das Alte und das Neue (s. Anm. 72), 333 ff.

91 Vgl. LUDWIG BmssoN, Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter

(Köln, Graz 1958), 49 ff. (zu Gratian).


92 THOMAS VON AQUIN, S. th. 1, 2, qu. 97, art. lc: Humanae rationi naturale esse videtur ut

gradatim ab imperfecto ad perfectum perveniat; vgl. ders., In X libros Ethicorum Aristotelis


ad Nicomachum expositio l, 11, n. 132 (Ausg. Turin 1949), 35: Ad hominem pertinet
paul,atim in cognitione veritatis proficere. Zum Ganzen siehe LuDGER ÜEING-IIANHOFF,
Über den Fortschritt der Philosophie. Geschichte und Stand des Problems, in: Die Philo-
sophie und die Frage nach dem Fortschritt, hg. v. HELMUT KuHN u. FRANZ WIEDMANN
(München 1964), 73 ff.
93 AUGUSTIN, De civ. Dei 22, 24; dazu MoMMSEN, St. Augustine (s. Anm. 53), 374.
94 THOMAS VON AQUIN, s. th. l, 2, qu. 1, art. 4, ad 2.
96 JOHANNES CoccEJUS, Opera omnia theologica, t. 8 (Amsterdam 1701), 104 (an Johann

Buxtorf d. J. ). Vgl. GOTTLOB SCHRENK, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus


vornehmlich bei Johannes Coccejus (Gütersloh 1923), 23. 191 u. ö.
96 JoH. LORENZ v. MosHEIM, Institutionum historiae ecclesiasticae antiquae et recentioris

libri quatuor (Helmstedt 1755), 690. Die deutsche Übersetzung der 'gesta' durch Fort-

368
m. Mittelalter und religiöser Bereich der Neuzeit Fortschritt

Zukunft eröffnete. Jesus versparete in großer Weisheit wichtige Lehren, die wirklich
selbst denHeilsgrund der Menschen betrafen, bis nach seinem Tode, es sei eine Wohl-
tat der Vorsehung, erst jetzt - im 18. Jahrhundert - leben zu dürfen, versicherte
8EMLER97 • Gerade aus der Kirchengeschichte schöpfe der Glaube eine wohltätige
Stärkung für die fortschreitende Veredelung des Menschengeschlechts, fügte PLANCK
1794 hinzu98 •
Kritisch gegen diesen unreflektierten rationalen Fortschrittsglauben argumentierte
KANT, als er den moralisch-religiösen Innenraum geradezu enthistorisierte, um ihn
vor einer progressiven Auslegung zu schützen. Formal teilte er eine altchristliche
Position, als er feststellte, daß die Religion als reiner moralischer Glaube kein
öffentlicher Zustand sei: jeder kann sich der Fortschritte, die er in diesem Glauben
gemacht hat, nur für sich selbst bewußt sein. Zugleich aber leitete Kant aus dem rei-
nen moralischen Glauben ein überzeitliches Ziel des Fortschritts ab, dem auch die
äußere Kirche zustreben müsse. Unter dieseiii. Vorgebot fange jetzt die allgemeine
Kirche an, sich zu einem ethischen Staat Gottes zu bilden und nach einem feststehenden
Prinzip, welches fiir alle Menschen und Zeiten ein und dasselbe ist, zur Vollendung
desselben fortzuschreiten 99 • Das überzeitliche Ziel wirkt in die Geschichte und zwingt
uie Kirehe üuer ihl'e ELhil:üerung zur 8ellistaufheuung, inuem sie sich als äußerliche
Garantin des Heils sukzessive überflüssig macht.
Damit ging Kant entschieden weiter als die kirchliche Aufklärungstheologie, wäh-
rend er sich noch schärfer distanzierte von jenem württembergischen Lager, das die
zunehmende Enthüllung der Apokalypse progressiv fortschrieb. Kant bekämpfte
. den Geschichtsglauben solcher Theologen, die die Endzeiterwartung aus der Ge-
schichte abzuleiten und fortschrittlich auszulegen sich anheischig machten: sei es
Bengel, der die letzte Epoche der Geschichte seit Hus berechnete, sei es die göttliche
, Ökonomie Ötingers, sei es WIZENMANN, der die Menschheit im Laufe ihrer Geschich-
te den Satan wegschaffen sah100 . Am deutlichsten hat ihr Nachfolger JuNG-STIL-
LING 1799 das kommende Ende als Ziel des Fortschritts gesehen, als er die apokalyp-
tische Progression entwickelte, die ihm zur Siegsgeschichte der christlichen Religion

sclwitte bei PETER MEINHOLD, Geschichte der kirchlichen HisLodographie, Bd. 2 (Freiburg,
München 1967), 29 ist wortgeschichtlich irreführend.
97 JoH. SALOMO SEMLER, Historische Einleitung zu: SIGMUND JAKOB BAUMGARTEN,

Evangelische Glaubenslehre, 2. Aufl.., Bd. 2 (Halle 1765), 6; J. S. SEMLER, Neue Versuche,


die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären (Leipzig 1788), 8 f., zit.
MEINHOLD, Geschichte, Bd. 2, 51. Vgl. FRIEDRICH SCHIELE, Der Enhlokelungsgedanke
in der evangelischen Theologie bis Schleiermacher, Zs. f. Theol. u. Kirche 7 (1897), 140 ff.
mit weiteren Belegen.
98 GOTTLIEB JAKOB PLANCK, Einleitung in die theologischen Wissenschaften, Bd. 2

(Leipzig 1795), 186.


99 KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), 3. Stück,

2. Abt. AA Bd. 6 (1907), 124.


100 [THOMAS WrzENMANN], Göttliche Entwicklung des Satans durch das Menschenge-

schlecht (Dessau 1782). Zur Fortschreibung der Apokalypse in der frühen Neuzeit vgl.
ERNEST LEE TUVESON, Millennium and Utopia. A Study in the Background of the Idea
of Progress (Berkeley, Los Angeles 1949) u. GusTAV WETH, Die Heilsgeschichte. Ihr
universeller und · individueller Sinn in der offenbarungsgeschichtlichen Theologie des
19. Jahrhunderts (München 1931).

24-90386/1 369
Fortschritt m. Mittelalter und ~eligiöser Bereich der Neuzeit
wurde: die apokalyptische Weissagung auf die Geschichte ... wird ... im Fortschritt
immer deutlicher, und eben dies wird auch immer nötiger, je näher man dem Ziel
kommt 101 .
Beide von Kant auf verschiedenen Jjjbenen kritisierte Lager wirkten tiefin das neun-
zehnte Jahrhundert hinein: die moralische Aufklärungstheologie und die propheti-
sche Erfüllungstheologie, die sich auf gegenläufige Weise des geschichtlichen Prin-
zips eines Fortschritts zum Besseren versicherten. So sah BAUR im Gefolge Hegels
in der Idee der Kirche ... selbst das treibende und bewegende Prinzip des Fort-
schritts102. Nur die geschichtlichen Erscheinungsformen der Kirche mußten sich von
Stufe zu Stufe dem geschichtlichen Prozeß anpassen. Dabei wurde die katholische
Kirche zur Kirche der Vergangenheit, die der Protestanten zur Kirche der Zukunft.
Noch weiter ging - im kantischen Sinne - RoTHE, der die sich säkularisierende
Kirche im christlichen Staat aufgehen sah. Der Fortschritt der Entwickelungioa ver-
wandle den Weg der Kirche in eine Oulturgeschichte der christlichen Menschheitto 4 •
CHRISTIAN HOFFMANN hat sich kritisch gegen diese Fortschrittstheologie gewendet,
ohne freilich auf den Gebrauch derselben Kategorien zu verzichten; sie hatten sich
allgemein durchgesetzt und wurden deshalb je nach Standort gegenläufig verwend-
bar. Hoffmauu erfaßLe u.ie leLzLeu zwe.ihuuuerL Jahre uer WelLgei:mhluhLe uuLer uer
Alternative Fortschritt und Rückschritt: der äußerliche zivilisatorische Fortschritt
war ihm identisch mit dem sich beschleunigenden Abfall von Gott, also eigentlich
Rückschritt, während der wahre Fortschritt in den progressiven Deutungen der
Bengel oder Jung-Stilling enthalten sei. Sie hätten zwar falsche Daten vorausge-
sagt, aber vor der drohenden Katastrophe zur Einkehr aufgerufen, was den wahren
Fortschritt ausmache1os.
Selbst eine eschatologische Geschichtsdeutung war also nicht mehr resistent gegen
das allgemein kur11ierende ge11chichtliche Prinzip des Fortschritts. Und das war nur
möglich, weil der alte Glaube an eine zunehmende Erfüllung des göttlichen Planes -
sei er nun zur Moralisierung der Religion weiterentwickelt oder sei er aus der ge-
schichtlichen Fundierung der Offenbarung abgeleitet worden - aus der christlichen
Theologie laufend Argumente beziehen konnte, die sich dem allgemeinen, nicht
mehr nur christlichen Fortschritt einfügten.
Der christliche 'profectus', zunächst ein transhistorischer Begriff, hatte eine ver-
besserungsfähige Zukunft erschlossen, die dann nach ihrer weltlichen Auslegung in
die protestantische Theologie zurückwirkte, ohne daß diese Transposition als Bruch
hätte empfunden werden müss{ln: gerade in der Kontinuität lag die Evidenz des

101 JoH. HEINRICH JuNG-STILJ;,ING, Die Siegsgeschichte der· christlichen Religion in einer

gemeinnützigen Erklärung der Offenbarung Johannis (1799), SW Bd. 3 (Stuttgart 1841),


546. 522.
102 FERDINAND Cmt. BAUR, Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung (Tübingen

1852; Ndr. Dnrnrntndt 1962), ?.56.


103 RICHARD RoTHE, Die Anfänge der Christlichen Kirche und ihrer Verfassung (Witten-

berg 1837), ö9.


104 Ders., Vorlesungen über Kirchengeschichte und Geschichte des christlich-kirchlichen

Lebens, hg. v. Hermann WeingarLen, Bu. 1 (Heidelbei·g 1875), 3 f.


106 CHRISTIAN HOFFMANN, Fortschritt und Rückschritt in den zwei letzten Jahrhunderten

geschichtlich nachgewiesen oder Geschichte des Abfalls, 3 Bde. (Stuttgart 1864-68).

370
IV. Ausprägung des nen„.eitlichen Fortschrittsbegrift"s Fortschritt

Fortschritts enthalten. Indem die Religionsgeschichte in ver.~chü•ilenem Grade je


nach Lage und Verhältnissen die Wahrheit erre/,clit oder besser ·verwirklicht, ... ist ihr
auch die Überzeugung eingeboren, daß in ihr und in ihr allein ein wirklicher Fort-
schritt der Geschichte erreicht wird und daß sie im Gegensatz zu den sektoralen Fort-
schritten in Moral, Recht, Kultur, Wissenschaft und Kunst an die Erreichung eines
endgültigen und einfachen Zieles glauben darf1° 6 • So wurde 1897 der Begriffin theolo-
gischer und historischer Sichtweise von TROELTSCH an seine als einmalig und unver-
änderlich stilisierte Herkunft zurückgebunden.

IV. Die Ausprägung des neuzeitlichen Fortschrittsbegriffs


Es unterscheidet den neuzeitlichen Fortschrittsbegriff von seinen religiösen Her-
kunftsbedeutungen, daß er das stets zu erwartende Ende der Weltzeit in eine offene
Zukunft verwandelt. Terminologisch wird der geistliche 'profectus' von einem
weltlichen 'progressus' verdrängt oder abgelöst. Dieser Vorgang erstreckt sich über
die ganze frühe Neuzeit. Die Renaissance brachte zwar das Bewußtsein einer neuen
Zeit, h11rvor, 11.her nor,h ninht das des Fortschreitens in eine bessere Zukunft, solange
das Mittelalter als dunkle Zwischenzeit erschien, über die hinweg das Altertum als
Vorbild betrachtet wurde 107 • Erst die wachse.nde Na.turerlnmntniR, hlli flp,r flill
Autorität der Alten flnrnh autonomen Vernunftgebrauch verdrängt wurde, erschloß
eine progressive Auslegung der historischen Zeit. Die Natur bleibe sich gleich, aber
ihre Entdeckung werde methodisch vorangetrieben und damit ihre Beherrschung.
Daraus folgen innerweltliche Zielbestimmungen einer Daseinsverbesserung, die es
erlaubte, die Lehre von den letzten Dingen durch das Wagnis einer offenen Zukunft
zu verdrängen. In der zunehmenden Reflexion über die unterscheidbaren Dimen-
sionen von Vergangenheit und Zukunft wird schließlich eine genuin geschichtliche
Zeit entdeckt, die im 'Fortschritt' auf einen ersten Begriff gebracht worden ist.

106 ERNST TROELTSCH, Christentum und Religionsgeschichte (1897), Ges. Sehr„ Bd. 2

(Tübingen 1913), 342.


1 07 Wie sehr die Vorbildlichkeit der Antike bereits vom italienischen Humanismus in

Frage gestellt wird, hat HANS BARON gezeigt. Freilich wird die eigene Fortschrittlichkeit
noch im Horizont einer Kreisläufigkeit des Geschehens gesehen, die alle Zeitalter relativiert
und potentiell einander gleichstellt; The Querelle of the Ancients and the Modems as a
Problem for Renaissance Scholarship, in: Renaissance Essays, ed. PAUL OSKAR KRISTELLER
and PmLIP PAUL WIENER (New York 1968), 95 ff. Der Stellenwert des Kreislaufs ändert
sich, je nachdem ob er einer linearen Progression oder einem linearen Verfall entgegen-
gesetzt wird. Verfechter des Kreislaufs wie Bodin, Hakewill oder Le Roy waren per
negationem auch Progressisten, indem sie die Antike als gleichrangig behandelten oder
gar als unterlegen, gemessen an der Lebenslaufmetapher der aufsteigenden Kreiskurve,
·in der sie ihre eigene Zeit. anRienelfa'>n, - w11.s j11dflnfalls die Lehre eines unumkehrbaren
Verfalls ausschloß. Bacon dagegen kritisiert den Kreislauf, weil er dem Fortschritt hinder-
lich sei. Die Beschränktheit der Metaphernsprache wird darin deutlich, aber· ebe11~u der
Anreiz, sie zu variieren, um exakte Positionen und Gegenpositionen zu definieren.
Polemisch handelt es sich um dasselbe Argument: beide Male wird der Kreislauf gegen
fueare Modelle ausgespielt. Einmal positiv, um Dekadenz zu Widerlegen, einmal negativ,
um Fortschritt zu ermöglichen.

371
Fortschritt IV. l. Altersmetaphorik und unendlicher Fortschrit.t

I. Dennturalisierung der Alte~smetaphorik und Erschließung des unendlichen


Fortschritts

Die langsam bewußt werdende Öffnung der Zukunft wird durch den Wandel der
Wachstumsmetaphern indiziert. Jede naturale Wachstumsmetapher enthält, wört-
lich genommen, die Unentrinnbarkeit des endlichen Verfalls. Insofern schließt der
Ablauf von der Jugend zum Alter den Sinn einer dem Fortschritt allzeit offenen
Zukunft aus. Höchstens eine Wiedergeburtslehre ließ sich damit verbinden. Daher
konnten sich die zyklischen Lehren der Autike und die christliche Lehre von der
alternden Welt, die in den eschatologischen Erwartungshorizont eingespannt blieb,
beide, wenn auch auf verschiedene Weise, der Lebensaltermetaphorik bedienen.
Freilich hatten Augustin und Thomas die transhistorischen Glaubens- oder Ver-
nunftwahrheiten aus dem irdischen Altersprozeß ausgenommen: der Glaube bleibe
ewig jung108, oder wie BonrN' diese Relation modernisierte: die Historie altere nie,
während die Reiche vergingen109 •
Es ist nun ein Gradmesser für das sich durchsetzende Konzept eines Fortschritts,
daß die Dichotomie von Vernunft und Weltzeit aufgehoben wird. Die Vernunft, ihr
Gebrauch, ihre Entdeckungen und Erfindungen wach~en mit der Zeit. Schließlich
wird die Vernunft selbst verzeitlicht. Dabei wird die Altersmetaphorik aus dem
Sinnhorizont zunehmender Gebrechlichkeit zunächst in den Sinnraum zunehmenden
Vernunftgebrauchs verschoben.
BACON nutzte 1620 die Lebenslaufmetapher, um die Vorurteile für die Antike zu
bekämpfen. Schon im Wortgebrauch der „Alten" liege ein Widerspruch. Denn es
gebührt dem spätern mündigern Alter der Welt, al.w1 11,n.~ern, wn.d nfr.h.t jP:n.en jüngeren
Ze-ilen, wur·in d·ie sogenannten Alten lebten, der Name des Altertums. Jene Zeit ist in
Rücksicht auf die unsere zwar älter, aber in Rücksicht der Welt selbst jünger. Illa enim
aetas, respectu nostri antiqua et major, respectu mundi ipsius nova et minor fuit.
Die Gegenwart sei den Alten an Erfahrungen und Urteil ebenso überlegen wie der
reife Mann einem Jüngling. Das „Altertum" wurde zur Vorgeschichte der eigenen
Epoche heruntergestimmt. Das Neue gegenüber der herkömmlichen Verwendung
der naturalen Metapher lag bei Bacon darin, daß er den natürlichen Alterungs- als
Verfallsprozeß ausblendete. Statt dessen rückte er erstens Vergangenheit und Ge-
genwart in eine gegenläufig zu lesende zeitliche Perspektive - antiquitas saeculi ju-
ventus mundi - , und zweitens trennte er nicht mehr den natürlichen Zeitlauf von
ewigen Wahrheiten. Nicht im Altertum, sondern-in der Zeit gründe alle Autorität:
veritas temporis filia11°.
PASCAL dehnte 1647 in seiner Vorrede zum „Traite du vide" das Gleichnis weiter

108 S. Anm; 72.


1o 9JEAN BomN, Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566), Oeuvres philos„
ed. Pierre Mesnard (Paris 1951), 113a. 279b.
110 .l!'RANCIS BACON, Novum organum 1, 84. Works, vol. l (1864), 190f.; dt. u. d. T.: Neues

Organ der Wissenschaften v. Anton Theobald Briick (J.r,ipr.ie l RaO; Nrlr. na,rmRt,11.rlt, l !lß2),
62; ders„ De dignitate et augmentis scientiarum 1. Works, vol. 1, 458. Dazu weitere
Analysen und Belege bei HANS BLUMENBERG, Kopernikus im Selbstverständnis der
Neuzeit, Akad.-Abh. Mainz (Wiesbaden 1965), 357 ff.; ders„ Die Legitimität der Neuzeit
(Frankfurt 1966), 54 ff. 530 ff.; REINHARD HÄUSLER, Vom Ursprung und Wandel des
Lebensaltervergleichs, Hermes 92 (1964), 313 ff.

372
IV. 1. Altersmetaphorik und 1mendlicher Fortschritt Fortschritt

aus. Er denaturierte die Wachstumsmetapher zugunsten eines unendlichen Fort-


schreitens der raison. Unbeschadet der historischen Autorität der Alten - die ei-
gentlich die Jungen seien - folge die Vernunft mit ihren grenzenlosen Erfindungen
eigenen Regeln. Pascals Diktum, daß der Mensch im Unterschied zur begrenzten
Perfektion des Tieres ein Wesen sei, das auf Unendlichkeit hin angelegt ist, zeigt
den Umschlag von der metahistorischen Teilhabe an der Ewigkeit Gottes zu dem
kontinuierlichen Fortschritt, den der Mensch vorantreibe im Maß als die Welt altere.
Der Mensch n'est produit que pour l'infinite, er beginne im kindlichen Stadium der
Unwissenheit, mais il s'instruit sans cesse dans son progrez. Indem er die eigenen
Erfahrungen und Kenntnisse mit denen der Vorfahren akkumuliere, steigere er
seine Wissenschaften. De la vient que, par une prerogative particulibe, non seulement
chacun des lwmmes s'advance de jour en jour dans les sciences, mais que tous les hom-
mes ensemble y font un continuel progrez a rnesure que l'·un·ivers v·ieillit. Die Menschheit
wurde, wie es schon Thomas tat, mit einem einzigen, dem einmal erschaffenen Men-
schen verglichen, aber die Pointe lag jetzt auf der Fähigkeit, unaufhörlioh hinzuzu-
lernen. Damit wurde auch die Erziehung, die nach Augustin Gott nur den Gläubigen
zuteil werden ließ 111, zur Selbsterziehung aller vernunftbegabten Menschen. Der
unendliche Progreß erschloß sich eine Zukunft, die sich der naturalen Altersmeta-
phorik entzog112.
FoNTENELLE brach schließlich 1688 bewußt mit dem Lebensaltervergleich, um die
aus ihm einmal abgeleitete Steigerungsfähigkeit der Menschenvernunft zu stabili-
sieren. Il y a toutes les apparences du monde que la raison se perfectionnera. Die ge-
sunden Ansichten aller guten Geister gründen auf denen der vorangegangenen Zei-
Leu, auer 1:üe kennen kein Alter. Sie teilen die Vorzüge der Jugend mit denen des
reifen Mannes: c' est-a-dire, pour quitter l' allegorie, que les hommes ne degeneront
jamais, et que lcs vucs saines de tous les bons esprits qui se succederont, s'ajouteront
toujours les unes aux autres.
Die Natur der Menschen bleibe sich zwar gleich, weshalb den Alten auch kein Vor-
rang zukomme, aber der Gebrauch der Vernunft und damit auch le progres des choses
steigere sich mit der Zeit 113. Wenn sich schon die Zukunft der Alters- und Verfalls-
metapher entzieht, dann nur, weil sie eine stete Verbesserung mit sich bringe -was
GoTTSCHED noch 1766 bezweifelte, als er Fontenelles „Digression" übersetzte 114.
LEIBNIZ hat die Abkehr von der naturalen Metaphorik noch konsequenter weiter-
getrieben, um den Lauf der ganzen Welt als in unendlicher l:'rogression begriffen
auslegen zu können. Expensis omnibus credo mundum continuo perfectione augeri
nequc in circulum redire velut .per revolutionem; ita en·im causa finalis abesset ...
Felicitas postulat perpetuum ad novas voluptates perfectionesque progressum ... Sed

111 Vgl. oben S. 364.


112 BLAISE p ASO.AL, Fragment de preface sur le traite du vide, Oeuvres, ed. Leon
Brunschvicg et Pierre Boutroux, t. 2 (Paris 1908), 138 f. mit zeitgenössischen Parallelen
im Anmerkungsapparat.
113 BERNARD DE FoNTENELLE, Digression sur les anciens et les modernes, Oeuvres compl., .

ed. G.-B. Depping, t. 2 (Paris 1818; Ndr. Genf 1968), 364. 362.
114 Ders., Abhandlung der Frage, vom Vorzuge der Alten, oder Neuern, im Absehen auf

die Künste und Wissenschaften, Auserlesene Sehr., dt. v. Joh. Christoph Gottsched
(Leipzig 1766), 631, Anm.: Wer weiß aber, ob die Welt nicht wieder einmal ganz barbarisch
werden; oder daß ich gleichnisweise rede, in die Kindheit verfallen wird.

373
Fortschritt IV. 1. Altersmetaphorik und unendlicher Fortschritt

hoc interest, quod ( universum) nunquam ad summum pervenit maturitat,is yradum,


nunquam etiam regreditur aut senescit 115 • Sicher auch theologische Traditionen auf-
nehmend116, hat Leibniz im menschlichen Erkenntnis- und Glücksstreben die trei-
bende Unruhe eines unendlichen Fortschritts erblickt: unprogres continuel et noni~
terrompu a des plus grands biens, der sich mit keinem Besitzstand zufrieden gebe.
Unsre Vollkommenheit besteht in einem ungehinderten starken Fort-Trieb zu neuen und
neuen V ollkommenheiten117 •
Die Frage, wieweit dieser 'Forttrieb', der von jenseitiger Zielbestimmung in die
Welt hineingeholt wurde, auch das Universum durchwirkt, hat Leibniz immer
wieder gestellt. Das Problem, wieso die beste aller möglichen Welten noch besser
werden könne, ließ sich dann nur lösen, wenn das Ziel der Vollendung in den Vor-
gang einer Optimierung hineingenommen wurde. Streckenweise neigte Leibniz zu
dieser Lösung, daß nämlich die beste Welt nur deshalb vollkommen sei, weil sie
sich ständig verbessere: progressus est in infinitum perfectionis. Denn wenn es zur
Vollkommenheit gehört, sich zu vermehren, so folgt daraus, daß sich auch die
Vollkommenheit des Universums dauernd vermehre, sequitur perfectionem universi
semper augeri 118 • Freilich könne auf diesem Wege nie das Paradies erreicht werden,
denn das Optimum vollziehe sich dann in der zeitlichen Erstreckung ständiger Ver-
besserung. N ec proinde unquam ad terminum progressus perveniri 119 •
Damit hat Leibniz die dem Fortschritt innewohnende Zeitlichkeit umschrieben.
Metaphysisch hat er die geschichtstheoretischen Positionen des achtzehnten Jahr-
hu.Ilderts vorweggenommen, die auf die Dynamisierung eines sich ins Unendliche
vorantreibenden Prozesses zielten. Wie LESSING 1756 folgerte: Ich glaube, der
Scliöpfer mußte alles, wu11 er er11clmf, fähig machen, vollkommner zu werden, wenn es
in der Vollkommenheit, in welcher er es erschuf, bleiben sollte 120 •

116 Aus dem handschriftlichen Nachlaß zit. von ERNST CAssmER, Leibniz' System in

seinen wissenschaftlichen Grundlagen (Marburg 1902), 444.


116 Vgl. oben S. 367 und RUDOLF EucKEN, Geistige Strömungen der Gegenwart, 6. Aufl.

(Leipzig, Berlin 1920), 206 ff. mit Verweis auf NIKOLAUS VON KuEs: Posse semper plus
et plus intelligere sine fine, est similitudo aeternae sapientiae, et ex hoc elice, quod est viva
imago, quae se conformat creatori sine fine; Opera (s. Anm. 85), t. 2, 188r.
117 LEIBNIZ, Nouveaux esRais sur l'entendement humain 2, 21, § 36. Opera (1840), 259;

ders., Von dem höchsten Gute, Dt. Sehr., hg. v. G. E. Guhrauer, Bd. 2 (Berlin 1840), 36.
Vgl. dazu HoBBEs' bekannte Formel, Leviathan l, 11: Felicitas progressus perpetuus
est ab una cupiditate ad alteram; Opera, t. 3 (1841), 77.
118 LEIBNIZ, Kl. Sehr. zur Metaphysik, hg. v. Wolf v. Engelhardt u. Hans Heinz Volz

(Frankfurt 1965), 368 ff.: De progressu in infinitum - was ein Artikel im ZEDLER Bd. 49
(1746), 1259, s. v. „Unendlicher Progreß" zugunsten der Schöpfungslehre zu wider-
legen sucht: So muß aller Fortgang, alle Folge der Dinge, notwendig einen Anfang
haben, und also von seiten des Vorhergehenden so gut, als von seiten des Folgenden,
endlich sein.
119 LEIBNIZ, De rerum originatione radioa.li (1697), Opera (1840), 150; ebd.: In cumu.Zum

etiam pulchritudinis perfectionisque universalis operum divinorum, progressus quidam per-


petuus liberrünusq·ue toti'us universi est agnoscendus, ita ut ad majorem semper cultum
procedat.
120 LESSING, Brief an Moses Mendelssohn v. 21. 1. 1756, Sämtl. Sohr., Bd. 17 (1904), 53;

vgl. dazuders., Rez. LEIBNIZ, Von den ewigen Strafen (1773), GW Bd. 9(Leipzig1858), 21.

374
IV. 2. •perfectio', •perfectionnement', 'perfectibilite' Fur18chriu

Gemessen an einer denaturalisierten, dem Progrcß immanenten Qualitätsbestim.


mung war es ein Rückfall in die naive Metaphorik, wenn ST. PIERRE die Menschheit
wieder in das Stadium der Kindheit versetzte, um mehr Zeit für Jahrtausende
fortschrittlicher Zukunft zu gewinnen 121 , oder wenn TuRGOT die Fortschritte des
Menschengeschlechts mit dessen Kindheit beginnen läßt: Le genre humain, con-
sidere depuis son origine, parate aux yeux d'un philosophe un taut immense qui,
lui-meme, a, comme chaque individu, son enfance et ses progres 122 • Die überkommene
naturale Metapher blieb zwar anschaUlich, aber ihre Tragfähigkeit, geschichtliche
Progressivität zu umschreiben, geriet ins Wanken. Es ist ein Spezifikum der ge-
schichtlichen Zeitmetaphern, daß ihre naturale Herkunft nicht ausreicht, um
geschichtliche Zeit zu umschreiben, nachdem diese einmal - wie im 'Fortschritt' -
auf einen Begriff gebracht werden sollte.

2. Von der 'perfectio' zum 'perfectionnement' und zur 'perfectihilite'

Neben dem Verschleiß der naturalen Metaphorik ist es ein weiterer Gradmesser
für die Entstehung des Fortschritts als einer Bewegungskategorie, die einen ge-
schichtlich unumkehrbaren Aufstieg zum Besseren anzeigt, daß die Zielvori,iLelluug
der perfectio selber tempor11.fü1i11rt, wurde. Zunächst fällt auf, daß im Sprachge-
brauch der Franzosen vor der Mitte des 18. Jahrhunderts 'progres' seltener verwen-
det wird als der Ausdruck 'perfection' und das Verb 'perfectionner' 123 .
Es dauert lange, bis die Lehren von der nur in Gott enthaltenen Vollkommenheit
und die darauf bezogene Lehre von der perfectio seu consummatio salutis 124 der
Seele soweit ihrer theologischen Bedeutung entkleidet wurden, daß die Vollkommen-
heit als irdisch anzustrebendes Ziel ansprechbar wurde. Dahinter stand immer die
Gefahr der Häresie, weshalb im ZEDLER sogar die Pietisten angegriffen werden,
weil sie einem religiösen Perfektismus huldigten 125 . Freilich war es in der Weltord-
nung - nach scholastischer Lehre - vorgesehen, daß die Seele die Unzulänglich-
keiten der Natur auszugleichen habe, und das könne sie - so CHASSANAEUS 1612 -
mit Hilfe der Wissenschaften. Die Seele sei per scientiam tamen perfectibilis und
strebe wie alles in der Natur nach der ihr eigenen perfectio 126 •

121 Vgl. JOHN B. BURY, The ldea of Progress. An Inquiry into Its Origin and Growth
(1932; Ndr. New York 1955), 136 ff.
122 ANNE ROBERT JACQUES TURGOT, Tableau philosophique des progres successifs de

l'esprit humain (1750), Oeuvres, t. 1 (1913; Ndr. Glashütten/Taunus 1972), 215.


123 JEAN EHRARD, L'idee de nature en France dans la premiere moitie du xvn1e siecle,

t. 2 (Paris 1963), 753; HANS ROBERT JAUBS, Ästhetische Normen und geschichtliche
Reflexion in der „Querelle des Anciens et des Modemes", in: CHARLES PERRAULT, Parallele
des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, hg. v. H. R. J:Auss
(1688/97; Ndr. München 1964), 25.
1 24 Du ÜANGE t. 6 (Ndr. 1886), s. v. perfectum. Die progressive Erschließung der Zukunft
vollzog die Aufklärungsphilosophie immer in Auseinandersetzung mit dem Dogma der
Unsterblichkeit der Seele, was hier aber nicht weiter verfolgt werden kann.
125 ZEDLER Bd. 50 (1746), 509, Art. Vervollkommenheit der Gläubigen.
126 BARTHOLOMAEUB ÜHASSANAEUS, Catalogus gloriae mundi, 4. Aufl. (Frankfurt 1612),
587. .

375
Fortschritt IV. 2. 'Perfectio', 'perfectionnement', 'perfectibilite'

Eo kennzeichnet nun <lt1n Tiflittmktor, von clclll nus der Ful'L1:1ehriLL uurch ErfahrUllg,
Experiment und Methode seinen 'Ausgang nahm, daß er nicht ohne teleologische
Selbstbestimmung auskam. Denn der Fortschritt zehrte von der Enthüllung einer
sich gleichbleibenden Natur, deren Gesetze es zu erkennen galt, um sie zu beherr-
schen127. , .
Dann aber lag es nahe, in der endlich begrenzten Annäherung - indem man sich
den Gesetzen der Natur unterwirft, wie Bacon forderte, - eine Zielbestimmung zu
finden, die auch den Fortschritt begrenzt. Selbst Descartes hat sich mit der Ent-
deckung seiner Prinzipien kurz vor dem Ziel einer Naturbeherrschung gewußt -
nur noch zwei, drei Schlachten seien zu gewinnen -, nach dessen Erreichung zwar
noch Differenzierungen möglich seien, die aber seine Methode grundsätzlich nicht
mehr in Frage stellen könnten. Das Glück der Menschen rücke dann in greifbare
Nähe.
Und selbst PERRAULT, der als Verfechter der Moderne davon ausging, daß die Zeit
alles perfektioniere - il n'y a rien que le temps ne perfectionne tous les jours - ,
schaute 1688 mit Zufriedenheit auf alle vorangegangenen Jahrhunderte, die la
naissance et le progres de toutes choses gebracht hätten. Das eigene Jahrhundert
(des So1111eukü11ig1:1) auer uefiuue 1:1ich auf dem Gipfel der Vollkommenheit: je me
rejouis de voir nostre siecle parvenu en quelque sorte au sommet de la pp,rfP.r:tinn, AR
gebe nur wenig, um dessentwillen man die Nachwelt beneiden müsse 128.
Schon mehr zukunftsbezogen hat sich MACLAURIN, der Popularisator Newtons,
geäußert, die Natur berge noch viele Geheimnisse, die zu enthüllen seien, das
Wissen wachse von Zeitalter zu Zeitalter, und die Künste blühten auf. Indes:
M rl.nkind un:ll improi,e, a,nd a-ppear more worthy of their situation in thc universe, as
they approach more towards a perfect knowledge of Nature 129 •
Der Tenor, daß ein Ziel (relativer) Vollkommenheit erreichbar sei, ist auch im
18. Jahrhundert weit verbreitet, folglich auch die zyklische Vorstellung, daß damit
die Gefahr eines Umschlages w~chse, ein Abstieg folge, den gerade die großen Auf-
klärer - Voltaire, Diderot, Rousseau 130 - für möglich hielten. Der reine Fort-
schrittsbegriff, daß sich alles immerzu und weiterhin verbessern werde, hat nur
streifenweise das Jahrhundert bestimmt. Aller Progression blieb eine Grenze
gesetzt durch die konstanten Gesetze der Natur, die es zu erkennen - in der
Wissenschaft -, zu erfüllen - in der Moral -, oder die es anzuwenden gelte -
wie zunächsL uueh in der Kunst.

127 BACON, Nov. org. l, 129 (s. Anm. llO; p. 221 ff.); DESCARTES, Discours de la methode,

6° partie, Oeuvres, ed. Charles Adam et Paul Tannery, t. 6 (Paris 1902), 63 ff. Vgl. dazu die
dritte der „Meditations", Oeuvres, t. 7 (1904), 34 ff. Zum ganzen jetzt RAINER SPECHT,
Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie und Wissenschafts-
geschichte (Stuttgart-Bad Cannstatt 1972).
128 PERRAULT, Parallele, 176 (vgl. 443). 125.
129 COLIN MACLAURIN, An Account of Sir Isaac Newton's Philosophical Discoveries,

zit. CARL BECKER, The Declaration of Independence. A Study in the History of Political
Ideas (1922; Ndr. d. 2. Aufl. New York 1956), 50. Zahlreiche weitere Belege für Groß-
britannien bei DANIEL JosEPIT BoonsTIN, The Mysterious Science of the Law. An Essay
on Blackstone's Commentaries (Cambridge/Mass. 1941), 74 ff.
130 HENRY VYVERBERG, Historical Pessimism in the French Enlightenment (Cambridge/

Mass. 1958), bes. 57 ff. 170 ff. 189 ff.; EHRARD, Idee de nature, 780 ff.

376
IV. 2. 'Perfectio', 'perfectionnement', 'perfectihilite' Fortschritt

Die Zielbestimmung der pcrfcctio, die einmal die diversen Fortschritte ausgelöst
hatte, wird nun im 18. Jahrhundert selber verzeitlicht131 • So schrieb noch rück-
. blickend TuRGOT in seinem Entwurf zur „Histoire universelle": La masse totale
du genre humain a marche sans cesse vers sa perfection, - eine Wendung, die er im
„Discours" vor der Sorbonne in den Iterativ gesetzt hatte, demzufolge die Per-
fektion unendlich steigerungsfähig werden konnte: La masse totale du genre humain
par des alternatives de calme et d'agitation, de biens et de maux, marche toujours,
a a
quoique pas lents, une perfection plus grande 132 •
Seit 1725 ist auch die spezifische Bewegungskategorie belegt, die die Zielbestimmung
des Vollkommenen in den Vollzug hereinholte: 'perfectionnement' 133 . Freilich be-
diente sich Turgot noch der verbalen Umschreibung - 'perfectionner' -, erst
Condorcet sollte den substantivierten Terminus für den Vorgang - 'perfection-
nement' - zentral verwenden.
Immer wieder umspielt CoNDORCET die Grenzzone, auf die das Menschengeschlecht,
von der Natur dazu befähigt, zusteuere. Die Vervollkommnung, das perfectionne-
ment ... de l'espece humaine, ist zugleich Ziel, terme 134 , und unbegrenzt, indefini 136 ,
~ sei es durch eine beständige Annäherung an den Glückszustand, ohne ihn je
erreichen zu können, oder sei es durch den Eintritt in diesen - selber wieder
zeitlich unbegrenzbaren - Zustand. So umkreiste Condorcet eine bewegliche Ziel-
bestimmung, die die Summe der Fortschritte auf einen Begriff bringen sollte. Die
Verbesserung ( ame'lioration) des Menschengeschlechts müsse als unendlich betrach-
tet werden, puisqu'elle n'a d'autres limites que celles de ces progres memes 136 • Die
Grenzen der li'ortsehritte sind die Fortschritte selber.
Damit hat Condorcet - mnrh1rn geRprnnhfm - rlaR Prinzip der Fortschrittlichkeit
umschrieben. Der entsprechende Ausdruck 'progressivite' 137 ist in Frankreich erst
seit 1875 als selten gebraucht belegt, und es ist bezeichnend für die teleologische
Rückbindung der Bewegung, wie Cöndorcet n'eben dem objektbezogenen 'per-
fectionnement' den anderen, subjektgebundenen, Ausdruck verwendete, den
Rousseau in Umlauf gebracht hatte: 'perfectibilite'. Auch diesen Ausdruck hat
Condorcet als eine mit der geschichtlichen Verbesserung sich fortschreibende
Kategorie gedacht. Les progres de cette perfectibiliti seien indefinis, sie kennten keine
andere zeitliche Grenze als den Bestand unseres Planeten 138 . Der Ausdruck 'per-
fectibilite' setzte sich ebenfalls in der zweiten Jahrhunderthälfte durch, in der

131 Grundlegend ARTHUR 0. LOVEJOY, The Great Chain of Being (Cambridge/Mass. 1936),

bes. c. 9, p. 242 ff.: „ The Temporalizing of the Chain of Being" mit zahlreichen Belegen.
132 TURGOT, Plan de deux d1scours sur l'histoire universelle (um 1751), Plan du premier

discours sur la formation des gouvernements et le melange des nations, Oeuvres et docu-
ments, t. 1, 285; ders., Tableau philosophique, ebd., 215 f.
133 ROBERT t. 5 (1960), 257.
134 CONDOROET, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain (1794),

hg. v. Wilhelm Alff (Frankfurt 1963), 364.


135 Ebd., 382.

1 3.6 Ebd., 388.


137 FEW t. 9 (1959), 437; 'progressibilite' belegt bei BOISTE 8° ed. (1835), 577; s. u.

Anm. 296.
138 CONDOROET, Esquisse, 28.

377
Fortschritt IV. 3. 'Vervollkommnung' und •vervollkommliebkeit'; Kant

„Encyclop@die" fehlt er noch, unrl er11t 1798 gelangte or in d11l'I .Akndcmicwörtc1·-


buch139.
RoussEAU erblickte nun 1755 in der faculte de se perfectionner, in der perfectibilite,
das Kriterium, das den einzelnen Menschen wie das ganze Menschengeschlecht vom
Tier unterscheidet. 'Perfectibilite' war für ihn keine empirisch-historische Bestim-
mung, sondern eine metahistorische Kategorie. Sie definierte die Grundbedingung
aller möglichen Geschichte. Freilich wurde mit der Fähigkeit zur Vervollkommnung
der Verlust der natürlichen Unschuld kompensiert, und insofern war der Mensch
kraft seiner Perfektibilität dazu verurteilt, der Ungleichheit samt ihren schlimmen
zivilisatorischen Folgen zu verfallen 140.
Während Rousseau in der 'perfectibilite' die Ambivalenz der Vervollkommnungs-
fähigkeit auf ihren Begriff brachte, rekurrierte VOLTAIRE weiterhin auf das Ziel
der naturgegebenen Vollendung: der Mensch sei perfektibel, et de la on a conclu
qu'il s'est perverti. Mais pourquoi n'en pas conclure qu'il s'est perfectionne jusqu'au
point <JU la nature a marque les limites de sa perfection?141
Damit freilich verfehlte Voltaire das von Rousseau angesprochene Problem, wie
ein unbegrenzbarer Fortschritt zu begründen sei und wohin er tatsächlich führe.

3. 'Vervollkollllllllung' uud 'Vervollkuuuulichkeil'; Kaul

In der kritischen Auseinandersetzung mit dem pejorativ besetzten Ausdruck der


Rousseauschen 'perfectibilite' wurde in Deutschland die Frage nach dem Fort-
schreiten in der Geschichte entschieden vorangetrieben.
MAALER (1561) und FRI8IU8 (1616) kannten zwar das Wort 'Vervollkommnung'
und das zugehörige Verb für „Auffüllen, expletio" bzw. „explere", aber dieser
nicht auf 'perfectio' bezogene Wortgebrauch verschwindet im 17. Jahrhundert14 2 •
Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde auch der lat. Ausdruck 'perfectibilis'
nicht verdeutscht. ~OVALIS konnte nun (um 1799/1800) -im Gefolge Rousseaus -
die bereits eingedeutschten lateinischen bzw. französischen Fremdwörter in einer
Kurzformel zusammenführen, die die verzeitlichte Struktur des Menschen als eines
geschichtlichen Wesens auf ihren „fortschrittlichen" Begriff brachte: Die Menschen

139 EHRARD, Idee de nature, 753.


140 RousSEAU, Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi les hommes,
Oeuvres compl., t. 3 (1964), 142 f. ScHELLING prägte später - in seinem transzendentalen
Idealismus - für den Fortschritt in Künsten und Wissenschaften, der je nach dem Maßstab,
den man anlege, eher ein Rückschritt sei, auch den Ausdruck anti-historischer Fortschritt;
System des transzendentalen Idealismus (1800), Werke, Bd. 2 (1927; Ndr. 1965), 593.
141 VOLTAIRE, Essai sur les moeurs, Introduction, Oeuvres compl., t. 11 (1878), 20.
142 MAALER (1561; Ndr. 1971), 437r: Vervollkomnen. Explere, perßcere, Vervolkomnet,

expletus, perfectus, Vervolkomnung, Expletio; JOHANNES FRISIUS, Dictionarium Latino-


germanicum (Ausg. Zürich 1574), 978. 517; ebenso die Aufl. von 1616: Pe;rfect'io, ..•
Vollendu.ng/Vollkomme.nheit/Aitßmachung. Und: Expletio, ... Erfüllung, Vervollkommung.
Letztere Bedeutung ist in der Aufl. von 1700 entfallen; ders., Novum Latino-Germanicum
et Germanico-Latinum'Lexicon (Frankfurt 1616), 473. 247; ders., Dictionarium bilingue
(ZÜrich 1700), 254.

378
IV. 3. 'Vervollkommnung' und 'Vervollkommlichkeit'; Kant Fortschritt

unterscheiden sich durch (schnelle) Progressivität, oder Perfectibilität von den übrigen
Naturwesen 148 •
Parallel zu dieser Eindeutschung wurden auch die französischen Neologismen über-
setzt, etwa wenn 1782 KLÜGEL die Perfectibilität des Menschen als V ervollkommnungs
Fähigkeit registriert, als Anlage ... , unsere schon erworbenen Fertigkeiten zu einem
unbegrenzten Fortgange ... nutzen zu können. Oder wenn SCHWAN 1790 übersetzt:
Perfectibilite, Die Eigenschaft, vermöge welcher eine Sache der Vollendung oder Ver-
vollkommnung fähig ist, und Perfectionnement, Die Vervollkommnung, die Handlung,
da man eine Sache vollkommener macht; die Verbesserung, womit die subjektgebun-
dene und die objektbezogene Variante der beiden Ausdrücke gut wiedergegeben
wurde 144 •
ADELUNG lehnte noch 1783 die W ortgruppP. wP.gP.n 1for Hii.rt,r. ihrer Aussprache
ab 145, doch sie setzte sich in verschiedenen Schreibweisen durch. PossELT übersetzte
1796 Condorcets 'perfectionncment' korrekt mit Vervollkommnung, 'perfectibilite'
mit Vervollkommlichkeit 146 • CAMPE schließlich registrierte 1813 die Wortgruppe als
eingebürgert 147 •
Dieser lexikalische Befund gegen Ende des 18. Jahrhunderts indiziert die Verzeit-
lichung der Vollendungskategorie auch in Deutschland. Der deutsche Ausdruck
'Vervollkommnung' - im Sinne von 'perfectionnement' - tauchte erstmals wohl
1762 auf, als THOMAS ABBT das höchste Verdienst solchen Erfindungen zurechnete,
welche zur Entwickelung des menschlichen Geistes, und zu seiner Vervollkommnung
in der bürgerlichen Gesellschaft das meiste beitragen148 •
Zu!' gleichen Zeit wurde auch 'perfectibilite' übernommen. LESSING schrieb noch
1756, daß er nicht wisse, welchen Begriff Rousseau mit dem Wort 'pr.rfär.tibilite'
eigentlich verbinde. Er selber verstehe bloß die Beschaffenheit eines Dinges darunter,
vermöge welcher es vollkommnp,r umrde.n kann; eine Beschaffenheit, welche alle Dinge
in der Welt haben, und die zu ihrer Fortdauer unumgänglich nötig war, - womit
Lessing allein die positiven Möglichkeiten der Rousseauschen Perfektibilität als
Daueranlage - und das nicht nur der Menschen - ins Auge faßte. Immerhin traf
er die metahistorische Intention der Rousseauschen Kategorienbildung149 • Für
MENDELSSOHN oder später Wieland war es gar nicht begreiflich, daß die Perfek-
tibilität ein Risiko des geschichtlichen Lebens meinte, das sich aus der Natur ent-
ferne. Sie wollten die Gesetze der Natur als Regulatoren einer historischen Vervoll-
kommnung retten. Dabei kannte Mendelssohn noch nicht den Begriff, er sprach
vorsichtig von der menschlichen Bem1iihu,ng oder von dem Vermögen, das die Natur
uns geschenkt habe, uns vollkommener zu machen. Oder er sprach von der Ent-
wickelung unsrer Kräfte und von dem menschlichen Wunsch, Vollkom,menheiten ...

143 NovALIS, Fragmente und Studien 1799-1800, GW Bd. 3 (1968), 668.


144 KLÜGEL Bd. 1(1782),467 f.; SCHWAN 2° ed., t. 3 (1790), 642; t. 2 (Ausg. 1819), 335.
145 Jon. CHRISTOPH ADELUNG, Von neuen Wörtern durch die Ableitung, Magazin f. d. dt.

Sprache 1 (1782), 4. Stück, S. 77. Vgl. auch GRIMM Bd. 12/1 (1956), 2058.
146 CoNDORCET, Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen .

Geistes, dt. v. ERNST LUDWIG PosSELT (Tübingen 1796), passim, bes. 4.


147 CAMPE, Fremdwb., 2. Aufl. (1813), 470.
148 THOMAS ABBT, Abhandlung vom Verdienste, Vermischte Werke, Bd. 1 (Berlin,

Stettin 1768), 193.


149 LESSING, Brief'an Mendelssohn v. 21. i. 1756 (s. Anm. 120), 52 f.

379
Fortschritt IV. 3. 'Vervollkommnung' und 'Vervollkommlichkeit'; Kant

wachsen zu sehen 15°. WIELAND verfaßte schließlich 1770 drei Schriften, in denen er
die neuen verzeitlichten Vollkomiilenheitsbegri:ffe aufnahm und ganz entschieden
gegen Rousseau kehrte. In Verkennung der metahistorischen Bedeutung, die
Rousseau konzipiert hatte, spricht Wieland - historisch - von der Entwicklung
unserer V ervollkommlichkeit . . . Die Bedürfnisse und Talente der Gesellschaften
vermehren und verfeinern sich . . . ins Unendliche . . . Die möglichste V ervoll-
kommnung sei das große Ziel aller Bestrebungen, welche die Natur in den Menschen
gelegt hat, und kein Übel könne verhindern, daß jeder Schritt, den wir zur V ervoll-
kommnung der Gattung tun, eine Quelle von physischen oder sittlichen Übeln stopft,
welche der allgemeinen Glückseligkeit hinderlich waren 151 •
Dieser Sprachgebrauch für die Hereinnahme eines Endziels in die zeitliche Erstrek-
kung der Zukunft greift im letzten Drittel des Jahrhunderts um sich. 1788 Rprir.ht.
Wieland selbst von der fortschreitenden Vollkommenheit, der die Kosmopoliten
nacheifern; in gewissem Sinne habe dimm V olllcommenheit ... keine Grenze. Das Men-
schengeschlecht sei die einzige Gattung von Wesen, die einer unabsehbaren V ervoll-
kommnung fähig sei152 • lSELIN, in Unkenntnis der temporalisierten Ausdrücke,
bedient sich der üblichen Umschreibungen, wenn er vom Trieb zur Vollkommenheit
spric.ht (für 'perfectibilite') oder davon, daß die Menschheit sich immer mehr der
Vollkommenheit nähere (für 'perfectionnement'). Auch die Irreversibilität umschrieb
er für den Aufstieg: So machte ein jeder Fortgang zu einer Vollkommenheit den Schritt
z1,t einer liöhern nül'iy, 1;o w·ie er denselben zugleich erleichterterns.
'Aufstieg', 'Wachstum', 'Entwicklung', 'Verbesserung', 'Ausfaltung', 'Veredlung'
oder 'Bildung' 1iru] ähnliche Ausdrücke konnten äquivalent verwendet werden, um
Bewegung ('Fortgang') und Ziel ('Vollkommenheit') zu verbinden.
So hat der Pfarrer SCHULZ 1783 die Vervollkornmwny, die er emphatisch beschwört,
auch mit Wachstum in der Vollkommenheit umschrieben, mit Entwickelung zu einer
höhern Stufe seiner (des Menschen) Vollkommenheit, oder er sprach von den Fort-
schritten ... , die ein Mensch unaufhaltsam auf dem Wege seiner Vollkommenheit
macht. In immer neuen Wendungen apostrophierte er die beständigen Fortschritte
auf dem Wege zur Vollkommenheit 154 •
Es ist nun ein allgemeiner Befund der achtziger Jahre, daß 'Fortschritt' noch nicht
zu einem eigenständigen Begriff geronnen ist. 'Fortgang', 'Fortschreiten', 'Fort-
schritte' im Plural werden zunehmend verwendet, um jene zeitlichen Bewegungen
zu bezeichnen, die auf dem Weg zum (unendlichen) Fernziel zurückgelegt werden.
l5o MosEs MENDELSSOHN, Sendschreiben an den Herrn Magii;ter Lessing in Leipzig v.
2. 1. 1756, Ges. Sehr., Bd. 1 (1843), 378 f. 376; vgl. seine Übersetzung von Rousseaus
„Discours": Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen
(Berlin 1756), 61. 74.
151 WIELAND, Über die Behauptung daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen

Gattung nachtheilig sey (1770), SW Bd. 29 (1857), 301. 314 f.; ders., Ober die von J. J.
Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu ent-
decken. Nebst einem Traumgespräch mit Prometheus (1770), ebd., 239.
152 Ders., Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens (1788), AA 1. Abt., Bd. 15 (1930),

214 f.; ders., Eine Lustreise ins Elysium (1787), ebd., 95.
153 lRAAK IsELIN, Ober die Geschichte der Menschheit, 2. Aufl., Bd. l (Zürich 1768), 150;

Bd. 2 (1768), 8.
154 J OH. HEINRICH SCHULZ, Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen,

ohne Unterschied der Religionen, Bd. 4 (Berlin 1783), 4. 25. 30. 44 u. ö.

380
IV. 3. 'Vervollkommnung' und 'Vervollkommlichkeit'; Kant Fortschritt

So benutzte KANT das Wort 'Fortschritt' schon länger - Vllrmutlich hat er es 1754
geprägt156 - , aber in einem geschichtsphilosophischen Sinne hat er den Ausdruck,
fast zögernd, erst 1784 in seinen neun Thesen zu einer „allgemeinen Geschichte"
eingebracht 156 . Ebensowenig verwendete LESSING in seiner „Erziehung des Men-
schengeschlechts" (1780) 'Fortschritt', noch gar den Ausdruck 'Geschichte': die
Worte standen als Begriffe noch nicht bereit für den Gesamtprozeß einer sich in die
Zukunft hinein entwerfenden oder entfaltenden Menschheit. Lessing verläßt sogar
seine Rousseau adäquate metahistorische Begri:fflichkeit157, wenn er teleologisch
von dem großen langsamen Rad spricht, welches das Geschlecht seiner Vollkommen-
heit näher bringt. WIELAND sprach bald darauf von der einen unmerklich fortrücken-
den Spirallinie 158 , um den Kreislauf mit der Zielbewegung zu verbinden, und LES-
SING verwendete die V arvollkommniing nur für die inilivifhrnllim Rr.hrit,t,ll, die auch
das Menschengeschlecht insgesamt zurücklegt, um über die höchste Stufen der Auf-
klärung an ihr Ziel zu gelangen, wo sich die Moral erübrigen werde, weil sie sich
allgemein verwirklicht 159 .
Schließlich nutzte selbst ADAM WEISHAUPT, Ordensleiter der Illuminaten, die er
auch Perfectibilisten nannte, den Ausdruck 'Fortschritt' nicht, als er 1788 seine
(}eschichte der Vervollkommnung des menschlichen Geseltleeltl:s verfaßte 160 • Weishaupt
nahm in vir.lr.r Himicht Condorcet vorweg und suchte als künftig wichtigsten Beruf
den philosophisch reflektierenden Historiker einzuführen, der die Vergangenheit mit
der Zukunft vermittelt. Die höchste derzeit erreichbare Vollkommenheit erblickte
er im Vorhersehungsvermögen, um das zukünftige Geschehen so zu steuern, wie es
sein soll. Mit der Prognosefähigkeit werde jene offene Zukunft freigesetzt, die -
einmal baherrschbar geworden - alle weiteren Vervollkommmmgen mit, Rir.h hringll.

155 KANT, Die Frage, ob clie Erde veralte, physikalisch erwogen (1754): Die Natur unserer

Erdkugel hat in dem Fortschritte ihres Alters in allen ihren Teilen nicht eine gleiche Stufe er-
reicht. Einige Teile derselben sind jung und frisch, indessen daß sie in andern abzunehmen und
zu veralten scheint; AA Bd. 1 (1902), 200. Ferner: ders., Träume eines Geistersehers (1766),
1. Tl., 1. Hauptstück. AA Bd. 2 (1905), 324: im Fortschritt der Untersuchung. Zum Einfluß
Rousseaus auf die „Sattelzeit" mit zahlreichen Belegen aus dem deutschen Sprachraum s.
HORST W. ÜPASCHOWSKI, Der Fortschrittsbegriff im sozialen Wandel, Muttersprache 80
(1970), 314 ff.
156 KANT mag in seinem Sprachgebrauch, worauf mich Herr Stumpf hingewiesen hat, von

Pfarrer Schulz beeinflußt worden sein, dessen optimistischen Wortgebrauch von den
'Fortschritten' er gerade in seiner Rezension nüchtern referierL hatte. In der „Idee zu
einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" taucht das Wort je einmal im
Plural und im Singular auf (AA Bd. 8, 1912, 25. 27), - beide Male in dem verschränkten
Sinne, daß es „Fortschritt" zwar gegeben hat und weiterhin geben soll, daß er aber auch
gefährdet sei. Hier liegt eine für Kant typische Sprachhandlung vor: in den kritischen
Vorbehalt wird ein moralischer Aufrur° versteckt - nämlich für den Fortschritt einzu-
stehen.
157 Vgl. oben S. 379; LESSING, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Sämtl. Sehr.,

"Rd. 13 (1897), 434 f.


158 WIELAND, Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts (1777),

SW Bd. 29, 344.


1 5 9 LESSING, Erziehung, 435. 433.
160 ADAM WEISHAUPT, Geschichte der Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts,

Bd. 1 [mehr nicht erschienen] (Frankfurt, Leipzig 1788).

381
Fortschritt IV. 3. 'Vervollkommnung' und 'VervollkommJichkeit'; Kant

Die höchste Vollkommenheit des Menschen bes~ünde also in der größten "fi'ert?'.gkeü, sich
durchaus in seinen Handlungen nur nach entfernten Vorteilen zu bestimmen, die Zu-
kunft in ihren weitesten Folgen vorherzusehen 161 . Gut und Böse richten sich dann nur-
mehr nach ihrem zukünftigen Effekt, den der heutige Planer vorwegnimmt. Dann
soll die Tat ... dich überführen, daß wir sowohl als die Welt uns zur Vollkommenheit
entwickeln 162 . Die in Prognose und Plan vorausgenommenen Wirkungen werden zu
den einzigen Legitimationstiteln menschlichen Handelns. Die dafür gebräuchlichen
verbalen Umschreibungen des Fortschreitens und Vorrückens hat Weishaupt im
Vorschritt substantiviert, damit - im Gegensatz zum eher neutralen 'Fortgang' -
kein Zweifel an der Verbesserung beim Vorankommen auftauche 1 6 3 .
Im Horizont des verzeitlichten Vollendungsideals mußte 'Fortschritt' insofern ein
subsidiärer Ausdruck bleiben, als er nur die tempomlP. KompoTIP.ntP., nicht aber dail
teleologische Moment ausdrücken konnte. Aber die Ausrichtung auf ein Ziel, das
Gluck in möglichster Vollendung, ·bestimmte in der populären Aufklärung die ein-
mal irdisch eröffnete Erwartung. Selbst Kritiker der Vervollkommnungsideale, wie
BRANDES, der sie für uneinlösbar erklärte, kamen nicht umhin, die Vervollkomm-
nung der Perfektibilität als Staatszweck zu de:finieren 164 •
Es war KANTS Leistung, in der Kritik an de11 bisherigen kosmulugii;ch oder ge-
schichtsphilosophisch deduzierten, oft naiv vorgetragenen Perfektionierungshoff-
nungen einen Fortschrittsbegriff zu entwickeln, der sich mit der Möglichkeit gegen~
läufiger geschichtlicher Erfahrung vereinen ließ. Für Kant war der Fortschritt zum
Besseren weniger eine Vorgabe der Natur oder göttlicher Planung als eine Aufgabe,
die dem Menschen für immer gestellt ist.
Der v-0rkritische Kant entwarf 17fifi in RP.inAr „ Allgemeinen N aturgeschj.chte" noch
das Modell eines in unendlicher Progression 165 begriffenen Up.iversums, das sich
über die jeweilige Zerstörung einzelner Welten hinweg ständig verbessere. Damit
war für Kant, der physikalisch den dereinstigen Untergang dieser Welt kommen
sah, die Eschatologie aufgefangen und überboten. Die Unendlichkeit der künftigen
Zeitfolge, womit die Ewigkeit unerschöpflich ist, wird alle Räume der Gegenwart Gottes
ganz und gar beleben ... Die SChöpfung ist niemals vollendet. Sie hat zwar einmal an-
gefangen, aber sie wird niemals aufhören. Im Gewande der Kosmogonie war das Ar-
gur'n.en tationsmuster einer progressiven Geschichtsphilosophie gefunden. Das
Werk, welches sie (die Schöpfung) zu Stande bringt, hat ein Verhältnis zu der Zeit, die
sie darauf anwendetl66.
Kants kritische Wende, die er methodisch auch als negativen Fortgang 167 der Ver-

161 Ebd., 61.


142 Ebd., 44.
1 0 Ebd., 31. 107 u. ö. 'Vorschritt' ist auch bei Pestalozzi und Goethe belegt; GRIMM

Bd. 12/2 (1913), 1515. 1517.


1 64 ERNST BRANDES, Über einige bisherige Folgen der französischen Revolution in Rück-

sicht auf Deutschland (Hannover 1792), 21 :ff. 42.


166 KANT, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, 1. Tl. AA Bd. 1 (1902),

256.
166 F.bd„ 2. Tl., S. 314. Dazu BLUMENBERG, Legitimität der Neuzeit (s. Anm. 110), 182 :ff.

427 :ff.
16 7 KANT, Über die ... Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphy-

sik seit Leibnizens und Wol:ffs Zeiten in Deutschland gemacht hat ?, AA Bd. 20 (1942), 261.

382
IV. 3. 'Vervollkommnung' und 'VervollkommJ4chkeit'; Kant Fortschritt

nunft apostrophierte, bestand nun darin, daß er eirnm derartigen, aus der Natur ab-
geleiteten und auf die Geschichte übertragbaren Verbesserungsglauben als unbe-
weisbar entlarvte. Zumal die geschichtliche Erfahrung ließ eine~ füglich skeptisch
werden. Indes bietet Kant auf die zeitgenössische Herausforderung zur Vervoll-
kommnung zwei Antworten, die voneinander abhängen. Erstens läßt sich die Natur,
in dialektischer Fortführung des üblichen Aufklärungsoptimismus, so lesen, als ob
sie mit der Bestimmung zu fortschreitender Verbesserung die Menschen auch wider
Willen zwingt, ihrer Glückseligkeit nachzueifem 168 • Diese teleologische Sicht bleibt
aber solange unsicher, als ihr nicht von Seiten der Moral Sukkurs geleistet wird.
Kant vermittelt die empirisch heterogene Geschichte mit der autonomen Vernunft
durch das praktische Gebot, die Zukunft in Richtung einer Moralisierung zu gestal-
ten. Erst die praktische Vernunft liefert die andere, die entRcheidende, Antwort:
Daß die Welt im ganzen immer zum Bessern fortschreite, dies anzunehmen berechtiget
ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vern-unft 169 •
Politisch geRprochen: auf das Ziel eines republikanischen Völkerbundes, herkömm-
lich gesprochen: auf das höchste Gut, das Reich Gottes auf Erden, soweit wie mög-
lich hinzuarbeiten, ist des Menschen dauernde Berufung. Zu diesem Endzweck fort-
zuschreiten, ist Pfiicht 170 ; Damit aber wird der Fortschitt vom Schlechteren zum Bes-
seren Aufgabe des autonomen, sich selbst beherrschenden Menschen17 1.
Der Mensch setzt - als moralisches, dem Zeitwechsel nicht unterworfenes Wesen -
selber die Ziele des Fortschreitens. Hat er das einmal getan, dann kann er die Ge-
schichte so lesen und - bei machthabender praktischer Vernunft 172 - auch so schaf-
fen, daß der immer mögliche Fortschritt auch verwirklicht wird. Damit rückt 'Fort-
schritt' in einen transzendentalen Begründungszusammenhang. Difl Bedingungen
der Einsicht in den moralisch notwendigen Fortschritt sind zugleich die Bedingun-
gen seiner Verwirklichung. Der Fortschritt wird zu einem theoretischen Legitima-
tionstitel für politiimhes Handeln.
So suchte Kant die allseitig beschworene Vervollkommnung aus einer begreiflichen,
aber nur spekulativen Hoffnung in eine zwingende Forderung zu verwandeln, mit
deren Annahme auch die Einsicht in die Handlungschancen wachse. Der Endzweck
wird als Regulativ in den praktischen Handlungsvollzug hineingenommen. Das
beständige Fortschreiten muß dann als unendlich begriffen werden. Das aber hat zur
Folge, daß dieser Fortschritt auch einen Prospekt in eine unendliche Reihe von Übeln
eröffnet173, denn nur der einmal erreichte Endzweck hätte alle Übel beseitigt, was
in der Zeit nicht möglich ist.

188 Ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte (s. Anm. 156), 15 ff., bes. 30.
18& KANT, Preisfrage (s. Anm. 167), 307.
170 Ebd., 294. Vgl. ders., Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), AA Bd. 8,

123; ders„ Die Religion (s. Anm. 99), 3. Stück, 1. Abt., VII, S. 115 ff.; 2. Abt., S. 134 ff.
171 Ders., Mutmaßlicher Anfang, 115.
172 Ders„ Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in derTheodicee (1791), AA

llrl. 8, 264. Vgl. dazu ScmLLER: Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für
ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobaUl sie sich aus der Gegen-
wart notwendiy enlw'ickelti m·uß. Vor einer Vernunft ohnaSchranken ist die Richtiing z11gleich
die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobaUl er eingeschlagen ist; Über die ästhetische
Erziehung des Menschen (1795), 9. Brief. NA Bd. 20 (1962), 335.
173 KANT, Das Ende aller Dinge (1794), AA Bd. 8, 334f.

383
Fortschritt IV. 4. Von den 'Progressen' zum 'Fortschritt'

Daß die Geschichte gleichwohl ein unumkehrbarer R1iRR1ir1rngsprozeß bleibe, das hat
Kant gegen Ende seines Lebens nicht nur für moralisch geboten, sondern auch für
theoretisch zwingend gehalten: als er in der unerschrockenen Parteinahme vieler
Zeitgenossen der Französischen Revolution für das Recht ein Geschichtszeichen er-
blickte, daß sich das Menschengeschlecht tatsächlich durch wiederholte Einübung
einem allgemeinen Rechtszustand nähere. War bisher die innere Pflicht zum Fort-
schritt gewiß, nicht aber der äußere Weg - zumal der Weg vom freien Willen, auch
Böses tun zu können, jederzeit verlegt werden konnte -, so schien jetzt die
geschichtliche Erfahrung auch den Weg zu weisen: daß das menschliche Geschlecht
im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen
werde 174 •
Die kosmogone ProgreRRion war im Durchgang durch ihre kritische Infragestellung
zum geschichtsphilosophischen Fortschritt geworden: der Fortschritt als moralische
Pflicht wurde zurückgebunden an eine sich ihr fügende und sie zugleich bestätigende
Geschichte. Aber nicht die Revolution selber, sondern das Bewußtsein von ihr lie-
ferte die Rückversicherung, daß der gesollte Fortschritt auch verwirklicht werde.
Insofern blieb der Fortschritt eine transzendentale Kategorie geschichtlichen Be-
wußtseins, das sich seine Wirklichkeit anverwandelt. Aus dieser späten Position
Kants folgte eine weitere, die er selbst noch vermieden hatte: die Kategorie des
Fortschritts konnte über den moralischen Zwang, zugunsten des Fortschritts Partei
nehmen zu müssen, umgemünzt werden in einen politischen Parteibegriff.

4. Von den 'Progressen' zum 'Fortschritt'

Der bisherige .Befund hat gezeigt, daß Ausdrücke wie 'Fortgang', 'FO!'.tdauer',
'Fortrücken' oder 'Fortschreitung' längst vor 'Fortschritt' gebräuchlich waren und
daß alle diese Ausdrücke im Kontext mit der Perfectio und deren Verzeitlichung die
geschichtliche Bedeutung einer kontinuierlichen Verbesserung erhalten haben.
J.\ilan kann diesen Aspekt als „Säkularisierung" deuten. 'Fortschritt' als spezifisch
geschichtlicher Begriff zeichnet sich erst, und vor allem unter dem Einfluß Kants,
in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts langsam ab. Der Weg dort-
hin soll jetzt terminologiegeschichtlich nachvollzogen werden.
Lat. 'progressus' und 'progressio' wurden im 15. Jahrhundert mit fore gang, vortgang
und entspringung verdeutscht. Als deutsche Fachwörter für mathematische Zahlen-
reihen tauchen bald darauf 'Progreß', besonders 'Progression' auf und werden noch
im ZEDLER allein registriert, erweitert um den Wortgebrauch in der J.\ilusik 175 . Die
aus dem Französischen stammende Bedeutung von 'progres' als erfolgreicher Ver-
besserung greift um sich, etwa wenn CHEMNITZ 1653 von der Schwedischen Glück
und progresse sprach, oder wenn LEIBNIZ 1670 einen glücklichen progreß in der

174 Ders., Der Streit der Fakultäten (1798), 2. Abschn., §§ 5. 7. AA Bd. 7 (1907), 84. 88.
175 ScnuLz/BASLER Bd. 2 (1942), 676 mit vielen Belegen für die frühe Neuzeit, ZEDLER
Bd. 29 (1741), 779: die mathematische Bedeutung hii.ngt o,n der bereits eingedeutschten
'Progreßion', noch als Fremdwort wird registriert: Progressio, oder Progressus, Progrez,
Progresso, heißet sowohl in der Melodie als Harmonie der Fortgang von einer Note zur fol~
genden, und von einem Satze zum folgenden.

384
IV. 4. Von den 'Progressen' zuw 'FutlllcLritt' Fortschritt

Reichspolitik ankündigte 176 • Im 18. Jahrhundert wurde besonders gern der Plural
'Progressen' benutzt, was dem vorwiegenden Wortgebrauch von 'les progres' in
Frankreich entsprach. Dieses eingedeutschte Fremdwort wird nun im 18. Jahrhun-
dert durch verschiedene. Wörter oder Wortbildungen sukzessiv ergänzt oder ver-
drängt.
Der erste deutsche Wortbeleg, aber ohne Folgewirkung, stammt von FLEMING 1642:
Des Himmels runter Lauff /der Fortschreit der Planeten 177 • Die anfängliche, nur auf
Bewegung in Zeit und Raum bezogene Bedeutung ist hier noch gut ablesbar. Das
ist schon anders bei der ersten nachgewiesenen Übersetzung im Genfer Dictionnaire
von 1660: Faire des grands progres =großen fortgang haben, beispielsweise Fortgang
im lernen 178 • Die Bedeutung wurde ausgeweitet auf den Sinn einer Zunahme, eines
Wachstums, der diesem Wort -wie schon 'Progreß' - seitdem anhaftet1 79 . Aber
noch 1695 verzeichnet STIELER bloß: Progress, Fortgang: Von Progrediren / fort-
schreiten / weiter kommen 180• SrERANDER definiert 1728 den üblichen Plural: Prog'res-
sen, heißt der glückliche Fortgang der Waffen im Krieg, auch in allen andern Handlun-
gen, womit er eine Definition des alltäglichen Sprachgebrauchs traf, die HÜBNER
noch 1826 fast unverändert abschreiben konntel 81.
Die Fremdwörterbücher verbuchen indes weitere, neue Synonyma, die dann häufig
übernommen und fortgeschrieben werden: außer dem vorherrschenden Fortgang
heißt 'progres' bei RÄDLEIN 1711 auch Zunehmen und Wachstum, bei PoMEY 1715
auch Zunehmung, bei FRISCH 1746 auch Fortrucken, Fortwähren sowie Wachstum
und Zunahme, bei CHOFFIN 1770 auch Zuwachs. Das Wortfeld hat sich also stark in
die Sinnzone der „Steigerung" erweitert, ohne daß 'ForisehriLL' uuer 'Fortschreiten'
rflgüit.riert würden. Wo 'Fortschreiten' auftaucht, wie bei RÄDLEIN 1711 oder
SoHWA.N 1782, i.!lt es keine Übersetzung von 'progres'. Fortschritt taucht für 'progrcs'
zum ersten Mal 1801 auf, in der Übersetzung des französischen Akademiewörter-
buchs von CATEL, der 'Fortschritt' von progression = Fortschreitung abhebt 182 • Der
deutsche Ausdruck hat sich also - aus diesem lexikalischen Befund zu schließen -
relativ spät und relativ unabhängig vom französischen 'progres' herausgebildet.
Das bestätigen die deutschen Wörterbücher. ADELUNG kennt 1775 das Wort 'Fort-

176 BoGISLAV l'mLrPP v. CHEMNITZ, zit. SCHULZ/BASLER Bd. 2, 676; LEIBNIZ, Bedencken

welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich iezigen
Umbständen nach auf festen Fuß zu stellen (1670), 1. Tl., § 82. AA 4. R„ Bd. 1 (1931),
165; vgl. ebd„ 138 (§ 26); 146 f. (§ 42 f.); 168 (§ 97). ULRICH GEBHARDT beklagt 1656 den
Rückgang der unteren Schulen, wo der glückseligere progreß des studirens verhindert werde;
Von der Kunst, Reich zu werden [~Ars ditescendi, dt.] (Augsburg 1656), 41.
1 7 7 PAUL FLEMING, Auff Herrn Johann Michels sein Doctorat, Poetische Wälder, Glück-

wünschungen, in: ders„ Teütsche Poemata (Lübeck [1642]), 62.


178 Dict. frarn;i.-all.-lat. (1660), t. l, 583; t. 2, 157.
179 Faire de grands progrets verzeichnet in Frankreich NrcoT (1621; Ndr. 1960), 519.
180 STIELER, Zeitungs-Lust (1695; Ndr. 1969), 221.
181 SPERANDER (1728), 518: s. v. Progressen ... ; dann: Progression, ein mathematisches

Kunst.Wort ... ; HüBNF.R 31. Anfl., Rrl. a (1826), 655.


182 RÄDLEIN (1711), Bd. 1, 296; Bd. 2, 664; PoMEY, Grand. Dict. Royal (1715), 760;

FRISCH (1746), 1619; ÜHOFFIN (1770), 1901; SCHWAN t. 1 (1782), 603; ÜATEL t. 3 (1801),
410.

2~90386/1 385
Fortschritt IV. 4. Von den 'Progressen' zum 'Fortschritt'

schritt' noch nicht183, obwohl es alternativ zu 'Fortga.ng' snhon verwendet wurde,


etwa von KANT 1766, der vom Fortschritt der Untersuchung spricht, oder 1770 von
WIELAND, der den Fortschritt der Wissenschaften apostrophiert, der in China nicht
möglich sei 184.
1795 registriert dann KINDERLING erstmals Fortschritt, ein neueres Wort, für Zunah-
me, Wachstum. Der eigentliche V erstand ist ein Vorschritt, welches auch neueren
Schriftstellern gefällt, aber schon ein altes Wort ist. Der uneigentliche V erstand ist V er-
mehrung der Einsichten, der Erfahrung, des Muts, der Fertigkeit im Guten oder auch
im Bösen. Man verbinde es mit den Zeitwörtern machen oder tun 185 • Im folgenden
Jahr nimmt ADELUNG das neue Wort auf, welches in der edlern Schreibart in allen
Bedeutungen des Wortes Fortgang üblich ist. Adelung nennt deren drei: die Fortdauer
im positiven oder negativen Sinn, die Gelangung zur Wirklichkeit und schließlich
Erweiterung, Wachstum, glücklicher Erfolg. Während 'Fortschritt' in den beiden
ersten Bedeutungen - „Fortdauer" und „Verwirklichung" - nur selten verwendet
werde, sei die dritte Gruppe am häufigsten, - die allmähliche Zunahme in einer
Fertigkeit, in einem Zustande. CAMPE übernimmt 1808 diese Skala1 86 .
Im Gegensatz zur nur statischen oder nur teleologischen Bedeutung, die mehr an
'Fortgang' haften bleiben, wird also für 'Fortschritt' speziell eine in die Zukunft
hinein offene Steigerung verbucht. Das entspricht, bei allem Vorbehalt gegenüber
lexikalischen Registraturen, der Tendenz, die sich mit der Wortbildung des 'Fort-
schritts' abzeichnet.
Der im ganzen 18. Jahrhundert überwiegend verwendete Bewegungsausdruck
'Fortgang' blieb eng einem natürlichen Ablauf verhaftet und konnte dementspre-
r,hfmn auf einen zyklischen Weg zurückbezogen werden. Das galt zunächst auch
für die westlichen Sprachen. So sprach BoDIN von den rerum causas, initia, progres-
sus und inclinationes 187 , .eine Formel, die in vielen Varianten geschichtliche Dar-
stellungen überschreibt, etwa wenn LA PoPELINIERE von l'origine, progrez et change-
ment redet188, oder wenn Titel auftauchen wie bei FERGUSON: The History of the
Progress and Termination of the Roman Republic, der im Deutschen als Geschichte des
Fortgangs und Untergangs der Römischen Republik wiedergegeben wurde 189 .
Daß 'Fortgang' einen Fortgang zum Besseren indiziert, verstand sich nicht von
selbst. So übersetzte GoTTSCHED 1766 mit dem Verb 'fortschreiten' ausgerechnet
'continuer', dagegen le progres des choses mit Fortgang guter Sachen, weil die Quali-
tätsverbesserung erst umschrieben werden mußte 190. Auch die häufige Verbindung

183 ADELUNG Bd. 2 (1775), 251.


1 84 S . .Anm. 155; WIELAND, Betrachtungen über J. J. Rciusseau's ursprünglichen Zustand
des Menschen (1770), SW Bd. 29, 178. 185 KINDERLING (1795), 319 f.
186 .ADELUNG 2 . .Aufl., Bd. 2 (1796), 256. 258; 0.AMI'E Bd. 2 (1808), 136; ders., Fremdwb.,

2 . .Aufl. (1813; Ndr. 1970), 501, der 'Progress' nur mit „Fortgang", 'Progressen' dagegen
mit „Fortschritte" verdeutscht. '
187 BomN, Methodus (s . .Anm. 109), 136a.
188 LANCELOT Vmsrn DE LA POPELINIERE, L'idee de l'histoire accomplie, livre 1, p. 30,

in: ders., L'histoire des histoires (Paris 1599).


189 ADAM FERGUSON, The History of the Progress and Termination of thc Roman Rcpublic,

3 vols. (London 1783), dt. v. Chr. Daniel Beck, 4 Tle. in 3 Bdn. (Leipzig 1784-86). Beck
verwendet für 'progress' 'Fortgang' oder 'Fortschritte'.
°
19 FONTENELLE, Digression (s . .Anm. 113) u . .Abhandlung (s . .Anm. 114), 630. 634.

386
IV. 4. Von den 'Progressen' zu.m 'Fortschritt' Fortschritt

von 'Wachstum und Fortgang', um etwa den englischen Leitbegriff für 'Fortschritt':
'improvement' wiederzugebentei, bezeugt die eher neutrale, raum-zeitliche Bedeu-
tung des 'Fortgangs'. .
Freilich wird auch 'Fortgang' zu einem authentischen Vorläuferbegriff für 'Fort-
schritt'. Der zeitliche Ablauf bürgt dann dafür, daß es mit der Zeit immer besser
wird. Bei IsELIN ist" 'Fortgang' die geläufige Kategorie für eine stufenweise Höher-
entwicklung der Menschheit, die sonst deutlicher mit 'Vervollkommnung' bezeich-
net wurde 192 • Eindeutig indiziert wird der schnelle Durchbruch des Ausdrucks
'Fortschritt' - zunächst im Plural -, wenn man die beiden Übersetzungen von
JOHN MILLARS „Observations Concerning the Distinction of Ranks in Society" mit-
einander vergleicht. 1772 wird für die zentralen positiven Bewegungsbtigriffe:
improvement, advancement, progress und ihre Umschreibungen ·noch eine ähnliche
Skala deutscher Termini verwendet: Verbesserung, Wachstum, Fortgang, Ausbil-
dung, Anwachs. 1798 hat sich der Wortgebrauch gründlich geändert. 'Fortgang'
wurde zurückgedrängt, 'Vervollkommnung' ist hinzugekommen, aber schlagwort-
artig hat sich, den Text vereinfachend, der Terminus 'Fortschritte' durchgesetzt.
Er taucht dauernd auf, sogar, ohne englisches Äquivalent, im Titel: Aufklärungen
über den Ursprung und Fortschritte des Unterschieds der Stände und des Ranges 193•
Den Aufklärungen des Autors entsprechen in der geschichtlichen Wirklichkeit die
'Fortschritte'. Der Übersetzer war Kantianer. /
'Fortschritt' gewinnt die Konturen eines unverwechselbaren geschichtlichen Be-
griffs. Das beruht zunächst auf der sprachlichen .Bündigkeit, die das neu geprägte
Wort auszeichnete. Das Wort entbehrte zwar jener Klarheit, die Bewegung und
Zielqualität zugleich erfaßt wiA das englische 'improvement' oder das alte deutsche
Wort 'Verbesserung'. Aber indem 'Fortschritt' die Bedeutung bloßer Bewegung
zunehmAnd dem alten 'Fortgang' überließ, versammelte er in sich die irreversible
Steigerungsfähigkeit zum Besseren mit gleitender Zielbestimmbarkeit.
Dazu kommt der Vorteil des Singulargebrauchs, den der 'Fortschritt' mit seinem
Vorgänger 'Fortgang' teilt. Während der im Französischen vorwaltende Plural -
'les progres' - immer die einzelnen Objekte oder die einzelnen Akte des Voran-
kommens summativ bezeichnete, hatte der deutsche Ausdruck als Singular von

191 Eine ebenso beliebte Übersetzung ·ist das in der ganzen frühen Neuzeit verbreitete

'Verbesserung'. Vgl. auch ERIK ERÄMETBÄ, Adam Smith als Mittler englisch-deutscher
Spracheinflüsse. The Wealth of Nations (Helsinki 1961), 57 f.
192 S. o. Anm. 153.
193 JOHN MILL.AR, Observations Coneerning the Distinction of Ranks in Society (London

1771; 3rd ed. 1779), dt. u. d. T.: Bemerkungen über den Unterschied der Stände in der
bürgerlichen Gesellschaft (Leipzig 1772) sowie u. d. T. : Aufklärungen über den Ursprung
und Fortschritte des Unterschieds der Stände und des Ranges, in Hinsicht auf Kultur und
Sitten bei den vorzüglichsten Nationen (Leipzig 1798). Daß der anonyme Übersetzer der
letzteren Ausgabe Kantianer war, bezeugen seine eingeschobenen Exkurse, etwa mit der
Frage: „Schreitet das Menschengeschlecht stets in der Vollkommenheit fort?" (118 ff.) -
eine Frage, dio weniger, wie von Miliar, sozialhistoriAoh beantwortet wird als unter den
Gesichtspunkten der Naturteleologie und der sittlichen Zwecksetzung. Neuere Über-
setzung nach der engl. Neuausgabe von WILLIAM C. LEHMANN (in: ders., John Miliar of
Glasgow, 1735-1801, Cambridge 1960) von Herbert Zirker (Frankfurt 1967).

387
Fortschritt IV. 4. Von den 'Progressen' zum 'Forts.chritt'

vornherein einen höheren Allgemeinheitsanspruch 194 • Er eignete sich eher zu einem


prägbaren Begriff.
Zu einem geschichtlichen Begriff, der epochale Erfahrungen in sich versammelt,
wird 'Fortschritt' freilich erst, wenn er als Kollektivsingular die Summe aller
Einzelfortschritte in sich bündelt. Vorerst teilt er diese Tendenz noch mit 'Fort-
schreiten' und 'Fortschreitung', die stärker als der 'Fortschritt' die Dauerhaftig-
keit und Allgemeinheit der Aufwärtsbewegung akzentuieren. KANT unterscheidet
in seinem pragmatischen, für das Publikum bestimmten Wortgebrauch gelegentlich,
aber nicht konsequent den (einzelnen) Fortschritt ... zum Besseren vom (dauernden)
Fortschreiten zum Weltbesten bzw. zur Vollkommenheit 195. Ähnlich zieht SCHILLER
diese Ausdrucksweise vor, wenn er zum Beispiel feststellt, der Staat sei kein
Selbstzweck, sondern habe dem Zweck der Menschheit zu dienen, und dieser Zweck
der Menschheit ist kein anderer, als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fort-
schreitung196. In den geschichtsphilosophischen Reflexionen der Klassik, des
Idealismus und der Romantik werden die Ausdrücke nebeneinander verwendet,
um Unterscheidungen zu artikulieren.
Wie der 'Fortschritt' als Kollektivsingular entstanden und zum geschichtlichen
Leitbegriff geworden ist, läßt sich formalisiert beschreiben. Er bildet sich in drei
Phasen, die sich überlappen: zunächst wird das Subjekt des Fortschritts universali-
siert, es bezieht sich nicht mehr auf umgrenzbare Sektoren wie Wissenschaft, Tech-
nik, Kunst usw., die bisher das konkrete Substrat des Fortschreitens waren. Das
Subjekt des Fortschritts wird ausgeweitet zu einem Agens von höchster Allgemein-
heit oder von zwingendem Allgerneinheitsanspruch, dem sich niemand mehr ent-
ziehen kann: Fortschritt der Menschheit - denn wer wäre kein Mensch -, rl1111
Glücks · - denn wer wollte daran nicht teilhaben -, Fortschritt der Moral, des
Geistes, der Kultur, der Gesellschaft, ferner, bereits formaler: Fortschritt der
Zeit 197 und, sehr viel später, Fortschritt der Geschichte.
So wird aus den Geschichten der (einzelnen) Fortschritte der Fortschritt der Ge-
schichte. Im Zuge der Universalisierung tauschen Subjekt und Objekt ihre Rolle.
Dies ist die zweite Phase. Der genitivus subiectivus wird zum genitivus obiectivus:
der Fortschritt übernimmt den führenden Part, er wird selbst zum geschichtlichen
Agens. Die zeitliche Modalität rückt in die Funktion des Handlungsträgers ein.
In einer dritten Etappe verselbständigt sich der 'Fortschritt' zum Fortschritt

194 F.in gut.es Beispiel der Singularisierung bietet KAitL WILIIELM RAMLERS Übersetzung
von CHARLES BATTEUX, Cours de belles-lettres, t. 1(Paris1764 [u. d. T.: Traite des beaux-
arts zuerst ebd. 17461), 133. Dort ist von ces progres der LeidenAoha.ftr.n <liA R.Anr., nie
den Interessen der Vernunft zuwider seien. 1762 überträgt Ramler noch: Können diese
Progressen wohl gleichgültig sein, sie, ·die so oft dem Besten der Vernunft zuwider sind ..• ;
1774 heißt es dann: Kann dieser schnelle Fortgang der Leidenschaften wohl eine gleichgültige
Sache sein, er, der so oft dem Besten der Vernunft zuwider ist; Einleitung in die Schönen.Wis-
senschaften, 2. Aufl., Bd. 1(Leipzig1762), 115; 4. Aufl., Bd. 1(1774),117.
195 KANT, Mutmaßlicher Anfang (s. Anm. 170), 115; vgl. ders., Streit der Fakultäten,

2. Abschn., § 8 (s. Anm. 174), 89.


196 SCHILLER, Die Gesetzgebung des LykurguA un<l Rolon (1790), NA Bd. 17 (1970), 423;

dort auch die Wendungen von der Fortschreitung des Geistes und der Fortschreitung der
Oultur.
197 Fortschritt der Zeit: ebd., 425.

388
IV. 4. Von den 'Progressen' zum 'Fortschritt' Fortschritt

schlechthin, der zum Subjekt seiner selbst wird. Dieser exklusive Wortgebrauch
wird erst im 19. Jahrhundert geläufig, als der Ausdruck zum politischen Schlagwort
wurde. Erst als Schlagwort wird der 'Fortschritt' unverwechselbar, freilich auch
um seine geschichtsphilosophische Redundanz gebracht, die den Begriff erst ermög-
licht hatte.
Die sprachliche Indikation ist zugleich eine sachliche: die Wortschöpfung belegt
einen tiefgreifenden Erfahrungs- und Bewußtseinswandel - und treibt ihn voran.
Der überkommene Erfahrungsraum und der - bislang - daraus abgeleitete Er-
wartungshorizont treten auseinander. Freilich haben sich Erfahrung und Erwartung
seit der Renaissance zunehmend differenziert; aber erst im 'Fortschritt' wird diese
Differenz auf ihren Begriff gebracht. Der 'Fortschritt' und seine Nachbarbezeich-
nungen artikulieren die. AndP.rsll.rtiglrnit. ilP.r Vergangenheit - als schlechter -
gegenüber der Neuartigkeit der Zukunft--,- als besser. Unbeschadet der Qualitäts-
bestimmung liegt in diesem Axiom ilie Erfahrung enthalten, daß die Geschichte sich
nicht mehr wiederhole, sondern einmalig und einzigartig sei. Im 'Fortschritt' wird
die Geschichte als unverwechselbar neu, als „neuzeitlich" erstmals auf ihren Be-
griff gebracht.
Ein untr11glicher.· Reweis für den Dul'Churnch der neuzeitlichen Erwartung, die sioh
von aller bisherigen Erfahrung abzulösen genöti~ sieht, sind die Begründungen
dafür, daß dem so sei. Dem Einwand LICHTENBERGS: Mit dern Fortscli-reiten der
Menschheit zu größerer Vollkommenheit sieht es traurig aus, wenn man die Analogie
alles dessen, was lebt, zu Rate zieht- war nicht leicht zu begegnen 198 • KANT gab zu,
Jaß durch Erfahrung unmittelbar ... die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen
sei. Aber gerade iu der herkömmlichen Skepsis oifor in der Dekaidenzlehre, im
Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung sah er - wie auch Con-
dorcet oder Weishaupt. - nur einen Beweis mehr, daß sich die moralischen Urteile
verschärft hätten, also mehr Stufen der Sittlichkeit bereits erklommen seien. Und
die Beweislast gegen einen Fortschritt suchte er den Vertretern der alten Welt
zuzuschieben: Denn daß dasjenige, was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch
nie gelingen werde, berechtigt nicht einmal, eine pragmatische oder technische Absicht
(wie z.B. die der Luftfahrten mit aerostatischen Bällen) aufzugeben; noch weniger aber
eine moralische, welche ... Pflicht wirdl99 •
Daß sich die bisherigen Geschichten immer gleichgeblieben seien, ist seitdem kein
Einwand mehr gegen die Erwartung, die kommende Geschichte werde ganz anders,
und zwar besser. Die F.nt.ilP.r.lrnne iler Gfümhichte als einmalig und immer neuzeit-
lich sich überholend vollzieht sich im Medium des Fortschrittsbewußtseins, das die
Krise der alten Welt in eine offene und beherrschbare Zukunft zu uberführen sucht.
Wenn freilich mit dieser Erwartung der modernen Krisenerfahrung nicht hin-
reichend Genüge geleistet wird, so widerspricht das nicht dem Befund, daß im Fort-
schritt die Geschichte zum ersten Mal, und zwar als eine offene und genuin mensch-
liche Geschichte, auf ihren Begriff gebracht worden ist. Das bezeugen die Stellen,
wo der Fortschritt ahl kollekLiver Siugular den epochalen Erfahrungswandel indi

198 LICHTENBERG, GW, hg. v. Wilhelm Grenzmann, Bd. l (Frankfurt 1949), 282 f.
1 99KANT, Streit der Fakultäten (s. Anm. 174), 83; ders., Über den Gemeinspruch: Das mag
in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), AA Bd. 8, 309 f.; vgl.
WEISHAUPT, Gesch. d. VerVollkommnung (s. Anm. 160), 196 ff.

389
Fortschritt IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

ziert. So schrieb MONTF.RQTTTF.U: T.,e prof}res peut etre s1: f]rand q?t'il change, pour
ainsi dire, tout le genie de la nature humaine. O'est ce qui /ait que l'homme est si
di/~cile a definir200.
Der 'Fortschritt' deckt, indem er die gesamte geistige Natur des Menschen ver-
wandeln kann, geschichtliche Merkmale auf, die vorher so nicht reflektiert werden
konnten. Der Mensch ist als offenes, nicht festgelegtes Wesen· schwer zu definieren.
Deshalb suchte HERDER 1774 Fortgang und Entwicklung mit den schwer wägbaren
Kräften der Geschichte aufeinander abzustimmen, wenn er sich gegen eindeutige
Richtungsmodelle von Lessing oder Kant wandte, ohne sie völlig in Frage zu stellen.
Wie es 1772 noch rhapsodisch lautet: ... gleichsam nie der ganze Mensch: immer in
Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommnung. Und später differenziert: Den
leisen Gang der Zeit, ihren nie zurückkehrenden Fortschritt, in großen Veränderungen
ihren Wandel- und Kreisgang sollte der Mensch wahrnehmen, um sich darnach selbst
zu zeitigen, d.i. ihm gleichförmig oder zuvorkommend zu leben 201 .
Die auslösende Funktion des 'Fortschritts', den Bedingungen und Bahnen, den
Spannungen und Rhythmen geschichtlicher Bewegung auf die Spur zu kommen,
wird hier ersichtlich. Das gilt auch für SCHILLER, als er den natürlichen Menschen
und seine endliche Vollkommenheit dem sich kultivierenden Menschen konfrontiert,
der seinem unerreichbaren Ziel dauernd zustrebt. Der eine erhält also seinen Wert
durch absolute Erreichung einer endlichen, der andere erlangt ihn durch Annäherung
zu einer unendlichen Größe. Weil aber nur die letztere Grade und einen Fortschritt hat,
so ist der relative Wert des Menschen, .der in der Kultur begriffen ist, im Ganzen genom-
men, niemals bestimmbar20~.
Der Fort~chritt als geschichtliche Erkenntniskategorie bezog sich alim nichL nur,
wie im vulgären Gebrauch üblich, auf den Gesamtverlauf der Geschichte, sondern
bezeichnete ebenfalls die zeitliche Striiktur des Menschen als eines geAchicht.lich
stets sich. überholenden Wesens. Insofern war 'Fortschritt' - im Gefolge der
'Perfektibilität' - auch eine metahistorische Kategorie. Freilich sollte diese Vari-
ante im Laufe des historisierenden 19. Jahrhunderts verblassen, nachdem Hegel
beide Bedeutungen - die der Verlaufskategorie und die des metahistorischen
Strukturmerkmals - noch einmal auf einen gemeinsamen Begriff gebracht hatte.

5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

Wenn 'Fortschritt' erst durch die Verzeitlichung des Perfektionsideals zu einem


geschichtlichen Begriff geworden ist, so betraf da_s, soweit es bisher gezeigt wurde,
die Verwandlung des Erwartungshorizontes. Bisher transzendente Zielvorstellungen

200 MONTESQUIEU, Pensees, Nr. 579. Oeuvres compl., t. 1 (1949), 1075.


201 HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774),
SW Bd. 5 (1891), 512; dazu HANS-GEORG GADAMERS Nachwort zu seiner Ausgabe (Frank-
furt 1967), 146 ff.; HERD ER, Abhandlung iihflr o!ln lTIBprnng der Sprache (1772), SW Bd. 5,
98; ders., Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, 1. Tl.
(1799), SW Bu. 21 (1881), 56. Vgl. SW Bd. 14 (1909), 650 f.; Bd. 18 (1883), 313.
202 SCHILLER, Über naive und aentimenta,lisoho Dichtung (1705/06), NA Bd. 20, 438.

Dazu PETER SzoNDI, Poetik und Geschichtsphilosophie. Zu Schillers Abhandlung „Über


naive und sentimentalische Dichtung", in: KosELLECK/STEMPEL, Geschichte (s. Anm. 28),
402.

390
IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen Fortschritt

wurden in den Vollzug der Geschichte hineingenommen. In den Worten FRIEDRICH


SCHLEGELS, der diese Umbesetzung registrierte: Der revolut·ionäre Wunsch, das
Reich Gottes zu realisieren, ist der ela&t·i&che Punkt der progressiven Bildung und der
Anfang der modernen Geschichte202a. Der in Bewegung geratene Erwartungshorizont
hat die Geschichte dynamisiert. Die „Neuzeit" der Geschichte und ihr Fortschritt
konnten sinngleich verwendet werden. Aber es war nicht nur die veränderte Zukunft,
ihre Öffnung zum Besseren, die im 'Fortschritt' auf d~ Begriff gebracht wurde.
Der Ausdruck indizi~rte ebenso einen neuen, einen veränderten Erfahrungsraum.
Zunächst einmalige, dann überholbare Wirklichkeitserfahrungen haben den Begriff
ebenso geprägt. Deren praktische Anlässe sowie ihre theoretische Verarbeitung
sollen jetzt skizziert werden. ,
Der erst um 1800 entstehende Kollektivsingular 'Fortschritt' versammelte in sich
mannigfache Weisen bereits zurückgelegten 'Fortschreitens'. Diese Fortschritte
bezogen. sich sachlich auf die Küuste urnl Wititiew:mhaften sowie ihre technische
Anwendbarkeit, schichtenspezifisch auf die bürgerlichen Kreise innerhalb der sich
auflösenden Ständegesellschaft, und sie bezogen sich auf die politische und öko-
nomische Entfaltung ganzer Länder und Kontinente. Bevor die Erfahrungen aus
diesen hotorogenen Bereichen auf einen gemeinsamen Regriff gebracht wurden,
tauchen nun Merkmale im W ortgebraueh von 'progres' oder 'Fortgang' auf, die
selten zugleich erscheinen, aber insgesamt zu schildern sind, weil sie alle zur Be-
griffsprägung beigetragen haben und jeweils einzeln abrufbar blieben.
Die Merkmale der sich herausbildenden Fortschrittserfahrung als Erfahrung von
Geschichte schlechthin lassen sich alle, wie SCHLEGEL in seiner Kritik an Condorcet
hAmerkte, auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Das eigentliche Problem der
Geschichte ist die Ungleichheit der Fortschritte in den .verschiedenen Bestandteilen der
gesamten menschlichen Bildung, besonders die große Divergenz in dem Grade der
intellektuellen und der moralischen Bildung. Damit hat Schlegel die Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen angesprochen, deren Spannung „Fortschritt" erfahrbar
machte. Dazu kämen die großen und kleinen Rückfälle und Stillstände, besonders
der große totale Rückfall der gesamten Bildung der Griechen und Römer, den Condorcet
in seiner linearen. Konstruktion heruntergespielt habe 203 • Damit hat Schlegel un-
gleiche Rhythmen der Geschichte angesprochen, so daß 'Fortschritt' an bremsenden
oder gegenläufigen Bewegungen ablesbar wird. Beidesmal artikulierte Schlegel die
zeitliche Modalität eines Hiatus, der aus verschiedenen Folgereihen und ihren
unterscheidba~en Geschwindigkeiten im Verlauf der Geschichte so etwas wie „Fort-
schritt" hervortreibt - ohne daß das Wort schon hätte verwendet werden müssen.
'Fortschritt' bringt dann als Relationtikategurie um 1800 die neuzeitlichen Hiatus-
Erfahrungen auf einen gemeinsamen Begriff.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen konstruiert die jeweils gegenwärtige Er-
fahrung einer Generation, die sich auf bestimmten Gebieten oder innerhalb der
sozialen Schichtung als „vorauseilend" oder als „zurückbleibend" begreift. Inso-
fern unterscheidet ßioh diooo Gloiohzeitigkeit des Ungleichzeitigen von ner figuralen
oder typologischen ·Zuordnung, diA im christlic.hen Mittp,fa]tp,r vergangene und

FRIEDRICH SCHLEGEL, Athenäumsfragm. Nr. 222. SW 1. Abt„ Bd. 2 (1967), 201.


209•
203Ders„ Rez. CONDORCET, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit
humain (1795), SW 1. Abt„ Bd. 7 (1966), 7.

391
Fortschritt IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

gegenwärtige Ereignisse theologisch synchronisiert. Es handelt sich - um den


Abstand zu vorangegangenen christlichen Lehren auszumessen - nicht mehr. um
die Erfahrung einer göttlichen Ökonomie, die nacheinander erfüllt, was überzeit-
lich aufeinander zugeordnet ist, sondern der Fortschritt vollzieht sich in den zeit-
lichen Brechungen ständig neu sich reproduzierender Hiatus-Erfahrungen. Die-
ser neue innerweltliche Befund, daß verschiedene Zeitreihen in dem sich aus-
weitenden Erfahrungsraum aneinander gemessen und progressiv ausgelegt werden,
hindert nicht, daß in der frühen Neuzeit das Fortschreiten weithin noch als pro-
videntielle Veranstaltung begriffen wurde.
Zunächst, im 16. und 17. Jahrhundert, hat sich das Bewußtsein des relativen
Vorausseins nur im partiellen Fortschritt der „scientiae et artes" artikuliert. In den
letzten hundert Jahren, schrieb RAMVs 204, sei man in i111r Rilihmg weiter voran-
gekommen als in den vorausliegenden vierzehn Jahrhunderten. Im 18. Jahrhundert
werden dann alle Bereiche des menschlichen Lebens in diese Perspektive des Fort-
schreitens einbezogen: Das Vorauseilen und Zurücklassen wird zum zeitlichen
Grundmuster aller Geschichte.

a) Wissenschaft und Technik. Unübersehbar wurde im Zeitalter der Renaissance


der FurLschritt der Wissenschaften - progressus scientiarum (BACON) -, der sich
durch Entdeckungen und Erfindungen empirisch einlö1111n ließ. Sc.hießpulver, Buch-
druckerkunst, mechanische Uhren, Magnetnadel, Fernrohr und Mikroskop, die
astronomische Wende des Kopernikus und die Umschiffung des Globus - all das
bürgte dafür uni! wurde häufig beschworen, Ulll uai; Vurangekommenscin gcgenuber
dem Altertum zu belegen. Als Bacon sich daranmachte, die Er:findungskum1t
methodisch zu rationalisieren, stellte er den breiten Graben fest, der sich zwischen
seiner Position und der vorherrschenden scholastisch-aristotelischen Tradition hin-
durchziehe. So artikulierte er einen Hiatus, der Vergangenheit und Zukunft neu
aufeinander zuordnete. Die Irrtümer der Vergangenheit seien die Hoffnungen der
Zukunft. Quot enim fuerint errorum impeilimenta in praeterito, tot sunt spei argumenta
in futurum.
Die bisherige Geschichte der Wissenschaften sei eine einzige Geschichte der Hinder-
nisse, die sich mit der Zeit und durch die Zeit gegen den progressus scientiarum
aufgetürmt haben. Dabei hätten die Alten noch kein Jahrtausend hinter sich ge-
bracht, das - im Sinne der Natur- und Geschichtskunde - historisch genannt zu
werden verdiente. N eque enim mille annorum historiam, quae digna erat nomine
historiae, habebant 205 • Und selbst die zweieinhalb Jahrtausende bisher vergangener
Geschichte kennten bloß drei revolittiones - bei den Griechen, den Römern und den
Westeuropäern-, deren knapp bemessene Zeiträume einen profectus der Wissen-
schaften begünstigt hätten (1,78). Der Fortschritt bestand also bislang aus drei
zeitlich begrenzten Schüben. Nur in den mechanischen Künsten, die auf Natur und
Erfahrung gründen, sei ein kontinuierlicher Aufstieg zu verzeichnen, denn wer sieh
auf die Natur einlasse, könne wie sie und mit ihr waC.lh~en, währenil Mf\innne11n 11inh
bloß v~rändern, ohne Erkenntnisse zu steigern (1,74). Erst dann eröffne sich aber
die Hoffnung auf eine Steigerung der Wissenschaften - tum vero de scientiarum
ulteriora progrcssu spes bene fundabitur - , wenn man nicht nur auf den Nutzen für
264 PETRUS R.Alllus, zit. BuRY, Idea of Progress (s. Anm. 121), 35.
20 5 BACON, Nov. org. 1, 94 (p. 200); 1, 72 (p. 182; s. Anm. 110).

392
b) Kunst und Philosophie Fortschritt

morgen achte, sondern die Ursachen für immer zu erkennen trachte (1,99; p. 203).
Das sei nur möglich, wenn man die Vorurteile abbaue, wenn man den unscheinbaren
Alltag beachte, nicht bloß die Ausnahmen (1,119), wenn die Einzelwissenschaften
und die Naturphilosophie sich einander zuarbeiteten (l,80. 107), und wenn man
sich durch Arbeitsteilung gegenseitig helfe (1,113): dann steigere sich mit den Er-
findungen im einzelnen die Erfindungskunst überhaupt und komme allen Menschen
zugute (1,130).
So entwickelte Bacon seine Fortschrittsperspektive aus zwei Ungleichzeitigkeiten
in seiner Gegenwart. Die Erfindungen der eigenen Zeit stellen die gesamte bisherige
Geschichte in den Schatten, obwohl das WiRRflnRr,haftsverständnis immer noch auf
Aristoteles gründe (1,56): dies ist der eine Hiatus im Blick auf die Vergangenheit.
Zugleich untersucht Bacon die Differenz zwischen den bisher tatsächlich aufweis-
baren, eher zufälligen, Erfindungen und dem von ihm schon begründeten, nur noch
auszulösenden Fortschritt der Wissem10hafLen. Die8 i8L uer :wuere Hiatus im Hin-
blick auf die Zukunft. Es komme darauf an, den Zufall durch Planung zu ver-
drängen, den möglichen Fortschritt der Wissenschaften zu· zeigen und in einen
gesteuerten Progreß der Er:findungen zu überführen. Damit hat Bacon bereits das
Argumcnto.tionomuoter umrimmn, d110 0ieh später nicht nur auf die Wililliensc.hafüm,
sondern auf die 'Geschichte selber' beziehen sollte.
Die Wissenschaften bildeten den Leitsektor, in dem während der Folgezeit 'Pro-
greß' oder 'Progession' laufend registriert werden konnten. Er stiftete einen Zu-
sammenhang, der über Individuen und Generationen hinweg dauernd Neues erö:ff-
net206. In der als transpersonal reflektierten .Erfahrung lag der Ve1·gle1chsmaßstab
für einen Fort0ehritt, der schließlich von den Akademien und gelehrten GllRflll-
schaften als Garanten ständiger Neuentdeckungen befördert werden sollte. So
feierte JOSEPH GLANVILL den Great Body of Practical Philosophers, der in der Royal
Society vereint sei. Er zeigte 1668, daß sich ein Vergleich mit den Alten eigentlich
erübrige, da durch die experimentellen Methoden in allen Naturwissenschaften
völlig neue Wege erschlossen und bereits zurückgelegt worden seien 207 . Auch der
Graben zwischen Forschung und Nutzung wurde im Laufe der Zeit schmaler. Der
Überschritt von den Wissenschaften zu ihrer Anwendung vollzieht sich seit dem
achtzehnten Jahrhundert in immer kürzeren Abständen. Der wissenschaftliche
Fortschritt ging über in den der Industrie und Technik. 1780 konnte die „Deutsche
Encyclopädie" lapidar feststellen: Die Industrie und Arbeitsamkeit ist nun einer inS'
Unendliche fort,gehenden Vergrößerung und Vermannichfaltigung fähig 208•

b) Kunst und Philosophie. Der Wissenschaftsfortschritt hatte vorübergehend auch


die Kunsttheorie inspiriert, für die schönen Künste einen ähnlichen Aufstieg über
das Vorbild der Alten hinaus nachzuweisen. Fontenelle oder Perrault suchten als
Modernisten in der „Querelle des anciens et des modernes" den Erfahrungssatz

908 Vgl. EvGAlt ZILSEL, The Genesis of the Co11cept of Scientific Progress, Journal of tho

History of ldeas 6 (1945), 325 ff.


207 JOSEPH ÜLANVILL, Plus lltro.: or tho Progress and Advancement of Knowledge since
the Days of AristotlA (Lonnon Hi68), 148.
208 Dt. Enc., Bd. 3 (1780), 160, Art. Bedürfnis. Wie wenig die Aufklärung ein dynamisches

Konzept der Wirtschaft zu entwickeln vermochte, zeigt JEAN·FRAN901s FAURE-SOULET,


Economie politique et progres au „siecle des lumieres" (Paris 1964).

393
Fortschritt IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

vom „progres des sciences" auf die Rhetorik und Dichtung, auf Skulptur, Malerei,
Architektur und Musik zu übertragen. Der Streit endete, wie H. R. J auss gezeigt
hat 2 09, in einer Pattsituation, sofern im 18. Jahrhundert beide Lager im Urteil
über die Relativität des Kunstschönen übereinkamen. Daher führte hier die
Debatte über den Fortschritt der Künste zu einer ersten Historisierung, soweit
alle künstlerische Produktion und deren Kritik in ihrer geschichtlichen Bedingtheit
als einmalig erachtet wurden.
Eine empirische Voraussetzung der „Querelle" lag nun in der Aufspaltung der alten
Einheit der ;,scientiae et artes", so daß die beiden Bereiche überhaupt erst ver-
gleichbar wurden 21 0. RR war die Gleichzeitigkeit deR Ungleichzeitigen, die PER-
RAULT artikulieren mußte, als er die verschieden langen Wege der Künste und Wis-
senschaften zur Perfektion diskutierte: les differens degrez de perfection oU ils sont
parvenus dans les differens ~es du monde. Schließlich gab er zu, daß Poesie und
Eloquenz bereits im Altertum auf die Höhe ihrer Kunst· gelangt seien, während
Physik, Ast~onomie, Navigation, Geographie und andere Wissenschaften offenbar
eine sehr viel längere Anlaufzeit gebraucht hätten 211 •
Die große „Encyclopedie", die, sei es aus taktischen Gründen, sei es, weil der Aus-
druck noch kein zentraler Begriff war, dem 'progres' nur einen nichtssagenden
Artikel widmete, hat gleichwohl die Hiatus-Fragen der „Querelle" ihrer Geschichts-
theorie zugrunde gelegt. Im Unterschied zur Systematik der Wissenschaften und
Künste kenne deren Geschichte völlig verschiedene Phasen ihres Fortschreitens.
Les progres de l'esprit hätten in der Renaissance mit der Gelehrsamkeit begonnen,
die sich dem Gedächtnis widme. In den Künsten blühten zuerst Skulptur und Ma-
lerei, weil die Vorbilder die Sinne spontan ansprechen konnten, während die helles
lettres, Dichtung und Musik - stärker der Einbildungskraft verhaftet - eine
längere Anlaufzeit hätten zurücklegen müssen. Endlich hole jetzt, im 18. Jahrhun-
dert, die Philosophie ihren Rückstand auf: La Philosophie, qui forme le goat dominant
d~ notre siecle, semble par les progres, qu' elle fait parmi nous, vouloir reparer le temps
qu'elle a perdu 212 • Dehalb konnten die Enzyklopädisten auch zuerst davon sprechen,
daß die großen Philosophen der vergangenen Jahrhunderte ihrer Zeit weit voraus-
geeilt seien. Als Vorkämpfer werden sie zu Zeitgenossen der Aufklärung.
So entwarfen n' ALEMBERT und Diderot mit sensualistischer Begrifflichkeit ein an-
thropologisches Raster, das die unterschiedlichen Bedingungen aller bisherigen
Fortschritte aufzeigen sollte. Jede Kunst und jede Wissenschaft hat ihre eigenen
Zeitabläufe. Von den Zonen sinnlicher oder geistiger Fähigkeiten her gingen ver-
schieden schnell zu verarbeitende Impulse aus, die die ungleichen Entfaltungspha-
sen der Wissenschaften und Künste in. ihrer chronologischen Gleichzeitigkeit er-
klären. Mit dem Ausweis dieser ihrer hiatischen Erfahrungsstrukturen suchten die
Enzyklopädisten den Fortschritt, ohne den Kollektivsingular zu verwenden, ge-
schichtstheoretisch .abzusichern.

2 oe JAuss, Ästhetische Normen (s. Anm. 123), passim.


210 PAUL OsKAR KrusTELLER, The Modern System of the Arts. A Study in the History of
Aesthetics, Journal of the History of Ideas 12 (1951), 496 ff.
211 PERRAULT, Parallele (s. Anm. 123), 369. 186 ff.

212 n'ALEMBERT, Discours preliminaire de l'Encyclopedie, hg. v. Erich Köhler (Hamburg


1955), 110. 170.

394
c) Moral und Gesellschaft Fortschritt

Fr~ilich zögerten Diderot und d' Alembert, die ihre Edition unter dem Zeitdruck
einer drohenden Katastrophe sahe11, den Erfahrungssatz des Fortschritts auch auf
Moral und Politik auszudehnen. Hier zeigten sie sich, nicht zuletzt unter der Her-
ausforderung Rousseaus, skeptisch: Les leUres contribuent certainement a rendre la
Societe plus aimable; il §erait difficile de prouver que les hommes en sont meilleurs, et la
vertu plus commune 213 •

c) Moral und Gesellschaft. Die Frage, ob mit und durch den wissenschaftlichen
Progreß auch Moral, Sitten und schließlich die ganze Gesellschaft und damit die
Politik sich verbesserten, wurde aufgeworfen, sobald sich der wissenschaftliche
Fortschritt anmeldete. Die Beantwortung dieser Frage betraf, mehr als alles andere,
Kirche und Staat unmittelbar, denn die Konsequenz forderte eine Verwissenschaft-
lichung auch von Gesellschaft und Politik, womit sich die Zuständigkeiten ver-
schieben, die Entscheidungspositionen umbesetzt werden mußten. Wegen der prä-
ventiven Zensur konnten daher Fortschrittsgewißheit für den gesellschaftlich-
politischen Bereich und Äußerungen darüber bis ins 18. Jahrhundert auseinander-
klaffen.
BoDIN desavouierte offen die Lehre vom Paradies bzw. dem goldenen Zeitalter, aus
dem sich die Menschheit zunehmend entferne. Vielmehr legten die Menschen - bei
kreisläu:figer Natur- den umgekehrten Weg zurück, nachdem sie sich langsam aus
Barbarei und Wildnis befreit hätten: quousque paulatim ab illa feritate ac barbarie
sunt ad hanc, quam videmus, morum humanitatem ac legitimam societatem revocati 214 •
DACON sieht, zu.rückha.ltender und am1pruchßvollcr, den Nutzen der Erfindungen
nur im außerpolitischen Raum - etenim inventorum beneficia ad universum genus
humanum pertinere possunt - , Neuerungen der bürgerlichen Verfassung seien da-
gegen wie diese selbst räumlich begrenzt und zeitlich befristet, zudem mit Gewalt
und Unruhen verbunden, die es zu meiden gelte. Descartes teilte verschwiegen,
BAYLE offen diesen Standort, demzufolge das Postulat des Fortschreitens aus dem
Politischen ausgespart bleiben solle 215 •
HoBBES hatte den klaffenden Hiatus zwischen dem Fortschritt der Naturwissen-
schaften und dem daraus abgeleiteten Nachhinken der Moral klar formuliert. In
„De cive" gliederte er die Wissenschaften und folgerte aus dem Vorsprung, den die
Geometrie bisher gewonnen, daß die Morallehre dementsprechend aufzuholen
habe 216 • Auch sie müsse auf die Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit geometrischer
Sätze gebracht werden. Seitdem ist diese Herausforderung, die der Asymmetrie
zwischen wissenschaftlicher Entfaltung und nicht adäquater moralischer Beherr-
schung entsprang, Dauerthema der Fortschrittsdiskussion geblieben. Sei es, daß
GLANVILL aus dem Fortschritt der. experimentellen Wissenschaft den Rückgang
aller weltlichen oder christlichen Vorurteile ableitet: so it will in its progress dispose
men's spirits to more calmness and modesty, charity and prudence 217 , sei es, daß J,ocKE

213 Ebd., 190.


214 Bonm, Methodus (s. Anm. 109), 226 b.
m ßACON, Nov. org. 1, 129 (p. 221); BAYLE 4e ed., t. 2 (1730), 379 f., Art. Eppendorf.
Dazu REINHART KosELLECK, Kritik und Krise, 2. Aufl. (Freiburg, München 1969), 213 :ff.
216 HoBBES, De cive, Widmung an Devonshire (verfaßt 1641), Opera, t. 2 (Ndr. 1961),

137 ff.
21 7 GLANVILL, Plus tntra, 149.

395
Fortschritt IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

die Regeln der Moral auch mit mathematischer Gewißheit stabilisieren zu können
glaubte 218 , sei es, daß man eine Universalsprache anstrebte, um die Regeln der
Kommunikation allen Kontrahenten durchsichtig zu machen, sei es, daß der
ABBE DE ST. PIERRE forderte, man dürfe die Entdeckungen nicht den Geometern
überlassen 219 • Es gab kein Gebiet des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder poli-
tischen Lebens, das er nicht mit seinen Verbesserungsvorschlägen bedachte, beson-
ders dem projet pour faire faire ala Science du Gouvernement un beaucoup plus grand
progrez en peu de temps qu'elle n'a fait jusqu'ici 220 • Schließlich meinte CoNDORCET,
seit Locke würden Moral, Politik und Staatswirtschaft einen fast ebenso sicheren
Weg zurücklegen wie die Naturwissenschaften, so daß in Zukunft l'art social, die
Gesellschaftsplanung 221 , mathematisierbar werde - ein Programm, das Comte
mit seiner „physique sociale" durchzuführen suchte. Und noch heute untersuchen
Soziologen Rückständigkeitsphasen unter dem Begriff des „cultural lag" mit dem
Programm, sie aufzuholen.
Kritisch und provokativ kann im gleichen Befund auch die Verzögerung betont
werden: Aus bekannten Ursachen erfolgte indessen die ebenso bekannte Wirkung, daß
- bei dem schnellsten Fortschritte der Kultur in einzelnen Künsten und Wissenschaf-
ten, die von der Erfindsamkeit, der Betriebsamkeit, dem hartnäckigen Fleiß und dem
Wetteifer, den die Mitbewerbung hervorbringt, abhangen - die höchste Kunst aller
Künste, die königliche Kunst, Völker durch Gesetzgebung und Staatsverwaltung in
einen glücklichen Zitstand zu setzen und darin zu erhalten, verhältnismäßig am wei-
testen zurückgeblieben ist (WIELAND) 222 • Die Argumentationsfigur hat sich nicht
verändert, wenn ein Jahrhundert spater DuMONT schreibt: Die Fortschritte der
l1:m:li.~(1,tinn wn.r,h.~f'/YI, (JlP.ir:h.~(1,m fr1, (JP.nm.etr?:.~r:her Prnure.~M:on, während der ü1,nere Fnrt-
schritt in arithmetischer Reihe nachhinkt223 •
Es läßt sich als Strukturmerkmal der Fortschrittsbegri:fflichkeit bezeichnen, daß
dieser Hiatus zwischen wissenschaftlich-technischer Steigerung und ihrer moralisch-
politischen Bewältigung verschieden besetzbar bleibt. Wir sind zivilisiert bis zum
Überlästigen, schrieb KANT 1784, aber itns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt
noch sehr viel. Indes, versicherte er zehn Jahre später, die sittliche Anlage der Mensch-
heit, die . . . ihr immer nachhinkt, wird sie, die in ihrem eil/ertigen Lauf sich selbst
verfängt und oft stolpert, ... dereinst überholen 224 •
Entweder wird die Differenz als aufholbar betrachtet - wobei die utopische Er-
wartung die Erfahrung leitet-, oder die Spannung wird als unauflösbar erachtet -
wobei die bisherige Erfahrung alle Erwartungen begrenzt. Hegel suchte - nach

218 LOCKE, Essay on Human Understandning 4, 12: „Of the Improvement of Our

Knowledge"; Works, vol. 3 (1823), 84.


219 CHARLES IRENEE ÜASTEL DE ST. PrnRRE, Ouvrajes de politique, t. 2 (Rotterdam, Paris

1733), 238.
220 Ders„ Ouvrajes politiques [sie], t. 6 (Amsterdam 1734), 313.

221 CoNDORCET, Esquisse (s. Anm. 134), 268 f. 376 f.


222 WIELAND, Kosmopoliten-Orden (s. Anm. 152), 223.

uua DuMUN'l', Der Fort~chritt im Lichte U!ll' Lehren Schopeuhauen; uuu Darwim1 (1870),
zit. WALTER Rom.FING, Fortschrittsglaube und Zukunftshoffnung im Wilhelminischen
Deutschland (phil. Diss. Göttingen 1955; Mschr.), 143.
224 KANT, Idee zu einer allg. Gesch., 7. Satz (s. Anm. 156), 26; ders., Das Ende aller Dinge

(s. Anm. 173), 332.

396
d) 'Fortschritt' und Menschheit Fortschritt

Herder - als erster diesen Hiatus als abstrakte Konstruktion des Fortschrittsglau-
bens zu entlarven.

d) 'Fortschritt' und Menschheit. Nur wo der Fortschrittsbegriff auch den gesell-


schaftlich-politischen Bereich als zum Besseren tendierend erfaßt, läßt sich im
strengen Sinn „Fortschritt" als geschichtsphilosophische Kategorie definieren.
Erst dann verliert er seinen sektoral begrenzten Sinn und wird zum Leitbegriff, um
Geschichte insgesamt auslegen zu können.
Neben Turgot sind es vor allem die schottischen Moralphilosophen, die empirisch
gesättigt die verschiedenen Weisen des Fortschreitens, des progress of reason, of
knowledge, of mechanical arts, of civilisation, of society miteinander in Beziehung
setzen, so daß ihnen der FurLschritt, wie II. Medick gezeigt hat 225 , zum regulativen
Prinzip geschichtlichen Erkennens und zukünftiger Planung wird.
Die globn.lc Hintergrundsfigur für alle Zuordnungen des Fortschmit.imR iRt <lie
Menschheit, wie DuGALD STEWART sagt: the progress of mankind towards the perfec-
tion of the social order 226 . Für jeden geschichtsphilosophischen Gesamtentwurf ist
nun das Leitmotiv jener HiaLu1:1, der ilie rnen1:1chliche Gattung als hypothetisches
Subjekt des Fortschritts von vornherein differenziert.
Die Entdeckung der Menschheit als einer empirisch einlösbaren Gesamtheit war
zugleich die Entdeckung des „Wilden". Kaum daß der Fortschritt der Navigation
und mit ihr der weltweite Handel.,...-- in Bonrns Worten 227 - die Respublica mundana
verheißt, schon wird das genus humanum hiatisch geschieden. Für BACON gliedert
sich, und das war die Erfahrung aller seefahrenden Zeitgenossen, die Gattung in
gleichzeitig lebende Völker verschiedener Kulturstufen. Blicke man vom zivilen
Europa auf das barbarische Amerika, so ?.eige sich,. daß der Mensch dem Menschen
ein Gott sei: non solum propter auxilium et beneficium, sed etiam per status compara-
tionem228. Damit ist die Hiatusthematik des geschichtlichen Fortschritts ange-
schlagen, die seitdem - bis zur heutigen Herausforderung der Entwicklungsländer
und Entwicklungshilfe ,..,..- nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Völker, Länder und
ganze Kontinente werden verglichen, um aus dem Kontrast Anregung oder Beweis
für den eigenen Fortschritt zu gewinnen. HOBBES sah in dem Wunsch der Englän-
der, das holländische Vorbild einzuholen, einen Stachel zum Bürgerkrieg 229 • TuRGOT
entwarf mit der geographie politique das räumliche Gegenstück zu einer Fortschritts-
philosophie, um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf dem Globus zu bele-
gen. Die Triade der fortschrittlichen Europäer, der stagnierenden Chinesen und
der rückständigen Primitiven ist im ganzen 18. und 19. Jahrhundert geläufig.
WIELAND erblickte 1788 in Europa den Weltteil, worin die Kuünr a?tjs höchste ge-
stiegen, und der durch seine immer fortschreitende Ausbilihtng die unendliche Ober-
macht über die übrigen Völker des Erdbodens gewonnen habe. Auf immer sei Europa

225 HANS MEDICK, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die

Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft


bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith (Göttingen 1973), 151 ff.
22& D. STEWART, zit. ebd., 164.
227 BoDIN, Methodus, 228a.

22s BACON, Nov. org. 1, 129 (p. 222; s. Anm. llO).


229 HoBBES, Behemoth or the Long Parliament (1682), EW vol. 6 (1840), 168; TURGOT,

Plan d'un ouvrage sur lageographie politique (1751), Oeuvres, t. l (1913; Ndr. 1972), 255 ff.

397
Fortschritt IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

der herrschende Kontinent geworden. KANT drückte sich ähnlich, wenn auch vor-
sichtiger aus 230 • Condorcet sah den Fortschritt vorzüglich von den Angelsachsen
und Franzosen vollstreckt, und auch Hegels Lehre von den Volksgeistern, die sich
in der Führung der Weltgeschichte einander ablösen, thematisiert diese Hiatus-
Struktur einer progressiv auslegbaren Geschichte.
Immer wird die temporale Perspektive geographisch verortet und dann religiös,
ethnisch, rassisch usw. angereichert. Das Argumentationsmuster, das Erfahrung
zugleich ermöglicht und beschränkt, kehrt vom 'Kolonialismus' über den 'Impe-
rialismus' bis zur 'Koexistenz' wieder. Im 19. Jahrhundert wird der arischen Völ-
kfirfa,mi:liP. cfü1 H P-rrscha,ft der Erde zugesprochen, alle iibr1:gen steh.en tief itnter ihr. Das
Streben nach Vervollkommnung sei ein typisch arischer Zug, der Arier allein will den
l!'ortschritt der Zivilisation. Deshalb sei der arische Geist, wie BLUNTSCHLI 1857 fort-
fährt, berufen, ... die Herrschaft der Welt ... zu übernehmen und die restliche Mensch-
heit zur Zivilisation zu erziehen. Die Geschichte hat der arischen Völkerfamilie diese
Aufgabe gesetzt, und mit der Pflicht zu ihrer Erfüllung auch das Recht dazu verliehen 231 •
So wird die menschliche Gattung, zunächst das hypothetische Subjekt des Fort-
schritts, kraft der hiatischen Erfahrungsperspektive aufgespalten und ein „rück-
ständiger" Teil zum Adressat von Herrschaftsansprüchen. Ohne auf das geogra-
phische Gefälle der Fortschrittsphasen verzichten zu können, zieht MARX - drei
Jahre vor Bluntschli - die Linie in die Zukunft, als er den ökonomisch führenden
Völkern die Aufsicht über die Produktion und deren weltweite Verteilung zuweist:
Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den
Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen
Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der
menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen,
der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte 232 .
Auch an scheinbar peripheren Stellen erfordern dje fortschrittlichen Relationsbe-
stimmungen ihre territoriale Rückbindung. So sagte DrnsTERWEG · 1844 von der
modernen Schule, die sich gegen alles Hierarchische, Bevormundende und dergleichen
richtet, daß sie fraternisiert und sympathisiert . . . mit allem, was sich bewegt, sich
entwickelt., verändert, fortbildet, lebt. Es ist das Prinzip des Fortschritts. Wir könnten
es das geographisch-europäische oder amerikanische, das Gegenteil (die dogmatische
Methode) das asiatische Prinzip nennen2aa.
Unbeschadet seiner beliebigen Besetzbarkeit liefert der auf hiatische Erfahrung an-
gelegte Satz von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen einen Legitimationstitel
für politische Führung. Die menschliche Gattung ist als Subjekt und Adressat des
Fortschritts, solange es den Hiatus als Bedingung des Vprauseilens oder des Nach-
und Aufholens gibt, eine geteilte Menschheit. Damit gewinnt, wo der Fortschritt der
einen Menschheit bemüht wird, das Argument zugleich einen ideologischen An-

230 WIELAND, Kosmopoliten-Orden (s. Anm. 152), 223; KANT, Idee zu einer allg. Gesch., 9.

Satz (s. Anm. 156), 29.


231 JoH. CASPAR BLUNTSCHLI, Art. Arische Völker und arische Rechte, BLUNTSCHLI/BRA-

TER Bd. 1 (1857), 319. 322. 330 f.


232 KARL MARX, Die künftigen Ergebni1111e d11r hrit.iRoh11n H11rrRohaJt in Tndi11n (1853),

MEW Bd. 9 (1960), 226.


233 ADOLPH DIESTERWEG, Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer (1834; 4; Aufl.

Essen 1851), gekürzter Ndr., hg. v. Julius Scheveling (Paderborn 1958), 165.

398
e) 'Fortschritt' und soziale Schichten Fortschritt

spruch, dessen Einlösung in die Zukunft vertagt wird, wodurch sich dieser Fort-
schritt ins Unendliche reproduzieren läßt. Auch hier war es Hegel, der als erster den
abstrakten, den ideologischen Charakter dieses Begriffs durchsbhaut hat.

e) 'Fortschritt' und soziale Schichten. Nicht nur im Hinblick auf die mensch-
liche Gattung, auch in der staatlich verfaßten Gesellschaft zielt der Begriff des
Fortschritts auf zeitlich verschieden einzustufende Schichten, deren Bewegungs-
verläufe als schneller oder langsamer erfahren und gedeutet werden. Deshalb
lassen sich Gruppen, die sich unter dem Begriff des Fortschritts selbst bestim-
men, leicht ideologiekritisch zuordnen, sei es, daß sie sich aufstrebend in ein
evolutionäres Schema einpassen, sei es, daß sie kämpferisch eine revolutionäre
Bewegung vorantr~iben. Der Begriff des Fortschritts ist, je nach Kontext, in beiden
Varianten verwendbar.
BossuET ,sprach von Gott11R VorR11h11ne, cfüi allr, familiären und regionalen Lebens-
einheiten dahin treibe, sich in großen Königreichen zu vereinen 234 : dies seile pro-
gres naturel du gouvernement; die Modernisten grenzten sich progressiv gegen den
Versailler Hof ab, von dessen Ruhm sie ihre Argumente bezogen. -· Der 'progress'
der schottischen Moralphilosophen kompensierte durch seinen geschichtlichen Bil-
dungsauftrag den industriellen Rückstand und Aufholbedarf gegenüber England 235 •
Das Fortschrittsprograww seines „neuen Systems der rolitik" forderLe 81·. PIERRE
mit einem durchlässigen Erziehungs- und Wahlverfahren zu erfüllen. Die Ober-
klasse ( classe superieure) solle endlich ergänzt werden aus der nachdrängenden
Klasse, kraft der Verdienste dans la classe immediatement inferü~1tre 236 . n' ARGENSON
vergleicht die unterschiedlichen Bewegungsverläufe, les progres der Aristokratie und
(lf,r Demokratie, innerhalb des französischen Staates und sieht in dem sich anbah-
nenden Bündnis des Königs mit der Demokratie das wünschenswerte antifeudale
~rgebnis der bisherigen Geschichte: Progres de la democratie en France selon notre
histoire 237 . Für ÜONDORCET schien es gewiß, daß nach Einführung der Gleichheit,
wenn erst einmal dank aufgeklärter Erziehung alle Sprachbarrieren niedergelegt
seien, die Leute seinesgleichen, die Aufklärer selbst zur Regierung gebeten werden
- die Menschen würden dann freiwillig confier aux plus eclaires le soin de les gu'u-
verner238.
In Deutschland stellte sich KANT die Frage, in welcher Ordnung allein ... der Fort-
schritt zum Besseren erwartet werden könne, und antwortete: Nicht durch den Gang
der Dinge von unten hinauf, sondern den von oben herab. Der Staat müsse, sich selbst
reformierend und so Revolution vermeidend, den Fortschritt überlegt planen 239 •
FICHTE, für den der gan:r.e Fortgang des Menschengeschlechts unmittelbar vom Fort-
gang der Wissenschaften abhing, übertrug deshalb die Führungsaufgabe dem Ge-

234 JACQUES BENIGNE BossuET, Politique tiree des propres paroles de l'ecriture sainte,

Oeuvres compl., ed. Abbe Guillaume, t. 8 (Paris 1887), 354.


235 Vgl. die Belege bei JAuss, Ästhetische Normon (o. Anm. 123), 10 und MEDICK, Natur-

zustand, 141.
236 ST. PIERRE, Ouvrajes, t. 6 (s. Anm. 219), 314 f.
237 RENE LOUIS n'ARGENSON, Considerations sur le gouvernement ancien et present de la

France (Amsterdam 1765), 113. 130. 135. 158 f. .


2 38 CoNDORCET, Esquisse (s. Anm. 134), 362.

239 KANT, Streit der Fakultäten, 2. Abschn., § 10 (s. Anm. 174), 92.

399
Fortschritt IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

lehrtenstand: Seine Bestimmung ist die oberste Aufsicht über den wirklichen Fortgang
des Menschengeschlechts im allgemeinen und die stete Beförderung dieses Fortgangs.
Infolgedessen ordnete er die verschiedenen Stände auf einer progressiven Zeitskala
ein. Der Gelehrte, der die Fortschritte der übrigen Stände überwachen und befördern
.soll, muß ihnen deshalb immer zuvor sein, um für sie den Weg zu bahnen . . . und sie
auf denselben zu leiten24o.
'Sozialhistorisch gesättigter sieht WEISHAUPT in dem neuen Mittelstand - unser
ganzer Mittelstand ist inzwischen entstanden - den Stimulator der Vervollkomm-
nung. Er stellt die Lehrer und Führer aller übrigen Stände, er treibt Industrie, Öko-
nomie und Handel voran - aber es kann noch die Zeit kommen, wo die niedrigeren
V olksclassen die höheren verbessern • . . Die in der Zwischenzeit aus ihrem Nichts her-
vorgegangenen Stiinde werden durch andere nachkommende selbst weiter gedruckt wer-
den; ein Stand wird wie eine Welle auf die andere drucken und sie vorwärts treiben;
einer wird den anderen nötigen, weitei· tu rücken~ 41 - womit Weishaupt die progres-
.sive Abschichtung aus dem ständischen Erfahrungsraum von 1788 in die Zukunft
fortschrieb. Die prätendierte Führungsposition wird dann jeweils neu besetzbar,
wie später von der „Avantgarde des Proletariats" (Lenin).
'Die Hiatus-Erfahrung einer sich umschichtenden GeRellRchaft eiht a.lRo - wie im
globalen Maßstab - die Positionen für eine neue Elite frei, die sich die Erziehungs-
und Führungsaufgaben progressiv zumißt. Wie der Aufklärungsbegriff wird der
Fortschrittsbegriff in actu zum Elitebegriff. Er präsentiert den Anspruch derer, die
sich den anderen überlegen, voraus wissen oder die sich genötigt sehen, die anderen
einzuholen und zu überholen. Daher blieb der Ausdruck immer abrufbar im kom-
menden Erfahrungsraum der technisch-industriellen Revolution mit ihren sozialen
Auf-, Ab- und Umschichtungen.

f) Das hypothetische Subjekt des Fortschritts und dessen Beschleunigung. Alle


bisher geschilderten Erfahrungen eines Hiatus zwischen dem wissenschaftlich-
technischen Fortschritt und einem moralisch-sozialen oder politisch-gesellschaft-
lichen Fortschritt sind, das hat sich gezeigt, bereits eingefärbt von dem progressiven
Erwartungshorizont. Nüchterne Beobaehtung und utopisches Wunschbild haben
sich gegenseitig imprägniert. Insofern läßt sich die heuristisch vorgenommene Tren-
nung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nicht rigoros durchhalten.
'Gleichwohl wird deren Differenz von der Fortschrittsphilosophie thematisiert. Sie
·entwickelte geschichtliche Theoreme, um die Spannungen zwischen zeitlich ver-
schiedenen Abläufen unter sich und mit dem Dauerziel der Vervollkommnung zu
vermitteln.
Zunächst war es einsichtig, daß niemals die empirisch vorgegebene Menschheit das
:Subjekt des Fortschritts sein könne, sowenig wie der Fortschritt ein und derselben
Schicht, einem bestimmten Land oder einem Kontinent verbunden bleibt. Deshalb
wurde als Subjekt ein elastisches Substrat konstruiert, das den jeweiligen Fort-
schritt auf seiner Seite hat. Soweit nicht die überkommene Vorsehung oder eine an
deren Stelle tretende teleologische Natur dafür sorgten, daß es immer aufwärts gehe,
wurde ein hypothetisches Volk eingeführt, das als beweglicher Zuordnungspunkt

·240 FICHTE, Über die Bestimmung des Gelehrten (1794), AA Bd. 1/3 (1966), 54 f.
241 WEISHAUPT, Gesch. d. Vervollkommnung (s . .Anm. 160), 185 f. 212 f.

400
f) Das hypothetische Subjekt des Fortschritts und dessen Beschleunigung Fortschritt

einen kontinuierlichen Aufstieg sicherte. Notwendigerweise mußte CONDORCET,


um seinen Beweis anzutreten, Tatsachen aus den Geschichten vieler Völker zusam-
mentragen und miteinander kombinieren, puur en l'irer l'kislu-ire hypotltel'iq'ue d',un
peuple unique, et former le tableau de ses progres 242 • Das auserwählte Volk wurde
zum rationalen Konstrukt. Später wird der Weltgeist Hegels den Zusammenhang
stiften und die sich einander ablösenden Volksgeister fortschreitend vermitteln.
Theoretisch lassen sich die geschilderten Fortschrittserfahrungen auch als perspek-
tivische Täuschung auslegen, etwa wenn PASCAL durch alle Veränderungen hin-
durch das Gleichbleiben des Menschen betont: Tout ce qui se perfectionne par progres
perit aussi par progres 243 • Um die Kontinuität des Fortschritts zu retten, bedurfte
es einer Hintergrundgeschichte, auf der dann alles, was progressiv deutbar ist,
addiert werden konnte. Der Fortschritt lebt gleichsam von einer verdoppelten
Geschichte. Einzelne Ereignisse und Geschichten mögen wirr und konfus sein, in
der Peri:!pekLive deH ForLHehriLLH werden· HelbHL KaLasLl'Upheu Ulld RevuluLioueu
Vehikel allgemeiner Besserung. Generell dürfe gesagt werden, daß Schicksals-
schläge in der Gegenwart von Übel, im Effekt aber gut seien, cum sint viae com-
pendiariae ad majorem perfectionem . . . Atque hoc est, fährt LEIBNIZ das christliche
Motiv ins Weltliche kehrend fort, quod diceres retrocedi ut majore nisu saltum facias
in anteriora (qu'on recede pour mieux sauter)2 44 •
Mit diesem Argumentationsmuster ließ sich eine fortschrittliche Richtung allemal
durchhalten. So konstruierte Turgot seine Fortschritte, aber auch Iselin, Wieland,
die Schotten oder Kant, indem gerade die blinden Triebe und die Zerrüttungen im
Gefolge der Bedürfnissteigerung die Wege zur Zivilisierung freigelegt hätten. Seit-
dem wurden auch dem finsteren Mittelalter progressive Funktionen zugedacht -
alles Argumente, die im Medium des Fortschritts Kontinuität und Einmaligkeit
der Geschichte erkennen ließen.
Nur im Streit entgegengesetzter Begierden und Vorstellungsarten offenbart l}ich die
Vernunft, so folgerte FoRSTER 1790 und fügte, gleichsam auf dem Weg von Kant
zu Hegel, hinzu, daß eine globale Verfassung des gesamten Menschengeschlechts die
sittliche Vervollkommni,,ng verhindern werde, da dann alle agonalen Entwicklungs-
triebe verkümmern245.
Ließ sich in der Form einer ideal verdoppelten Geschichte die Richtung zum Besse-
ren, zum Vernunftgemäßen konstruieren, so folgte aus der Einblendung hiatischer
Zeiterfahrungen in die progressive Linie ein weiterer Satz: der Satz von der Be-
schleunigung.
Zunächst war die Zeitverkürzung eine eschatologische Kategorie (Math. 24,22), sie
verwieH auf die Beschleunigung der Ereignisse vor dem Weltende. Übertragen auf
die irdische, geschichtliche Zukunft konnte die Kategorie als Säkularisat begriffen
werden, etwa wenn LESSING den Schwärmern bestätigt, sie täten oft sehr richtige
Blieke in die Zukunft: nur er wünscht d·iese Zukunft beschleuniget; und wünscht, daß
sie durch ihn beschleuniget werde 246 • Die Wünschbarkeit der Beschleunigung, die

242 CoNDORCET, Esquisse, 38.


243 PASCAL, Pensees, Nr. 88. Oeuvres (s. Anm. 112), t. 13 (1921), 17.
2 4 4 LEIBNIZ, Derer. orig. rad. (s. Anm. 119), 150.
245 GEORG FoRSTER, Ansichten vom Niederrhein (1790), Werke, Bd. 9 (1958), 128.
2 4 6 LESSING, Erziehung (s. Anm. 157), 434.

26-90386/l 401
Fortschritt IV. 5. Fortschrittserfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen

Lessing noch in die millenarische Tradition einrückte, ließ sich freilich korrelieren
mit einem neuen Erfahrungskern: die Anwendung wissenschaftlicher Entdeckungen
auf Industrie und Technik, aber auch die steigenden Kurven der Bevölkerungsver-
mehrung - was Comte betonte -, zeugt~n von verkürzten Zeitrhythmen, die den
Alltag verwandelten.
BACON hatte vorausgesagt, daß die Erfindungen sich beschleunigen würden: Itaque
· longe plura et meliora, atque per minora intervalla, a ratiorpe et directione et intentione
hominum speranda sunt 247 , LEIBNIZ konnte diesen Satz in seinem „Discours touchant
la methode de la certitude et l'art d'inventer pour finir les disputes et pour faire en
peu de tcmps des grands progr6s"248 bereits mit mehr Anseh11uung füllen, und
ADAM SMITH schließlich wies nach, daß der progress of society in jener Zeitersparnis
enthalten sei, die sich aus zunehmender Arbeitsteilung in der geistigen und mate-
riellen Produktion und aus der Erfindung von Maschinen ergebe 249 . Seitdem hat
sich dieser Topos durchgesetzt.
Der Satz, daß „Fortschritt" sich beschleunige, beruhte aber nicht nur auf dem Er-
fahrungsstreifen aus der Arbeitswelt, er wurde geschichtsphilosophisch zur Regel
erhoben. Bereits Leibniz suchte ihn auf das politische Geschehen auszudehnen. Für
RoussEAU beginnt damit die eigentliche Geschichte: Ces premie1·s progres m-irent
a
enfin l'homme portee d'en faire de plus rapides. KANT endlich nutzt die Sentenz, um
sich der kommenden Weltfriedensorganisation zu vergewissern : weil die Zeiten, in
denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden 250 , - womit er
die Wünschbarkeit wieder zugestand. LUDWIG BücHNER, für den der Rückschritt
nur örtlich und zeitlich, der Fortschritt aber dauernd und allgemein ist, fand es 1884
gar nicht mehr erstaunlich, wenn heutzutage der Fortschritt eines Jahrhunderts dem
von Jahrtausenden in früherer Zeit gleichkommt, denn gegenwärtig bringe fast jeder
Ta.g Neues hervor2s1.
So pendelt der Topos von dem sich beschleunigenden Fortschritt zwischen Erfah-
rung und utopischer Hoffnung hin und her. Denknotwendig folgt er schließlich aus
der Zielbestimmung allgemein gleicher Vollkommenheit. Denn wenn sie allen Men-
schen gleicherweise zuteil werden soll, wie etwa Turgot, Condorcet, Comte oder
Kant forderten, dann muß cette inegalite de progres 252 , die heute zwischen rückstän-
digen Wilden und zivilisierten Europäern herrsche, auf die Dauer ausgeglichen wer-
den. Das aber gelingt nur, und ein Gleiches gilt für den immer wieder konstatierten
Hiatus zwischen Wissenschaft und Moral, wenn der Aufholbedarf beschleunigt ge-
stillt wird.
Wenn zu beiden Sätzen: daß sich alle hiatischen Bewegungen zur einen und unum-

BACON, Nov. org. 1, 108 (p. 207; s. Anm. 110).


24 7
248LEIBNIZ, Discours touchant la methode de la certitude et l'art d'inventer, Philos. Sehr.,
hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 7 (Berlin 1890), 174 ff.
249 ADAM SMITH, An Inquiry into the Nature and Causes ofthe Wealth ofNations 1, 1 ff.

(Ausg. London, New York 1950), lO u. ff. Vgl. l, 3: „Of theDifferent Progress ofOpulence
in Different Nations".
860 RoussEAU, Dit!CUUL"l:! (t!. Anm. 140), 107; KANT, Zum ewigeu Frieden (l 79G), AA Dd. 8,

. 386.
261 L. BÜCHNER, Der Fortschritt in Natur und Geschichte im Lichte der Darwin'schen

Theorie (Stuttgart 1884), 30. 34.


262 TURGOT, Premier discours sur J'histoire universelle (s. Anm. 132), 277.

402
IV. 6. Hegel: Fortschreiten als Prozeß Fortschritt

kehrbaren Geschichte des Fortschritts zusammenfinden und daß dieser Vorgang


sich beschleunige, um 1800 eine neue .Position hinzugefügt wurde, so war es fol-
gende: das hypothetische Subjekt des Fortschritts sollte durch Planung in das
wirkliche Subjekt des Fortschritts verwandelt werden. Das aber setzt voraus, daß
das bisherige Tempo geschichtlicher Abläufe gesteuert und so weit beschleunigt
wird, daß ein weltweiter Ausgleich im Namen einer sich selbst verwaltenden
Menschheit erzielt werden könne. Es wird zur Aufgabe der Gegenwart, die
hypothetische Hintergrundgeschichte des Fortschritts nunmehr zur realen Zu-
kunftsgeschichte zu machen. Bisher übermenschliche Geschehensabläufe, die
durch die Menschen hindurch diese auf die Bahn der Progression drängten, sollen
jetzt planbar, schließlich produzierbar werden. In dieser geistesgeschichtlichen
Situation hat sich um 1800 der Ausdruck 'Fortschritt' durchgesetzt. Als Begriff
summiert er frühneuzeitliche Erfahrungen und erschließt zugleich einen Erwar-
tungsraum, den auszufüllen ein Gebot bewußter Tat wird. Insofern ist 'Fortschritt'
sowohl ein allgemeiner Geschehens- wie ein elitärer Handlungsbegriff.
Geschichte und Tat aber konnten im Sinne gegenseitig sich stimulierender Progres-
sion nur aufeinander bezogen werden, weil 'Fortschritt' zugleich eine erkenntnis-
leitende Kategorie geworden war (vgl. oben S. 383). Ocs obscrvations, sur cc quc
l'homme a ete, sur ce qu'il est aujourd'hui, conduiront ensuite aux moyens d'assurer et
d' acc&erer les nouveaux progres que sa nature lui permet d' esperer encore 263 •

6. Hegel: Fortschreiten als Prozeß

HEGEL hat die bisher nebeneinander verwendeten Bedeutungen des Fortschritts


als Verlaufsbestimmung, als Handlungskategorie, als Strukturmerkmal der Ge-
schichte und als Erkenntnisbegriff zusam:mengedacht. In seiner „Geschichte der
Philosophie" und seiner „Philosophie der Weltgeschichte" zeigte er die Innen- und
Außenseite desselben Geschehens : der Bewegung des Geistes, der sich selbst hervor-
bringt und zugleich in konkrete historische Gestalten hinein entäußert. Sein Leben
ist Tat 254 • Dabei hat Hegel die bisher transhistorisch gesetzten Ziele restlos in den
Vollzug der Geschichte hineingenommen. Den Zweck in sich haben heißt, sich damit
der Geschichte fähig ... machen 265 • Die hiatisch verzerrten Strukturen werden zu-
rückgebunden in eine Dialektik konkreter Situationen, deren zeitlicher Vollzug eine
wirklichkeits- und rechtsstiftende Funktion erhält. Fortschritt und Geschichte
konvergieren seitdem in der Kategorie des Prozesses. Deshalb kritisierte Hegel drei
Positionen, die bisher das Konzept des Fortschritts ermöglicht, aber dessen Ver-
zeitlichung noch nicht konsequent bedacht haben.
Zunächst wendet sich Hegel gegen die christliche perfectio-Lehre, die nur eine jen-
seitige Erfüllung kenne, daher alles irdische Tun als Vorbereitung begreife und zuni
Mittel degradiere. Dagegen gelte es zu erkennen, daß das sich selbst hervorbringende

253 CoNDORCET, Esquisse, 28.


2 54 HEOEL, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, hg. v. Johanne11 Ho:lfmeister,
3. gekürzte Aufl., hg. v. Friedhelm Nicolin (Hamburg 1959; Ndr. 1966), 13.
2 56. Ders„Die Vernunft in der Geschichte, 5. Aufl;, hg. v. Johannes Ho:lfmeister (Hamburg

1955), 166.

403
Fortschritt IV. 6. Hegel: Fortschreiten als Prozeß

Bewußtsein des Absoluten in der Geschichte aufgeht, daß es wirklich die W eltge-
schichte regiert und regiert hat 256 •
Eng damit zusammen hängt - zweitens - Hegels lebhafte Polemik gegen jegliche
Vorstellung der Perfektibilität. In der Tat ist die Perfektibilität beinahe etwas so Be-
stimmungsloses als die Veränderlichkeit überhaupt; sie ist ohne Zweck und Ziel 251 •
Durch lauter quantitative Vergleiche depraviere man das Heute, um sich auf ein
Morgen einzustimmen, das sich ins Unendliche verflüchtige. Das Höchste scheint das
Verändern zu sein, ohne daß man einen Maßstab für die Veränderung besäße 258 :
Aus dieser Position folgte - drittens - die Ablehnung aller hiatischen Deutungs-
muster. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist
auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen,
irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individium
überspringe seine Zeit 259 • Wer eine andere Zukunft anstrebe, wolle nur eine andere
Gegenwart 260 , und wer_ das Bollen gegen die Wirklichkeit ausspiele, verfehle diese
selbst 261 .
In Anbetracht dieser Einwände verwundert es nicht, daß Hegel 'Fortschritt' als
Kategorie vergleichsweise selten verwendet'. Der kritisierte Kontext führte zu einem
LehuL.iameu Wu.rLgeLrauelt, Hegel Levu.r:wgLe 'Fu.rLgaug' oue.r 'Fu.rL;mlt.reiLeu', Le-
sonders 'Entwicklung' und speziell 'Prozeß'. Diese Ausdrücke waren eher geeignet,
die Spannung zwischen Bewahren und Verändern - in CoMTES Programm zwischen
ordre und progres 262 - auf ihren Begriff zu bringen. Denn nur wenn Wechsel und
Dauer aufeinander bezogen werden, läßt sich so etwas wie Fortschritt begreifen. Es
war Hegels Absicht, die fortschreitenden Bewegungsweisen der Geschichte kon-
kreter zu begründen als bisher. Und im Zuge dieser Begründung integrierte Hegel
den 'Fortschritt' einem prozessual gefaßten Begriff der Geschichte.
DaR imigt, r.. R. Rflinfl Kritik an 1fom iihflrkommflnfln Zwiewpa,lt zun:.~r,hen Moral 11,nd
Politik. Der Hiatus beruhe auf einem irrigen Formalismus. Man frage gern, ob die
Menschen im Fortschreiten der Geschichte und mit ihr der Bildung aller Art besser ge-
worden, ob ihre Moralität zugenommen habe. Diese Frage-verfehle die Weltgeschichte,
die sich auf einem höhern Boden bewegt, als ihn die Privatgesinnungen der Indivi-
duen erreichen. Widerstand gegen politische. Handlungen, die der Fortschritt der
Idee des Geistes notwendig machte, mag sittlich hoch einzuschätzen sein 263 • Aber mo-
ralische Postulate, deren Erfüllung zugegebenerweise in der Unendlichkeit liege,
machen aus der Wirklichkeit ein bloßes Provisorium, einen Zwischenzustand. Die
Moralit,ät, imhre rlavon, <laß Fort.~r,hrei:ten zm V ollendnng wen1:gsten.~ sei:n .~oll - aber

2 68 Ders., Vernunft, 182; vgl. ders., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte,

hg. v. Georg Lasson, Bd. 4, 2. Aufl. (1923; Ndr. Hamburg 1968), 854.
237 Ders., Vernunft, 149; ders., System der Philosophie, 1. Tl. SW Bd. 8 (1929), 157.

25s Ders., Vernunft, 150.


259 Ders., Rechtsphilosophie, Vorrede. SW Bd. 7 (1928), 35; ders., Einleitung, 72. 125. 278.

260 Ders., Einleitung, 279.


261 Vgl. Ono MARQUABD, Hegel und das Sollen, in: ders., Schwierigkeiten mit der Ge-

sohiohtsphilosophio (Fmnkfurt 1073), 37 ff.


262 AUGUSTE CoMTE, Discours sur l'esprit positif (1844), hg. v. Iring Fetscher, 2. Aufl.

(Hamburg 1966), 20 ff. 42 f. 114 ff.


zea HEGEL, Vernunft, 170 ff.

404
IV. 6. Hegel: Fortschreiten als Prozeß Fortschritt

dapiit zeige sie nur, daß es in Wirklichkeit nicht ist. Hegel wollte dagegen den Fort-
schritt in seinem Vollzug, das Fortschreiten der Geschichte begreifen264 •
Die häufig zitierte und weiterwirkcndc Formel lautet lapidar: Die Weltgeschichte ist
der FortschriU im Bewußtsein der Freiheit - ein Fortschriu, den wir in seiner Not-
wendigkeit zu erkennen haben 265 . Der Weg, den der Geist zurücklegt, ist für Hegel ein
Stufengang, auf dem sich die Menschen mit zunehmendem Bewußtsein ihrer Frei-
heit versichern und so in der Welt einrichten. Es komme darauf an, daß sich der
sich selbst wissende Geist zu einer vorhandenen Welt verwirkliche 266 . Durch diesen
Fortschreitungsgang des allgemeinen Geistes 267 unterscheidet sich die Geschichte von
der sich ewig wiederholenden Natur. Die Weltgeschichte ist also überhaupt die Aus-
legung des Geistes in der Zeit, wie sich im Raume die Idee als Natur auslegt ... In der
Natur macht die Gattung keine Fortschritte, im Geist aber ist jede Veränderung Fort-
schritt268. Insofern verwendet Hegel den 'Fortschritt' als Verlaufskategorie, genauer
als qualifizierenden Richtungobcgri:ff, womit er eich von üblichen Verwendungsarten
aber noch nicht spezifisch unterscheidet.
Auch der naturalen Entwicklungsmetaphorik bediente sich Hegel gern, etwa des
Bildes v~m Keim und der Frucht oder der Lebensalter, in denen sich die Bildung
des Bewußtseins vollziehe. Die Volksgeister werden so natural begriffen, daß sie ab-
sterben können 269 , oder, wenn der Weltgeist aus ihnen fortgeht 270, daß ein Volk sich
dann nur mehr fortsetzt oder fortschleppt 271 , ohne am weltgeschichtlichen Fortgang
teilzuhaben. Der Weltgeist als Träger und Vollfitrecker des geschichtlichen Fort-
schreitens entzieht sich abernaturaler Metaphorik, hier ist der Vergleich unmöglich 272 .
Deshalb bedient sich Hegel auch gcgcnoinnigcr religiöser Vergleiche, etwa wenn er
von der Verjüngung des Geistes, von seiner Läuterung spricht 273 • Damit zielt Hegel
auf die unaufhörliche Spannkraft des Geistes, auf seine Aktuos1'.tät274 - histori1mh
gewendet: dieser Geist ist das Prinzip der Neuzeitlichkeit, einer sich stets aufs neue
hervorbringenden neuen Zeit.
So rückt Hegel den Fortschritt in eine andere Sinnzone. Er ist nicht nur eine Ver-
laufskategorie, die den Stufengang der Weltgeschichte - als unterschieden von der
Natur - bezeichnet. Er ist zugleich ein Strukturmerkmal für Geschichte selber.
Der sich durch das Bewußtsein und den Willen der Menschen hindurch verwirkli-
chende Geist entwickelt sich nur in hartem, unendlichem Kampf gegen sich selbst, : ..
in harter, unwilliger Arbeit gegen sich selbst 275 . In Kampf und Arbeit produziert der
Geist die Widerstände, kraft deren Bewältigung er voranschreitet. Durch die Lösung
seiner Aufgabe scha0t er sich neue Aufgaben, wobei er den StoO seiner Arbeit verviel-

264 Ders., Phänomenologie ue1:1 GeisLes, SW Bd. 2 (Ndr. 1964), 477.


285 Ders., Vernunft, 63.
288 Ebd., 74.

287 Ebd„ 100.

288 Ebd„ 153 f.

ZG9 Ebd„ 155. 67.


270 Ebd„ 96.

m Ders., H.echtsphilosophie, § 347, Anm. SW Bd. 7, 450.


212 Ders„ Vernunft, 157.
273 Ebd„ 35.

274 Ebd„ 74.

275 Ebd., 152; ders„ Einleitung, 64.

405
Fortschritt IV. 6. Hegel: ·Fortschreiten als Prozeß

fältigt 276 • Dieser Geist ist zugleich Antriebskraft und Vellzugsweise des Fortschritts.
Als Antriebskraft ist er letztlich immer derselbe, nur daß er sich in verschiedenen
Gestalten zunehmend konkretisiert und insofern enLwickelt. Die Vollzugsweise, das
Fortleitende ist die innere Dialektik der Gestaltungen 277 - eine Dialektiki die sich aus
der Abfolge der endlichen Formen ergibt, in die hinein sich der unendliche Welt~
geist jeweils entäußert und die er deshalb auch wieder verlassen muß. .
In .der Spannung zwischen Affirmation und Negation, die den Sog in die noch nicht
gegenwärtige Zukunft auslöst; vollzieht sich Geschichte als Fortschritt. Das
Ziel ... , daß der Geist zum Bewußtsein seiner selbst komme oder die Welt sich gemäß
mache - denn beides ist dasselbe 278 , ist dabei immer präsent. Dies Ziel ist eine auf
Zukunft angelegte Gegenwärtigkeit.
Hegel integriert also den Fortschritt in die wirkliche Geschichte auf eine Weise, daß
der Zweck - das Selbstbewußtsein der Freiheit - jede Bewegung auslöst und lei-
tet. Der Begriff für diese Geschichte, die sich nur durch ihr Fortschreiten auf dem
Wege zur immer schon aufgetragenen Freiheit weiß, ist der 'Prozeß'. Die unendliche
Natur des Geistes ist der Prozeß seiner in sich, nicht zu ruhen, wesentlich zu produzieren
und zu existieren durch seine Produktion 279 • Dieser Prozeß, dem Geiste zu· seinem
Selbst, zu seinem BegriUe zu verhelfen, ist die Geschichte 280• Die Verlaufsbestimmung
ist zugleich das dauerhafte Strukturmerkmal des sich selbst produzierenden und
damit Recht in die Wirklichkeit einstiftenden Geistes: sein Sein ist der absolute
Pruzeß2s1.
Hegel hatte es insofern auch nicht mehr nötig, über die Zukunft der forfamhrr.itimden
Geschichte zu spekulieren: einmal auf dem geschichtlich sich bewegenden Stand-
punkt der sich selbst produzierenden Vernunft angelangt, hat er das Prinzip der
fortschreitenden Geschichte erfaßt und konnte es sich versagen, über den Inhalt
kommender Geschichte - etwa über Amerika, in dem er die Welt der Zukunft
erblickte 282 - konkrete Aussagen zu riskieren. Auch wenn seine Totalität nie als
Einheit vorhanden ist, sondern nur als Vollständigkeit im Verlauf der Entwicklung
... existiert 283 , bleibt der Geist durch alle Entzweiungen und Vermittlungen hin-
durch derselbe. Deshalb kann Hegel davon sprechen, daß das Fortschreiten kein
Unbestimmtes ins Unendliche sei, sondern auch Rückkehr in sich selber . .Also ist
auch ein gewisser Kreislauf da, der Ge'ist sucht sich selbst 284 •
Hier ist zweifellos das Erbe der Offenbarungstheologie präsent. Die formale Wider-
sprüchlichkeit, die damals gerne bemüht wurde, um Fortschritt und Kreislauf
zusammen zu denken, dient dazu, Ursprung, Weg und Ziel auf einen gemeinsamen
Begriff zu bringen. Geschichte ist als fortschreitende Geschichte immer einmalig:
im einzelnen und im Ganzen. Beidesmal geht es um dasselbe - die Freiheit ist .~ich

278 Ders., Vernunft, 35.


277 Ders., Einleitung, 126; vgl. MANFRED RIEDEL, Fortschritt und Dialektik in Hegels
Gesc~chtsphilosophie, Neue Rundschau 80 (1969), 476 ff.
278 HEGEL, Vernunft, 71..
279 Ders., Einleitung, 100 f.
280 Ders., Vernunft, 72.
281 Ebd., 74.
282 Ebd., 265.

283 Ders., Einleitung, 130.


284 Ders., Vernunft, 181; vgl. ders., Einleitung, 111.

406
V. 1. Die Lexikonebene FortsehritL

der Zweck, den sie ausführt, - woraus sich die Richtung erii.bt: nämlich die Welt im'
steigenden Bewußtsein der Freiheit sich anzuverwandeln. Dieser Weg ist in Hegels
Terminologie auch ein Fortgang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit; was der
Geist an sich ist, soll er für sich werden 2 85. ·
Damit hat Hegel jene Forderung verzeitlicht, die den bisher hypothetischen Fort-
schritt zum praktischen Modus der künftigen Geschichte zu machen trachtete. Nur
daß Hegel diesen zunächst als einmalig gedachten Umschlag ausfaltet zur dauer-
haften Modalität geschichtlicher Bewegung, der es - vereinfacht gesprochen -
darum geht, die immer als möglich vorhandene Freiheit auch zu verwirklichen: die
Zeitenwende von 1800 erhebt er gleichsam zum elastischen Prinzip der Geschichte
überhaupt. Der Fortschritt geht auf in der Geschichte als Prozeß, den der Geist
mit sich selbst anstrengt. Deshalb kennt Hegel für dessen Fortgang auch keine
Beschleunigung mehr. In ihrem Prozeß wird die wirkliche Geschichte als Vollzug
dcG Rcchta bogriffen, das sich allein im fortschreit,enden Rllwnßt.Rflin nr.r Freiheit
verwirklichen kann2sa.

V. 'Fortschritt' als Leitbegriß" im 19. Jahrhundert

l. Die Lexikonebene

Es scheint ein erstaunlicher Befund zu sein, daß die Lexika und Enzyklopädien des
19. Jahrhunderts 'Fortschritt' als Terminus nicht registrieren. KRUG hat in seinem
philosophischen Handwör'Lerliuuh uen Begriff zum letzten' Mal, und zwar afo
Kollektivsingular, aufgeführt und im kantischen Sinne vulgarisiert: Im Ganzen
aber steht das Menschengeschlecht, wie die Welt überhaupt, unter dem allgemeinen
Gesetze der Entwickelung, vermöge dessen alles im Fortgange oder Fortschritte be-
griffen ist 287 . Ansonsten wird nur 'Progression' fachspezifisch erläutert oder 'Pro-
greß' gelegentlich -wie im HERDER (1856) - mit 'Fortschritt, Wachstum' über-
setzt288. Erst im historischen Rückblick - von EISLER und EuoKEN 289 - oder in
sprachkritischer Absicht - von MAUTHNER 290 - wird der Begriff wieder aufge-
nommen. Dazwischen schweigen die Lexika, selbst Rotteck, Bluntschli oder
Wagener haben auf das Stichwort verzichtet. Dieser Negativbefund zeigt, daß der
Ausdruck nicht mehr zu einem für Geschichte und Politik theoretisch anspruchs-
vollen ,Begriff aufgerückt ist - trotz seiner allseitigen Verwendung. Anders gesagt,
das Reflexionsniveau des deutschen Idealismus wurde verlassen, aber der Ausdruck
lebte weiter - als politisches Schlagwort und als unbefragter, ubiquitärer Leit-
begriff. ·
Das bezeugen .die wenigen, aber eindringlichen lexikalischen Ausnahmen: Am
Vorabend der 48er Revolution veröffentlichten RoTTEOK/WELOKER m emem

285 DerR„ Vernunft, 64.


288 Ders., Einleitung, 63 ff.
287 KRuu Bd. 2 (1827), 54; 2. Aufl., Bd. 2 (1833), 60.
288 HERDER Bd. 4 (1856), 621.
289 E1sLER 4. Aufl., Bd. 1 (1927), 444 ff.; EucKEN, Geistige Strömungen (s. Anm. 116),

206 ff., bes. 213 ff.


290 MAuTHNER (s. Anm. 2), 507 ff.

407
Fortschritt ·V. 2. 'Fortschritt' als Schlagwort

Supplement einen Artikel über den 'gesetzlichen Fortschritt' 291 . Er fordert ver-
schlüsselt zur Revolution auf. Danach erscheinen aus konservativer Sicht kritische
Schlagwortanalysen, etwa in MEINHOLDS „Babylonischer Sprachen- und Ideen~
verwirrung der modernen Presse" (1848) 292 oder in REICHENSPERGERS „Hülfs-
büchlein" über „Phrasen und Schlagwörter" (1862, 1863 und 1872) 293, dann von
MEYER und LADENDORF historisch aufbereitet und ergänzt 294 . Wenn also der
Terminus behandelt wurde, so nur in unmittelbar politischer oder in historisch-
kritischer Absicht. Erst im 20. Jahrhundert taucht 'Fortschritt' im BROCKHAUS
tind im MEYER auf295.

2. 'Fortschritt' als Schlagwort

'Fortschritt' gewann Schlagwortcharakter, sobald der Ausdruck für sich selbst ver-
wendet wurde, ohne klare Bindung an ein bestimmtes Subjekt oder Objekt. Seit
den 1830er Jahren breitete sich dieser Wortgebrauch aus 296 . Er indiziert eine Zeit,
in der die Verfassungsfragen durch die hinter ihnen hochdrängenden industriellen
und sozialen Probleme neue Lösungen erheischten. Mit der Zeit fortzuschreiten
und sich ihren Bedürfnissen anzupassen oder sie hervorzurufen, gehört schon bei
den preußischen Reformbeamten zu den stehenden Redewendungen, die dann von
ihren Kritikern aufgegriffen wurden, etwa von Hansemann, oder wenn MARX 1843
einen Schritt weiterging und eine die Bewegung sieuemde Demokratie forderte:
Der Fortschritt selbst ist dann die Verfassung 297 •
Bald folgte die politische Lyrik mit der Polemik, z.B. GRILiiPARZERS gegen die
Fortschritt-Männer 298 oder der provokative 8pot,t, von GT.ARRRRli1NNER 1844: Immer
langsam voran! Immer langsam voran, /Daß der deutsche Michel nachkommen kann!/
Der Fortschritt, der nimmt a:Uch gar kein End;/ s'ist, als ob der liebe Gott die Polizei

291 RoTTECK/WELCKER Suppl.Bd. 2 (1846), 441 ff., Art. Gesetzlicher Fortschritt.


292 WILHELM MEINHOLD, Die babylonische Sprachen- und Ideenverwirrung der modernen
Presse, als die hauptsächliche Quelle der Leiden unserer Zeit (Leipzig 1848). Neben der
Gewissens-, Glaubens-, politischen- und Pressfreiheit· wird der Fortschritt (30 :ff.) be-
handelt.
293 REICHENSPERGER 3. Aufl. (1872), 38 :ff.
294 RICHARD M. MEYER, 400 Schlagworte (Leipzig 1900), 62 ff.; LADENDORF (1906),

87 f.
295 BROCKHAUS 15. Aufl., Bd. 6 (1930), 410; BROCKHAUS, Enz., Bd. 6 (1968), 430; MEYER
9. Aufl., Bd. 9 (1973), Hl4.
296 Vgl. die Belege bei LADENDORF und MEYER (s. Anm. 294) und BOISTE 8e ed. (1835),

577 mit den Neubildungenprogresseur, progre88ibiliti und progressible (s. Anm. 137).
297 MARx, Kritik des Regelsehen Staatsrechts (1843), MEW Bd. 1 (1956), 259. Belege für

den Sprachgr,hraunh der preußischen Reform und der Kritiker der Bürokratie: REINIIART
KosELLEOK, Preußen zwischen Reform und Revolution (Stuttgart 1967), 160. 361. 392.
445. 569. üü4: beiue Lager· !JeI'iefen sich auf den Fortschritt. 1848 bis 1851 erschien in vier
Nummern eine Zeitschrift „Der Fortschritt", hg. unter Mitwirkung. freisinniger Männer
(Dessau; in westdt. Bibliotheken nicht erhältlich).
298 FRANZ GRILLPARZER, Fortschritt-Männer (1847), SW, hg. v. B. Frank u. K. Pörn-

bacher, 2. Aufl., Bd. 1 (München 1969), 311; vgl. ebd., 449. 505. 543.

408
V. 3. Das empirische Substrat Fortschritt

nü:ht kennt! 299 In der Revolution wurde dann ironisch gefordert, Freiheit, FortschriU
und Entwicklung; jedes dreißigtausend Mal stereotypiert in der Staatsdruckerei
bereit zu halten 300, und MEINHOLD bestätigte: Jeden Tag predigt auch jede Zeitung
ohne Ausnahme den Fortschritt, und die Menge blöke wie eine Hammelherde bä, bä, bä,
d. h. zu deutsch Fortschritt dreimal hinterher 301 . Nur das neue Wort Errungenschaft
sei noch weit dümmer 302.
Die Fungibilität des Ausdrucks und die Dehnbarkeit seiner Bedeutungen bestätigte
ein Abgeordneter im Frankfurter Parlament. Es gebe zwei Prinzipe, auf denen die
ganze Grundrechtsdebatte fuße: des Fortschreitens und der Nationalität ; .. Was man
unter Fortschritt verstanden und wie weit man mit dem Fortschritte gehen will, das könnt"
aber nur aus dem jeweiligen Diskussionszusammenhang erschlossen werden 303 •

3. Das empirische Substrat

Im Maße als der 'Fortschritt selber' alle Lebensbereiche zu erfassen - MEINHOLD


unterscheidet den religiösen, moralischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, socialen
und politischen Fortschritt3 0 4 - und somit für sich selbst zu sprechen schien, gehörte
er zu den Gemeinplätzen der Sprache. Dabei stand für alle Zeitgenossen ein Fort-
schritt außer Zweifel: in Wissenschaft, Technik und Industrie. Er bildete das
ernpiriseh stäwlig einlösbare Subst,rat, das die Eingängigkeit des Schlagwortes und
alle daraus gezogenen Folgerungen abschirmte. Die sichere Begründung der Natur-
kenntnis verweise - wie einst die Reformation - den Aberglauben . . . in immer
engere Räume; die Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Telegraphen bringen, wie einst
die Druckerkunst und die erweiterte Schiffahrt, eine Beschleunigung, eine Verbreitung,
eine Gemeinsamkeit aller einzelnen Fortschritte hervor, die zum Vorteile der allgemeinen
Zivilisation selbst die Zeiten und Räume besiegt - so versicherte GERVINUS, indem
er den kollektiven Fortschritt wissenschaftlich und technisch radizierte 305 •
Noch lauter frohlockte 1838 der BROCKHAUS, als er die brausenden Dampfkolosse .
besang. Sie führten beschleunigt <;lie neue Weltperiode herbei, in der sich die Völker
zum einen friedlichen Reich der Sittlichkeit und Freiheit zusammenfänden. Nach
diesem wahrhaft göttlichen Ziel hat die Geschichte zwar von jeher ihren Lauf gerichtet,
doch auf den stürmend vorwärts rollenden Rädern der Eisenbahnen wird sie es um Jahr-
hunderte früher erreichen 306 •

299 ADOLF GLASSBRENNER, Der deutsche Michel beim Fort.schritt. (1844), in: Der deutsche

Vormärz, Texte und Dokumente, hg. v. Jost Hermand (Stuttgart 1967), 107.
soo zit. LADENDORF (1906), 87.
ao1 MEINHOLD, Sprachenverwirrm1g, 30. 41.
302 Ebd„ 42; vgl. dazu ERICH MATTHIAS/HANSJÜRGEN SCHIERBAUM, Errungenschaften.

Zur Geschichte eines Schlagwortes unserer Zeit (Pfaffenhofen 1961).


303 Abg. FRH. v. LINDE, Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 1 (1848), 702. Im ganzen taucht

aber in dieser Grundsatzdebatte der Ausdruck kaum auf.


304 MEINHOLD, Sprachenverwirrung, 30.

so• GEORG GoTTFR. GERVINUS, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhun-
derts (Leipzig 1853), 167.
306 BROCKHAUS, CL Gegel).wart, Bd. 1 (1838), 1136. 1126, Art. Eisenbahnen. Das Fort-

schrittspathos im BROCKHAUS, Die Gegenwart, Bd. 10 (1855), 312 ff. ist bereits etwas
gedämpfter.

409
Fortschritt V. 4. Fortschritt als Katego~e einer Ersatzreligion

Jenseits aller Emphase blieb der „materielle" Fortschritt unbestritten. So hat


RANKE zwar die geschichtsphilosophischen Folgerungen zusammengestrichen, als
er sich grundsätzlich fragte, wie der Begriff „Fortschritt" in der Geschichte a'Ufzu-
fassen sei. Aber ein unbedingter Fortschritt ist anzunehmen, so weit wir die Geschichte
verfolgen können, im Bereiche der materiellen Interessen, . . . in allem, was sich
sowohl auf die Erkenntnis als auf die Beherrschung der Natur bezieht. Ansonsten
gewichtet Ranke die Epochen nach tendenziellen Schwerpunkten, in moralischer
Hinsicht aber läßt sich der Fortschritt nicht verfolgen, fügt er als Christ hinzu, um
hier jeden Aufholbedarf als irrig abzuweisen.
Die Rückwirkungen der technisch-industriellen Neuerungen auf die ganze Welt
waren nun viel zu stark, als daß sie nicht ebenfalls unter dem Begriff eines Fort-
schritts erfaßt worden wären. Selbst Ranke konzedierte, in der Expansion der
Menschheitsidee und ihrer Kultur einen unbedingten Fortschritt sehen zu können 307 .
Als Beispiel für die Anwendung technisch-wissenschaftlicher Erfindungen auf das
Wirtschaftssystem und für den daraus abgeleiteten sozialen Fortschritt sei
FRIEDRICH LIST genannt. Er sah jede gesellschaftliche Organisation unter dem
Zwang fortzuschreiten; England war ihm das Vorbild, das einzuholen die Heraus-
forderung für alle Nationen darstelle. Nur wer Rchneller gehe als andere, komme auf,
geht er langsamer, so ist sein Untergang gewiß. Technischer Vorsprung löst Konkur-
renz, Konkurrenz den Fortschritt aus, und List fügte auch die Garantieformel
hinzu, die den Fortsohritt auf Dauer sichert: Es lebt kein Sterblicher, dem gegeben
wäre, die, Fortschritte künftiger Jahrhunderte in den Erfindungen und in den gesell-
schaftlichen Zuständen zu ennessen. Vorsorglich vermutete er, daß die geraue lll'-
fundene Agrikulturchemie die Ertragfähigkeit des Bodens vielleicht noch ver-
zehnfachen werde3os.
Es wurde zum allgemeinen Erfahrungssatz der wissenschaftlich-technischen Er-
findungen, daß sie weitere Fortschritte verheißen, ohne sie im voraus berechnen
zu können. Die Unerfahrbarkeit des künftigen Fortschritts wurde gleichsam
empirisch verifiziert - eine Wendung, die erst im Raum der bereits zurückgelegten
technischen Produktionsprozesse überzeugen konnte, Gerade seine kalkulierbare
Unbekanntheit gewann Beweiskraft für das tatsächliche Eintreten dieses Fort-
schritts. So wurde der f:lmpirische Kern des Fortschrittsbegriffs im 19. Jahrhundert
erhärtet. Die Zukunftshoffnung, die sich nicht von der überkommenen Erfahrung
irritieren lassen dürfe - dieses früher einmal religiöse, dann antichristliche Postulat
des vergangenen Jahrhunderts-, wurde jetzt durch den sich reproduzierenden Fort-
schritt bestätigt. Wissenschaft und Technik haben den Fortschritt als zeitlich
progi;essivc Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung stabilisiert.

4. Der Fortschritt aJs Kategorie einer Ersatzreligion

Der szientifische Erfahrungskern, der aus der Unvorhersehbarkeit des Fortschritts


seine Gewißheit ableitete, reicht nun keineswegs hin, die enorme Redundanz des

007 LEOPOLD V. RANKE, Über die Epochen der neueren Geschichte (1854), Aus Werk und

Nachlaß, hg. v. Walther Peter Fuchs u. Theodor Sehleder, Bd. 2 (München, Wien 1971),
54. 68. 79.
308 FRIEDRICH LIST, Das nationale System der politischen Ökonomie, 3. Aufl. (1844),
Schriften, Bd. 6 (1930), 229. 365. 169.

410
V. 4. Fortschritt als Kategorie einer Ersatzreligion Fortschritt

Begriffs zu erklären, der das gesamte geschichtliche Leben zu erfassen beanspruchte.


Bei der Bildung des Begriffs lag im Fortschritt enthalten, daß er nicht nur als
teleologis<.lhes Prinzip die Geschichte durchwalte, sondern ebenso, daß er nur durch
die Reflexion auf diese Geschichte erkannt - und auch vorangetrieben werden
könne. Der Fortschritt war seit der Wortprägung immer zugleich objektive Ge-
schehens- und subjektive Handlungskategorie. Die subjektive Rückversicherung,
daß man an diesen Fortschritt auch glauben müsse, um handeln zu können, greift
nun im 19. Jahrhundert um sich. Sprachlich wird dabei der schlagwortartige
Kollektivsingular vorausgesetzt, inhaltlich gewinnen dessen Bedeutungen Züge
einer säkularen Religion der Selbstgewißheit.
Schon FoNTENELLE hatte darauf verwiesen, wie nützlich es sei, sich eine von aller
Erfahrung abgelöste, bessere Zukunft einzubilden3 09 • lsELIN bekannte treuherzig,
daß die waehsende Vollkommenheit vielleicht nur ein schmeichelnder Traum sei, aber
zu tröstl,ich, als daß man ihn so le·icht fahren lassen könnte 310 . Selbstsicher leitete
WEISHAUPT aus dem Glauben an das Besserwerden die Gewißheit ab, daß es auch
wirklich besser werde 311 • GöRRES schließlich publizierte im „Rothen Blatt" 1798
sein politisches lllaubensbekenntnis: lch glaube an ein immerwährendes Fort-
schreitend.er Mensch.he.# zum Idea.l.e der .Knlt11.r wnil H11,mnm.itiil.. DiA HApräRAntll.tiv-
verfassung garantiere e_inen Fortschritt, der sich über die Demokratie hinweg der
Herrschaftslosigkeit annähere 3 rn. KJtuG rilllkLe 1833 iu Jie i.weiLe Auflage seines
Wörterbuches den Glauben an diesen Fortschritt ein, der uns selbst immer zum wirk-
lichen Fortschreiten antreibt 3 13 •
MuNDT beschwor 1835 die nicht unterdrückbare Bewegung der Gesinnung, sie stelle
den allgemeinen Grund des Fortschritts dar, auf dem die bisher mißleitete Politik -
nach einem Umwälzungsprozeß - weiterbauen werde 314 • HEINE endlich stellte
lakonisch fest, die neue Religion, dem Wissen entsprungen, sei der Glaube an den
Fortschritt3 16 . Diesem Glauben wohnte ein allgemeines Sendungsbewußtsein inne,
wie es in einer anonymen Schrift von 1844 hieß: Der Geist des Fortschritts ist not-
wendig zugleich ein propagierender316.
Der Fortschrittsglaube indizierte einen gesinnungstüchtigen Aktivismus, der 1848
zum Durchbruch kam. Am Vorabend der Revolution edierte ROBERT BLUM inne
adventistische Aufsatzsammlung über die politischen Propheten: „Die Fortschritts-
männer der Gegenwart" (1847). Sie seien versammelt im Heerlager des Fortschrittes,
bereit, dasjenige, was nicht fortschreiten will, allenfalls fortzuschieben. Unser Vater-
land bedürfe und ersehne e·in W eilinaclitsfest, ... die Geburt einer neuen Zeit. Deshalb

309 FoNTENELLE, zit. JAuss, Ästhetische Normen (s. Anm. 123), 21.

a10 lBELIN, Gcsohiohte der Menschheit (s. Anm. 153), Bd. 2 (1770), 427.
311 WEISH.AUPT, Gesch. d. Vervollkommnung (s. Anm. 160), 196.
312 JOSEPH GÖRRES, Mein Glaubensbekenntnis, Das rothe Blatt l (1798), Ges. Sehr.,

Bd. 1 (1928), 195.


31s KRuG 2. Aufl., Hd. 2, 60.
314 THEODOR MuNDT, Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen (Leipzig 1835; Ndr.

Frankfurt 1973), 435. ·


316 HEINRICH HEINE, Die Romantische Schule (1833), SW Bd. 5 (o. J.), 328.
31 6 Briefe aus Wien. Von einem Eingebornen, Bd. 2 (Hamburg 1844), 128.

411
Fortschritt V. 5. 'Fortschritt' als geschichtlicher Perspektivbegrift'

mische sich in die Weihnachtsfeier eine erhebende Mahnung, auszuharren auf der
Bahn des Kampfes für den Fortschritt, für die Freiheit, für die Brüderlichkeit317 •
Die Fortschrittsgläubigkeit war nicht nur Indikator, sondern ebenso ein - schwer
meßbarer - Faktor der politischen Bewegung geworden. Er wurzelte in der volun-
taristischen Selbstgarantie, Vollstrecker desselben Fortschritts zu sein, an den man
glaubt.

5. 'Fortschritt' als geschichtlicher Perspektivbegrift'

Nachdem die Französische Revolution alle Phasen durchlaufen hatte und 1815 in
eine Restauration eingemündet war, setzte sich langsam die Einsicht durch, daß die
Geschichte über diesen scheinbaren Kreislauf hinausdränge. Industrie und Bevöl-
kerungsvermehrung veränderten die soziale Gesamtlage, das aufstrebende Bürger-
tum richtete sich mit Besitz und Bildung ein, die Verfassungen wurden 1830, 1848
und im Jahrzehnt der Einigungskriege den veränderten Umständen angepaßt. Die
ganze Geschichte war in Bewegung geraten und führte in eine neue, unbekannte Zu-
kunft. Für diese Vorgänge wurde das religiös eingefärbte Schlagwort des Fort-
schritts verwendet, aber es indizierte mehr: nämlich ein Bündel tatsächlicher Ab-
läufe, die als „objektiv" oder als „gesetzlich" angesprochen wurden. Was Rivarol
noch räumlich ironisierte: die Revolution hinkt, die Rechte gehe iinmer links, die
Linke aber niemals reehLi; - das wurde vom Begriff des Fortschritts zeitlich ge-
staffelt. Die Stände, Klassen und Parteien, die Staaten, Nationen und ihre Verfas-
sungen wurden seit der Französischen Revolution auf einer :leitskala als voran-
eil1md oder imriir.khlP.ihP.nn vorm>: oi!P.r hint~n Aingerückt. Da.mit wurde die allen
gemeinsame Erfahrung des Fortschreitens zwangsweise perspektivisch gebrochen.
Das häufig beschworene Gesetz des Fortschritts ließ sich empirisch nie auf einen
gemeinsamen Nenner bringen, da es die Handelnden oder Betroffenen zeitlich ver-
schieden einstufen mußte. Anders gewendet: der transpersonale Erfahrungssatz
ließ sich nur parteilich verifizieren, von der jeweils unterschiedenen Parteiperspek-
tive hing seine allgemeine Evidenz ab.
Diese zum Begriff gehörige perspektivische Mehrdeutigkeit, ohne die der Begriff
gar nicht verwendbar wäre, kennzeichnet seine politische Modernität; aus ihr folgt,
wie nachher zu zeigen ist, auch seine Ideologiehaltigkeit.
Vom Wort her bot sich als klarer Gegenbegriff 'Rückschritt' an. Unter diese Alter-
native 'Fortschritt 'oder 'Rückschritt' wurden deshalb gern die politischen Lager
rubriziert. So geht, um ein beliebiges Beispiel zu nennen, der gemäßigte Liberale
KARL HEINRICH LUDWIG PÖLITZ 1827 von der menschlichen Freiheit aus, die nur
einen Fortschritt zum Bessern oder den Rückschritt zum Schlechtern dulde. Er spricht
vom Streben nach grenzenlosem Fortschritte, von der Vervollkommnungsfähigkeit, die
in der ursprünglichen Gesetzmäßigkeit unsers Wesens begründet sei. Daraus folge das
Fortschreiten in der Oultur der ganzen Menschheit - 1:n intellectueller, bürgerlicher,
religiöser und sittlicher Hinsicht auch jeden Volkes. Die politische Verfassung habe

317 FRIEDRICH HECKER, Johann Adam von Itzstein, in: Die Fortschrittsmänner der Ge-

genwart. Eine Weihnachtsgabe für Deutschlands freisinnige Männer und Frauen, hg. v.
ROBERT BLUM (Leipzig 1847), 69; BLUM, Ernst Moritz Arndt, ebd., 8; ders., Weihnachten,
ebd.,4.

412
V. 5. 'Fortschritt' als geschichtlicher Perspektivbegriif Fortschritt

sich dem Wandel dauernd anzupassen: Zu diesem Fortschritte gehört ... wesentlich
auch der zum Bessern fortschreitende Organismus des Staates, vermittelst zeitgemäßer
Reformen. So wirkt die sittliche Alternative, die kein Drittes kenne - entweder
Fortschritt oder Rückschritt - direkt in die Politik. Wo nämlich der rechtliche Fort-
schritt im öffentlichen Leben gehindert oder aufgehalten werde, da trete notwendig
Rückschritt ein. Man nennt aber dieses absichtliche Hindern des Fortschritts des Bes-
sern ... Reaction318 • Radikaler hat es WELCK~ formuliert: ein der Reform ent-
gegenstehendes conservatives System ist Aufgeben der ersten Pfiicht der Menschheit,
ist das größte Verbrechen an derselben, auch noch abgesehen davon, daß bei jedem
Nichtfortschreiten Rücksehreiten eintritt 319 • Aus der suggestiven Bewegungsdefi-
nition wurde eine politische Zwangsalternative.
Der griffige Dual wurde bald durch ein retardierendes Dreierschema ergänzt, vor
allem um 1830, als auch die gemäßigte Mitte auf einen Verfassungswandel drängte.
In diesem Sinne unterschied P. A. PFIZER drei Parteien: die erste, die sich den
Strömungen der notwendigen Entwicklung überlasse, eine zweite fortschrittliche,
die diese Entwicklung nach einem überlegten Plane lenken und beherrschen möchte, und
schließlich die Partei des Stillstands, die den Staat sogar zu Rückschritten zwinge 320 .
RANKE hatte 1832 als politischer Schriftsteller dieses temporalisierLe Dreierschema
aufgAgriffon, rlas nun auch die sich als wahre Mitte begreifende Gruppe in fort-
schreitende Bewegung brachte: er optierte für den gesetzniäßigen Fortschritt, der
sich sowohl von ungeduldig zerstörender Neuerung wie von e'inse-il,iger Beliauptung
des Veralteten abgrenzes21.
Gleich nach der 48er Revolution verspottete ENGELS diese Definition gedämpfter
Bewegung: Und wie die bürgerlichen Parteien, sobald sie die geringsten Siege erfochten
haben, vermütelst des gesetzlichen Fortschritts zwischen der Scylla der Revolution und
der Charybdis der Restauration durchzulavieren suchen, davon haben wir in der letzten
Zeit Exempel genug gehabti> 22 .
Implizierte Rankes Angebot zur Sprachregelung, den Fortschritt in legalen Bahnen
zu halten, bereits den geschichtlichen Zwang, die politischen und sozialen Verände-
rungen mit der Zeit fortschreitend zu beeinflussen, so konnte in gleicher Zeit der-
selbe Ausdruck auch radikaler verwendet werden. Der Student BRÜGGEMANN ver-
teidigte sich nach dem Hambacher Fest vor dem Kammergericht mit dem inneren
Entwicklungsgesetz des Staat.eR: Dern geschichtlichen Staate, dachte ich, ist Fort-
schritt wesentlich. Und seine Ausführungen zeigten, daß er friedlichen Fortschritt, ...
gesetzlichen Fortschrüt uni! qe.~etzlü;he Revolution für äquivalent hielt - andernfalls
käme es in Deutschland zu den erneuerten Greueln eines allgemeinen Bauernkrie-
gess2s.

318 K. H. L. PüLnll, Die SLaaLswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, 2. Aufl., Bd. 1 (Leip-

zig 1827), 561 f. 572 f.


319 CARL WELCKER, Art. Alterthum, RoTTEOK/WELOKER Bd. 1 (1834), 508.
320 PAUL AoHATIUS PFIZER, Briefwechsel zweier Deutschen, hg. v. Georg Küntzel (Berlin

1911), 4, Vorwort zur 2. Aufl. 1832.


321 RANKE, Einleitung zur historisch-pofüischen 7.eifa;;ohrift (1832), SW 2. u. 3. Aufl.,

Bd. 49 (1887), 4 f.
322 FRIEDRICH ENGELS, Der deutsche Bauernkrieg (1850), MEW Bd. 7 (1960), 349.

323 zit. VEIT VALENTIN, Das Hambacher Nationalfest (Berlin 1932), 108 f.

413
Fortschritt V. 5. 'Fortschritt' als geschichtlicher Perspektivbegrift'

Am Vorabend der Revolution haben dann RoTTECK/WELCKER das Stichwort des


'gesetzlichen Fortschritts' aufgegriffen, um es wie seine Analoga, etwa 'historische
Entwicklung', als Feldgeschrei der Konservativen zu entlarven, denn offen die Not-
wendigkeit und das Recht des Fortschreitens vom Bestehenden zum Bessern zu leugnen,
wagt wohl niemand mehr324.
Im Maß, als der Begriff - Indikator tatsächlicher Veränderungen und daran sich
knüpfender Hoffnung - durchschlug, wurde er von allen Parteien besetzbar. Des-
halb suchten Rotteck/Welcker den Begriff des Fortschrittes in politischer Beziehung
zu klären, und das hieß, in ihrem Sinne zu .verbuchen: Unter der Alternative demo-
kratisch-volksmäßigM Freiheit oder absolutistischer Willkür zeige sich, daß geseLz-
licher Fortschritt nur im volksmäßigen Verfassungsstaat möglich sei. In der feudalen
Absolutie (also 1847) sei dagegen jeglicher Fortschritt eo ipso ungesetzlich und führe
konsequenterweise zur Revolution. Erst sie schüfe die Bedingungen gesetzlichen
Fortschritts, nämlich Z'Um Pr-inz'ip der reinen Demokratie vorwärts(zu)gehen 825 •
'Fortschritt' wurde zu einem Perspektivbegriff, der je nach sozialem und politi-
schem Standort des Verwenders eine andere Richtung des Fortschreitens anzeigt.
·Er kann zugleich Revolution bedeuten, wie auch deren Verhinderung - dur~h
legalen Wandel. Ein Minimum von Veränderungszwang wohnte ihm jedenfalls inne.
Damit ist die Verschränkung objektiver Notwendigkeit und ~ubjektiver Auslegung
deutlich geworden. Alle partizipieren am Fortschritt, nur jeder auf andere Weise.
GuS'l'A v Ko.M.fül'l', der mit der Studentenschaft rechnete, die dann eine Vereinigung
mit dem Namen 'Progreß' hervorbrachte 326, schrieb 1837 enttäuscht aus Straß-
burg: Wollte man also irgendeinen reellen Fortschritt erstreben, so konnte er nur auf
dem Wege der Revolution stattfinden.· Die Throne müßten über den Haufen stürzen,
um eine Veredlung der socialen Zustände zu gewähren 327 • V nd der Minister EICHHORN
bestätigte bald darauf den unglücklichen Realschülern, Gymnasiasten und Studen-
ten, die nicht zu Staatsstellen kommen konnten, daß sich aus ihren Kreisen der intelli-
gentere Teil der Umsturz- und Fortschrittspartei rekrutiere 328•
Aber auch die gemäßigt Konservativen beriefen sich - wie RADOWITz 329 - spä-
testens in der Revolution auf den Fortschritt. Die säkulare Spannweite der ge-
schichtlichen Bewegung war auf einen gemeinsamen Begriff gebracht worden. Der
Ausdruck wurde von den Parteiungen nicht nur registriert, sondern zunehmend
auch beansprucht, wodurch die Teilhabe an Qiesem Fortschritt den anderen streitig
gemacht werden konnte. Allgemeingültigkeit und Parteilichkeit konvergierten in
demselben Begriff aufgrund seiner temporalen Perspektivik.

324 RoTTECK/WELCKER, .Art. Gesetzlicher Fortschritt (s. .Anm. 291), 441.


92 • Ebd., 450.
326 GEORG HEER, Die Zeit des Progresses. Von 1833 bis 1859(Heidelberg1929), =Quellen

und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung,
hg. v. Hermann Haupt, Bd. 11/3. ·
327 GusTAV KoMBST, Der Deutsche Bundestag gegen Ende des Jahres 1832. Eine politische

Skizze (Straßburg 1836), XIV.


328 . zit. FRIEDRICH PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts, 3; Aufl., Bd. 2 (Berlin,

Leip7-ig 1921), 469.


329 JOSEPH v. RADOWITZ, Ges. Sehr., Bd. 2 (Berlin 1852), 280, wo er in seiner Rede vor

der Nationalversammlung am 8. 6. 1848 den Fortschritt der Demagogen vom wahren Fort-
. schritt abhebt.

414
V, 6. Der ideologische Besetzungszwang Fortschritt

Sobald westliche Vorbilder herangezogen wurden, folgte aus dieser Sicht auch das
Gebot des Aufholens, der Beschleunigung. So wurde die österreichische Regierung
1847 in geläufiger Sprechweise angerufen, das Beharrungssystem aufzugeben und die
Interessen der Massen zur eigenen Parteisache zu machen. Das·aber sei nur möglich
im System des Fortschrius, und zwar aufkeine andere Weise, weil schon das beinahe
sechzigjährige Zurückbleiben dafür entscheidet 330 •
Für die württembergische Gewerbsindustrie zeigte MoRiz MüHL 1828, wie schwierig
es sei, den englischen Vorsprung an Erfindungen und Fertigkeiten einzuholen. In
der mechanisierten Textilindustrie schätzte er den heimatlichen Rückstand auf
zwanzig bis dreißig Jahre ein - und was bedeutet ein Vorsprung von 20 Jahren filr
die Mechanik in unserer industriellen Zeit, wo jeder Tag neue mechanische Wunder
gebärt/ 331
Es kennzeichnet also den Fortschritt als einen perspektivischen Begriff, daß er auf
empirische Daten baut, die je nach dem ökonomischen oder politischen Programm
verschieden gewichtet werden. Alle Vorgegebenheiten werden im Erfahrungsbereich
des Fortschritts parteilich aufgeschlüsselt und zeitlich relativiert.
Der politische Sprachgebrauch blieb freilich schwerpunktweise in der linken Mitte
zuhause, m1d von dieser wurde er bewußt monopolisiert, als sich die liriksliberale11
und demokratischen Gruppen in Preußen am 6. Juni 1861 zu einer neuen Partei zu-
sammenschlossen: 'angeregt von WERNER SIEMENS einigten sie sich auf die elasti-
sche Benennung einer Deutschen Fortschrittspartei 332 • Während des Verfassungs-
konfliktes zur weitaus stärksten Partei angewaehsen, verlor sie nach den Siegen
Bismarcks kontinuierlich an Wählern - ein Vorgang, der sicher auch zum Ver-
schleiß im politischen Sprachgebrauch beigetragen haben wird. In den Parteipro-
grammen findet sich 'Fortschritt' selten, am ehesten noch in der liberal-demokrati-
schen Richtung 333, die 1910 zur Neugründung einer Fortschrittlichen Volkspartei
führte; sie ging später in der großen Weimarer Koalition auf.

6. Der ideologische Besetzungszwang

Aus der parteigebundenen, 'temporalen Perspektive folgt ein weiteres Merkmal un-
seres Begriffes: er führt zur Ideologisierung. Je nach sozialem Lager oder politischer
Einstellung wird eine andere Zukunft anvisiert. Da aber die jeweils erhoffte Zu-
kunft noch nicht in die Erfahrung zurückgebunden werden kann, wird es möglich,
mit der je eigenen Perspektive eine je eigene Zukunft zu meinen. Damit gewinnt
man einen unwiderlegbaren Standpunkt, von dem aus die Zukunft der jeweils an-
deren als falsch entlarvt werden kann. Der Ausdruck wird zu.r ideologischen Waffe.

3 3 0 [MATTHIASKocH], Österreichs innere Politik mit Beziehung auf die Verfassungsfrage


(StuLLgarL 1847), 61 ff.
3 31 MORIZ Mom., Über die württembergische Gewerbsindustrie (Stuttgart, Tübingen
1828), 124. 216.
332 Vgl. LuDOLF PABISIUS, Leopold Freiherr von Hoverbeck. Ein Beitrag zur vaterländi-

schen Geschichte, Bd. 1 (Berlin 1897), 210.


333 Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei (1867), in: Deutsche Parteipro-

gramme, hg. v. WILHELM MoMMSEN (München 1960), 151; Programm der Deutschen
Volkspartei (1895), ebd~, 161; Berliner Erklärung der Nationalliberalen Partei (1896),
ebd., 164. ·

415
Fortschritt V. 6. Der ideologische Besetzungszwang

Unter der Zwangsalternative fort- oder zurückzuschreiten, findet die jeweilige


Opposition oder aufstrebende Schicht die Rückschrittsbestrebungen im Regierungs-
lager, das alles darauf anlege, das fortschreitende Leben zu hemmen334 • Gegen diese
lineare Zukunftssicht spielten die Kritisierten schnell die Ambivalenz des Fort-
schritts aus: Die ärgste Fabel ist die vom sogenannten Fortschritt. Der siegreiche
Demokrat, so vermutete THEODOR ÜELCKER 1847, wird bald im Volke nur noch
Untertanen sehen. Und im Bezirk des technischen und materiellen Fortschritts sei
es tragikomisch, wie sich die größten Erfindungen, die anfangs die Freiheit versprachen,
gar bald zu ihrem Verderben wandten - man denke nur an das Schießpulver gegen
die rebellischen Bauern33 5.
Sobald freilich das konservative Lager das gängige Schlagwort in den eigenen
Sprachgebrauch einholte, war es genötigt, den eigenen als den „wa.hnm" Fort-
schritt gegen den der anderen abzugrenzen. Daraus folgte eine gegenläufige Ideo-
logiekritik. Der Pfarrer MEINHOLD ging 1848 darin voran, 'ForLschritt' sei nur eine
Metapher, ihn als allgemeinen Begriff verwenden, hieße einen bewußten Trugschluß
ziehen. Der wahrhafte Fortschritt sei nur auf dem Boden des positiven Offenbarungs-
glaubens herbeizuführen 336 . Ohne partielle Fortschritte zu leugnen, verbucht
Moinhold den Fortßohrit1t Rr.ihor für ill'l.R flhriRfarnt.11111, 1rnn di~ Katholiken s11llt,t:11
ihm darin folgen.
18b0 veröffentlichten die „Historisch-politischen Blätter" einen Aufsatz gegen die
grofJkbingenden, täusckungsre·iclten W urtklänge d·ieser Zeit. Besonders das Wort des
Fortschrittes sei ein Artikel, mit dem die Revolution . . . Weltgeschäfte macht. Es sei
erstaunlich, wie die Völker einem relativen Begriffe nachrennen, ohne um seine
Relation zu wissen, ... ohne zu fragen: Wohin? Im Zuge seiner Kritik trennt der
Verfasser die Fortschritte im Reich der Natur und im Reich der Gnade, beide seien
nicht zu parallelisieren. Der irdische Fortschritt, vor allem in den Wissenschaften,
sei unleugbar, steigere aber die Macht der Guten wie der Bösen in gleicher Weise
und führe letztere zu jener entsetzlichen Höhe ... , von der uns vorausgesagt ist.
Im Reich der Gnade habe der einzelne nach Vollkommenheit zu streben, so daß
der wahre und wirkl?:che Fortschritt nur Zu.riick lauten könne. Zurück von allen
Wegen, Errungenschaften, Bestrebungen und Gedanken der Revolution! Zurück zu den
alten, weil ewigen, Ideen und '.l'ugenden337 •
REICHENSPERGER wendete sich in seinem kritischen Wörterbuch 1872 unmittelha.r
gegen die liberalen Feinde. Der von ihnen monopolisierte Fortschritt bedeute
Hinwegschreiten iiber das Recht und die Überzeugungen seines nicla liberal gesinnten
Nebenmenschen, was er mit Beispielen polemisch belegte. Und er folgerte, daß wie
Schlagworte durch allzuhäufigen Gebrauch entkräftet würden, so auch das Wort
„Fortschritt" dadurch, daß es auf eine Partei-Etikette gesetzt worden ist 338 • Gleichwohl

334 [Anonym], Joharu1 Jauoby, in: BLUM, Fortschrittsmänner (s. Anm. 317), 79; BLUM,
Weihnachten, ebd., 4.
335 THEODOR ÜELOKER, Humoristisch-satirische Geschichte Deutschlands von der Zeit
des Wiener Kongresses bis zur Gegenwart (Leipzig 1847), 18.
33 6 MEINHOLD, Sprachenverwirrung (s. Anm. 292), 33. 51.
337 [Anonym], Der Fortschritt, Hist.-polit. Bll. f. d. kath. Deutschland 25 (1850), 273 ff„
bes. 773 f. 782. 776 f.
338 REICHENSPERGER 3. Aufl. (1872), 38 ff.; vgl. ROBERT FRANZ ARNOLD, Wortgeschicht-
liche Zeugnisse, Zs. f. dt. Wortforsch. 8 (1906/07), 6 f.

416
V. 7. Marx und Engels Fortschritt

sucht er wie KETTELER schon 1861 339 den Ausdruck für das Christentum zu rekla-
mieren. Der Christ nennt, mit einem Worte, nur das Fortschritt, was in aufsteigender
L·inie zu Gott, als zur ewigen Wahrheit hinführt 340• ßald darauf konnte FRANZ HITZE
- 1877 in Paderborn - deklarieren: Die katholische Kirche ist die sociale und
conservative Macht katexochen, darum auch die Schöpferin der Freiheit und des
Fortschritts 341 •
Auch von sozialistischer Seite wurde der 'Fortschritt', obwohl er im eigenen Lager
zu den stehenden Redewendungen gehörte, ins Polemische gewendet. So spricht
LASSALLE 1863 von der schweren Fortschrittsstickluft, die es zu durchstoßen gelte,
um die demokratischen Kräfte aus dem liberalen Lager in das sozialistische des
Arbeitervereins herüberzuholen 342.
Es gehörte also zur perspektivischen Optik, daß das allen geläufige Schlagwort zwar
ein Minimum gemeinsamer Erfahrung indizierte, zugleich aber jeden nötigte, die
eigenen Fortschrittsvorstellungen durch eine ideologiekritische Reduktion des
Fremdgebrauchs abzusichern. Insofern zählt der 'Fortschritt' zu den modernen
Bewegungsbegriffen, die ihr Erfahrungsdefizit durch Zukunftsprojektionen kom-
pensieren, die schichtspezifisch oder parteigebunden bleiben. Der fortschrittliche
Erwartungsraum führt zu einem Besetzungszwang, der alternativ von den jeweiligen
Parteien ideologiekritisch hinterfragbar wird.

7. Marx und Engels

'Fortschritt' war für MARX und ENGEI.s ein geläufiger, manchmal zentraJ verwend-
barer Begriff. Die meisten der bisher geschilderten Bedeutungsstreifen tauchen
in ihrem Sprachgebrauch auf. Zahlreich sind die Belege, wo der Ausdruck die
empirisch registrierte Steigerung der Produktivkräfte 343 , der Industrie 344, der
Arbeitsteilung 345 oder der Kapitalakkumulation346 bezeichnet. Dort, wo sie den
Wortgebrauch in Frage stellen - etwa in der „Heiligen Familie" bei Bruno Bauer-,
nehmen sie Hegels Kritik auf: Bauer verwende den Begriff als fixes Wesen, um den
Fortsr,hritt des Geistes als ah.~ofo,t gegen den Widerstand der Masse herauszu-

339 - • Bd. 1, 322.


340 REICHENSPERGER 3. Aufl., 42.
341 FRANZ HITZE, Die sociale ]frage und die .Bestrebungen zu ihrer Lösung (Paderborn

1877), 182.
au F1'l!WHIA.NlJ LAssALLJ!J, Bi·ief 1;1.11 Wilhelm Rül!Luw v. Aufaug l\fai 1803, Nachgel. Dr. u.
Sehr., Bd. 5 (1925), 169.
343 ENGELS, Rede in Elberfeld (1845), MEW Bd. 2 (1957), 553; ders., Die preußische Ver-

fassung (1847), MEW Bd. 4 (1959), 31; nfwR., D11r "Fmihann111Rkongmß in füiiss11l (1847),
ebd., 306; ders., Rede über Polen (1847), ebd., 418; MARX, Rede über die Frage des Frei-
handels (1848), ebd„ 455.
344 MARX, Eine preußische Meinung zum Krieg (1859), MEW Bd. 13 (1961), 354; MARx/

ENGELS, .Manifest der Kommunistischen Partei (1848), MEW Bd. 4, 464.


345 Die manufakturmäßige Teilung der Arbeit - ein Aspekt des historischen Fortschritts;
MARX, Das Kapital, Bd. 1 (1887), MEW Bd. 23 (1962), 386.
346 Ders., Lohn, Preis und Profit (geschr. 1865), MEW Bd. 16 (1962), 150; ders., Kapital,

Bd. 1, MEW Bd. 23, 657.

27-90386/l 417
Forl.11ehrii.1. V. 7. Man: und Engels

kehren 347 • Ebenso stehen sie noch unmittelbar in Hegels Nähe, :wenn sie 1844 die
Geschichte in Gedanken als Bewegung reflektieren und in Wirklichkeit als Prozeß
bestimmen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, daß wir
von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Be-
wegung, und ein sie überbietendes Bewußtsein erworben haben 348 • Oder wenn Engels
die heuchlicherische, sich versteckende Knechtschaft der Moderne gegen die offene der
Antike abhebt: Darin liegt der historische Fortschritt gegen die alte Sklaverei, daß
wenigstens das Prinzip der Freiheit durchgesetzt ist 349 - auch wenn er. diesen
Befund schon in eine ideologiekritische Perspektive rückt: Man sieht ein, daß der
Fortschritt das Wesen der Menschheit ist, aber man hat nicht den Mut, den Fortschritt
offen zu proklamieren 350 •
Daß die Geschichte Fortschritt sei, ist für beide eine unbestrittene Prämisse, die
sie überall .bestätigt finden - etwa Marx in seiner Kritik an Hegels Rechtsphilo-
sophie: Es ist ein Fortsclvritt der Gesckicltte, der die politischen Stände ·in soziale
Stände verwandelt hat, weil dies ein Schritt zur modernen bürgerlichen Gesellschaft
darstellt361 . Auch die aufklärerische Rückversicherung einer Hintergrundgeschichte,
die alle Heterogeneitäten progressiv zusammenfügt, wird immer wieder bemüht;
sei es, d11ß Engolo 1812 meint, die 'mgenanntcn materiellen Interes11en wirkten nie
selbständig, sondern dienten immer einem Prinzip, das die Fäden des historischen
Fortschritts leitet 362 , oder daß er im Alter 1892 schreibt: Faktisch gibt es ja in der
Geschichte nichts, was nicht in der einen oder anderen We·ise dem menschlichen Fort-
schritt dient, aber oft auf einem ungeheuren Umweg 353 • So wird auf der einen Seite
die Ambiguität der Geschichte dialektisch aufgeschlüsselt - jeder Fortschritt
hat seine Kehrseite, die er mit produziert - wie es bei Engels in Rousseauscher
Tradition heißt: alle gesellschaftlichen Einrichtungen entfremden sich ihren
anfänglichen Zwecken, jeder neue Fortschritt der Zivilisation ist zugleich ein neuer
Fortschritt der Ungleichheit 354 • Andererseits wird sich dieser Fortschritt immer
wieder zum Besseren wenden, und zwar vor allem jetzt - wie Marx im „Elend
der Philosophie" konstatiert355 : In der heutigen Gesellschaft, in der auf den indi-
viduellen Austausch basierten Industrie, i.~t dü,, ProdiJ.ktionsanarchie, die Qitelle so
vieles·Elends, gleichzeitig die Ursache alles Fortschritts.
Der verborgne Fortschritt bleibt ihnen unbeschadet aller abschreckenden unmittel-
baren und brutalen Folgen der modernen Ökonomie eine quasireligiöse, innere
Selbstgewißheit 356, an der sie zeitlebens festhalten.
Auch in der Zielbestimmung teilen sie das Axiom des unendlichen, weil nicht

847 MARx/ENGELS. Die heilige Familie (1845), MJ<.:W ßd. 2, 88.


348 MARx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Erg. Bd. 1 (1968), 553.
349 ENGELS, Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845), M.EW Bd. 2, 405.

3 60 Ders., Die Lage Englands. Die englische Konstitution (1844), MEW Bd. l, 578.
861 MARX, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (s. Anm. 297), 283.

36 2 ENGELS, Die innern Krisen (1842), MEW Bd. 1. 456 f,


363 Ders., Brief an Danielson v. 18. 6. 1892, MEW Bd. 38 (1968), 363.

304 Ders., Herrn J<.:ugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 3. Aufl. (1894), MEW

Bd. 20 (1962), 130.


3 65 MARX, Das Elend der Philosophie (franz. 1847), MEW Bd. 4, 97.
366 Ders., Brief an Engels v. 7. 12. 1867, MEW Bd. 31 (1965), 404; vgl. ENGELS, Rez.

Kapital, Bd. 1 (1867), MEW Bd. 16, 227.

418
V. 7. Marx und Engels Fortschritt

hochrechenbaren Fortschreitens sowohl auf intellektuellem wie auf gesellschaft-


lichem Gebiet. Denn gelänge es, das Weltsystem gedanklich exakt abzubilden, so
wäre die zukünftige geschichtliche Forlentwicklung a~geschnitten von dem Augenblick
an, wo die Gesellschaft im Einklang mit jenem System eingerichtet ist - was eine
Absurdität, ein reiner Widersinn wäre357.
Wie der intellektuelle Fortschritt unbeschränkt ist, so sei auch die gesellschaftliche
Organisation der sozialistischen Gesellscha~t nicht im voraus zu kennen, da der
Verteilungsmodus von der sich steigernden Produktion abhinges5a.
Insoweit haben Marx und Engels das Erbe der Aufklärung und Hegels verschmolzen
und in einen WortgAhra1rnh des 'Fortschritts' überführt, der sich von dem der
Liberalen nicht grundsätzlich unterscheidet, auch wenn sie· die progressistischen
Erfahrungsraster und Deutungsmuster stark differenziert haben. Es liegt auf der
Hand, daß zentrale Thesen ihrer Geschichtsphilosophie wie der künftigen Verwand-
lung des Reiches der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit durch die bishAr
geschilderten mehr evolutionistischen Komponenten des Fortschritts nicht voll
abgedeckt werden, sowenig wie die einzigartige Rolle der Revolution, die zur Ab-
schaffung aller Klassen und von Herrschaft überhaupt führe. Freilich waren auch
diese Zielansprachen im aufklärerischen Fortschrittsbegriff enthalten.
Was den von Marx und Engels konzipierten geschichtlichen Fortschritt auszeich-
nete, war dessen ökonomische Begründung und sein Bewegungsmodus als Abfolge
von Klassenkämpfen. Nicht der Allgemeinsatz, den Marx formulierte: Ohne Gegen-
satz kein Fortschritt; das ist das Gesetz, dem die Zivilisation bis heute gefol,gt ist 369,
war neu - auch nicht die pmiL-hegeliMche Wendung, daß in der Geschichte der Fort-
schritt als Negation des Bestehenden auftritt360, war neu, ebensowenig neu war die
Maxime, daß die Revolution den Fortschritt vorantreibe: Neu wirkte in Deutsch-
land die geschichtsphilosophische These, die in das politische Zentrum rückte, -
daß sich die dialektische Bewegung, die Hegel noch dem Weltgeist supponierte,
stufenweise in konkreten Klassenkämpfen vollziehe. Gerade die rasche, heftige Ent-
wicklung des Klassenantagonismus macht in alten, komplizierten gesellschaftlichen
Organismen die Revolution zu einer so mächtigen Triebkraft des sozialen und politischen
Fortschritts 361 • Oder generalisiert: Seit der Auflösung der Urgemeinschaft war der
Kampf zwischen den verschiedenen Klassen, aus denen sich jede Gesellschaft zusammen-
setzt, stets die große bewegende Kraft des geschichtlichen Fortschritts 362 • Aus diesem
sozial beziehbaren Fortschrittssatz konnten - mehr als bei den Liberalen - un-
mittelbare Handlungsanweisungen abgeleitet werden, unter deni Motto, stets
„fortschrittlicher'" zu sein als die anderen.
Die eigentlich theol'etische Leistung ist freilich von Marx erbracht worden, indem
er uaM - auch im Westen gebräuchliche - Klassenkampfschema konsequent auf

8 67 ENGELS, Anti-Dühring, MEW Bd~ 20, 35.


868 v.
Ebd.: ders., Brief an Conrad Schmidt 5. 8. 1890, MEW Bd. 37 (1967), 436.
359 MARx, Elend der Philosophie, MEW Bd. 4, 91 f. .
310 ENGEL!!, Dialektik der Natur . .Notizen und .lfragmcntc (gcaohr. 1870), MEW Bd. 20,
481.
361Ders., Revolution und Konterrevolution in Deutschland (1851), MEW Bd. 8 (1960), 36.
382Ders., Der internationale Sozialismus und der italienische Sozialismus (1894), MEW
Bd. 22 (1963), 479.

419
Fortschritt VI. Ausblick

sozialökonomische Kategorien zurückführte. Er verwendete das bei den schottischen


Moralphilosophen angelegte Hiatus-Modell auf originäre Weise, als er alle geschicht-
lichen Wandlungen, Konflikte und Revolutionen aus dem Wachstum der Prod·ukl·iv-
kräfte und den daraufhin sich verzerrenden Produktionsverhältnissen hervorgehen
ließ. Mit diesem aus der Grundbestimmung menschlicher Arbeit abgeleiteten
Begriffspaar hat Marx dem Befund des industriellen Zeitalters angemessene Kate-
gorien entwickelt, die formal genug waren, alle geschichtlichen Bewegungen auf die
Bedingung ihres möglichen Fortschreitens hin zu befragen und als progressive
Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation zu entwerfen 363 . Marx sträubte
sich, überhaupt den Begriff des Fortschritts in der gewöhnlichen Abstraktion zu
fassen. Das unegale Verhältnis beider Bereiche, der Produktivkräfte und der Pro-
duktionsverhältnisse, bezeichnete ein geschichtliches Transformationspotenti~l, das
die Hegelsche Prozeßkategorie empirisch anzureichern erlaubte 364 •
Der von Marx und EnglllR ausgefältete Wortgebrauch, der den Terminus als
ideologische Waffe, als geschichtsphilosophisches Axiom und als theoretische
Kategorie verwenden lehrte, führte dazu, daß in den marxistischen Erbfolgeländern
und -parteien der 'Fortschritt' ungebrochen als Leitbegriff weiterwirkt - und das
sicher auch deshalb, weil heutige Erfahrungen und Erwartnngfln immer noch
analog zum europäischen 19. Jahrhundert begriffen werden können. Darin unter-
scheidet sich die nichtwestliche Welt von der westlichen, deren Fortschrittsgewiß-
heit seit der Wende zum 20. Jahrhundert ins Wanken geriet. Die schon langfristig
angelegte Kritik am Fortschritt erreichte seit rund 1900, spätestens seit dem
Ernten W cltkricg, die breite Öffentlichkeit.

VI. Ausblick
Der siegesgewisse Fortschrittsglaube erhielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts noch einmal zusätzlichen Sukkurs durch die Vulgarisierung der Darwin-
schen Entwicklungslehre. Seitdem die Natur historisiert wurde, konnte auch sie
progressiv ausgelegt werden und damit Aussichten öffnen, die den zivilisatorischen
Fortschritt naturgeschichtlich absicherte. So verkündete das „Morgenblatt" 1865
Etwas von der Z·ukunft der Geschichte. Immer die entwickeltste Race liege an der
Spitze der Menschheit, während im Verborgenen eine höher organisierte Form der
Menschheit sich vorbereitet, um nach dem natürlichen Recht des Stärkeren über ihre
Vorgängerin hinaufzurücken und ihrerseits . . . den äußeren und inneren Horizont der
Menschheit zu erweitern 365 • Minimale Voraussetzung sei etwas mehr Hirnsubstanz.
Die Rückbindung des Fortschreitens an die DeszendenzLheurie änderte freilich
nichts an der perspektivischen Relativität, da wir -in Lunwm BücHNEitS Wul'Len

383 MARX, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), Vorwort. MEW Bd. 13 (1961), 8 f.

In der Vereinfachung von ENGELS: Jeder gesellschaftliche Fortschritt wird ausführbar nicht
durch die gewonnene Einsicht ... , sondern durch gewisse neue ökonomische Bedingungen;
Anti-Diihring, MF.W Rrl. 20, 26?..
384 MARx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (geschr. 1857), MEW Bd. 13,

640.
385 Etwas von der Zukunft der Geschichte, Morgenbl. f. gebildete Leser 59 (1865), Nr. 1,

s. 32.
420
VI. Ausblick Fortschritt

- gar nicht wissen, wo wir im Gang der zivilisatorischen Entwickelung unseres Ge-
schlechts stehen, und ob wir darin weit vor oder noch weit zurück sind. Der Mensch, zur
Hälfte K'Wtt&lprodukt, entziehe sich den natürlichen Fesseln, daraus folge eine ge-
steigerte Verantwortung für ihn, der den Fortschritt immer schneller vorantreibe.
Und weil seine Selbsterziehung keine Grenzen kennt, so muß auch der dadurch be-
wirkte Fortschritt ein unbegrenzter sein. Indes betont Büchner im gleichen Zug die
Kehrseite: daß unsere moralische Bildung nicht gleichen Schritt mit dem Voran-
schreiten unseres intellektuellen und materiellen Lebens gehalten hat 366 • Trotz ihrer
Ausweitung auf die Abstammungslehre hat sich die Topologie der Fortschritts-
argumente und ihrer inneren Einwände kaum geändert.
Über die immanente Kritik hinaus breitete sich aber zusehends eine grundsätzliche
Kritik am Fortschrittsglauben aus. Als einsame, gegen den Zeitgeist auftretende
Rufer seien Kierkegaard oder Baudelaire genannt. SoRELS provokativer Titel Les
illusions du progres löste 1908 schon ein größeres Echo aus 367 • In Deutschland war
es - nach Schopenhauer - NIETZSCHE, der den Glauben an den Fortschritt als
eine Erscheinung der Dekadenz zu entlarven suchte. Der Fortschritt sei bloß eine
moderne ldee, das heißt eine falsche Idee. Statt heute zu leben, ziele lliau auf eine
vage Zukunft: lrge.ndwrvn:n P.1:nmal - der Wille und Weg dorthin heißt heute in
Europa überall der Fortschritt. So habe die christliche Voraussetzung im Fortschritt
immer noch ihr Nachleben, und auch das hypostasierte Subjekt sei eine Täu-
schung: Die „Menschheit" avanciert rd,clit, sie existiert nich,t P.inmal.
Dieser ideologiekritischen Destruktion entspricht eine bejahende Verwendung des
Wortes, die den Willen zur Macht, zum gewagten Leben umschreiben sollte. Der
wirkliche progressus vollzieht sich in Gestalt eines Willens und Wegs zu größerer
Macht. . . Fortschritt ist: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen:
alles andere ist Mißverständnis, Gefahr ... Die Menschheit als Masse dem Gedeihen
einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert - das wäre ein Fortschritt 368 •
Solche Wendungen legten es nahe, daß Nietzsche, so spielerisch er den Ausdruck
'Fortschritt' metaphorisch einsetzte, sozialdarwinistische Positionen verstärkte.
Zur Jahrhundertwende versicherte EDUARD VON HARTMANN, die zerrüttenden
Folgen der kolonialen und technischen Eroberung des Globus seien der Preis einer
Höherentwicklung. Dieser Fortschritt ist aber nur darum so groß und wichtig, weil der
Kampf ums Dasein der Völker und Rassen durch ihn so sehr verschärft wird, der
die Cultursteigerung durch Vernichtung des minder Angepaßten beschleunigt369•
Trotz gegenläufiger Sichtweisen konnte also 'Fortschritt' weiterhin in entgegen-
gesetzten Lagern verwendet werden. Außer in nationalen und imperialistischen
Ideologien blieb der Ausdruck vor allem Leitbegriff der marxistischen Geschichts-

366 L. BÜCHNER, Fremdes und EignAs aus dem geistigen Leben der Gegenwart (Leipzig
1890), 20 ff.
367 GEORGES SoREL, Les illusions du progres (Pads 1908).
368 NIETZSCHE, Der Antichrist, Werke, Bd. 2 (o. J.), 1166; Zur Naturgeschichte der Moral,

ebd., 659; Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke, Dd. 3 (1956), 632. 828; Zur Genea-
logie der Moral, Werke, Bd. 2, 819; Nachlaß der Achtzigerjahre, 779; Genealogie der
Moral, 819.
369 E. v. HARTMANN, An des Jahrhunderts Wende, Die Gegenwart, 28. Jg., Bd. 55 (1899),

Nr. 1, S. 1 ff.

421
Fortschritt VI. Ausblick

philosophie, .und das um so mehr, als die Revisionisten dem nicht-revolutionären,


dem evolutionären Bedeutungsstrang ein zunehmendes Gewicht verliehen - inso-
fern den Sprachduktus der sich einpassenden Liberalen nachzeichnend.
Innerhalb vieler, nicht aller bürgerlicher Schichten wuchs dementsprechend die
Abneigung, schließlich die Ablehnung eines von ihren erklärten Gegnern emphatisch
okkupierten Ausdrucks 3 70. Auch hier wirkte Nietzsche, besonders im lebensphilo-
sophischen Lager, nach. BERTHOLD .VALLENTiN äußerte sich in Gundolfs erstem
„Jahrbuch für die geistige Bewegung" 1910 programmatisch Zur Kritik des Fort-
schritts371: ... Der begriff schwillt und das lebendige schrumpft zusammen. Der geist
des fortschritts ist zwiefach selbstbetrügerisch. Er gibt vor, d~e welt wirklichst zu besitzen
und hat sie ganz verloren . . . Daher sind fortschritt und kultur trotz aller modernen
programme antithesen . . . Der fortschritt ist kein schreiten, sondern ein versinken, und
wie die Wendungen alle lauten, die sich damals häuften. Weniger der Antithese
lebendiger Kultur gegen progressive Zivilisation vorföllon, vormutcto MAUTHNF.R.:
Es liegt auf dem Wege der Entwicklung, daß wir den Glauben an den Fortschritt im
Fortschritte des Denkens einbüßen werden 372 . Die, Ereignisse .halfen dem nach.
1922 heißt es bei KARL KRAUS: Der Fortschritt geht auf Zinsfuß und Prothese/ das
Uhrwerk in der Hand, die Glorie im Herzen 878 . Und im Gefolge beider Weltkriege
und der Zwischenkriegszeit erfaßte die kritische Reaktion auch der linken Intelli-
genz den Leitbegriff doa Fortaohritta oei eo, daß BENJAMIN gegen die sozial-
demokratische Zukunftsergebenheit den Satz prägt 374 : Der Be.griff de.s Fortschritts
ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es „so weiter" geht, ist die Kata-
strophe; oder sei es, daß HoRKHEIMER 1947 in die Aussage resigniert: Das Fort-
schreiten der technischen Mittel ist von einem Prozeß der Entmenschlichung begleitet.
Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll~ die Idee
des Menschen 376 .
Wo der Ausdruck als strahlender BegriU gerettet werden soll, bedarf es, wie ERNST
BLOCH einen Essay betitelt376 , der geschichtstheoretischen DiUerenzierungen im
BegriU Fortschritt. Seitdem nicht nur die Ambivalenz, sondern auch die von der sog.
„Lebensqualität" gebotenen Grenzen des technischen Fortschritts in das politische
Bewußtsein einwirken, seitdem also der empirische Kern der Progressivität ange-
tastet wird, mehren sioh --: besonders in den USA - die kritischen Analysen, die
dem Begriff seine emphatischen Sinnhorizonte beschneiden. Historische Unter-
suchungen, die seit der Jahrhundertwende ständig zunehmen, haben diesein
Wechsel der Perspektive vorgearbeitet. Indem sie den Fortschritt rückläufig ver-

s 70 Um die Jahrhundertwende wurde dor 'Fortschritt' zur Testformel, an der eich die Gei·
11tflr imhiflrlfln; vgl. R.om;FTNt<, Forh;r.hrit.t.sglaube (s. Anm. 223) mit zahlreichen Belegen.
3 71 BERTHOLD VALLENTIN, Zur Kritik des Fortschritts, Jb. f. d. geistige Bewegung, hg. v.

Friedrich Gundolf u. Friedrich Wolters, 1 (1910), 49 ff.


372 MAUTHNER (s. Anm. 2), 514.
37 s KARL KRAUS, Die letzten Tage der Menschheit 3, 36 (Wien, Leipzig 1922), 374.

374 WALTER BENJAMIN, Zentralpark, in: ders., Illuminationen, Ausg. Sehr., hg. v. Sieg-

fried Unseld (Frankfu:rt 1961), 260.


a7 s MAX HORKHEIMER, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (engl. 1947), hg. v. Alfred
Schmidt (Frankfu:rt 1967), 13.
37 0 ERNST BLOCH, Differenzierungen im Begriff Fortschritt, in: ders., Tübinger Einleitung

in die Philosophie (Frankfu:rt 1970), 118 ff.

422
VI. Ausblick Fortschritt

arbeiteten, dienten sie teils der Legitimierung, aber auch schon der Neutralisierung
des Begriffs. Die Konturen einer bereits zurückgelegten Epoche des Fortschritts
zeichnen sich ab. Sie werd1m durch Arbeiten über Technifizierung, Modernisierung,
Industrialisierung wissenschaftlich nachgezeichnet 377 • Ob damit die Frage nach
unserer Neuzeit, die durch den Fortschritt einst evoziert worden ist, schon einer
rückblickenden Antwort zugeführt werden kann, muß bezweifelt werden. Denn
immer wohnt dem Fortschritt, gleich welcher Perspektive, ein prognostisches
Potential inne, auf das keine Politik verzichten kann.
REINHART KosELLECK

Literatur

JOHN B. BuRY, The Idea of Progress. An Inquiry into Its Origin and Growth (1932;
N<lr. New York 1955); WOLFGANG ZORN, Zur Geschichte des Wortes und Begriffes „Fort-
schritt", Saeculum 4 (1953), 340 ff.; Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt,
hg. v. IlELMUT Kuim u. FRANZ WIEDMANN (München 1964); JOACHIM RITTER, Art.
Fortschritt, Hist.Wb.d. Philos., Bd. 2 (1972), 1032 ff. mit zahlreichen Belegen und Angaben
der älteren Literatur; Emo R. DoDDS, Art. Progress in Classical Antiquity u. MORRIS
GINSBERG, Art. Progress in the Modem Era, Dictionary of the History of Ideas, ed.
PHILIPP. WIENER u. a., vol. 3 (New York 1973), 623 ff.

37 7 Exemplarisch EoKART SOHREMMER, Wie groß war der „technische Fortschritt" wäh-
rend der Industriellen Revolution in Deutschland 1850-1913, Vjschr. f. Sozial- u. Wirt-
schaftsgesch. 6f) (1973), 433 ff.

423
Freiheit

I. Einleitung. II. Antike Grundlagen. 1. Die griechische Polis. 2. Römische libertas.


a) Römische Republik. b) Römische Kaiserzeit. 3. Freiheit der Philosophen. III. Christ-
liche Freiheit. 1. Freiheit im Neuen Testament. 2. Freiheit in der christlichen Gnosis.
3. Die kirchliche Theologie seit dem zweiten Jahrhundert. 4. Augustinus. 5. Freiheit der
Kirche in Antike und Mittelalter. 6. Reformation. IV. Ständische Freiheit: Jura et
libertates. 1. Späte Systematisierung und mittelalterliche Entstehung. 2. Personenstands-
rechtliche Freiheit. 3. Korporative Freiheiten. 4. Gewissensfreiheit. 5. Reichsrechts-
positivismus und fürstlicher Eingriff. 6. Freiheiten unter der Anfechtung durch natur-
rechtliche Einwirkung. V. Der philosophische Freiheitsbegriff. 1. Voraussetzungen bis
Descartes. 2. Die großen Systeme der Metaphysik und das Recht des Menschen. 3. „Qualite
d'homme" gegen „regular plan of liberty". 4. Die politische und die philosophische Re-
volution. VI. Der politische Freiheitsbegriff im modernen Naturrecht (17 ./18. Jahrhundert).
1. Natürliche Freiheit als Rechtfertigung fürstenstaatlicher Herrschaft. 2. Bürgerliche
Freiheit im aufgeklärten Absolutismiis. 3. Die Wurzeln des liberalen Freiheitsbegriffs.
a) Die Stabilisierung des Freiheitsbegriffs. b) Einfluß der Französischen Revolution.
4. Politischer Freiheitsbegriff und ständische Freiheiten. VII. Der Freiheitsbegriff im
19. ,fahrhnmlr.rt. l. Frnih11it,tm - Frr.iheit. 2. Metaphorik. 3. IlifJt,orfol!h l1;1gitimiertA "F:nt,-
faltungsmodelle der Freiheit. 4. Freiheit - Einheit der Nation. 5. Freiheit - Demokratie.
ti. Freiheit - Eigentum. '7. Freiheit - Orunung. 8. FI"eiheiL - GleichheiL. VIII. Ausblick.

1. Einleitung
'Frei' bzw. der 'Freie' werden auf germ. *frija-, „mit freiem Halse" (im Gegensatz
zum Sklaven) zurückgeführt und etymologisch mit 'lieb' und 'Freund' (ved. priya)
zusammengesehen. Sie bezeichneten, ebenso wie ihre Entsprechungen eÄem~eeor;
und liber bzw. ingenuus, die got. bzw. ahd. mit „frei" übersetzt wurden, die Zuge-
hörigkeit zu einer schützenden Gemeinschaft. 'Frei' war also ein Rechtsbegriff,
durch den die Glieder einer Bluts- und Stammesgemeinschaft von Fremden =
Nichtfreien abgehoben waren. Daraus ergaben sich die beiden Hauptbedeutungen,
die abgewandelt bis zur Gegenwart nachwirken: 1) Freisein (Freiheit) bedeutet
Ledigsein von fremder Gewalt innerhalb der Gruppe oder des Bereichs, in denen
„Freiheit" gewahrt ist; 2) Freisein (Freiheit) kann nur bestehen, wenn sie durch
eine eigene bzw. anerkannte, durchsetzbare Gewalt gegen Verletzung oder Unter-
drückung durch fremde Gewalt geschützt ist ('Friede') 1 . Ehe der moderne Staat das
ausschließliche Recht legitimer Gewaltanwendunp; für sich durchsetzte, in seinen
Grenzen Frieden und damit Freiheit für seine Bürger sicherte, hing verwirkliehte
Freiheit stets von der Reichweite der konkurrierenden MaehLinhauel' au, l:!Uwuhl in
vertikaler wie in horizontaler Richtung.· Daraus ergab sich die Vielzahl der „Frei-

1 KLuGEjl\frTZKA 18. Aufl.. (1960), 216 f.; GRIMM BJ. 4/1/1(1878),111 ff.; SIGMUND FEIST,

Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache, 3. Aufl.. (Leiden 1939), 167 f.; GERHARD
D1LCHER, Art. Freiheit, Hwb. z. Jt. Rechtt1gei:!ch., BJ. 1 (1971), 1228 ff.; GERD TELLEN-
BACH, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits (Stuttgart 1936),
14 ff. Zur mittelalterlichen, bes. frühmittelalterlichen sozialen Trägerschaft von Freiheits.
KARL BosL, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter. Eine deutsche
Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters, 2 Bde. (Stuttgart 1972).

425
Freiheit II. 1. Die griet)hischc Polis

heiten", die stets personell 'und räumlich so weit galten, wie sie wirksam Schutz ge-
nossen. Schon im Mittelalter wurden neben dem solcherart begründeten Rechtsbe-
griff der 'Freiheit(en)' sowohl der in der Spät11ntike entwickelte philosophische wie
der christliche Freiheitsbegriff (beide auf den Menschen als Person bezogen) auch
für die politische Ordnung und Denkweise mitbestimmend. Diese Tendenz steigerte
sich in der Ausbildri.ng des modernen Naturrechts und wurde seit der amerikanischen
und Französischen Revolution im Staats- und Völkerrecht wirksam.
WERNER ÜONZE
II. Antlk.e Grundlagen
1. Die griechische Polis
'Ek:M>eeor;, „frei", ist seit HOMER, eJ.evf>eela., „Freiheit", seit dem 5. Jahrhundert 2
bezeugt. Beide Worte bezeichneten vor allem den Stand des Freien im Gegensatz
zum Sklaven. Da das Freisein des Einzelnen sehr konkret von dem des Gemein-
wesens abhängen konnte, bezog sich eJ.eVf>eeor; früh auch auf die Polis 3 • Deren
Freisein konnte aber zunächst nur von außen, durch Eroberung bedroht sein.
Als dann im 7. und 6. Jahrhundert zahlreiche Bauern ihr Land und ihre persön-
liche Freiheit verloren und vielerorts Tyrannen die Herrschaft usurpierten, wurde
bewußt, daß Freiheit in verschiedener Weise zur rechtmäßigen Ordnung der Polis
gehörte. Als Freiheit der Stadt von Tyrannis war sie auch für die Adligen unmittel-
bar wichtig. SOLON erkannte darüber hinaus, daß die Freiheiten von Bauern und
Land 4 Bedingung und wesentlicher Teil der Eunomie waren 5, denn ihr Verlust
bildete den Nährboden für Tyrannis und Bürgerkrieg. Der schlechte Zustand der
Dysnomie führte in die Knechtschaft (1fovJ.u1nm1)6. Soweit freilioh dnmnlR von
'Freiheit' die Rede war, dachte man an die Wiederherstellung rechter Ordnung,
deren Teil die einzelnen „Freiheiten" und die Freiheit im Ganzen waren.
Im Perserkrieg war ekvf>eelrx. die wichtigste Parole der Griechen 7 • Sie wurde in
der Folge als Wesensmerkmal der Griechen im Unterschied zu den Barbaren und
als wichtige Ursache ihres Sieges bewußt8 • Freiheit nach außen und von Tyran-
2 HOMER, Ilias 6, 455. 528; 20, 193. Die Etymologie von eJ.eVf>eeor; ist umstritten, vgl.
zuletzt DIETER NESTLE, Eleutheria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und
im Neuen Testament, Bd. 1 (Tübingen 1967), 5 ff. Früheste Belege für eJ.evf>eefa.: PINDAR,
Pyth. 1, 61; Isthm. 8, 15; Fragm. 77, 2; SIMONIDES 94, 2; 106,4; 118, 3.
3 So schon HOMER, Ilias 6, 528.
4 Er ha,t, na,ch seiner Aussage, nicht nur die versklavten .Bauern, sondern die geknechtete
athenische Erde selbst (von den Hypothekensteinen) frei gemacht; Gedicht 24, 7. 15,
Authulugia ly.riua Grneua, hg. v. ERNS'l' DrnHL, 8. Auil„ Bll. 1 (1949; Nili" Leip~ig 1954),
43 f.
5 HANS SCHAEFER, Politische Ordnung und individuelle Freiheit im Griechentum, Rist. Zs.

183 (1957), 5 ff„ bes. 12, auch in: dem„ Problem11 cfor A.ltiln G11Rnhfoht,fl, G11R. Abh. u. Vor-
träge, hg. v. URSULA WEIDEMANN u. WALTER SCHMITTHENNER (Göttingen 1963), 307 ff„
be~. 314; C.1iitJ.S'.rL1.N :MlllUR, Entstehung des Begriffs „Demokratie''. Vier Prolegomena zu
einer historischen Theorie (Frankfurt 1970), 19 ff.
0 SOLON 3, 18; 8, 4; 10, 4.

7 ArscHYLos, Perser 403; SIMONIDES 96, 1; später THUKYDIDES 2, 71, 2; 3, 54, 3; LYSIAS

34, 11 u. ö.
8 HERODOT 7, 103f.; 135, 3; vgl. 5, 78(dazu 5,91) u. ö.; [IIIPPOKRATES], :rtE(!t de(!WV .Jf5cfrwv

't'onwv 2, 16. 23; FELIX HEINIMANN, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer

426
II. 1. Die griechische Polis l<'reiheit

nis9 blieben zunächst die wichtigsten Bestimmungen von ekvi>eelrx, soweit sich
diese auf die Polis bezogio.
Die positive Charaktcrisi!Jrung der seit dem späten 6. Jahrhundert entstehenden,
auf breitere Bürgerschichten gestützten Verfassungen erfolgte zunächst vornehm-
lich von der Gleichheit her. Der neue Anspruch artikulierte sich in luovoµlrx,
später dann in &Jµouea:r:ltx.U. Man erkannte die Herrschaft des Adels nicht mehr
an, empfand grundlegende Gleichheit und forderte daher gleiche Teilhabe an der
Bestimmung über die Polis. Dadurch sollte (und konnte) rechtmäßige Ordnung im
Sinne der - relativ konservativen - Auffassungen der breiten Schichten, zumal
der Bauern, gesichert werden. Gleichheit war also das eigentlich Neue, das Positive
an den neuen Verfassungen. Insofern sich diese aber stets vornehmlich gegen die
Tyrannis absetzten, betonten sie zugleich, daß in ihnen Freiheit herrschte, viel-
leicht um so mehr, je mehr diese als Wesensmerkmal der Griechen bewußt wurde.
Dabei füllte sich der Begriff mit neuen Inhalten. Man fand etwa, daß die Freiheit
(wie die neuen Verfassungen) durch die Geltung oder gar die Herrschaft des No-
mos12, durch die. Sicherheit des Besitzes13 ausgezeichnet sei. Eines der zentralen
demokratischen Rechte, das der gleichen Rede- und Antragskompetenz aller in
der Ekklesie (lariyoelrx, nrxeeriah.) wurde als Ausdruck der Freiheit verstanden 14.
Hinzu kam die Chance für jeden, sich politisch zu betätigen15 . In der Abgrenzung
Athens gegen Sparta fand man endlich, daß die Demokratie es ermögliche, zu leben,
wie man wolle 16 . Hier sollt.e der Eirnr.elne nicht von der PoliR h1wormnnrlet und
Antithe1:1e im griechischen Denken des u. Jahrhunderts (phil. Diss. Basel 1945), 28 ff. 35 ff.
Die Deutungen der qualitativen Überlegenheit der Griechen blieben zunächst in einer heute
RnhwAr TI11.nhvoll7:iAhh11.mTI KnTiki1rrf'ITI7: 11:11 thflnloei11nhf'ITI FirklÄ,nmef'ITI nf'IR AiP.gP.11; vgl. z.B.
NESTLE, Eleutheria, 39; CHRISTIAN MEIER, Beobachtungen an Herodot, in: Die nicht mehr
schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. v. HANS ROBERT JAuss (München
1968), 99 ff.
9 Dazu die Kulte des Zeus Eleutherios; HERODOT 3, 142, 4; DIODOR 11, 72, 2; THUKYDIDES

2, 71;2; SCHAEFER, Polit. Ordnung, 15 bzw. 317. Ehrung des gleichen Gottes aus Anlaß
des Persersieges: SmoNIDES 107. ·
10 So alle Belege bei HERODOT, in denen nicht der Personenstand gemeint ist, ebenso bei

PINDAR: zu Pyth. 1, 61 vgl. HERMANN FRÄNKEL, Dichtung und Philosophie im frühen


Griechentum, 2. Aufl. (München 1962), 524.
11 _,.Demokratie, Bd. 1, 823 ff. 827.
12 HERODOT 7, 104, 4; LYSIAS 2, 18 f. (die Demokratie entspreche als Staat der Gesetze

dem Wesen der Menschen, während die Tiere sich durch Gewalt beherrschten); 28, 13;
DEMOSTHENES 6, 25; 10, 4; 23, 139; 24, 5. Hierher gehört auch der enge Zusammenhang
zwischen ekv{}eeh. und rxinovoµlrx. Vgl. noch HERODOT 3, 80, 5 f.; TrruKYDIDES 4, 86, 1
(_,.Demokratie, 828); ÜICERO, Pro Cluentio 146.
13 EURIPIDES, Hiketiden 450; EPHOROS, in: Fragmente der griechischen Historiker, hg. v.

FELIX JACOBY, Bd. 2 (Berlin 1926), 89, Fragm. 149.


14 DEMOKRIT, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, 12. Aufl., hg. v. HERMANN DIELS u.

WALTHER KRANZ, ßd. 2 (Dublin, Zürich 1966), 190, Fragm. 226; EUlW'IDES, Hiketiden
438 ff.; DEMOSTHENES 21, 124, Fragm. 21 (Sauppe); PLATON, Politeia 557 b.
15 SUHAE.ll'ER, Polit. Ordnung, 17 bzw. 318 f.
16 THUKYDIDES 2, 37, 2; 39, 1. 4; lsOKRATES 7, 37 u. a.; _,.Anarchie, Bd. 1, 51 f. Besonders

schön das Komikerfragment bei EusTHATIOS, Commentarii zu Dionysios Perieget. 492, in:
Geographi Graeci minores, hg. v. KARL MÜLLER, Bd. 2 (Paris 1861), 389, 43: eÄEv{}eerx
Keeuverx· xü önov {}eÄei~.

427
Freiheit II. 1. Die griechische Polis

erzogen werden, man ließ ihn in seinem Privatleben möglichst in Ruhe. In dieser
ave:n:froiu-roc; niiut er; -r:T}v <Jloit-r:oiv egovaloi war die Freiheit des Einzelnen in der
Polis verwirklicht17 • Ihr entsprach der Wunsch, daß rnan S'ich n'icht regieren läßt,
und zwar am liebsten von niemandem; soweit aber dies unmöglich ist, nur abwechslungs-
weise (ini Wechsel von Regieren und Regiertwerden) 18 . So wurde Freiheit - in
enger Verbindung zur Gleichheit19 - zum wichtigsten Merkmal der Demokratie.
Sie wurde in dieser praktiziert, nicht von einem „Staat" gewährt.
Der Freiheit korrespondiert notwendig Herrschaft; Die Freiheit nach außen war
am besten gesichert, wenn eine Polis über andere herrschte - wie Athen über den
Seebund. Die Garantie der inneren Freiheit hat man eine Zeitlang wohl als Isonomie
begriffen, doch dann wurde deutlich, daß diese in Wirklichkeit eine Form von Herr-
schaft, nämlich Demokratie war 20 , wie EuRIPIDES es formulierte: ... die Stadt ist
frei. Das Volk herrscht 21 • Dabei wird lHjµoc; bald als das gesamte, bald nur als das
nieuere Volk ver·gtanuen. Mit uer· VerHchi:itfüng uer GegenHiiLze zwiHchen Auel UllU
Volk oder Reich und Arm wird der Freiheitsbegriff zugespitzt auf die Freiheit des
lJijµoc; im engeren Sinne (welche durch oligarchische Bestrebungen bedroht ist). So
schrieb PsEUDO-XENOPHON: Der Demos will frei sein und herrschen 22 • Es entstand
die Alternative, daß entweder der Demos herrschte oder eine weitere oder engere
Oligarchie. In Reaktion darauf wurden Mi~chungskonzepte entworfen; man be-
hauptete, Freiheit sei nur, wo Gleichheit zwischen den Gruppen der Armen und der
Reichen herrsche 23 . Im Ganzen aber blieb der Freiheitsbegriff der Demokratie zu-
geordnet.
So sah PLATON das dyoiD6v der Demokratie in der Freiheit 24 . Die Gefahr sei nur,
daß dieses Gut übertrieben würde, daß unmäßige Freiheitsliebe, daß ·1/ liyoiv eJ.evB·e(!loi
in ihr Gegenteil, 1) äyoiv lJovJ.eloi umschlüge 25 .' Man verwechsle Anarchie mit Frei-
heit26. Die rechte Polis dagegen sei durch maßvolle Freiheit ausgezeichnet, sie
wolle eJ.evße(!oi uoil eµ<p(!WV uoil ioiv-r:fl q;{).'I'/ sein 2 7 •

17 THUKYDIDES 7, 69, 2 als besondere Kennzeichnung der noi-r:elc; ß).evDeew-r:d-r:11.


18 ARISTOTELES, Pol. 1317 b 13.
19 EURIPIDES, Hiketiden 438--441 u. ö.; s. HEINRICH SCHLIER, Art. eÄwDeeoc;, KITTEL

Bd. 2 (1935), 486, Besonderes Interesse verdient PLUTABCH, Dion 37, 5 (zur Agitation in
Syrakus im Jahre 356). Dort wird eine Neuverteilung des Bodens gefordert mit der Be-
gründung, weil fiir die Besit:dosen der Freiheit Anfang die Gleichheit, der Knechtschaft aber
die Armut ist: der einzige antike Beleg, in dem die Freilieit ausdrücklich mit der Gleichheit
des Besitzes am Boden verknüpft wird, und zwar als durch diese erst ermöglicht. Vgl.
ALEXANDER FuKs, Redistribution of Land and Houses in Syracuse, Classical Quarterly,
NF 18 (19G8), 218 ff. -Ahnungsvolle Anspielungen auf eine Dedl'Ohw1g der Freilieit durch
gleichheitschaffende Gesetze bei ARISTOTELES, Ekklesiazusen 938-945.
20 ->- Demokratie, 823. 21 EURIPIDES, Hiketiden 405 f.
22 PSEUDO-XENOPHON, Athenaion Politeia l, 8.
23 THUKYDIDES 4, 86, 4 f.; ARISTOTELES, Pol. 1291 b 30 ff. Wie man die Minderheit und

die Mehrheit (vgl. 1317 b 8 ff.) zu gleichem politischen Gewicht bringen wollte, bleibt eine
schwierige Frage.
n4 PLA'l'U.N, Politeia 557 b; 562 b. c.
25 Ders., Politeia 564 a; Epist. 8, 354 d.
26 Ders., Politeia 560 e; vgl. 572 e; Nomoi 698 a. Vgl. lsOKRATES 7, 20.

27 Ders., Nomoi 693 b; vgl. d. e; 697 c; 698 a; 701 d. Freilieit aller als Bedingung für

oµovoioi µeylar11 (allerdings ohne Rücksicht auf das Ma,ß) auch bei LYSIAS 2, 18.

428
II. 1. Die grleeblsche Polls Freiheit

ARISTOTELES sah die Demokratie in zwei Weisen durch Freiheit bestimmt, einer-
seits dadurch, daß dort nur der Status der Freiheit (und nicht etwa auch Abstam-
mung oder Vermögen o. ä.) über die politischen Rechte entschied 28 • Freiheit bil-
dete insofern den Inhalt der demokratischen Gleichheit, sie war daher das eigent-
liche Bestimmungsmerkmal der Demokratie (seitdem der Gleichheitsbegriff theore-
tisch nicht mehr eindeutig war)2 9 • Sie verwirklichte sich darin, daß alle abwechselnd
regierten und regiert wurden. Andererseits bestand die demokratische Freiheit,
jedenfalls in den extremen Demokratien, nach Aristoteles darin, daß jeder leben
kann, wie er wfil 30.
Neben diesem politisch und gesellschaftlich gerichteten Begriff der Freiheit finden
sich primär am Individuum orientierte. Aristoteles nennt den Menschen frei, der
um seiner selbst, nicht um eines andern willen ist 31 . Daneben läuft eine andere Tradi-
tion der Bestimmung des Freien, die sich offenbar aus Idealen der archaischen und
vor allem der klassischen Zeit herleitet, in denen sich der Stolz und das Vertrauen
auf die Freiheit niedergeschlagen haben. In der Gefallenenrede bei THUKYDIDES
ist von der Großzügigkeit die Rede, die die Athener im Vertrauen auf die .l!'reiheit
gewähren 32 . Freiheit verknüpft sich nach dieser Auffassung Athens mit Bildung
nnil Knltnr. RinA fmiA Rtailt hanilAlt, wie Rie eR für recht hält; ihre Bürger stürben
lieber, als daß sie etwa Verletzungen des Gastrechts duldeten33. Diese und ähnliche
Ansprüche haben sich u. a. in dem Wort eÄev1>eeio, artikuliert 34 . Sie mußten 'sich
leicht an den Bedingtheiten des irdischen Daseins stoßen, so daß es dann bei EuRI-
PIDES, der dies wohl am stärksten und schmerzlichsten verspürte, heißt: es ist unter
den Sterbl·iclien ke·iner, der fre·i ist 35 • Ee kam danach, zumal bei den Kynikern und in
der Stoa, zu anderen, den konventionellen u. U. genau entgegengesetzten Bestim-
mungen von 'Freiheit', nach denen nur der Weise frei ist 36 .
ln der Philosophie wurde dann auch der Unterschied zwischen Freien und Sklaven
theoreiisch aufgehoben. In Hinsicht auf den Personenstand ist 'Freiheit'. ansonsten
nie mehr als ein Terminus gewesen. Alles Nachdenken darüber hatte es mit der
Freiheit der Freien in der Polis zu tun - bevor die Philosophie deren Grenzen
durchstieß.
CHRISTIAN MEIER
28 Demokratie, 832 mit ARISTOTELES, Rhet. 1366 a 4; Pol. 1317 a 40.
---+
29 Durch die Unterscheidung der arithmetischen und der geometrischen Gleichheit.
30 ARISTOTELES, Pol. 1317 b 12; 1319 b 30 . Das gleiche wird 1310 a 31 als Merkmal nur

der extremen Demokratie angeführt. Auch die Formulienmg in 1317 h (p1Xrr1.11) Rprir.ht
dafür, daß Aristoteles „das Leben, wie man will" nicht unbedingt für ein Kennzeichen der
Demokratie hält. Daß er darin ein Unglück sieht, sagt er ausdrücklich 1310 a 34: Man
darf es nicht für Knechtschaft ansehen, der VerfasBung entBprechend zu leben (vgl. 1310 a 19),
Bondtrn für SelbBterhaltung.
31 Ders„ Metaphysik 982 b 25. Zum Folgenden vgl. allgemein: SCHLIER, Art. 6).eMJeeo,,

489 ff.; NESTLE, Eleutheria, 120 ff.


32 TuuKYDIDES 2, 40, 5; vgl. 43, 4.
33 EURIPIDES, Herakliden 197 f. 957 f.; vgl. Hippolytos 421.
34 RUDOLF H:mzEL, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts-

idee bei den Griechen (Leipzig 1907)' 259 f. Vgl. schon PrnDAR, Pyth. 2, 57: ekv{}eeq. rpeevt.
35 EURIPIDES, Hekabe 864. Vgl. schon ArscHYLos, Prometheus Desmotes 50, dort aber

in eingeschränktem Sinne.
3 6 NESTLE, Eleutheria, 121.

429
Freiheit II. 2. Römische libertas

2. Römische lihertas

a) Römische Republik. 37 • Das Bewußtsein von Freiheit (libertas) als einem politi-
schen Wert ist für uns zuerst in derjenigen Periode der römischen Geschichte greif-
bar, in der sich die Häupter der großen römischen Geschlechter und Familien gegen
das Königtum wehrten und es schließlich beseitigten. Der Inhalt der Freiheit ent-
wickelte sich seit den Kämpfen gegen das Königtum erst allmählich zu seinem
vollen, in der ausgehenden Republik faßbaren Umfang. War er anfangs vor allem
von den Geschlechterhäuptern (dem patrizischen Adel) her geprägt worden, die den
Sturz des Königtums und die Übertragung der königlichen Gewalt auf einen jähr-
lich wechselnden patrizischen Oberbeamten mit dem Begriff der libertas verbanden,
erweiterte er sich beträchtlich in den Ständekämpfen, in denen die breiten Massen
der persönlich freien, aber in ihrer Rechtsstellung ungleichen, politisch unmündigen
und z. T. auch wirtschaftlich abhängigen Bauern (Clienten; Plebejer) sich gegen-
über den Patriziern die rechtliche Gleichstellung und einen Anteil an der politischen
Macht erkämpften. Es ging dabei zunächst um die Aufzeichnung der von den Patri-
ziern vorwaltoton Roohtoformoln, dio don Plobojorn Roohtooiohorhcit vcmohaffcn
sollte, und um die Beseitigung sozialer Mißstände durch eine entsprechende Abände
rung des geltenden Rechts, dann auch um den Abbau der Barrieren, die den Ple-
bejer - z. ,Il. im Eherecht, das die Verbindung einer Person patrizischen Standes
mit einer Person plebejischen Standes verbot - vom Patrizier trennten. Das erstere
wurde durch die Kodifikation des Rechts in den Zwölf Tafeln erreicht (ca. 450
v. Chr.), das andere in den auf die Tafeln folgenden .Tahrzehntfln. Dflr KH,mpf nm
den Anteil am politischen Regiment brachte den Plebejern die ersten Erfolge durch
die Einrichtung neuer Volksversammlungen, in denen nach timokratischem oder
auch nach rein lokalem Prinzip (d. h. aufgrund der Abstufung des Stimmrechts nach
dem Vermögen bzw. nach der Zugehörigkeit zu einzelnen lokalen Bezirken) über die
Wahl der Beamten, über politische Prozesse und (später) über Gesetze abgestimmt
wurde. Den Höhepunkt und Abschluß erreichten diese Kämpfe durch die Zulassung
auch der Plebejer zum höchsten politischen Amt, demConsulat(ca.367/6.6 v. Chr.).
Der durch die Vertreibung der königlichen Dynastie und durch die Ständekämpfe
bedingte Ausbau der staatlichen Ordnung wurde später als eine Entwicklung in
Richtung auf eine freiheitliche Verfassung angesehen. Da die römische Literatur
erst in der Mitte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts einsetzte, kennen wir die Zeit
bis zum Abschluß der Ständekämpfe lediglich aus der Sicht der Spätzeit, doch ge-
statten selbst sehr zurückhaltende Interpretationen der später schreibenden
Schriftsteller die Aussage, daß die Entwicklung der Verfassung vor allem auch unter
dem Stichwort der libertas erfolgte. Wenn die rechtlichfl Glflichstflllnng dflr Plebejer
mit den Patriziern, die Ablehnung der Königsherrschaft und deren Ersetzung durch
ein jährlich wechselndes (Annuität) und später auch jeweils doppelt besetztes Ober-
amt (Kollegialität) sowie die Beteiligung der Bürgermassen an der Ausübung der
politischen Macht durch die Volksversammlungen (Wahl, Gesetzgebung, Gericht)

37 Zur libertas in der römischen Rep"Ublik vgl. HANS KLOESEL, Libertas (phil. Diss. Breslau

1935); CHAIM WmszunsKI, Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und
des frühen Prinzipats (1950; dt. Darmstadt 1967); JOCHEN BLEICKEN, Staatliche Ordnung
und Freiheit in der römischen Republik (Kallmünz 1972).

430
a) Römische Republik Freiheit

in der Tat einen freiheitlichen Geist ausstrahlten, war jedoch damit nicht der Anfang
zu einer „demokratischen" Entwicklung eingeleitet worden, die das Schwergewicht
der politischen Macht, wie etwa in Athen, auf die Bürgermassen gelegt hätte. Die
libertas wurde nicht der Motor, durch den die sozialen Bindungen der Massen an die
Begüterten, insbesondere an die Häupter der alten Geschlechter gelöst worden
wären. Neben die alten patrizischen Geschlechter trat vielmehr nun eine Reihe vor-
nehmer plebejischer Geschlechter, die die Massen als Clienten in Abhängigkeit hiel-
ten: der Wille der in den Volksversammlungen abstimmenden Bürger blieb an die
Vornehmen und Reichen, die die obersten Beamtenstellen be&etzten (Patrone), ge-
bunden. Die Ursache für die Konstanz der sozialen Verhaltensweise haben wir vor
allem in der Expansion zu sehen, die seit dem Ende des 4. Jahrhunderts und also in
unmittelbarem Anschluß an den Abschluß der Ständekämpfe die Massen durch die
Verteilung der Beute, insbesondere durch die Vergabe von Land befriedigte und so
latente Spannungen ständig abbaute. Auch die innenpolitischen Kämpfe, die seit
den Reformversuchen der Gracchen (133--122 v. Chr.) die RepubliJr erschütterten,
enthalten keinen Ansatz zu einer „Demokratisierung" der Verfassung, sondern sind
der Kampf der einflußreichen Patrone um J:{eformen bzw. um ehe .lilrweiterung des
pnlit,ii=u~h1m F.inflnRRP.R rlP.R P.im:P.lnen 3 B, Der Einsatz von militärif:lcher Gewalt a11f dem
innenpolitischen Kampffeld hat dann die Republik zerstört und den aus den Schlach-
ten h~rvorgehenden Sieger schließlich zum ersten Monarchen Roms gemacht
(Caesar, dann Octavian/Augustus). - In den Kämpfen der ausgehenden Republik
haben die sogenannten Popularen, die ihre Politik auf die Volksversammlungen
stützten und durch Volksgesetze durchzusetzen suchten, für sich in Anspruch ge-
nommen, gegenüber ihren innenpolitischen Gegnern, deii. Optimaten, die Sache der
libertas zu vertreten; die Einführung der geheimen Abstimmung in den Volksver-
sammlungen unterstützte diese Behauptung: quid tam populare quam libertas ?39
Tatsächlich aber hatten die Volksversammlungen, die fast nur noch von Bewohnern
Roms besucht wurden, gegenüber den popularen Politikern nicht mehr Freiheit
gewonnen; sie blieben genauso passiv und waren verfügbares Instrument: die Po-
pularen waren nur eine Faction der Nobiles, nicht die Vertreter einer Richtung, die
den politischen Willen der Massen aktivieren wollte 40 •
Ihrem.Inhalt nach bedeutete dem Römer der republikanischen Zeit 'libertas' zu-
nächst die (volle oder auch nur beschränkte) Verfügungsgewalt über die eigene Per-
son (personale Freiheit). Sie verstand sich für den Römer wie für jeden antiken
Menschen durch die Existenz der Sklaverei. In Rom war die Grenze zwischen
Sklavenstand und freiem Bürger durch das Privatrecht scharf geschieden: der
Sklave war dem Rechte nach eine Sache (res).
Seit der Vertreibung der Könige bedeutete dem Römer 'libertas' auch die Möglich-
keit der politischen Willensäußerung. Diese Form der libertas erscheint in den Quel-
len vor allem als Negation der Herrschaft des einzelnen (rex, tyrannus, dominus):

38 Zur Diskussion vgl. JOCHEN MARTIN, Die Popularen in der Geschichte der späten Re-
publik (phil. Diss. Freiburg 1965), 130 ff.; BLEICKEN, Staat!. Ordnung, 11. 34 ff.
39 CICERO, Leg. agr. 2, 9.
40 Zu den Popularen vgl. CHRISTIAN MEIER, Art. Populares, RE Suppl.Bd. 10 (1965),
549 ff.; ders., Res publica amissa (Wiesbaden 1966), 116 ff.; MARTIN, Popularen, 220 u.
passim; BLEICKEN, Staat!. Ordnung, 34 ff.

431
Freiheit II. 2. Römische libertas

desunt omnina ei populo multa qui sub rege est, in primisque libertas, quae non in eo
est ut iusto utamur domino, sed ut nullo 4 i. Positiv gewendet wurde dieser Inhalt von
'libertas' mit allen Institutionen und Kontrollmechanismen verbunden, die den
politischen Willen der Bürger gegen die Herrschaftsansprüche des einzelnen absi-
cherten, insbesondere mit dem Volkstribunat, das den Massen in den Ständekämpfen
die politische Mitbestimmung erkämpft hatte, und mit den Rechtsprinzipien der
Annuität und der Kollegialität des Amtes: libertatis autem originem inde (d. i. seit
der Vertreibung des letzten Königs) ... , quia annuum imperium consulare factum
est 42 • Da dieser Inhalt von 'libertas' in aller Regel rechtlich institutionalisiert war
unfl im wP.itimm V p,r]a,uf flp,r ':'Rfü1htRP.ntwicklnne immflr liicklln loR!lr im R.P.cht llrfaßt
wurde, erscheint auch das Recht bzw. das Gesetz selbst als 'libertas' und wird also
die Form stellvertretend für die Summe des Inhalts gedacht: libertas in legibus
(consistit)4 3 • - 'Libertas' erscheint auch als Gleichheit vor dem Gesetz (aequa
libertas) und als politische Gleichheit. Die letztere ist jedoch nicht der Reflex einer
abstrakten Idee, sondern lediglich das Ergebnis von Erfahrungen, die man mit der
Abwehr des Machtzuwachses einzelner gemacht hatte. 'Gleichheit' meint hier also
vornehmlich: Abwehr von Usurpation. Da die politische Macht bei den Häuptern
der vornehmen Geschlechter (Nobilität) ruhte, betraf die Gleichheit und betrafen
überhaupt alle Rechtsgarantien, die die res publica vor der Herrschaft des einzelnen
sichern sollten, in erster Linie sie. 'Gleichheit' und 'Freiheit' bezogen sich also vor
allem auf die Aristokratie; sie gibt es nur unter den bestehenden sozialen Bedin-
gungen, nicht gegen sie: 'libertas' hat ihre absolute Grenze an der Autorität des Vor-
nehmen (üa l-ibertatem •ii;tam lwryÜYr pup•ulu, •ut wucturüate et •valeant et ·utant•ur buni
[sc. die Aristokraten der konservativen Richtung]), die schrankenlose Gleichheit ist
Willkür (licentia) 44 • - 'Libertas' haben die Römer schließlich auch diejenigen recht-
lichen Garantien genannt, die sie vor der Willkür magistratischer Handlungen
schützten. Dieser Schutz vor Übergriffen der staatlichen Exekutive wurde aller-
dings nicht als Ausfluß eines Persönlichkeitsrechts gefaßt; er war das Ergebnis kon-
kreter Erfahrungen, die man mit der exekutiven Gewalt gemacht hatte, und bezog
sich nur auf sie. Es ging hier in erster Linie um die Garantie gegen den Mißbrauch
der Amtsgewalt bei politischen Vergehen. Im Laufe der Ständekämpfe hat sich diese
Gar~ntie in dem Rechtssatz konkretisiert, daß der kapitale, d. h. Leben und Ver-
mögen des Bürgers betreffende politische Prozeß der Entscheidung des Beamten
entzogen sei und der Volksversammlung übertragen werflen mußte (ProvocationR-
recht)15.
Ihrer formalen Struktur nach ist die römische libertas also nicht in einer Idee
ab~!LraLiel'L; ~;ie iHL niehL GegenHLarnl LheureLiHeher Reflexion, 8UllUem blieb ueu
historischen Situationen verhaftet, aus denen sie geboren wurde. 'Libertas' konnte

41 CICERO, Rep. 2, 43. Vgl. GrnLIANO CRIFo, Su alcuni aspetti della liberta in Roma,

Archivio Giuridico 154 (1958), 28 :ff.; BLEICKEN, Staat!. Ordnung, 20 :ff.


42 LIVIUS 2, 1, 7.
43 CICERO, Leg. agr. 2, 102; Cluent. 146.155; SALLUST, Ep. 2, 5, 3; LIVIUS 2, l, l; 4, 15, 3;

5, 6, 17; vgl. BLEICKEN, Staat!. Ordnung, 23.


44 CICERO, Legg. 3, 33 ff., bes. 38; Sest. 103.
45 JOCHEN BLEICKEN, Ursprung und Bedeutung des Provocationsrechtes, Zs. f. Rechts-

gesch., romanist. Abt. 76 (1959), 358 ff.

432
b) Römische Kaiserzeit Freiheit

demnach kein Motor sein, der aus sich selbst heraus, also durch die reine theoretische
Reflexion das Handeln der Menschen bestimmt hätte. Dem Römer ist daher auch
die Vor1:1tellung eiue8 persönlichen Freiheitsrechts völlig fremd; man konnte z.B.
die Freiheit der Rede als 'libertas' bezeichnen 46 , ohne ihre temporäre Aufhebung
durch die staatliche Gewalt als die Einschränkung eines Prinzips zu empfinden. Es
gibt folglich auch keine abstrakte „Freiheit von Staat" 47 . Die mangelnde theoreti-
sche Durchbildung des libertas-Begriffs hat auch verhindert, die libertas mit man-
chen Vorstellungen fest zu verknüpfen, die wir heute mit 'Freiheit' verbinden wür
den. Auch wenn diese „Freiheiten" -tatsächlich vorhanden waren (z. B. Freiheit in
der Ausübung der Religion, Vereinsfreiheit, Freizügigkeit), haben die Römer sie
nur sehr gelegentlich und manche überhaupt nicht mit 'libertas' umschrieben: der
Freiheitsraum der Römer war tatsächlich größer, als der Inhalt von 'libertas' aus-
weist.
Es ist nur eine Konsequenz der der Geschichte verhafteten, aus der Kasuistik
gewonnenen Struktur von libertas, wenn ihr Inhalt eher verbietet als gebietet: der
konkrete Casus ihrer Entstehung läßt in ihr den Gedanken der Abwehr gegen den
unerwünschten Zustand schärfer hervortreten als die Beschreibung des erwünschten.
Der Kampf um die libertas hat ferner dazu geführt, daß sie in aller Regel in Rechts-
sätzen institutionalisiert wurde. Ihrem Inhalt nach erscheint 'libertas' vor allem als
Sicherheit, nämlich als Schutz vor dem willkürlichen Gebrauch der Beamtengewalt,
und als politische Gleichheit bzw. als politischer Wille, doch tritt der letztere Ge-
danke vor dem erstell zurück. Gegen Ende der Republik, alR (lif1 Rtadtrömische Be-
völkerung am; der (,radierten sozialen Ordnung herauszuwachsen begann, wurde
auch das Bewußtsein davon schärfer, daß die Beschränkung ein konstitutives Ele-
ment der libertas sei. Der soziale Bezug der libertas zu den auctoritates bzw. digni-
tates der Nobiles wird nun deutlicher hervorgehoben4 8 •

b) Römische Kaiserzeit. In den ersten drei Jahrhunderten der Kaiserzeit erscheint


die staatliche Ordnung als eine Rechtsordnung, in der der Inhaber der Militärge-
walt und faktische Militärdespot nicht als Herrscher, sondern als Inhaber eines
Bündels rechtlicher Gewalten auftritt, die die Verbindung der neuen Ordnung mit
der Republik versinnbildlichen (Principatsverfassung). Die neue Ordnung ist das
Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem Inhaber der Militärgewalt und den
mächtigen alten Geschlechtern, die in der Rtahlierung der Monarchie als Rechtsord-
nung ein SLück ihrer Unabhängigkeit und Freiheit gesichert glaubten. Von Anfang
an wurde jedenfalls die rechtliche Verfassung der Monarchie als 'libertas' empfun-
den, und auch der Beg1·Uuder dieser Verfassung, Auuu1:1·1·u1:1, wollte es so verstanden
wissen: rem publicam a dominatione factionis oppressam in libertatem vindicavi 49 • Der
nach den Bürgerkriegen wieder aufgerichtete Staat sollte die Fortsetzung der Repu-
blik sein (res publica resLiLuLa). Da die EnLscheidungsuefugnis der Volksversamm-
4S CICERO, De orat. 1, 266.
47 Die Vorstellung setzt auch die Trennung der Begriffe 'Staat' und 'Gesellschaft' voraus;
vgl. ERICH ANGEH.MANN, Das „Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft" im Denken
des 18. Jahrhunderts, Zs. f. Politik, NF 10 (1963), 89 :ff.
4 s Vgl. FRITZ SCHULZ, Prinzipien des römischen Rechts (München, Leipzig 1934), 95 :ff.;

WmszUBSKI, Libertas, 9 f.; BLEICKEN, Staatl. Ordnung, 57 f.


49 Res gestae Divi Augusti 1.

28-90386/1 433
Freiheit II. 2. Römische lihertas

1Wlgt1u JJrakLit>ch schon von Augustm1, von TiberiM dann formal aufgehoben worden
war (durch die Ausdehnung des römischen Bürgergebiets waren die Volksversamm-
lungen schon in der späten Republik keine Versammlungen der römischen Bürger
mehr gewesen), bezog sich die libertas des Principats nur noch auf die Aristokratie,
nämlich auf den ordo senatorius und - in gewissen Grenzen - den ordo equester
(Ritterstand). Unter dem Druck der neuen Machtverhältnisse begann sich zudem
die libertas zu wandeln: das Übergewicht des Kaisers (Princeps) innerhalb der
Rechtsordnung und seine tatsächliche Macht (auctoritas ), die vor allem wegen seines
Oberkommandos über alle Truppen die Summe der reinen Rechtsgewalt weit über-
.stieg, machte die Aristokratie zu einem passiven Element, das libertas nur noch
entgegennahm. Die Rechtsordnung und damit die libertas erschien so als etwas, das
gewährt wurde, und die Gewährung als Ausfluß des rechten Princeps oder auch ein-
fach als Gnade (clementia) 5 0. Aus dem Bedeutungsinhalt von 'libertas' verschwand
daher schnell der Gedanke an politischen Willen; 'libertas' wurde mehr und mehr
nur die durch die Rechtsordnung garantierte Sicherung der Stellung der Aristo-
kratie: 'libertas' und 'securitas' werden eng zusammengehörige Begriffe 51 •
Durch das Mißverhältnis von äußerer Form (Principatsverfassung) und machtpoli-
tischer Wirklichkeit (Militärdespotie) kam es öfter zu.Spanmmgen zwischen Kaiser
und Aristokratie; manche Kaiser, wie Gaius und Nero, setzten sich auch sehr will-
kürlich über die formalen Elemente der Ordnung hinweg. Ihnen gegenüber trat
die Senatsaristokratie dann als Opposition auf, die mangels machtpolitischer Mög-
lichkeiten größtenteils in die innere Emigration ging. Die Kaiser, die die von Au-
gustus aufgestellten Rechtsregeln mißachteten bzw. von denen die Aristokratie das
behauptete, wurden als 'Tyrannen' gebrandmarkt. Hier lebte al<Jo der alte Inhalt
von (aristokratischer) 'libertas' als Abwehr des regnum weiter, und obwohl die in
der Republik geltende Antinomie von 'libertas' und 'regnum' während des Princi-
pats in dem Gedanken der rechtlichen Bindung der Herrschergewalt aufgehoben
war, konnte in Zeiten solcher Spannungen erneut die Vorstellung von der Unverein-
barkeit der Begriffe auftauchen: Nerva Oaesar res olim (nämlich z. Zt. Neros und
Domitians) dissociabilis miscuerit, principatum ac libertatem 52 • In dem Maße, wie die
Kaiser nicht nur die Soldaten, sondern auch die Massen der zivilen Bürger als
Clientel an sich banden, also alle Clientelen bei sich monopolisierten und sich ferner
einen von ihnen völlig abhängigen Beamtenapparat schufen (vor allem seit der Zeit
der Flavischen Dynastie, 69-96 n. Chr.), der dio Senatsaristokratie entbehrlich
machte, mußte die Mißachtung der Prin11ipat.Rverfa.RR11ng geringeres Gewicht und
1famit. die re11htlfohe Bindung des Kaisers stärker formalen Charakter erhalten. Das
sogenannte humanitäre Kaisertum des 2. Jahrhunderts (\:16-180 n. Chr.) hat durch
seine großzügige und geschickte Behandlung des ordo senatorius die tatsächlichen
Verhältnisse eine Weile noch verdecken können; mit der Severischen Dynastie

50 Vgl. WIRBZUBBKI, Libertas, 186 ff.; MANFRED FITTIRMA.NN, Die .Alleinherrschaft und das

Problem der Gerechtigkeit, Gymnasium 70 (1963), 481 ff.


61 Vgl. LOTHAR WICKERT, Der Prinzipat und die Freiheit (Köln 1949), 140 f.; ders., Art.

Princep11, RE Bd. 22/2 (1954), 2096 :tf.; !Lurs ULRICH INSTINSKY, Sicherhl'lit. a.lR pnlitiR11hAR
Problem des römischen Kaisertums (Baden-Baden 1952); WIRBZUB!;!KI, Libertas, 196 ff.
u TACITUS, Agric. 3, 1. Über die Einstellung des Tacitus zum Principat vgl. WmszuBsKI,
Libertas, 198 ff.

434
Il. 3. Freiheit der Philosophen Freiheit

(193-235 n. Chr.) und in der Zeit der Soldatenkaiser (235-284 n. Chr.) trat die
Wirklichkeit der machtpolitischen Verhältnisse dann offen zutage und stellte mit
der Principatsverfassung die alte Begrifflichkeit in Frage.
Für die Massen der römischen Bürger und der sich ihnen angleichenden nichtrömi-
schen Reichsbewohner konnte1 wenn überhaupt, 'Freiheit' nur mehr Sicherheit,
insbesondere Rechtssicherheit bedeuten. Insofern die kaiserliche Reichsverwaltung
im Gegensatz zur Republik in einem starken Ausmaße diese Sicherheit gewährte,
konnte gelegentlich auch ein Literat, wie der Rhetor AELIUS .ARrsTIDES in seiner
Romrede, den Verwaltungsapparat mit dem Begriff der Freiheit (im Sinne von
Rechtssicherheit, Sicherheit der sozialen Existenz) verbinden 63 • Mit dem lücken-
losen Aufbau einer kaiserlichen Verwaltung, deren Träger dem Ritterstand ange-
hörten, wurde ·die Stellung der Senatsaristokratie immer schwächer und damit die
Rechtsverfassung der monarchischen Gewalt schließlich ganz entbehrlich. In der
großen Krise des Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr., in der dann auch die alten
senatorischen Familien zum großen Teil ausgerottet wurden, ging die Principats-
verfassung unter. Die Wiederaufrichtung der Ordnung in dem spätantiken Zwangs-
staat (Dominat) rettete das Reich, doch waren die neuen Verhältnisse nicht geeig-
net, der Idee einer libertas auch nur einen formalen Rang innerhalb des Staatsver-
ständnisses einzuräumen. Es ist z. B. charakteristisch, daß das programmatisch.e
Vorwort DIOKLETIANS zum Preisedikt vom Jahre 301 das Wort 'libertas' nicht ent-
hält. In der Literatur .findet sich 'libertas' außerhalb der kirchlichen Diskussion
zwar noch in dem Sinne von „Sicherheit/Rechtssicherheit", jedoch dies nicht mehr
mit Bezug auf die Rechtsverfassung der Monarchie, sondern nur noch gelegentlich
im 8innfl von Rr.r.htRAir.hr.rh11it. cfor füire11r e11e11niihAr OAl' kR.iAArlir.hAn VArw11.l-
tung54. In den Stürmen der in das Reich einbrechenden fremden Völker wurde dann
'libertas' auch mit dem Gedanken der physischen Sicherheit gegenüber dem Landes-
feind verbunden.
JOCHEN BLEICKEN

3. Freiheit der Philosophen

Seit der Trennung von Natur (qn!m,) und Gesetz (voµoi;) im Denken der Sophisten
wurde es möglich, 'F:tei(heit)' auf 'Natur' zu beziehen, von der Polis abzulösen und
ihr entgegenzusetzen. Zwar stellen Platon und Aristoteles die Verbindung von Frei-
sein und Freiheit des Bürgers mit der Polis auf höherer Reflexionsstufe noch einmal
her. Doch selbsL bei ArisLoLeles ist ilie Scheidung vun puliLisch-rechLlicher und phi-
losophischer Freiheit in der 'Autarkie' des Weisen als möglich gedacht, und im Hel-
lenismus, vor allem in der Stoa, wird Freiheit als „innere Freiheit" des einzelnen
zum Inbegriff einer individuellen Weise des Lebens, die unabhängig von Recht und
Politik demjenigen erreichbar ist, der im Einklang mit der _Natur teilhat am Lo-
gos55. Der Aushöhlung des politischen Freiheitsbegriffs in der römischen Kaiser-
zeit stand ilie internü ve Ausbildung des Begriffs einer Freiheit „in uns" - gipfelnd

53 AELIUS AmsTIDES 26, 34. 36; vgl. JOCHEN BLEICKEN, Der Preis des Aelius Aristides auf

das römische Weltreich (Göttingen 1966).


54 z. B. SALVIANUS, De gub. Dei 5, 22. 36 f.
55 Zu 'Freiheit' in der philosophischen Sprache der Antike s. W. W.ABNACH, Art. Freiheit I,

Rist. Wb. d. Philos„ Bd. 2 (1972), 1064 :ff.

435
Freiheit m. 1. Freiheit im Neuen Testament
bei Epiktet- gegenüber: mochten beide begrifflichen Fassungen des gleichen Worts
auch unverbunden nebeneinander stehen und nicht zu politischen Schlußfolgerun-
gen geführt werden, so war doch mit der Aporie von „innerer" und „äußerer" Frei-
heit bereits die grundlegende Spannung des späteren europäischen Freiheitsbegriffs
ausgedrückt. Diese wurde durch die Freiheitsauffassung des christlichen Glaubens
zunächst stärker als die stoisch-philosophische im politisch-sozialen Leben wirk-
sam.
WERNER CoNzE

m. Christliche Freiheit
Das christliche Verständnis von Freiheit, wie es sich seit dem Urchristentum ent-
wickelt hat, zeigt eine Mehrzahl von Aspekten: 1) Im Neuen Testament dient der
Begriff 'Freiheit' (.S&vOsel"'/libertas) zur Bezeichnung des neuen Seins der Glau
benden als der von Christus Erlösten. 2) stellt sich das Freiheitsproblem in einem
spezifisch theologischen Sinn in dem Problemkomplex von Gnade, Freiheit und
Prädestination. Seit der Begegnung mit der philosophischen ·Tradition der Antike
wird die Frage der Freiheit des menschlichen Handelns zum Problem der Theologie,
wobei insbesondere das Verhältnis des philosophisch-ethischen Freiheitsbegriffs zum
theologischen ..IJ'reiheitsbegrift' zu bestimmen ist. 3) Im römisch1m Imperium, in11he-
sondere seiL der kuni,;LanLinischeu Wemle, wiru die Freiheit der Kirche im Staat zu
einem besonderen Thema theologischer und kirchenrechtlicher Reflexion (libertas
ecclesiae). Die Terminologie ist im einzelnen schwankend, vielfach ißt von der Sache
clie Rede, ohne daß ein geprägter Begriff verwendet wird. Das erschwert das be-
griffsgeschichtliche Vorgehen 56 •

1. Freiheit im Neuen Testament

Grundlegend für das christliche Freiheitsverständnis sind die Aussagen des Neuen
Testaments 57 • Der Rückgriff auf sie und die interpretierende Auseinandersetzung
mit ihnen hat in der gesamten Geschichte der Kirche wesentlich die christliche Auf-
fassung von Freiheit bestimmt. Voraussetzung für das neutestamentliche Verständ-
nis der Freiheit ist die alttestamentlich-jüdhmhe Vorstellung von dem frei in der
Geschichte handelnden Gott, der von seinem Volk Treue, Gehorsam und Umkehr
fordert 58 • Orundlegend im Neuen Testament selbst ist die souveräne Freiheit, die
„Vollmacht" (e~ovcJl"') Jesu, mit der er dem jüdischen Gesetz und der religiösen
Überlieferung gegenübersteht59 • Als theologischer Begriff ist 'Freiheit' (eAcvOcel"')

66 Den Herren Dr. Ehlers und Dr. Kuhlmann vom „Thesaurus Linguae Latinae" habe ich

für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in das Material zum Stichwort 'libertas' zu danken.
57 Vgl. SCHLIER, Art. iAWOseor; (s. Anm. 19), 484 ff.; RUDOLF BULTMANN, Theologie des

Neuen Testaments, 5. Aufl. (Tübingen 1965), 332 ff.; KuRT NIEDERWIMMER, Der Begriff
der Freiheit im Neuen Testament (Berlin 1966); DIETER NESTLE, Art. Freiheit, Rlex. Ant.
Chr., Bd. 8 (1972), 280 ff.
ss NIEDERWIMMER, Regriff der Frf'!ihf'!it„ 7fi ff.
69 Ebd., 150 ff.; HANS FRH. v. CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht

in den ersten drei Jahrhunderten, 2. Aufl. (Tübingen 1963), 3ff.; WERNER FÖRSTER, Art.
e~ovcJlllC, KITTEL Bd. 2 (1935), 565 f.

436
m. 1. Freiheit im Neuen Testament Freiheit

wohl von PAULUS aufgenommen worden. Durch die Heilstat Jesu Christi, seinen
Kreuzestod, wird die Freiheit Wirklichkeit: Zur Freiheit hat uns Christus befreit60;
Z'Wf Fre·ilie·it se·id ·ihr berufen, Brüder 61 - nämlich durch das Evangelium 82 . Diese
neue Freiheit durch Christus bedeutet die Freiheit von der Sünde 63, die Freiheit
vom alttestamentlichen Gesetz, dessen Erfüllung nicht zum Heil führen kann, son-
dern das gerade die Sünde aktualisiert und nicht von ihr erlöst 64 , und schließlich die
Freiheit vom Verfällensein an den Tod 65 • In ähnlichem Sinn kann das Johannes-
evangelium sagen: Die Wahrheit wird euch frei machen 66; jeder, der die Sünde tut, ist
Knecht der Sünde 67 ••• Wenn euch nun der Sohn frei machen wird, werdet ihr wahr-
haft frei sein 68 •
Freiheit von Gesetz und Sünde im Verständnis des Paulus bedeutet nun aber nicht
die absolute religiöse und ethische Bindungslosigkeit. Die christliche Freiheit be-
währt und verwirklicht sich im Dienst für Gott 69 und in der Liebe 70 . So kann Pau-
lus, scheiuliar parauu.x., vuru Gesetz Olwist·i reden, das im Dien11t am Mitmenschen
erfüllt wird 71 . Verfl.acht gegenüber Paulus erscheint das Gesetz der Freiheit im Jako-
busbrief72. Die Verwendung des Begriffes 'Freiheit' ist bedingt durch die theologi-
sche Auseinandersetzung um Sinn und Geltung des jüdischen Gesetzes und durch
die bildlich gebrauchte Antithese „Sklave / Freier" für das Sein des Menschen vor
und nach Christus 73 . Aber es schwingt wohl auch der alte Sinn von O.evlJeelcx. als
der politischen FreiheiL uel:! HürgerM ruiL 71 • Die Glaubenden sind, ungeachtet ihre11
sozialen Standes, freie Bürger im Reiche Gottes geworden 75 . Dieses Freiheitsver-
ständnis schließt eine Stellungnahme zu Herrschaft, Freiheit und Unfreiheit im
11uliLisch-sozialen Raum ein; für den Ohri11ten, der die wahre Freiheit besitzt, wer-
den die sozialen Ordnungen relativiert und vorläufig 78 . Deshalb kann Paulus dem
christlichen Sklaven raten, nicht die Freiheit von seinem (christlichen) Herrn zu

60 Gai. 5, 1.
61 Gai. 5, 13.
62 Vgl. HEINRICH SCHLIER, Der Brief an die Galater, 12. Aufl. (Göttingen 1962), 164 f. 174 f.

Der Glaubende empfängt die Freiheit„ die er in ChriAtuA hat (Gal. 2, 4), mit dem in der
Taufo verliehenen Geist (nvefiµrx.): 2. Kor. 3, 17; Röm. 8, 2; vgl. BuLTMANN, Theologie, 335 ff.
63 Röm. 6, 18-23.

6 4 Röm. 7, 3 f.; 8, 2; Gai. 2, 4; 4, 21-31.


6ö Röm. 6, 21 f.; 8, 21.
66 Joh. 8, 32.
67 Joh. 8, 34.
68 Joh. 8, 36.

6 9 Röm. 6, 22; vgl. 18-20 u. 1. Kor. 7, 22.


70 Gai. 5, 13-16.

n Gal. 6, 2; vgl. Röm. 8, 2.


72 Jak. 1, 25; 2, 12; vgl. MARTIN DmELIUS, Der Brief des Jakobus, 11. Aufl., hg. v.
Heinrich Greeven (Göttingen 1964), 148 ff.
'13 Vgl. Röm. 6.
74 Vgl. SCHLIER, Art. el.wfJeeor; (s. Anm. 19), 484 ff.

75 Vgl. EMERICH CoRETH, Zur Problemgeschichte menschlicher Freiheit, Zs. f. kath.

Theol. 94 (1972), 268 ff.; im einzelnen fragwürdig NESTLE, Art. Freiheit (s. Anm. 57), 281 ff.
76 1. Kor. 12, 13; Gai. 3, 28; Eph. 6, 8; Kol. 3, 11.

437
Freiheit m. 2. Freiheit in der christlichen Gnosis
suchen77 . Für die Haltung der Kirche zur Sklavenfrage blieben diese Aussagen für
die Zukunft von größter Bedeutung 78 . Nach 1. Petr. 2, 13-17 bewährt sich die
christliche Freiheit im Gehorsam gegen die staatlichen Gewalten 79 , und nach Matth.
17, 24-27 zahlen die Christen als Freie (v. 26) die Tempelsteuer, obwohl sie dazu
nicht verpflichtet wären 80 . Die spezifische Freiheit der christlichen Existenz erlaubt
also, die weltlichen Ordnungen - als vorläufige - anzuerkennen.
Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Menschen ist im Neuen ·Testament durch-
weg vorausgesetzt, ohne daß das Problem als solches erörtert würde. Anders wäre
der Ruf zur Buße, zum Glauben und zum Gehorsam nicht denkbar. Das Problem
der sittlichen Entscheidungsfreiheit im Sinne der antiken Ethik 81 wird aber im
Christentum insofern überhöht, als es um die Entscheidung für oder gegen Gott, für.
oder gegen das Heil geht82 . Die Entscheidung für Gott vermag der Mensch nach
urchristlichem Verständnis als Sünder jedoch nicht von sich aus zu treffen, die Frei-
heit wird ihm vielmehr erst durch die Gnade geschenkt 83 . Hinzu kommt bei Paulus
das Problem, wie die Freiheit des einzelnen mit Gottes Erwählung auszugleichen
ist84. Dieses Problem von Prädestination und Freiheit ist in der Theologie der alten
Kirche erst von Augustmus umfassend durchdacht worden.

2, Freiheit in der christlichen Gnosis

Für die weitere Geschichte des christlichen Fteiheitsverständnisses ist die Auseinan-
dersetzung mit dem Freiheitsbegriff der Gnosis des zweiten Jahrhunderts wichtig
geworden85 . Einerseits kann die „Gnosis" selbst, die Erkenntnis des transzendenten
Ursprungs der Seele der Erwählten und der Nichtigkeit des Kosmos, als iAev{)eela.
bezeichnet werden 86, andererseits wird das Sein des Gnostikers als Freiheit schlecht-
hin oder als Freiheit von der Welt beschrieben87 . Praktisch kann dies zu einer Hal-
tung der radikalen Askese oder des Libertinismus führen88, Vielfach handelt es sich
um eine antinomistische Paulusinterpretation, die seinen dialektischen Freiheits-
begriff, der die Bindung gerade einschließt, verkennt 89 .

77 1. Kor. 7, 21-24; vgl. HENNEKE GÜLzow, Christentum und Sklaverei in den ersten drei

Jahrhunderten (Bonn 1969), 177 ff.; NESTLE, Art. Freiheit, 295 ff.
78 Vgl. ERNST v. DoBSOlIÜTZ, Art. Skl11vcrci und Christentum, H1mzoG 3. Aufl., Bd. 18

(1906), 423 ff.; GÜLzow, Christentum u. Sklaverei.


7 9 Vgl. SCHLIER, .Art. eÄevi>eeo,, 497.

80 Vgl. NESTLE, .Art. Freiheit, 285 f.


81 Vgl. ALBRECHT DJHLE, Art. Ethik, Rlex. Ant. Chr., Bd. 6 (1966), 646 ff. 701 ff.

82 Vgl. CoRETH, Problemgeschichte, 270 f.


8a Vgl. Röm. 6, 12-23; 7.
84 Röm. 8, 28-30; 9-11; Phil. 2, 12 f.; vgl. NIEDERWIMMER, Begriff der Freiheit, 90 ff.
85 Vgl. NESTLE, Art. Freiheit, 290 ff.; KURT NIEDERWIMMER, Die Freiheit des Gnostikers

nach dem Philippusevangelium, in: Verborum veritas, Fschr. Gustav Stählin, hg. v. ÜTTO
BöCHER u. KLAUS HAAKER (Wuppertal 1970), 361 ff.
06 CLJ!JMJ!JNS ALEXANDRINUS, Excerpta ex Theodoto 78, 2; Evangelium Philippi 132, 10 f.;

125, 15 f. (Das Evangelium nach Philippos, hg. u. übers. v. Walter C. Till, Berlin 1963).
87 Ders., Exc. ex Theod. 57; weitere Belege bei NESTLE, Art. Freiheit, 290 ff.
88 CLEMENS ALEXANDRINUS, Stromata 3, 40, 1. 2; 30, 1. 3; 78, 4; vgl. schon 2. Petr. 2, 19.

8 9 CLEMENS ALEXANDRINUS, Strom. 3, 41, 3.

438
m. 4. Augustinus Freiheit

3. Die kirchliche Theologie seit dem zweiten Jahrhundert


Die Auseinandersetzung der Großkirche mit der gnostischen Freiheitslehre und mit
der Vorstellung von einer strengen Prädestination der erwählten Gnostiker führte
zu einer starken Betonung der menschlichen Entscheidungsfreiheit im Bereich der
Ethik und des Glaubens. Dies ist bei lRENÄus9 0 und besonders bei KLEMENS VON
ALEXANDRIEN91 zu beobachten. Klemens ist auch dadurch wichtig, daß er, wie
schon vor ihm Philo von Alexandrien, die stoisch-mittelplatonische Terminologie,
in der die zeitgenössische Philosophie das Problem der Handlungsfreiheit erörterte,
übernahm92 • 'Freiheit' (6J..wl1eel1X) ist für Klemens die Freiheit von den Affekten
und Leidenschaften9 3. Die Verkürzung des paulinischen Begriffs ist offenkundig.
Den kühnen Höhepunkt einer antignostischen Theologie, in deren Mittelpunkt der
Freiheitsgedanke steht, bildet das System des ÜRIGENES: Die von Gott geschaffenen
reinen Geistwesen wenden sich aus freier Entscheidung von Gott ab 94, und erst jetzt
wird als Maßnahme der göttlichen Vorsehung der Kosmos geschaffen. In einem
langsamen Läuterungsprozeß vollzieht sich die Erlösung, doch ist ein neuer Fall -
aus Freiheit - möglich90•
Als Ergebnis des antignostischen Kampfes betont die klassische griechische und die
voraugustinische abendländische Theologie entschieden die ethhlehe EuLt:!eheüluugt:l-
freiheit und sieht in der Erlösung Gnade und Freiheit zusammenwirken96 • Die pau-
linischen Prädestinationsaussagen werden im Sinne einer Vorordnung der göttlichen
Präsziens vor die Prädestination gedeutet 97 • Erst Augustin bringt für diesen Fragen-
kreis eirie einschneidende Wende. Natürlich wird im Anschluß an Paulus die christ-
liche Existenz weiter als „Freiheit" und die Erlösung als „Befreiung" beschrieben,
wird die christliche Freiheit der Kneehtseh11ft unter dem Mosegesetz gegenüber-
gestellt, doch ohne daß dieser Freiheitsbegriff ein zentrales Gewicht erhielte98 •

4. Augustinus
Gegenüber dem bisherigen altkirchlichen Denken hat AuGUSTINUS das Freiheits-
problem auf ein neues Reflexionsniveau gp,hoben und dem Freiheitsverständnis der
abendländischen Theologie für die Zukunft maßgeblich seine Bahnen gewiesen.
Augustinus versuchte ausgehend vom .Problem der Sünde die Problematik von

90 lRENÄUS, Adversus haerescs 4, 37.


91 Vgl. CLEMENS ALEXANDRINUS, Strom. 2, 12, l; 11, 1. 2.
92 Vgl. ebd. 7, 42, 4--6; zum philosophischen Hintergrund vgl. S.ALVATORE LILLA, Clement

of Alexandria. A Study in Christian Platonism and Gnosticism (Oxford 1971), 60 ff.


93 CLEMENS ALEXANDRINUS, Strom. 2, 120, 2; 144, 3; 3, 44, 4; 6, 112, 2; 3, 41, 2.

94 0RIGENES, De principiis 2, 1, 1. 2.
95 Ebd. 1, 8, 3; vgl. HENRY CHADWICK, Early Christian Thought and the Classfoal Tradition

(Oxford 1966), 83 ff.


96 Vgl. WILLIAM TELFER, Autexousia, Journal of Theol. Studies, NF 8 (1957),, 123 ff.;

ALFRED SCHINDLER, Gnade und Freiheit. Zum Vergleich zwischen den griechischen und
lateinischen KirchenväLem, Z1:1. f. Theul. u. Kirche ü2 (19ü5), 178 ff.
97 Vgl. KARL HERMANN ScHELKLE, Erwählung und Freiheit im Römerbrief, in: ders.,

Wort und Schrift. Beiträge zur Auslegung und Auslegungsgeschichte des Neuen Testaments
(Düsseldorf 1966), 251 ff.
9s Vgl. NESTLE, Art. Freiheit, 303 f.

439
Freiheit .m. 4. Augustinus

Freiheit, Gnade und Prädestination umfassend zu vermitteln99 . Dabei hat Augustin


einerseits auf die paulinischen Aussagen über Gnade und Prädestination zurückge-
griffen, die er neu und weiLgehend kongenial versteht 100, andererseits hat er einen
neuen, vertieften Begriff des menschlichen Willens (voluntas) gefunden, mit dem
er weit über die Tradition der älteren christlichen und der antiken philosophischen
Ethik hinaus vorstößt1° 1 . Augustin hat an der menschlichen Entscheidungsfreiheit
festgehalten; anders wäre die Möglichkeit sittlichen Handelns nicht denkbar 1 0 2 •
Aber der Besitz des „liberum arbitrium" bedeutet noch nicht, daß der gefallene
Mensch auch über die wahre „libertas" verfügt 103. Der menschliche Wille ist seinem
Wesen nach auf Gott, das höchste Gut, hin gerichtet, erst in dieser Hinwendung, in
der Gottesliebe, verwirklicht sich die menschliche Freiheit104. Der unter der Wir-
kung der Erbsünde stehende Mensch weiß auch um dieses Ziel und wünscht, das
Gute zu tun, aber er vermag es nicht zu vollbringen 105 . Nur durch die Gnade
empfangen die Erwählten die Freiheit, die im rechten Gebrauch des freien Willens
besteht, im Wollen und Tun des Guten. Die Gnade befreit das „liberum arbitrium"
zu seiner wesensgemäßen Freiheit: V oluntas quippe humana non libertate consequitur
gratiam, sed gratia potius tibertatem106 • Die wahre Freiheit besteht im Dienst Chri-
Rti107 nnch wird die,se Freiheit erst im Eschaton volle Wirklichkeit worden, wenn
der Wille nicht mehr sündigen kann10s.
Es soll wenigstens angedeutet werden, wie sich Augm;Limi Gnaden- und Freiheits-
verständnis auf seine Haltung zur politischen und sozialen Wirklichkeit ausge-
wirkt hat. Augustins pelagianische Gegner, die die Bedeutung der freien sittlichen
Entscheidung ue,;Memieheu für Jas Heil betonten, vertraten einen Moralismus, der,
etwa in der Bekämpfung des Reichtums, geradezu sozialrevolutionäre Züge anneh-
men konnte 109. Augustin konnte gegenüber solchen Forderungen die bestehenden

99 Vgl. HEINRICH B.ARTH, Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins (Basel 1935);
Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart, hg. v. CARL ANDRESEN (Darmstadt 1962), 399 ff.;
GOTTHARD NYGREN, Das Prädestinationsproblem in der Theologie Augustins (Lund 1956).
100 Vgl. bes. AUGUSTIN, De diversis quaestionibus ad Simplicianum (397/98), neueste Ausg.

von Almut Mutzenbecher, CC, Bd. 44 (1970); HANS J ONAS, Augustin und das paulinische
Freiheitsproblem, 2. Auß. (Göttingen 1965).
101 Vgl. DIHLE, Art. Ethik (s. Anm. 81), 783 ff.
102 AUGUSTIN, De gratla et libero arbitrio 2, 2; vgl. 1, 1; 15, 31; Retractationes 1, 8, 6.

CRRL Rd. 36 (1902), 46.


103 Zu dieser Unterscheidung vgl. JoHN BURNABY, Amor Dei. A Study ofthe Religion of

St. Augustine (London 1947), 227.


l0 4 AUGUSTIN, De gratia et libero arbitrio 2, 5--7; Contra duas epistulas Pelagianorum
1, 2, 5; De civitate Dei 12, 6.
106 Ders., De div. quaest. ad Simpl. 1, 1, 11; Confessiones 8, 5, 11.
106 Ders., De correptione et gratia 8, 17; vgl. 11, 32; 13, 42; De spiritu et littera 34, 60;

De gratia et libero arbitrio 20, 41; Retract. l, 14, 5. CSEL Bd. 36, 75 f.
107 Ders., Tractatus in Iohannis evangelium 41, 8; De gratia et libero arbitrio 25, 31.
100 Ders., De civ. Pei 22, 30; De correptione et gratia 12, aa.
109 Vgl. bes. die anonyme Schrift: De divitiis, MrnNE, Patr. Lat., Suppl.Bd. 1 (1958),

1380 ff.; dazu JOHN MORRIS, Pelagian Literature, Journal of Theol. Studies, NF 16 (1965),
43 ff. ; PETER BROWN, Pelagius and his Supporters: Aims and Environment, in: ders.,
Religion and Society in the Age of Saint Augustine (London 1972), 183 ff.

440
m. 5. Freiheit der Kirche Freiheit

Verhältnisse verteidigen 110• Aber er hat sich deshalb nicht unkritisch mit dem römi-
schen Imperium identifiziert. In seinem großen geschichtstheologischen Werk kon-
trastiert er die überlegene „libertas" der „ewigen himmlischen Heimat" mit der poli-
tischen Freiheit Roms 111 , und am Schluß seines Werkes schildert er die zukünftige
Freiheit des Gottesstaates: Erit ergo illius civitatis et una in omnibus et inseparabilis
in singulis voluntas libera, ab omni malo liberata et impleta omni bono, fruens indefi-
cienter aeternorum iucunditate gaudiorum, oblita culparum, oblita poenarum; nec
ideo tamen suae liberationis oblita, ut liberatori suo non sit ingrata 112 .
Im Mittelalter wird die theologische Diskussion um das Freiheits- und Willens-
problem einerseits durch das patristische, vor allem augustinische Erbe, anderer-
seits durch die fortschreitende Rezeption der antiken Philosophie bestimmt. In der
Spätscholastik (Ockhamismus) empfängt die theologische Freiheitslehre die Ge-
stalt, gegen die Luther seine These vom „unfreien Willen" entwickeln wird 113 •

5. Freiheit der Kirche in Antike und Mittelalter

Die bedrängte Kirche der vorkonstantinischen Zeit erhob in verschiedener Form die
ForclFmmg n11.11h D11lc'hme nnc'I Frniheit der Religionsausübung, eine Forderung, die
durch die Ablehnung des Kaiseropfers einen politisch revolutionären Zug erhielt 114 .
TERTULLIAN verlangt die libertas religionis 115 , und LAKTANZ schreibt: Religio sola
est in qua libertas domicilium conlocavit 116 . Für die seit 313 staatlich anerkannte
Kirche 117 stellt sich erstmals im arianischen Streit die neue Aufgabe, die Freiheit
des Ilekenntnisses gegen staatliche Eingriffe zu verteidigen. ATnANAsrus schreibt im
Blick auf die Unterdrückung der Nicäner: Welche Kirche verehrt jetzt in Freiheit
(µer:' eAev&eeta.,) Christus? 118 HILARIUS VON PoITIERS redet von der libertas fi-
dei119 und, im Abendland anscheinend als erster, von der libertas ecclesiae: ...
Propter brevem dolorem libertatem ecclesiae, spei nostrae fiduciam, confessionem dei ad-

110 AUGUSTIN, Epistula 157, 4, 37; dazu PETER BROWN, Augustine ofHippo (London 1967),

346 ff.
111 AUGUSTIN, De civ. Dei 5, 18. Der Gottesstaat ist die civitas libera: 15, 2. 3.
112 Ebd. 22, 30.
113 Vgl. OTTO HERMANN PESCH, Art. Freiheit III, Hist. Wb. d. Philos., Bd. 2 (1972),

1083 ff. (Lit.).


114 Vgl. HERMANN DöRRIES, Konstantinische Wende und Glaubensfreiheit, in: ders.,

Wort und Stunde, Bd. 1: Ges. Studien z. Kirchengesch. d. 4. Jahrhunderts (Göttingen


1966), 2 ff.; NESTLE, Art. Freiheit, 299 f.
116 TERTULLIAN, Apologeticum 24, 6; vgl. Ad Scapulam 2, 2. Der Freiheitsforderung für

die Kirche entspricht die Freiheit des christlichen Bekenners, der der Verfolgung wider-
steht: TERTULLIAN, De corona 13, 4 f.; M!Numus FELIX, Octavius 37, 1; HILARIUS, In
Matthaeum 10, 26. MIGNE, Patr. Lat., Bd. 9 (1844), 977 C; In psalmum 125, 4. CSEL Bd. 22
(1891), 607.
116 LAKTANZ, Epitome 49. CSEL Bd. 19 (1890), 728.
117 Zur Religionsfreiheit im sog. „Mailänder EdikL" vgl. DöRRIES, Konstant.in.Wende, 18ff.
118 ATHANASIUS, Historia Arianorum 53, 1; vgl. Vita Antonii 82. MIGNE,_Patr. Gr., Bd. 26

(1887), 960 B.
119 HILARIUS VON PoITIERS, In psalmum 124, 7. CSEL Bd. 22 (1891), 602; AdConstantium

1, 6. MIGNE, Patr. Lat., Bd. 10 (1845), 561 A.

441
Freiheit m. 5. Freiheit der Kirche

dicimus1 20. Neben LEo DEM GROSSEN121 sei noch Papst FELIX II. erwähnt, der 484
an Kaiser Zeno schreibt: Puto quod vobis sine ulla dubitatione sit utile, si ecclesiam
catholicam vestri tempore principatus sinatis uti legibus suis, neo libertati eius quem-
quam permittatis obsistere, quae regni vobis restituit potestatem122 . An allen angeführten
Stellen handelt es sich um den Protest gegen konkrete staatliche Eingriffe in Leben
und Lehre der Kirche, nicht um die grundsätzliche Forderung der Freiheit der Kir~
ehe vom Staat, die angesichts der engen Verflechtung beider Größen in der Spätan,-
tike und im frühen Mittelalter gar nicht denkbar gewesen wäre.
Zum programmatischen Schlagwort, das eine prinzipielle, theologisch begründete
Forderung ausdrückt, wird die „libertas ecclesiae" erst durch die gregorianische Re-
form und im Investiturstreit erhoben: N obilius tamen esse dinoscitur multo tempore
pro libertate sanctae ecclesiae decertare quam miserae ac diabolicae servituti subiacere.
Oertant namque miseri, scilicet rnembra diaboli, ut eiusdem misera servitute oppriman-
tur; certant econtra membra Christi; ut eosdem miseros ad christianam libertatem redu-
cant123. - Oui tamen hoc ad miseram libertatem minime proficit, quod potestatem Petri
divinitus sibi concessam a superba cervice excutit; quoniam, quanto eam quisque per
elatümem /erre abnegat, tanto durius ad damnationem suam in iudicio portat 124• Tel-
lenbach hat in seiner grundlegenden Monographie den gregorianischen T,ihP.rt.a,RhP.-
grifffolgendermaßen gekennzeichnet: „Freiheit der Kirche ist ... das, was der Kir-
che gP.rflchterweise zukommt, also das Freisein von staatlichen Leistungen und Be-
einflussungen, aber ebenso die Ausübung ihrer Mission, also auch die Leitung der
Welt"l 2 5. Tellenbachs Darstellung des mittelalterlichen Freiheitsbegriffs, die die
Freiheit als „Rechtsstand", als Eingcfügtscin in eine hierarchische Gesamtordnung
schildert, wobei die „libertas ecclesiae" die Summe der kirchlichen „libertates" und
damit schließlich die absolute Freiheit der Kirche über den Staat meint 126, ist neu-
erdings in ihrer Allgemeingültigkeit für das mittelalterliche Denken in Frage ge-
stellt worden: 'Freiheit' im :religiösen Bereich kann auch primär als Unab~ängig­
keit, als selbstverantwortliche Entscheidungsfreiheit im Gegensatz zu einem äuße-
ren Herrschaftsanspruch verstanden werden 127 . Besonders die paulinische „libertas
120 Ders., In psalmum 52, 15. CSEL Bd. 22, 128; vgl. In psalmum 45, 12 (S. !l3).
121 LEO D. GR., Epist. 145. Acta conciliorum oecumenicorum, hg. v. EDUARD ScHWARTZ,
Bd. 2/4 (Berlin, Leipzig 1932), 95 (christiana libertas); Epist.146, ebd., S. 96 (libertas
ecclesiastica).
1 22 FELIX II., Epist. 8, 5, in: Epistulae Romanorum pontificum, hg. v. ANDREAS TRIEL,
Bd. 1 (Braunsberg 1867), 250. Verfasser ist der spätere Papst Gelasius 1.: ERICH ÜASPAR,
Geschichte des Papsttums, Bd. 2(Tübingen1933), 750. - Weitere Belege bei NESTLE, Art.
Freiheit, 301 ff.
123 GREGOR VII., Registrum 9, 3, in: Das Register Gregors VII., hg. v. ERICH ÜASPAR

(Berlin 1920/23), 575.


124 Ebd. 8, 21 (S. 548). Weitere Belege im Index von Caspars Ausgabe (s. Anm. 123), s. v.

libertas. Dazu AUGUST NITSCHKE, Die Wirksamkeit Gottes in der Welt Gregors VII., Studi
Gregoriani 5 (1956), 141 ff. 169 ff. Vgl. schon HUMBERT, Adversus simoniacos, praefatio,
M.IJ Libelli de lite, .Hd. 1 (1891), 102.
1 20 TELLENBAOH, Libertas (s . .Anm. 1), 2:11.
128 Ebd., 48 ff.

1 27 Vgl. HERBERT GRUNDMANN, Freiheit als religöses, politisches und persönliches Postulat
im Mittelalter, Hist. Zs. 183 (1957), 23 ff.; HEINZ HÜRTEN, „Libertas" in der Patristik -
„libertas episcopalis" im Frühmittelalter, Arch. f. Kulturgesch. 45 (1963), 1 ff.

442
m. 6. Reformation Freiheit

spiritus" 128 kann in diesem Sinne verstanden werden1211• Es handelt sich hier um
Ansätze zu einem Freiheitsverständnis, das schon auf die Neuzeit vorausweist.
Doch muß gesehen werden, daß gerade in dem eigentümlichen dialektischen Auf-
einanderbezogensein von Freiheit, Aufgabe und Dienst, das Tellenbach herausge-
arbeitet hat, ein wesentlicher Zug des urchristlichen und altkirchlichen Freiheits-
verständnisses weiterlebt1 30• Allerdings ist im gregorianischen Freiheitsgedanken
der biblische Dienst- und Gehorsamsgedanke in radikaler Verkennung seines We-
sens umgedeutet worden zum universalen Herrschaftsanspruch der Kirche über die
Welt131 • Die Reformation konnte an diese Auffassung von „Kirchenfreiheit" nicht
anknüpfen.

6. Reformation

LUTHER hat über/die mittelalterliche Freiheitsdiskussion auf Paulus zurückgegriffen


und ist so zu seinem neuen Freiheitsverständnis gelangt, das er in dem Traktat,; Von
der Freiheit eines Christenmenschen" (Spätherbst 1520) klassisch dargestellt hat1 32 •
.Oie christhche Freiheit wird Wirklichkeit in dem rechtfertigenden Glaul.H:lu au
Christi1s, der dem M1mRr.h1m rfü1 Frniheit erworben hat; Crede in Christum, in quo
promittuntur tibi gratia, iustitia, pax, libertas et omnia, si credis, habebis, si non cre-
dis, carebis 133 • Una re eaque sola opus est ad vitam, iustitiam et libertatem Chri.~t1:anam.
Ea est sacrosanetum verbum dei, Evangelium Christi ... 134 Weil nur in der glauben-
den Verbundenheit mit Christus die Freiheit besteht, kann der Mensch nicht durch
eine freie Willensentscheidung das Heil erlangen; deshalb ergänzen sich Luthers
Lehre von der „libertas christiana" und vom „servum arbitrium" 135 • Luthers Frei-
heitsverständnis ist dialektisch: Eyn Ch1·isten mensch ist eyn freyer herr über alle ding
und niemandt unterthan. - Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding
und yder1Mn unterthan 136 • Das ist wieder das paulinische Aufeinanderbezogensein
von Freiheit und Bindung. Im Glauben, „geistlich", „innerlich" ist der Mensch
frei 137 , aber in seiner irdischen Existenz ist ihm das sittliche Handeln aufgegeben138 •
128 Vgl. 2. Kor. 3, 17.
1 29 Vgl. GRUNDMANN, Freiheit, 45 ff.
130 Ebd„ 45.
131 Vgl. ERNST WOLF, Libertas chri.atiana und libertas ecclesiae, Ev. ThAol. 9 (1949/50),

132 ff.
132 MARTIN LUTHER, Von' der Freiheit eines Christenmenschen, dt. Fassung: WA Bd. 7

(1897), 12ff.; lat. (Tractatus de libertate chri.atiana): ebd., 49ff. Dazu WILHELM MAURER,
Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei Untersuchungen zu Luthers Reformations-
schriften 1520/21(Göttingen1949); GERHARD EBELING, Frei aus Glauben. Das Vermächt-
nis der Reformation, in: ders., Lutherstudien, Bd. 1 (Tübingen 1971), 308 ff.
133 LUTHER, WA Bd. 7, 53, 5--7.
134 Ebd., 50, 33-35; vgl. 51, 15 ff.
13 ~ Ders., De servo arbitrio, WA Bd. 18 (1908), 851 :lf.; dazu EBELING, Frei aus Glauben,

319 f. Die ethische Entscheidungsfreiheit ist natürlich von den Reformatoren nie in Frage
gestellt worden.
136 LUTHER, WA Bd. 7, 21, 1--4; vgl. schon Operationes in Psalmos, WA Bd. 5 (1892),

407, 42 ff.
137 Ders„ WA Bd. 7, 50, 13 ff.
138 Ebd., 59, 24 ff.

443
Freiheit m. 6. Reformation
Luther meint also nicht die „innere Freiheit" im stoischen oder modernen Sinn, son-
dern die Spannung von Glaubensgerechtigkeit und Sündersein, die erst im Eschaton
über\vundcn wird. Christliche Freiheit bedeutet die Aufhebung jeder „Werkgerech-
tigkeit"139, jedoch aus Freiheit sucht der Christ in seinem Handeln Gott zu gefal-
len140, und nach dem Vorbild Christi stellt er sich in den Dienst seines Mitmen-
schen141.
Luther betont, daß sich der Christ freiwillig den kirchlichen und weltlichen Ordnun-
gen fügt 142 . Gleichwohl ergeben sich aus seinem Freiheitsverständnis umwälzende
Folgen für die Auffassung von der Kirche als Institution, vom Staat und der sozialen
Wirklichkeit. Luther vertritt die Freiheit von den kirchlichen Zeremonialgesetzen,
von allen heilsvermittelnden Instanzen, die sich zwischen Christus und den Glau-
benden schieben 143, und lehnt die Unterordnung der weltlichen Obrigkeit unter
kirchliche Rechtsansprüche ab: Drumh sag ich, die weil weltlich gewalt von got geordnet
ist, die boßen zustraffen und die /rumen zuschutzen, ßo sol man yhr ampt lassen /rey
gehn unvorhyndert durch den gantzen corper der Ohristenheit 144 • Hier liegt einer der
Ansatzpunkte für die im Luthertum für die Verhältnisbestimmung von Kirche und
Welt so wichtige Zweireichelehre 143 . Schließlich kann Luther im .Papst den eigent-
lichen Unterdrücker der chrif1tlir.hr.n Frr.ihP.it, Ar.hen 146 und sich ausdrücklich gegen
die „libertas ecclesiae" im mittelalterlichen Sinne, also die Privilegien, Rechte und
Machtansprüche der Kirche, wenden: Hinc factum est, ut Ecclesiastici hodierni stre-
nui quidem sint tutores libertatis Ecclesiasticae, id est, lapidum, .lignorum, agrorum et
censuum (sie enim hodie Ecclesiastica sunt idem quod spiritualia), sed eisdem fictis
verbis veram Ecclesiae libertatem non modo capt·ivent, sed peH8'Urulent penitus ... 14 7
Luther hat sein Verständnis der christlichen Freiheit nicht politisch-revolutionär
gemeint und sich gegen solche Deutungen entschieden zur Wehr gesetzt148. Gleich-
wohl konnte es in diesem Sinne aufgefaßt werden und wurde etwa im Wormser
Edikt unter diesem Gesichtspunkt bekämpft1 49 •

1 39 Ebd„ 53, 31-33.


140 Ebd„ 62, 7 ff.
141 Ebd., 64, 13 ff.
142 Ebd„ 66, 39 ff.

143 Ders„ An den christlichen Adel deutscher Na.tion, WA Bd. 6 (1888), 443, 22 f.; De

captivitate Babylonica, ccclesiae, ebd„ 555, 12 ff.; vgl. MAURER, Von uer Freiheit, 24 ff. 43ff.
144 LUTHER, Christ!. Adel, WA Bd. 6, 409, 16-18; vgl. ebd„ 409, 31 ff. ,
145 Vgl. HEINRICH BoRNKAMM, Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang

seiner Theologie, 3. Aufl. (Gütersloh 1969); ULRICH DucHRow, Christenheit und Welt-
verantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre
(Stuttgart 1970), 439 ff.
14 6 LUTHER, De capt. Babyl., WA 6, 535, 27 ff.
147 Ebd„ 536, 13-16.
148 Ders„ Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben,

WA Bd. 18 (1908), 326, 32 ff.; vgl. ebd„ 308, 29 ff.; 321, 25 ff.
149 Wornumr lilrlikl, (Hi2l), R.TA jüngere R., Bd. 2 (1896), 6r17, 8 ff. - Eo iot intoroooa.nt,
daß Thomas Müntzer von seinen andersartigen theologischen Voraussetzungen aus den
paulinischen Freiheitsbegriff nicht für sein revolutionäres Programm nutzbar machen
konnte. Für ihn ermöglicht die soziale Befreiung das Wirken des Wortes Gottes; Brief-
wechsel Nr. 91, in: THOMAS MüNTZER, Sehr. u. Briefe, hg. v. Günther Franz (Gütersloh

444
m. 6. Reformation Freiheit

Die lutherischen Bekenntnisschriften vertreten die christliche Freiheit gegen die


kirchlichen Zeremonialgesetze, deren Heilsnotwendigkeit abgelehnt wird 150 , und in
der „Apologie" der Augsburger Konfession werden die „privilegia" und „immuni-
tates", also die „libertates" von Klerus und Kirche zwar nicht bestritten, jedoch -
das ist das Neue - von der politischen Gewalt abgeleitet151 •
CALVIN hat in seiner „Institutio christianae religionis" der libertas christiana einen
eigenen Abschnitt gewidmet152 • Im Ansatz init Luther übereinstimmend, verfolgt
er doch etwas anders geartete Intentionen: Es geht ihm darum, die durch die Recht-
fertigung aus Glauben gewonnene Freiheit gegen ein libertinistisch-anarchistisches
Mißverständnis festzuhalten und für die christliche Lebensführung fruchtbar zu
machen 153 • Drei Themenkreise zeichnen sich ab: 1) Der Christ ist frei vom Gesetz als
Heilsweg, er gehorcht Gott jedoch freiwillig: Conscientiae ... legis ipsius iugo liberae,
voluntati Dei ultro obediunt154 • Also ganz die paulinisch-lutherische These. 2) Der
Christ ist frei in den „Adiaphora", allen für Glauben und Bekenntnis belanglosen
Fragen der Lebensführung und der kirchlichen Zeremonien155 • Calvin fordert hier
freilich nicht eine allgemeine Gewissensfreiheit im neuzeitlichen Sinn. „Conscien-
tia" ist für ihn die Instanz, in der sich der Glaubende vor Gott verantwortlich
weiß 156 • 3) Die Freiheit des allein an Gottes Wort geb11ndene.n GAwiRRAnA gilt, 11.11A-
drücklich nur im „spirituale regnum", während der Christ den Gesetzen der staats-
bürgerlichen Ordnung, dem „regimen politicum", wie jeder andere uuLerwul'feu
istl57,
Die l!'reiheitsthematik erscheint in der „Institutio" noch einmal im Abschnitt „De
politica administratione" 168 . Calvin lehnt amulrii<iklidt die Forderung schwärmeri-
imher Kreii;e au, Jaß Jie evangelische Freiheit auch zu einem Umsturz der staatli-
chen Ordnung führen müsse. Es ist zu unterscheiden zwischen dem geistlichen
Reich Christi, in dem die Freiheit gilt, und der bürgerlichen Ordnung 159 . Bei der
Erörterung der politischen Freiheit verwendet Calvin einen juristischen Freiheits-
begriff - der Staat hat einerseits die Freiheit zu wahren, andererseits sie in Grenzen
zu halten -, ohne einen Bezug zu seinem theologischen Freiheitsverständnis herzu-
stellen 160.
1968), 471: Es beczeugen fast alle ortheyl in der schrifjt, das dye creaturn mussen frey werden,
sol sunst das reyne wart Gottis auffgehn.
150 Confossio August11na, Art. 28, in: Die Bekenntriiiiilchriften der evangeli$ch-lut.h1>riRnhAn
Kirche, hg. v. Dt. Ev. Kirchenausschuß, 6. Aufl. (Göttingen 1967), 128 f. 131; Konkordien-
formel, Holida declaratio 10, ebd„ 1058.
151 PHILIPP MELANCHTHON, Apologia confessionis Augustanae, ebd„ 396f. (noch deutlicher

die deutsche Übersetzung von JusTus JoNAs).


152 JEAN CALVIN, Institutio 3, 19; vgl. FRAN901s WENDEL, Calvin. Ursprung und Ent-

wicklung seiner Theologie (Neukirchen 1968), 176 ff.


153 CAT.vm, TnRt. 3, l!l, l. !l.
154 Ebd. 3, 19, 4.

rnr; Ebd. 3, 19, 7-13.


15 6 Ebd. 3, 19; 15 f. "Über „Gewissen" und Freiheit bei Luther s. EBELING, Frei aus

Glauben, 320 f.
157 CALVIN, Inst. 3, 19, 15.
15s Ebd. 4, 20. 159 Ebd. 4, 20, 1.

160 Ebd. 4, 20, 8. 31; vgl. JosEF BoHATEC, Calvins Lehre von Staat und Kirche mit be-

sonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens (Breslau 1937), 129 ff.

445
Freiheit IV. Ständische Freiheit

Hatte Luther das Ganze der christlichen ExiStenz als „Freiheit eines Christenmen-
schen" beschreiben können, so macht Calvin in einer leichten sachlichen Verschie-
bung die Freiheit des Christen zu einem gesonderten Thema der Theologie. „Es
wird sich später z. T. von hier aus der Freiheitsbegriff der Moderne im Zusammen-
hang mit den 'Menschenrechten' entwickeln" 161 •
Die christliche Freiheit ist für die Reformatoren eine „geistliche" Wirklichkeit. Sie
haben ihre politische Mißdeutung entschieden bekämpft 162 • T:r;otzdem ist das refor-
matorische Freiheitsverständnis weit über die kirchlich-theologische Sphäre hinaus
für die Entstehung des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs Wichtig gewprden. Die These
von der Freiheit des allein an Gottes Wort gebundenen Gewissens, das als solches
keinen kirchlichen oder weltlichen Autoritäten unterworfen ist, und der ausdrück-
liche Protest gegen einen solchen Gewissenszwang 163, die Ablehnung weltlicher
Machtansprüche der Kirche und ihrer Überordnung über den staatlich-säkularen
Bereich, dessen Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit anerkannt wird, wiewohl
auch durch den Staat, das weltliche Regiment, Gott seine Herrschaft über die Welt
ausübt, schließlich die Forderung des Dienstes am Mitmenschen im Zeichen der
chnstlichen .l!'reiheit ---c- das alles sind Gedanken, die über die mittelalterliche Gesell-
schaftsordnung und ihre geistigen Grundl11gon hina,uoführcn 11nfl fla.11 Freiheit1;1ver-
ständnis der Moderne vorbereiten164.
GERHARD MAY

IV. Ständische Freiheit: Jura et libertates


Wie oben gezeigt, war flp,r römische libertas-Begriff unter den Bedingungen des
Kaiserreichs in Verfall geraten. Unbescha.flet der noch nicht befriedigend unter-
suchten Frage der Kontinuität von libertas im politischen und rechtlichen Sinne
vom ausgehenden Römischen Reich ins fränkisch-europäische Mittelalter läßt sich
feststellen, daß die Unterscheidung zwischen Freien und Unfreien, Freiheit und Un-
freiheit stets von neuem dazu herausgefordert hat, diesen Statusunterschied, abso-
lut oder in Abstufungen, zu benennen und in der Rechtssprache zu konkretisieren.
Der leitenden Fragestellung dieses Lexikons gemäß wird darauf verzichtet, das in
den vorigen Abschnitten zur Information über die antiken Grundlagen angewandte
Verfahren chronologischer Darstellung fort?.1111?.t?.en. Der Rechtsbegriff ständisch
bestimmter Freiheiten wird vielmehr - als Ergebnis eines Jahrtausends europäi-
scher Tradition am Vorabend seiner Überwindung - im folgenden von der End-
stufe des 18. Jahrhunderts aus betrachtet.

161 WoLF, Libertas (s. Anm. 131), 136, Anm. 23.


162 Vgl. LUTHER, Von weltlicher Obrigkeit, WA Bd. 11 (1900), 251, 22 ff. u. oben Anm.
148 u. 159.
183 Vgl. LUTHER, Weltl. Obrigkeit, WA Bd. 11, 261; 25 ff.; dazu HEINRICH BoRNKAMM,

Das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert, in: deif.l., Das Jahrhundert der Reforma-
tion. Gestalten und Kräfte, 2. Aufl. (Göttingen 1966), 262 ff.
164 Vgl. ERNST WoLF, Art. Freiheit II: Kircbengeschichtli<ih, RGG 3. Aufl., Bd. 2 (1958),

1106 f.

446
IV. 2. Personenstandsrechtliche Freiheit Freiheit

1. Späte Systematisierung und mittelalterliche Entstehung

In dieser Zeit wurde das Verhältnis der ständischen Freiheiten zum Staat von den
Juristen systematisch erarbeitet. Von nun an begann nämlich die Lehre von der
natürlichen Gleichheit aller Menschen jene Freiheiten als Privilegien von neuen
Maßstäben aus auf ihre Berechtigung hin in Frage zu stellen. Sie trug damit einen
im Endergebnis viel gefährlicheren Angriff auf die ständische Gesellschaft vor, als es
der allmählich erstarkende souveräne Staat der Neuzeit vermocht hatte, der die im
18. Jahrhundert noch einmal zunehmende gegenseitige Abkapselung der Stände
nicht hat verhindern können oder wollen.
Für die Darstellung der st'ändischen Freiheitsrechte ist es daher unumgänglich, sich
des Vokabulars der späten Reichspublizistik zu bedienen. Dabei darf freilich nicht
übersehen werden, daß gerade jene Zeit mit Termini und Rechtsvorstellungen ar-
beitete, die für die Zustandsschilderung oder gar ihre historische Herleitung inadä-
quat waren. In dieser Spannung wird der Wandel des rechtsgeschichtlichen Ver-
ständnisses sichtbar.
Neben der späten Systematisierung ist der Umfang das zweite Hindernis für eine
befriedigende Darstellung der ständischen Freiheitsrechte. Selbst ein so publika-
tionsfreudiger Gelehrter wie JOHANN JACOB MosER kam im „Neuen Teutschen
Staatsrecht" nir,ht um das Eingeständnis herum, von den in die allgemeine deutsche
Staatsverfassung einschlagenden Freiheiten gebe es eine so große Menge, daß selbige
sich allhier nicht erzählen lassen1 65 •
ni~r Rmanzipationsprozeß unfreier Bevölkerungsschichten im 11. und 12. Jahr~
hundert schlug sich begrifflich in einer Entleerung des römischen 'libertas' -Begriffs
nieder. Da nach germanischer Vorstellung Dienst frei machte, biltleLe sich ein der
jeweiligen Funktion des Dienenden angepaßter Fi·eiheitsbegriff, der Freiheit und
Unfreiheit in vi1ilfältiger Abstufung zugleich enthielt. Als im Hochmittelalter das
Sozialgefüge zu erstarren begann, verfestigte sich auch der Freiheitsbegriff zum
ständischen Statussymbol: während sich die Hochadligen nun erstmals als 'libei-i'
bezeichnen, lassen sich die auch zur persönlichen Freiheit aufgestiegenen Ministe-
rialen und Stadtbürger ihre 'libertates', 'privilegia' oder 'Freiheiten' durch ihre Her-
ren bestätigen 166 • Nunmehr treten auch Freiheits- und Herrschaftsanspruch in ein
gegensätzliches Verhältnis 166a.

2. Per!!unemitaudsrechtliche Freiheit

Auch der Begriff der persönlichen Freiheit wurde von der germanischen Rechtsauf-
fassung beeinflußt, daß Freiheit ohne die nötige Macht, sie zu· schützen, nicht be-

l65J. J. MOSER, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 1 (Stuttgart 1766), 491.


188Du C.ANGE Bd. 5. (1885; Ndr. 1954), 93 f., s. v. Iibertas; EDMUND BRINCKMEU.at, Glossa-
rium diplomaticum, Bd. 2 (Ndr. Aalen 1967), s. v. libertas; GRIMM, s. v. Freiheit (s. Anm. l);
KARL BosL, Freiheit und Unfreiheit. Zur Entwicklung der Unterschichten in Deuttwh-
land und Frankreich während des Mittelalters, in: ders., Frühformen der Gesellschaft im
mittelalterlichen Europa (München, Wien 1964), 180 ff., bes. 183; ders., Grundlagen
(s. Anm. 1), 33. 74 f. 183. 196. 210.
188& GRUNDMANN, Freiheit (s. Anm. 127), 23 ff.

447
FreihP.it IV. 2. Personenstondsrecbtlicbe Freiheit

stehen könne 167 . Dazu war immer nur eine Minderheit - der Adel - in der Lage
gewesen, die ihrerseits den von ihr Abhängigen Schutz gegen Übergriffe von außen
gewährte. Die Schu~zbcfohlcncn waren sich aber der Tatsache bewußt, daß ein Aus-
bleiben herrschaftlichen Schutzes sie zur Selbsthilfe berechtige oder verpflichte und
daß ein solcherart errungenes Eigenrecht zur Freiheit führe 168 .
Dieser ständisch gebundenen Unfreiheit stand aber seit dem hohen Mittelalter der
naturrechtliche, auch christlich umgedeutete Freiheitsbegriff entgegen, dessen
wesentlichen Inhalt EIKE VON REPGOW in die Worte faßte, daß einst alle lute
vri 169 gewesen seien. Aber obwohl die Kirche immer versicherte, daß die „libertas
christiana" nur für den Bereich des „Christenstandes" gelte und also eine primär
eschatologische Ausrichtung aufweise 17 0, kam es in Zeiten der Not oder sozialer
Unruhe zur Forderung nach allgemeiner Freiheit. Exemplarische Bedeutung er-
langten im Bauernkrieg die „Zwölf Artikel", in denen LUTHERS Schrift „Von der
Freiheit eines Christenmenschen" falsch interpretiert wurde, indem man einen
Zusammenhang zwischen christlicher Erlösungsbedürftigkeit und Leibeigenschaft
sah. Tatsächlich verlangten die :Hauern unter Berufung auf die Liebe, das wir frei
1Je'ien wnd wollen sein, fügten aber sogleich hinzu, sie wollten nicht gar frei, d. h. kei-
ner Obrigkeit untertan und damit schutzlos sr.in 171 .
Wie wenig diese Forderung der Realität der ständischen Gesellschaft entsprach,
zeigte nicht nur Luthers und der Landesherren ReakLion auf die Unruhen 172 ; im
wenige Monate danach auf der Basis der „Zwölf Artikel" geschlossenen „Renchener
Vertrag" wird im entsprechenden Abschnitt nur noch freier Zug und Eheerlaubnis
für alle ausgehandelt, die Abschaffung der Leibeigenschaft aber von einer enLspre-
chenden Regelung für das ganze Reich abhiingig gcmacht1 73 •
Demnach war auch der persönliche Freiheitsbegriff kein abstrakter Rechtstermi-
nus, wie es nicht wenige liberale Rechtshistoriker des 19. Jahrhunderts in ihrer Aus-
einandersetzung mit Revolution und Absolutismus sehen wollten, sondern als Kor-
relat zu 'Herrschaft' Ausdruck der Verortung innerhalb der sozialen Pyrainide. Hier-
aus erklären sich die Mischverhältnisse von Freiheit und Unfreiheit, die für das ger-
manische Recht typisch sind - Bosl spricht von einer „funktionell 'freien' Unfrei-
heit"174 - und bis zum Ende der Ständegesellschaft erhalten blieben. Noch zu Be-

18 7 TRÜBNER Bd. 2 .(1939), 430 ff„ s. v. Freiheit.


188 Vgl. dazu den „Schwabenspiegel" (1260/75): Wir suln den herren dar umbe dienen, daz
si uns beschirmen; unde beschirmen si uns nut, so sin wir in nut dienestes schuldig nach rehte;
zit. GRUNDMANN, Freiheit, 50.
189 Sachsenspiegel, zit. ebd.
170 s. o. s. 12 ff.; GRUNDMANN, Freiheit, 52.
171 Die12 Artikel der oberschwäbischen Bauernschaft (Mär:r. 1525), Art. 3, in: Quellen zur

Geschichte des Bauernkrieges, hg. v. GÜNTHER FRANZ (Darmstadt 1963), 176.


172 Vgl. MELANCHTHONS Rat: Es wer 'Vun nötten, das ein solch wild ungezogen volck, als

Teutschen sind, noch weniger freyheyt hette dann es hat; Gutachten über die 12 Artikel für
Kurfürst Ludwig von der Pfalz (Hi2u), CR Bu. 20 (1854), 6155,zit. GRUNDMANN, Freiheit,51.
1 73 Renchener Vertrag zwischen Bauern und Herren der Ortenau (25. Mai 1525), Art. 3,
FRANZ, Quellen, 565 ff.
174 KARL BosL, Freiheit und Unfreiheit (s. Anm. 166), 183 ff. Vgl. DILCHER, Art. Freiheit

(s. Anm. 1), 1229 f.

448
IV. 2. Personenstandsrecht1iche Freiheit FteiheiL

ginn des 19. Jahrhunderts sind Relikte jenes Freiheitsbegriffes nachweisbar, der in
der Selbstübergabe a'n einen Herrn eine Gewährleistung der .l!'reiheit sah: so galt
im Bistum Osnabrück jeder freie Bürger - er sei denn Beamter oder Geistlicher-,
der nicht in einer genossenschaftlichen Einung Mitglied war, als schutzlos, was sich
am landesherrlichen Zugriff auf dessen Nachlaß zeigte. Dem entsprach die Empfeh-
lung, daß solche Personen, damit sie nicht gar zu frei werden und verbiestern, in eine
Hode gehen 175 sollen. Die schutzlosen Individuen, die „Biesterfreien", waren nach
dem Zeitverständnis gerade nicht frei, da von 'Freiheit' folgerichtig nur dann ge-.
sprochen wurde, wenn man von einer gemeinen Last, die andere tragen müssen, aus-
genommen war 176 • Dieser konkrete, jedermann unmittelbar einsichtige Sinngehalt
verhinderte nicht nur in den deutschen Lexika noch des 18. Jahrhunderts ein Räson-
nement über die Berechtigung einer Freiheit, die die Gleichheit der bürgerlichen
Rechte zum Besten eines oder mehrerer aufhebet 177 -von Freiheit kann man hier also
noch sprechen, ohne die Gleichheit mitzudenken -, er erlaubte zugleich den Geg-
nern der naturrechtlich gegründeten Freiheitsidee, die ja in letzter Konsequenz
einen politischen Mitwirkungsanspruch des Volkes enthält, entgegenzutreten mit
dem Nachweis, daß gerade in der LrauiLiuuelleu Regieruugt:ifonn die Freiheiten
gewahrt blieben. So fordert ScHEIDEMANTEL im Interesse des Staates von den Un-
tertanen 8ubordination, weshalb diese in Ansehung des Ganzen . . . nicht frei seien,
fügt aber sofort hinzu: dennoch haben .~1:e yewi.~.~e Freiheiten 178 • Und die „Deutsche
Encyclopädie", die ganz auf Abwehr der - in diesem Bereich übrigens keineswegs
revolutionär gestimmten179 - „Encyclopedie" ausgerichtet war, weist bereits auf
die konservative Freiheitsdefinition des 19. Jahrhunderts voraus, wenn sie 'Freiheit'
als den Zustand einer Person definiert, wann sie nicht in eines andern Riyentu,m, 1:.~t,
denn nur das Eigentum, nicht aber das Imperium eines andern, benimmt dem Men-
schen im bürgerlichen Stand seine Freiheitiso.
Die Verbindung, die die Begriffe 'Freiheit' und 'Herrschaft' im älteren deutschen
Recht eingegangen sind, führte noch zu einer weiteren Konsequenz. Da Herrschaft
ohne Eigentum undenkbar war 181 , wurde Freiheit im gleichen Sinne völlig verding-
licht aufgefaßt, so daß das Maß der Verfügungsrechte über den eigenen Besitz nach-
gerade zum Parameter für das Maß der Freiheit geworden ist. Und weil auch diese
Ilechtsauffassung an den Bestand der ständischen Gesellschaft gebunden war,
kuunLe man noch im 18. Jahrhundert den Begriff der 'Freiheit' von der historischen
Tatsache ableiten, daß sie einst Personen waren, die keine Vasallen der .l!'ürsten gewe-
sen, sorilorn ihrß Länder frei und eigen besessen habcn 1 B2, Den abgestuften Formen

175 JoH. AEGIDIUS KLÖNTRUP, Alphabetisches Handbuch der besonderen Rechte und

Gewohnheiten des Hochstifts Osnabrück, Bd. 2 (Osnabrück 1800), 24, s. v. Freie.


176 JABLONSKI 3. Aufl. (1767), 481.
177 KRüNITZ Bd. 15 (1778), 94.

1 7 8 SCHEIDEMANTEL Bd. 2 (1783), 91.


179 Vgl. die von TuRGOT und VOLTAIRE verfaßten Artikel „Fondation" (t. 7, 1757, 72 ff.),

„Franchise" (ebd„ 283 f.) und „Privilege" (t. 13, 1765, 389 ff.) der „Encyclop6dio".
°
18 CHR. GoTTLIEB GMELIN, Art. Freiheit, Dt. Enc., Bd. 10 (1785), 498.
181 Freie sind diejenigen, welche Eigentümer über ihr unbewegliches Vermögen sind, also

desselbigen Nutzungen selber beziehen; MOSER, Neues Staatsrecht, Bd. 13/2 (1769), 930.
182 ZEDLER Bd.'9 (1735), 1871, Art. Freyherren, frey und eigen.

29-90386/1 449
Freiheit IV. 3. Korporative Freiheiten

des Besitzrechts entsprach also ein abgestufter Grad der Freiheit, so daß MOSER be-
hauptete, daß Freie . . . bald mehr, bald weniger Freiheit besitzen, alle jedoch
nicht unter ein gewisses Mindestmaß an gemeinschaftlichen Rechten 1 8 3 absinken
könnten, ohne in den Stand der Unfreiheit zu geraten. Hier zeigt sich, daß 'Frei-
heit' ein Zentralbegriff der ständischen Gesellschaft war: die äußerst vielfältige
Zueignung von Freiheiten zu Personen bzw. Korporationen spiegelt die Abstufun-
gen der ständischen Ordnung wider. Nur derjenige hatte in ihr überhaupt Platz, der
den Besitz wenigstens einer Freiheit- nämlich dessen, was der Mosersche „Grund-
rechtskatalog" umfaßt - nachweisen konnte. Wer außerhalb, und das bedeutet in
aller Regel unterhalb, davon lebte, war in der Praxis dem Zugriff der Herrschaft
schutzlos ausgeliefert, auch wenn Moser betonte, für diesen Personenkreis kämen
immer noch diejenigen Gerechtsamen in Frage, die a) nach der heiligen Schrift und
b) dem allgemeinen natürlichen Staatsrecht jedem christlichen und gesitteten Unter-
tan zustehen, sowie die von den Reichsgrundgesetzen und dem Rcichsherkommen
respektierten Lokal-Freiheiten 184 •

3. Korporative Freiheiten

Die Verklammerung von Freiheits- und Eigentumsbegriff machte besonders der


libcmlen Hfatoriographie dee HI. JahrhunderL1:1 ilie U11ter1:1cheiuung zwischen 'per-
sönlicher Freiheit' und 'Freiheiten' so schwer, da sie nicht mehr die vorrevolutionäre
Unterscheidungsfähigkeit zwischen christlich oder naturrechtlich begründeten
Rechten aller und positiv-rechtlichen Privilegien einzelner besaß. Dies ist verständ-
lich angesichts der Tatsache, daß am Ausgang der ständischen Gesellschaft, unmit-
telbar vor der Bauernbefreiung, ein freier und ein unfreier Bauer sich „so ähnlich
geworden waren wie zwei Tropfen Wasser" 185 • ·
Die Ursache dieser Erscheinung lag am wenigsten beim Staat, der seit dem 18. Jahr-
hundert an einer begrenzten Emanzipation der Bauernschaft interessiert war, son-
dern vor allem bei den Korporationen, die die Masse der Privilegien besaßen und zu-
meist jeden staatlichen Einwirkungsversuch auf die unterständischen Schichten mit
Erfolg abwehrten. Die Definition NEHRINGS, Privilegium sei eine Freiheit ... , so
einem Oberen gegen die gemeinen Rechte ·und Gewohnheit gegeben und verliehen wird 186 ,
gibt darum die soziale Lage eindeutig wieder.
Was half das von besorgtenJuristen immerwieder betonte Verbot, Privilegien diirfüm
nicht zum Nachteil anderer verliehen werden, - die Herkunft der Landstände be-
weist, warum in der Praxis davon wenig zu spüren war. Der seit der Genese des neu-
zeitlichen Staates charakteristische Dualismus zwischen Ständen und fürstlicher bzw.

183 MosER, Neues Staatsrecht, Bd. 13/2, 930; ebd., 937.


1R4 Ebd., Dd. 17 (1774), 44. 9.
186 KURT v. RAu~ER, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, Hist.Zs.

183 (1957), 87; Raumei· l:l!Jl'icht von der unlöslichen Verschmelzung von persönlicher,
korporativer und staatlicher Freiheit; ebd., 61. 67. Neben den 'Freiheiten' erkennt MOSER
selbstverständlich an, was göttlichen, natürlichen oder sonst gemeinen Rechtes ist; Neues
Staatsrecht, Bd. 13/2, 944.
188 NEHRING 11. Aufl. (1772), 427.

450
IV. 3. Korporative Freiheiten Freiheit

königlicher Zentralgewalt, der darauf beruhte, daß gemäß dem Grundsatz, jedem
das Seinige zu erhalten, für freiwillige Leistungen vom Fürsten die Freiheit im eige-
nen Ilereich garantiert und zu deren Sicherung ein politisches Mitwirkungsrecht ein-
geräumt w~rden mußte, führten zu der Auffassung MosERS, daß die Landes-Frei-
heiten ... im engeren Verstand ... denen Land-Ständen ... zukommen. Umgekehrt
war dann ebenfalls der Schluß berechtigt, daß diejenigen Territorien keine 'Landes-
Freiheiten' kennen, in denen keine Landstände existieren187 •
Daß die solcherart zustandegekommenen Freiheiten für beständig, ja auf ewig, das
ist unwiderruflich, bis allen Interessenten ein anderes gefällig ist, geschlossen wurden,
leitete Moser aus der Natur aller Freiheiten und aller Verträge her188 . Ihre landes-
herrliche Konfirmation war darum eine bloße Formsache, deren Verweigerung aller-
dings den Ständen kein Recht zum Widerstand verliehen hat, außer im Falle des in
vielfacher Hinsicht von der Norm abweichenden Tübinger Vertrags von 1514189 •
Ebenso wichtig wie die 'Landes-Freiheiten' für den verfassungsmäßigen Fortbe-
stand der Territorien waren die Freiheiten und Vorzüge, welche einzelen Reichs-
ständen zustehen 190 , wie auch dem Kaiser und den obersten Reichsbehörden. Moser
rechnete sie, deren Zahl unabsehbar ist, zu den Grund-Säulen der ganzen Staats-Ver-
fassung unsers Reichs 191 • Ganz oben steht dabei die Norm, daß das Reichsregiment
ein genwinsames Geschäfte 192 von Kaiser und Reichsständen ist, und nicht, imhon
iliet;e TaLsauhe, sondern nur die mißbräuchliche Ausdehnung der Frcilicitcn auf dor
einen Seite auf Kosten der anderen habe zu dem bekannten Verfall der kaiserlichen
Macht in Deutschland geführt.
'Reichsfreiheit' und 'Reichsunmittelbarkeit' sind aloo nicht nur keine Gegensätze,
sondern identische Begriffcl9a. Erotorc wird vorstanden als die Summe der erworbe-
nen Gerechtsamen und Freiheiten 194• Darum kann es unterhalb des Kaisers keine
Souveränität bei den Fürsten geben, aber die Stände sind ihr unterschiedlich nahe-
gekommen: das Haus Österreich, das ganz ausnehmende Freiheiten besitze, sei fast
ganz souverän 195 •
Das dreiseitige Verhältnis zwischen Freiheiten, Schutz und Herrschaft zeigt sich
auch auf dieser Ebene. Nicht nur muß der KaiSer das' nötige Ansehen haben, er sei-
nerseits soll jeden bei seinem Stand und Wesen lassen, denn eine Schwächung der
Mächtigen, IJU gew,issermaßen Stützen der Reichs-Freiheit und ihrer Religions-Ver-

MosER, Neues Staatsrecht, Bd. 13/2, 942. 1040.


1 6. 7
188 Ebd., 1127. 1178. Ebenso schon ZEDLER Hd. 29 (1741), 590, Art. Privilegium u. später
SCHEIDEMANTEL Bd. 4 (1782), 291.
189 MOSER, Neues Staatsre~ht, Bd. 13/2, 1105. Vgl. WALTER GRUDE, ,Der Stuttgarter Land-

tag (Stuttgart 1957), 85.


190 MOSER, Neues Staatsrecht, Bd. 1, 484.
191 Ebd., Rd. 3/2 (1767), 1048.
m Ebd., Bd. 13/2, 1188.
1 99 JoH. STEPHAN PÜT'l'ER spricht von der Reicltswmnittelbarkeit oder doch beinahe ähnlichen
Freiheit und Unabhängigkeit; Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des
TeutschenReichs, Bd. 3 (Göttingen 1787), 292. Die Reichsstädte erlangten diese Stellung
erst im 15. Jahrhundert.
194 CHRISTOPH Lunw. PFEIFFER, Was ist teutsche Volksfreiheit? (Heilbronn 1786), 39.
195 MOSER, Neues Staatsrecht, Bd. 1, 487 f. Dieser mosaikartige Souveränitätsbegriff war

freilich schon von Bodin bestritten woi;den.

451
Freiheit IV. 5. Reichsrechtspositivismus

wandten sind, wäre ebenso ein Mißbrauch wie die Beeinträchtigung kaiserlicher
Rechte 196 .
In welchem Maße der Freiheitsbegriff verdinglioht war, zeigt auuh seine Verwen-
dung für rechtlich ausgegrenzte Immunitätsbezirke. So konnte 'Freih~it' auch ein
befreiter, das ist mit Freiheiten oder Privilegiis begabter Ort 197 sein, dessen räumliche
oder zeitliche Ausdehnung jeweils auf die unterschiedlichste Weise bestimmt war:
als befriedete, das heißt von der gemeinen Gerichtsbarkeit und Steuerpflicht befreite
Orte galten u. a. Grenzsteine, Stadt- und Residenzbezirke, besonders aber kirchliche
Asyle. Im Gegensatz zu diesen unbefristeten Freiheiten kannte man auch die zeit-
lich begrenzte Marktfreiheit.

4. Gewissensfreiheit

Es versteht sich von selbst, daß alle solche erfaßbaren Freiheiten und Privilegien ihr
Fundament nur in den Gesetzen haben konnten und daß deshalb die Reichspubli-
zisten bisweilen in einen extremen Rechtspositivismus verfallen sindrn 8 • Zum
Grenzfall wurde daher das Problem der Gewissensfreiheit, die selbst von ausge-
machten Positivisten als Angelegenheit des göttlichen oder natürlichen Rechts
betrachtet wurde und folglich theoretisch keiner besonderen „Begnadigung" oder
keines besonderen „Freiheits-Briefes" bedurft hätte 199. Die Praxis lehrte aber nicht
nur, daß das Osnabrücker Fi·iedensinstrument - also gesetztes Recht- eine exakte
Regelung dieser Fragen vorgenommen hatte, sondern daß obendrein dort eine
umschränkte und gemäßigte G<Ytoissonsfroilwit besohloBBcn worden war 200, die das
Naturrecht der freien Religionsausübung erhoblioh oirniohriinkto. Eo huttc oioh 0ilao
gezeigt, daß der allgemeine, naturrechtlich fundierte Rechtsanspruch nur auf dem
Wege über die Anderung der Reichsverfassung verwirklicht werden konnte, und
dieser Vorgang war es, der zur Vorstellung von der Gewissensfreiheit als einem Pri-
vileg201 geführt hat, einem Privileg freilich, das - innerhalb gewisser Grenzen -
sämtlichen Reichsbewohnern, auch den ständischen Unterschichten zugebilligt
wurde.

5. Reichsrechtspositivismus und fürstlicher Eingriff

Eine der entscheidenden Grenzen religiöser Gewissensfreiheit im Heiligen Römi-


schen Reich war die Bestimmung, daß dio Untertanen nicht das Recht auf öffent-

198 Ebd., Bd. 5 (1772), 33. 136. 35.


197 KRÜNITZ Bd. 15, 95.
198 Vgl. JusTus MösERS Aufsatz „Von dem wichtigen Unterschiede des würklichen und

förmlichen Rechts", Berlinische Monatsschr. 1/1 (1783), 506 ff. Noch Nm. THADDÄUS
GÖNNER lehnte die Anwendung des Naturrechts vorbehaltlos ab und beschränkte sich auf
eine Bystematische Bearbeitung eines positiven Staatsrechts; Teutsches SLaatsrecht (Landshut
1804), IX.
199 Was ohnehin göttlichen, natürlichen oder sonst gemeüien Rl!-Chtens ·i11t, 1:1ei keine Fre:iludt;

MOSER, Neues Staatsrecht, Bd. 13/2, 944.


200 Ebd., Bd. 7 (1774), 36.
201 Die Gewissensfreiheit halten die evangelischen Stände vor das vornehmste und edelste Stück

der Religionsprivilegien; ebd., 37.

452
IV. 5. Reichsrechtspositivismus Freiheit

liehe Religionsausübung besaßen, sondern gezwungen werden konnten, um dessent-


willen auszuwandern. Daher war für MosER die Emigrationsfreiheit unvermeid-
lichst mit der Gewissensfreiheit verknüpjt 202 • Gerade an dieser seiner Feststellung er
weist sich, daß trotz allem vornehmlich aufs Rezipieren abgestellten Positivismus
am Ende des Reiches die Juristen durch eine gewandelte Interpretation(-sabsicht 1)
noch einmal neue Impulse in die Rechtslehre, insbesondere in die der Privilegien
einzubringen vermocht haben 203 . So war es der aus der Schule Pütters stammende
GÖNNER, der angesichts desselben Sachverhalts zu einer Moser direkt entgegenste-
henden Formulierung gelangt ist. Wo jener zu einer vorbehaltlosen Würdigung der
Errungenschaft der Emigrationsfreiheit gelangt ist, sieht dieser eine aus dem Geiste
der Intoleranz fließende Anomalie, die die beklagenswerten Untertanen dem Emi-
grationszwang, also ein_er Rechtsminderung, ausgeliefert habe 204.
Auch sonst macht sich bei dem bayerischen Kronjuristen, der auf Seiten der Re-
formen Montgelas' stand, häufig die Tendenz zur Einschränkung des Reichsstaats-
rechts und damit zur wachsenden Betonung des Territorialstaatsrechts bemerk-
bar2os, während Moser, der wegen seiner Verteidigung ständischer Freiheiten einige
Jahre auf dem Hohentwiel verbracht hatte, das Schwergewicht stets auf die Wah-
rung des Hergebrachten legte. Dies führte notwenig zu einer gegensätzlichen Posi-
tion des Freiheitsbegriffes. Zwar ist er für beide insoweit Allgemeinbegriff, als beide
in ihm ganz formal ein besonderes Recht und eine besondere .l!'reiheit sehen, welche der
Gesetz-Geber dem Untertanen 'Verstattet 'Und Um 'VUn der Verb'indUehke-it des Gesetzes
lo.~spricht 206 • Er hat aber für beide einen jeweils anderen Stellenwert, was sich nicht
llUl' am Umfang uer De1:1uhäfLiguug miL ilie1:1e111 rrvblelli ablesen läßL, sondern auch
an der Lehre von der Verein barlrnit solciher korporativen Vorrechte mit oem mooer-
nen souveränen Staat. So sagt Moser von den 'Landes-Freiheiten', diese seien gerade
der ursprünglichen deutschen llreiheit angemessen und beeinträchtigen nicht die Lan-
deshoheit, sondern la1:11:1en 1:1iuh beide 'W'ie Wasser und W efri ·vere·in·iyen; der Wein ist
alsdann nicht mehr so stark, berauschet aber auch um so weniger 207 • Umgekehrt sieht
drei Jahrzehnte später Gönner durch die Privilegien die rechtliche Gleichheit der
Staatsbürger gestört 208 und hält das ganze Problem nur noch für eine Frage der Ent-
schädigung. Grundsätzlich hält er jedenfalls - ausdrücklich gegen Moser - alle
Privilegien für widerruflich, da der Regent eines vernunftmäßigen Staates weder sich
noch seine Nachfolger binden könne 209 . Da ihm die Veräußerung staatlicher Ho-
heitsrechte eine Torheit ist, zeigt sich bei _näherem Hinsehen, daß er die ganze

202 Ebd., 38.


20 3 Gegen KARL ÜTMAR FRH. v. ARETIN, Heiliges Römisches Reich, Bd. 1 (Wiesbaden
1967), 95.
204 GÖNNER, Staatsrecht, 92.
205 Zu dieser Besonderheit der Pütter-Schule vgl. EllllLIO Bussi, Il diritto pubblico del
Sacro Romano lmpero alla fine del XVIII secolo, Bd. 1, 2. Aufl. (Mailand 1970), 14.
206 ZEDLER Bd. 29 (1741), 589.
2 01 MOSER, Neues Staatsrecht, Bd. 13/2, 1149 f.

2os GÖNNER, Staatsrecht, 461.


209 Der Konnex zu den gleichzeitigen Versuchen der bayerischen Politik, in den alten und

den vormals reichsritterschaftlichen Gebieten die adligen und korporativen Privilegien


zu beseitigen, ist unzweideutig.

453
Freiheit IV. 6. Freiheiten unter· naturtechtliehe.r Einwi.rk.uug

Materie dem Privatrecht zuzurechnen bereit ist, das dem landesherrlichen Zugriff ja
in viel größerem Maße offensteht.
Aber nicht erst unmittelbar am Ende des alten Reichs ist diese Tendenz spürbar,
schon zu Beginn des Absolutismus findet sich, so besonders eindringlich bei Kur-
fürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Versuch, die Freiheiten der Land-
stände zurückzudrängen, ohne die ständische Gesellschaft als solche aufgeben zu
wollen. In Preußen und Brandenburg, besonders aber in Kleve und Mark, wehrten
sich die Landstände, und hier wieder vor allem die Städte, gegen die Kosten, die das
1644 durchgesetzte stehende Heer verursachte. Sie taten dies, weil der Große Kur-
fürst die verweigerten Gelder mit militärischer Gewalt einzutreiben begann, mit
dem Hinweis, daß sie dem Vaterlande zu Erhaltung der theuer erworbenen Privilegien,
Freiheiten, Rechten, Herkommen und Reversalen verbunden 216 seien und daß dieses
eigenmächtige Vorgehen Novitäten und Einführung fremder Mittel bedeute 211 • Ge-
genüber diesem Beharren auf ständischer Freiheit als dem alten Recht des Landes
antwortete FRIEDRICH WILHELM mit einer aufsteigenden Linie von Rechtferti-
gungsargumenten, die in dem Ausspruch gipfelte, die N oth leide kein Gesetz und ent-
binde von allen Banden. Zunächst freilich verlangte er nur eine .Erklärung in Unter-
thänigkeit und verwahrte sich dagegen, daß die Stände mit ihrer eigenen Außen-
politik eine angemaasste Macht und Autorität usurpiren; aber rasch gelangte er über
die alte Maxime, daß es sich um summum periculum et d,amnum in mora handle, zu
der Feststellung, die Aushebung und Steuereintreibung habe die hohe N ecessitat
gleichsam abgenöthiget. Sein Geheimer Rat und Kanzler DANIEL WEIMANN erklärte
den sich verweigernden Ständen den kurfürstlichen Standpunkt mit den Worten:
Die Pri'V'ileg,ien praesupponfrten Unnoth, und wenn d,ie N oth da wäre, oonse'ris'urn ...
Noth, raison, allgemeines Interesse res major verlangten ein unverzügliches Han-
deln, dem die Freiheiten der Stände im Wege stünden 212 •

6. Freiheiten unter der Anfechtung durch naturrechtliche Einwirkung

Damit ist dem absoluten Staat die Richtung gewiesen, die zu einer weitgehenden
Entmachtung der Proviniialstände und damit zum Ende der „Freiheiten" führen
sollte, die aber andererseits vielleicht gerade dadurch den Versuch jener Korpora-
tionen hervorrief, ihre Mitwirk:ting auch bei der Gesetzgebung durchzusetzen - mit
<lern Am1prnr.h, <lies verlange einr. gemii.ßigt,r. Vr.rfässung -, ohne ila.mit imglr.ir.h
dit:1:m Forderung rnwh unLeu weiLer:wgeLen: die vuu ALR vurgeseheue LegreuzLe
Emanzipationen der Bauern 213 versuchten sie mit der Unterstellung abzuwehren,
die Erbuntertänigen dächten dabei an Freiheit überhaupt und würden so nur zu Ansprü-
chen auf mehrere Freiheiten und eine größere Gleichheit mit dem Bürgerstande ermun-

210 Schreiben der klevischen Landstände v. 17. 4. 1649; Urkunden und Actenstücke zur·

Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 5, hg. v. AUGUST v.
lliEFTEN (Berlin 1869), 376.
211 Schreiben der Landstände v. 2. 10. 1651 (ebd„ 552) u. 24. 5. 1657 (ebd., 8115).
212 Eintrag WEIMANNS in sein Journal v. 22. 3. 1657, Kurfürst FRIEDRICH WILHELM an

die Landstände am 23. 12. 1648, 12. 8. 1651, 24. 6. 1653, 26. 7. 1653 sowie Eintrag WEI·
MANNS V. 14. U. 16. 3. 1657; ebd., 892. 368. 526. 650. 660. 890 f.
21a ALR § 147,.II, 7.

454
IV. 6. Freiheiten unter naturrechtlicher Einwirkung Freiheit

tert 214 • In dieser Formulierung ist der Gegensatz von 'Freiheit überhaupt' und
'Freiheiten' ausgedrückt, deren Ausdehnung auf dazu nicht Berechtigte in die
Richtung neuartiger, ständische Rechte, Freiheiten und Privilegien gefährdende
„Gleichheit" und „Freiheit" wies. Der Staat, der die „Freiheiten" im 17. Jahrhun-
dert durch Staatsräson einges.chränkt hatte, wies nun die Richtung zur „Freiheiten"
aufhebenden „Freiheit"; unbeschadet der Tatsache, daß die Wirklichkeit dieser
Tendenz noch kaum entsprach. Daß die Freiheiten inhaltlich nicht dem Naturrecht
zugerechnet werden dürfen, verstand sich für die Publizisten von selbst 215 • Strittig
hingegen war die Frage, ob sie es durch ihre bloße Existenz verletzten und darum in
einer Zeit, die dem Naturrecht zur direkten Geltung verhelfen wollte, suspekt
erscheinen mußten.
Nur wenige sprachen so klar wie MosER ihre Vorbehalte gegen die uninittelbare
Übertragbarkeit des auch von ihm anerkannten Naturrechts aus. Er beklagte die
wachsende Beliebtheit jener neumodischen Universal-Staats-Medizin, die die alther-
gebrachten Freiheiten unter Hinweis auf das allgemeine Beste kurzerhand abschaffen
wollte. Da ihm bislang noch niemand die entscheidungsberechtigte Instanz für die
Frage nach dem Gemeinwohl habe nennen können, bleibe er bei seiner AblehuWlg
fl er nie 0 hrigkeit vergottenden Lehren eines Machiavelli und Hob bes; dieses orienta-
lische Staats-Recht passe am allerwenigsten auf Deutschland, zu dessen Wesen es ge-
gehöre, daß das Regiment ein gemeinsames Geschäfte von Landesherren und Land-
sLärnlen isL 21 6.
Dieses selbstsichere Hinwegsehen über die sich bereits ankündigenden Ansprüche
der Minderberechtigten moc,htc verständlich erscheinen bei einem Juristen, in des-
sen Heimat der ständestaatliche Dualismus erst Init dem Ende des Reichs unter-
gegangen ist. Der in Gedankenführung und Diktion modernere PüTTER hingegen
suchte die Idee der natürlichen Freiheit in sein System einzubauen. Wenn er aber
bei dem Problem d~r Einziehung von Regalien fragt, ob und inwieweit die Vorrechte
der Landstände oder die natürliche Freiheit der Untertanen dabei in Betrachtung
komme, und in der Antwort darauf die Obrigkeit ermächtigt, die natürliche Freiheit
einzelner ( !) Untertanen zum allgemeinen Besten einzuschränken 217 , so erhellt daraus,
daß er in Wirklichkeit das gemeine Recht im Sinne hat, denn die Idee der natur-
rechtlichen Gleichheit erlaubte nicht nur keine Beschränkung einzelner, sie ließ sich
auch gar nicht zusammen mit den landsLänilischen Privilegien der Regierungsgewalt
entgegensetzen.
Wie ~chwer es war, im am~gchcndcn 18. Jahrhundert Lehrsätze des Naturrechts zur
Reform des geltenden Rechts heranzuziehen, zeigt nicht zuletzt der Fall SCHLÖZER.
Dieser führt beständig das Ideal der Freiheit und Gleichheit im Munde, akzeptiert
dabei aber einen privilegierten Geburtsadel und stimmt schließlich sogar NECKERS
Aufforderung zu, jeden Stand bei seinen rechtmäßigen Freiheiten zu lassen 218 •

214 Kur- und neumärkischer Adel (1794), zit. GÜNTER BmTSCH, Gesetzgebung und Re-

präsentation im späten Absolutismus, Hist. Zs. 208 (1969), 287 f.


2 rn s. o. S. 450 mit Anm. 185.

21s MOSER, Neues Staatsrecht, Bd. 13/2, 1188.


217 J. ST. PüTTER, Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 2. Aufl. (Göttingen 1768),

175. 177.
2 1s AUGUST Lunw. ScHLÖZER, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungslehre

455
Freiheit V, 1. Philosophische Voraussetzungen bis Descartes

Daran gemessen war die zurückhaltende Formulierung, die KRÜNITZ in seiner


„Oeconomischen Encyclopädie" gefunden hatte, wenigstens potentiell rigoroser,
denn seine Definition der Freiheiten als Gegensatz zur Gleichheit der bürgerlichen
Rechte 219 , die damit zum Normalfall gerät, ist nur scheinbar neutral.
Wieweit der Freiheitsbegriffnaturrechtlich beeinflußt, entwickelt und bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts wirksam geworden ist, wird im folgenden verdeutlicht werden.

CHRISTOF DIPPER

V. Der philosophische Freiheitsbegriff

1. Voraussetzungen bis Descartes

Der Begriff der Freiheit, der wie kaum ein anderer das Denken in Bewegung hält,
entwickelt sich in der Philosophie der Neuzeit nicht als Begriff. Ehe sie beginnt, auf
dem von Auaus'1.'IN 220 mit Gedanken der Spätantike und des Christentums errich-
teten Grund, haben BoNAVEN'l.'URA und DtrNS ScoTus 221 ihn in seinen wesentlichen
Bestimmungen entfaltet: Selbstreflexion, Unenillich kilit uni! Rir.htnng m1f Voll-
kommenheit. ]j]s ist die .l!'reiheit eines Willens, der sein eigenes Wollen will und zu-
gleich denkbar macht, der in sich selbst unendlich ist und autonom handelt, um so
freier und vollkommener, je mehr er mit seinem eigenen und dem allgemeinen
Wesen übereinstimmend selbst notwendig ist.
Was sich wandelt, sind die Begründungen der Freiheit und die systematischen Zu-
sammenhänge, in denen das geschieht. Die Bedingungen ändern sich, unter denen
der Anspruch erhoben und jeweils erneuert werden kann, Freiheit zu verwirklichen,
im Bewußtsein, daß sie es noch immer nicht ist. Für den einzelnen hat sie jederzeit
den Sinn, Freiheit vom Zwang durch andere und zu selbstbestimmtem Handeln zu
sein; ihr Begriff aber bildet sich in der Beziehung des Individuums auf das wesent-
liche Allgemeine, als das nacheinander oder zugleich die Vorstellung Gottes, die
Gesetze der Natur, die Ordnung der Gesellschaft angesehen werden, und worin sich,
wie das Gestalten in der Kunst und das Begreifen der Geschichte, vor allem anderen
die Konstitution des Selbstbewußtseins und vernünfüges Handeln vollzieht.
Eine, eigene Dynamik aus der Wechselwirkung von Absolutheit des Begriffs und
Umfang des semantischen Feldes entsteht, sobald 'Freiheit' analog dem Begriff der
'Person' (ui!?6uam:o11, poraono,)222, stoisch als Anspruch, christlich als Aussicht, uni-
versell verallgemeinert wird als Eigenschaft des Menschen überhaupt. Von nun an
nicht mehr in einem einzelnen Gesetz oder einer Verfassung begründbar, kann jede

(Göttingen 1793), 69. Das angeführte Zitat entstammt JACQUES NECKER, Reflexionen über
Ursprung, Natur und Administration der Nationalreichthümer (Weimar 1790), 165.
2 19 KRÜNITZ Bd. 15, '94; wörtlich davon übernommen SCHWAN 2. Auß., Bd. 3 (1793), 201,

s. v. liberte u. ADELUNG 2. Aufl., Bd. 2 (1796), 296.


220 Vgl. JONAS, Augustin (s . .Auw. 100), pat!l:!iID.
221 Vgl. ALEXANDER KoYRE, Descartes und die Scholastik (Bonn 1923; Ndr. Darmstadt

1968); ferner ETIENNE GILSON, La liberte chez Descartes et la theologie (Paris 1913).
2 22 MA.RcELMAuss, Une categorie de l'esprit humaine: la notion de personne et celle du

„moi" (1938), in: ders., Sociologie et Anthropologie, 4e ed. (Paris 1968), 333 ff.

456
V. 1. Philosophische. Voraussetzungen bis Descartes Freiheit

Realität verdächtigt werden, nicht die Freiheit zu verwirklichen, sondern nur Teile
davon auf Kosten der „ganzen". Die einzelnen Bestimmungen innerer und äußerer,
natürlicher und gesetzlicher, willkürlicher und notwendiger Freiheit lassen sich
nicht dauerhaft trennen, ohne in Widersprüche zu geraten.
Entwickelt aus der Freiheit des Willens, dessen Unendlichkeit Gott und Menschen
verbinde, und der als Selbstbeziehung ( ... qua volo me velle ... ) 223 und Selbstbe-
wegung definiert wird, treibt die Bestimmung der Vollkommenheit im Zusammen-
hang einer konsequenteren Naturkausalität dazu, Gott die Willkür abzusprechen,
den Menschen aber gegenüber der definita natura der anderen Wesen als nicht fest-
gelegten, zur eigenen Wahl berufenen p"lastes et fictor seiner selbst zu verstehen 224 •
Dieser emphatische Begriff der Freiheit wird naturrechtlich verankert in der Ver-
nunft, an der alle teilhaben, und aus dieser Vorstellung kann politische Gleichheit ge-
fordert werden; .und gegen die reformatorische Verbannung der Willensfreiheit aus
dem Reich der Natur in das der Gnade, was unbeabsichtigt eine strikte Naturge-
setzlichkeit zu entwickeln befördert, gewinnt für die Orientierung in der Welt die
Selbstbeschränkung der stoischen Ethik an Einfluß.
ln der 1'.hilosophie der Neuzeit denkt DESCARTES zuerst Freiheit ohne alle Restrik-
tionen, als Freiheit Got.t.HR wiP. nf\R MP.nRnhP.n, mit nf\n RP.Rt.immnngp,n rl1w fram:iRlrn,-
nischen Voluntaristen, aber er selbst ändert diese Bestimmungen. Unendlichkeit
ist kein vager Begriff mehr, nur privativ denkbar, sondern Descartes macht aus ihr
bei seinen mathematischen Studien mit der Einführung der unendlichen Zahlen
einen rationalen Begriff, 1tne chose reelle 225 , die zugleich den Begriff der Vollkom-
menheit neu bestimmt. Die Erfahrung der Freiheit ist ursprünglich und unmittelbar,
in ihr sind wir unserer selbst bewußt, libertatis autem et indifferentiae, quae in nobis
est, nos ita conscios esse, ut nihil sit quod evidentius et' perfectius comprehendamus 226 ,
und in ihrer Unendlichkeit erkennt das Ich sich als Abbild Gottes: Sola est voluntas,
sive arbitrii libertas, quam tantum in me experior ut nullius majoris ideam apprehen-
dam; adeo ut illa praecipue sit, ratione cujus imaginem quandam, et similitudinem Dei
me referre intelligo 227 •
Diese Freiheit ist unbegrenzt schöpferisch, unabhängig von den Grenzen des Ver-
standes; als Freiheit Gottes ist sie der Grund aller Möglichkeit, der erst möglich und
denkbar macht und zugleich erschafft, car c'est en Dieu une mesme chose de vouloir,
de entendre et de creer sans que l'un precede l'autre, ne quidam ratione 228 , als Freiheit
des Menschen ist sie der Grund alles Denkens und im universellen Zweifel an der
Wahrheit des Gedachten zugleich spontan sich selbst produzierendes Bewußtsein
unserer selbst und unseres Seins 229 • Darüber hinaus leitet Descartes, nicht völlig

223 BoNAVENTURA, Commentarius in librum sententiarum 2, 25, 1, art. 1, qu. 2. Opera

omnia, ed. PP. Collegii a S. Bonaventura, t. 2 (Quaracchi 1885), 595 f.


224 GIOVANNI Pwo DELLA MIRANDOLA, De hominis dignitate oratio, Opera, t. 1 (Basel 1557;

Ndr. Hildesheim 1969), 314.


225 RENE DESCA:RTES, Correspondance, Nr. 557 (1649). Oeuvres, ed. Charles Adam, Paul

Tannery, t. 5 (Paris 1903), 356.


226 Ders„ Principia philosophiae 1, 41 (1644), ebd., t. 8 (1905), 20.

227 Ders., Meditationes de prima philosophia, Nr. 4 (1641), ebd., t. 7 (1904), 57.

228 Ders„ Correspondance, Nr. 22/2 (1636), ebd., t. 1 (1897), 153.

229 Ders., Discours de la methode, ebd., t. 6 (1903), 33. Die Formel des „Discours" ie pense,

457
Freiheit V. 2. Die großen Systeme der Metaphysik

schlüssig, aus der Freiheit des Willens die Möglichkeit des Irrtums ab, in welchem
wir selbst uns täuschen, weil der Wille weiter reicht als der Verstand und sich auch
auf solches erstreckt, was der Verstand nicht klar und deutlich einsieht 280 •
Blieb diese Freiheit zu irren wie den Irrtum zu vermeiden, an der Descartes die
Unendlichkeit des Willens erfährt, von geringerer Tragweite, so waren die Ablösung
des Begriffs der Unendlichkeit vom theologischen Sinn und die Begründung der
Selbstreflexion in der Subjektivität, während sie zuvor wesentlich in Gott gedacht
wurde, folgenreiche Taten für künftiges Philosophieren. Damit ist die Richtung an-
gegeben, in welcher die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit als eine intelligible
Anschauung in uns verlegt und die Tatsache der Freiheit im sittlichen Handeln
begründet werden sollte.

2. Die großen Systeme der Metaphysik und das Recht des Menschen

Für die bestimmenden Interessen des 17. Jahrhunderts, die mechanische Konstruk-
tion der physischen Welt und die rationale Ordnung der Gesellschaft hat der Begriff,
wie Descartes ihn faßt, etwas überschwängliches: diese Freiheit ist weder in der
Natur zu finden noch durch Gesetze zu verwirklichen, Die typische Haltung ist deR-
halb sorgfältiges Bestimmen des Phänomens und Ausschließen aller Momente von
Willkür aus den Prinzipien der Natur und der immer mehr darin verschwindenden
Vorstellung Gottes.
HoBBES konstruiert so den Willen rein mechanistisch, als durch Objekte unserer
Sinne bewegten Willen zu handeln 231 , dessen Freiheit nur durch körperliche Hin-
dernisse oder durch Furcht und Hoffnung, deretwegen ein Mensoh sioh einem Stiil'-
keren unterwirft, aufgehoben werden kann 232 • Deshalb ist die Freiheit unabhängig
von der Staatsform um so größer, je mehr Dinge die Gesetze unbestimmt lassen, aber
angewiesen auf das Bestehen eines gesetzlichen Zustands 233 •
Diesen Zustand vermag nur eine Staatsgewalt zu garantieren, die ihrfl Manht am1 der
Unterwerfung der einzelnen Willen bezieht 234 , welche sich ihr vertraglich verpflich-
ten, ohne daß sie selbst dadurch gebunden wäre. Denn, so argumentiert HobhflR,
es seien ihre eigenen Gesetze, und sich selbst könne man nicht verpflichten; wenn
der Staat es will, dann wolle auch der Bürger ihn davon lösen, quia civis cujusque
voluntas in omnibus rebus compreherulitur in votuntate civitatis, libera est civita8
q1wmdo uu.lt, a.ct11. ja.m libera. est 235 •
Su fu_ule~ 1:!ieh, wa~ für Gott nicht mehr einsichtig ist, dem Menschen aber vorent-
halten werden muß, damit er nicht in die wilde Freiheit des Naturzustandes 236

clone ie suis ist in den „Meditationes" ersetzt durch Ego sum, ego existo; Meditationes, Nr. 2,
ebd„ t. 7, 25.
230 Ders., Meditationes, Nr. 2, ebd., 55 ff.
231 HOBBES, De homine 11, 2 (1658). Opera, t. 2 (1839), 95; vgl. Leviathan, c. 21. EW

vol. 3 (1839), 196 ff.


2 3 2 Ders„ De cive 15, 7 (1647). Opera, t. 2, 336.

233 Ebd. 13, 15 (p. 308 f.).


234 Ebd. 5, 8 (p. 214).
2as Ebd. 6, 14 (p. 227).
238 Ebd. 10, 8 (p. 271).

458
V. 2. Die großen Systeme der Metaphysik Freiheit

oder in das Horrsohaftsgelüst der Tyrannemnörder 237 zurückfalle, dem Staate zuge-
sprochen: unbegrenzte und auf sich selbst bezogene Freiheit des Willens. Die abso-
luten Bestimmungen und die historischen Konnotationen sind nicht verloren;
Hobbes fürchtet sie aus der Erfahrung des Bürgerkriegs und der Religionswirren
und versucht, sie in der Gestalt des „Leviathan" zu bändigen.
SPINOZA galt seiner Zeit und Nachwelt als entschiedener Fatalist, und allerdings
besteht die bloße Willensfreiheit für ihn darin, quod homines sui appetitus sint
conscii, et causarum, a quibus determinatur, ignari 238 • Den Begriff der Freiheit aber
entwickelt er in einzigartiger Weite und Folgerichtigkeit. Als freie Ursache, causa
libera 2 39 , handelt das ewige oder unendliche Wesen, das wir Gott oder Natur
nennen, mit derselben Notwendigkeit, mit 'der es existiert, aeternum namque illud,
et infinitum Ens, quod Deum, seu Naturam appellamus, eadem, qua existit, necessitate
agit 24 o. Seine Realität ist zugleich Vollkommenheit, und seine Selbstreflexion ist der
unendliche Amor intellect·uaUs, ... quo Deus se ipsum amat 2'1. Das Wesen des In-
dividuums, das sich 'von der Knechtschaft der Affekte befreit, ist Teilhabe an
dieser unendlichen Aktivität: beatitudo, seu Libertas consistir: . . in constanti, et
aeterno erga Deum Amore, sive in Amore Dei erga homines 242 •
A11,o, rli111111r Fn1ihoit folgen die Prin~ipion vernünftigen Hu.ndolrn1 in dor Gm10lltiohaft
und zugleich ein dynamischer Begriff des Glücks 243 • Von hier aus konnte das Ver-
langen nach emer eigenständigeren Begründung der Subjektivität oder die Notwen-
digkeit, das zeitlose System im temporalen Vollzug und damit historisch zu rekon-
struieren, nach anderen Lösungen drängen. Die Rcihwierigkeiten, Einsicht zu ver-
wirklichen, ließen nach Regelungen suchen, die Freiheit mit Sicherheit zu vereinba-
ren oder di11 Si!lherheit, dio Hobbes versprach, die Freiheit nicht verschlingen zu las-
R11n. Lornni entwickelt seinen Begriff der Freiheit ähnlich wie Hobbes als objektbezo-
genen psychischen Mechanismus, aber, der neuen Physik der zweiten Jahrhundert-
hälfte entsprechend, am Begriff einer inneren Kraft. Every one, I think, finds in
himself a power to begin or forbear, continue or put an end to several actions in himself 244 •
Freiheit ist nichts anderes als diese Kraft, to act or not to act, according as the mind
directs 245 , sie kann aber nur hanrlelnden Wesen zukommen, nicht dem Willen, der
selbst nur eine solche Kraft des Geistes ist, zu wählen oder zu wollen, choose or
will 246 • Der Wille wird bestimmt, nicht etwa durch Dinge, the greater good, sondern,
wie Locke sich selbst erst in der 2. Auflage des „Essay" (1694) berichtigt, durch ein
gegenwärtiges Unhehagen, present uneasiness 2 4 7 •

237 Ders., Lev., c. 29. EW vol. 3, 315.


238 SPINOZA, Epistola 58. Opera, ed. Carl Gebhardt, t. 4 (Heidelberg o. J.), 266.
230 Ders., Ethica 1, Appendix, ebd., t. 2, 77.

240 Ebd. 4, Praefatio (p. 206).


241 Ebd. 2, Def. 6; 5, Propositio 36 (p. 85. 302).
242 Ebd. 5, Prop. 36, Scholion (p. 303).
243 Ders., TractatUB theologico-politicus, c. 16 u. 20~ Opera, t. 3, 195f. 240ff.; Bthica 5,

Prop. 42. Opera, t. 2, 307.


244 JOHN LOCKE, An Essay Concerning Human Understanding 2, 21, 7 (1690). Works,

vol. 1 (1823), 240.


24s Ebd. 2, 21, 71 (p. 288).

2 4 & Ebd. 2, 21, 27 (p. 252).

2 4 7 Ebd. 2, 21, 35 (p. 256).

459
Freiheit V. 2. Die großen Systeme der Metaphysik

Übereinstimm1mfl mit niARAm flynamischen Begriff der Handlungsfreiheit formu-


liert I„ocke auch die politischen Rechte und definiert das Eigentum der Bürger als
the mutual preservation of tlie-ir Uves, Uberl'ies and e1>lale1J 248 , ihre Freiheit als geregelte
Sicherung ihrer Aktivität unter selbstgegebenen Gesetzen, freedom of men under
government is, to have a standing rule to live by, common to every one of that society,
and made by the legislative power erected in it 249 ; sie zu fördern, ist Zweck der Regie-
rung2so.
Damit sind bereits Prinzipien des liberalen Verständnisses von Freiheit aufgestellt,
das später zur Ausbildung der modernen Demokratien beitrug. Mit der dynamischen
Konzeption der Mechanik des Willens aus dem gegenwärtigen Unbehagen verbindet
sich für Locke selbst das Recht des Volkes auf „Revolution" im Sinne des Vorgangs
von 1688 25 1, und über seine Vorstellungen von geregelter Aktivität hinaus ist damit
ein Bewegungsmoment freigesetzt, das noch in den aktuellen Kämpfen um Ver-
wirklichung politischer Freiheit wirkt.
Im Bewußtsein, das Problem dort anzugehen, wo Descartes den Knoten durchhauen
habe, statt ihn zu lösen, stellt LEIBNIZ fest, daß es zwei Labyrinthe für den mensch-
lichen Geist gebe, die Zusammensetzung des Kontinuums und das Wesen der Frei-
hAit, beide aber entsprinp;en aus dem Begriff dei! Unendlichen 252 . Leibniz leugnot don
absoluten Raum und die absolute Bewegung, die zu ihrem Fortbestehen der unab-
lässigen Einwirkung GuLLe1:1 bedürfen, wie es Newton und seine Schule behaupteten.
Als reine Relationen sind Raum und Bewegung die Ordnung der Aufeinanderfolge
der Dinge und Ereignisse. Nicht darin also kann die Freiheit und Vollkommenheit
Gottes bestehen, sondern in uer Verwirklichung der be1:1ten Welt, die er unter der
nnenfllir.htm Zahl cler möglichen erkannL haL. Ihm VullkununenheiL folge ex 'ipHa
in'fi,nitate partium universi rerumque mutua permeatione ac nexu 253 . Die Freiheit des
Menschen ist es, sein Handeln gemäß der Vernunft selbst zu bestimmen 254, er ist
um so freier, je weniger der Gebrauch der Vernunft durch den Ansturm der Leiden-
schaften getrübt wird, liberior, quanto minus affectuum impetu rationis usus turba-
tur255, und je mehr er durch Einsicht der Zufälligkeit der Einzeldinge entgeht und
in necessite morale das beste wählt: c' est la plus parfaite liberte, den' etre point empecM
d'agir le mieux 256 .
Die Freiheit, in welcher man sich zum Handeln motiviert, ist eine besondere Art der
Möglichkeit, puissance, in der die Bewegung verwirklicht wird, la Substance ou
l'agent se met en action par sa propre puissance 251 . Tn T,ooKF.s „RsRny", dem die
„Nuuveaux e1111ai11" inhaltlich genau folgen, sLehL uafür puwer, und da1:1, wodurch

248 Ders., Two Treatises of Government 2, 9, 123. Works, vol. 5 (1823), 412.
24 9 Ebd. 2, 4, 22 (p. 351).
260 "RhcL 2, 11, 137-139 (p. 420 ff.).
261 Ebd. 2, 19, 223 (p. 471).
252 LEIBNIZ, De libertate, in: Nouvelles lettres et opuscules inedits de Leibniz, ed. A . .l!'ou-

CHER DE CAREIL (Paris 1857), 180.


253 Ebd., 185.

26 4 Ders„ De libertate, Opera, 669.


255 Ders., Die philosophischen Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 4 (Berlin 1880), 362.

25s Ders., 5° lettre a Clarke, Opera, 763.


257 Ders„ Nouveaux essais 2, 21, 72. Opera, 268 f.

460
V. S. „Quallle d'huUlllle" gegen ,,regular plan uf llherly" Freiheit

prp,.~f.nt 11.'nf.a.~1:n,p,s.~, nAnnt T,Aihni:r,, wiA Ar in


iliiwi Kraft in °Rt'lwAg11ng gARAfar.t wirfl,
einer längeren Ausführung rechtfertigt 258 , inquietude und erläutert es durch den
deutschen technischen Ausdruck Unruhe, die eine Uhr in Gang hält. Lockes Prinzip,
aus dem Rechte der Bürger zur Veränderung und Revolution ableitbar sind, ist hier
ein Mittel, doch noch das höchste Gut zu erreichen, bien loin qu' on doive regarder
cette inquietude comme une chose incompatible avec la felicite, je trouve que l'inquietude
est essentielle ala felicite des creatures, sie ermögliche un progres continuel et non inter-
rompu a des plus grands biens 259 , und diesem Zwecke hat selbst eine als kaum ab-
wendbar erachtete revolution in Europa zu dienen 2 so.
So leicht daraus die Unterschiede der politischen Motivierung und Situation abzu-
lesen sind, so wenig darf verkannt werden, daß Leibniz als erster es unternahm,
Gesamtprozesse nicht nur einer innerhalb fester Grenzen beweglichen Natur und
Gesellschaft, sondern als durch ihre Vergangenheit determinierte und sich selbst
ständig determinierende Entwicklung begrifflich zu fassen. Das auszuführen blieb
Späteren vorbehalten, und wenn die unendliche, auf Vollkommenheit zielende
Selbstbewegung nüchterner gefaßt, ihre ideologische Verdinglichung abgewehrt
werden. mußte, so wurde sie doch hier autonom und objektivierbar.

3. „Qualite d'homme" gegen „regular plan of liherty"

Die Diskussion um die Freiheit vollzieht sich im Jahrhundert der Aufklärung auf
mehreren Ebenen. Die großen Systeme können im einzelnen kritisiert werden, im
ganzen sind sie unüberholbar. Es geht darum, auf den gewonnenen Prinzipien gesi-
chert.e For.~c.lmng in den Wi~~em:c.11afte11 ztt begriinden, vor allem aber, Geda11ken
zu verbreiten und anzuwenden. Dazu ist Freiheit selbst die Bedingung, und SPINO-
ZAS 'l'at, den Zweck des 8taates in die Freiheit zu setzen 261 , Lockes Begründung
eines Rechts, sie durchzusetzen, entfalteten nun eine Dynamik in der modernen
Geschichte, in der die Begriffe von Staat und Recht selbst sich ändern und zugleich
die Vorstellungen, wie Freiheit zu verwirklichen sei, im zunehmenden Bewußtsein
der Heteronomie von Teilverwirklichungen, die mit Unterdrückung und offenbarem
Unrecht verbunden sind. Es wurde eine Lieblingsidee schon im 18. Jahrhundert, daß
die Philosophie oder doch ihre Vorkämpfer selbst es gewesen seien, die diese Bewe-
gung in Gang gesetzt haben. Wenn das auch nicht zur Entscheidung steht, so er-
laubt doch die zunehmende Dichte, in der Äußerungen über den Begriff und die -
oft personifizierte - Vorstellung der Freiheit auftreten, Zweifel an der Rechtmäßig-
keit repräsentativen Zitierens. Im Vergleich zu der kurzen Zeit, in der die großen
Systeme von der Mitte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts aufeinander folgten,
bietet im Wandel der allgemeinen Interessen und mit ihnen der Philosophie das 18.
Jahrhundert andererseits nur wenig zur Bestimmung des Begriffs, bis im deutschen
Idealismus neue Begründungen in wenigen Jahren sich zu überbieten suchen.
Die Willensfreiheit ist eine noch weit über die Epoche hinaus sich ziehende Debatte
mit der Theologie, philosophisch eigentlich abgeschlossen, da sie in keiner konse-

25 sEbd. 2, 20, 6 (p. 247 f.).


2 59Ebd. 2, 21, 36 (p. 259).
2so Ebd. 4, 16, 4 (p. 387).
2s1 SPINOZA, Tractatus, c. 20. Opera, t. 3, 241.

461
Freiheit V. 3. „Qualit:e d'homme" gegen ,,regular plan of liberty"

quenten Naturgesetzlichkeit oder Entwicklungsvorstellung denkbar ist. Von den


Philosophen wird Lockes Definition als power to act, puissance d' agir weithin aner-
kannt262. Sie gewinnt neues Interesse als Grundlage der Moral, in der das bürger-
liche Selbstbewußtsein zunächst sich konstituiert; dieser inneren Freiheit des Wil-
lens gegenüber kann dabei die äußere als bloßer Zierrath der Gemüthsruhe 263 stoisch
verachtet werden. DmEROT, der den Lesern der „Encyclopedie" eine ausführliche
Darstellung der Diskussion liefert, verteidigt dort gegen alle Gründe ein lebhaftes
Gefühl des Bewußtseins innerer Freiheit, auf der zugleich die gesellschaftliche Ord-
nung beruhe: Otez la liberte, toute la nature humaine est renversee, et il n' y a plus
aucune trace d'ordre dan.~ la societe. -. . Le bien n'est plus bien, etlemaln'estplusmal 2 64 •
Derselbe Diderot kann angesichts der Naturkausalität äußern: le mot de liberte est
un mot vide de sens 265 , und in seinem erst posthum veröffentlichten „Jacques le
Fataliste" entwickelt er die übermütigste Dialektik von Willensfreiheit und Fatalis-
mus; la jouissance d'une liberte qui pourrait s' exercer sans rnotif serait le vrai caractere
d'un maniaque 266 , behauptet der mit Spinoza indoktrimerte Jacques, der doch nach
des Autors Meinung ebenso willkürlich handele comme vous et moi 267 , dafür aber
seinen von der ]'re1heit des Willens überzeugten Herrn fast völlig zu determinieren
vRr8t.eht,.
VoLTAIRE faßt zuerst die Entstehung der politischen Freiheit ins Auge; kein Derivat
eine8 naLürlieheu ReehLH, Hunderu KampfmiLLel dei· Küllige, pv'ur afjaiblir les
seigneurs, bei der Bildung der Städte im Mittelalter: De l'anarchie generale de l' Eu-
rope, de tant de desastres m€me, naquit le bien inestimable de la liberte268 • An der Ein-
zigartigkeit Venedigs entwickelt er ein Ideal der Freiheit, die niemandem pur la
revolte schuldig sei oder ein Privileg verdanke, die Vorstellung, die noch Goethes
greisen Faust prägen wird, daß Freiheit nur auf selbstgescha:ffenem Grunde zu ver-
wirklichen ist. Gewährte Freiheiten vernichten die Freiheit: on sait que des conces-
sions de priveleges ne sont que des titres de servitude 269 • Diese Einsicht werden Spätere
immer wieder neu formulieren, so SEUME, FRIEDRICH SCHLEGEL, der junge MARX,
der sich dabei auf Voltaire beruft 270 • Hier ist es jedoch nicht so, daß nach älterem
Gebrauch des Wortes im Plural nun ein Kollektivsingular gebildet würde, sondern
die Absolutheit der Bestimmung ließ begrenzte und vereinzelte Verwirklichungen als

2u2 z.B. VoLTAmlll, Diotionna.iro philoaophiquo, a.rt. Libort6 u. Fmno a.rbitro, Oouvroa

compl., t. 19 (1879), G78 IT. 196 ff.; DAVID HUME, An Enquiry Conceming Human Under-
standing (1748), Works, vol. 4 (1882), 78.
263 CHRISTIAN THoMAsrus, Einleitung zur Sittenlehre (Halle 1692; Ndr. Hildesheim

1968), 105,
264 DIDEROT, Art. Liberte (Morale), Encyclopedie, t. 19 (Genf, Neuchätel 1778), 991 f.
266 Ders., Lettre a Paul Landois, 29. 6. 1759, Oeuvres compl., ed. Jean Assezat et Maurice
Tourneux, t„ 19 (Paris 1877), 435.
266 Ebd., t. 6 (1875), 256.
267 Ebd., 181.

268 VOLTAIRE, Essai sur les moeurs, c. 83. Oeuvres compl., t. 12 (1878), 68.

269 Ders., Dictionnaire, art. Venise, et, par occasion, de Ja liberte, Oeuvres compl., t. 20

(1879), 553.
270 JoH. GOTTFRIED SEUME, zit. CAMPE Bd. 2 (1808), 159, s. v. Freiheit; FRIEDRICH

SCHLEGEL, Athenäumsfragment Nr. 60. SW 1. Abt., Bd. 2 (1967), 174; MARX, Debatten
über die Preßfreiheit (1842), MEW Bd. 1 (1956), H. _

462
V. 3. „Qualite d'homme" gegen ,,regular plan of liherty" Freiheit

unverträglich mit dem Begriff der Freiheit erkennen. Neu ist der allgemeine An-
spruch auf Realisierung, trotz vieler Zweifel im einzelnen, der sich mit dem ebenso
unbedingten Prinzip der Gleichheit in der Forderung verband, sich durch selbst-
gegebene Gesetze zu bestimmen, wie Locke schon aus anderen Voraussetzungen ge-
schlossen hatte.
Der Freiheitsbegriff unterscheidet sich dadurch von anderen politischen Begriffen,
daß er sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sobald er im Durchgang
durch die wechselnden Bereiche seiner Entfaltung in der geschichtlichen Welt der
Gesellschaft angelangt ist, qualitativ nicht mehr verändert. Die Höhepunkte der
Aktualisierung, an denen um 1790 und um 1840 Voltaires Gedanke wohl nicht zu-
fällig wiederholt wird, bedeuten kein Zunehmen der Erkenntnis, sondern eine
gleiche Erfahrung angesichts einer viel allgemeiner werdenden Forderung bei wach-
senden Hindernissen.
NichL in theoretischer Absicht, sondern um die sich sammelnden Erfahrungen unter
Regeln zu fassen, definiert MoNTESQUIEU das in den verschiedensten Bedeutungen
die Geister verwirrende Wort, das jeder nach Neigung gebrauche: La liberte ne peut
consister qu'a pouvoir faire ce que l'on doit vouloir, et a n'€tre point contraint de faire
ce que l'on ne dbit pas vouloir 271 • Die fehlende Begründung des Sollens, welche das
Wollen bestimmt, wurde zur philosophischen Aufgabe der folgenden Zeit. Hier be-
~LehL _pufüi~ehe Fl'l:liheiL iu der SieherheiL, 8'arete, u·u d·u rnu·in8 dun8 l'up·in·iun q_·ue l'un
a de 8a 8Urete272 , und sie wird streng getrennL vom _persönlichen Eigentum, das die
bürgerlichen Gesetze zu garantieren haben; ihr Preis seien hohe Steuern, und Reich-
tum, opulence, folge ihr stets 273 • Immer deutlicher werden, auch im Rückblick, die
wirtschaftlich1m Rr,dingnngp,n für die Vflrwirklich11ng von Fmihflit. Am1breitung des
Handels und beweglichen Eigentums bewirken, wie HuME an der englischen Ge-
schichte zeigen kann, die Änderung: 1'he situation of affairs and the disposition of men
becurne 8'U8cept·ible u/ u mure rey·ulur plwn u/ l·iberty 271 • In ~eheinbarem Gegensatz zu
diesen Absichten, Freiheit gemäß dem Wandel objektiver Bedingungen planvoll zu
erweitern und zu sichern, steht die vernichtende Kritik dieser Fortschritte und das
Postulat der Freiheit aus der Unbedingtheit des Begriffs. Nur aus dem Ineinander
beider Tendenzen wird die Eigenart der modernen Freiheitsbewegung verständlich,
gleichzeitig ein wachsendes Unbehagen an ihren vorläufigen Teilverwirklichungen
zu erzeugen.
RoussEAUS Verdienst war es, das Denken selbst, wie Hegel sagte, nämlich den Willen
als Prinzip des Staates aufyestellt zu haben 275 • Per Wille beruht auf der ursprünglichen
und unveräußerlichen Freiheit, auf die zu verzichten hieße: renoncer a sa qualite
a
d'homme, a·ux dro-its de l'httman·ite, me·me ses devoirs 276 • Der Zustand des Menschen

271 MONTESQUIEU, De l'esprit des lois 11, 3 (1748). Oeuvres compl., t. 2 (1951), 395; vgl.

f'\hn. 11, 2 (p. 394).


2 12 Ebd. 12, 12 (p. 431). ,
273 Ebd. 13, 12 (p. 466); Lettres persanes, Nr. 122. Oeuvres compl., t. 1 (1949j, 313.

274 HuME, The History of England, vol. 5 (London 1763), 561, c. 46; vgl. den zeitgenös-

sischen Übersetzer JoH. JACOB DuscH: ... wurden die Um.stände der Sachen und die Ge-
müter der Menschen eines ordentlichen Entwurfs der Freiheit fähiger; Geschichte von Groß-
britannien, Bd. 1 (Breslau 1762), 94.
275 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 258. -SW Bd. 7 (1928), 330.

~ 76 RousSEAU, Du contrat social 1, 4. Oeuvres compl., t. 3 (1964), 356.

463
Freiheit V. 4. Die politische und die philosophische Revolution

aber widerspricht diesem Prinzip: L'homme est ne libre, et par-tout il est dans les
fers 277 . Wo im vernünftigen Staat Freiheit in der Bildung der volonte generale sich
selbst bestimmt, ist das kein Abgrenzen oder Ausgleichen widerstreiLender Interes-
sen und Rechtsansprüche: der einzelne Wille erfährt dabei erst, was er wirklich
will 27 B und muß den unendlichen Konflikt in sein eigenes Innere verlegen. Dort die
Freiheit zu begründen, wird Kant unternehmen.

4. Die politische und die philosophische Revolution

Die Bedingungen dafür, Freiheit als unveräußerliche Eigenschaft des Menschen zu


denken und zugleich als. politisches Recht durchzusetzen, waren in Deutschland
noch nicht gegeben. Luthers Freiheitsbegriff hatte sich mit dem der Stände ver-
bunden; ÜRUSIUS konnte um die Mitte des Jahrhunderts die politische Bedeutung
des Wortes als ein Recht, etwas ohne Furcht der Strafe tun zu lcönncn279, definieren.
Die zunehmende Begeisterung gewann poetische Gestalt: 0 Freiheit, / Silberton dem
Ohre!/ Licht dem Verstand und hoher Flug zu denken!/ Dem Herzen groß Gefühl! 2so
Sie blieb aber so abstrakt, daß LESSING, dem das Bewußtsein der Freiheit in Deutsch-
land mehr als den meisten seiner Zeitgenossen verdankt, so gut wie völlig darauf
verzichtet, das Wort zu gebrauchen, auch dort, wo es zu erwarten wäre, wie in der
„l!.:rziehung des Menschengeschlechts". Da entwickelt er den vollen Begriff als
Selbstbestimmung der Vermtnft zur Vollkommenheit, die in unendlicher V ervoll-
kommnung im unmerklichen Schritt erreicht wird 2 s1 •
Der Ilegri:ffvon Freiheit, in dem das bürgerliche Selbstbewußtsein sich llmleL, wird,
wie schon seit Hobhes, von dem der Antike entschieden getrennt; war die Freiheit
der Alten, so der junge HERDER, eine ungezähmte Frechheit, ein Erkühnen, selbst das
Rad des Staats lenken zu wollen, so kenne die Gegenwart eine feinere und mäßigere
Freilieü, d·ie Freilte·il des Gew·issens, e·in el1Jrl'iclter lYiwnn und Christ se'in Z'U dürfen, die
Freiheit, unter dem Schatten des Thrones seine Hütte und Weinstock in Ruhe genießen
zu können und die Frucht seines Schweißes zu besitzen; die Freiheit, der Schöpfer seines
Glückes und seiner Bequemlichkeit, der Freund seiner Vertrauten und de1· Vater und
Bestimmer seiner Kinder sein zu können 282 . Vor diesem Hintergrund ist Kants Frei-
heiti;Legriff zu i;ehen, neben ihm, auf Luther und Spinoza sich berufend, LESSINGS
Wort: Ich begehre keinen freien Willen 283 , und schon auf ihn bezogen die Skepsis

277 Ebd. 1, 1 (p. 351).


278 Ebd. 4, 2 (p. 441).
279 CHR. AUGUST CRusrns, Anweisung vernünftig zu leben (Leipzig 1744; Ndr. Hildes-

heim 1969), 43.


°
28 Kr,OPS'l'OOK, DaR nAue ,fa,hrhundert. (l 760), Oden, hg. v. Franz Muncker u. Jaro Pawel,

Bd. 1(Stuttgart1889), 148. Vgl. die Sammlung von Belegen bei STAMMLER (1954), 51 ff.
261 LESSING, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §§ 72. 85 .. 91 ~- 100. Sämtl. Sehr„

Bd. 13 (1897), 430 ff.


262 HERDER, Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten? (1765), SW

Bd. 1 (1877), 23 f.
283 So nach der Aufzeichnung von FRIEDR. HEINRICH J ACOBI, Über die Lehre des Spinoza,

Werke, hg. v. Friedrich Roth u. Friedrich Köppen, Bd. 4 (Leipzig 1819; Ndr. Darmstadt
1968), 61; vgl. ebd., 70 f.

464
V. 4. Die politische und die philosophische Revolution Freiheit

HAMANNS: Was hilft mir das Feierkleid der Freiheit, wenn ich daheim im Sklaven-
kittel284.
KANT spricht, wo Leibniz die beiden Labyrinthe sah, von den zwei Angeln, um
welche die Metaphysik sich drehe: Erstlich, die Lehre von der Idealität des Raumes
und der Zeit ... ; zweitens, die Lehre von der Realität des Freiheitsbegriffes, als Be-
griffes eines erkennbaren Übersinnlichen 285 . Die unendliche Ausdehnung des Raumes
und der Zeit kann nicht mehr als Attribut oder Tat Gottes gedacht werden, die Ver-
nunftkritik macht sie zu formalen Bedingungen aller unserer Anschauung, deren
Mannigfaltiges das Selbstbewußtsein in einem Actus der Spontaneität vereinigt,
indem es die Vorstellung: I eh denke, hervorbringt, die alle andere muß begleiten kön-
nen286. Dieselbe Spontaneität, die Raum und Zeit, ungeachtet ihrer empirischen
Realität, in der Einheit des Selbstbewußtseins begründet, wirkt ungeachtet der
Naturkausalität als Autonomie des Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu
maclien?· 87 , und begründet in dieser Freiheit die Sittlichkeit.
Freiheit und Naturgesetzlichkeit stehen in einer Antinomie, die von der Vernunft
nicht zu lösen ist. Aber der praktische Begriff der J!'reiheit, den wir in wirklichen
Handlungen, mithin in der Erfahrung 288 erkennen, gründet in ihrer transzendentalen
Idee, mit der sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität schafft, die von selbst
anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden
dürfe 289 . Die zweifache Kausalität wird, mit Bezug auf Leibniz, versöhnt in der
Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar als bloße Natur
nur fünnenwelt, als ein System der Freiheit aber intelligible, d. i. moralische Welt
(regnwm gral,iae) genannt werden kann 290 .
Auf dem Weg über das freie Spiel der Einbildungskraft in der f orrnalen Zweckmäßig-
keit der Kunst gelangt Kant zur Idee eines höchsten Gutes, zum Endzweck. Ihn
bestimmt die Vernunft des· Menschen, dessen Dasein den höchsten Zweck selbst in
sich hat, als das Weltbeste, das allgemeine Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sitt-
lichkeit verbinde. Dabei wird der Begriff des Glücks ersetzt durch den der Würdig-
keit glücklich zu sein 291 . Das „Weltbeste" macht eine philosophische Betrachtung
der Geschichte in weltbiirgerlicher Absicht möglich 292 • Der Gegensatz dieser Integra-
tion dynamischer Prinzipien in eine Teleologie der Freiheit, die als Idee des Über-
s·innliclien ·in uns 293 die Vernunft über ihre theoretischen Grenzen erweitert, zu ihrer
Definition im Recht des mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusam-

284 JoH. GEORG liAMANN, Briefwechsel, hg. v. Walter Ziesemer u. Arthur Henkel, Bd. 5

(Frankfurt 1965), 291, Nr. 788.


285 KANT, Fortschritte der Metaphysik, Anhang. AA Bd. 20 (1942), 311.
286 Ders., Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. (1787), AA Bd. 3 (1904), 108 f,
287 Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA Bd. 4 (1903), 444.
088 Deni., Kdti.k tler UL"Leil~krafb (1790), § 91. AA Bd. 5 (1908), 468.
289 Ders., Kritik der reinen Vernunft, AA Bd. 3, 363.
290 Elnl., 529.
291 Ders., Kritik der Urteilskraft,§§ 51. 12. 83. 88. 87. AA Bd. 5, 321. 222. 434 f. 453. 450.
292 Ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher 'Absicht (1784), 3. Satz.

AA Bd. 8 (1912), 15 ff.


293 Ders., Kritik der Urteilskraft, § 91. -AA Bd. 5, 474.

30-90386/l 465
Freiheit V. 4. Die politische und die philosophische Revolution

menstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges 294 erschien Kants jüngeren


Zeitgenossen als Resignation der Vernunft vor der Wirklichkeit. Er forderte unter
dem Eindruck der Französischen Revolution eine Reihe von Entwürfen heraus, die
zunächst alle Freiheit in der Analogie mit der Kunst entwickeln oder, wie Fichte
von den Romantikern, doch so gedeutet werden.
Aus naturrechtlicher Tradition sucht HUMBOLDT den Einfluß des Staates auf das
Individuum als organische Totalität zu begrenzen: Der wahre Zweck des Menschen
... ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu
dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung 295 •
Weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert, zeigt SCHILLER
die Entstehung der wahren politischen Freiheit im ästhetischen Zustand der Be-
stimmbarkeit, den zwei entgegengesetzte Grundtriebe schaffen; wie Formtrieb und
Stofftrieb in der Kunst, Naturgesetze und Sittengesetze bei den Griechen, so sollen
Sinnlichkeit und Vernunft im sittlichen Handeln versöhnt werden 296 • Gerät die
Kunst auch in Gefahr, bloßes Mittel zu werden; so hat Schiller damit das Selbst-
verständnis auch noch der folgenden Generationen ausgesprochen, die fehlende po-
litische Freiheit in Deutschland, vorbereitend als Freiheit von Kunst und Philoso-
phie verwirklicht zn haben.
Die ursprüngliche Apperzeption nicht wie Kant als Bedingung aller Erkenntnis,
sondern als Handlung der Freiheit 297 im Selbstbewußtsein zu begründen, unternahm
FICHTE durch zwanzig Jahre in immer neuen Versuchen, diesen Gedanken einer ur-
sprünglichen Tätigkeit des Ich zu formulieren. Die Frage ist nicht mehr, wie Frei-
heit und Naturgesetz zu verbinden seien, sondern wie Vernunft möglich ist, die auch
da.s erst donkba.r ma.oht: Durch lccin Naturgesetz und durch lceine Fo(ge aus dem Na.
turgesetze, sondern durch absolute Freiheit erheben wir uns zur Vernunft, nicht durch
Übergang, sondern durch einen Sprung. Darum muß man in der Philosophie notwendig
vom Ich ausgehen, weil dasselbe nicht zu deduzieren ist 298 • Der systematische Ort des
Freiheitsbegriffs wechselt; zunächst unmittelbare Wirklichkeit,. wird Freiheit das,
worin absolutes Wissen sich verwirklicht: der Gedanke der Absolutheit des Wissens,
daß es eben sich selbst setzt durch sich verwirklichende Freiheit 299 , und schließlich das,
worin Vernunft erscheint: Die Einsicht erscheint in ihrem Wesen als nur möglich
durch Freiheit; so ist es auch wirkliicli und ·in der Tat, d. h. su als /re·i sich äußernd, zeigt
sich die Vernunft; daß Freiheit erscheint, ist eben ihr Gesetz und inneres Wesen 300 •
Ein analoger Prozeß ist an Fichtes politischem Freiheitsbegriff zu beobachten.
Zunächst das Recht, kein Gesetz anzuerkennen, als welches man sich selbst gab 301 , folgt

294 Ders., Metaphysik der Sitten (1797), Einleitung in die Rechtslehre, § E. AA Bd. 6

(1907), 232.
29 6 WILHELM v. HUMBOLDT, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des

Staates zu bestimmen (1792), AA Bd. 1 (1903), 97 ff„ bes. 106.


298 SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), Briefe Nr. 2. 15. 19.

NA Bd. 20 (1962), 311 f. 356. 359. 373.


29 7 FICHTE, Wissenschaftslehre (1794), SW Bd. 1 (1845), 71.
298 Ders., Grundlage der gesamten Wissenschafts-Lehre {1794/95), AA Bd. 1/2 (1965), 427.
299 Ders., Wissenschaftslehre (1801) 2, 48. NW Bd. 2 (1835), 158.
3 oo Ders., Wissenschaftslehre (1804), 27. Vortrag, ebd., 307.
301 Ders., Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Re-

volution (1793), AA Bd. 1/1 (1964), 252, Anm.

466
V. 4. Die politische und die phill!sophische Revolution Freiheit

aus der Handlung des Selbstbewußtseins, zugleich andere freie W esen 302 zu setzen,
der Gedanke, der wie bei Kant zur Einschränkung nötigt: Ich muß das freie Wesen
außer mir in allen Fällen anerkennen als solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff
der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken 303 • Aus Konsequenz und den politischen
Erfahrungen der Revolution gelangt Fichte zu der Forderung: Es soll schlechthin
bürgerliche Freiheit, und zwar Gleichheit derselben sein; der politischen Freiheit aber
bedarf es höchstens nur für einen 304 • Diese gegenwärtige Beschränkung wird, da
Freiheit und Fortdauer wesentlich vereinigt sind 30 ~, in eine Teleologie aufgehoben, die
den Zweck des Erdenlebens der Menschheit so denken läßt, daß sie in demselben alle
ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte 306 • ·
Erkennbar wird diese Entwicklung, in der das Selbstbewußtsein zunehmend, wie
bei Kant angedeutet, die Wissenschaftslehre zugleich als Ethik begründet, im Be-
griff des „Lebens", der mit wachsender Bedeutung neben den der Freiheit tritt: Ich
werde mir durch mich selbst als etwas, das auf eine gewisse Weise tätig sein soll, gegeben,
ich werde' mir sonach durch mich selbst als tätig überhaupt gegeben; ich habe das Leben
in mir selbst und nehme es aus mir selbst. Nur durch .dieses Medium des Sitten-Ge-
setzes erblicke ich mich 307 . Die bei Fichte nur angedeutete Tendenz, in deren Ent-
wioklung bis ins 20. Jahrhundert der Freiheitsbegriff ganz duroh den dos Loboll[J
verdrängt werden konnte, ist hier nicht zu verfolgen.
Die Französische Revolution, die gerade für ihre deutschen Ileobachter den Be-
reich des Möglichen überraschend erweiterte,· hatte Hoffnungen und Enttäuschun-
gen erweckt, die das Denken dieser Zeit wandelten. Unabhängig von ihnen blieb
fast nur die Skepsis GOETHES, daß Freiheit und Gleichheit nur in dem Taumel des
W almsfrms genossen werden können wnd daß die größte f/ust rmr dann am höchsten
reizt, wenn sie sich ganz nahe an die Gefahr drängt und lüstern ängstlich-süße Empfin-
dungen in ihrer Nähe genießet 308 •
Aus einem solchen Taumel der Begeisterung entstand das „älteste Systemprogramm
des deutschen Idealismus", das in Umkehrung von Schillers „ästhetischer Erzie-
hung" den Staat aufhören lassen und in der Idee der Schönheit die Freiheit unein-
geschränkt verwirklichen will: Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle
Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen
dürfen 309 •
Im Anschluß an Fichte entwickelte ScHELLING seine Philosophie, die alles von der
menschlichen Freiheit erwartet 310 , aber von Anfang an von einem emphatischen

302 Ders., Grundlage des Naturrechts (1796), .A.A Bd. 1/3 (1966), 319.
303 Ebd., 358; vgl. 351.
304 Ders., Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), SW Bd. 7 (1846), 155.

305 Ders., Naturrecht, .A.A Bd. 1/4 (1970), 21.


3 os Ders., Grundzüge, SW Bd. 7, 7.

307 Ders., Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschafts-Lehre (1797/98), .A.A

Bd. 1/4, 219; vgl. zu Fichtes FreiheitsbegriffMARTIAL GuEROULT, L'evolution et structure


de la doctrine de la science chez Fichte (Paris 1930), passim.
308 GOETHE, Italienische Reise 2, Der römische Karneval, .Aschermittwoch. H.A Bd. 11

(1950), 515.
309 Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, hg. v. FRANZ RosENZWEIG

(Heidelberg 1917), 6.
310 SCHELLING, Philosophische Briefe (1795), Werke, Bd. 1 (1927), 230; vgl. 81. 101.

467
Freiheit V. 4. Die politische und die philosophische Revolution

Freiheitsbegriff getrieben wird, der sich nicht begnügen kann, Selbstbewußtsein zu


begründen: Wo absolute Freiheit ist, ist absolute Seligkeit, und umgekehrt, aber mit
absoluter Freiheit ist auch kein Selbstbewußtsein mehr denkbar. E'ine Tätigkeit, für
die es kein Objekt, keinen Widerstand mehr gibt, kehrt niemals in sich selbst zurück.
Nur durch Rückkehr zu sich selbst entsteht Bewußtsein 311 • Schon hier kann Wirklich-
keit nur als beschränkte Realität gedacht werden, und der höchste Moment des Sein.~
ist für uns Übergang zum Nichtsein, Moment der Vernichtung 312 • Nur eine vorüber-
gehende, systematisch motivierte Lösung ist deshalb für Schelling die Realisierung
der Freiheit in der Tätigkeit der Kunst 313. Das Verlangen des Menschen, selbst
schaffender Grund zu werden 314, kann sich nicht erfüllen, wird daher zum Anfang der
Sünde, in der sich das ursprüngliche Böse äußere, und erzeuge so die tiefe unzerstör-
liche Melancholie alles Lebens 315 • Damit ist die Richtung gewiesen, in welcher KrnR-
KEGAARD die Sünde als entsetzliche Befreiung von der Ausübung des Ethischen 316
beschreibt und noch HEIDEGGER von derfaktischen, ihrer selbst gewissen und sich
ängstenden Freiheit zum Tode 317 sprechen wird.
HEGEL zuerst hat den Begriff der Freiheit in seinem Werden erkannt. Die Idee, daß
das 1ndividuum als solches einen unendlichen Wert hat, . . . daß der Mensch an sich
znr h.ör.h.~te.n Fre.ih.P.it be..~timmt ist, Wfl,r de.r Ant1:ke. fre.md nnd ist e.rst d11.rch da.s Christen-
tum in die Welt gekommen 318• Daß Freiheit das Wesen des Geistes 319 ist, daß der Geist
zunä-Ohst Intelligenz und daß die Bestimmungen, duroh welohe sie in ihrer Entwickelung
fortgeht, vom Gefühl, durch Vorstellen, zum Denken, der Weg sind, sich als Wille her-
vorzubringen 320, beschreibt Hegel in der „Phänomenologie des Geistes" und in der
„Enzyklopädie" als den Prozeß der sich selbst bestimmenden FreiheiL. So verläßt
das Selbstbewußtsein die abstrakte Freiheit und gibt sich einen Inhalt, wird als
freier Wille Person durch das Eigentum, Subjekt durch die Moralität und gewinnt
in der sittlichen Substanz von Familie, Gesellschaft und Staat seine Wirklichkeit,
die nicht gegenseitige formale Beschränkung bleibt321 . Deshalb ist sie der Wende-
punkt vom Altertum zur modernen Zeit, und dort sieht Hegel die verändernden
Momente für Recht und Staat und läßt die durch Unendlichkeit und Freiheit be-
stimmte „romantische" Epoche der Kunst beginnen3 22 . Daß der Geist in der Wis-

311 Ebd., 248.


n 2 Ebd.
313 Ders., System des transzendentalen Idealismus (1800), Werke, Bd. 2 (1927), 349.
3 1 4 Ders., Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Werke, Bd. 4 (1927), 282.
316 Ebd., 280, 291.

316 SöREN KIERKEGAARD, GW, hg. v. Christoph Schrempf, Bd. 6 (Jena 1910), 339.
317 MARTIN HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 53 (1927; 10. Aufl. Tübingen 1963), 266.
3 1s HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 482.
319 Ebd., § 382.

320 Ebd., §§ 424. 469. 488. 503. 514. 517.


321 Ders., Rechtsphilosophie,§ 4. SW Bd. 7, 53. Hieraus entwickelt erst M:rcHAIL BAKUNIN

die Vorstellung einer in der Freiheit der anderen bestätigten, sich ins Unendliche aus-
dehnenden Freiheit; Prinzipien und Organisation einer internationalen revolutionär-
sozialistischen Geheimgesellschaft (1866), in: ders., Staatlichkeit und Anarchie und andere
Schriften, hg. v. Horst Stuke (Frankfurt, Berlin, Wi~n 1972), 4.
322 HEGEL, Rechtsphilosophie, §§ 124'. 185. 205. SW Bd. 7, 182. 266. 283 f.; vgl. Ästhetik,

SW Bd. 13 (1928), 120ff.

468
VI. Der politische Freiheitsbegriff im modernen Naturrecht Freiheit

senschaft sich Freiheit hervorbringt, als Wissenschaft dü~ Befrei1J1ng dnrch sfoh .~elbst
vollendet und als begriUne Geschichte absolutes Wissen wird, ist der systematische
Abschluß des Hegelschen Denkens323. ·
Ein seltsames, aber häufiges Mißverständnis hat dieses Bewegungsprinzip auf die
letzten Etappen fixieren wollen, auf die Hegel es anzuwenden selbst Gelegenheit
hatte. Eindringlicher als jeder seiner Zeitgenossen hat er das Ereignis der Französi-
schen Revolution und dessen Beziehung auf das Denken zu bestimmen versucht 324 .
Mit dem Blick auf die bloß negative ständische „deutsche Freiheit" stellte er ein
Jahrzehnt danach fest, daß sie die Begriffe selbst verändere: Da seit zehen Jahren
ganz Europa seine Aufmerksamkeit auf das fürchterliche Ringen eines Volkes nach
Freiheit heftete, und ganz Europa in allgemeiner Bewegung deswegen war, so kann es
nicht anders sein, als daß die BegriUe über Freiheit eine Veränderung erlitten und sich
aus ihrer vorherigen Leerheit und Unbestimmtheit geläutert haben 325 • Solches Ge-
schehen erfüllt die Begriffe mit Wirklichkeit, und als konkretes Begreifen wirken sie
zurück: Dieses Denken hat es mit der Wirklichkeit zu tun und ist eine Gewalt gegen das
Bestehende geworden, und diese Gewalt ist die Revolution überhaupt 326 •
Nicht als vollzogene Verwirklichung und noch weniger als rasche Erfüllung ist des-
halb zu verstehen, was als Prinzip aufgestellt der lange Verlauf der Geschichte zur
Anwendung bringen soll: Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit, - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben 827 •

HORST GÜNTHER

VI. Der politische Freiheitsbegriff im modernen Naturrecht


(17./18. Jahrhundert)
Neben den iura et libertates findet sich schon vor der Mitte des 17. Jahrhunderts
innerhalb des Freiheitsbegriffs ein zweiter Bereich, der unter anderem die libertas
christiana 328 , die. libertas der antiken Republik 329, die persönliche Freiheit im Ge-

32 3 Ders., Enzyklopädie, § 576; Logik II, SW Bd. 5, 3. Aufl. (1940), 355; Phänomenologie,

Ende, ebd., Bd. 2, 4. Aufl. (1964), 620.


324 Ders., Vorlesungen über die .Philosophie der Geschichte 4, 3, 3. SW Bd. 11, 4. Aufl.

(1961), 548 ff.; vgl. ders., Phänomenologie, SW Bd. 2, 449 ff.: Die absolute Freiheit und
rlAr A<lhmflkAn.
320 Ders., Die Verfassung Deutschlands (1802), Polit. Sohr., hg. v. Jürgen Habermas

(Frankfurt 1966), 12U.


32 6 Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 4, 3, 3, hg. v. Georg Lasson,

Bd. 4 (Leipzig 1920), 924. Diesen Gedanken aufnehmend, wird BAKUNIN aull der wirkliclwn
Ge,genwart der Freiheit die gänzliche Vernichtung der bestehenden politischen und sozialen
Welt folgern; JuLES ELYSARD [d.i. BAKUNIN], Die Reaction in Deutschland, Dt. Jbb. 5
(1842), 993. 1001.
3 27HEGEL, Philosophie der Geschichte, Einleitung. SW Bd. 11, 46.
328 Vgl. Ar,R'l'F.n 2. A11fl. (Hi:\O), 16.22. 1626; HuGo GRoTius, De iure belli ac pacis 2, 5, 29
(1625; Ausg. Amsterdam 1651).
329 Vgl. BESOLD 2. Aufl. (1641), 299, wo unter dem StiohwortFreyheitvonliberae respublicae

im Gegensatz zu Monarchien die Rede ist.

469
Freiheit VI. Der politische Freiheitsbegriff im modernen Naturrecht

gensatz zur Sklavereisao, die libertas naturalis 331 und die Willens- und Handlungs-
freiheit332 umfaßt. Beide Bereiche gehören verschiedenen Literaturschichten an:
Während die ständischen Freiheiten als rechtlich und politisch fest umrissene und
praktisch einlösbare Rechte und Schutzpositionen für Individuen und Korpora-
tionen in der juristischen Literatur und in den konkreten rechtlichen und politischen
Verlautbarungen der deutschen Länder und Staaten heimisch sind, existiert 'Frei-
heit' in mannigfaltigen Formen jeweils als abstrakte Kategorie in der Theologie und
der Philosophie, ohne sich im allgemeinen in konkrete Freiheiten umsetzen und
dadurch im rechtlich faßbaren politischen Raum artikulieren zu können. Gewiß
gibt es Überschneidungen in Begriffen, die beiden Bereichen angehören; so kann
etwa die persönliche Freiheit sowohl als konkrete Freiheit des Personen~tandes als
auch in der Form eines in Theologie oder Philosophie zu durchdenkenden Problems
auftreten. Ebenso können sich mehrere iura et libertates zu der Vorzugsstellung
eiues ganzen Standes verdichten; 'Freiheit' bezeichnet dann den Inbegriff von Frei-
heiten, die diesem Stand zukommen3 33 - wie beispielsweise die Libertät der deut-
schen Reichsstände 334 -, ohne daß dies vorerst zu einer Transzendierung der Ein-
zelfreiheiten führt. Umgekehrt ändert auch ein latent und vereinzelt aktuell vor-
handener Freiheitswille, der sich nicht in der Forderung nach Gewährung von Frei-
heiten erschöpft, sondern 'Freiheit' als herrschaftseinschränkendes politisches oder
religiöses Postulat kraft eigenen Rechts aufstellt 33 ti und aus dem abstrakten Be-
reich gespeist sein mag, nichts an der generellen Unterscheidbarkeit beider Berei-
che. ·
Da der .Bereich der 'iura et libertates' eindeutig auf die überkommenen politischen
Strukturen festgelegt iAt, VflfWlrndert flR ninht, Ofl,ß cfüi in Oflf Aufklärung wirksamen
politischen Mächte zur Begründung ihrer Forderungen sowohl auf das theoretische
Arsenal des abstrakten, auf den ersten Blick nicht ständisch festgelegten Bereichs
zurückgreifen als auch dieses Instrumentarium ihren eigenen Zielen gemäß um~
wandeln und konkretisieren. Dabei werden nun keineswegs alle Bedeutungen von
'Freiheit' relevant. So spielt die libertas christiana im 18. Jahrhundert keine un-

330 Vgl. ebd., 293: Estque verbum libere, eius significationis, quod alicui servituti non sit
IJ'Uppusit·urn;G.1w•1•rn1:1, De iure belli 1, 3, 12: libertas personalis.
331 Vgl. JEAN BODIN, Les six Jivres de Ja republique (.l:'aris 1583; Ndr. Aalen 1961), l, 3

(p. 19); 2, 2 (p. 273) und 2, 3 (p. 279): liberte naturelle; FRANCISCO DE SuA.REZ, Tractatus de
legibus ac deo legislatore 2, 14, 16. 18; 3, 1, 1; 3, 2, 3 (1612; Aug. Mainz 1619); GROTIUS,
De iure belli 2, 2, 5.
832 Vgl. ALSTED, 1596.

333 -+ Grundrechte II. 1 ;. zur korporativen Libertät vgl. auch RAUMER, Absoluter Staat

(s. Anm. 185), 55 ff.


334 Ein weiteres Beispiel bei JoH. GEORG EsTOR, Bürgerliche Rechtsgelehrsamkeit der

Teutschen, Bd. 1 (Marburg 1757), 144: Die studenten-freiheit bestehet: 1) in dem besondern
schuze des kaisers und landesherrn, 2) in dem befreiten gerichts-stande foro privilegiato, 3) in
den freiheiten der geistlichen, 4) daß sie nicht leicht ... gefoltert werden.
335 Fiir n:i.R MittAl:i.lt.er vgl. na.7.U GRUNDMANN, Freiheit (s . .Anm. 127), bes. 51 f., der betont,

daß im Mittelalter die konkreten Freiheiten mit der Freiheitsidee als politischem, religiösem
und menschlich-persönlichem Postulat nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht
werden.

470
VI. 1. Natürliche Freiheit als Rechtfertigung Freiheit

mittelbar wirksame Rolle mehr 336 • Schwieriger verhält es sich mit der Willens- und
Handlungsfreiheit. Es erscheint als gerechtfertigt, die theologische und philoso-
phische Diskussion um Determinismus und Indeterminismus hier auszuklammern,
da sie für die Begriffsgeschichte der politischen Freiheit ohne Auswirkungen
bleibt3 37. Um so sorgfältiger müssen allerdings begriffliche Nahtstellen und Über-
gänge zwischen politischer und moralisch-sittlicher Freiheit beachtet werden.
Damit sind auch die Schwierigkeiten angedeutet, denen die Begriffsgeschichte der
Freiheit in der Aufklärung unterworfen ist: Zwar wird der politische Freiheitsbe-
griff im wesentlichen in dem durch Theorieüberhang charakterisierten Bereich ent-
wickelt, dieser Bereich ist aber seiner~eits partikularisiert in verschiedene, durch
Adjektive gekennzeichnete Arten von Freiheit, die sich gegenseitig beeinflussen und
in ihrem Verhältnis zum ständischen Freiheitsbegriff differieren. Deshalb müssen.
sowohl die. begriffliche Entwicklung der partikularen Formen und deren Aufgehen
in einem allgemeinen politischen Freiheitsbegriff berücksichtigt werden als auch
die jeweiligen Beziehungen zum ständischen Freiheitsbegriff und zur konkreten
politischen und rechtlichen Praxis.

1. Natürliche Freiheit als Rechtfertigung türstenstaatllcher Herrschaft

Die Konzeption einer Freiheit, die der Sklaverei entgegengesetzt ist und dem Men-
schen von Natur aus zusteht, ist den Juristen der frühen Neuzeit vom römischen
Recht her vertraut 338 • Bald aber sprengt der Begriff der natürlichen Freiheit den
Rahmen der lfestlegung auf die persönliche Freiheit. Korrelierend zu der teilweise
vorhandenen Identität von Herrschafts- und EigentumRbegrifl'S89 rlAckt lihertß
nat1J.rel1R- in rler 8taatslehre .JEAN Bonrns (1583) den Bereich der Freiheit sowohl im
Gegensatz zu imperium als auch im Gegensatz zu dominium ab: Nous appellons
libertenaturelle de n'estre subiect ... a komme vivant, et ne souffrir autre command~­
ment que de soymesme3 40 • Die spanische Spätscholastik arbeitet die beiden möglichen
Stoßrichtungen der natürlichen Freiheit gegen politische Herrschaft einerseits und
Sklaverei und Leibeigenschaft andererseits schärfer heraus: ... ex natura rei omne.~
homines nascuntur liberi, et ideo nullus habet iurisdictionem politicam in alium: sicut
nec dominium (SuAREZ 1612) 341 . Das in der sozialen Wirklichkeit doch allenthalben
fm1tr.11Rtellende dominium an Menschen und die nicht minder reale iurisdictio poli-
tica werfen die Frage auf, wie diese mit der Freiheit des Menschen vereinbar sind.
llespondeo ... , quamvis natura dederit libertatem ... , non tarnen absolute prohibuisse,
ne auferri possit. N am in primis eo ipso, quod homo est dominus suae libertatis, potest

336 In den Lexika und in den Naturrechtssystemen des 18. Jahrhunderts findet sich die
libertas christiana nicht mehr. Die bcgriffsgcsohiohtlioho Irrelevanz sohließt allerdings einen
id~engeschichtlichen Zusammenhang mit dem modernen politischen Freiheitsgedanken
oder mit einzelnen Menschenrechten nicht aus.
337 So auch ARTUR GREIVE, Die Entstehung der französischen Revolutionsparole Liberte,
Egalite, Fraternite, Dt. Vjschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. 43 (1969), 726 :ff. 728 f.
338 Vgl. Inst. 1, 2, 2; 1, 3; Dig. l, 5, 4.
339--->- Eigentum;--->- Herrschaft.
340 BomN, Six livres 1, 3 (p. 19).
341 SuAREZ, Tractatus 3, 2, 3.

471
Freiheit VI. 1. Natürliche Freiheit als Rechtfertigung

eam vendere, seu alienare. Respublica etiam per potestatem altiorem, quam habet ad
regendos homines, potest ex iusta causa ... hominem privare sua libertate 342 • Damit
sind wesentlicl+e Merkmale der libertas naturalis des Naturrechts der Aufklärung
schon ausgesprochen. Die Freiheit „ex natura rei" kann vom Individuum kraft
eigenen Willens veräußert oder vom Staat „ex iusta causa" eingeschränkt werden.
Weder gegen den Gedanken eines Freiheit aufhebenden Vertrags noch gegenüber
dem Staat - der Vorbehalt „ex iusta causa" verweist auf Grenzen, die· außerhalb
des Begriffsfeldes der Freiheit liegen - entwickelt der Freiheitsbegriff Abwehrsub-
stanz. Der Begriff der natürlichen Freiheit. findet Eingang in das Naturrecht des
17. Jahrhunderts und dessen staatstheoretische Spezialdisziplin des allgemeinen
Staatsrechts (ius publicum universale), ohne ~aß sich zunächst an den Definitionen
Wesentliches ändert. So bedeutet 'libertas naturalis' bei SAMUEL PUFENDORF (1672)
... sui iuris potestatisque, ac nullius alterius hominis potestati subiectum esse 343 • Bald
aber kristallisiert sich ein Hang zu möglichst umfassenden Formulierungen heraus,
so daß natürliche Freiheit in die Nähe von Handlungsfreiheit geraten oder diese
sogar miteinbeziehen kann: Libertas bestehet ... darinnen, wenn ich tun kann, was ich
wj,ll (GUNDLING 1734) 344 • Natürliche Freiheit wird so zu einer uferlosen und schon
allein deshalb negativ gefaßten Freiheit.
Entscheidend wird jedoch, daß der Gedanke der libertas naturalis verbunden wird
mit dem eines Naturzustandes der Menschen: status originarius status libertatis est
(WoLFF 1740) 345 • 'Status naturalis' und 'status libertatis' erscheinen als Synonyma
oder gerafle:r.u als identisch 346 • Dadurch bleibt die natürliche Freiheit statisch, einem
Zustand der Vergangenheit oder einer theoretischen Konstruktion verhaftet. Über-
ilie8 führt der begriffliche Zusam.menhang dazu, daß die libertas naturaliR teilhat an
allen negativen Eigenschaften, mit denen das Naturrecht der frühen Aufklärung
den Naturzustand ausstattet. Das zeigt sich deutlich bei THOMAS HoBBES (1668):
Oondi#onem hominum pure naturalem, id est libertatem integram, ... anarchiam esse
et bellum ... 3 47 Schon für den Naturzustand selbst wird daher ein Teil der prinzi-
piell zugestandenen Freiheit wieder zurückgenommen: . . . omnimodam libertatem
humanae naturae esse inutilem ac perniciosam, adeoq1u•, ad 8alubim ?:ps1:1,s cond1were,
ut legibus ista constringatur (PuFENDORF 1672) 348 • Da die natürlichen Gesetze keine
ausreichende Sicherheit bieten, fordern Selbsterhaltungstrieb, Angst oder auch

342 Ebd. 2, 14, 18.


343 S. PuFENDORF, De jure naturae et gentium 2, 2 (Ausg. Frankfurt, Leipzig 1744); vgl.
CHRISTIAN WoLFF, Jus naturae methodo scientifica pertractatum, ßd. 1 (Frankfurt,
Leipzig 1740), 84, § 136.
344 Nm. HIERONYMUS GuNDLING, Ausführlicher Discours über das Natur- und Völcker-

Recht (Frankfurt, Leipzig 1734), 63.


345 WoLFF, Jus naturae, Bd. 1, 88, § 145.
346 Vgl. THOMAS HOBBES, Leviathan, c. 31. Opera, t. 3 (Ndr. 1961), 254; ders., De cive 7,

18, ebd., t. 2 (Ndr. 1961), 248; PUFENDORF, De jure naturae 2, 2, 3; ders., De officio
hominis et civis secundum legem naturalem libri duo 2, 1, 8 (1673; Ausg. Utrecht 1728);
JusTus HENNING BoEHMER, Introductio in ius publicum univ1mm,Jp,, 2. Aufl. (Hn.J]p, l72ß),
46: status libertatis seu naturalis.
347 HoBBES, Lev., c. 31 (p. 254).

348 PUFENDORF, De jure naturae 2, 1, 2.

472
VI. 1. Natürliche Freiheit als Rechtfertigung Freiheit

Vernunft, daß der Mensch den bellum omnium contra omnes oder das confusum chaos
beendet und sich in den status civilis begibt. Naturzustand und natürliche Freiheit
siuJ dazu konzipiert, die Existenz des Leviathans zu rechtfertigen: ... status civilis
merito praefertur statui libertatis (BoEHMER 1726) 349 • Folgerichtig besitzt die libertas
naturalis keine Abwehrsubstanz, die einen prinzipiell vollkommenen Freiheitsver-
lust beim Übergang vom status naturalis in den status civilis verhindern könnte.
Die mangelnde Widerstandskraft macht sich schon im Naturzustand bei der Frage
des Verhältnisses der begrifflich noch in der natürlichen Freiheit enthaltenen persön-
lichen Freiheit zur Sklaverei bemerkbar. Für die meisten Naturrechtler bis in die
letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ist die servitus mit natürlicher Freiheit
wegen der darin implizierten Vertragsfreiheit durchaus vereinbar: Vermöge der
natürlichen Freiheit muß man einem jeden zulassen, daß er sich nach seinem Ge/allen in
d'te Knecltlsclia/l beg,ibt (WoLFF 1754) 350 . Der Gedanke der Vertragsfreiheit tendiert
zu einer Vcrdrängung der übrigen Bestandteile der natürlichen Freiheit. Das zeigt
sich auch bei der Idee eines oder mehrerer Verträge als Grundlage des Staates. Im
Hinblick auf den Staat besteht ebenfalls die Möglichkeit, sich in Sklaverei zu be-
geben: ... singulis permissum est, sein servitutem alteri addicere, sive pactum expres-
sii.m sii.ppona.s sii1e ta.citu.m (BoFHMRR. 17?.6) 351 °FiR AntRtAht rlann 11in11 rP.~pu.hlir.n.
lierilis 352 - eine Staatsform, die nur vertraglich begründet und nicht von der Natur
hergeleitet werden kann, da die potestas herilis zur Erreichung des Staatszwecks
nicht erforderlich ist 353 . Der Gesellschaftsvertrag erfüllt hier die Funktion, ein noch
höheres Maß an Freiheitsverlust zu rechtfertigen als das naturrechtlich gebotene.
Dazu kommt, daß der Vertrag auch stillschweigend geschlossen werden kann:
. . . potest rerumpublicarum origo descendere . . . ex consensu tacito, quem ex factis
argumentamur iis, ex quibus voluntas, quod quis agnoscat alterius potestatem civilem,
colligitur, v. c. ex patientia, taciturnitate, obedientiaque et cet. in iis, quae. ille, qui
imperantem re gerit, imperat (FRrrscH 1734) 364 • Sowohl Jer Begriff Jer natürlichen
Freiheit als auch die Begründung des Staates durch Gesellschaftsvertrag dienen zur
Rechtfertigung der rechtlich schrankenlosen Herrschaft des absolutistischen Staa-
tes. Solange sich in der libertas naturalis keine begrifflichen Änderungen abspielen,
die der natürlichen Freiheit Resistenz gegen freiheitsaufhebende Verträge verleihen,
ist gerade der Vertrag im Naturrecht Einfallstor für die Unfreiheit.
Dieses Ergebnis wird bestätigt durch das Schicksal der Freiheit im Staat. Wie die
'libertas naturalis' für den status naturalis charakteristisch ist, so kennzeichnet den
status civilis aufseiten der Untertanen die subiectio 366 , aufseiten Je11 llem1ehers

349 BoEHMER, Introductio, 46 f.


35 °CHR. WOLFF, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 948 (Halle 1754), 684 f.; vgl.
GuNDLING, Discours, 401 f.; LUDWIG JuLius FRiEDR. HöPFNER, Naturrecht des einzelnen
Menschen, der Gesellschaften und der Völker, 3. Aufl. (Gießen 1785), 150.
351 BOEHMER, Introductio, 223, Anm.
332 Ebd„ 223.

353 Ebd., Anm.


354 GOTTFRIED ERNST FRITSCH, Ius publicum universale et pragmaticum (Jena 1734),

37 f.; vgl. BoEHMER, Introductio, 223, Anm.


355 Vgl. HOBBES, De cive (s. Anm. 346).

473
Freiheit VI. 1. Natürliche Freiheit als Rechtfertigung

das imperium356, also. zwei mit der natürlichen Freiheit unvereinbare Begriffe.
Folglich ist es für HoBBES „absurd", von einem freien Untertan zu sprechen357; die
Menschen im ge8elltichaftlichen Zustand haben ihrer natürlichen Freiheit renunciiret
(GUNDLING 1734)358 : Oivitatem qui subit, naturalis libertatis iacturam facit, ac imperio
se subiicit (PUFENDORF 1672) 359 . Im Stand der ursprünglichen natürlichen Freiheit
befinden sich nur noch die Herrscher, die Staaten in ihren Beziehungen zueinander
und einige Individuen außerhalb des Staats360. Freiheit erscheint so geradezu als
Qualität der Obrigkeit, Gehorsam als Pflicht des Untertanen; folglich hat die
Obrigkeit Freiheit denen Untertanen zu befehlen, was sie tun und lassen sollen, und die
Untertanen müssen <ler Obrigkeit gehorchen. Es wäre auch der Befehl der Obrigkeit
für die lange Weile, wenn die Untertanen die Freiheit behielten, zu tun und zu lassen,
was sie wollten (WoLFF 1721) 361 . Gelegentlich wird diese Freiheit der Obrigkeit,
Herrschaftsmacht auszuüben, als 'libertas civilis' bezeichnet362 .
Allerding8 trifft die Abwesenheit eines Freiheitsraumes für die Untertanen in der
erwähnten Rigidität nur für den theoretischen Ausgangspunkt zu. Zwar haben sie
ihrer natürlichen Freiheit prinzipiell entsagt; es besteht aber die Möglichkeit, daß
die Obrigkeit ihnen einen Teil dieser Freiheit zu eigener Verfügung beläßt: I mperans
ex iure imperii potest restringere libertatem subditorum, adeoque quousque eandem non
restrinxit, manet illa subditis salva (BoEHMER 1726) 363 . Unter diesem verbliebenen
Teil der natürlichen Freiheit ist aber keineswegs ein rechtlich abgesicherter „staats-
freier Raum" zu verstehen. Freiheit im Staat ist vielmehr ein faktischer Rest der
natürlichen Freiheit, wie diese ohne Abwehnmbsta.m: und in Existenz und Ausdeh-
nung vorn Willen de8 Herrschers abhängig. Symptomatisch für diesen Sachverhalt
ist das anfängliche Fehlen einer Vukauel für das Freiheifa1re8iduum im Staat304.
Nicht der Freiheitsbegriff wird mit Abwehrmechanismen gegen die obrigkeitlichen
Eingriffe ausgerüstet, sondern umgekehrt wird der Weg einer Bindung der Herr-

356 JoH. JAKOB ScHMAuss, Neues System des Rechts der Natur (Göttingen 1754), 457.
357 HoBBES, Lev., c. 5 (p. 34 f.).
358 GUNDLING, Discoura, l 30.
359 PuFENDORF, De jure naturae 7, 1, 4; vgl. n11rA., D11 offinio hominis 2, 5, 4.
380 Vgl. BoEHMER, Introductio, 230 f., Anm. f: Cerium est, eo ipso, quo populus se uni suh-

m.UtU, ewm sulwm rel'inere i•ura libertatis, et manere in statu naturaU; FRITSCH, Jus publicum,
135: lmperantes in statu libertatis vivunt, iuribusque libertatis gaudent; N. H. GuNDLING,
Ius naturae ac gentium, 2. Aufl. (Halle 1728), 45: In statu libertatis civitates, et qui eas re-
praeaentant, duntaxat vivunt nonnuUique homines singulares per accidens.
381 CHR. WoLFF, Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen

und insonderheit dem gemeinen Wesen, 5. Aufl. (Frankfurt, Leipzig 1740), 459 f.; vgl.
ders., Jus naturae, Bd. 8 (Halle, Magdeburg 1718), 28, § 16: libertae in imperando.
362 So schon GRoTius, De iure belli 1, 3, 23: jus ... summi imperii, quae libertas est civilis;

vgl. FRITSCH, Jus publicum, 34l:L - WoLFF, Jus naturae, Bd. 8, 100 ff.,§§ 145 ff. u. Grup.d-
sätze, § 990 (S. 708; s. Anm. 350) bezieht die bürgerliche Freiheit eines Volks (libertas civilis
populi) ausschließlich auf die innere Unabhängigkeit des Volkes in einer Demokratie von
dem Willen eines anderen im Hinblick auf Handlungen, die das gemeine Beste betreffen.
383 BoEHMER, Introductio, 238.
364 Liberias civilis (bürgerliche Freiheit) wird noch in anderer Bedeutung verwandt, vgl.

Anm. 362.

474
VI. 2. Bürgerliche Freiheit Freiheit

schaftsgewalt an die Vorschriften des Naturrechts 365 und an das Gemeinwohl als
Zweck des Staats 366 gegangen. Diese Eingrenzung wirkt sich als Reflex auf den
Umfang der Freiheit im Staat aus, erweist sich aber aus mehreren Gründen als nicht
sehr wirksam: Einmal gehört die Bestimmung des Gemeinwohls im einzelnen -
generell wird sie vom Naturrecht selbst vorgenommen - zu den Aufgaben des
Herrschers 367 • Zum anderen erstreckt sich die Verpflichtung der Untertanen zu ab-
solutem Gehorsam auch auf Anordnungen des Herrschers, die die Bindungen seiner
Gewalt mißachten 368 • Und schließlich können die Untertanen keine Zwangsrechte
gegen den Herrscher geltend machen; seine Verpflichtung zur Beachtung der Gren-
zen seiner Macht ist lediglich moralischer Natur 369•

2. Bürgerliche Freiheit im aufgeklärten Absolutismus

Während der Begriff der natürlichen Freiheit vorerst ohne wesentliche Änderungen
auch im Naturrecht der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fortbesteht 3 7°, wird für
das Residuum der natürlichen Freiheit im Staat in zunehmendem Maße die Be-
zeichnung libertas civilis (burgerliche Freiheit) verwandt 071 . Die DefiuiLioueu iu ueu
N aturreeht.R11y11tAm1m WfliRAn Rflhr präzise auf den Zusammenhang mit der libertas
naturalis und auf den Restcharakter der Freiheit im Staat hin: Res·id1tum libertatis
naturalis ... vocatur libertas civilis (AoHENWALL 1763) 372 • Der Gebrauch der neuen
Vokabel geht nicht einher mit einem Zuwachs an begrifflichem Resistenzvermögen.
Für ROMMEL (1786) ist Freiheit aufgehobener Zwang in Kleinigkeiten, ... der Zucker,
wodur,cli man denen Bürgern die Unterwürfigkeit versüßct3 73 • Auch im aufgeklärten
.Absolutismus trägt Freiheit im Staat Ausnahmecharakter. Sie wird vom Staat aus
Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit gewährt und betrifft lediglich einen Bereich,
der sich neutral zum Staatszweck verhält. Das Vorhandensein von solchermaßen

385 Vgl. BoEHMER, Introductio, 60 f.: N eq_ue obstat, quod 81.ibditi eo ipso renunciaverint liber-

tati suae naturaJ,i; nam non potuere propterea imperantem absolvere ab obligatione, qua erga
homines alios lege naturae ad,Rf,rin{Jit?tr; vgl. ebd., 268 ff.
388 Vgl. ehrl., 29~: Generatim .•. ex lege naturae tantum illa imperans potest, quae non

adversantur sal,uti toti'us corporis civilis; WoLFF, Jus naturae, Bd. 8, 22. 29, §§ 35. 47.
367 Vgl. BoEHMER, Introductio, 293: In q·uu wutem salus reipublicae sita sit, de eo quidem

naturaliter ipsi imperantes iudicant.


388 Ebd., 598 f.
389 Vgl. FRITSCH, Jus publicum, 40: si quid est in imperante obligationis, eam ex humanitate

exhibebit: ac si quid est in parentibus iuris, illud non potest non, ratione imperantis habita, nisi
imperfectum esse; ebd., 61: obligatio imperantis ad leges iuris publici universalis est imper-
fecta; GUNDLING, Discours, 420: Soli Deo princeps respondet.
370 Vgl. GOTTFRIED AcHENWALL, Ius naturae, §§ 77. 84, 5. Auß. (Göttingen 1763), 66. 71;

ERNST CHR. WESTPHAL, Institutiones iuris naturalis, § 328 (Leipzig 1776), 66.
371 In diesem Sinne schon bei HOBBES, Lev., c. 21 (p. 161); De cive 9, 9 (p. 259). Über die

ßedeutung bei Grotius und Wolif vgl. oben Anm. 362.


372 AcHENWALL, Ius naturae, § 107 (S. 89); vgl. HöPFNER, Naturrecht, 166: Im Staate iBt

. . . ein Rest der natürlichen Freiheit, den man bürgerliche Freiheit nennt.
373 ÜARL FERDINAND v. HoMMEL, Vorrede zu: Des Herrn Marquis von Beccaria unsterb-

liches Werk von Verbrechen und Strafen (Wien 1786), V.

475
Freiheit VI. 2. Bürgerliche Freiheit

neutralen Handlungen wird allerdings herausgestellt: . . . dantur actione8 .mbdi-


torum civilium, quae obligationi civili non subsunt, actiones civiliter indifferentes ... ,
respectu quarum subd·it·is c·i'V-il·tb·us superstat naturalis libertas (AcHENWALL 1763)3 74 •
Aber immer noch beziehen diese Handlungen ihre Qualität weniger aus eigener Kraft
als aus dem Unterlassen von Regelungen durch den Regenten: Subjectio civilis non
tollit libertatem civium naturalem. Supersunt enim actiones, quae salutem publicam non
tangunt, quasque superior arbitrio civium reliquit (WESTPHAL 1776) 375 • Es bleibt also
bei dem passiven Charakter des Freiheitsbegriffs; der Umfang der bürgerlichen
Freiheit bestimmt sich nach dem Ausmaß der Staatsgewalt. Deren Grenzen werden
jetzt allerdings stärker betont. Die Herrschaftsmacht erscheint nicht mehr als
identisch mit vollkommener natürlicher Freiheit und wird eindeutig auf den 8taats-
zweck festgelegt. Der Souverän selbst ist nicht völlig frei, weil ihn die Absicht der bür-
gerlichen Gesellschaft e·inschränkt. Umgekehrt wird die natürliche Ungebundenheit für
den Bürger nur insoweit . . . eingeschränkt, als es der Endzweck des Ganzen verlangt
(ScHEIDEMANTEL 1773) 376 • Dementsprechend ist es ein Mißbrauch majestätischer
Kräfte, wenn der Regent die Freiheit des Einwohners da einschränken will, wo es die
Absicht einer vernünftigen H.egierung nicht er/ordert 377 . Nicht ein bestimmter Frei-
hP.itRhP.griff, sonde.rn der Staatszweck legt die· Gronzon drni Wirkungsraumes fest,
der den Bürgern zu eigenverantwortlicher Tätigkeit zusteht. Da der Staatszweck
aber gewöhnlich in der salus publ-ica 378 oder in der Vergrößerung der Glückseligkeit
der Untertanen 379 gesehen wird, gibt es kaum einen Lebensbereich, in den die Ob-
rigkeit nicht unter Berufung auf das Ziel des Staates eingreifen kann und soll.·Kenn-
zeichnend dafür ist dai; Maß der im aufgeklärten Absolutismus möglichen „guten
Policey". Unter diesen Iledingw1gen kann Freiheit nicht mit einem staatsfreien
Raum identifiziert werden, sondern muß als Aufgabe des Staates und als Produkt
staatlicher Tätigkeit erscheinen: Dann ist der Bürger frei, wenn man sein Gewissen,
Eigentum, Nahrung und Gewerbe nach regelmäßigen Grundsätzen lenkt 380 . Umgekehrt
bleibt es bei einem Appell an die Selbstbescheidung des Herrschers: Die rechtmäßige
Freiheit im Staat erfordert ... , daß der Fürst ... seinen Befehlen und Entschließungen
selbst ihre Grenzen setze3 81 .
Mit der Verknüpfung von Freiheit und regelmäßigen Grundsätzen 382 deutet sich eine
wichtige Wandlung an: in zunehmendem Maß findet der Gesetzesbegriff Aufnahme
in den Begriff der bürgerlichen Freiheit. Dieser Vorgang spielt sich in unterschied-

374 AcHENWALL, Ius naturae, § 107 (S. 89).


375 WESTPHAL, Institutiones, § 974 (S. 179).
376 HEINR. GOTTFRIED ScHEIDE111ANTEL, Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten

der vornehmsten Völker betrachtet, Bd. 3 (Jena 1773), 199. 198 f.


377 Rh<l., 202.
378 Nach DANIEL NETTELBLADT, Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis,

§ 1117, 5. Aufl. (Halle 1785), 462 muß die satus publica überdies latissimum ambitum habere.
379 Vgl. etwa JoH. ALBRECHT PHILIPP!, Der Vergrößerte Staat (Frankfurt, Leipzig 1759),

3; GOTTFRIED AcHENWALL, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, 3. Aufl.


(Göttingen 1774), 20.
380 ScHEIDE111ANTEL, Staatsrecht, Bd. 3, 204.
381 Ebd., 203.
382 Vgl. Anm. 380.

476
VI. 3. Die Wurzeln des liberalen Freiheitsbegriffs Freiheit

licher Weise ab. Einmal wird der Gesetzesbegriff verwandt, um die Grenze zwischen
dem Bereich der Eigenverantwortlichkeit des Bürgers und dem Bereich staatlicher
Tätigkeit zu ziehen; 'Freiheit' umschreibt dann einen „gesetzesfreien Raum". So
bezeichnet JOHANN AUGUST EBERHARD (1784) als bürgerliche Freiheit das Recht in
Ansehung der Handlungen, die nicht durch die Gesetze des Staates bestimmt sind, zu
tun und zu lassen, was mir gut dünkt 383 • Zum anderen kann die Existenz von Gesetzen
in dem eigentlich dem Staat vorbehaltenen Tätigkeitsbereich als Begriffsmerkmal
in die bürgerliche Freiheit hineingenommen werden; 'Freiheit' umfaßt dann sowohl
das Vorhandensein eines „gesetzesfreien Raumes" als auch die Forderung nach
Rechtssicherheit in dem durch Gesetze bestimmten Bereich. Dieser Freiheitsb_egriff
findet sich schon bei JOHN _LOCKE (1690)3 84 •
Die Aufnahme des Gesetzesbegriffs führt aber nicht unbedingt zu einer begrifflichen
Verstärkung der bürgerlichen Freiheit, da sich die Tätigkeit des Gesetzgebers wie-
derum nach dem Staatszweck richtet. Ist der Herrscher überdies legibus solutus, so
gewinnt Freiheit auch indirekt nicht an Umfang 385 • Bei PFEIFFER (1778) wird dieser
Zusammenhang angesprochen mit der Formulierung, daß der Bürger allenthalben
frei ist, wo die Gesetze regieren, und allenthalben Sklave, wo der Regent die Gesetze unter
if,ip, Füßp, tritt 386 , A1rnh cfor Hr,e;r.nt wiril jr.tzt alR potr.ntir.llr.r (}p,gn11r nP.r FrnihP.it an-
gesehen. Es erheben sich daher immer mehr Stimmen, die eine Bindung des Fürsten
an die eigenen· Gesetze fordern 387 • Darin dokumenLiert 1:Üuh da1:1 Ent1:1tehen eines
Gefährdungsbewußtseins gegenüber dem Staat, das auf einen Wandel des Verhält-
nisses zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat und damit auf tiefere Hinter-
gründe verweist.

3. Die Wurzeln des liberalen Freiheitsbegrift's

überblickt man die bisherige Entwicklung des Freiheitsbegriffs, so fällt die man-
gelnde Abwehrsubstanz gegen Eingriffe des Staates auf. Zwar werden die Obrigkeit
als die natürliche Freiheit einschränkender Faktor und das Verhältnis von Staats-
macht und Freiheit als komplementär angesehen 388 ; da die Obrigkeit den Staats-
zweck realisiert und die Freiheit der Untertanen erst verwirklicht, entsteht gegen-

3 Ra JoH. AUGUST EBERHARD, Ueber die Freyheit des Bürgers und die Principien der Regie-

rungsformen, Vermischte Sehr., Bd. 1(Halle1784), 1 ff., bes. 8. VgL auch JoH. FRIEDRICH
v. PFEIFFER, Grundriß der wahren und falschen Staatskunst, Bd. 1 (Berlin 1778), 22: bür-
gerliche Freiheit bestehet in dem Rechte rlasjenige zu tun, was die Gesetze erlauben. Diese fast
wörtliche Übersetzung der Freiheitsdefinition MONTESQUIEUS (De l'esprit des lois 11, 3)
enthält bereits eine engere Beziehung zwischen Freiheit und Gesetz.
384 LOCJKE, Two Tr11atiR11R (R. Anm. 248), 2, 4, 22 (p. 351); vgl. 2, 6, 57 (p. 370): Where

there is no law, there is no freedom.


386 Immerhin heißt es auch bei HoBBES, Lev., c. 21: Reliqua civium libertas dependet a le-

gum silentio.
ass P.l!'ELFJ!'Kit, Grundriß, Bd. 1, 65.
387 Vgl. ANDREAS JosEPH ScIINAUBERT, De principe legibus suis obligato (Jena 1793);

ScBLÖZER, StatsRecht (s. Anm. 218), 96.


388 Vgl. BoEIIMER, Introductio, 572: prout adstrictor est libertas agendi imperantis, ita sub-

ditorum eminentiora sunt iura, et status liberior.

477
Freiheit VI. 3. Die Wurzeln des liberalen Freiheitsbegriffs

über staatlicher Tätigkeit kein Gefährdungsbewußtsein, das sich in dem Vorstel-


lungsgehalt der Freiheit niederschlagen und zu einem Freiheitsbegriff mit Abwehr-
substanz und mit Forderungscharakter führen könnte. Mit dem Erstarken des Bür-
gertums ändert sich dieser Sachverhalt grundlegend. Staat und Gesellschaft treten
- obwohl terminologisch unbeholfen - auch begrifflich· auseinander 389 : SAMUEL
SIMON WrTTE behauptet schon 1782 von de·r politischen Vereinigung, daß solche
gleichsam nur das äußere Gehäuse sei, das das innere Getriebe der Kräfte und das bür-
gerliche Gewerbe einschließt und bewahrt, welches gleichsam die Seele ausmacht, die den
Körper der bürgerlichen Gesellschaft belebt390 • Er zieht die für seine Zeit erstaunliche
Schlußfolgerung, daß die Staatsverbindung der bürgerlichen Vereinigung untergeordnet
sei, weil erstere nur das Mittel zur Be/örderung des Zweckes der letzteren .ist391 . Gewiß
gelangen seine Zeitgenossen nicht zu einem solchen Grundsatz; dennoch melden
auch sie immer mehr Vorbehalte an und versuchen, die Grenzen der Wirksamkeit des
Staats zu bestimmen 392 und möglichst eng zu ziehen. Bezeichnenderweise wird Ent-
haltsamkeit des Staates insbesondere für diejenigen Bereiche gefordert, die bisher
unter seine „gute Policey" fielen 393.
Eng verwoben mit. diesen Vorgängen ist die Entwicklung des politischen Freiheits-
bogriffa; 1Jio kann verstanden worden als ein Prozeß der Ausrüstung des FreiheiLs-
begriffs sowohl mit Abwehrsubstanz als auch mit aggressiven Bestandteilen gegen-
über uem Staat. 'Freiheit' wird am Eride dieses Prozesses nieht mehr einen der Ver-
gangenheit angehörenden Status bedeuten, auch nicht eine unter Widerrufsvorbe-
halt konzedierte Ausnahme von obrigkeitlicher Herrschaft, sondern ein vielschich-
tiges Postulat von Individuum und Gesellschaft kraft eigenen Rechts gegen den
Staat.

a) Die Stabilisierung des Freiheitshegriß's. Eine Festigung des Freiheitsbegriffs


kann sich in dem Einbau von wirksamen Sicherungen gegen den Mißbrauch der
Staatsmacht äußern, ohne direkt an den Bestandteilen anzusetzen, welche die
„Offenheit" des Freiheitsbegriffs verursacht hatten. So beläßt es MoNTESQUIEU
(1748) zwar bei der Verbindung von Gesetz und :freiheit 394, verlegt aber Freiheit in

as 9 -+ Ge~elliiuhaft, bürgerliche; vgl. ANGERMANN, Staat u. Gesellschaft (s. Anm. 4 7), passim.
390 S. S. WITTE, Ueber die Schicklichkeit der Aufwandsgesetze (Leipzig 1782), 64; vgl.
SCHLÖZER, StatsRecht, 4. 68.
39 1 WITTE, Aufwandsgesetze, 64.
392 Vgl. HUMBOLDTS 1792 entstandene, aber erst 1851 vollständig veröffentlichte Schrift

über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (s. Anm. 295).
393 Für das Gebiet der Wirtschaft vgl. die Schriften der Physiokraten, in Deutschland be-

sonders die Publikationen von JoH. AUGUST ScHLETTWEIN: in seiner „Grundfeste der Staa-
ten oder die politische Oekonomie" (Gießen 1778; Ausg. ebd. 1779) fordert er uneinge-
schränkte Frei'heit der Nahrung, der Gewerbe und des Handels (122) und allseitige freie
Konkurrenz von Käufern und Verkäufern der Produkte und Dienste (94). - Vgl. ferner
WITTE, der sich gegen Aufwandsgesetze ausspricht (s. Anm. 390); CARL FRIEDRICH BAHRDT,
Rechte und Oblieg1mhflit1m d!lr RAgimtAn nnn Unt,erthanen in Beziehung auf Staat und
Religion (Riga 1792), 119 (gegen Gesinde-, Kleider-, Polizei- und Feuerordnungen).
394 MONTESQUIEU, Esprit des lois 11, 3. Oeuvres compl., t. 2, 395: La liberte est le droit de

faire tout ce que les lois permettent (s. Anm. 271).

478
a) Die Stabilisierung cles Freiheitshegriffs Freiheit

Staaten mit gemäßigter Regierungsform ( gouvernements mocleres) und fordert zu-


sätzlich die Trennung der drei Gewalten395 • Die Anreicherung des Freiheitsbegriffs
mit dem Postulat nach staatsrechtlich-organisatorischen Vorkehrungen gegen
Machtmißbrauch findet sich in Deutschland bis zur Jahrhundertwende nur in
abgeschwächter Form. Obwohl l\fosER (1761) verlangt, daß die innere Verfassung
selbst die Mittel gegen den Mißbrauch der Gewalt darbieten muß, verzichtet er auf das
Mittel derGewaltentrennung 396 • Erst der Liberalismus des 19. Jahrhunderts nimmt
die Forderung nach Gewaltenteilung auf und entfaltet sie zu voller Wirkung.
Zweiter Ansatzpunkt sind die Gesetze: die Festigung des Freiheitsbegriffs kann
bewirkt werden, indem die Gesetzgebung der alleinigen Gewalt des Herrschers ent-
zogen wird. Dieser Weg dokumentiert sich in Deutschland in dem Ausdruck 'politi-
sche Freiheit'. Während 'politische Freiheit' zunächst die Freiheit des Staats ... in
Ansehung seines Verhältnisses gegen andre Staaten, seine Unabhänglichkeit bezeichnet
- also die frühere libertas naturalis der Staaten im Völkerrecht 397 - , verbindet
sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Staats- und Regierungs-
form und kann dazu dienen, den Vorrang der Republik gegenüber der Monarchie zu
begründen. Der Schweizer J. G. ZIMMERMANN sieht es im Einklang mit dem ewigen
Spruche der Natur, daß die Freiheit ... unter den Vorzügen der Republikaner der erste
sei. Der wahre Nutzen der republikanischen l!'reiheit ist also, daß man ungehindert gut
se·in kann, we·il .d·ie I!reilteit allen Tugenden ihren Lauf läßt. Hierzu gehört die neue
WorL.p1·äguug 'Frei.sLaaV seit den sechziger Jahren~nR. EBERHARD (1784) versteht
unter politischer Freiheit die Teilnehmung an der Souveränität. Je mehr Bürger in
einem Staate an dieser teilnehmen, desto größer ist seine politische Freiheit 399 , am
größten ist sie also in Demokratien. Bald aber konkretisiert sich die Teilnehmung.
an der Souveränität auf die Teilhabe an der Gesetzgebung. RoussEAU (1762) hatte
zwar noch die liberte naturelle der liberte civile gegenübergestellt40 o, gleichzeitig aber
durch die Aufhebung des Gegensatzes zwi~chen Freiheit und Gesetz durch die
volonte generale den Gedanken einer Freiheit durch permanente Selbstbestimmung
des Volkes geäußert 401 • Die deutschen Jakobiner nehmen die Volkssouveränität -
denn ohne diese sind keine Gesetze möglich, welche als Ausdruck des allgemeinen Willens
der Nation betrachtet werden können 402 - in den Begriff der bürgerlichen Freiheit

395 Ebd. 11, 4 (p. 395); vgl. auch DE JAucoURT, Art. Liberte politique, Encyclopedie,
t. 19 , 997 (s. Anm. 264).
396 FRIEDR. CARL v. MOSER, Beherzigungen (Frankfurt 1761), 568.
397 JoH. HEINR. GOTTLOB v. JusTI, Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller Re-
gierw1gswissenschaften und Gesezze (Mitau 1771), 92; vgl. auch PFEIFFER, Grundriß, Bd. 1,
285. Vgl. oben S. 50 mit Anm. 360.
398 JoH. GEORG ZIMMERMANN, Vom Nationalstolz, 2. Aufl. (1760), zit. STAMMLER (1954),

1m mit Anm. 11.


399 EBERHARD, Freyheit des Bürgers, 9.
400 RoussEAU, Contrat · social 1, 8 (p. 304 f.; s. Anm. 276): ll faut bien distinguer la
liberte naturelle ... de la liberte civile qui est limitee par la volonte generale.
401 Ebd. 2, 6 (p. 378 ff.); 4, 2 (p. 440): Lu ·vuluntt!, cunstante de to·us les memhres de l' Etat est

la volonte generale; c' est par elle qu'ils sont citoyens et libres.
402 GEORG WEDEKIND, Drei Anreden an seine Mitbürger (Mainz 1792), zit. Mainz zwischen

Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution 1792-1793 in Schriften, Reden und Briefen,
hg. v. CtAUS TRÄGER (Berlin 1963), 161 ff., bes; 194.

479
Freiheit VI. 3. Die Wurzeln des liberalen Freiheitsbegriffs

hinein: Was ist denn die bürgerliche Freiheit sonst als die Befugnis, alles tun zu dürfen,
welches Gesetze, in die ich selbst eingewilliget habe, nicht untersagen? (WEDEKIND
1792)403. Gewöhnlich wird 'politische Freiheit' der 'bürgerlichen Freiheit' gegen-
übergestellt; sie bezeichnet dann den Anteil des Bürgers an der Herrschaft404, die
Mitwirkung der Staatsbürger bei der Regierung des Staats, besonders bei der Gesetz-
gebung405; darunter kann allerdings auch eine ständische oder - wie bei KANT
(1793) unter 'Selbständigkeit' - eine auf den Kreis der Eigentümer beschränkte
Mitwirkung 406 verstanden werden.
Jedenfalls hat der Freiheitsbegriff mit dem Gedanken einer wie auch immer gearte-
ten Teilhabe des Volkes an staatlicher Herrschaft einen aggressiven Bestandteil
gewonnen, der in engem Zusammenhang steht mit der Französischen Revolution
und dessen volle Bedeutung sich erst im 19. Jahrhundert erweisen wird.
Als dritter Ansatzpunkt zu einer begrifflichen Stärkung der Freiheit dient der Zweck
der „gesellschaftlichen Vereinigung" (-+ Gesellschaft, bürgerliche). Eine Verringe-
rung der Freiheit der Individuen ka:O:n theoretisch wirksam unterbunden werden,
wenn Freiheit der Individuen als Ziel des Staates postuliert wird. Bereits bei Spi-
noza und LocKE ist Freiheit nicht, wie noch im aufgeklärten Absolutismus, bloßes
Mittel staatlicher Tätigkeit, sondern Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung über-
haupt407. Das Naturrecht der späten Aufklärung in Deutschland knüpft in derselben
Absicht paradoxerweise an den Begriff der natürhchen li'reiheit an. Diel:ler hatte
zwar eine Denkmöglichkeit abgegeben, die sugar eine gewil:lse Bri~::auz besitzen
konnte, wenn der Naturzustand als ein der Menschheit verlorenes und wiederzuge-
winnendes Ideal dargestellt wurde; gegenüber Oesellschafü1verbrag und Gesell-
schaftszustand hatte die natürliche Freiheit sich aber als wenig resistent erwiesen.
Das ändert sich, sobald das Naturrecht Anspruch auf absolute Geltung erhebt.
Wenn alles, was dem Naturrechte zuwiderlä.uft, ... unrecht, verwerflich ist 408, dann
dürfen auch positives Recht und speziell der Gesellschaftsvertrag nichts enthalten,
was gegen Naturrecht - das heißt gegen den Inhalt der Naturrechtssysteme -
verstößt409. Zusammen mit dem Naturrecht wird die natürliche Freiheit absolut

4oa Ebd.
404 Rnm.ö:r.1m., Rt11.t.RHAr.ht„ 37.
406 ERNST FERDINAND KLEIN, Grundsatze der natürlichen Rechtswissenschaft nebst einer
Geschichte derselben (Halle 1797), 277; vgl. ders., Freyheit und Eigentum, abgehandelt in
acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung (Berlin,
Stettin 1790), 117 f.
406 KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht

für die Praxis, AA Bd. 8, 289 ff. Zur Verbindung von Eigentum und politischer Freiheit-+
Eigentum III. 3.
4o 7 LOCKE, Second Treatise, §§ 123. 137. 171 u. ö.
408 LEOPOLD FRIEDR. FREDERSDORFF, Syl!Leru Uell Recht!! uer Natur auf die bürgerliche

Gesellschaften, Gesetzgebung und das Völkerrecht angewandt (Braunschweig 1790), 148;


vgl. JoH. AuGUST ScHLETTWEIN, Die ReuhLe tler Men11chheit oder der einzige wahre Grund
aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen (Gießen 1784), 46. .
409 Vgl. FREDERSDORFF, System, 167; SCHLETTWEIN, Rechte der Menschheit, 463; JoH.

HEINRICH ABICHT, Neues System eines aus der Menschheit entwickelten Naturrechts
(Bayreuth 1792), 479.

480
a) Die Stabilisierung des Freiheitsbegriffs Freiheit

gesetzt. Sie ist das höchste Gut des Menschen und in seinem Wesen gegründet 410 • Frei-
heit ist keine Sache, die im Handel sein kann oder einen Preis hat; folglich ist es
undenkbar, daß sie dui·ch VcrLrag aufgehoben werden kann111. Du.roh den Gesell-
schaftsvertrag entäußern sich die Menschen nur eines Teils ihrer natürlichen Frei-
heit mit dem Ziel, den sich vorbehaltenen, den wesentlichen Teil ihrer natürlichen
Freiheit desto besser genießen zu können (FREDERSDORFF 1790) 412 • Dieser Freiheits-
begriff zielt unmittelbar auf die Realität, läßt aber die ]l'rage offen, wo die genaue
Grenze zwischen vorbehaltener und aufgegebener Freiheit verläuft.
Die Forderung nach Fortbestand der Freiheit im Staat wird in den Naturrechts-
systemen präzisiert durch konkrete „Rechte der Menschheit", die dem Menschen
angeboren und unveräußerlich, also durch Vertrag nicht aufhebbar sind. Gewiß
kannte auch CHRISTIAN WoLFF schon iura connata - darunter die Freiheit 413 - ;
sie konnten aber durch den GesellschafisverLrag beliebig beschränkt werden. Jetzt
aber gelten die Rechte der Menschheit absolut; Zweck der gesellschaftlichen Verbin-
dung ist ihre Sicherung 414 • Sie schirmen gemäß ihrer Konzeption als Kampfmittel
der Gesellschaft gegen den Staat415 bestimmte Tätigkeitsfelder gegen staatliche
Tätigkeit ab; zudem drängen die Rechte der Menschheit wegen ihrer Konkretheit
und wegen ihres Anspruchs auf absolute Geltung nach Positivierung. Schwerpunkte
der konkreten Forderung nach Freiheit bilden Pressefreiheit und Freiheit auf wirt-
schaftlichem Gebiet. Beide spiegeln typische Aspekte der Entwicklung des Frei-
heitsbegriffs wider: Während Handels- und Gewerbefreiheit lediglich auf Ausschluß
des Staates auf wirtschaftlichem Gebiet zielen 416 , richtet sich die Forderung nach
Pi·el:!HefreiheiL z1.p;äLzlich auf Beeinfimumng i;LaaLlicher TätigkeiL durch die ü1TenL-
liu1tJ MtJiiiu.ug, auf Ifon1Lellu.ug ei.uei> IltJrnid.11:1 .u.icht:sLaaLliuher Ö1fenLlichleiL417 •

410 FREDERSDORFF, System, 153.


411 Jon. FRIEDRICH v. PFEIFFER, Grundriß (s. Anm. 383), Bd. 2 (1779), 10; vgl. ScHLETT-
WEIN, Rechte der Menschheit, 428; FREDERSDORFF, System, llL
412 FREDERSDORFF, System, 154; vgl. LOCKE, Second Treatise, §§ 130 f.; ScHLÖZER,

StatsRecht, 107. - Eine konsequente Verabsolutierung der natürlichen Freiheit findet sich
bei GEORG WEDEKIND, Die Rechte des Menschen und des Dürgers, wie sie die französische
konstituirende Nationalversammlung 1791 proklamirte, mit Erläuterungen (Mainz 1793),
32: Es wäre doch wohl eine lächerliche Behauptung, daß die Menschen sich vereiniget hätten,
wm f'-'inen Teü ·ilurf'-r Fr,,,·ilw:il wu/;;'uU'p/ern; nwr ·vullkummene Erhultwny ·ihrer ·1iat·ürUchen Fre·i-
heit konnte der Zweck ihrer Vereinigung sein.
413 Vgl. CHR. WoLFF, Institutiones juris naturae et gentium (Halle, Magdeburg 1750),

49 f., § 95.
414 Vgl. SCHLETTWEIN, Rechte der Menschheit, 451; ScHLÖZER, StatsRecht, 94; BAHRDT,

Rechte, 20. 123.


415 Vgl. KARL BosL, Art. Freiheit, in: Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte, hg. v.

HELLMUTH RössLER u. GÜNTHER FRANZ (München 1958), 295 ff., bes. 297.
418 Vgl. oben Anm. 393; ferner WILH. FERDINAND ÜHASSOT DE FLORENCOURT, Ist die

deutsche Verfassung dem inländischen Handel und der Aufnahme der Manufacturen schäd-
lich oder nützlich?, in: ders., Vermischte Aufs. (Altenburg 1793), 62 lf., bes. 73 ff.
417 Vgl. K. F. BAHRDT, Ueber Preßfreyheit und deren Gränzen. Zur Beherzigung für Re-

genten, Censoren und Schriftsteller (Züllichau 1787), 148 ff.; A. L. ScHLÖZER, Gedanken
über die Preßfreiheit, in: '.Briefwechsel, meist historischen und politischen Inhalts, Tl. 9,
H. 51 (Göttingen 1781), 153 ff., bes. 158 f. - Zum Typus „bürgerliche Öffentlichkeit" im

31-90386/l 481
Freiheit VI. 3. Die Wurzeln des liberalen Freiheitsbegriffs

Häufig erscheint dabei die Pressefreiheit als Ersatz für eine auf anderem Wege nicht
zu verwirklichende' Sicherung des Bürgertums vor dem Mißbrauch obrigkeitlicher
Gewalt, als Ersatz für nicht vorhandene politische Freiheit 418 •
Durch die Ausstattung des Begriffs der natürlichen Freiheit mit dem Anspruch auf
absolute Geltung und durch die praxisbezogene Farmulierung von Menschenrechten
entfällt aber im Grlll).de die Notwendigkeit, an der Bezeichnung 'natürliche Frei-
heit' festzuhalten. Dementsprechend findet sich der Ausdruck schon in den Natur-
rechtslehrbüchern im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts immer seltener; im
Lawe des 19. Jahrhunderts verschwindet mit dem Naturrecht der Aufklärung auch
der Begriff der natürlichen Freiheit 4 19 • ·

b) Einfluß der Französischen Revolution.· Bisher stellte sich uns die Geschichte des
modernen politischen Freiheitsbegriffs im wesentlichen als Geschichte der natürli-
chen, hiirgfirlir,h1m und politischen Freiheit und zuletzt einzelner Freiheitsrechte
dar. Ihre naturrechtliche Begründung weist darauf hin, daß diese verschiedenen
Begri.ffäprägungen sämtlich in Bezug zu einem allgemeinen Freiheitsbegriff standen,
der philosophisch entwickelt Wu.rde und politisch vermittelt werden konnte. :Oie
Tendenz, daraus praktische Folgerungen abzuleiten, zeigte sich in der amerika-
nischen und in der Französischen Revolution. Die Forderung eines allgemeinen,
politisc.he Mitwirkung des Volkes und Menschenrechte umfomiondcn Freiheits-
begriffs wurde aktuell. Mit der Parole „liberte, egalite, fraternite" war ein erhebli-
cher geschichtlicher Erwartungsgehalt verbunden, ohne daß sich die von Voltaire,
MonteRq11i1m, R.ousseau und den Physiokraten beigesteuerten Begriffskomponenten
änderten 42 0. Ein großer Teil der Vorstellungsgehalte geht in die „Declaration des
droits de l'homme et du citoyen'.' von 1789 sowie in die Verfassungen von 1791 und
1793 ein, wenn auch der Freiheitsbegriff der Verfassungen selbst wesentlich enger
ist: 'Freiheit' erscheint als ein Menschenrecht unter anderen und bezeichnet einen
Tätigkeitsraum, der durch die gleichen Rechte der anderen Menschen begrenzt
ist 421 • Emotional-agitatorische Wendung zum Schlagwort und Positivierung der
Menschenrechte stehen in enger Beziehung zur revolutionären Praxis.

18. JahL"hwu.lerL vgl. JümuJN H.AllERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchun-


gen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 5. Aufl. (Neuwied, Berlin 1971), bes.
28 ff. 42 ff. 69 ff. 112 ff.
418 Vgl. Ueber Denk- und Druckfreiheit. An Fürsten, Minister und Schriftsteller, Berlinische

Monatsschr. (1784), Bd. 3, 328: Pressefreiheit teilt der unumschränkten Monarchie alle
Se,gnungen der politischen Freiheit mit, ohne sie den zerstörenden Ungewittern bloßzustellen,
wilche so oft die Morgenröte der republikanischen Freiheit verdunkeln und ihren Mittag beun-
ruhigen; vgl. auch ebd., 326. Verfasser des anouym e1'1:1chienenen Beitrags ist ERNS'r FER-
DINAND KLEIN; vgl. den Hinweis iI;1.: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen
Monatsschrift, hg. v. NORBERT HINSKE u. MICHAEL ALBRECHT (Darmstadt 1973), 517. Das
obige Zitat ebd., 405. ·
419 BROCKHAUS 7. Aufl., Bd. 4 (1827) und KRuG 2. Aufl., Bd. 2 (1833) behandeln 'natür-

liche Freiheit,' nfoht, mAhr.


4zo GREIVE, Liberte, Egalite, Fraternite (s. Anm. 337), 734 f.
421 Vgl. Art. 4 der „Declaration des droits de l'homme et du citoyen" und Art. 6 der Ver-

fassung von 1793.

482
b) Einßuß der Französilchen Revolution Freiheit

Die Entwicklung des Freiheitsbegriffs in Deutschland geschieht unter dem nach-


haltigen Eindruck der Französischen Revolution. In der polemischen Auseinander-
setzung mit Praxis und Theorie der Revolution tauchen pejorative Vokabeln auf
wie Freiheitsschwärmer, Freiheitsrausch, Freiheitsschwindel 422 • Die mißverstandne
Freiheit oder vielmehr Zügellosigkeit 42 3 und die französische, sogenannte Freiheit 424
werden abgegrenzt von der Freiheit, richtig verstanden 426 und vom wahren Begriff
von Freiheit 426 • Der Freiheitsbegriff soll entschärft werden durch die Reduzierung
des Erwartungsgehaltes und durch die Ablehnung der begrifflichen Merkmale, wel-
che die Umsetzung in die Wirklichkeit unterstützen. FRIEDRICH GENTZ (1793) be-
kämpft den Absolutheitsanspruch des späten Naturrechts, indem er die natürliche,
schrankenlose Freiheit wieder dem Stand der Natur zuweist, Freiheit im Staat dage-
gen als Verhältnisbegriff, als relatives Gut bezeichnet und deren Schranken betont:
Die Vollkommenheit der natürlichen Freiheit liegt in ihrer Unbegrenztheit, die V oll-
kommenheit der bürgerlichen liegt in ihren Schranken 427 • Die Erklärung uer Menschen-
und Bürgerrechte ersQheint als gefährliche Mißgeburt einer seichten Philosophie und
einer kindischen Politik; mit ihr geraten Philosophie und Naturrecht in den Ver-
dacht, Theorie der Revolution zu sein: Der Philosoph formt Systeme,. der Pöbel
schmiedet Mordgewehre daraus 428 • JOHANN LEONHARD CALLISEN (1791) wendet sich
gegen die Rechtsqualität der Freiheit überhaupt 42 9. Schließlich wird selbst die Vo-
kabel 'Freiheit' als gefährlich verworfen 4 BO.

422 [Anonym], Ueber Freyheit und Gleichheit. An meine Deutschen Mitbürger, Dt. Mo-

nO:tssohr. (1793), Bd. 3, 67 ff., bes. 69. 81. 83; Freiheitsschwinde.l auch bei JoH. LEONHARD
CALLISEN, Ueber den Freiheitssinn unserer Zeit (.Altona 1791), 112. Vgl. auch [anonym],
Versuch einer Aufklärung der Freyheit, welche Frankreichs Revolution auch in Deutsch-
land verbreiten wollte (Frankfurt 1793), 25: wilder Freiheitssinn und im Rausche der Frei-
heit. ·
423 KARL Go~RIED NEUENDORF, Kurze Belehrung für Nachdenkende über bürgerliche

Freyheit und Gleichheit, Dt. Monatsschr. (1793), Bd. 1, 132 ff., bes. 133.
424 JoH. CHR. GoTTLIEB SCHAUJIIANN, Versuch über Aufklänmg, Freyheit und Gleichheit

(Halle 1793), 99. .


U5 NimENDORF, Kurze Delehrm1g, 133.
426 CHRISTIAN ADAM HORN, Uiber den waren Begrif von Freiheit (Nürnberg, MarktbreiL

1794).
427 FRIEDRICH GENTZ, Ueber politische Freyheit, und das Verhältniß derselben zur Regie-

rung, Anh. zu seiner Übersetzung von EDMUND BURKE, Betrachtungen über die französi-
sche Revolution, Bd. 2 (Hohenzollern [d. i. Berlin] 1793), 113 ff., bes. 116. 118 f. 121.
428 Ders., Ueber die Deklaration der Rechte, ebd., 175 ff., bes. 224. 183.

4 29 C.ALLISEN, Freih!'Jitssinn, 2 ff. 62 t 72 ff. 102.


430 Vgl. JoH. PHIL. ACHILLES LEISLER, Populäres Naturrecht, Bd. 1: Reines Naturrecht

(Frankfurt 1799), 29, Anm.: Ganze Justizkollegien ereiferten sich, wenn in irgendeiner ge-
richtlichen Verhandlung dieses Wort gebraucht wurde, .und wagte es gar jemand, von unver-
äußerlichen Menschenrechten zu sprechen, so war er glücklich genug, wenn er nicht als Landes-
verräter behandelt wurde; CHARLES DE VILLERS, De la liberte, 2° ed. (Metz 1791), 150 f.:
Nous avons ... developpe les raisons qui, dans tous les temps, empecheront la multitude d'ap-
porter aucune restriction au mot de liberte: nous avons, en consequence, sagement proscrit le mot
qui reveille une passion si dangereuse. '

483
Freiheit VI. 3. Die Wurzeln des liberalen Freiheitsbegrift's

Positiv aufgeladener Gegenbegriff gegen die Freiheit der Französischen Revolution


ist die 'bürgerliche Freiheit'. Ihr Kennzeichen ist, daß sie in allen verschiedenen Re-
gierungsformen erreicht werden kann 431 (JusTI 1771), also nicht unbedingt den
Wunsch nach Änderung der bestehenden Verhältnisse impliziert. Daher wird dieser
Begriff von den Vorbehalten gegen die Entwicklung der Revolution nicht getroffen
und kann, wenn auch in vielen Fällen unausgesprochen, anderen Freiheitsbegriffen
polemisch entgegengesetzt werden. In deutlicher Anknüpfung an die Formulierun-
gen im Naturrecht des aufgeklärten Absolutismus besteht bürgerliche Freiheit durch
Ordnung und Gesetze, welche die Wohlfahrt des Ganzen zum Zweck haben (NEUENDORF
1793) 432 ; sie ist dann vorhanden, wenn der Bürger nur für den Zweck des Staats ...
bestimmt wird (SCHMALZ 1804) 433 • Bürgerliche Freiheit ist die Gegenleistung des
Staats für die Pflichterfüllung des Bürgers434 • Für GENTZ ist es.eine leere Grille, daß
man sich Freiheit und Regierung in einem beständigen Kampf denkt. Sie sind nicht
allein einig, sie sind w-irkUclt e-ins 436 • Freiheit und Herrschaft decken sich: nur das
beherrschte Volk kann frei sein (ScHAUMANN 1792) 436 • Dieser Freiheitsbegriff paßt
sich an das Ancien regime an; folgerichtig kann selbst in einer Despotie ... wahre
Freiheit sein, wenn der Regent-weise und gut ist (NEUENDORF 1793) 437 • Der Primat
der bürgerliehen Freiheit mündet schließlich in die Bejahung dM Faktischen. Su
heißt es bei GusTAV WILHELM HuGo (1799) hinsichtlich der persönlichen Freiheit:
Kann die Sklaverei Rechtens sein? lJiese ./!'rage ist eigentlich schon dadurch beantwor-
tet, daß die Sklaverei Jahrtausende hindurch bei so vielen Millionen kultivierter M en-
schen wirklich Rechtens war 43 B.
Unter diesen Voraussetzungen müssen in Deutschland sowohl die Ausbildung eines
umfassenden politischen FreiheitsbcgriffR alR a1rnh die Positivierung eines Teils der
Vorstellungsgehalte und die Umsetzung in die Realität Schwierigkeiten begegnen.
Zwar spricht § 83 der Einleitung zum preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) von
allgemeinen Rechten des Menschen, die sich an/ die natürliche J!'reiheit (gründen), sein
eigenes Wohl, ohne Kränkwng der Rechte eines andern, suchen und befördern zu kön-
nen; der Bezug zum übrigen Inhalt und die rechtliche Bedeutung bleiben jedoch
blaß 439 • Zudem befindet sich die Aufklärung in Preußen seit dem Woellnerschen
Religionsedikt und dem Zensuredikt (1788) noch vor der Französischen Revolution
in Verteidigungsstellung. Die Situation in Preußen ist symptomatisch für ganz

431 JusTI, Natur und Wesen der Staaten (s. Anm. 397), 53l!; vgl . .ll:BERHARD, l!'reyheit des

Bürgers, 8 f.
432 NEUENDORF, Kurze Belehrung, 137.
433 THEODOR v. SCHMALZ, Ueber bürgerliche Freyheit (Halle 1804), 14.

434 Vgl..NEUENDORF, Kurze Belehrung, 136.


435 GENTZ, Polit. Freyheit, 134.
436 J. Crm. G. SCHAUMANN, Wissenschaftliches Naturrecht (Halle 1792), 07.
437 NEUENDORF, Kurze Belehrung, 137.
438 GusTAV W. HuGo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, 2. Aufl„ Bd. 2: Lehrbuch des

Naturrechts, als einer Philosophie des positiven Rechts (Berlin 1799), 139.
439 ALR, Einleitung,§ 84, wo von besondern Rechten und PP,ichten der Mitglieder des Staats

die Rede ist; ebd„ § 82, nach <lAm RP.chte. des Menschen tmter anderem durch seinen Stand
entstehen. Siehe auch Tl. 2, Tit. 7: Die Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft
(§§ 147 f.) bleibt auf dem Papier, da nach§§ 149 ff. weitgehende Einschränkungen der per-
sönlichen Freiheit möglich sind.

484
VI. 4. Politis.cber Freibeitsbegrift' und ständische Freiheiten Freiheit

Deutschland: trotz ihrer Anlage auf Veränderungen in der Praxis bleiben die
„Rechte der Menschheit" rechtlich und praktisch uneingelöst in den Katalogen der
Naturrechtssysteme.
Politische und natürliche Freiheit sind in die Polemik gegen die Französische Revo-
lution einbezogen und daher als Ausgangspunkt zur Gewinnung eines allgemeinen
politischen Freiheitsbegriffs ungeeignet. Gleiches gilt von der bürgerlichen Freiheit,
die als Reaktionsbegriff wesentliche Inhalte von natürlicher und politischer Freiheit
ausklammert. Nur nach einer Seite stehen einer Ausweitung des Freiheitsbegriffs
keine Hindernisse entgegen: 'Freiheit' kann sich unter Verlust der politischen Kon-
kretheit in den Raum der metaphysischen Freiheit zurückziehen. Freiheit zu sitt-
lichem Handeln erscheint zunehmend als eigentliche Freiheit und erhält den Vorzug
vor einer wie auch immer konzipierten Freiheit mit spezifisch politischen Inhal-
ten110. Belege für einen umfassenden und trotzdem praxisbezogenen politischen
Freiheitsbegriff finden sich infolgedessen selten 441 • Doch gewinnt hier der Beitrag
der Philosophie (s.o. S. 456 ff.) unmittelbar Bedeutung. Immerhin gibt REIMARUS
(1791) eine umfangreiche Freiheitsdefinition, die zwar unter anderem Rechtssicher-
heit, Hand~ls-, Gewerbe- und Meinungsfreiheit umfaßt, charakteristischerweise
jedoch nicht ein Recht auf Mitwirkung des Volkes bei der Gesetzgebung 442 • Im all-
gemeinen aber wird in Deutschland ein übergreifender Freiheitsbegriff am Ende des
18. Jahrhunderts gewonnen unLer Verminderung oder Verlust von konkreten, den
Drang nach Verwirklichung 1:!ignali1:1iere111ltu1 Vu1·1:1Lelluug1:1gehalLe11; das Ausweichen
von politischer Freiheit in metaphysische Freiheit führt zu Abstraktheit 443 und
Verinnerlichung 444 des politischen Freiheitsbegriffs.

4. Politischer Freiheitshegrift' und ständische Freiheiten

Neben natü1faiher, bill·gerlicher und politischer Freiheit findet sich im 18. Jahrhun-
dert weiterhin der Bereich der ständischen Freiheiten. Es liegt die Annahme nahe,

440 Besonders deutlich bei (;'BR. WILH. CHRISTLIEB SCHUMACHER, Entwicklung des Be-

griffs von der Freyheit (Schwerin, Wismar 1796). - Wie hier GÜNTER BIRTSCH, Freiheit und
Eigentum. Zur Erörterung von Verfassungsfragen in der deutschen Publizistik im Zeichen
der Französischen Revolution, in: Eigentum und Verfassung. Zur Eigentumsdiskussion im
ausgehenden 18. Jahrhundert, hg. v. RUDOLF VIER.KAUB (Göttingen 1972), 179 ff., bes. 191.
441 Ein umfassender politischer Freiheitsbegriff unter dem direkten Einfiuß der Französi-

schen Revolution war offenbar in der politischen Lyrik deutscher Jakobiner in größerer
Verbreitung vorhanden; vgl. die GedichLe von GOTTLIEB KONRAD PFEFFEL und FRIEDRICH
LEHNE, in: Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unter-
drückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung, hg. v. WALTER
GRAB u. UWE FRIESEL (München 1973), 20 f. 37 f. - Ferner GEOR.G W1rnRKTND, Heber
Freiheit und Gleichheit (Mainz 1792).
4 42' JoH. ALBRECHT HEINR. REIMARUS, Freiheit (Hamburg 1791), 7 f.
443 So bei Fichte; vgl. BERNARD WILLMS, Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie

(Köln, Opladen 1967), 66. 70; GuEROULT, Evolution (s. Anm. 307).
444 So bei Schelling; vgl. HANS-JÖRG SANDKÜHLER, Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialek-

tik von Politik und Philosophie bei F. W. J. Schelling (Frankfurt 1968), bes. 69 f. 73 f., der
von einer Umkehr der „Dialektik der Minimisierung der metaphysischen und Maximierung
der politischen Inhalte des Freiheitsbegriffs" bei Schelling spricht (145).

485
Freiheit VI. 4. Politischer Freiheitsbegrlif und ständische Freiheiten

daß der vom Naturrer.ht, entwickelte Freiheitsbegriff von Anfang an im Gegcnsutz


zum ständischen Freiheitsbegriff steht. Das ist in dieser Schärfe und Allgemeinheit
jedoch nicht der Fall.
Da der ständische Freiheitsbegriff Ungleichheit der Rechte impliziert, kommt es
zunächst darauf an, wie eng das Naturrecht Freiheits- und Gleichheitsbegriff ver-
bindet. Sind beide gekoppelt445 , so kann natürliche Freiheit einen ständischen Frei-
heitsbegriff nicht enthalten 446 . Da aber die natürliche Gleichheit durch den Gesell-
schaftsvertrag aufgehoben wird 447 , ist die Existenz von positiv-rechtlich begr)inde-
ten Freiheiten durchaus möglich. Reduziert sich natürliche Freiheit auf Vertrags-
freiheit und ist folglich schon der status naturalis ein Stand der Ungleichheit 448, so
sind sogar im Naturzustand ständische „natürliche Freiheiten" denkbar44 9 • Wäh-
rend im ersten Fall Naturrecht die absolutistische Herrschaft betont und die Posi-
tion ständischer Freiheiten gegenüber dem Herrscher relativiert, dient die zweite
Konzeption der naturrechtlichen Ilcgrümlung ständisch gegliederter Herrschaft. In
beiden Fällen schließt bürgerliche Freiheit ständische Freiheiten ein und wird als
ständisch abgestuft aufgefaßt: die Bestimmung des Verhältnisses ... der verschiede-
nen Klassen des Volkes gegeneinander ist zu Griindung und Erhaltung der lrürgerlichen
Freiheit notwendig (JusTI 1771) 450 • Freilich hat diese Freiheit ihre Stufen; die notwen-
dige Subordination unter den Biirgern verursacht rnehr oder weniger lrürgerliche Frei-
heit (SCHEIDEMANTEL 1775 )46 1.
Dennoch besteht eine grundlegende Distanz zwischen beiden Freiheitsbegriffen.
GuNDLING (1728) unterscheidet propria libertas von libertates 452 ; ZEDLER (1735/
17 41) beha~delt die ·ium et l·ibe-rtule1J uicM unter dem Stichwort „Freiheit", sondern
unter „Privilegien"<lfi!\ Ilei rFEill'll'ER (1778) schließlich deutat sich die Ausstoßung
aus dem politischen Freiheitsbegriff an, wenn er bei der Behandlung des Mißbrauchs
der Freiheit im Staat fragt: Hat ... der polnische, der russische, ja selbst ein Teil des
deutschen Adels nicht lange genug das abscheuliche Recht, ihre Sklaven und Untertanen
z~ mißhandeln, mit dem Namen der Freiheit belegt? Haben die Barons unter der
Lehnsregierung nicht die Gewalttätigkeiten, so sie ungestraft ausiibten, Freiheit ge-
nannt ?454

445 Vgl. GUNDLING, Discours, 63.


446 Vgl. HöI>FNER, Na.turrccht, 35, Anm. 2: In dem ursprünglichenZustarule gibt es .•. keine
Vorrechte und keine1i Rang.
44 7 Vgl. GUNDLING, Discours, 62 ff.
448 Vgl. H. G. ScHEIDEMANTEL, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Re-

gierungsform (Jena 1775), 216.


4 49 Folglich gibt es auch ein „natürliches Lehnsrecht", vgl. LucAs FRIEDR. LA'NGEMACK,

Das algemeine Lehn-Recht, aus philosophischen Gründen erwiesen (Potsdam 1747);


WESTPHAT,, Institutiones, 143 ff.: De jure feudali et feudo.
4 60 JusTI, Natur und Wesen der Staaten, 531.
461 ScHEIDEMANTEL, Allg. Staatsrecht, 213; ·vgl. GMELIN, .Art. ]'reiheit (s. Anm. 180), 509:

Das Wohl der ganzen Gesellschaft ist . . . der Maßstab .der Freiheit, mithin darf sich niemand
schmeicheln, daß die Freiheit eine Gleichheit, welche die .Natur denen Menschen versagt, her-
fürbringen könne.
462 GuNDLING, lus naturae (s. Anm. 360), 42.
4 63 ZEDLER Bd. 9 (1735), 1870 ff.; Bd. 29 (1741), 587 ff. 589.

464 PFEIFFER, Grundriß, Bd. 1, 64 f.

486
VI. 4. Politischer Freiheitsbegriff und ständische Freiheiten Freiheit

Die Ursachen des Trennungsprozesses sind weniger im Freiheitsbegriff selbst als in


dessen Reaktion auf die Entwicklung anderer politischer Begriffe zu suchen. So
weisen das Auseinandertreten von 'Herrschaft' und 'Eigentum' und die damit zu-
sammenhängende Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht die
einzelnen Freiheiten verschiedenen Rechtsbereichen zu, gegenüber denen der Frei-
heitsbegriff eine differenzierte Haltung einnimmt. Ausschlaggebend ist aber die
Rolle des Gleichheitsbegriffs. Wird unter 'Freiheit im Staat' die Herstellung von
Rechtssicherheit durch Gesetze verstanden, die auch der Herrscher befolgen muß,
-und erlangt die natürliche Gleichheit ähnlich wie die natürliche Freiheit absolute
Geltung, so kann sich der Gesetzesbegriff mit dem Gleichheitsbegriff verbinden zu
dem Gedanken der gleichen Gesetze für alle Bürger oder der Gleichheit vor dem
Gesetz. Infolgedessen wird der Verbleib der Freiheiten als Rechte, wodurch der Ober-
herr die Gleichheit der bürgerlichen Rechte zum RestPin efr1.e.~ oder mehrerer aufhebet 455 ,
im Frniheitsbegriff unmöglich; ein Vorrecht gP.hört rlann begrifflich nicht mehr zu
der Freiheitssphäre des Bürgers, die es gegen staatliche Einwirkungen abzuschir~
men gilt, sondern kommt gerade durch Eingriff Jer Staatsmacht in dieses Reservat
der Gesellschaft zustande. Sobald Freiheit im Staat nicht mehr ohne Gleichheit ge-
dacht werden k-ann, trennen sich ständischer und politischer Freiheitsbegriff.
Im einzelnen allerdings erscheint das Verhältnis zwischen ständischem und politi-
schem Freiheitsbegriff als wesentlich komplizierter. Der aufkommende Gegensatz
Hchlicjjt nicht auo, daß in den politischen l!'reihoitsbogrifl' t:1tl1ndische Element.e Rin-
gang finden. Das äußert sich einmal darin, daß einzelne Rechte rler Menschheit in
Zusammenhang stehen mit bestimmten Freiheiten, wie etwa rlie „libertas commercio-
rum" mit der Handell'lfreiheit, niler ilie vnm Hemmhr.r verliehene Zensurfreiheit mit
der Meinungs- und Pressefreiheit456 . Zum anderen erweist sich der politische Frei-
heitsbegriff selbst in vieler Hinsicht als - wenn auch zumeist unausgesprochen -
vom Bürgertum oder Teilen des Bürgertums her gedacht. Besonders augr.nfällig wird
die Abgrenzung zum vierten Stand, wenn sich der Freiheitsbegriff auf Freiheit von
Handel und Gewerbe verengt 457, oder wenn einzelne Freiheitsrechte nur dem gebil-
deten Bürgertum zugute kommen sollen. So fordert HORN (1794) bei Erörterung der
Pressefreiheit, Sorge dafür zu tragen, daß der große unstudierte Haufe nicht alles in die
Hände belcommt458 , und SciIAUMANN (1792) bedauert die Popularisierung aller Rewl-
tate theologischer, politischer Untersuchungen und spricht sich dafür aus, daß das

466 KH.üNITZ Bd. 15 (1778), 94; vgl. ScHEIDEMANTEL, Staatsrecht, Bd, 3, 235.
456 Über dieses Problem vgl. ROBERT v. KELLER, Freiheitsgarantien für Person und Eigen-
tum im Mittelalter. Eine Studie zur Vorgeschichte moderner VerfaRRtmgsgrundrechte
(Heidelberg 1933). Im Gegensatz zu England dürfte für Deutschland jedoch eine ungebro-
chene begriffliche Entwicklung von ständischen Freiheiten zu Menschenrechten nicht nach-
weisbar sein. Beispielhaft für den Übergang in England ist JOHN Mn.TON„ Areopagitica.
A Speech of Mr. John Milton for the Liberty of Unlicenc'd Printing, to the Parlament of
England (London 1644), der liberty of Printing als privilege of the people bezeichnet und
privile,dge to write arul speak synonym gebraucht mit liberty to know, to utter, and to rirgue
freely; The Complctc ProBo Worka, vol. 2 (New Haven, London 1959), 541. 560 f.
· 457 Vgl. JoH. HEINRICH JUNG, Jubelrede über den Geist der Staatswirthschaft, in: Heidel-
bergs vierte akademische Jubelfeier (Heidelberg 1787), 46; SCHLETTWEIN, Grundfeste (s.
·Anm. 393), 122. 319 ff.
458 HORN, Begrifvon Freiheit, 397.

487
Freiheit VD. 1. Freiheiten - Freiheit

ehemals geltende Gesetz, esoterische Wahrheiten auch in der esoterischen Sprache zu


behandeln, ... wieder geltend gemacht wird 459 • Und schließlich tritt der bürgerliche
Charakter des Freiheitsbegriffs auch in der Ausklammerung des Adels als Adressat
bei ERNST BRANDES (1787) deutlich zutage: Wenn sie gleich Edle sind, so seid ihr
Freie 460 •
DIETHELM KLIPPEL

VII. Der Freiheitsbegrift' im 19. Jahrhundert

1. Freiheiten - Freiheit

Der moderne Freiheitsbegriff stellt nicht die zum Kollektivsingular verdichtete und
auf alle Bürger ausgedehnte Querimmme ständischer Freiheiten dar, er ist vielmehr
gegen diese Freiheiten naturrechtlich begründet und dann im Zusammenhang mit
dem Aufkommen einer Staatsbürgergesellschaft politisch bestätigt worden. Er grün-
det im Beharren auf einer Autonomie des Individuums, die zu ihrer Sicherheit Ge-
waltentrennung, politische Mitwirkung und Anerkennung von Menschenrechten
verlangt, sich zugleich aber in einem - angesichts der gewandelten Funktion des
Feudalwesens erklärlichen - Mißverständnis polemisch gegen die angeblich nur
verliehenen, wenn nicht gar usurpierten Freiheiten der Korporationen und ihrer
Angehorigen wendet.
Das Ergebnis dieses Vorgangs besteht in der für das praktische Leben neuen Ein-
sicht, daß 'Freiheit' außerhalb konkreter Sachverhalte denkbar wurde. Beide Be
griffe - 'Freiheit' und 'Freiheiten' - schlossen sich prinzipiell aus. Zum einen
stand dem am Herkommen orientierten Rechtsterminus ein auf die Zukunft ausge-
richteter politischer Allgemeinbegriff gegenüber 4 6 1 • Zum andern ließ sich der räum-
lich und zeitlich fixierte, korporativ gesicherte Freiraum als eines der Hauptwesens-

460SCHAUMANN, Wiss. Naturrecht, 67. . ,


460E. BRANDES, Ist es den deutschen Staaten vorteilhaft, daß der Adel die ersten Staats-
bedienungen besitzt?, Berlinische Monatsschr. 10 (1787), Bd. 2, 439. Im übrigen spricht
Brnndes die wichtigst1m RtAllfm im St,aa.t, dem Adel zu, weil Bonst die Abhängigkeit der Bür-
gerlichen zii sehr vermehrt werden und Bo die noch übrige Independenz dieser wichtigen Klasse
t1vn Men8clie1i verlorengehen Wf.lrde (417).
461 Zwei gleichzeitige und dennoch konträre Beispiele verdeutlichen dies recht anschaulich.
1790 erstaunte EDMUND Burnm darüber, daß er im Gegensatz zu anderen die innere Frei-
heit Englands alB ein bereits erworbenes, nicht al8 ein rweh zu erkämpfendes Gut ansah; Be-
trachtungen über die französische Revolution, dt. v. Friedrich Gentz, hg. v. Dieter Henrich
(Frankfurt 1967), 98. Die Weigerung der Aachener Bürger, sich eine neue Verfassung zu
geben, beantwortete 1793 General i>AMPIERRE mit den Worten: Ihr Beid noch zu weit zii-
rück, als daß euch der wahre Begriff göttUcher Freiheit einleuchten könnte. Em konservativer
Beobachter kommentierte: Der gemeine Mann ... war und blieb ... für das franzöBiBche
FreiheitBByBtein der Neufranken ·unzeUiy. D·ies war der gewöhnliche Ausdruck, dessen Bich die
Neu/ranken zu bedienen pfiegten, wenn Völker ... zuviel Religion und Kenntnis ihrer Pfiich-
ten hatten, als Bich durch die Schwärmerei der Franzosen bknden zu lassen; zit. Quellen zur
Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der französischen Revolution, hg. v. JosEPH
HANSEN, Bd. 2 (Bonn 1933), 703. 861.

488
VII. 1. Freiheiten - Freiheit Freiheit

merkmale des „Feudalismus" nicht mit einer Freiheit vereinbaren, die vom Indivi-
duum her gedacht war und im modernen, einheitlich organisierten Staat ihre Organe
und Sicherungen finden sollte. Es ging nicht mehr nur um Freiheit von obrigkeit-
licher Macht, sondern um Freiheit als Grundwert staatlicher Verfassung.
Solche moderne 'Freiheit' bedurfte als ein die hergebrachten 'Freiheiten' aufheben-
der, umfassender Zielbegriff der Konkretisierung. Ihre Unschärfe verlor sie, sobald
sie in Abgrenzung zur altständischen Freiheit oder in Beziehung zu Begriffen aus
dem modernen politisch-sozialen Wortschatz gesetzt wurde. Indem sie den Inhalt
dieser Begriffe mitbestimmte, definierte sie sich zugleich selbst. Daher sind im fol-
genden diejenigen politischen Termini mit 'Freiheit' als Begriffspaar zusammenge-
bracht, die den Wandel der politischen Anschauungen im 19. Jahrhundertgrund-
legend anzeigen. Dabei fällt auf, daß 'Freiheit' bald einer Verrechtlichung unterlag
- offenbar eine Antwort auf die zunehmende Kompliziertheit des staatlichen Le-
bens und zugleich der Vefäuch, die freiheiLlicheu ErruugerniehafLen abzusicheru. Im
Welckerschen „Rechtsstaat", wie er 1813 entwickelt wurde, fand der bürgerliche
Freiheitsbegriff erstmals eine angemessene Entsprechung dafür, wie individueller
Freiheits- und staatlicher Herrschaftsanspruch ausgesöhnt werden können.
Vergleicht man die verschiedenen Entwicklungen, denen die nachfolgend behandel-
ten· Begriffspaare im Laufe der Jahrzehnte ausgesetzt waren, so fallen einige Kon-
stanten auf, die vorab kurz skizziert werden sollen. Zum ersten: für 'Freiheit' trifft
der auch sonst aufzuzeigende Sachverhalt zu, daß nach dem entscheidenden Bedeu-
tungswandel, der vor der Revolution lag, seit 1789 nichts grundsätzlich Neues mehr
hinzugetreten üit. Es üit möglich, daß da8 Revoh1Lior18l.rauma de8 deut8ehen BUrger-
tums von diesem Umstand mitbestimmt wurde; man lehnte die Methode gewalt-
samen Umsturzes zwar ab, bejahte aber ihre Ergebnisse und arbeitete mit ihren
Begriffen. In diesem Zusammenhang fällt eine zweite, durchgängige Erscheinung
auf. Als die Revolution in Deutschland überwunden war, reduzierten sich auch die
verschiedenen Aspekte des Freiheitsbegriffs so weit, daß er in das bestehende politi-
sche System paßte. Gerade dadurch wurde der begriffliche Kern gerettet. Das dritte
dauerhafte Ergebnis besteht in der allgemeinen Aufwertung dieses Schlagworts, die
bei den Gegnern der Revolution besonders auffällt. 'Freiheit' wurde in einem solchen
Maße zum Legitimationsbegriff jeder Herrschaft, daß fortan kein Regime mehr
darauf verzichten mochte und konnte, sich als freiheitlich zu bezeichnen. Das hatte
P.irni anhaltP.noP. Diskussion um <las Wesen <ler Freiheit iiherhanpt r,nr Folge. Damit
sLehL nichL im Widers_l.lruch, daß die FreiheiLsLermiui in uer _l.IUliLi1:1che11 Disku1:11:1iu11
langsam zurücktreten; von der 'Freiheitsliebe' und dem 'Freiheitsgefühl' der Dich-
ter um 1770 462 und der enthusiastischen Anbetung der 'Freiheitsgöttin' im Zeitalter
des J akobinismus bis zum Vorwurf der 'Freiheitsübernommenheit' Droysens im
Jahre 1862 führt ein weiter Weg, der um 1850 eine entscheidende Wende aufweist.
Nach jener Zeit geriet die bislang unbefangen betriebene Metaphorisierung der F1·ei-
heit rasch außer Mode, und das Schlagwort 'Freiheit' schickte sich an, von einem
alle Emanzipationsbestrebungen erfassenden Integrationsbegriff zur Bezeichnung
jP.weils einer unter mP.hreren „PartP.iP.n" r,n wer1fon. "F:ntscheidend ist dabei, daß
nicht die Idee <ier Freiheit selbst von diesem Rückgang betroffen wurde, denn der

482 Dazu STAMMLER (1954), 56 ff.

489
Freiheit. VII. 1. Freiheiten - Freiheit

Verlust an Allgemeinverbindlichkeit glich sich dadurch aus, daß der jeweilige Kom-
plementärbegri:ff ein gewisses Quantum freiheitlicher Dogmatik annahm.
Noch in einer letzten, für die gesamte Geschichte des Freiheitsbegriffä entscheiden-
den Hinsicht ist 1848 ein wichtiges Datum: in diesem Jahr wurde der ständische
Freiheitsbegriff endgültig in den Wortschatz der gelehrten Fachsprache abgedrängt.
Seitdem der theoretische Anspruch erhoben worden war, daß die natürliche Frei-
heit auch im Staat fortleben und von ihm geschützt werden müsse, und seitdem
man in der Auseinandersetzung der dreizehn englischen Kolonien mit dem Mutter-
land sich auch in der Praxis auf ein natürliches Recht und eine allgemeine Freiheit 463
berufen hatte, war die Debatte zwischen den beiden gegensätzlichen Freiheitsbe-
griffen nicht mehr abgebrochen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber verlor sie
endgültig ihre Aktualität.
Besonders verwirrend wirkte der Umstand, daß seit 1789 beide Begriffe gleichlau-
tend auftraten. So erhielt General Custine, als er im Spätherbst 1792 die Verfas-
sung der Freien Reichsstadt Frankfurt 'munizipalisieren' wollte, vom Magistrat die
Antwort: Sie wollen uns eine Freiheit versichern, die wir schon genießen 46 4. Eindeuti-
ger noch äußerte sich der Aachener Bürgermeister EREITZ wenige Wochen danach,
als er erklärte, die Verfassung der Stadt sei purement democratique depuis l'annee
1450. La souverainete reside chez le peuple. Man ersehe daraus, qu' aAix-la-Ohapelle
lu /urnw d'u yuwvernernent el!t Ubre, p'urernent democratique et populaire, et que tous
eyaw.i; 466 • Genauso argnmentierten 1794 bis 1797 der Kölner Senat und
'IUJ'UI! l!U'fn'ffWI!
1797 die bürgerliche Kurie der Trierer Landstände 4 6 6 •
Ileide „Parteien" glaubten sich also im aussuhließliuheu BesiLz der 'Freiheit'. Wäh-
rend aber die Anhänger des Ancien regime gegenüber ihren Widersachern nur
selten einen Ideologieverdacht äußerten 467 , besaßen die deutschen Jakobiner eine
genaue Vorstellung von der Unterschiedlichkeit der beiden Freiheitsbegriffe. In
Mainz bezeichnete 1792 GEORG FoRSTER das Deutsche Reich als ein lügenhaftes
Gespenst, das sich für den Geist der deutschen Freiheit ausgibt; es ist aber der Teufel der
feudalischen Knechtschaft, das, anstatt von Freiheit, Natur und Men$chenrecht zu
reden, nur von Titulaturen, Formalitäten und Pergamenten spricht 468 • In Aachen
versuchte 1793 der Vorsitzende des „Klubs der Freunde der Freiheit, Gleichheit und
Bruderliebe", diese vorgebliche Freiheit 469 mit dem Hinweis auf die althergebrachte
Wahlmanipulation zu desavouieren. In Köln behauptete 1795 der Journalist
GEICH, die derzeitige Verfassung stehe mit den unverättßerlichen Rechten dp,r Glßü:h-

183 GEORG GOTTFRIED GERVINus, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhun-
derts (1853), hg. v. Walter Boehlich (Frankfurt 1967), 93.
484 Zit. IIANSEN, Quellen, Bd. 2, 526, Anm. 1.
486 Ebd., 676.
4 88 Ebd., Bd. 3 (1935), 357 ff. 1204 ff.
487 Immerhin erscholl aus einer in der Aachener Kapuzinerkirche eingeschlossenen Wahl-

versammlung der Ruf: Massacrez-nous y, mais jamais vous ne nous forcerez de changer notre
vraie liberte contre une chimere; ebd., Bd. 2, 702, Anm. 1. Die deutschen Klagen über die
„falsche Freiheit", die eingebildete Freiheit, die „Freiheitsseuche" sind J.egion.
468 GEORG FoRSTER, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken, in: TRXGER,

Mainz (s. Anm. 402), 236 f. ·


489 HANSEN, Quellen, Bd. 2, 745.

490
Vß, 1. Freiheiten· - Freiheit Freiheit

heit und Freiheit im offenbarsten Widerspruche; die Kölner seien schon lang kein
freies Volk mehr, denn die hiesige Gleichheit sei ganz von einer anderen Gattung als
jene Frankreichs 470 • Und von Speyer bemerkte 17!:16 der Magister LAUKHARD, es führe
zwar den Titel einer freien Stadt des Heiligen Römischen Reichs, aber die Bürger darin
sind ebenso frei, als etwan ein Schuster oder Schneider zu Venedig auf den stolzen Na-
men eines Republikaners Anspruch machen kann 471 •
Im Gefdge der napoleonischen Heere griff diese Diskussion auch auf das rechts-
rheinische Deutschland über. Als eine Antwort auf die in den Rheinbundstaaten
eingeleiteten Veränderungen sind die Worte SEUMES zu verstehen: Wo man von
Gerechtigkeiten und Freiheiten redet, soll man durchaus nicht von Gerechtigkeit und
Freiheit reden 472 •
Die polemische Gegenüberstellung von 'Freiheiten' und 'Freiheit' hat sich auch nach
dem Ende .der revolutionären Epoche erhalten. Solange die Erinnerung an die
'Freiheiten' privilegierter Gruppen noch lebendig war, eignete sie sich wie kein zwei-
tes Gegensatzpaar dazu, die Erben der Revolution von den Anhängern des altstän-
dischen Regimes abzugrenzen. Daß aber erst wieder nach der die revolutionären
Hoffnungen aufs neue aktualisierenden Julirevolution von 1830 über das Verhältnis
von 'Freiheit' und 'Freiheiten' nachgedacht wurde, beweist, wie stark diese Anto-
nyma an eine politische Situation gebunden waren, in der Vergangenheit und Zu-
kunft besonders hart aufeinanderprallten.
1834 forderte THEODOR MUNDT in Anlehnung an das Bibelzitat seine Landsleute
auf: Ihr sollt Vater und Mutter verlassen, das heißt ihr sollt eure alten Privilegien,
Satzungen, Gewohnheiten im Stiche lassen und nur der Freiheit folgen, die eure schönste
Liobo iot 4 n. 1810 otollto DAVlD HAWJlllMANN boi don Kon1Jorvutiven einen Wieder-
belebungsversuch von 'Freiheit' im Sinne von 'Privileg' fest; er bemerkte, daß die
den liberalen Forderungen feindlich gesinnte Partei des Adels ebenfalls mitunter das
Wort „Freiheit" gebrauche. Diese wolle damit aber dem Besondern, dem Eigentüm-
lichen nicht nur, wo es sich erhalten hat, Dauer sichern, sondern es auch wieder ins
Leben rufen, beispielsweise patrimoniale Vorrechte des Mittelalters, während er selbst
den Ideen des Jahrhunderts zur Geltung verhelfen wollte 474 • 1844 stellte dann ADOLF
GLASSBRENNER den Programmsatz auf: Mit den alten Freiheiten ist's vorbei;/ Die
Freiheit muß uns werden 475 • Diese Forderung hat sich schließlich 1848 durchgesetzt.
Der Bericht des Verfai;i;ungi;aui;i;chui;i;es über die Grundrechte begründete in der

470 Ebd., Bd. 3, 405.


471 FRIEDRICH CBR. LAUKHARD, Leben und Schicksale von ihm selbst beschrieben, hg. v.
Wolfgang Becker (Leipzig 1955), 317.
472 JoH. GOTTFRIED SEUME, Apokryphen (1806/07), Prosaschr„ hg. v. Werner Kraft (Köln

1962), 1283.
473 THEODOR MuNDT, Modeme Lebenswirren. Briefe und Abenteuer eines Salzschreibers

(1834), ziL. HANS-WOLF JA.GER, PuliLü1uhe MeLaphui·ik im Jukobinfamm; und im Vormärz


(Stuttgart 1971), 68, Anm. 289.
171 DAVID HANSEMANN, Denktu.:hrifL über PL"eußern; Lage und Politik (Augu8t/SepLembei·

1840), in: Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830 bis
1850, hg. v. JOSEPH fuNSEN, Bd. 1 (Essen 1919), 201. ·
475 ADOLF GLASSBRENNER, Die Geschichtlinge, in: Um Einheit und Freiheit, 1815-1848,

hg. v. ERNST VoLKMANN, DLE, Polit. Dichtung, Bd. 3 (1936), 222.

491
Freiheit VII. 1. Freiheiten - Freiheit

Paulskirche die Gleichheit aller vor dem Gesetz mit der allgemeinen Idee des moder-
nen Staates, welcher im Gegensatz zu den Rechtszuständen des Mittelalters statt der
Freiheiten die Freiheit, statt der Rechte das Recht gewähren will 47 6.
Im Augenblick seines Sieges hat der moderne Freiheitsbegriff einen großen Teil
seiner polemischen Kraft eingebüßt. Da die 1848 revidierten oder oktroyierten Ver-
fassungen fast aller deutschen Staaten die Reste altständischer Privilegien besei-
tigten, entzog die nun entfallene Anschaulichkeit der gewohnten antonymischen
Polemik den Boden. Wenn in Zukunft zwischen 'Freiheiten' und 'Freiheit' unter-
schieden wurde, so war dies Ausfluß der Anschauung, daß alle Freiheiten nur Glieder
eines Freiheitsorganismus sind. Mit dieser Wendung erhielt die liberale Staatsrechts-
lehre des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, die Freiheit ·in ihrer Einheit, Ganzheit
und Richtung auf die wesentlichen Lebensgüter, die grundsätzlich unbeschränkt aner-
kannt werden müsse, zu trennen von den daraus ableitbaren individuellen Frei-
he-il11recltten, ilie fri ·ihrer Ausübung bestimmten Beschränkungen zu unterliegen haben.
Es sollte aber keine einzelne Freiheit gänzlich unterdrückt werden, denn das Recht
einer Freiheit schließt daher auch das Recht auf den Bestand aller anderen Freiheiten in
sich 477 • ·

Genau dies aber praktizierten die Regierungen mit Vorliebe und versuchten, die
Freiheit auf einen beliebigen Teil dieser Freiheiten einzuengen. Dagegen wehrte sich
BöRNE schon in den dreißiger Jahren, wenn er berichtete, daß in Paris die Aristo-
kraten in jüngster Zeit immer nur von Freiheiten sprechen und nie das Wort Freiheit
gebrauchen. Hier ist mehr weniger. Der Unterschied zwischen Freiheit und Freiheiten
ist so groß als zwischen Gott und Göttern. Wie die wahre kirchliche Religion besteht in
der Erkennung eines einigen Gottes, so besteht die wahre politische Religion fo der Er-
kennung einer einigen Freiheit. Ein Volk, z. B. die Franzosen, könne Freiheit haben
ohne Freiheiten; es besitze dann rechtlich den Boden, aus welchem die Freiheiten ent-
sprießen - die Charte; aber es genießt deren Früchte nicht. Dieser Zustand sei zwar
nicht gut, aher immer noch besser als die Existenz von oben gewährter freiheitlicher
Rechte ohne deren verfassungsmäßige Verankerung. Wenn zu wählen ist, ist Freiheü
ohne Freiheiten besser als umgekehrt 478 •
Börne hatte dabei das Ziel verfolgt, das Individuum von staatlicher Bevormundung
zu befreien. Die Arbeiterbewegung hat bis 1848 'Freiheit' und 'Freiheiten' im Sinne
ihres besonderen .Freiheitsverständnisses ebenfalls gegeneinander ausgespielt und
dabei nicht nur die politische, sondern vor allem die gesellschaftliche Emanzipation
beabsichtigt. 1831'> nannte es der anonyme Verfasser im „Geächteten" (vermutlich
JAKOB VENEDEY) die losgerissenen Bestandteile der Freiheit ... , welche unter dem
Namen der Freiheiten, Gerechtigkeiten, Privilegien, Konzessionen, als da sind Preß-
freiheit, Handelsfreiheit, Religionsfreiheit usw., eine so wichtige Rolle in unserer Tages-
politik spielen und deren mehr oder minder vollständige Verwirklichung das Streben des

476 Zit. GEORG BESELER am 3. 7. 1848, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Hd. 1 (1848), 685.
477 HEINRICH AmtENS, Art. Freiheit u. Freiheitsrechte, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 3 (1858),
735 ff. 739 ff.
478 LUDWIG BöRNE, Fragmente und Aphorismen, Ges. Sehr., Bd. 7 (Hamburg, Frankfurt

1862), 38 f. WILHELM SCHULZ betonte 1832, daß achtuntldreißig VerfasBUngen keine Ver-
fasBUng und achtuntldreißig Freiheiten keine Freiheit sind; Deutschlands Einheit durch
Nationalrepräsentation (Stuttgart 1832), 169.

492
VU. 2. Metaphorik Freiheit

sog. Liberalismus ausmacht, während der Radikalismus auf Begründung der Gesamt-
freiheit abzielt. Gegen die von Guizot verkündete Politik des „Enrichissez-vous"
entwarf der Verfasser seine Vision einer tatsäclilichen, auf die Reform der Vermögens-
verhältnisse gegründeten und mithin sozialen Freiheit 479 • KARL MARX knüpfte dann
1848, freilich ohne den letztgenannten Terminus zu benützen, im „Kommunisti-
schen Manifest" an diese Behauptung an und machte der Bourgeoisie zum Vorwurf,
daß sie an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine
gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt habe. Die Freiheitsbravaden unserer Bourgeoisie
seien nur fortschrittlich - wenn auch moralisch unterlegen - im Verhältnis zu dem
gebundenen Schacher ... des Mittelalters 480 ; gegenüber der Umgestaltung der Pro-
duktionsverhältnisse unter kommunistischem Vorzeichen verlören sie nicht nur
ihren Sinn, sondern auch ihre Berechtigung.
Nach der Mitte des vergangenen Jahrhunderts nahm auch die zweite Form der Ge-
genüberstellung von 'Freiheiten' und 'Freiheit' ab, weil vermutlich vor allem die
„soziale Frage" die Unsicherheit in der Definition von 'Freiheit' hat wachsen lassen.
Um so häufiger dagegen ist in der politischen Alltagssprache der Gegenwart von
'Freiheiten' im neuen Sinne die Rede.

2. Metaphorik

Eine Möglichkeit, die zunächst noch mangelhafte· Konkretion des modernen Frei-
heitsbegriffs zu überdecken, bestand in der Verwendung geeigneter Metaphern.
tib1mlies steigerte sich dadurch seine Popula~ität, denn die 'ständische Freiheit'
konntn nllonfäfü1 11llegoriaoh dargestellt, bzw. durch (Rechts-)Symbole veri>illllbilu-
licht werden.
Drei unterschiedliche Themenbereiche standen zur Wahl, um die kämpferische Zu-
versicht zu unterstreichen: der erotische, der religiöse und der naturale Metaphern-
schat:r.. Trot:r. ihrer nntllrRr,hierllidien Herkunft und Wirkungsweise erfüllten sie
doch alle zu gegebener Zeit ihre Aufgabe, die Ziele aller unter 'Freiheit' subsu-
mierharen politischen Vorstellungen darzustellen und damit zugleich einen Beitrag
zum Selbstverständnis der Sprecher zu leisten.
Da die deutschen Jakobiner infolge ihrer geringen Zahl und der widersprüchlichen
Rheinlandpolitik ihrer Schutzmacht sich nicht eben durch großes politisches Selbst-
vertrauen auszeichneten, finden sich bei ihnen vergleichsweise selten Anleihen a11R
dem Reich der Natur, deren Vorzug, die Zwanghaftigkeit des Geschehens und damit
des Erfolgs, von ihrer Schwäche des naheliegenden Vergleichs vom ewigen Auf und
Ab mehr als aufgewogen wird 481 . Viel häufiger ist dagegen das Bild der Freiheit ahl

4 79[JAKOB V ENEDEY ?), Freiheit, Der Gcö.chtcto 2 (1835), zit. Vom Wcinbürgerlichen Demo-
kratismus zum Kommunismus, hg. v. WERNER KowALSKI (Berlin 1967), 95, Anm. d; 89.
°
48 KARL MARx, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4 (1959), 465. 476.
481 W ohl,an/ Der Freilieit traute Brüder I / Uns blinkt der Freilieit Morgenrot!; Nachdichtung

der „Marseillaise" von EULOGIUS SCHNEIDER (1792/93), zit. GRAB/lt'RIESEL, Deutschland


(s. Anm. 441), 39. - Wir sehen, wie Despoti8m Berge von Hindernis/Jen auftürmet, um die
tJiegende Freiheit in ihrem Laufe zu liemmen, wie diese hingegen unaufhaltsam wie ein reißen-
der Strom sich über die Erde verbreitet; JoH. BAPTIST GE!CH, Vorzüge republikanischer
Staaten (1795), fuNSEN, Quellen, Bd. 3, 687.

493
Freiheit VII. 2. Metaphorik

Göttin, die nicht - wie die Braut - erobert werden kann, sondern herbeige:fleht
und angebetet werden muß. Die Umdichtung traditioneller Marienlyrik bot sich
hierfür besonders an, wie das „Freiheitsgebet eines Jakobiners" von 1792 beweist:
Alles wird des Joches ledig!
Göttin Freiheit, sei uns gnäilig!
Horch von deinen lichten Höh'n
Auf der Jakobi,ner Fleh'il,482.
Daß dahinter mehr als bloße Metaphorik stand - in Frankreich breitete sich gerade
der Kult des „Höchsten Wessen" aus -, bezeugt ein Ausruf aus der Rede des
französischen Kommissars BoIS in Mainz: Vaterland! Freiheit! Dies sind die Gott-
heiten, die· wir an die Stelle unserer ehemaligen Götzen stellen, . . . denen wir dienen,
die wir anbeten 483 •
Angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse ist· es freilich kein Wunder, wenn
bisweilen an die Stelle Gottes die französische Nation gesetzt wurde, wir. flR cfar H11.m-
burger Jakobiner ScHÜTZ tat, der ein bekanntes protestantisches Kirchenlied um-
dichtete und mit den Versen beginnen ließ:
Es ist gewißlich an der Zeit,
. Daß die Franzosen kommen,
Zum Heil der lieben Christenheit,
Zur Freiheit aller Frommen4 81 •
Den endlichen Mißerfolg jakobinischer Politik deutet bereits Anfang 1794 die ironi-
sche Metaphernkritik DELHOVENS in seiner „Rheinischen Dorfchronik" an. Sein
Rm1ümoo gipfelt in der rhetorischen Frage: Sind wir glücHicher fJfwm·df'.n? Noch
nicht! Freier? Ebensowenig. Das waren zwar notwendige.Folgen, die man hätte vorher-
sehen können, aber so hatte man sich auch die Göttin Freiheit nicht vorgestellt! Die
grausamen Requisitionen und das Papiergeld ... 485 So wird verständlich, uaß ilie
Göttinnenmetapher für die folgenden Jahrzehnte aus dem Repertoire ausschied486 .
An ihre Stelle trat in der Zeit der „finstersten" Uestauration die Lichtmetapher. Im
Sommer 1819 verherrlichte der badische Abgeordnete FREIHERR VON faEBENSTEIN
die neuerrungene Pressefreiheit mit dem Vergleich, sie sei eine Fackel, die alle finste-
.ren Irrgänge der mächtigen Willkür erhellt 487 • Auf dem Höhepunkt des württembergi-

482 HANS WERNER ENGELS, Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner (Stuttgart 1971), 61.
483 Rede c.le1:1 fränkischen Bürgers B01s, 14. 1. 1793, in: TRÄGER, Mainz (s. Anm. 402), 355.
484 FRIEDRICH WILH. v. SCHÜTZ (1793), zit. GRA11/FRIESEL, Deutschland, 41. Im „Frei-

heitsgesang eines holländischen Patl'ioten" (1792) heißt e1:1: Ach Franken helft! Jetzt ist es
Zeit, f Kommt doch in u.ns're Lande; ENGELS, Gedichte, 92. Das Lied sollte nach der Melodie
„Dies irae" gesungen werden.
485 J. P. DELHOVEN, Rheinische Dorfchronik (1795), HANSEN, Quellen, Bd. 3, 347.
488 Zwar spricht ein 1819 entstandenes Lied auf Karl Ludwig Sand vom Freiheitsgott, doch

iRt, da.mit, der die christliche Freiheit bewirkende Gott gemeint; vgl. Deutsche Volkslieder
demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, hg. v. WOLFGANG STEINITZ, Bd. 2
(Berlin 1962), 10.
487 LuDw. AuG. FRIEDRICH FRH. v. LIEBENSTEIN, Rede in· der Zweiten Kammer des ba.di-

494
Vll. 2. Metaphorik Freiheit

sehen Verfassungskonflikts ermunterte LUDWIG UHLAND seine Kampfgefährten gar


mit einer Verbindung von Licht- und Naturmetapher:
Erharret ruhig urul bedenket:
Der Freiheit Morgen steigt herauf,
Ein Gott ist's, der die Sonne lenket.
Und unaufhaltsam ist ihr Lauf 488 •
Damit man auch in Rückschlägen die Hoffnung nicht zu verlieren brauchte, sprach
WIRTH 1832 dann von der Sonne der Freiheit, die von Wolken vielleicht noch einmal
verdunkelt werden könne, um nachher um so heller zu scheinen 489 .
Mächtigen Auftrieb erhielt die politische wie auch die sprachliche Gestaltungskraft
durch die Julirevolution von 1830. Besonders bei HEINRICH HEINE, der in Paris noch
einige Veteranen von 1789 kennengelernt hat, aber auch in Deutschland zeichnet
sich die Metaphorik durch eine „verblüffende Kongruenz" 490 mit der Zeit der Fran-
zösischen Revolution aus. Für zwei, drei Jahre - gipfelnd in den Wochen um das
Hamhacher Fest - herrscht die alte Allegorie der Göttin Freiheit vor, samt den
zahlreichen Übernahmen aus dem Bereich sakraler Dichtung. Auf dem „National-
fest der Deutschen" pries WrnMANN, ein Vertrauter Wirths, die.Julirevolution, in
der der Hochaltar ... erbaut war, worauf der Göttin Freiheit geopfert wurde 491 • EuGEN
ÜRTLEPP verfaßte unter seinen „Landtagsliedern" (Leipzig 1833) eines, das den
Titel „Königin Freiheit" trägt, und BücHNER, für den das Verhältnis zwischen Ar-
men urul Reichen ... das einzige revolutionäre Element in der Welt war, schloß daraus,
daß der Hunger allein ... die Freiheitsgöttin ... werden kann492.
Die Mehrzahl metaphorischer Anleihen wurden im Vormärz aber auf dem Gebiet der
Liebe, des Werbens und der Eroberung gemacht. WILHELM SCHULZ stellte 1832 fest:
Die Freiheit ist die Geliebte der Nationen geworden, urul die Nationen wollen nicht
dulden, daß man sie als Mätresse in den engen Kabinetten der Fürsten gefangen hält.
Die Zeit der platonischen Liebe ist vorüber: die Völker sehnen sich nach der Umarmung
der teuren Braut, die ihnen versprochen wurde ... , jede ... Zögerung muß die Leiden-
schaft wilder entfiammen 493 • Der nach 1830 allenthalben festzustellende Ruf zur
revolutionären Tat klingt in diesen Worten an. Hierher gehört auch GEORG HER-
WEGHS Distichon auf die Unvereinbarkeit von Monarchie und Freiheit:

oohon L11ndt11ga, in: Einheit und Freiheit. Die deutsche Ccschichtc von 1815 bis 1840 in
zeitgenössischen Dokumenten, hg. v. KARL ÜBERMANN (Berlin 1950), 81.
488 Lunwrn UHLAND, Den Landständen [zum Christophstag 1817], GW Bd. 1 (Stuttgart

o. J.), 92.
489 Jon. GEORG AuG. WrnTH, Die politische Reform Deutschlands (Straßburg 1832), 56.

•ao JÄGER, Polit. Metaphorik (s. Anm. 473), 9.


491 Rede WrnMANNS, in: Das Nationalfest der Deutschen zu Harnbach, hg. v. J. G. A. WIRTH

(Neustadt 1832), 91. - Auf zahlreiche Zustimmung durfte ÜPPERMANN hoffen, wenn er
1835 erklärte: Es war die Juli-Revolution, die mich meine Bestimmung erkennen lehrte, sie
war es, die mir wieder eine Religion, die mir wieder eine Liebe gab - die Religion der Freiheit;
7.it. .•Hmrn„ Polit.. Metaphorik, 108, Anm. 403.
492 GEORG BÜCHNER, Brief an Gutzkow aus Straßburg (1835 ?), SW u. Briefe, hg. v. Werner

Uhmann, Bd. 2 (Darmstadt 1971), 441.


493 ScnuLz, Einheit (s. Anm. 478}, 125.

495
Freiheit VII. 2. Metaphorik

Niclit an den Königen liegt's - die Könige lieben die Freiheit:


Aber die Freiheit liebt leider die Könige nicht 494 •
Daß zur Freiheit ein entschlossener Wille gehöre, darauf läßt BÜCHNER Collot
im „Danton" (1835) mit aller Deutlichkeit hinweisen: Die Freiheit wird die Schwäch-
linge, welche ihren mächtigen Schoß befritchten wollten, in ihren Umarmungen erstik-
ken495. Auch in den Debatten der Paulskirche leistet die Metapher ihren Dienst. Am
24. Juni 1848 wehrt sich ROBERT BLUM gegen den Verdacht, das deutsche Volk sei zu
alt geworden, um in kühnem Griffe, in männlicher Umarmung sich die holdeste Braut:
die Freiheit zu erobern ... Aber auch das alte Herz kann lieben, und es liebt inniger,
wenn auch ruhiger als das junge, weil es das Bewußtsein in sich trägt, daß der Liebes-
frühling ihm nur noch einmal kommt4 96.
Neben der Metaphorik entsprachen auch allegorische Darstellungen dem vormärz-
lichen Geschmack. Der universale, siegessichere Emanzipationsanspruch des Bür-
gertums kommt zum Ausdruck in einer im Jahre 1832 angebotenen Lithographie.
Diese, den „Sieg des Bürgertums oder den Kampf der neuen init der alten Zeit"
darstellend, zeigt den Weltgeist, der mittelst der freien konstitutionellen V erfassun-
gen ... den politischen Staatenwagen der fünf Großmächte Europas ... zum Tempel
des Heils und des Friedens lenkt . . . Damit der Wagen auf seiner aufwärtsgehenden
Bahn nic~t wieder zurückrolle, ... wälzt der Genitts der Freiheit (unser Zeitgeist) durch
seine gefeierten Organe (von Rotteck, Jordan, W elcker und von Raumer) vier gewaltige
Steine hinter die Räder. Am Ende dieser Fahrt steht selbstverständlich der Sieg des
Riir(Jp,rt1f.m„~. dr:.r Freiheit i,.nd des Rechtes 497 .
In späterer Zeit diente die Metapher auch der Abgrenzung gegeniiher and1mm fü~­
freiungsbewegungen. 1848 legte die Mitte Wert auf Distanz zu radikaldemokrati-
sohcn Abgeordneten, die mit der Arbeiterschaft zu paktieren bereit waren. So wollte
EDUARD SIMSON die Revolution für hP.1md11t 11rklä.ren, bevor am sozialen Besitz-
stand gerüttelt wurde. Er tat dies, indem er Uhlands Naturmetapher im Landtags-
gedicht von 1817 wörtlich übernahm, jedoch vom .Präsens ins Präteritum transpo-
nierte:
Erharret ruhig und bedenket;
Dp,r li'rn1:heit Morgen st·ieg hercm/.
Ein Gott ist' s, der die Sonne lenket,
Und unaufhaltsam ist ihr Lauf49s.

Diese Umbildung weist bereits auf rlaR hevornteh1mrl11 F.ndfl jflnflr P.nt.h1JRiaRt.iR~hfln
Rhetorik voraus, das mit der gescheiterten Revolution einherging. Der nach 1850
einsetzende politische und literarische Realismus stand in deutlichem Gegensatz zu
der bildhaften Spraehe, in der sich der Fortschritt zwischen 1789 und 1848 seine

494 HERWEGH, zit. JÄGER, Polit. Metaphorik, 68, Anm. 288.


495 BücHNER, Dantons Tod, 8W u. Briefe, Bd. 1 (1967), 58 f.
496 Rede BLUMS am 24. 6. 1848, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 1, 504.
497 Bild und Text bei VEIT VALENTIN, Das Hambacher Nationalfest (Berlin 1932), neben

s. 49.
498 En. SmsoN, zit. JA.GER, Polit. Metaphorik, 116.

496
VII. 3. Historisch legitimierte Entfaltungsmodelle Freiheit

Ausdrucksform gegeben hatte. Er lehnte die von der Biedermeierzeit bevorzugte


Gemütssprache mit ihrer „Metaphernwut" 499 ab, denn die nüchterne Stimmung
ertrug die kühne Bildliehkeit nieht länger. Ausschlaggebend aber dürfte gewesen
sein, daß die Freiheitsmetaphern ihre Aufgabe erfüllt hatten, sie wurden überflüs-
sig, weil sich die politische und ökonomische Terminologie gefestigt hatte. Statt von
einer wenig konkreten 'Freiheit' zu sprechen, konnte man jetzt beispielsweise zwi-
schen 'gesetzlicher Freiheit', 'sozialer Freiheit', 'geordneter Freiheit' unterscheiden.
Auf die sich komplizierenden politischen Vorgänge paßte das grobkörnige Meta-
phernraster nicht mehr, an seine Stelle rückte der Begriff.

3. Historisch legitimierte Entfaltungsmodelle der Freiheit

Der moderne FreiheiLsbegrifI gewann an Gewicht, wenn er als das Ergebnis einer
langen historischen Entwiokhmg verst.anden wurde. Diese diente seinen Verfech-
tern als Rechtfertigung, die Veränderung der aktuellen politischen Verhältnisse in
seinem Sinne zu versuchen. Zwei grundlegende verschiedene Geschichtsbilder boten
sich als Denkmodelle an: a) der Rückgriff auf Tradition, in diesem Falle auf die Idee
der germanischen Volksfreiheit; b) die Einordnung in eine Geschichtsphilosophie,
die als Ziel die Verwirklichung der absoluten Freiheit verhieß.
Naeh der Wiederentdeckung der taciteischen „Germania" durch die Humanisten
war die Vorstellung von der germanischen Gemeinfreihel.t und Selbstregierung rasch
in den Rang eines verfassungsgeschichtlichen Dogmas aufgerückt, das anfangs zur
Bekärn.l'fuug uer kaiserlieheu Maeht eingesetzt worden war, im 18. Jahrhundert
aber vorwiegend als Gegeuwuuell uer sLäuiliseheu Gesefüiehaft iliente. Es war darum
naheliegend, daß die Anhänger der Revolution in Deutschland die neue Ordnung
als Wiederherstellung der alten deutschen Freiheit 500 bezeichneten, die von den despo-
tischen Fürsten vernichtet worden sei. Tatsächlich glaubten schon die rheinischen
Jakobiner, wie Custines Sekretär BöHMER im Verhör angab, der Mainzer Klub habe
einen gliicklichen Anfang des Wiederauflebens alten und echt deutschen Nationalgeistes
enthalten, der leider durch die Barbarei so vieler Jahrhunderte und besonders so vieler
Reichsoberhäupter in den mittleren Zeiten sowie durch die Sklaverei, mit welcher sich
Deutsche unter das entehrende Joch französischer Moden gebeugt hätten, bei einem gro-
ßen Teil der deutschen Nation bis zur Ankunft der Franken kaum noch in der Asche
geglimmt habe5°1 • Durch die Jd1mtifü.:i1mmg von Franken und Franzosen wurde die
Besatzungsmacht in dieses Geschichtsbild einbezogen. Aber es handelte sich hier um
mehr als eine taktische Verbeugung vor den wahren Machthabern, dahinter ver-
barg sich vielmehr ilie uuuwehr eirn;eLzende Abkehr von der unkritischen Verherr-
lichung der Antike. Man begann, Rom zu verachten, denn Deutschlands Söhne waren
freier als V arus und seine Römer502.

499 Dazu FRIEDRICH SENGLE, Biedermeierzeit, Bd. 1 (Stuttgart 1971), 487 ff.
500 liANBEN, Quellen (s. Anm. 461), Bd. 2, 538, Anm. 4.
5 o1 Protokoll, 16. 9. 1793; ebd„ 521, Anm. 3.
502 GEORG FoRSTER, Rede im Mainzer Konvent am 21. 3. 1793, in: TRÄGER, Mainz (s.

Anm. 402), 458.

32-90386/l 497
Freiheit VB. 3. Historisch legitimierte Entfaltungsmodelle

Auch wenn Absolutismus und Revolution gleichermaßen verdammt wurden, leistete


die Theorie der germanischen Gemeinfreiheit ihre Dienste. HüLLMANN sah 1806 in
den preußischen Reformen, die die altständische Gesellschaft nivellieren sollten,
eine Beseitigung der Mittelaltertümlichkeit des preußischen Staates und eine Wieder-
gutmachung insbesondere an den Bauern, die Adel und Klerus um Freiheit und
Eigentum und damit um das erhebende, veredelnde Gefühl des Eigentums und der
Selbständigkeit gebracht hatten. Damit wurde die gewünschte politische Entwick-
lung historisch abgesichert: wie schon beim Begriff der ältesten staatsrechtlichen Frei.-
heit Grund und Boden wesentlich in Betracht gekommen waren (ihr Verlust hatte die
Bauern aus der Reihe der Staatsbürger ausgestoßen), so verlangte auch der Freiherr
vom Stein den Nachweis von Eigentum als Vorbedingung politischer Mündigkeitsoa.
Der Rückgriff auf die germanische Vorzeit wurde durch die desperate politische
Lage in der Folgezeit nur noch verstärkt und konnte so auch Anhänger naturrecht-
lich fundierter Verfassungstheorien in seinen Bann schlagen, etwa wenn ROTTECK
im „Staatslexikon" die deutsche Freiheit zum Grundcharakter des gemeinschaftlichen
deutschen Staatsrechts erklärte 604 , oder wenn WIRTH in der Einführu'tl{I der Republik
... keine Revolution, sondern vielmehr eine Restauration sah506• Er wurde aber auch
von einem Konservativen wie G.uM' ß.l!J.U.N8'XU.U.1!'.I!' l.Je11utzt, um ue11 Begriff tlti1· „Ia11u-
ständischen Repräsentation" politisch zu entschärfen: gerade die bloß beratenden
Stände seien eine Institution von echt nationaler und germanischer Art 506 • Hauptsäch-
lich aber diente der Topos jener Gruppe von Liberalen, die ohne die von ihnen abge-
lehnte absolute Volkssouveränität zu rechtsstaatlichen Verhältnissen kommen
wollten507 • DAHLMANN, der in der Wiederaufrichtung der Verfassu'tl{len das einzige
Heilmittel erblickte, schwebte die glückliche Sachsenfreiheit als Vorbild vor Augen 608 ,
und SCHULZ bezeichnete mit dem Blick auf den germanischen Landeigentümerstaat
die Zulassung der Untertanen zur politischen Mitwirkung als eine Restauration im
Sinne der Freiheit, eine V ersöhnu'tl{I mit dem von Anfa'tl{I an herrschenden Prinzip des
öffentlichen Lebens in Deutschland609 • So ist es kein Zufall, daß auf dem Höhepunkt

,··~i.r1
~fit?
503 KARL DIETRICH HÜLLMANN, Geschichte des Ursprungs der Stände in Deutschland,
B.d. 1 (Frankfurt/Öder 1806),IV. 70. 68. 208. Zu den preußischen Bemühungen der zwan-
ziger Jahre, die politische 8tandschaft ans .ll:igentum bzw. ausschlieülich ans Grundeigen-
tum zu binden. s. REINHABT KosELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution
(Stuttgart 1967), 338 ff.
604 0.AnL v. ROTTl!ICK, Art. Dcut0ohc0 L0indc0-St0i0itllrcoht, RoTTECK/Wl!ILOKEn Bd. 1 (1837),

343.
m J. G. A. WmTH, Die politisch-reformatorische Richtung der Deutschen im 16. und 17.
Jahrhundert (Bellevue bei Konstanz 1841), 222.
606 GRAF BERNSTORFF, Zirkularschreiben (Oktober 1819), in: LEOPOLD FRIEDRICH ILSE,

Geschichte der deutschen Bundesversammlung, Bd. 2 (Marburg 1861), 95.


507 Zu Voraussetzungen, Eigenart und politischen Konsequenzen dieser Lehre s. E:ij,NST-

WoLFGANG BöcKENFÖRDE, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahr-


hundert (Berlin 1961), 74 ff., Kap. 3; auch in: Modeme deutsche Verfassungsgeschichte
(1815 1018), hg. v. E.-W. BöOKJ!INFÖRDJ!I (Köln 1972), 27 ff.
508 FRIEDRICH CHRISTOPH DAHLMANN, Ein Wort über Verfassung (1815), Kl. Sehr. u. Re-

den, hg. v. C. Varrentrapp (Stuttgart 1886), 66. 39.


509 SCHULZ, Einheit (s. Anm. 478), 27.

498
VII. 3. Historisch legitimierte Entfaltungsmodelle Freiheit

der Revolution von 1848 auch dieses Motiv seine höchste Wirksamkeit entfaltete,
denn nur ein historisierter pqlitischer Freiheitsbegriff konnte die tiefen Eingriffe in
die herrschende Verfassungsordnung rechtfertigen. BESELER versuchte darum, den
Historikern ihre politische, den Politikern ihre historische Mission klar zumachen:
I eh glaube, daß die Prinzipien der germanischen Freiheit von itns zu er/orsclien sind
und, wenn wir sie richtig erkannt haben, ... in allen Konsequenzen zur Anwendung
zu bringen sind 510 .
Ganz im Gegensatz dazu standen jene Legitimationsversuche, die ihre politischen
Hoffnungen als das Ziel der Geschichte überhaupt angaben und also die Freiheit als
eine in Entfaltung befindliche historische Potenz auffaßten. Hier wirkten der von
der aufgeklärten Geschichtsphilosophie freigesetzte Fortschrittsgedanke und der von
Kant und Hegel weitergeführte Entwicklungsbegriff herein. HEGEL hat demgemäß
in der Weltgeschichte den Fortschritt im Bewußtsein der l!reiheit erblickt und diesen
in Beziehung zur Notwendigkeit gesetzt511 . So sah er auch seine Gegenwart mitten
in diesem Prozeß. Denn noch 1818 hielt er es nicht für möglich, schon in seiner Ge-
genwart den Begriff der Freiheit mit der Wirklichkeit auszugleichen; noch stand der
Kampf um ihn bevor, der ohne Rücksicht auf das, was gilt, auf die Vorstellung der Zeit
durchzufechten sei. Erst unter dem Druck der politischen Rückwendung der preu-
ßischen Monarchie um 1819 schien ihm dagegen die Wirklichkeit der konkreten Frei-
heit _in Preußen bereits erreicht zu sein512.
Auch wer die Vorstellung von der erreichten Vollkommenheit nicht teilte, hatte
damit ein Geschichtsmodell an der Hand, das sich in den Dienst seiner politischen
Ziele stellen ließ. Das waren zum einen diejenigen Liberalen, die nicht das positive
... , .nichJ; dafl h1:.~tnri.~chll, flfl'ndp,rn dn.~ p,wig 1ibP.r dP.n blli:dF.n. th.rrm.P.nde. 11.nd m.# dem
Anspruch auf allgemeine Herrschaft ... versehene ... Vernunftrecht zur Richtschnur
erheben wollten. Sie sahen darum mit RoTTECK in der Französischen Revolution
das Prinzip der gesetzlichen Freiheit und des vernünftigen Rechtes, das über das histori-
sche Recht gesiegt hatte. Wegen der dadurch. hervorgerufenen heillosen Begriffsver-
wirrung legten diese Liberalen nun ihr politisches Glaubensbekenntnis ab513 . Wie das
„8taatslexikon" mit Hilfe der „echten Staatswissenschaft" die Freiheit, ein Haupt-
triebrad der W eltgeschichte 514 , begrifflich fixieren und ihr politisch zur Durchsetzung
verhelfen wollte, so erachtete es GERVINUS als die Aufgabe des Historikers, den
regelmäßigen Fortschritt zu gewahren von der geistigen und bürgerlichen, Preiheit der
einzelnen zu der der mehreren und der vielen. Nur sah Gervinus nicht schon in der
konstitutionellen Monarchie das Ziel der Geschichte der Freiheit. Vielmehr war sie
ihm nur der Durchgangspunkt, der allerdings der Freiheit und gleichen Berechtigung
aller Staatsmitglieder den Weg gebahnt, die Demokratie . . . in allem Wesentlichen be-
gründet habe 515 .

010 BESELER am 27. 2. 1849, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7 (1849), 5497.
m Vgl. Anm. 327.
512 HEGEL, Vorlesungen über Rechtsphilosophie, 1813-1831, hg. v. Karl-Heinz llting,

Bd. 1 (Stuttgart 1973), 231. 234. Vgl. die Einleitung des Herausgebers, 35 ff. - HEGEL,
Rechtsphilosophie,§ 260 (1821). SW Bd. 7 (1!)28), 337.
513 RoTTECK, Vorwort zum Staatsle:Pkon: RoTTECK/WELCKER Bd. l (1834), XVI. XVIII.

514 Ders., .Art. Freiheit, ebd., Bd. 6 (1838), 60.


5 15 GERVINUB, Einleitung (s . .Anm. 463), 13. 18.

499
Freiheit VII. 3. Historisch legitimierte Entfaltungsmodelle

Damit hatte GERVINUS die Frage nach der Herkunft der modernen Freiheitsidee
gestellt, die von der Mehrzahl der .Parteigänger des historischen Fortschritts im
Sinne ihres typischen Vorverständnisses vom Wesen des Protestantismus als einem
Ausfluß germanisch-deutscher Geistestradition beantwortet worden ist. Zwar blieb
auch im 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen „Vernunft" und „Offenbarung"
strittig, aber man stimmte Hegel darin zu, daß die geschichtliche Leistung des
Christentums in seiner Rolle als Schöpfer und Schützer der freien Persönlichkeit
liege. In der Neuzeit hätten jene Völker dieses Erbe bewahrt, die im Alleinbesitz
geistiger und staatlicher Freiheit gewesen seien, - die Germanen 516 • KRUG versicherte
schon 1823, der Protestantismus könne nicht anders als liberal sein, weil er seinem
Wesen nach ein religioser und kirchlicher Liberalismus ist517 , während DROYSEN
die Freiheit als durch und durch evangelischer Natur erschien518 . Dem entsprach die
geschichtliche Deutung der Reformation als des Beginns der neuen Zeit init dem
Prinzip der geistigen Freiheit und deren Fortgang zu A'ufklärwny 'und Revolut'ion519 •
HEINE beschrieb diesen Dreischritt 1834 init Reformation = religiöse Revolution,
Denkfreiheü, de11,t.~che Philosophie und politische Revolution520 • GERVINUS unterbaute
mit dieser historischen Sicht (1853) seine liberaldemokratische Hoffnung: der pro-
testantische Individualismus habe die Saat demokratischer Freiheit gestreut, und
er zitierte zustimmend Machiavelli, der eine gründliche Wiedergeburt der Zeiten und
Staaten nur in Folge einer kirchlichen Reformation erwartete. In der Tat habe Deutsch-
lands Geschichte . . . uns durch religiöse Freilte'it ( Re/orm,at·ion) und ge·istige Freiheit
(Literaturperiode des vorigen Jahrhunderts) an die Schwelle der staatlichen Freiheit
geführt, und sie gebe Anlaß zu der Hoffnung, daß wir auch diese in einem Maße errin-
gen werden, das den griindlichm Vorbereit1'.ngen f'i'YltRprü:htr.21.
Alic.h Junp;hep;RlianRr imn Ror.ialiRt.Rn Rfamrlfm - in gesteigerter geschichtsphiloso-
phischer Zuspitzung - in diesem geschichtlichen Legitimationsschema, etwa wenn
BRUNO BAUER 1846 in der Reformation den 1'riumph der Freiheit -µnd Menschlich-
keit erblickte522 oder wenn für MosEs HEss die Französisch.e. Re~mlu.tüin Mfit der An-
fang der freien Tat, wie die deutsche Reformation der Anfang der Geistesfreiheit war5 23 •

•rn Ebd., 41.


617 WIIM. TRAUGOTT KRuG, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer
Zeit (Leipzig 1823), 134.
GU JoH. Gu8TAV DitOY8EN, zit. WoLFGANG HooK, Libero.lea Denken im Zeito.lter der Paulll
kirche (Münster 1957), 61, Anm. 139.
01 9 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Ge!!ehichte 4, 3. SW Bd. 11, 519 ff., bes.
519. 548. 552 (s. Anm. 324). ·
52o HEINRICH HEINE, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, SW
Bd. 4 (o. J.), 190 IT. 194. 205 IT. 292.
5 21 GERVINUS, Einleitung, 42. 176 f. Zur Deutung der Reformation und der Revolution im
Hinblick auf den Freiheitsbegriff vgl. MJ.OHA1!JL NEUMÜLLER, Libernlismus und Revolu-
tion. Das Problem der Revolution in der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des
19. Jahrhunderts (Düsseldorf 1973).
522 BRUNO BAUER, Kritik der evangelischen Geschfoht.R ilr.r Rynopt.iker, 2. Aufl., Bd. 3

(Leipzig 1846), 309, zit. HORST STUKE, Philosophie der Tat (Stuttgart 1963), 143.
523 MOSES HESS, Die europäische Triarchie (1841), Ausg. Sehr., hg. v. Horst Lademacher

(Köln 1962), 90.

500
VII. 3. mstorisch legitimierte Entfaltungsmodelle Freiheit

Anders als bei Liberalen wie Gervinus sah Heß den Fortgang der Geschichte in der
dialektisch gedachten Spannung zwischen absoluter Notwendigkeit und absoluter
Freiheit mit dem säkularisierten Endzeitbegriff des 'Reichs der Freiheit'. Er defi-
nierte 1843 die Freiheit als die Überwindung. der äußern Schranke durch Selbstbe-
schränkung, das Selbstbewußtsein des Geistes als Tätiges, die Aufhebung der Naturbec
stimmtheit in Selbstbestimmung. Mit dieser Erkenntnis beginne die wahre Geschichte
des Geistes, das Reich der Freiheit, an dessen Pforten wir stehen und anklopfen. Der
Himmelsschlüssel dazu bestehe einerseits in der deutschen Kirchenreformation, an-
dererseits in der Französischen Revolution, - was noch ausstehe, sei die soziale Frei-
heit, die entweder eine Folge der Geistesfreiheit oder ... bodenlos sei 524 •
RUGE verzichtete auf die eschatologische, Geschichte aufhebende Deutung des
'Reichs der Freiheit' und faßte Freiheit als innergeschichtlichen Perspektivbegriff,
wenn er den Liberalen den Irrglauben vorwarf, die Geschichte sei das Reich
dm· Fre-ilie·it und nfrht der N otwend·igkeit; l!!ie vergäßen dabei den Unte1-schied der wer-
denden und der vollzogenen Geschichte. Solange die Frage noch offen ist, sehen wir die
Menschen frei gegeneinander handeln; sobald aber die Begebenheit vollzogen ist, kann
die Frage nur noch die sein, warum mußte sie sich so und nicht anders vollziehen 625 •
Gerade weil sie aber das Ziel der Geschichte zu kennen vermeinten, wußten die
Junghegelianer um die unausweichliche Ausbreitung der Freiheit: Die Weltgeschichte
ist die allerstärkste Autorität für die heutigen Beförderer des freien Staats. Konkret be-
deutete dies (1841), daß Preußen ... mehr und mehr ein unmöglicher Staat werde,
solange es seinen Bewohnern die Emanzipation zu Staatsbürgern vorenthalte 526 •
Auch MARX gelangte zu seinem zukunftsorientierten Freiheitsbegriff in der Aus
t1inandersetzung mit dem nichtsozialistischen Freiheitsverständnis. In seiner
„Kritik des Regelsehen Staatsrechts" (1843) setzte er an die Stelle der monarchi-
schen „Staatssouveränität" Hegels eine Inhalt und Form zugleich vereinigende „Ver-
fassungsgattung", die Demokrat·ie; erst hier sei dank Selbstbest·immung des Volks die
Freiheit verwirklicht. Der Weg dorthin führt nach Marx von der Demokratie der Un-
freiheit im Mittelalter über die gegenwärtige Abstraktion des Staats als solchem, die
mit der Abstraktion des Privatlebens verbunden ist; in jener auch die Gesellschafts-
ordnung umwälzenden „Daseinsweise" herrsche dann der sozialisierte Mensch 527 •
Das Ideal einer vergesellschafteten Freiheit, wird auch in Marx' Schrift „Zur Juden-
frage" (1844) deutlich, in der er gegen das liberale Verständnis der individuellen
Freiheit polemisierte, die nicht auf der Verbindung ... , sondern vielmehr auf der Ab-
sonderuWJ des Menschen von dem Menschen beruhe. Die in der Französischen Revo-
lution durchgesetzte, auf dem Privateigentum begründete Freiheit des egoistischen
Menschen habe nur die politische, nicht die menschliche Emanzipation gebracht 528 •
Die gleichsam naturgeschichtliche Freiheit der historischen Rechtsschule war Marx

5 24Ders., Philosophie der Tat (1843), ebd., 144. 145. 140. 135.
ARNOLD RuuE, Das ,,christlich-germanische" Justemilieu, in: Anekdota zur neuesten
52 i;

deutschen Philosophie und Publizistik, hg. v. A. RuGE, Bd. 2 (Zürich, Winterthur 1843),
236.
528 KARL NAUWERCK, Ein Blick in die inneren Zustände des preußischen Staates, ebd.,
Bd. 1 (1841), 218. 213 f.
527 KARL MARx, Kritik des Regelsehen Staatsrechts, MEW Bd. 1, 231. 233. 237.
528 Ders., Zur Judenfrage, ebd., 364 f. 369.

501
Freiheit vn. 3. Historisch legitimierte. Entfaltungsmodelle
eine besondere Torheit, denn sie suchte unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer
Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber wnsere Frei-
heitsgeschichte von <Zer Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern z·u
finden ist? Die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft stand also noch bevor. Sie
sollte nunmehr im Bündnis von „Philosophie" und „Proletariat" durch die Revo-
lution erreicht werden; dadurch sei schlagartig die soziale Freiheit hergestellt, die
nichts Geringeres als die ganze Freiheit sei529 • *Im weiteren Verlauf seiner zunehmend
ökonömischen Studien suchte Marx das Umschlagen des Freiheitsbegriffs in das
Machtinstrument einer Klasse zu analysieren, die mit ihm ihr Interesse als das ge-
meinschaftliche Interesse. aller Mitglieder in der Gesellschaft darzustellen in der Lage
ist und selbst daran glaubt. Die „Freiheits- und Gleichheitsharmonien" des liberalen
und sozialistischen Weltbildes werden in ihrer historischen Genese (im Anfang ist
diese Illusion wahr) dargestellt: Das allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der
selbstsüchtigen Interessen. Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen
Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, individueller sowohl
wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also
nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch
von Tauschwerten ist die produkt1:11e, reale Ra.~i11 alTR-r Glr:fr~hhR.it. 11.rul 1f're.1:he.it5293 •.
Zur Entwicklung von Systemen gehört es jedoch, daß sie ihre eigenen Widersprüche,
immanenttJ Störungen, selbst hervorbringen: eben d·ie Ver·wirkl-ichwny der Gkichheit
und Freiheit, die sich auswe·isen als Ungle·icldteit •und Unfreiheit. Es ist ein ebenso from-
mer wie dummer Wunsch, daß der Tauschwert sich nicht zum Kapital entwickle oder
die den Tauschwert produzierende Arbeit zur Lohnarbeit. Die Teleologie dieses Pl'Ozes-
ses kann daher nur negativ bosohricbcn werden: Da.~ Reich der Freiheit beginnt in der
Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist,
aufhört; es liegt also der Natur der. Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen
materiellen Produktion5so.
Das Verhältnis beider „Reiche"; dem der „Notwendigkeit" und dem der „Freiheit",
zueinander blieb allerdings offen. Daß diese Vorhersage weder utopisch noch mecha-
nisch-deterministisch verstanden werden sollte, belegen die Worte ENGELS', für den
1878 Freiheit in der Erkenntnis der Naturgesetze und in der damit gegebnen Mög-
lichkeit bestand, sie planmäßig zu best·imrnten Zwecken wirken zu lassen 531 • Um zwi-
schenmenschlicher und Naturgeschichte noch besser zu unterscheiden, war er 1886

529 Dcrs., Zur Kritik der Ilegelscheu ReuhLtil'hllutiul'hle, EinleiLung (1844), ebd., 380. 388.

390.
* Den folgenden Text mit den Anm. 529a und 530 schrieb HoRfjT GÜNTHER.
529 " MARx/ENGELS, Die Deutsche Ideologie (1845/46), MEW Bd. 3 (1958), 47; dies., Die

heilige Familie (1845), MEW Bd. 2 (1957), 123; MARx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23
(1962), 189; ders., GI'undrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857-58; Berlin 1953),
155. Eine in der Struktur ähnliche Analyse des modernen Vetragsrecbts leistete MAx WE-
BER, W:irtschafL w1d Getielli!chaft, 4. Aufl., bg. v. Johannes Winckelmann, 2. Halbbd.
(Tübingen 1956), 454.
530 MARX, Grundrisse, 160; ders., Das Kapital, Bd. 3, Kap. 48, MEW Bd. 25 (1964), 828.
631 FRIEDRICH ENGELS, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878),

MEW Bd. 20 (1962), 106.

502
VII. 4.. Freiheit - F.inheit der Nation Freiheit

sogar bereit, to drop the word freedom if you can find a more correct and less equivocal
term which at the same time expresses that essential difference 532 • Mit der Behauptung,
dfl.ß 'Frnihflit' ilifl ETkflnntnis uni! Ausnutzung der objektiven Notwendigkeit sei,
erfaßte der sozialistische Freiheitsbegriff den von Liberalen und Demokraten ver-
nachlässigten Bereich der industriellen Welt und stellte ihn in den Dienst der Ge-
samtgesellschaft; dadurch sollte ermöglicht werden, daß, wie der junge Marx for-
muliert hatte, der „homo faber" die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche53 3 •.

4. Freiheit '-- Einheit der Nation

'Freiheit' gehörte im 18. Jahrhundert in antik-humanistischer Tradition eng zum


semantischen Feld 'Vaterland'. La Bruyeres Satz, daß Freiheit ohne Vaterland un-
denkbar sei, wirkte auf eine breite Leserschaft. Kant ordnete in diesem Sinne die
politische Freiheit dem imperium patrioticum zu und setzte dies in Gegensatz zum
Despotismus. So konnte „Vaterlandsfreiheit" ein betont „republikanisches" Pathos
annehmen, da1:1 traditionell begriffen (Zimmermann 1760), sodann revolutionär um-
gedeutet und von den neunziger Jahren an in die moderne „Bewegung" überführt
wurde 534 • 'Nationalfreiheit' wurde, bei topologischer Kontinuität, zu einem Begriff,
aus dem der moderne Nationalstaat abgeleitet und das dyna1:1tfaeh gepl'l:LgLe eul'U-
päische System als geschichtlich überholt verworfen wurde.
Schlagwortartig trat die neue Problematik in dem von den Franzosen beanspruch-
ten Ehre~titel „Franken" hervor, in dem Freiheit und Einheit zusammenliefen. Da
fljp, deutsch im .Jfl.kohineT im P.igenP.n Lii.nil kP.iTIP. i!P.T hP.iilen Voraussetzungen fanden,
machten sie sich den missionarischen Charakter der 'Freiheit' zµnutze und führten
die Debatte um die Lostrennung des linken Rheinufers im Zeichen des Begriffspaars
'Freiheit/Franken' 535 • Die Erf~hrungen mit der französischen Politik deckten auch
für deutsche „Demokraten" den Zwiespalt dieser Begriffsverbindung auf. Als
„Patrioten" gelangten sie von der „fränkischen" zur „deutschen Freiheit". Die
zeittypisch werdende Idee der sich konstitutionell bildenden Nation oder der n~tio­
nal begrenzten Konstitution ließ z. B. REBMANN 1797 hoffen, daß als Folge der er-
warteten Revolutionierung Süddeutschlands Ihr nicht mehr Pfälzer, Bayern, Würt-
temberger, Badenser etc., sondern Deutsche heißt ... , daß ihr eine wahre vernünftige
Freiheit genießt und eine deutsche Konstitution besitzt536 • Um so enttäuschter zeigte
er sich über Deutschlands Teilung nach dem Frieden von Campo Formio. Der mo-

532 Zit. JIA.Ns-JosEF STEINBERG, Freiheit und Notwendigkeit: Aus einem verlorenen

Brief von Friedrich Engels an Ernest Belfert Bax vom Jahre 1886, Internat. Rev. of Social
History 18 (1973), 279.
533 MARx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 379.
534 LA BRUYERES Feststellung: Il n' y a point de patrie dans le despotisme findet sich erst-

mals in der 7. Aufl. der „Caracteres" (Ausg. Paris 1962), c. 10. Zu Kant und Zimmermann
vgl. o. S. 41. 55.
535 GEoRa FORBTER beschwor die Mainzer, den Wunsch, frei und Franken zu werden, an

Paris zu übermitteln; Über das Verhältnis der Mainzer (s. Anm. 468), 233.
bau ANDREAS GEORG REBMANN, Die Ueiliel l (17!:17), 5. Stück, zit. WALTER GRAB, Erobe-
rung oder Befreiung? (Trier 1971), 64 f. Demgegenüber hatte FORSTER in einem Brief vom
21. 11. 1792 dem Grundsatz Ubi bene, ibi patria gehuldigt; Sämtl. Sehr., Bd. 8 (1843), 274.

503
Freiheit vn. 4. Freiheit - l:inheit der Nation

derne, zukunftsorientierte Freiheitsbegriff erlaubte ihm aber die Hoffnung: So ver-


falle denn Germanien! Aber nicht auf ewig! ... Die Freiheit läßt sich nicht aufhalten
... Wir schreiten vorwärts 0 37.
Tatsächlich wurde 15 Jahre danach die Erhebung gegen Napoleon - einer noch
jungen Tradition folgend - von allen beteiligten Parteien als Freiheitskampf oder
Freiheitskrieg bezeichnet538 . Dies präludierte der Stimmung, die „1813" zu einem
Urerlebnis im politischen Erfahrungsschatz der Deutschen hat werden lassen.
'Freiheit' wurde ins Hymnisch-Religiöse erhöht, wie sich an G~dichten, Liedern und
Aufrufen der Jahre zwischen 1810 und 1813 unschwer ablesen läßt. 1813 galt
THEODOR KÖRNER das Leben ... nichts, wo die Freiheit fällt, und so schwor er:
Frei woll'n wir das Vaterland wiedersehn
Oder frei zu den glücklichen Vätern gehn!
Ja! glücklich und frei sind die Toten.
Für ERNST MoRITZ ARNDT war die Freiheit . . . das Allerheiligste auf Erden, und
CARL VON CLAUSEWITZ bekannte, daß ich mich glücklich fühlen würde, einst in dem
herrlichen Kampf um Freiheit und Würde des Vaterlandes einen glorreichen Untergang
zu fin.dwn,539.
Aber nur kurze Zeit verdeckten diese emphatischen Bekenntnisse die Meinungs-
verschiedenheiten um die geeignete politische Form, in der 'Freiheit' und 'Nation'
zusammenfinden sollten. Mm• DE STAEL, die zur Kronzeugin für die Massenwirkung
des die partikularstaatliche Souveränität überwindenden Freiheitsbegriffs wurde 540,
verlieh jener Richtung Ausdruck, die wie der FREIHERR VOM S'l'J<.:1.N die bürgerliche
Freiheit der Nation vom Ende der Zerstückelung Deutsclilands in 36 Despot·ien abhän-

537 REBMANN, Die Geißel, 12. Stück, zit. GRAB, Eroberung, 85.
538 WOLFGANG STAMMLER, Freiheitskrieg oder Befreiungskrieg?, in: STAMMLER (1954),
154 mit Anm. 8-10. Seiner Meinung, die Begriffsdifferenzierung sei ohne politische Ab-
sichten zustande gekommen, kann ich allerdings nicht zustimmen.
539 TH. KöRNER, Letzter Trost (1813), in: Fremdherrschaft und :Befreiung, 1795--1815,

hg. v. ROBERT F. ARNOLD, DLE, Polit. Dichtung, Bd. 2 (1932), 158 f.; vgl. ERNST Mo-
RITZ ARNDT, Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann (1813), Werke,
Bd. 13 (1908), 57 f.; CARL v. CLAUSEWITZ, Erstes Bekenntnis (1812), in: KARL SoHWARTZ,
Leben des Generals Carl von Clausewitz und der Frau Marie von Clausewitz geb. Gräfin von
Brühl, Bd. 1(Berlin1878), 437. - Die Enttäuschung über den Ausgang des Wiener Kon-
gresses hat bei Burschenschaftern wie FRIEDR. GoTTLIEB WELOKER dazu geführt, daß der
Kampf um politische Freiheit im Innern ähnlich hochstilisiert wurde. Im Hinblick auf das
schon von seinem Bruder 1813 (s. Anm. 590) besonders hervorgehobene Widerstandsrecht
schrieb er: Im allgemeinen ist sogar keine Art von Krieg edler als der für die bürgerliche Frei-
heit ... Der echte bürgerliche Krieg aber wird um einer Idee, um eines geistigen Guts, um eines
heiligen Zwecks willen, frei von Begierde wie von Not, geführt; Von ständischer Verfassung
(1815), in: ders., Von ständischer Verfassung und über Deutschlands Zukunft (Karlsruhe
1831), 19.
040 In ihrem 1807 verfaßten DeuL~uhlamlbuuh ven;iuherte sie, die Deutschen verstünden

unter liberte nur cette subdivision en petits pays und fühlten sich faibies c.omme nation; bei
der Revision des Manuskripts im Jahre 1813 nahm sie diese Behauptung ausdrücklich
zurück; GERMAINE DE STAEL,HOLSTEIN, De l'Allemagne 3, 11, t. 2 (Ausg. Paris 1968),
177 f., Anm.

504
VII. 4. Freiheit - Einheit der Nation Freiheit

gig machte 541 . Bei FICHTE kam die egalitäre Note nationaler Freiheit stärker zum
Vorschein: seinem Zwingherrn zur Deutschheit erlegte er die Erziehung zur Freiheit
als erste Pflicht auf, denn - so wolle es die historische Mission Deutschlands - der
Einheitsbegriff des deutschen Volkes muß ausgehen von der ausgebildeten persönlichen
Freiheit, nicht umgekehrt, und diese Freiheit ist gegründet auf Gleichheit alles dessen,
was Menschengesicht triigt 5 4 2 •
Das Gegenteil davon war in der vom Zaren und FRIEDRICH WILHELM III. verkün-
deten „Proklamation von Kalisch" (25. 3. 1813) enthalten, die den Fürsten und
Völkern Deutschlands die Rückkehr der Freiheit und Unabliängigkeit versprach 543 •
Die Frage war nun, ob man sich auf eine mittlere Linie einigen konnte, die wenig-
stens das eine der beiden Ziele gewährleistete. KÖRNER, noch vor dem Abbruch der
preußischen Reformära gestorben, deutete sie in seinem letzten Brief an, in dem er
als Auffangstellung eine wenigstens norddeutsche Freiheit verlangte 544 . Doch diese
Hoffnung trog, und der unterschiedliche Ausgang des gleichzeitigen Kampfes um
Volkssouveränität und Befreiung von Fremdherrschaft führte dazu, daß nach-
träglich die Unterlegenen den Krieg umbenannten. Man sprach daher bald vom
sogenannten JJ'reiheitskriege 64 s, weil er nichts befreit als unsere .l!'ürstenb 4 u, d. h. von
AinAm K riAg, in nAm 'i'.Wnr d?:e. RP.fre.im1g i1om. äuße.re.n .loche, a.ber nicht die Fre1:heit
errungen worden ist 547 • Diese bewußte Hervorkehrung des Unterschieds zwischen
'Freiheit' und 'Befreiung' wurde von der Gegenseite rasch aufgegriffen; konserva-
tive Kreise sprachen nach 1816 vorzugsweise vom Befreiungskrieg548 und sahen sich
darin bald durch die offizielle Sprachregelung bestätigt: Friedrich Wilhelm III.
setzte sich dafür ein, daß in den preußischen Schulbüchern 'FreiheiLskl'ieg' durch
'Befreiungskrieg' ersetzt wurde 549 • Die sich hier eröffnende Möglichkeit, Freiheits-
und Befreiungsbegriff zu trennen - ersteren im Sinne der nach außen und innen
freien, letzteren für die nur nach außen freie Nation -, wurde jedoch vermieden.
'Freiheit' besaß einen so hohen politischen Wert, daß sie sich nicht zum Kampf-
und Parteibegriff der Erben der Revolution einengen ließ; die weiterhin bestehen-
den Auffassungsunterschiede mußten daher auch fortan durch Zusätze wie „echt",
„wahr" usw. verdeutlicht werden.
Der umstrittene Artikel 13 der „Wiener Bundesakte" unterstützte das Bestreben

541 FRH. VOM STEIN, Prager Denkschrift (Ende August 1813), Br. u. Sehr., Bd. 4 (1963), 24.
542 J. G. FICHTE, Entwurf einer politischen Schrift (März 1813), SW Bd. 7 (1846), 565. 573.
513 ProklamaLiun vun Kafü1ch v. 25. 3. 1813, in: Dokumente zur deutschen Verfassungs-

geschichte, hg. v. ERNST RUDOLF HUBER, Bd. 1, 2. Aufi. (Stuttgart 1961), 72.
544 TH. KÖRNER, Brief an den Vater v. 10. 3. 1813, Werke, hg. v. Hans Zimmer, Bd. 1

(Leipzig, Wien o. J.), 15.


5 45 WIRTH, Polit. Reform (s. Anm. 489), 45; SCHULZ, Einheit (s. Anm. 478), 6.
546 BöRNE, Der Vorstand der Frankfurter Judengemeinde an die Vorsteher des „Deutschen

Preßvereins" in Zweibrücken, Briefe aus Paris (1833), Nr. 78, Ges. Sehr. (s. Anm. 478),
Bd. 11 (1862), 34.
547 BLUM (1852), 369, Art. Freiheit.
548 STAMMLER, Freiheitskrieg (s. Anm. 538), 157 f., Anm. 44-67.
549 FR.t1.NZ SCHNABEL, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 2. Aufl., Bd. 2

(Freiburg 1949), 216.

505
Freiheit Vll. 4. lt'reiheit - Einheit der Nation

jener Staaten, die seinem Verfassungsgebot Folge zu leisten bereit waren, den neuer-
dings vorwiegend mit der Gesamtnation verbundenen Freiheitsbegriff auf die „land-
ständischen Verfassungen" zu beschränken. Noch vor Abschluß des Wiener Kon-
gresses knüpfte DAHLMANN an den von Humboldt und Stein vertretenen Gedanken
an, daß man eine Verfassung nicht einfach schaffen könne. Hinsichtlich der ange-
stammten Dynastien seien alte Rechte, an die teuersten Erinnerungen geknüpft, zu
beachten; darüber dürfe man natürlich nicht vergessen, daß das Volk endlich einmal
die Früchte seiner Arbeit in Frieden, und was den Frieden allein verbürgt, in gesetzli-
cher Freiheit ernten möchte 550. Anläßlich der Schlacht bei Waterloo transponierte
er sogar die Einheitsidee selbst auf den Kampf um landständische Repräsentation:
Die deutschen Stämme, wie zersplittert sie auch dastehn, sind sich einig geworden in
den Hauptsachen, in der gemeinsamen Behauptung der Freiheit, der Volkstümlichkeit
und des Rechts 551 • Der süddeutsche Konstitutionalismus repräsentierte in der Folge-
zeiL in erster Linie den partikularstaatlichen Freiheitsbegriff. RoTTECK begrüßte
1818 die badi~che Verfassung, weil die verfassungsmäßige Freiheit dem teutschen
Patrioten für die verlorene Einheit Ersatz bieten werde, und 1819 setzte er der wahren
Volksrepräsentation die wahre Freiheit gleich55 2 •
Diese Deutung wurde vor allem von der Heiligen Allianz in Frage gestellt. Das von
ihr begründete konservative Interventionsprinzip bedrohte die Durchsetzung des
konstitutionellen Freiheitsbegriffs und ließ seine Anhänger nach einer Lösung auf
höherer Ebene suchen. Die Möglichkeit, daß ein Volk Freiheiten und Rechte, die es im
Innern errungen, von außen durch die Maßregeln fremder Höfe.· .. zurückgeben mjj,ßte
... , kann keinem Volke gleichg11ltig sein. So gelangte FRIEDRICH GoTTLIEB WELCKER
zu der Forderung, J1uroh d'ie Nat,imt 11elber müsse 'irn, gle'iolten Verltältnis ein Deutsch-
land aufgerichtet werden wie der Untertanen Freiheit und Recht 553 • Das war letztlich
Hochverrat, vor dem die Liberalen naturgemäß zurückschreckten. Die äußerst
behutsamen Formulierungen der offiziellen Wartburg-Resolution boten denn auch
den um das Wiederaufleben der Revolution besorgten Mächten keine Möglichkeit
des Eingreifens, um so mehr aber dann das Attentat SANDS, der damit der ( deut-
schen) Freiheit eine Gasse zu bahnen wähnte 554 . Besonders in den Randgruppen der
Burschenschaft war das Erbe der Verbindung von Freiheits- und Einheitsbegriff
gehütet worden; sie selbst bildete ein freies, republikanisches Gemeinwesen, ihre
Mitglieder hatten· den Wunsch, im Staat ein ähnlich freies Gesamtwesen zu begrün-
den555.

HO DAHLMANN, Ein Wort über Verfassung (s. Anm. 508), auf. aa.
551 Ders„ Rede zur Feier des Siegs vom 18. Junius 1815 (7. 7. 1815), Kl. Sehr. (s. Anm. 508),
5f.
552 So HERMANN v. RoTTEOK in der Biogmphic seines Vaters in dessen Ces. u. nachgel.
Sehr„ Bd. 4 (Pforzheim 1843), 255; CARL v. ROTTECK, Ideen über Landstände.(Karlsruhe
1819), 79. .
553 F. G. WELOKER, Über die Zukunft Deutschlands (1816), in: ders„ Von ständischer Ver-

fassung und über Deutschlands Zukunft (s. Anm. 539), 26. 45.
554 Eintrag SANDS ins Stammbuch der Wartburg auf der Reise nach Man:riheim, zit. GÜN-

TER STEIGER, Aufbruch. Wartburgfest und Urburschenschaft (Leipzig 1967), 185.


555 JOHANNES W1T GEN. v. DoERRING, Fragmente aus meinem Leben und meiner Zeit,

Bd. 3/1 (Leipzig 1830), 166. Das Zitat stammt von 1819.

506
VII. 4. Freiheit - Einheit der Nation Freiheit

Damit man weiterhin von der Einheit Deutschlands sprechen konnte, ohne zugleich
der Revolution das Wort zu reden, betonten besonnenere Kräfte den Begriff der
gesetzlichen Freiheit. Das erwies sich nach der Julirevolution als besonders nötig.
WILHELM SCHULZ ermahnte 1832 seine Leser, im Interesse eines deutschen Natio-
nalstaates sei jeder in seinem Kreise berufen, mit den Waffen des Geistes ausgerüstet,
auf gesetzlicher Bahn unermüdet voranzudringen656 • Mit dieser Wendungwarder libera-
le Freiheitsbegriff fertig ausgebildet: politisch entschärft, drohte er seinen Vorrang
einzubüßen. RoTTEOK, der die Einheit weder um den Preis eines Krieges gegen das
liberale Bürgerkönigtum noch um den der Nivellierung verfassungsmäßiger Rechte
auf der Ebene der konstitutionell rückständigsten Staaten Deutschlands wünschte,
gelangte auf dem Fest zu Badenweiler am 11. 6. 1832 zu der klassisch werdenden
Formulierung: Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit und will lieber Frei-
heit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit 657 •
BöR'.NE bemerkte dazu, auch die Freiheit müsse ihre Jesuiten habenr.ua, denn er hatte
die seit SoHuLz 659 nicht abgebrochene Notwehrargumentation umgedreht und be-
hauptete seit der Julirevolution, man könne für die Freiheit gar nichts Vernünfti-
geres tun, als die Tyrannen herauszufordern, zu reizen. Dahinter stand die Vorstel-
lung, du..ß Freiheit ohne Einheit schutzlos soi: DifJ R1Jgi1Jrung1Jn 1Jrfind(Jn oinfJ badi6oh1J,
eine württembergische, eine Darmstiidter Freiheit, damit nur keine deutsche sich bilde
... Mit diesen kleinen Freiheitchen werde man um so leichter fertig 1180 • Der radikale
Einheitsbegriff unterschied sich vom liberalen durch sein Mißtrauen in die von oben
gewährte konstitutionelle Freiheit, die ein einziger Hauch des Despotismus wegweht,
die daher nichts anderes als ein Feigenblatt der Regierungen, eine konstitutionelle
Lüge sei 661 • Dieses Mißtrauen förderte das demokratische Verständnis des Einheits-
begriffs der Radikalen, und damit war die in der Metaphorik bereits verdeutlichte
Verbindung zu den einstigen Jakobinern hergestellt. Von der begeisternden Idee
der Nationalität, der Volksherrlichkeit sagte der Student BRÜGGEMANN auf dem Ham-
bacher Fest, sie schließe Freiheit und Gleichheit notwendig schon ein 662 • WmMANN
schloß dort seine Rede mit der Überzeugung, daß die Begründung eines glücklichen
materiellen Wohlstandes und einer volkstümlichen Sittlichkeit bedingt sei durch die
politische Freiheit, durch die Freiheit Deutschlands in föderativer republikanischer
Verfassung. Hoch lebe die Freiheit und Einheit Deutschlands in dieser demokratischen

566 SCHULZ, Einheit (s. Anm. 478), 242.


667 II. v. RoTTEOK, Biugi·avhie (l:l. Anm. 552), 400.
558 Ebd., 392, Anm. 1.
669 Solang es nun in Ordnung, Ruh' und Frieden geschehen lcann, soll lceiner mit Fäusten

dreinschlagen, wie's die Franzosen gemacht haben; [WJLHELM SCHULZ], Frag- und Antwort-
büchlein über allerlei, was im deutschen Vaterlande besonders nottut (Deutschland
[= Darmstadt] 1819), 14.
buu HÖRNE, Briefe aus l'aris (1833), .Nr. 77, Ges. 8chT., Hd; 11 (s. Anm. 478), 31.
561 Brief SIEBENPFEIFFERS an Rotteck v. 15. 5. 1832, zit. H. v. RoTTECK, Biographie, 387;

ders. im „Westboten" (Ende 1831), zit. ALFRED STERN, Geschichte Europas, Bd. 4 (Stutt-
gart, Berlin 1905), 312. .
562 BRÜGGEMANN, zit. WIRTH, Nationalfest (s. Anm. 491), 78.

507
Freiheit VIl. 4. Freiheit - Eluhelt der Nation

Verfassung/ 663 • Folgerichtig ertönte der Ruf: Weg mit den Konstitutionen/56 4 • Auch
später beharrten die in den Untergrund gedrängten Republikaner auf der Über-
legenheit ihrer Konzeption. Rückblickend sagte WIRTH, er habe schon 1832 die
deutsche Republik . . . in Einheit und in Unteilbarkeit gewollt, weil in ihr allein Ge-
rechtigkeit und Freiheit möglich sei 665 •
Das neue demokratisch-republikanische Freiheitsverständnis, das sich in den dreißi-
ger und vierziger Jahren bei „Radikalen" und Frühsozialisten, so auch in den Aus-
landsvereinen der Handwerksgesellen ausbreitete, steigerte in revolutionärer Weise
die der frühen deutschen Nationalbewegung eigene Verbindung von weltbürgerli-
chem und nationalem Bewußtsein. WILHELM WEITLING z.B. schloß sein gegen fran-
zösische Fremdherrschaft gerichtetes Lied vom „deutschen Rhein" (1840 oder.1841)
mit der Strophe:
Einst wird auf seinen Rebenhöh' n
Man unser stolzes Banner seh'n.
Der Menschheit Banner soll es sein,
Das sich erhebt am deutschen Rhein!
Dann stimmen alle Völker ein:
Wir machen's auch, wie die am Rhein!
Am Rhf:in, am, Rhf:1:n, mn df/llür,h,f;n Rhf:in;
Soll alles Freund und Bruder sein 566 •
Wenn Weitling der Freiheit Saaten herrlich blühen sieht, so sind damit untrennbar
sowohl die national-deutsche Freiheit wie im Rheinlied Beckers als auch -- im
Goi11to rlor „ VP.rhriirlfwnng" (-+ "Rriirlerli11h keit,) - rlie freiwerdende und vereinte
Menschheit gemeint. Im Begriff der Weltverbrüderung lag allerdings die Überwin-
dung, mindestens aber die Rückstufung der Nationalfreiheit beschlossen. So ver-
trat etwa AUGUST BECKER schon 1844 einen proletarischen lnternationalismus und
erkannte die Befreiung der Menschheit darin, daß die Freiheit, die wir wollen, nicht
etwa die deutsche oder französische oder nordamerikanische, sondern die wirkliche
menschliche Freiheit ist, obwohl er aus praktischen Überlegungen als Deutscher
seine Politik auf Deutschland beschränkte 667 • In der Revolution von 1848 gipfelten
die Hoffnungen der Radikalen und der Sozialisten auf die Verwirklichung von na-
tionaler und iihP.rnational-menschlicher Freiheit. Die deutsche Republik sollte in
diesem Zielzusammenhang stehen. FREILICRATH dichtete:
Die Freiheit ist die Nation,
Ist aller glm:ch Gebieten!
Die Freiheit ist die Auktion ·

563 Ebd., 92.


564 Zitat bei STERN, Geschichte Europas, 316 aus der Rede des Advokaten liALLAUER aus
St. Wendel, die wegen ihres gefährlichen Inhalts von Wirth nicht in seine Sammlung auf-
genommen worden ist.
56o WIRTH, Richtung (s. Anm. 505), 222.
566 WoLFGANG ScmEDER, Wilhelm Weitling und die deutsche politische Handwerkerlyrik

im Vormärz, Internat. Rev. of Social History 5 (1960), 281 f.


567 AUGUST BECKER, Was wollen die Kommunisten? (1844), in: Die frühen Sozialisten, hg.

v. FRITs KooL u. WERNER KRAUSE (Olten, Freiburg 1967), 488;

508
VII. 4. Freiheit - Einheit der Nation Freiheit

Von dreißig Fürstenhüten!


Die Freiheit ist die Republik!
Und abermals: die Republik/ 668
In dieser formelhaften Verdichtung wirkte der demokratische Freiheitsbegriff
1848 und noch einmal in den sechziger Jahren, ohne daß der Begriff in die Wirklich-
keit übertragen werden konnte.
In der Revolution von 1848 wurde die Problematik der Nationalfreiheit aber nicht
nur in der Einheits- und Verfassungsfrage, sondern auch im Nationalitätenkonflikt
deutlich. Dabei trat die innere Widersprüchlichkeit des Begriffs der Nationalfreiheit
zutage: entweder Freiheit, soweit die Macht reicht, zur Befriedigung selbstgerechter
nationaler Ansprüche, oder Anerkennung des Prinzips der Gegenseitigkeit mit der
Folge, die Rechte oder Ziele auch der anderen, konkurrierenden Nationen anzuer-
kennen und mit den eigenen vereinbarend abzustimmen. Schon 1832 hatte WIRTH
die europäische Spannung durch ein Gleichgewichtssystem abbauen zu können ge-
meint, das nicht die Monarchien, sondern die reine Vollcsfrciheit nach dem Prinzipe
de1· Fi·eiheit und dor Identität der Interessen organisieren sollte. Aber noch im 1mlh1m
Atemzuge hatte er die· natürlichen Grenzen verlangt, d. h. ein Gebiet, soweit die
/:)prache und die Sympathie der Nationalität reichen. Es stand auch bei den Vülkern
di'.e Ehre noch. ilbP.r ilP-r FrP.ihm:t 569 • So gefährdete die Dynamik nationaler Demokratie
die erhoffte Harmonie eines demokratischen „Völkerfrühlings". In der Frankfurter
Nationalversammlung zeigte sich, daß die gegenläufigen Tendenzen nicht zu harmo-
nisieren wamn, vor allem in der Debatte um den Antrag Mareks, betreffend die
Rechte der deutschen Staatsbürger, und in der großen Polendebatte. Der Verfassungs-
ausschuß suchte mit der von DAHLMANN vorgetragenen Formel, das fortan e·in·ige
und freie Deutschland sei groß und mächtig genug, um den in sei,nem Schoße erwachse-
nen andersredenden Stämmen eifersuchtslos in vollem Maße gewähren zu können, was
Natur und Geschichte ihnen zuspricht 570 , einen Freiheitsbegriff zu konstituieren, der
Entnationalisierung und damit Verletzung nationaler Freiheit ausschließen sollte.
Diese Formel klang versöhnlich, war aber in ihrer Allgemeinheit unbrauchbar, wenn
es in harter Auseinandersetzung um klare Regelungen ging. Sie reichte ganz und
gar nicht aus, wenn eine fremde Nation ihrerseits Nationalstaatsansprüche stellte.
So war der demokratische Abgeordnete JORDAN r.war bereit, den Polen zuzuge-
stehen, was „Natur und Geschichte", wie er es ven;Laml, ilrneu :wsvrach; denn das
polnifmhe (Rauern-)Volk war unter polnischer Adelsherrschaft unfrei gewesen, vom
preußischen Staat in seinen Grenzen aber durch die Bauernbefreiung freigemacht
worden. Aber eine Wiederherstellung Poleus lehuLe Jordan ab. Er begrüudeLe dies
imwohl mit „Geschichte", ,,Kultur" und „Fortschritt" wie mit einem gesunden

688 FERDINAND FREILIGRATH, Die J!'reiheit ist die Republik, in: ÜBERMANN, Einheit (s.
Anm. 487), 265 f.
589 WmTH, Polit. Reform (s. Anm. 489), 35 f. 38.
570 RA<lfl DAHLMANNS am 31. 5. 48, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 1, 183. NEUWALL rief

den Böhmen zu., sie sollten erkennen, daß für jeden freigesinnten Bewohner, was er immer für
eine Sprache reden mag, die deutsche Einigkeit, die deutsche Freiheit das Wünschenswer-
teste ist; ebd., 214 (5. 6. 1848).

509
F1·eiheit VIl. 4.. Freiheit - Einheit der Nation

Volksegoismus. Während Ruge vom großen Anstoß zur politischen Freiheit sprach,
der für alle Völker gekommen sei, faßte Jordan zusammen: Freiheit für alle, aber des
Vaterlandes Kraft und Wohlfahrt über alles 571 •
Demgegenüber erklärte sich die Mehrheit der „Linken" für die harmonisierende
Auslegung des Begriffs demokratisch verstandener Nationalfreiheit. RuGE vertrat
die These von der Unteilbarkeit der Freiheit: Deutschland muß die Polen, die es in
seiner Gewalt. hat, emanzipieren ... , weil Europa nicht frei ist, solange die Tyrannei in
Europa noch eine Macht und noch eine historische Geltung hat ... Es würde nichts
nützen, wenn wir hier unsere Freiheit feststellten, diese Politik wäre unedel, sie wäre
reaktionär 572 • Er wollte das neue Völkerrecht gründen, das allenthalben der Volks-
freiheit dienen sollte573.
MARX und ENGELS teilten 1848 und auch später nicht die Idee der Gleichberechti-
gung aller Nationen und Nationalitäten, sondern setzten dagegen das Nahziel eines
Europa der „historischen" Nationen. Sie funktfonalisierten den Begriff der ]'reiheit
der Nation im Zusammenhang ihres Begriffs d!)r Geschichte. Nur weltgeschichtlich
große Nationen sollten im historischen Prozeß Bestand haben, nicht aber kleine,
bereits überholte Völkerschaften oder Nationalitäten, auf die als solche „Freiheit"
nicht mehr bezogen werden konnte. Aber auch die großen Nationen wie Deutsche
und Polen sollten Nationalfreiheit nicht als obersten und beständigen Eigenwert
besitzen; sie sollten vielmehr als staatsnationale Einheiten die supranationale Revo-
lution des Proletariats befördern helfen, die den Weg zur allgemeinen menschlichen
Frt'liheit eröffnen sollte 574 • LASSALLE verband mit seinem unbedingten Ziel der
deutschen Einheit die auf Hegel zurückgehende Auffassung, zu höherer Freiheit ge-
langte Vülker besäßen ein höheres Recht gegenüber anderen575 •
Für den maßgeblich werdenden Teil des bürgerlichen Liberalismus ve1for fler poli-
tische Freiheitsbegriff durch die Abhängigkeit vom Ziel der nationalen Einheit seine
Fülle und Absolutheit. DROYSENS Überzeugung (1848), es komme so sehr ... auf
Macht und nur auf Macht an, daß selbst die Freiheit wertlos ist ohne sie 576, prägte sich
nach dem Scheitern der Nationalversammlung und dem Erlebnis der Machtlosigkeit
den Liberalen ein. Im Zeichen der „Realpolitik" lebte der vormärzliche Streit um
den Vorrang von Einheit oder Freiheit wieder auf, in dem PFIZER schon 1832 im

671 Rede WILHELM JORDANS am 25. 7,. 1848, Sten. Ber. Dt. NationoJvcrs„ Bd. 2 (1848),
1145. 1151.
u7Z RuGE am 26. 7. 1848, ebd„ 1185 f. 1188.
673 Ebd„ 1186.

674 KARL MARX, Manuskripte über die polnische Frage (1863-1864), hg. u. eingeleitet v.

Werner Conze u. Dieter Hcrtz-Eichenrode (Den Haag 1961), Einleitung, 7 ff. ·


676 FERDINAND LASSALLE, Fichtes politisches Vermächtriis und die neueste Gegenwart

(1860), Ges. Red. u. Sehr„ Bd. 6 (1919), 75.


676 J. G. DROYSEN, Politische Schriften, hg. v. Felix Gilbert {München, Berlin 1933), 184.

lm folgenden Jahr, im Hinblick auf Rußland: Der Kampf ist nicht zu meiden; und ·mit die-
sem Kampf werden sich im Innern die Lehensform.P.n wahrhaft .<Jt.nn.tli.che.r Freihe.it griinden:;
ebd.; 228. Dazu GÜNTER BIRTSCH, Die Nation als sittliche Idee. Der Nationalstaatsbegriff
in Geschichtsschreibung und politischer Gedankenwelt bei Johann Gustav Droysen (Köln
1964).

510
VII. 4. Freiheit - Einheit der Nation Freiheit

Vertrauen auf den intelligenten Despotismus ersterer den Vorzug gegeben hatte 577 •
Doch haben sich die deutschen Liberalen den Verzicht auf die Durchsetzung i)lres
deutschlandpolitischen Freiheitsbegriffs nicht leicht gemacht. Im preußischen Ver-
fassungskonfilkt war selbst Droysen deprimiert, weil es in jedem Fall ... mit dem
preußischen Staat und mit der Freiheit zu Ende.sei578 • Erst 1866 kam die wirkliche
Wende, wie etwa BAUMGARTENS Selbstkritik des Liberalismus belegt, in der die For-
derung enthalten ist, das schwere Erbteil einer Vergangenheit, die ... einen zerrütteten
Staat und ein zerrissenes Vaterland hinterlassen hat, abzulegen, damit der Liberalis-
mus ... regierungsfähig werden könne 579 • Das Gründungsprogramm der National-
liberalen Partei vom Juni 1867 bekannte sich daher zu der Auffassung, man müsse
auf den gegebenen Grundlagen die Einheit Deutschlands zu Macht und Freiheit her-
stellen, erklärte es aber zu ihrem Wahlspruch: Der deutsche Staat und die deutsche
Freiheit müssen gleichzeitig mit denselben Mitteln errungen werden 580 •
Wenn ah!u seit 1866 die Formel „Freiheit vor Einheit" überwunden war und in
„Freiheit durch Einheit" ersetzt wurde, so war damit dem Ziel der Einheit der
Vorrang gegeben. RocHAU wertete 1869 das Wort: keine Einheit ohne Freiheit als ein
vollgültiges Zeugnis der politischen Unzurechnungsfähigkeit und meinte, bei der Wahl
zwisllhen llinheit ohne Freiheit und umgekehrt müßten wir gloiohwohl von Gott und
der gesunden Vernunfi verlassen sein, um nicht mit beiden Händen nach der Einheit zu
greifen, denn mit ihr wäre wenigstens die deutsche Zukunft yerettet 581 •
Für die Anhänger der kleindeutschen Reichsgründung schien 1871 in der Tat die
deutsche Zukunft gerettet zu sein. Die Begriffsverbindung von Freiheit und natio-
naler Einheit verlor ihre Aktualität. Die demokratische Deutung des Begrlfl's der
Nationalfreiheit lebte jedoch bei JinkRlih1m1.len Pa.rt.eien, vor allem aber bei der
Sozialdemokratie fort. Während der ADAV die Parole durch Einheit zur Freiheit
ausgab, dichtete LIEBKNECHT im Jahre 1868:
Durch Blut und Eisen eint man Knechte -
So sollen wir nur ewig steh'n!
Auf, laß uns, Gott der Menschenrechte,
Zur Einheit durch die Freiheit geh'n1ss2

5 77 Er fuhr fort: Ob größere persönliche Freiheit in den konatitutionellen deutschen fltaaü.n


uns zur Einheit führen werde, ist immerhin zweifelhaft. Nicht zu bezweifeln ist dagegen, riaß,
wenn einmal die Einheit vorhanden ist, die Freiheit, dieses heiligste Besitztum der Völker, rias
aber ohne die Kraft der Einigkeit niemals Bestand hat, nicht ausbleiben kann; PAUL ACHATIUS
PFl.zER, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus (Tübingen
1832), 8.
578 DROYSEN an Heinrich v. Sybel, 19. 10. 1863, Briefwechsel, hg. v. Rudolf Hübner, Bd. 2

(Berlin 1929), 813.


579 HERMANN BAUMGARTEN, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik (Oktober 1866),

in: Deutsche Parteiprogramme, hg. v. WILHELM MOMMSEN, 2. Aufl. (München 1960), 144 f.
5 80 Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei (1867), in: MoMMSEN, Parteipro-

gramme, 147 f. Nur um Nuancen unterscheiden sich davon in dieser Hinsicht die Äußerun-
gen des Mitbegründers der Volkspartei LEOPOLD SoNNEMANN 1848 in der Frankfurter Zei-
tung; vgl. Ku.us GERT111TS, T,eopolrl Aonnemann (Frankfurt 1970), 50 f,
58 1 LUDWIG AUGUST v. RocHAu, Grundsätze der Realpolitik (1869), hg. v. Hans-Ulrich

Wehler (Frankfurt, Berlin, Wien 1972), 252. 240 f. 242.


582 Zit. SusANNE MlLLER, Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat und

511
Freiheit VIl. 5. Fi-ellieil - Demokratie

Im Begriff des „ Volksstaates" wurde die auf 1848 zurückgehende demokratische


Beziehung von Demokratie und Nation als F~eiheitsverwirklichung im National-
staat programmatisch ausgedrückt.

5. Freiheit - Demokratie

Im Zeitalter der Französischen Revolution wurde der Demokratiebegriff nicht nur


auf die politische Alltagssprache ausgedehnt, er erweiterte auch seinen vordem nur
auf das Verfassungsrecht beschränkten Inhalt um eine gesellschaftliche und eine
geschichtsphilosophische Komponente 583 • Gegen die vielfach behauptete Verein
barkeit von monarchischer Herrschaftsform und demokratischer Regierungsweise
entwickelten die Jakobiner ihre Theorie von der notwendigen Übereinstimmung
beider Prinzipien, weil anders der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz durch
die größere Freiheit einer einzelnen Person verletzt würde. Ihnen genügte nichL
mehr die Identifikation von bürgerlicher und politischer Freiheit, unter der man
verstand, alles tun zu dürfen, was Gesetze, wozu Ihr selbst mitwirket, nicht verbieten 584 •
Vielmehr waren ein paar Jahre von Er/ahrung nötig, um die Franzosen zu lehren, daß
m:n Köri.1:(1 P.ine. giftige Pfia1nz.e a.itf dem Boden der Freiheit sei ••• Da fällto dao Gooctz
die Todesstrafe über ihn~ und Freiheit und Gleichheit hoben sich empor 585 •
Für die Bezeichnung des eigenen politischen Systems sLanden zwei Kqntrastbegriffe
zur Wahl: 'Demokratie' und 'Republik'. Obwohl die deutschen Jakobiner im Gegen-
satz zu Robespierre (Rede vom 5. Februar 1794) und Kant von der zweiten Mög-
lichkeit nur selten Gebrauch rrnwhten - die Ursache dafür war die herkömmliche
Erfassung der Freien Reichsstädte unter dieser Rubrik 586 - , kann auch von einer
signifikanten Häufung des Wortes 'Demokratie' keine Rede sein, da es sich als Ei-
genname eines bestimmten Staates wenig eignete. Die seit wenigen Jahrzehnten
übliche Übersetzung von 'Republik' mit 'Freistaat' bot hier einen Ausweg; die
offizielle Bezeichnung der Mainzer Republik lautete „Rheinisch-deutscher Frei-
staat".
Der Hinweis auf die in der Monarchie ausgeschlossene Gleichheit aller deutet auf die
neue soziale Komponente des Demokratiebegriffs. Noch vor dem Zugeständnis des
allgemeinen Wahlrechts in Frankreich rechnete GEORG WEDEKIND es 1792 zu den

Revolution in der Programmatik der· Sozialdemokratie von Lassalle bis zum Revisionismus-
streit, a. Aufi. (J!'rankfört 1964), 125. 127. Vgl. WERNER CoNZE/DIETER GROH, Die Arbei-
terbewegung in der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während und
nach der Reichsgründung (Stuttgart 1966).
583 __,. Demokratie, Bd. 1, 847 ff.
5 84 GEORG WEDEKIND, Drei Anreden an seine Mitbürger (27.-29. 10. 1792), in: TRÄGER,

Mainz (s. Anm. 402), 175.


68 5 ANTON JOSEPH DoRSCH, Rede zum 2. Todestag Ludwigs XVI. (21.1.1795), in: HANsEN,
Quellen (s. Anm. 461), Bd. 3, 363. Auch für LAUKHARD war es selbstverständlich, daß in
einem monarchischen Staate keine Freiheit stattfirulet; Leben und Schicksale (s. Anm. 471),
512.
5 86 So müßt ihr nun zwischen einem Republikaner urul einem Demokraten wohl unterscheiden .
.Auch der Nürnberger nennt sich, wie der demokratische Frankfurter, einen Republikaner,
obgleich die Republik Nürnberg ein aristokratischer Staat ist; G. WEDEKIND, Über die Re-
gierungsverfassungen (5. ll. 1792), in: TRÄGER, Mainz, 190.

512
VD. 5. Freiheit - Demokratie Freiheit

Hauptvorzügen der demokratischen Verfassung, daß hier vollkommene Freiheit als


Fol,ge der Souveränität des Volkes herrsche. In Demokratien aber gibt es keine Unter-
tanen, weil in ihnen jeder Einwohner ein Teil des souveränen Volkes ist und sowohl zu
der Abfassung wie zu der Ausübung der Gesetze seine Stimme geben kann 587 •
Diesem Konzept, Ausfluß der erst 1791 so formulierten Triade „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit", hielt KANT 1793 seine Formel „Freiheit, Gleichheit, Selbständig-
keit" entgegen, mit deren Hilfe er zwischen dem Menschen, den die Freiheit, dem
Untertan, den die Gleichheit, und dem Bürger, den die Selbständigkeit kennzeichne,
unterschied. Für Kant war es kein Widerspruch, daß dem Rechte nach ... als Un-
tertanen alle einander gleich sind, während er für den Bürger ( citoyen, d. i. Staatsbür-
ger .. .) als dazu erforderliche Qualität bestimmte, daß er sein eigener Herr (sui iuris)
sei, mithin irgendein Eigentum habe. Der Gleichheitsgrundsatz wurde hier auf dem
Umweg über die Chancengleichheit des Eigentumserwerbs wiederhergestellt, wes-
halb sich erbliche Privilegien verboten 588 • Unabhängig davon beharrte Kant aber
darauf, daß es aus dem natürlichen Rechte der Menschen heraus unter jeder Verfas-
sungsform geboten sei, daß die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt,
gesetzgebend sein sollen; daher bestehe für jeden Monarchen die Pflicht, republika-
nisch (nicht demokratisch) zu regieren, d. i. das Volk nach Prinzipien zu behandeln,
die dem Geist der Freiheitsgesetze ... gemäß sind5 89.
Bereits hier zeigt sich also, daß die Diskussion um die beste Staatsverfassung unter
der Frage abgehandelt werden konnte, in welchem Maße Freiheit und Demokratie
vereinbar waren. Das wurde auch nach der Überwindung der Revolution fortge-
setzt. Vom Beginn der Vcrfommngs11uscin11ndcrnctzung fosscn sich 11uch in Deutsch-
land Versuche einer Versöhnung der beiden Prinzipien feststellen. Unter dem Ein-
druck des jakobinischen Terrors wie auch der napoleonischen Diktatur wurde die
Idee des Rechtsstaats entwickelt, der nicht Unterdrücker der Freiheit des Menschen,
sondern ihr Befreier sei; ihm sei eine Repräsentation zwar angemessen, doch werde
die wahre Freiheit durch das Recht der Auswanderung, der Beschwerde, der Presse-
freiheit, durch freie Anerkennung aller objektiv gewordenen Rechtsgesetze und durch
ein aktives Widerstandsrecht gesichert 590 •
Die Verfechter einer politischen Freiheit des Volkes waren von vornherein gespalten.
Soweit sie die Freiheit in einem Spannungsverhältnis zur Demokratie sahen, suchten
sie diese im Interesse der Erhaltung jener auf dem Wege des Zensuswahlrechts zu
beschränken. Dabei führten entweder Gründe der Zweckmäßigkeit zur Ausschließung
von ganzen Klassen, die der Selbständigkeit des Lebensunterhalts ermangelten 591 ,
freilich mit der Maßgabe, die Bedingungen für das Stimmrecht so zu gestalten, daß

587 Ebd., 191.


588 KANT, Gemeinspruch (s. Anm. 406), 289 ff., bes. 290. 292. 295.
589 Ders., Der Streit der Fakultäten (1798), AA Bd. 7 (1907), 90 f.--+ Demokratie, Bd. 1,

850 ff.
590 ÜARL THEODOR WELCKER, Letzte Gründe von Recht, Staat w1d Strafe (Gießen 1813),

88. 95.
59 1 RoTTECK, Art. Census, ROTTECK/WELCKER Bd. 3 (1836), 373. 381. 377. Vgl. HEINZ

BOBERACH, Wahlrechtsfragen im Vormärz (Düsseldorf 1959); WALTER GAGEL, Die Wahl-


rechtsfrage in der Geschichte der deutschen liberalen Parteien 1848-1918 (Düsseldorf 1958).

33-90386/l 513
Freiheit VII. 5. Freiheit - Demokratie

sie jedem zugänglich sind. Das Wahlrecht darf kein Vorrecht sein 592 . Oder man ver-
band von vornherein mit dem Begriff der politischen Freiheit die Vorstellung von
Maß, von Größe, von Proportion, d. h. man faßte ihn als einen Verhältnisbegriff: auf,
der neben dem Rechtsanspruch des Bürgers auch den Machtanspruch des Staates
sichern sollte 593 . Auf diesem Wege gelangte DROYSEN zur königlichen Vollfreiheit
des sittlichen Menschen, die ihm das Maß war, an dem der Staat seine Macht, der Bür-
ger seine P-fiicht, die Geschichte ihr Urteil messe 594 . Als 1848 das allgemeine Wahlrecht
durchgesetzt· werden sollte, standen alle Kräfte, die gegen die Gleichheit der Frei-
heit595 waren, zusammen, um dieses Recht aus dem Katalog der Grundrechte her:
auszuhalten. WAITZ nannte als Begründung für den Beschluß des Verfassungsaus-
schusses, der das Wahlrecht nur für selbständige, unbescholtene Deutsche vorsah, das
politische Recht zähle mitnichten zum :ßereich der individuellen Freiheit, sondern das
Beste der Gesamtheit hab~ den Kreis der Träger dieses Rechts zu bestimmen596 •
MATHY stimmte bei; das Wahlrecht sei lcein natürliches Recht, kein Grundrecht, kein
allgemeines Staatsbürgerrecht; es sei darum nicht ein Recht, das jedem zustehen soll. Es
handelt sich bei der Abgabe der Stimme nicht um eine persönliche Befriedigung, sondern
es handelt sich um einen allgemeinen Staatszweck, und für diesen hat sich die Gesetz-
gebung noch überall das Recht vorbehalten, die Bedingungen festzusetzen 597 . Dem ent-
sprach es, wenn ScHEIDLER zur Abwehr der Forderung nach einer Republik fest-
ntellto, daß nach der neuesten Verfassungslehre die bürgerl-iclie 1"re·iheü als dfjr fotufj
und höch.~te Zweck, die politische nur als ein Mittel angesehen werden muß. Damit
schied eine Staatsform, die, wie die sogenannte Republik oder Demokratie, nur für die
rpolitischo Froihoit Borgt, aun, weil nie eine einseitige und ungenüge1ide ist 59 R.
Diese mittlere Linie des Ausgleichs zwischen 'Freiheit' und 'Demokratie' entging
nicht der Gefahr, von zwei Seiten her angegriffen zu werden. Von „rechts" wurde
ihr Sinn grundsätzlich in Frage gestellt. Die Vertreter der aufgeklärten Bürokratie
bezogen Nrnnmms Satz, daß die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf
der Verfassung ruhe, auf sich selbst und lehnten daher im Geiste der Verwaltungs-
freiheit die repräsentative Konstitution ab 599 • Für die romantischen Staatstheoreti-

692 KARL MATHY am 19. 2. 1849, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7, 5298.
693 Gl<lN'I'?., Fmyh11it (R. Anm. 4?.7), 179.
594 DROYSEN, Vorlesungen über die Freiheitskriege, Bd. 2 (Kiel 1846), 728 (Droysen zitiert

hier eingangs Fichte). Zum Problem von Staat, Macht und Freiheit bei Droysen vgl.
WOLFGANG HoCK, Liberales Denken im Zeitalter der Paulskirche. Droysen und die Frank-
furter Mitte (Münster 1957), 128 ff. und - diesen hinsichtlich der Kontinuität Droysen-
1mhen Denkens korrigierend - BmTSCII, Nation (s. Anm. 576), 61 :ff.
695 HANSEM.ANN, Denkschrift (s. Anm. 474), 224.
696 Rede GEORG W .AITZ' am 15. 2.1849, Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 7, 5226. 5222. Der

Entwurf des Art. 1, § 1 wurde nachher mit 422: 21 Stimmen abgelehnt.


6 9 7 Rede MATHYS, ebd„ 5297.
698 KARL HERMANN SCHEIDLER, Art. Freiheit, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 49 (1849), 45.
599 BARTHOLD GEORG NIEBUHR, Vurreue :w: LuDww FK!i. v. V1.NUK1'l, Darstellung der

innem Verwaltung Großbritanniens (Berlin 1815), III. VII. Nach KosELLECK; Preußen
(s. Anm. 503), 217 hatte Vincke mit diesem Begriff das Ideal des englischen „Selfgovern-
ment" übersetzt, für das es wohl kein deutsches Wort gab; er sollte also gerade nicht die
preußische Behördenverfassung treffen. Ende Januar 1817 lehnte MoNTGEL.AS, der dadurch

514
VII. 5. Freibeil - Dewulu·alie Freiheit

ker, die ihren Freiheitsbegriff aus den Verhältnissen der altständischen Gesellschaft
ableiteten, stellte sich auch diese Alternative nicht. Für sie gab es keine Freiheit
ohne Gegenfreiheit, aus deren unendlichem Streite die für das Gerneinwesei1 besten
Resultate hervorgingen 600 • Die Legitimisten der Restauration schließlich gingen von
der Feststellung aus, daß die Freiheit ... gewissermaßen stets nur ein Geschenk der
Könige war 601 ; daraus ergab sich die Tugend der Freiheit in Ergebenheit 662 • Alle
anderen Vorstellungen, wie etwa die der Burschenschaft, bezeichnete der preußische
Außenminister GRAF BERNSTORFF als ein Phantom, das sie Freiheit nennen. Zur
umstrittenen 'Definition des Artikels 13 der Wiener Bundesakte sagte er, Deutsch-
lands Fürsten haben nie gewollt, ... ihren Völkern eine Repräsentation im neuern Sinn
des Wortes zu geben, die nur die Demokratie in die Monarchie einführen würde 603 •
Das Gegenstück zu diesen das monarchische Prinzip begünstigenden Ordnungsvor-
stellungen bildeten diejenigen Verfassungslehren, die ihren Freiheitsbegriff mit ei-
nem mehr oder minder egalitären Akzent versahen. Solange die Hoffnung auf. ein
Entgegenkommen der Monarchen bestand, war es naheliegend, die Sicherung der
Freiheit im Rahmen eines Ausgleichs mit ihren Ansprüchen zu versuchen. Neben
ARNDT6 64 war es vor allem GöRRES, der sich um die Vereinbarkeit von monarchi-
schem und demokratischem Prinzip bemühte. Dieil war ihm die Lehre der jüngilten
Vergangenheit; die Völker haben aus dem Taumelbecher französischer Freiheit ge-
trunken, die Fürsten im Scmerlingstranke von Napoleons Despotism sich betltubt und
beide in der Anarchie ihre Freiheit zu begründen geglaubt. Jetzt mögen beide die harte
Lehre ... nie wieder vergessen, daß die Freiheit der Völker in der Freiheit der Fürsten
ihre Schranke findet und umgekehrt 605 • Auch die Bur~chenschaft bemühte sich an-
fangs um eine demokratisch verstandene Freiheit innerhalb der Monarchie. Sie
tastete die Fürstenwürde als das Erhabenste auf Erden nicht an und interpretierte den
von der Bundesakte gebrauchten Ausdruck 'landständisch' als den Grundsatz; daß
jeder, von welchem der Staat Bürgerpfiichten fordert, ... auch Bürgerrechte haben
müsse 606 •
Mit den Ereignissen im Umkreis der Karlsbader Beschlüsse war diesen Versuchen

seinen Sturz herbeiführte, eine bayerische Verfassung ab mit dem Argument: Denn alle
Welt bedarf der büruerlichen .Freilu>.it, abP.r wiP. wP.niu M erMchfm, yibt P.~ in P.inP.m Rtaate, welche
die Rechte der politi8chen Freiheit genießen, ja selbst nur verstehen können; zit. MAX DoE-
BERL, Entwickelungsgeschichte Bayerns, Bd. 2 (München 1912), 475.
800 ADAM MüLLJlllt, Die Elemente der Staatskunst (1809; Ausg. Meersburg, Lelp:t.ig

1936), 85.
9 o1 JOSEPH DE MilsTRE, Considerations sur la France (1796), zit. RUDOLF v. ALBERTINI,

Freiheit und Demokratie in Frankreieh (Freiburg, München 1957), 87.


602 AcHIM v. ARNIM, Stiftungslied (der 1811 gegründeten „Deutt!lchen Til!lchgeeellschaft"),

Werke, hg. v. Reinhold Steig; Bd. 3 (Leipzig 1911), 420.


603 BERNSTORFF, Zirkularschreiben (s. Anm. 506), 95.
60 4 ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814), Werke, Bd. 13,

197 :ff.; - Demokratie, Bd. 1, 87 4 f.


8 05 JOSEPH GöRRES, Die künftige teutsche Verfassung Rhein. Merkur, Nr. 104 v.18. 8.1814,

Bl. 2, Ges. Sehr., Bd. 6-8 (1928), o. S., - Demokratie, Bd. 1, 874 f.
80 6 Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktobers (1817), Nr. 15. 24 f., zit. HANS EHREN-
TREICH, Heinrich Luden und sein Einfluß auf die Burschenschaft, in: Quellen und Darstellun-
gen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, hg. v. HER-
MAN HAUPT, Bd. 4 (Heidelberg 1913), 120. 122 f.

515
Freiheit VII. 5. Freiheit - Demokratie

der Boden entzogen. KARL FoLLEN, Anführer der „Gießener Schwarzen", der schon
seit einiger Zeit das Allerbeste und Allerschönste, nämlich die republikanische Freiheit
und Gleiclilieit, anstrebte 607 , weissagte Deutschlaml eine blutige Zukunft, da nun-
mehr Prinzip gegen Prinzip (also das republikanische gegen das monarchische)
stünde 6 os. Damit wurde der demokratische Freiheitsbegriff zwangsläufig ins Revo-
lutionäre und Konspirative abgedrängt. Sollte er für die öffentliche politische Dis-
kussion wieder brauchbar gemacht werden, so mußte er von eben diesem Beige-
schmack befreit werden. Angesichts des in der Wiener Schlußakte von 1820 veran-
kerten monarchischen Prinzips (Art. 57 f.) war solchen Versuchen kein Erfolg be-
schieden. Obschon nach der Julirevolution die Wortführer des Prinzips der wahren
V olksfreiheit 669 versicherten, die Wiedergeburt Deutschlands . . . im demokratischen
Sinne, auf gesetzmäßigem W ege 616 herbeiführen zu wollen, war im Kreise der „ent-
schiedenen Patrioten" die Unterstützung der Monarchie nur noch ein Lippenbe-
kenntnis; hier waren 'Freiheit' und 'Republik' untrennbar vereinigt. WIRTH ver-
langte 1832 mit einem Worte: Freiheit, volle Freiheit, nach Art der nordamerikanischen
Freistaaten und Anerkennung der V olkssouveränität611 , ihm war reine Volksfreiheit
und Fürstenherrschaft ... unvereinbarlich612 • .Ähnliches klang in einigen Reden auf
rfom H A.m haeher. Fei>t durc.h, wo SIEBENl'FEIFFER von der Erstrebung gesetzliohor Frei
heit, Wirth von der Grundreform Deutschlands auf gesetzlichem Wege sprach, beide da-
bei aber dui; Pr,inZ'ip der 'unbedingten Volkssouvertlnittlt als Ziel setzten, unter der BRüG-
GEMANN die Verbindung von Freiheit und Gle,ichheit verstand, die ganz Europa zu
Freistaaten gestalten werde, während WmMANN die politische Freiheit ... d?:e Freiheit
Deutsckkmds ·in /üdemt,iver rezmhl,ik:wn„1:.~oher Verfass'ung als Vorbedingung von Wohl-
stand und Sittlichkeit ansah und ein Hoch auf die Fre-ilieü 'ttnd E'inheit Deut8ch-
lands in dieser demokratischen Verfassung ausbrachte 613 •
Neben der rein politischen Komponente des demokratischen Freiheitsbegriffs bil-
dete sich Anfang der dreißiger Jahre die soziale, die vom deutschen sozial-demo-
kratischen Radikalismus im Ausland, vornehmlich in Paris, entwickelt worden ist.
Ausgehend von dem Mißtrauen gegenüber der Allheilkraft der bloß politischen Frei-
heit führte SCHUSTER 1834 im „Geächteten" aus, daß es politische Freiheit nicht
ohne gesellschaftliche Gleichheit geben könne, nicht ohne Freiheit in der sozialen
Bede'utung des W orts 614 • Doch ebensowenig wie die bürgerlichen Demokraten jener

607 Zit. HERMANN HAUPT, Kad Folien wul die Gießener Schwarzen, in: Mitt. d. Oberhessi-

schen Geschichtsvereins, NF Hi (1907), 126.


608 FoLLEN, Bericht über die revolutionäre Stimmung Deutschlande (1819), zit. WIT, Frag-

mente (s. Anm. 555), 200. Follens radikalere Zweitfassung der „Grundzüge für eine künftige
doutßohc Reichsverfassung" (Sommer 1818) findet sich 1ei CAitL ERNST JARCJKJ!J, Cad Lull-
wig Sand (Berlin 1831), 88 ff.
609 WIBTH, Polit. Reform (s. Anm. 489), •3.
6lO Ders., Deutschlands Pflichten, Dt. Tribüne, Nr. 29 (3. 2. 1832), 228.
611 Ders., Wiedergeburt des Vaterlandes. Ein Wort an die Fürsten Deutschlands, ebd.,

Nr. 33 (7. 2. l832), 259.


612 Ders., Polit. Reform, 29; ebd., 34 wiederholte er: Ein zivilisiertes Volk muß die Repu-

blik haben. Es kann bei einer andern Verfassung so wenig existieren als der Fisch ohne Wasser.
613 Zit. ders., Nationalfest (s. Anm. 491), 5. 99 f. 4. 78. 92.
614 Zit. WOLFGANG ScmEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung (Stuttgart 1963),

194. Zur Gesamtproblematik der 'sozialen Freiheit' s. u. S. 95 ff.

516
VII. 5. Freiheit - Demokratie Freiheit

Zeit besaßen diese Handwerker - jedenfalls in ihrer Mehrzahl - revolutionäre


Absichten im Sinne einer direkten Aktion, ja gerade bei ihnen ging das Vertrauen
in die selbstwirkende Kraft der Freiheit so weit, daß sie sogar bei der Einführung
der Gütergemeinschaft auf den demokratischen Weg nicht verzichten mochten,
weil es ohne die freie Zustimmung der Mehrheit keine wahre Freiheit gibt 615 •
In diesen beiden Ausprägungen, der rein politischen und der sozialen, verfestigte
sich in. Deutschland der demokratische Freiheitsbegriff, der sich zunehmend von
seinem liberalen Gegenstück entfernte. Wohl blieben die Grenzen fließend, so daß
eine so vielfältig ausdeutbare Formel wie die FREILIGRATHS vom März 1848 616 von
Demokraten jeder Spielart akzeptiert werden konnte, aber gerade diese Gemein-
samkeit hat die dauerhafte Ächtung des demokratischen Freiheitsbegriffs in
Deutschland noch verstärkt. Viele sahen, wie JAHN, links von sich nur noch Ma-
chenschaften der mord- und brandroten Freiheits-Allemender 617 • Die nach dem
Scheitern unternommenen Versuche der Demokraten, ihr Endziel durch die Wahl
unverfänglicher Worte wie „Freiheit im vollsten Wortsinne" zu verschleiern 618 , belegen
nur die Aussichtslosigkeit einer Rehabilitation demokratischer Ideen. So traten
nach 1848 der rein politische und der soziale Freiheitsbegriff wieder auseinander.
Wii.hnmd die Programme der bürgerlichen Parteien619 jeden Zusammenhang von
'Freiheit' und 'Demokratie' vermieden, machte die wieder erstarkende Arbeiter-
bewegung 'soziale Demokratie' zum Parteibegriff6 20 • Die deutsche Arbeiterbewe-
gung verstand sich als alleinige Hüterin der freiheiLlichen Tradition oder, wie
WILHELM LIEBKNECHT sich noch 1865 ausdrückte, mit Recht als die Trägerin der
liberalen Idee 8 ?. 1 •
Die in Deutschland nach 1818 beherrschende Vorstellung von politischer Freiheit
war geprägt vom Versuch des Ausgleichs zwischen individuellem und allgemeinem
Freiheitsanspruch, dessen unterschiedliche Schattierungen in der Bejahung der
konstitutionellen Monarchie übereinstimmten. Einig war man sich, daß in der

815 ETIENNE ÜABET, Credo communiate (1841; dt. 1842), in: KooL/KRAUSE, Frühe Soziali-
sten (s. Anm. 567), 343.
618 s. Anm. 568.
817 FRIEDRICH Lunw. JAHN an einen Freund, wahrscheinlich vom 13. 9. 1848, in: Die

Briefe, hg. v. Wolfgang Meyer (Dresden 1930), 463.


618 So die satirische, aber zutreffende Formulicrling eines unter Pseudonym schreibenden

Konterrevolutionärs: JAKOB RADIKE, Lehrbuch der Demagogie (Leipzig 1849), 39, zit.
WALTHER DIECKMANN, Information oder Überredung. Zum Wortgebrauch der politischen
Werbw1g in Deutschland seit der Französischen Revolution (Marburg 1964), 124, Anm. 253.
Das „Demokratisohe Central-Comit8 für die Wahlen zur konstituierenden Versammlung"
forderte am 4. 4. 1848: Was die Staatsform betrifft, so muß es allen denkenden Männern ein-
leuchten, daß nur die freieste uns in den Besitz der bezeichneten 13 Forderungen des Volks zu
setzen ... vermag; Flugblätter der Revolution 1848/49, hg. v. KARL ÜBERMANN (München
1972), 122.
819 Im Gründungsprogramm der Deutschen Fortschrittspartei taucht 'Freiheit' nur im

zu~ammenhang miL <lern Ver·ein~rnchL auf; MoMMSEN, Pal'Leipl'Ugramme <~· Anm. U79),
132 ff.
820 -+- Demokratie, Bd. 1, 886 ff.
821 LIEBKNECHT, Rede vor dem Berliner Buchdruckergehilfenverband, 28. 2. 1865, zit.

Mn.LER, Problem der Freiheit (s. Anm. 582), 85.

517
Freiheit VII. 5. Freiheit - Demokratie

Republik keineswegs mehr politische Freihe# als in der Monarchie herrsche 622 , und
beklagte darum vielfach die leidige Volkssouveränität 623 • Je nachhaltiger der Demo-
kratiebegriff aus dem politischen Zielkatalog der Liberalen entfernt wurde, desto
intensiver bemühte man sich um den Nachweis, daß gerade dadurch die Freiheit
gerettet werde. Man beschritt also nicht den .von TocQUEVILLE vorgezeichneten
Weg, der sich gegen die tyrannie des Cesars und damit zwangsläufig für die liberte
democratique entschieden und den einzigen Ausweg in der Ausdehnung der institu-
tions democratiques, d. h. der die Freiheit sichernden Gesetze, und der Erziehung des
Volks zum Gebrauche der Freiheit, d. h. der Verbesserung politischer Sitten, er-
blickt hatte 624 . Man erhob sich aber auch über MILLS Utilitaris~us, insofern er das
Zugeständnis des Wahlrechts für eine bloße politische Zweckmäßigkeit hielt 625 ,
und versuchte, die politische Freiheit als den verhältnismäßigen Anteil ihres Inhaltes
an der Souveränität zu begreifen. Mit diesem Begriff sei die notwendige Ungleichheit in
der Verteilung gegeben, die freilich durch beharrliche Arbeit der Zivilisat·ion gemildert
zu werden pfl.ege 626 •
Die klassische lnhaltsbestimmung jenes nachrevolutionären Freiheitsbegriffs lieferte
1861 TREITSCHKE, der sich bezeichnenderweise am Ende der Diskussion des Frei-
heitsproblems überhaupt wähnte. Die Gleichheit als Garantie der Freiheit lehnte er
ab - sie kann ebensowohl bedeuten: gleiche Knechtschaft aller - als: gleiche Freiheit
aller-, vielmehr pochte er auf da,, wnendlü;lu~ RP.cht der Person, damit nicht - un-
abhängig von der Staatsform - Knechtschaft herrsche. Auf diese Weise gelangte er
zu der Feststellung, politische Freiheit ist politisch beschränkte Freihe·il. Sie werde am
sichersten garantiert durch eine dem engli11chen Selfgovernment naehgeuilt]el,e g11-
meindliche Selbstverwaltung, durch die Einbindung der obersten Staatsgewalt
in feste gesetzliche Schranken, durch eine Magna Charta der persönlichen Freiheit,
denn die von ihr gehütete soziale Freiheit bildet für die große Mehrzahl der Menschen
den Inbegriff aller politischen Wünsclie, und schließlich dill'ch die ·unlösbare Verbin-
dung der politischen und persönlichen Freiheit. Hier zeigt sich, wie dauerhaft die
Vertragstheorie Kantscher Prägung in den politischen Kanon des deutschen Bür-
gertums eingedrungen war: das Menschenrecht der Freiheit hatte in erster Linie dem
Schutz der Menschen voreinander zu dienen; die möglichst ungehinderte Entfaltung
des Individuums zu gewährleisten, ist, ilie Hauptaufgabe des Staates. So gelangen
w-ir •von selbst z·u der letzten und höchsten Forderung der persönlichen Freiheit: daß
der Staat und die öffentliche Meinung dem einzelnen die Ausbildung eines eigenartigen
.Charakters im Denken und Ilandeln gestatten müsse627 •
Hinter diesen Forderungen stand die geschichtliche Erfahrung von fast hundert
J 11hrcn; d110 libcmlc Bürgertum versuchte gewissermaßen, die Gesellschaft von 1789

822 FRIEDRICH v. RAUMER, Über die geschichWche Rntwickelung der Begriffe von Recht,

Staat und Politik, 3. Aufl. (Leipzig 1861), 234.


823 SoHEIDLER, Art. Freiheit (s. Anm. 598), 45.

8 24 ALEXIS DE TooQUEVILLE, De la democratie en Amerique (1835/40), Oeuvres compl.,

t. 1/1 (19ul), s29 r.


626 JOHN STUART MILL, On Liberty (London 1859).
82& RooHAu, Grundsätze (s. Anm. 581), 226 f.
627 HEINRICH v. TREITSCHKE, Die Freiheit (1861), Ausg. Sehr., Bd. 1, 7. Aufl. (Leipzig 1917),

8 f. 12. 16. 36.

518
VIl. 6. Freiheit - Eigentum Freiheit

als endgültig zu betrachten und verhielt sich skeptisch hinsichtlich einer weiteren
Demokratisierung und starr gegenüber politischen Ansprüchen der Unterschicht.
Es ist darum nicht verwunderlich, daß dieser emanzipationsfeindliche Freiheitsbe-
griff von den politisch unbefriedigten Gruppen die schärfsten Angriffe erfahren hat.
Stellvertretend für alle sei hier REICHENSPERGER angeführt, der 1862 feststellte, im
Liberalismus besteht die politische Freiheit lediglich in dem Rechte und der Macht, die
Andersdenkenden niederzuhalten und sie nach Willkür auszubeuten 628 • Er habe nichts
mit der echten Freisinnigkeit. gemein, denn der Freisinnige will die Freiheit auch für
andere, der Liberale nur für sich. In allen Fragen der Ausdehnung politischer Frei-
heit konnte sich die Mehrheit der Liberalen nicht zu der Vorstellung durchringen,
daß Freiheit unteilbar sei. Das trug dem liberalen Freiheitsbegriff den Vorwurf der
Halbheit ein - der Liberale will nie so recht etwas Ganzes - , hinter der die nackte
Ichsucht und Arroganz verborgen sei: Der Liberale sieht und sucht nur sich; was
seinem Vorteil und seiner Ansicht widerstreitet, muß mit allen Mitteln niedergehalten
werden 629 • So zeigt sich, daß der politische der am frühesten differenzierte Freiheits-
begriff in Deutschland war, eine Folge der ,,dilemmas of freedom" 630 , denen der
Liberalismus unablässig ausgesetzt war. Die intellektuelle Frühreife deutscher po-
litischer Bewegungen brachte es mit sich, daß lange vor der Chance zu ihrer politi-
schen Durchsetzung die Frage der Vereinbarung von Freiheit und Herrscha~ theo-
retisch in ihrer ganzen Breite entfalLeL woruen war. Ert:iL vur uelli liJ~fahrUllgt:ihuri­
zont der Revolution konnte RuaE, auf das vormärzlich gebrochene Verhältnis der
Liberalen zur Vernunft anspielend, feststellen, daß die Gründe der Vernunft nicht
01usreiclten 'll!fUl ilu,ß tl·ie Gewult kinz·utreten m·ußte, ·uth d·ie großen Grundsätze der Fre·i-
lieit zu propagieren631 • Aber 1848 waren die „Parteien" wider Willen bereits so ver-
festigt, daß auch die realistischere Generation der fünfziger und sechziger Jahre die
verfassungspolitischen Kompromisse nur auf Kosten neuer Spaltungen und damit
weiter verästelter Definitionen der politischen Freiheit zustande brachte.

6. Freiheit - Eigentwµ
Der Eigentumsbegriff der Französischen Revolution lehnte sich -von Ausnahmen
wie den Babouvisten oder dem Wiener Jakobiner Franz Hebemitreib abge1:1ehen -
an die theoretischen Ergebnisse der Physiokraten an, die die „liberte sociale" als
Unabhängigkeit vom Willen anderer definierten und daher das Maß der Freiheit
VUlll Maße ues Eigentums abhängig machten 632 • Die der Freiheit zugeordnete
Gleichheit stellte nur jenen Besitz in Frage, der nicht im Sinne Lockes durch Arbeit,

628 REICHENSPERGER (1862), 12, Art. Freiheit.


629 Ebd., 25. 28, Art. Liberal, Liberalismus.
630 LEONARD KRIEGER, The German ldea of Freedom. History of a Political Tradition,

2nd ed. (Chikago 1972), X.


631 RUGE am 26. 7. 1848, Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 2; 1184. Zur Rationalität.der

Liberalen s. WERNER CONZE, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz,
in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, 1815-1848, hg. v. W. CoNZE, 2. Aufl.
(Stuttgart 1970), 234.
632 Pelle est l'eterulue du droit de propriete, telle est ausBi l'eterulue de la liberte; P. LE MER-

CIER DE LA RI:VlERE, zit. GREIVE, Liberte, Egalite, Fraternite (s. Anm. 337), 732.

519
1''reiheit Vll. 6. Freiheit - Eigentum

sondern durch privilegierte Stellung erworben war, da der an der Idee des Gemein-
wohls orientierte Gesetzesbegriff keine persönliche, keine habituelle, aber wohl eine
legale Gleichlieit erlaubte 633. Die ökonomische Ungleichheit sollte durch die Chan-
cengleichheit des Eigentumserwerbs zugleich legitimiert und durch Leistung über-
windbar gemacht werden.
Hinter diesem Eigentumsbegriff stand ein Gesellschaftsmodell, das wesentlich vom
Wert der individuellen Freiheit bestimmt wurde. Aus dem Verständnis des Staates
als einer Gemeinschaft von Eigentümern, die ihre Freiheit rechtlich nie aufgegeben
hatten, leiteten die liberalen Wirtschaftstheoretiker das Postulat ab, es dürfte maß-
geblich nur den persönlich freien Menschen mit ebenso freiem Eigentum geben;
möglichst breit gestreut und gleichmäßig verteilt, werde es seinem ökonomischen
und pädagogischen Sinn - der „freien", am Bedürfnis orientierten Wirtschaft -
am ehesten gerecht. Diese Lehre setzte zwischen 1780 und 1850 jene Bewegung ins
Werk, die nachträglich als „Bauernbefreiung" bezeichnet, zeitgenössisch durch Be-
zeichnungen wiedergegeben wurde, die ein Freimachen von Bindungen an Herr-
schaft und Boden ausdrückten: 'Ablösung', 'Grundentlastung', 'Separation' usw.
Der Bauer sollte vom 'Leibeigenen', 'Erbuntertänigen', 'Untertan' (pathetisch: aus
'Sklaverei') zum freien, d. h. von Herrschaft und Dorfgenossenschaft gelösten
'Landwirt', 'Staatsbürger' und gleichberechtigten 'Menschen', 'befreit' werden.
Grundsätzlich ähnlich ist der Lösungsvorgang in Handel und Gewerbe - vom
'Zunftzwang' zur 'Gewerbefreiheit' - zu vcrstchcn634.
In der Vorstellung von einer Geselli:ichaft freier (Land-)Eigentümer kamen die
Ideen einer zu erneuernden alLgerrnanümlum Volksfreiheit und die Forderung ra-
tioneller Landwirtschaft imsammen - typisch etwa in ideologischer Überhöhung
bei CARL BERTRAM STÜVE, dem Initiator der Bauernbefreiung im Königreich Han-
nover: Das sind die Früchte der Freiheit, insbesondere des freien Eigentums, daß sich
eine Klasse von Landwirten bildet, die als Könige auf ihrem Hofe die Freiheit schützen
und denen es nicht an Mitteln gebricht, sich diejenige Bildung zu schaffen, welche un-
entbehrlich ist, um die Freiheit zu schützen, während bei unfreiem Grund und Boden die
Bildung sich immer mehr zu den studierten Leuten zurückzieht, und diese sind von
Natur unfrei und abhängig 635 • Doch lag in der Formel „Freiheit und Eigentum",
wenn sie rechLlich anwendbar gemacht und als „Bauernbefreiung" konkretisiert
werden sollte, stets die Vieldeutigkeit der Rechtsansprüche beschlossen. '.Freiheit'
und 'Befreiung' konnten, konservativ gesehen, zu 'Recht' und 'Berechtigung' im
Widerspruch stehen. Noch 1848 wandte sich FÜRST LICH.NUWSKY im Verfa&sungs-
ausschuß der Nationalversammlung gegen den Vorschlag von WELCKER, der den
Grundsatz der Freiheit der Person und des E·iyent·ums durch Aufhebung aller aus der
Lßibßigonsohaft stammenden Lasten und Abgaben ausges_l'ruchen haLLe; von der an-
stehenden Formulierung hänge es ab, ob der Bauernkrieg in _Deutschland von neuem
beginnen soll oder nicht. Er bat daher, um jeden Pre·is möge man hier das Wort „Ab-

83a LAuKHARD, Leben (s.-Anm. 471), 513.


8 34 -+ Bauer, Bd. 1, 413 ff.; -+ Eigentum, -+ Emanzipation.
83 5 0.ARL BERTRAM STÜVE, Brief an Friedrich Joh. Frommann v. 10. 2. 1828, in: Quellen
zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, hg. v. GÜNTHER FRANZ
(Darmstadt 1963), 401.

520
VII. 6. Freiheit - Eigentum Freiheit

lösbarkeit" erhalten, damit nicht unseliges Mißverständnis entstehe: namentlich das


Wort „Freiheit" werde als ein Aufruf zur Gewalt angesehen werden 636 .
Auch die Frage politischer Mitbestimmung aller „freien Eigentümer", die irn Be-
griff der Ablösung von der Herrschaft enthalten war, war umstritten. Gegen die
nach 1815 vorherrschende Tendenz der politischen Ausschließung warnte DAHL-
MANN 1815: Sicherheit des Eigentums ist der Freiheit Grundbedingung; wer erst die
Besitztümer, diese Außenwerke der Persönlichkeit, gewonnen hat, kann nach Wochen
und Tagen berechnen, wann die ganze übelbefestigte Freiheit die Waffen strecken und
sich auf Gnade werde übergeben müssen631 . Diese Argumentation, die sich eng an Kants
Definition der Selbständigkeit anschloß 638 , diente dazu, auf der politischen Mitwir-
kung der Eigentümer zu beharren, vor allem in Fragen, die die Besteuerung betra-
fen. So heißt es in den „Grundsätzen und Beschlüssen des 18. Oktobers" 1817, daß
alle Gesetze - im Gegensatz zu Verordnungen - die Freiheit der Person und die
8'iclwrlwit dl% E·iyenl'U'ffUJ •;;urn Gey1!!n1Jtunde haue11; uaher kü1111e e·inern /re·ien Munne
von seinem Besitz nur das abgefordert werden, was er selbst bewilligt oder zu geben ver-
sprochen hat. Wo ein anderer ihm nehmen kann, was er will, wann er will, soviel er will,
da herrscht die Gewalt. Wo Auflagen stattfinden, da herrscht Despotismus, wo Abgaben
stattfinden, Freiheit63 9 •
Diese Lehre, die das Eigentum als ein vorstaatliches und darum unantastbares
ReehL am;ah, ilie auei· ilie VUll ihr a@rka1111te11 Eige11turnsverhiiltllis::ie zum Maß-
stab staatlicher, d. h. politischer Freiheit machte, hatte vom ständischen Freiheits-
begriff den Gedanken übernommen, daß der Staat „jedem das Seinige" zu erhalten
habe 64 0 und daß man davon nur freiwillig etwas abgeben könne. Er geriet in flie
Defensive, nachdem als Antwort auf das Auftauchen der „sozialen li'i'age" Utir
Gleichheitsgrundsatz auch für das Eigentumsrecht gefordert wurde. Im Zusammen-
hang mit der Idee der „sozialen Demokratie" wurde die Forderung nach einer der

6 3 6 Die Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses der deutschen Nationalversammlung,

hg. v. J. G. DROYSEN (Leipzig 1849), 42 f. Die Reichsverfassung von 1848 vermied den
Begriff 'Freiheit' und bezeichnete die Feudallasten teils als aufgehoben, teils als ablösbar
(§ 167 f.).
637 DAHLMANN, Ein Wort. über Verfassung (s. Anm. 508), 36.

63~ 6. Anm. 588.


sa9 Grundsatz Nr. 20, zit. EHRENTREICH, Luden (s. Anm. 606), 121 f. Was hier als Kenn-
zeichen der 'J!'reiheit' galt, war von den .lakohinern zu dem der 'Demokratie' erklärt wor-
den: WEDEKIND rechnete es 1792 zu deren Vorzü!l;en, daß hier die öffentlichen Abgaben •••
auf eine schickliche Art gehoben, niltzlich verwandt werden und nicht zur Beschwerung des
Gebers dienen. lVas der Demokrat an Abgaben bezahlt, das mhlt er sich selbst; Über die Regie·
rungsverfassungen, in: TRÄGER, Mainz (s. Anm. 402), 201.
640 Da.s preußische AGB von 1791 hatt,e vor allem die Aufgabe gehabt, das Verhältnis von

bürgerlicher Freiheit, die wesentlich des Schutzes des jeweilig Seinigen bedarf, und poli-
tischer Freiheit zu regeln; GßNTER BIRTSCH, Zum konstitutionellen Charakter des preußi-
schen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche
Ordnung, Fschr. Theodor Sehleder, hg. v. KURT KLUXEN u. WOLFGANG J. MoMMSEN
(München, Wien 1968), llO. KANT definierte 1793 als Zweck des Gesellschaftsvertrags das
Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt
und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann; Über den Gemeinspruch (s. Anm.
406), 289.

521
Freiheit VII. 6. Freiheit - Eigentum

physiokratisch-liberalen entgegengesetzten sozialen Freiheit erhoben, ohne die die


politische nicht bloß ein Unding und philosophischer Widersinn ist, sondern die sogar
notwendig zur Grundlage jener erklärt wurde. Wohl seien sich Liberalismus und Ra-
dikalismus einig in ihrem Angriff auf erworbene Rechte, aber erstere wolle diese nur
beschränken, während das Ziel des letzteren die radikal soziale und politische Eman-
zipation der arbeitenden Klassen ist. Tatsächliche, soziale Freiheit bestehe also in der
Reform der Vermögensverhältnisse 641 • ,
Diese für den „Bund der Geächteten" in den dreißiger Jahren typische, von tiefem
Mißtrauen gegen den bürgerlichen Freiheitsbegriff verursachte Verlagerung des
Schwergewichts vom freiheitlichen zum gleichheitlichen Rechtsstandpunkt wurde
in der Folge weiter ausgebaut. WEITLING lehnte die konstitutionell garantierte
Freiheit im Geldsystem ab. Er wollte dafür die Freiheit aller ohne Ausnahme! ,_
Diese aber ist nur mittelst der Aufhebung des Eigentums- und Erbrechts, mittelst der
AbschaUung des Geldes und der Wiedereinführung der Gemeinschaft aller Erdengüler
möglich. Der .ganze übrige politische Trödelmarkt sind nur Nebensachen zu dieser
H auptsache 642 •
Eine andere Begründung erfuhr die soziale Freiheit durch die Entfremdungstheorie.
HEGEL hatte die durch den Widerstreit der Begriffe 'Freiheit' und 'Eigentum' her-
vorgerufene Entfremdung des Menschen mit seiner Theorie der-+ Arbeit überwun-
den und damit das Eigentumserfordernis im modernen Staat begründet643 . MOSES
IlEss kam 1843 zum umgekehrten Schluß, da sein anarchischer Kommunismusbe-
griff keinen organisierten Staat mehr erlaubte und er die Entzweiung auf diesem
Wege nicht glaubte überwinden zu können. Gegen die von den Liberalen ebenso wie
von den Junghegelianern behauptete Teilbarkeit der Freiheit wandte er ein, daß die
geistige und soziale Freiheit miteinander stehen und fallen. Da der Lebensnerv der Frei-
heit die Einheit von Arbeit und Genuß, Arbeit aber im Sinne jeder menschlichen Nei-
gung und Tätigkeit überhaupt zu verstehen sei, führe nur die absolute Gleichheit oder
vielmehr Gemeinschafe aller erdenklichen „Güter" zur absoluten Freiheit 644 • Auf dem
Weg von der Konkretion zur Utopie knüpfte auch der junge MARX an Hegels Eigen-
tumsbegriff an und entdeckte bei seiner Suche nach dem „Emanzipator" aus der
Entfremdung 1844 das Proletariat, das in Deutschland wegen der Unmöglichkeit der
stufenweisen Befreiung die ganze Freiheit schlagartig herstellen werde, um auf diese
Weise alle Bedingungen der menschlichen Existenz unter der Voraussetzung der spzialen
Freiheit zu organisieren. In diesem Zustand werde die Negation des Privateigentums
... zum Prinzip der Gesellschaft, weil darin die Negation des Lebensprinzips der
bürgerlichen Gesellschaft bestehe645 .
.Antithetisch wurde also die zur „ganzen Freiheit" führende 'soziale Freiheit' d(lr
. liberalen Pseudo-Freiheit, die extreme Unfreiheit sei, da sie die soziale Freiheit aus-
schließe, entgegengestellt. Die' von Marx hierbei auffallend häufig verwendete Ket-

641 Der Geächtete 2 (1835), zit. KoWALSKI, Demokratismus (s. Anm. 479), 89 f. 93.
642 WILHELM WEITLING, Garantien der Harmonie und Freiheit (1842), hg. v. Bernhard
-.Kaufhold (.Berlin 1955), 230.
843 HEGEL, Rechtsphilosophie,§ 41 ff.
844 HEss, Die eine und die ganze Freiheit!, Ausg. Sehr. (s. Anm. 523), 149 f.; ders., Sozialis-

mus und Kommunismus, ebd., 158.


, 845 MARX, Kritik der Regelsehen Rechtsphilosophie (s. Anm. 529), 390 f.

522
VII. 6. Freiheit - Eigentum Freiheit

tenmetapher unterstreicht noch diese Interpretation: sie will nicht Mitleid, sondern
Solidarität und suggeriert die Unabwendbarkeit der Revolution 646 •
Die liberale Gegenposition wurde aufrechterhalten und 1859 von JOHN STUART
MILL in seinem Freiheitstraktat neu befestigt647 • TREITSCHKE bejahte das dort vor-
gestellte unendliche Recht der Person und leitete daraus ein Freiheitsverständnis ab,
das dem des Sozialismus genau entgegengestellt war. Neben dem Verlangen nach
Selbstregierung und Rechtsstaatlichkeit forderte er von der Regierung die Garantie
der freien Bewegung in Glauben und Wissen, Handel und Wandel und nannte dies nun
seinerseits soziale Freiheit 648 • Auf der Gegenseite ironisierte Marx den liberalen Ei-
gentumsbegriff Init der Triade Freiheit, Gleichheit, Bentham. Mill zählte er zu jenen
Sophisten und Sykophanten der herrschenden Klassen, die den Emanzipationsanspruch
des Proletariats durch den Primat der persönlichen Freiheit zu beseitigensuchten649 •
Zwischen beiden entstand ein sozialer Liberalismus, der wie" die frühe Arbeiterbe-
bewegung den Gedanken der Assoziation vertrat, welche den Zwang, die strenge Ge-
bundenheit und Abgeschlossenheit der alten Wirtschaftsverfassung abgestreift und in
der Freiheit, in der Gruppierung je nach den wechselnden Interessen ihrer Teilnehmer,
. das belebende Element gefunden hat. Mit dem Konzept einer freien Erwerbs- und
Wirtschaftsgenossenschaft versuchte SCHULZE-DELITZSCH, das Verhältnis von sozia-
ler Freiheit und Wirtschaftswachstum herzustellen, und prognostizierte damit die
künftige Mittelstandsgesellschaft 6 ~ 0 • Der soziale Freiheitsbegriff der Liberalen w11r<lfl
hier also nicht 'mehr auf individuelles Eigentums- und Vertragsrecht, sondern aueh
auf das Koalitionsrecht bezogen.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß das liberale wie das sozialistümhe Wirt,schafts-
modell eine durchaus ähnliche Herleitung des Eigentumshogriffs 11.11s rlor m1msoh-
lichen Freiheit kannte; der Gedanke der Sozialbindung sollte diesen Zusammenhang
besonders sichern 651 • Dahinter stand die Überlegung, daß die Freiheit der Person
kein bloßer Selbstzweck sei, sondern dem Ziel der „ Veredelung" des Menschen die-

646 Ebd., 379. 386. 390. In der sozialkritisch engagierten Literatur des Vormärz ist dieses

Motiv nicht selten; vgl. SENGLE, Biedermeierzeit (s. Anm. 499), Bd. 2 (1972), 532 f. 544.
GöRRES hatte mit der Metapher 1819 die Notwendigkeit, nnterRtrir.hen, cla.ß die 'Freiheit,'
erkämpft werden müsse: die gegenwärtige Freiheit sei eine FreigekuJsene, die noch die Nar-
ben ihrer Ketten fühlt und darum immer zwiaehen Niedertracht U1ul Freiheit schwankt;
Teutschland und die Revolution, Ges. Sehr., Bd. 13 (1929), 105.
647 Mrr,r. Rah die einzige Freiheit, die diesen Namen verdiene, in dem Recht, das Wohler-
gehen auf eigenem Wege zu verfolgen. Voraussetzung dieser Ansicht war seine Vorstellung,
daß es seit der bürgerlichen Revolution nur freie Individuen gebe, die keiner Emanzipation
mehr bedürften. Freihandelsdoktrin und persönliche Freiheit beruhten für ihn zwar auf
verschiedener Grundlage, hatten aber in der 'Freiheit' <ifeselbe feste Basis; On Liberty
(s. Anm. 625), passim.
648 TREITSCHKE, Freiheit (s. Anm. 627), 9. 12.
649 MARx, Das Kapital, Bd. 1 (1867), MEW Bd. 23, 189; Nachwort zur 2. Aufl. (1873),

ebd., 21.
050 HERMANN SCHULZE-DELITZSCH, Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus'

(1863), Schr.u.Reden, Bd. 2 (1910), 89 ff., bes.130.132. Vgl. WERNER CoNZE, Möglichkeiten
und Grenzen der liberalen Arbeiterbewegung. Das Beispiel Schulze-Delitzsch (Heidelberg
1965).
651 -+ Eigentum IV. 3.

523
Freiheit VII. 6. Freiheit - Eigentum

nen sollte. Zu diesem Zweck war schon in der Aufklärung Ende des 18. Jahrhun-
derts der Gedanke der Freizeit in den Freiheitsbegriff aufgenommen worden, wo-
durch nicht nur der bislang natural gebundene Zeitbegriff rationalisiert, sondern zu-
gleich dem modernen Arbeitsethos ein - jetzt erst möglicher - Kontrastbegriff
entgegengesetzt wurde, da die Freiheit der Person „ihren eigentlichen Ort immer
mehr nur noch in der 'Zeit der eigentlichen Freiheit'" finden konnte 652 • Vom politi-
schen Standpunkt hing es dabei aber ab, ob dieser „Freiheitsbegriff der Freizeit"
statisch oder dynamisch aufgefaßt wurde.
Das liberale Bürgertum verneinte, wie CoNSTANTS Deduktion der gestuften politi-
schen Freiheit zeigt, die Freizeit als Vehikel der Emanzipation: Neben Vaterlands-
liebe, die auch der arbeitenden Klasse eigentümlich sei, brauche man noch eineBedin-
gung für das Wahlrecht. Diese Bedingung ist die Muße, die zur Erw,erbung der Ein-
sichten, zur Richtigkeit des Urteils unerläßlich ist. Das Vermögen allein sichert diese
Muße; das V crmögcn allein macht die M cnschen zur Ausübung der öffentlichen Rechte
fähig653.
Eigentum und Freizeit gehörten also im Sinn~ einer relativ freien Verfügbarkeit des
Menschen über seine Lebensbedingungen zusammen. Diese Verfügungsfreiheit
stand dem „Eigentumslosen" oder dem „Proletarier" nicht zu, sofern nicht vom Zu-
sammenhang „Eigentum und Freizeit" aus der soziale Veränderungswille begründet
wurde. Schon RousSEAU hatte 1762 im „Emile" von jener tems de liberte gesprochen,
die der vollen Entfaltung des kindlichen Charakters diene654. 1794 stellte der Ham-
burger Jakobiner HEINRICH CHRISTOPH ALBRECHT in seiner Untersuchung über die
englischeu ArlieiLer fet-1L, tlaß tlieHe, .wilwnye ·1:hre 11lJliliny·1:ye L1u1e clwuert, ebensowenig
aufgeklärt und gesittet we1·den als fre·i; in einer gelegentlich erhascliten Fre·ist-unde sei
es nur tierischer Genuß, wonach ihre Natur trachtet. Dieser Zustand perpetuiere sich
notwendigerweise. Die Eltern, welche alle Stunden, die nicht dem Essen und Trinken
oder dem Schlafe hingegeben werden, anwenden müssen, um sich die Möglichkeit einer
fortdauernden Existenz zu sichern, haben keine Zeit noch Fähigkeit, für ein besseres
Dasein ihrer lästigen Nachkommen zu sorgen 655 . Die volle Bedeutung des Zeitbegriffs
wurde vom revolutionären Sozialismus erfaßt. Bei KARL MARX wurde 'Freizeit'
zum Bewegungsbegriff, der die Emanzipation des Proletariats anzeigt. Noch im
1. Band des „Kapital" (1867) begnügte er sich mit der hergebrachten Gegenüber-
stellung von Arbeitszeit und freier Zeit, welch letztere eine Zeit zu menschlicher Bil-

652 WOLFGANG NAHRSTEDT, Die Entstehung der Freizeit. Dargestellt am Beispiel Ham-

burgs. Ein Beitrag zur Strukturgeschichte und zur strukturgeschichtlichen Grundlegung


der Freizeitpädagogik (Göttingen 1972), 171. Vgl. ebd., 47ff. u. ders., Die Entstehung des
Freiheitsbegriffs der Freizeit. Zur Genese einer zentralen Kategorie der modernen Indu-
striegesellschaft (1755-1826), Vjschr. f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch. 60 (1973), 311 ff.
653 BENJAMIN CoNSTANT DE REBECQUE, Betrachtungen über die Verfassungen und Garan-

tien, dt. v. F. J. Buß (Freiburg 1836),Sämmtl. Polit. Werke, Bd. 4 (Freiburg 1835 [sie]),
114 f. Bei der Wiedergabe dieser Stelle in: Die politischen Theorien seit der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung. Politische Theorien TI. III, hg. v. ÜTTO HEINRICH v. DER GAB-
LENTZ, 3. Aufl. (Köln, Opladen 1967), 146 handelt es sich entgegen der Quellenangabe
um eine Neuübersetzung.
654 RoussEAU, Emile ou de l'education, livre 2. Oeuvres compl., t. 4 (1969), 324.
655 H. C. ALBRECHT, Untersuchung über die englische Staatsverfassung, zit. WALTER

GRAB, Leben und Werke norddeutscher Jakobiner (Stuttgart 1973), 145.

524
VII. 7. Freiheit - Ordnung Freiheit

dung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem V er-


kehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte sei 656 • Im 3. Band
(1894) diente jedoch die Freizeit als Entreebillet ins Reich der Freiheit, das dort
beginne, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist,
aufhört, wo die menschliche Kraftentwicklung . . . sich als Selbstzweck gilt. Dieses
wahre Reich der Freiheit könne nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis
aufblühn ... Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung 6 5 7 •
Das liberale wie das sozialistische Gesellschaftsmodell stimmen darin überein, daß
Freiheit im umfassenden Sinne nur möglich wird durch Eigentum und Freizeit.
Während aber die Liberalen im Eigentum die Voraussetzung zur Freizeit sahen und
daher beide dem individuellen, unterschiedlich großen Zugriff aussetzten, versprach
der Sozialismus, beides - und damit dann die politische Freiheit - total zu bieten;
das Privateigentum verbot sich in einer solchen Gesellschaftsordnung, weil es den
Weg zur allen zustehenden Freizeit und damit Freiheit verstellte. ·
Die soziale und politische Wirklichkeit hat seither beide Modelle überholt und ist
dem schon 1850 von LORENZ VON STEIN vorgezeichneten Weg gefolgt. Dieser hat im
Laufe seiner Deutung der Französischen Revolution ebenfalls festgestellt, daß für
die moderne Gesellschaft „Erwerb und Besitz ... zur natürlichen Bedingung für
die Realisierung der Freiheit" 658 geworden seien, und daraus gefolgert, daß der
gesellschaftliche Antagonismus in ihr selbst beschlossen liege. Die t::lpannung zwi-
schen Kapital und Arbeit könne aber überwunden werden, wenn ... die besitzende
Klasse die Staatsverwaltung im Sinne der nichtbesitzenden Klasse zur Hebung des
Loses der Arbeiter, für ihre Bildung un_d die Möglichkeit eines, wenn auch nur allmäh-
lichen, Kapitalerwerbes bietet. Auf die Vorfassungsform komme os dabei nicht an,
weil der erworbene Besitz die Unfreiheit doch am Ende unmöglich macht, und weil damit
die Förderung des Erwerbs zur Förderung der Freiheit wird. Durch Verwaltung also
wird bei Stein das Freiheitserfordernis der neuzeitlichen Gesellschaft sichergestellt
und so die Freiheit über eine geregelte Vermögensbildung zum Bewegungsbegriff
erhoben, der den Staat zur sozialen Demokratie vorantreibt 659 •

7. Freiheit - Ordnung

Der moderne Freiheitsbegriff enthielt nicht nur die Antithese zur ständischen Ge-
sellschaftsordnung, er blieb auch nach ihrer Überwindung zu der ihm angemesse-
nen Verfassung stets in kritischer Distanz. Abgesehen von der Wahl der Mittel,
welche zum Herstellen einer neuen Ordnung erlaubt sein sollen, war das richtige
Verhältnis zwischen 'Freiheit' und 'Ordnung' selbst Gegenstand fortgesetzter Dis-
kussion.
Der Freiheitsenthusiasmus der Französischen Revolution erstickte eine grundlegen-

666 MA.Rx, Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, 280; vgl. NAHRSTEDT, Freizeit, 45.
es7 MA.Rx, Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, 828.
666 EitNS'r-WoLFUANU BüuKlllN.l!'ÜRDlll, Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von

Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft, Fschr.
ÜTTO BRUNNER (Göttingen 1963), 260.
869 L. v. STEIN, Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere

Tage, Bd. 3, 3. Aufl. (1850; Nrd. Hildesheim 1959), 207.

525
Freiheit VIl. 7. Freiheit - Ordnung

de Auseinandersetzung um dieses Problem. Wo Freiheit definiert wurde als das


Recht, alles zu tun, was die Sittlichkeit nicht verbietet 660 , lag der Glaube nahe, eine
entsprechend eingerichtete staatliche Ordnung müsse von selbst zum Guten führen.
Da die Gesetze Ausdruck des allgemeinen Willens sind, reift der freie Staat ... seiner
Vervollkommnung entgegen, und der despotische richtet sich allgemach zu Grunde. Frei-
heit ist also heiliges Naturgesetz und Grundlage jeder menschlichen Verbindung 661 •
Aus der Erfahrung der Revolution folgte die Einsicht, daß das höchste Maß an Frei-
heit auch das höchste Maß ihres Mißbrauchs bedeuten konnte. Die Forderung lag
nahe, daß die Freiheit, um erträglich und dauerhaft zu bleiben, organisiert werden
müsse. Zwei gegensätzliche Konzeptionen boten sich hierfür an: der von den Kon-
servativen beanspruchte Primat des Ordnungsgedankens und die von den Erben
der Revolution vertretene Idee der „gesetzlichen Fi:eiheit".
Die Konservativen leugneten keineswegs den Wert der Freiheit als solcher - 'Frei-
heit' war ja ein Begriff, der außer im traditionellen Sinne ihrer Perversion (licen-
tia) nicht pejorativ gewendet werden konnte -, sie verbanden vielmehr mit ihrer
Warnung vor dem gewaltigen Irrtum, daß Freiheit etwas Absolutes sei, die Meinung,
daß es bei ihr allein um ein Mehr oder Weniger gehe. Ob sie ein Geschenk der Könige
oder gar Gottes sei -hierin waren DE MMRTRfi11mrl H AT.T.F.R 1mtArR0hie.dlicher Mei-
nung-, hatte untergeordnete Bedeutung; wichtiger war, daß der Mensch .. : bei
dieser Verteilung nichts vermöge 662 • Diese Perspektive bestimmte 1819 den GRAFEN
ßF.RNSTORFF, in der von den Burschenschaften angestrebten Freiheit ein Phantom
zu sehen, mit dessen Hilfe versucht worden sei, durch den Ruin der gegenwärtigen
Ordnung der Dinge zu einer neuen Ordnmig zu gelmigen 663 • Die präziseste Formulie-
rung konservativen Ordnungsdenkens stammt von METTERNICH, der (wie er in sei-
nem nach dem Rücktritt verfaßten „Politischen Testament" gestand) sich stets
aufgefordert fühlte, die Worte nach dem Wert der Sachen, welche sie zu bezeichnen be-
rufen sind, aufzufassen und festzustellen. Als absoluter politischer Wert dominierte
bei ihm der Ordnungsgedanke, dem die Freiheit sich unterzuordnen hatte. Das
Wort „Freiheit" hat für mich nicht den Wert eines Ausgangs-, sondern den eines tat-
sächlichen Auskunftspunktes. Den Ausgangspunkt bezeichnet das Wort „Ordnung".
Nur auf dem Begriff von „Ordnung" kann jener der „Freiheit" ruhen. Ohne die Grund-
lage der „Ordnung" ist der Ruf nach „Freiheit" nichts weiter als das Streben irgend-
einer Partei nach einem ihr vorschwebenden Zweck. In seiner tatsächlichen Anwendung
wird der Ruf.sich unvermeidlich als Tyrannei aussprechen. Indem ich zu allen Zeiten,
in allen Lagen stets ein Mann der „Ordnung" gewesen bin, war mein Streben der wahren
und nicht der trügerischen „Freiheit" zugewendet66 4 • Die liberale Freiheit sollte damit,

660 [FRIEDR. THEODOR BIERGANS], Über Freiheit (1795), in: IlANsEN, Quellen (s. Anm. 461),

Bd. 3, 466. Die Gleichsetzung von 'Freiheit' und 'Tugend' in der Französischen Revolution
ist uberaus zahlreich; vgl. NIKOLA.US MÜLLERS Ode „An die Freiheit" (1792), in: TRÄGER,
Mainz (s. Anin. 402), 187 ff.
661 JoH. BAPTIST GEICH, Gespräche über Freiheit (1795), HANSEN, Quellen, Bd. 3, 607.
882 DE MAIBTRE, Considerations (s. Anm. 601), 88. Zu KARL LUDWIG v. HALLERS Freiheits-

begriff und seiner Herleitung von Gott vgl. seine „Restauration der Staatswissenschaft",
Bd. 1, 2. Aufl. (Winterthur 1820), 355 ff.
663 BERNSTORFF, Zirkularschreiben (s. Anm. 603), 91 f.
664 METTERNICH, Politisches Testament (nach 1848), Nachgel. Papiere, Bd. 7 (1883), 636 f.

526
VII. 7. Freiheit - Ordnung Freiheit

wie die Epitheta „Phantom'', „Hirngespinst", „abstrakt", „trügerisch" zeigen, als


lebensfremd abqualifiziert werden.
Die Idee der gesetzmäßigen Freiheit665, wie sie von Montcsquicu entwickelt ~orden
ist 666 , hatte in der Französischen Revolution einen hohen politischen Stellenwert
erhalten. FRIEDRICH LEHNE traf 1797 in seinem vielbeachteten „Freiheits-Lied"
die allgemeine Stimmung:
Wohl mir, ich bin ein freier Mann!
Nur den Gesetzen.untertan 667 •

Auch LAUKHARDS französischer Gesprächspartner beeilte sich mit der Versicherung,


daß Freiheit keine Gesetzlosigkeit ist 668 .
Die Erben der Revolution bemühten sich um einen objektiven Maßstab für die frei-
heitssichernde Funktion des Gesetzes. WELCKER hatte dazu in naturrechtlicher Tra-
dition 1813 den Weg mit seinem vorstaatlichen objektiven V ernunftrecht 669 gewiesen
und <iamit die das 19. Jahrhundert kennzeichnende Verrechtlichung des modernen
Freiheitsbegriffs begründet. Dieser Gedanke setzte sich rasch durch. 1816 beklagte
UHLAND den 'l'eilerfolg der Freiheitskriege:
Zermalmt habt ihr die fremden Horden.
Doch innen hat sich nichts gehellt,
Und Freie seid ihr nicht geworden,
Wenn ihr das Recht nicht festgestellt 670 •
Der BHOUKHAUl:l konnte 1817 die „äußere Freiheit" nur als eine recluliche oder furi-
dische Freiheit begreifen, von wewher die bürgerlich!3 oder politische nur eine besondere
Modifikation istsn.
Der Anspruchscharakter dieses Freiheitsbegriffs machte seine Aussöhnung mit der
herrschenden Ordnung besonders problematisch. GöRRES schlug eine Lösung vor,
bei der sich die Autorität mit der rechtlichen Freiheit zusammenfindet, damit beide
sich zur moralischen Möglichkeit verbinden, und in der Gegenwirkung beider werden
zugleich mit den Pfiichten auch die Rechte sich gestalten, die, indem sie der Gewalt ihre
sittliche Schranke setzen, die Unterwerfung zu einer freiwilligen erheben 672 • Dieser Ver-
such der Aussöhnung zweier als gleichberechtigt empfundener Prinzipien konnte
sich angesichts der wachsenden politischen Spannungen in Deutschland nicht durch-
setzen. Auf der einen Seite konstatierte DAHLMANN, dessen Freiheitsbegriff von der
noch als unentzweit gedachten Ordnung bestimmt war, daß zwar oftmals aus der·
Ordnwny d·ie Fre·ilwit, n·ie•mul1J uber wu1J der Fre·ilteü d·ie Ordnwny ltervuryeyunyen ·ist 673 •

665 GEICH, Gespräche, 604.


666 Vgl. Anm. 394.
667 FRIEDRICH LEHNE, Freiheits-Lied, in: ENGELS, Gedichte (s. Anm. 482), 124.

66B LAUKHARD, Leben (s. Anm. 471), 334.


6 6 9 WELCKER, Letzte Gründe (s. Anm. 590), 75.
670 UHLAND, Am 18. Oktober 1816, GW Bd. 1 (s. Anm. 488), 87.

671 BROCKHAUS 4. Aufl., Bd. 3 (1817), 833.


672 GÖRRES, Europa und die Revolution (1821), Ges. Sehr., Bd. 13, 162.

673 FRIEDRICH CHRISTOPH DAHLMANN, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebe-

nen Zustände zurückgeführt, hg. v. Manfred Riedel (1835; Frankfurt 1968), 122.

527
Freiheit VII. 7. Freiheit - Ordnung

Auf der anderen Seite steigerte das Bewußtsein vom Dualismus von Staat und Ge-
sellschaft bei BRÜGGEMANN die von WIRTH als Resümee des Hambacher Festes ver-
kündete Formel von der Grundreform Deutschlands auf gesetzlichem W ege 671 zum
Recht auf eine gesetzliche Revolution, d. h. auf eine vom Gesetz des Fortschritts aus-
gelöste RevolUtion, die nur dann gewaltsam würde, wenn sich ihr kurzsichtige Re-
gierungen 675 in den Weg stellten.
Tatsächlich standen sich dann im deutschen Vormärz bürgerlich-liberaler Freiheits-
begriff und herrschende Ordnung unversöhnlich gegenüber. HANSEMANN konsta-
tierte 1840, beide Prinzipien seien jetzt in Preußen allerdings nicht vereinbar, denn
diese Ordnung ist die Unfreiheit. Entschließt sich die Staatsregierung zur Gewährung
der Freiheit, so muß sie sich allerdings daran gewöhnen, manches für Ordnung zu hal-
ten, was ihr nach jetzigen Begriffen das Gegenteil zu sein dünkt 676 . In diesen Worten
kommt der Doppelcharakter der 'gesetzlichen Freiheit' treffend zum Vorschein:
einerseits unterstreicht er das Verlangen des Bürgertums nach geordneten Verhält-
nissen, andererseits verlieh die Verbindung von 'Freiheit' und 'Gesetz' dem Wunsch
nach politischer Emanzipation einen Rechtsanspruch'und diskreditierte das bloße
Beharren auf den derzeitigen Verfassungszustanden.
1848 glaubte sich das Bürgertum daher im Her.ht. Die HeidAlhArgAr VAn:ia.mmlung
stellte am 5. März fest, daß die Deutschen Freiheit und Selbständigkeit . . . als ihr
Recht für sich selbst fordern677. Eine Bonner Petition rheinischer Liberaler vom
11. März sah.in der innigen Verschmelzung des Königtums mit der Volksfreiheit ...
die einzige Abwehr der wachsenden Gefahren, betonte aber zugleich, daß die Bewohner
einer Provinz, welche rings von freien Staaten umgeben ist, . . . sich des Anspruchs
bewußt sind, nicht weniger Rechte zu besitzen als ihre deutschen Bruderstämme 678 .
Sogar die gesamte Grundrechtsdebatte in der Paulskirche stellte sich DROYSEN als
der Kampf zwischen 'Freiheit' und 'Ordnung' dar. Er berichtete, hier habe sich mit
steigender Schärfe der Gegensatz der Forderungen derer bemerkbar gemacht, welche
aus der größten Freiheit der einzelnen den besten Staat zu schaffen gemeint waren, und
deren, welche in der gesicherten Festigkeit und Ordnung des Ganzen auch die Freiheit
des einzelnen bedingt sahen 679 . Einig war man sich jedoch darin, daß-im Gegensatz
zu 1789 - die Freiheit, um eine Wohltat zu sein, organisiert werden müsse 680 . Einen
entsprechenden Vorschlag unterbreitete JAKOB GRIMM, der glaubte, von dem - am

874 WIRTH, Nationalfest (s. Anm. 491), 99 f.


675 Aussage BRÜGGEMANNS vor dem Berliner Kammergericht (1843), zit. VALENTIN,
Nationalfest (s. Anm. 497), 108. SCHULZ unLen;Lrieh 1832, bei der Wahl zwischen alJsoluter
Fürstengewalt und Volksherrschaft könne man vernünftigerweise unil im gleichzeitigen Interes-
se der .Freiheit wie der Ordnung ... nur für die letztere sich erklären; Einheit (s. Anm. 478),
112.
676 HANSEMANN, Denkschrift (s. Anm. 474), 225.
677 Heidelberger Versammlung, in: HUBER, Dokumente, Bd. 1 (s. Anm. 543), 264 f.
878 ÜBERMANN, Flugblätter der Revolution (s. Anm. 618), 55 f.
679 DROYSEN, Verhandlungen (s. Anm. 636), 21.
680 Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7, 5260; das Zitat stammt vom Abg. REICHENSPERG ER,

Köln, dem SIMON, Trier, sogleich zustimmte, allerdings mit dem Bemerken, die Parteigän-
ger des Verfassungsausschusses wollten nicht die Freiheit organisieren, sonilern desorgani-
sieren; ebd„ 5313.

528
VII. 7. Freiheit - Ordnung Freiheit

Ideal der germanischen Volksfreiheit ausgerichteten - Freiheitsbegriff gehe eine


unmittelbare Rechtswirkung aus. Er begrüßte es, daß im Verfassungsentwurf von
der revolutionären Triade „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" nur noch der erst-
genannte Begriff übriggeblieben sei, und dieser Begriff von Freiheit ist ein so heiliger
und wichtiger, daß es mir durchaus notwendig erscheint, ihn an die Spitze unserer
Grundrechte zu stellen. Grimm schlug daher als Art. 1 der Reichsverfassung vor :
Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Un-
freie, die auf ihm verweilen, macht er frei 681 • Wie aus seinem Verständnis der Revo-
lutionsparole hervorgeht, stand sein Freiheitsbegriff nur im Gegensatz zur 'Skla-
verei', Grimm übersah die „negative" Freiheit der vom Staat emanzipierten Gesell-
schaft völlig.
Das Scheitern der Revolution hat einer weiteren Verrechtlichung des Freiheitsbe-
. griffs in diesem Sinne Einhalt geboten, denn die Liberalen erkannten, daß durch das
Recht allein nicht schon die Freiheit garantiert wird 682 • Außerdem verhalf der zu-
nehmende Gegensatz zwischen den Vertretern der Linken den Abgeordneten der
Mitte zu einem neuen politischen Selbstverständnis: sie erkannten, wie DAHLMANN
ihnen zurief, daß sie zwar nach Frankfurt gekommen seien, um die Freiheit von
Deutschland zu gründen, aber nicht die Freiheit allein. Sie sind mit eben dem innern
Drange hieher gekommen, um die Macht des künftigen Deutschlands zu gründen, damit
Deutschland, das bisher gering geachtete, kaum aufgeführt in der Reihe der Staaten,
jetzt auf der Grundlage der V ollcsfreiheit als politische Größe erstehe. Dahlmann war
auch derjenige unter den Liberalen, der, abgesehen von Droysen, zuerst festgestellt
hatte: Ohne Ordnung gibt es keinen Boden für die Freiheit, und gerade der entschie-
denst Fre·ihe·itliche wird s·ich der Ordnung, auf welcher se·ine gel-iebte Fre·ilie:it erblühe,
am bedürftigsten fühlen&sa.
Für die Liberalen war sowohl im Streit um das Verhältnis von Einheit und Freiheit
wie in ihrer Abwehr gegen die „soziale Demokratie'' das Ordnungsproblem auch
weiterhin enthalten. Der liberal-konservative Kompromiß der Gründung und Ver-
fassung des Reiches entschied die politische Gewichtung im Spannungsverhältnis
von Ordnung und Freiheit, das der Konkretisierung noch bedurfte. Für deren Er-
gebnis war es nicht unerheblich, daß DROYSEN 1867 der liberalen Opposition vor-
warf, sie bestehe aus abstrakten Freiheitspredigern und Pseudoliberalen, denen
Staatslosigkeit und Machtlosigkeit für Freiheit gilt 684 i auch er sei wahrlich von Herzen
liberal, doch ekle ihn diese deutsche Freiheitsgeilheit bei schimpflichster politischer
Olvmnudtt au 685 • Für diese HalLWlg, die zwischeu 'MachL' uud 'GewaH' UllLerschei-

881 JAKOB GRIMM, Antrag in der Paulskirche am 4. 7. 1848, Sten. Ber. Dt. Nationalvers.,

Bd. 1, 737.
1182 RuGE, Rede in der Polendebatte am 26. 7. 1848, ebd., Bd. 2, 1184: Polen müsse mit

Gewalt geeint werden und eine freiheitliche Verfassung erhalten, denn man habe die Erfah-
rung gemacht, daß die Gründe der Vernunft nicht ausreichen und daß die Gewalt hinzutreten
mußte, um die großen Grundsätze der Freiheit zu propagieren.
883 DA11LMANN, Rede vom 14. u. 8. 12. 1848, KI. Sehr. u. Reden (s. Anm. 508), 451 f, 445.
684 DROYSEN, Brief an das Wahlkomitee in Kolberg (Ende Januar 1867), Briefwechsel,

Bd. 2 (s. Anm. 578), 879 f.


6 86 Ders., Brief an Heinrich v. Treitschke (3. 3. 1867), ebd., 886.

34-90386/l 529
Freiheit VII. 7. Freiheit - Ordnung

den zu können glaubte, prägte RocHAU dann 1869 die Formel Freiheit ist
Macht 686 •
Im Soziafüirnus stellte sich das Problem des Begriffsverhältnisses von 'Freiheit' und
'Ordnung' bei aller Verschiedenartigkeit der Positionen stets von der Grundeinsicht
aus, daß eigene Zielbilder von der Zerstörung der gegebenen bürgerlichen Ordnung
abhingen. Alle an der Hegelschen Philosophie geschulten Theoretiker wehrten sich,
wie 1841 MosEs HEss, gegen die Antithese von Freiheit und Ordnung. Heß stellte
fest: Ordnung und Freiheit stehen sich nicht so einander gegenüber, daß eines in seiner
höchsten Potenz das andere ausschlösse. Die höchste Freiheit ist vielmehr nur in der
höchsten Ordnung denkbar, so wie umgekehrt die höchste Ordnung nur bei der höchsten
Freiheit bestehen kann ... Die Freiheit ist der Inhalt der Ordnung, und diese ist die
Form der Freiheit 68 7.
Der politischen Praxis näherstehend, nahm 1864 LASSALLE für sich die Diktatur der
Einsicht in Anspruch, die seinem autoritären Führungsstil und seiner Behauptung
entsprach: Freiheit und Autorität sind zu vereinigen! -Aber nur auf dem Boden der
Massenfreiheit und des Massenrechts wird diese Vereinigung erblühen 688 •
MARX und .b:NGELS, die eine „Diktatur der Einsicht" nicht minder beanspruchten,
setzten weit schärfer als Laililalle die Relation von Ordnung- und Freiheit eowohl dor
„Bourgeoisie" wie der gegebenen Staatsmacht stets scharf herab. Mit der Feststel-
lung im „Kommunistischen Manifest", daß ew·ige Wall!rlte-iten wie Freiheit, Gerechtig-
lceit usw. gar nicht existierten, daß das herrschende Recht nur der zum Gesetz erhobene
Wille eurer Klasse sei 689 , wurde das Recht zum Herrschaftsinstrument des Kapitals
erklärt, das~ wie Engels 1884 hinzufügte - mit diesem untergehen und ins Muse-
um der Altertümer 690 versetzt werde. DamiL war für beide der Streit um Freiheit und
Ordnung zum Spezialfall des bourgeoisen Staates geworden, der exemplarisch in der
französischen Verfassungsdebatte von 1848 bis 1851 durchgespielt worden sei: hier
war der unvermeidliche Generalstab der Freiheiten von Ordnungsfreunden durch Aus-
führungsgesetze nachträglich so sehr eingeengt worden, daß Marx im Ganzen nur
noch eine Komödie zu sehen vermochte 691 • Der kommunistische Rechtsbegriff ver-
wies die Emanzipation des Proletariats auf den Weg der Revolution. Daß es dabei
allerdings um ein neues Verhältnis von Freiheit und Ordnung durch die diszipli-
nierte Organisation und Führungsautorität gehen müsse, hat Marx stets gesehen und

686RooHAU, Realpolitik (s. Anm. 581), 220.


687HEss, Europäische Triarchie, Ausg. Sohr. (s. Anm. 523), 116. - 1843 schrieb Heß
dagegen: Nur durch die absolute Freiheit ... ist auch die absolute Gleichheit oder vielmehr
Gemeinschaft aller erdenklichen '<iüter' möglich, so wie umgekehrt nur in dieser Gemeinschaft
wiederum jene Freiheit denkbar ist. Die Arbeit, die Gesellschaft, soll nicht organisiert werden,
sondern sie organisiert sich von selbst, indem ,ieder tut, was er nicht lassen kann, und unterüißt,
was er nicht tun kann; Sozialismus und Kommunismus, Ausg. Sohr., 158.
688 LASSALLE, Erwiderung auf eine Rezension in der „Kreuzzeitung" (19. 6. 1864), Ges.

Red. u. Sohr., Bd. 5 (1919), 380; vgl. seine Ronsdorfer Rede vom 22. 5. 1864, ebd., Bd. 4
(1919), 227. Auf der von ihm ausgeübten „Diktatur der .l!;insicht" beharrte er in einem
Brief an August Perl; ebd., 311.
68 9 MARx/ENGELS, Kommunistisches Manifest, MEW Bd. 4, 480. 477.
690 ENGELS, Der Ursprung der Familie (1884), MEW Bd. 21(1962),168.
69 1 MARx, Der 18. Brumaire des Louis Napoleon (1852), MEW Bd. 8 (1960), 126 f.

530
VII. 8. Freiheit ~ Gleichheit Freiheit

betont, ungeachtet der Frage, in welcher Weise das Problem im endzeitlichen


„Reich der Freiheit" grundlegend anders gelöst sein würde.

8. Freiheit - Gleichheit

In keinem anderen Begriffsverhältnis erscheint der Wandel vom ständischen zum


modernen Freiheitsbegriff so augenfällig wie in seiner Verbindung mit dem Gedan-
ken der -+ Gleichheit, - ein Postulat, das dem vielfältig gegliederten System der
altständischen Gesellschaft diametral entgegengesetzt war. 'Freiheit und Gleich-
heit' wurden zu einem Begriffspaar, das besonders in den letzten Jahrzehnten des
18. Jahrhunderts in einer signifikanten Häufung auftauchte und zum Schlagwort
für das Ziel der Überwindung des „Ancien regime" wurde. Angesichts ihrer Brei-
tenwirkung war es besonders bedeutsam, daß die Encyclopedie 1755 festgestellt
hatte, l'egalite est le principe et le fondement de la liberte692 • Strittig blieb dabei das
Maß der Ausdehnung dieses Grundsatzes. Außenseiter, wie 1754 RoussEAU in sei-
nem „Zweiten Diskurs" und 1755 ABBE MABLY im „Code de la Nature", dehnten
die Forderung nach Gleichheit auch auf den sozialen Bereich aus. In ihrer über-
wiogondon Mohrhoit boCJohrö.nkton dagogon dio Aufklärer ihren Gleichheitsbegriff
auf die Gleichheit vor dem Gesetz.
Die Französische Revolution brachte hier zunächst nur die praktische Durchsetzung
einer theoretisch längst ausgebildeten Anschauung. Die zwischen dem 4. und 11.
August 1789 durchgesetzten Erlasse schufen das Feudalwesen ab, retteten aber den
Gleichheitsbegriff der Aufklärung, indem sie das Privateigentum zum bürgerlichen
Recht schlugen. Die jakobinische Ära kehrt.e den GleinhheitAhegriff At.ii.rhr heraus,
verstand ihn aber grundsätzlich nicht anders. LAUKHARD berichtete 1796, daß für
die Franzosen die GleichMit ( egalite) . . . mit <Zer Freiheit notwendig verbunden ist,
und präzisierte dann, es gebe dortzulande keine persönliche, keine habituelle Gleich-
heit, aber wohl eine legale 69 3. RrnnEL gab bei seiner Vernehmung an, er habe mit
Hilfe von periodischen Blättern Unterricht von der Freiheit und gesetzlichen Gleich-
heit erteilen wollen, denn die Menschen, zuuorder.~t a?1,,y den 11,nteren Klassen, besäßen
Vorstellungen von der ungereimtesten Art694 • Die Gleichheit beziehe sich bloß auf die
Gleichheit der Recht6, nicht auf die Gleichheit der Güter, betonte auch DoRSCH in seiner
Eröffnungsansprache vor dem ,Mainzer Jakobinerklub695 •
Der geschichtsphilosophische Perspektivbegriff der Aufklärung wurde durch das
Freiheitsverständnis der Jakobiner um die „demokratische" Komponente erwei-
tert. 1792 rechnete WEDEKIND es unter die Hauptvorzüge der demokratischen Ver~
fassung, daß hier die Souveränität beim Volke liege und als deren Konsequenz Frei-
heit und Gleichheit Einzug halten 696 . 1795 sagte DoRSCH anläßlich einer Gedenk-

69 2 DE JAUCOURT, Axt. Egalite naturelle, Encyclopedie, t. 5 (1755), 415.


693 LAUKHARD, Leben (s. Anm. 471), 512 f. Von der egalite Mgale ist in Frankreich vor und
nach 1789 häufig die Rede; GREIVE, Liberte, Egalite, Fraternite (s. Anm. 337), 736 f.
694 ANDREAS FRH. v. RIEDEL (1794), zit. ALFRED KöRNER, Difl Wiflnflr ,Jakobiner (St.ut.t-

gart 1972), 120.


690 ANTON JOSEPH DORSCH (1792), zit. HANSEN, Quellen (s. Anm. 461), Bd. 2, 538, Anm. 2.
89 6 WEDEKIND, Regierungsverfassungen (s. Anm. 639), 190 ff.

531
Freiheit VII. 8. Freiheit - Gleichheit

feier auf die Hinr\chtung Ludwigs des XVI., vor r.wei .fahren sei die Freiheit und
Gleichheit der Franzosen für immer befestigt worden, denn ein König, der durch seinen
Stand selbst ein geschworener Feind aller Gleichheit war, sei eine giftige Pflanze auf dem
Boden der Freiheit 697.
In Deutschland war die Antwort auf das Gleichheitspostulat der Revolution zurück-
haltend. WIELAND versuchte die naturrechtliche Herleitung der Freiheit festzuhal-
ten, ohne damit die Gleichheit anerkennen zu müssen. Freiheit sei ein natürliches,
rechtmäßiges und durch keine Verjährung verlierbares Eigentum des Menschen, die es
verbiete, einen Menschen zum Sklaven zu machen. Allgemeine Menschengleichheit
sei in der Freiheit schon enthalten. Mit dem Worte Freiheit sei schon alles gesagt 698 •
Schon hier deutet sich die im 19. Jahrhundert vorherrschende Rangordnung der
Begriffe 'Freiheit' und 'Gleichheit' an. Die negativen Erfahrungen mit der Gleich-
heitsforderung in der Revolution und die fortgesetzte Reflexion über das Verhältnis
der beiden zu Sehlagwörtern gewordenen Begriffe führten dazu, daß ihre revolu-
tionäre Untrennbarkeit in Frage gestellt und der 'Freiheit' als geschichtsphiloso-
phischem Leitbegriff der Vorrang eingeräumt wurde. Die Frage war jew~ils, wie
weit 'Gleichheit' ausgedehnt oder begrenzt werden mußte, um mit 'bürgerlicher'
oder 1politischer Freiheit' in Einklang gebracht werden zu können. Da~ er~Le Jahr-
zehnt des Jahrhunderts war von solchen Entwürfen (Fichte, Fries, Altenstein u. a.)
erfüllt 699 •
Die Tendenz zu konkreter Begrenzung und Differenzierung des Allgemeinbegriffs
'Gleichheit', die entsprechend auch beim Freiheitsbegriff unerläßlich war, setzte
sich auch nach der Reformzeit fort. Die Suggestivkraft der revolutionären Schlag-
wortverbindung 'Freiheit und Gleichheit' blieb zwar nicht unwirksam und war bis
1848 stets verfügbar, aber ihre bedenkenlose Ineinssetzung führte ebensowenig wei-
ter wie emphatisch-kindliche Verse, so etwa der Turner Jahns:
So hegen wir ein freies Reich,
An Rang und Stand sind alle gleich!
Freies Reich! Alles gleich!
Heissa juchhe/7° 0
Die Identifikation von rechtlich-bürgerlicher und politischer Gleichheit mit Freiheit
herrschte in den patriotischen Gruppen um 1810/15 offensichtlich vor, wobei der
Vorwurf „falscher" Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen, der von konservativer
Seite erhoben wurde, zugleich abzuwehren war. Da Freiheit und Gleichheit dem
Ziel des erhofften Reiches nationaler Einheit eingefügt waren, mußten sie konstitu-
tionell-programmatisch konkretisiert werden. 1806/07 notierte SEUME: Gleichheit ist
immer der Probestein der Gerechtigkeit, und beide machen das Wesen der Freiheit. Eine
gute Konstitution sanktioniere Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit; diese drei sind
eins 701 • Auch die Burschenschaft betonte ihren eingeschränkten Freiheits-/Gleich-

697 DORSCH, in: lliNSEN, Quellen, Bd. 3, 362 f.


608 W1ELA1w, Ge~präche unter.vier Augen (1798), SW Bd. 32 (1857), 129 f.
699 ~ Gleichheit.
700 Zit. HANS KoHN, Prelude to Nation-States. The French and German Experience,

1789-1815 (Princeton/N. J. 1967), 272.


7 o1 SEUME, Apokryphen (s. Anm. 472), 1261. 1278.

532
VD. 8. Freiheit - Gleichheit Freiheit

heitsbegri:ff,. als sie 1817 auf der Wartburg beschloß: Freiheit und Gleichheit ist das
Höchste, wonach wir zu streben haben ... Aber es gibt keine Freiheit als in dem Gesetz
und durch das Gesetz, und lceine Gleichheit als mit dem Gesetz und vor dem Gesetz702 •
Paradigmatisch kommen die politischen Absichten bürgerlicher Reformfreunde im
Freiheitsartikel des BROCKHAUS von 1817 zum Ausdruck, wo ein Verweis auf die
Errungenschaften von 1789 mit der Abwehr übertriebener späterer Gleichheitsvor-
stellungen verbunden wurde. Zur oft praktizierten Teilung der Freiheit in eine poli-
tische und eine bürgerliche bemerkte das Lexikon: Auf diese letzte Art der Freiheit
bezieht sich auch der in neuern Zeiten durch die Französische Revolution so berühmt
und fast berüchtigt gewordene Ausdruck: Freiheit und Gleichheit. Man forderte näm-
lich, daß jeder im Staat Geborne als ein Freigeborner mit anderen in Ansehung des
Rechtes überhaupt Gleichgesetzter betrachtet werden sollte. Es war also, wie man jenen
Ausdruck oft mißverstanden und mißdeutet hat, nickt von einer Aufhebung aller bürger-
lichen Unterordnung und aller Tlngleü:li,l1,e1;t 1:n Ansehen einzelner Reckte (des Besitzes
oder Vermögenszustandes) die Rede, sondern von Aufhebung aller Arten von Sklaverei,
Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und privilegierter Herrschaft des einen Bürgers
über einen anderen' 03 • Die bürgerlichen Vorstellungen zum Thema „Gleichheit in
Freiheit" hatten damit einen ersten Abschluß erfahren. Him1ir,htlir,h rlt1r Ht1eit1rnneR-
form ließ sich die Gleichheit durchaus mit der konstitutionellen Monarchie verein-
baren, Tendenzen zu weitergehender sozialer Gleichheit wurden abgeschnitten mit
der WELCKERschen Rechtsstaatde:finition, die für den Grundsatz „gleiches Recht
für alle" festgelegt hatte, daß nicht Umfang und Inhalt gleich sein müssen, sondern
eine gleiche Möglichlccit der Erwerbung der Rechtssphäre704 • Dem ent11prachen die
verfassungsrechtlichen Normierungen in den Konstitutionen deutscher Staaten
nach 1815. In der Verfassungsurkunde des Königreichs Württemberg (1819) z. B.
wurden die Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte, staatsbürgerlichen Pflichten,
insonderheit der Staats-Lasten, Gleichheit der Geburt bei Aufnahme in den
Staatsdienst und der Wehrpflicht sowie Freiheit der Person, Gewissens- und Denk-
freiheit, Freiheit des Eigentmns und Auswanderungs-Freiheit zugesichert 705 • In
der Verbindung von Freiheit der Person und des Eigentums (bürgerliche Freiheit)
einerseits, Gleichheit vor dem Gesetz andererseits, wurde der dem Konstitutionalis-
mus eigentümliche Bezug der Freiheit zur Gleichheit in der Staatsrechtstheorie der
Zeit festgelegt 706 •
Wo immer diese Lehre in die staatsrechtlichen Verhältnisse Eingang gefunden hatte,
wurden ihre politischen Konsequenzen von den Ministerien verteidigt. So erblickte

702 Grundsätze und Beschlüsse, Nr. 19, EHRENTREICH, Luden (s. Anm. 606), 121. Der Bur-

schenschafter CHRISTIAN v. BmtI erhielt 1818 in sein Stammbuch den Sinnspruch: Im


Menschen gilt der Mensch allein,/ Bei Gleichheit nur kann Freiheit sein. J Drum weiß ich
unserm Streben / Nur einen Zweck und einen Ruhm: / Daß unserm Volk wir geben / Ein freies,
gleiches Bürgertum; STEIGER, Aufbruch (s. Anm. 554), 64.
703 BROCKHAUS 4. Aufl., Bd. 3 (1817), 833 f., Art. Freiheit.

701 WELCKER, LeL!i.Le GI'ümle (ti. Anm. 590), 80.


706 Verfassungsurkunde des Königreichs Württemberg (1819), HUBER, Dokumente, Bd. 1,

174. Ähnlich in den anderen Konstitutionen. -+ Grundrechte.


706 JoH. CHRISTOPH FRH. v. ARETIN / CARL v. RoTTECK, Staatsrecht der constitutionellen

Monarchie, Bd. 2, 2. Aufl. (Leipzig 1839), 1 ff. ~9.

533
Freiheit VII. 8. Freiheit - Gleichheit

die preußische Regierung im Mischehenstreit mit dem Kölner Erzbischof, der sich
auf Gewissensfreiheit und freie Ausübung der Kirchengewalt berief, einen Anschlag
auf die Freiheit des einzelnen und die Gleichheit der Verhältnisse, denen der Staat ...
Schutz gewähren müsse 70 7 • Gegen den daraus abgeleiteten Anspruch auf „Kirchen-
hoheit" protestierte der Vatikan und vindizierte die verletzte kirchliche Freiheit 708 •
Von hier aus entwickelte GöRRES 1838 seinen naturhaft-autonomen, katholisch-
anstaltlichen Freiheitsbegriff: vor dem Staat habe die Kirche existiert, darum sei sie
die Freie und Semperfreie und deshalb umfasse die Kirchenfreiheit das außerhalb des
Staates ausgesonderte Gebiet, wo sie ihr H ausreckt ungehemmt ausüben kann 709 • Indem
Görres auf die libertas ecclesiae des Investiturstreits und das altständische Haus-
väterrecht anspielte,. erfüllte er seinen konfessionalisierten Freiheitsbegriff mit.
mehreren chronologischen Schichten; deren jüngste enthielt die, modernen konsti-
tutionellen Grundfreiheiten, die aber nicht dem Individuum, sondern der Kirche als
Ganzem zugeordnet sein sollten. Ein Bündnis mit den Liberalen war unter diesen
Vorzeichen ausgeschlossen. In einer die Wallfahrten zum Heiligen Rock analysieren-
den katholischen Flugschrift hieß es darum 1845: Was der Freiheitsschwindel als
höchstes Ziel über rauchenden Trümmern und Leichen erreichen möchte, hat die Religion
vollbracht; es herrschte brüderliche Gleichheit unter den Tausenden 710 •
Das frühliberale Freiheit-Gleichheit-Verhältnis forderte in seiner Begrenztheit die
liberalen und radikalen Kritiker heraus, die Freiheit in politii:wher und Gleichheit in
sozialer Hinsicht zu erweitern forderten. Damit war die Frage verbunden, ob diese
Steigerungsstufe zur 'politischen Freiheit' und zur 'sozialen Gleichheit' verfassungs-
rechtlich ähnlich zusammen begriffen werden konnte wie 'Freiheit und Gleichheit'
auf.der frühinstitutionellen Stufe. Im Radikalismus der dreißiger Jahre wurde eine
solche Doppelbegriffseinheit deutlich behauptet. SCHUSTER, eines der Häupter des
sozial-demokratischen Radikalismus in Paris, leugnete 1834, daß es politische Frei-
heit geben könne ohne gesellschaftliche Gleichheit, ohne Freiheit in der sozialen Be-
deutung des Worts 711 • Ein ungenannter Mitstreiter stellte als Unterschied zum soge-
nannten Liberalismus 1835 fest, daß der Radikalismus auf Begründung der Gesamt-
freiheit abzielt; damit war die Reform der Vermögensverhältnisse gemeint, die zur
sozialen Freiheit führen werde 712 • So war gleichzeitig und im Zusammenhang mit
der 'sozialen Demokratie' der Begriff der sozialen Freiheit entstanden, der schlag-
wortartig das gesamte über die bloß öffentlich-rechtlichen Gleichheitsvorstellungen
des Bürgertums hinausgehende Programm der „Linken" enthielt. Die Gleichheit
rangierte wertmäßig hier vor der Freiheit, beide glaubte man verbunden durch das

1o 7 C!m. KARL Josus v. BUNSEN, Darlegung des Verfahrens der preußischen Regierung
gegen den Erzbischof von Köln (Berlin 1838), 36. 11. 9.
708 Allokution GREGORS XVI. vom 10.12.1837; zit. ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Ver-

fassungsgeschichte der Neuzeit seit 1789, 2. Aufl., Bd. 2 (Stuttgart 1968), 241.
709 J. GöRRES, Athanasius, 4. Aufl. (Regensburg 18ll8), ll8. 26 f.
710 rAnonym], Die hohe Bedeutung des Heiligen Rockes Jesu Christi zu Trier, zur Recht-

fertigung der Verehrung desselben (Flugsohr. Würzburg 1845), 17.


7 11 SCHUSTER, Der Geächtete 1 (1834), zit. ScmEDER, Anfänge (s. Anm. 614), 194.
712 Der Geächtete 2 (1835), zit. KoWALSKI, Demokratismus (s. Anm. 479), 95. Anm. d„ 89.

534
VD. 8. Freiheit - Gleichheit Freiheit

den unheilvollen Freiheitsdrang der Menschheit mäßigende und ausgleichende Prin-


zip der Brüderlichkeit 713 .
Der Begriff der sozialen Freiheit war damit in den politischen Wortschatz der Ar-
beiterbewegung aufgenommen 714 , die mit ihm das Ziel der radikal sozialen und
politischen Emanzipation der arbeitenden Klassen umschrieb 715 • In solcher Sicht
blieben 'Freiheit' und 'Gleichheit' ungeschieden, weil die 'soziale Freiheit' nichts
anderes als „wahre Gleichheit" meinte. Doch das Verhältnis der beiden Zielbegriffe
zur Revolution änderte sich im Vormärz. Wenn es 1835 im „Geächteten" geheißen
hatte, daß politische Freiheit zur sozialen Freiheit nicht bloß nicht führt, sondern daß
sie in ihrer wahren Beschaffenheit unmöglich und undenkbar ist ohne gleichzeitiges
Bestehen der letzteren 716 , so war damit der Grundsatz der sozialen Reform nicht auf-
gegeben. -Bei Weitling, den „Wahren Sozialisten", aber vor allem bei MARX war
seit 1844 die ganze Freiheit nicht mehr auf evolutionärem Wege herzustellen. Wie
fest Freiheit und Gleichheit zusammengefügt waren, zeigt das ablehnende Verhalten,
das Marx gegenüber der nur politischen Revolution einnahm; sie sei ein utopischer
Traum für Deutschland 717 • Da 'Freiheit und Gleichheit' als eine in sich selbst unter-
schiedene Zieleinheit in der Theorie von Marx und Engels seit 1844 keinesfalls mehr
korn~t.it.nt.ionr.ll, Ronflr.rn nnr norih rr.volnt.ionii.r im wr.lt.gr.Rrihiriht.lirihr.n 'fot.alvr.r-
ständnis. begriffen wurden, entfiel das Interesse an ihrer programmatischen Kon-
kretisierung. Konstitutionell garantierte Freiheit und Gleichheit, welcher Ausdeh-
nung auch iIIJ.mer, waren für Marx nur eine falsche Vorspiegelung der herrschenden
Bourgeoisie. Auch nach dem revolutionären Umschlag sollte es das N ahziel 'Freiheit
und Gleichheit' nicht geben, da die „Diktatur des Proletari3<ts" um des Prozesses
willen, der am Ende schließlich zum „Reich der Freiheit" führen sollte, unerliißlich
war 718 . In der Praxis der Arbeiterbewegung, bei Gewerkschaften und Sozialdemo-
kratie, ist diese theoretische Aussonderung des Begriffspaars aus der Programmatik
des Tageskampfes nicht durchgehalten bzw. nie voll aufgenommen worden. Im Er-
furter Programm (189J) wurde die Lösung dieses Widerspruchs dadurch herbeige-
führt, daß im ersten Teil der geschichtliche Prozeß beschrieben und für die Zukunft

713 Würde aber die Freiheit allein die Gleichheit auf Erden wil!derherstellen? Nein, die freien

Menschen würden sich untereinander zerfl,eischen ... , wenn kein Band sie vereinigte. Was ist
dieses Band? Die Brüderlichkeit ••. die Grundsätze der gesellschaftlichen Wil!dergeburt lauten
also Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit; RICHARD LAHAUTIERE, Petit catechisme de la
reforme sociale (1839), dt. in: KooL/KRAusE, Frühe Sozialisten (s. Anm. 567), 321.
Die Verlagerung des Schwerpunktes von der 'Freiheit' zur 'Gleichheit' deutet sich auch in
den Handwerkerliedern jenei· ZeiL an; ScmEDER, Anfänge, 201 r.
714 Sozialisten jeglicher Schattierung benutzten ihn: HEss, Freiheit (s. Anm. 644), 149;

MARx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (s. Anm. 529), 390; WEITLING sprach vor-
wiegend von der Freiheit aller bzw. für alle; Garantien (s. Anm. 566), 100. 214 f. WILHELM
MARR meinte, daß die Definition von Freiheit mit den Worten, „alles zu tun, was einem
andern nicht schadet", . . . geradezu zur Vernichtung aller Ungleichheit, zur Aufhehung des
Privateigentums führe; Die soziale Frage (1845), zit. KowALSKI, Demokratismus (s. Anm.
479), 330.
715 Der Geächtete 2 (1835), KowALSKI, Demokratismus, 93.

716 Ebd„ 90.


717 MARx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (s. Anm. 529), 388. /
718 -->- Gleichheit.

535
Freiheit VII. 8. Freiheit - Gleichheit

vorhergesagt wurde (diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht


bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts), im zweiten Teile
aber zunächst Nahziele aufgestellt wurden, welche die nicht verwendete Formel
'Freiheit und Gleichheit' inhaltlich bestimmten und aufgliederten 719 .
Auch in der Revolution 1848/49 hat die Formel 'Freiheit und Gleichheit' eine auf-
fallend geringe Rolle gespielt. Während 'Freiheit' als Allgemeinbegriff fortgesetzt
verwendet und so zum Symbolwort der Revolution, des Verfassungswerks und der
Nationalstaatsbildung wurde, wurde 'Gleichheit' auf „Gleichberechtigung(en)"
herabgedrückt und tauchte differenziert in Forderungen wie „gleiches Wahlrecht",
Bildung durch Unterricht allen gleich zugänglich720 usw. auf. Der Text der Reichs-
verfassung sollte die bürgerliche Freiheit des bisherigen konstitutionellen Staats-
rechts erweitern und den Weg zur politischen Freiheit durch Grundrechte wie
Äußerung der Meinungsfreiheit, besonders Preßfreiheit, Vereins- und Versamm-
lungsfreiheit, aber noCJh ohne klar definierten Ansatz zu einer parlamentarisch ver-
antwortlichen Reichsregierung ebnen. Die Frage „sozialer" Freiheit bzw. Gleich-
berechtigung wurde umgangen. Die Nationalversammlung begnügte sich mit der
Verwirklichung dessen, was HANSEMANN schon 1830 die geregelte l!'reiheit genannt
hatte 721 , Die Furcht vor den siCJh formierr.nchm „CJfa,RRP.R ilang11rr.11ReR" verstärkte im
Bürgertum die Vorbehalte auch gegenüber dem mit der Gleichheit verbundenen,
republikanischen Demokratiebegriff und führte zu immer offeneren Stellungnahmen
ge.gen die Gleichheit der Freiheit, damit diese nicht durch sich selbst zugrunde gehe 722 •
1848 stellte sich das Problem am eindringlichsten in der Wahlrechtsdebatte, in der
'Freiheit' und 'Gleichheit' zu gegenläufigen Wertbegriffen geworden sind. Daß 1:m1L
die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes die Freiheit bringe, wurde überhaupt
nur noch von radikalen Abgeordneten behauptet. LÖWE-CALBE warf der Mitte vor,
daß sie den Mangel an Mißtrauen sogar als ein Verbrechen gegen die Freiheit betrach-
te. Auf der Gegenseite betonte MATHY, er wolle zwar keine Privilegien, aber auch
keine Massenherrschaft, die durchaus nicht der Ausdruck des Volkswillens ist und die
auch durchaus nicht die Freiheit sichert, sondern zum Despotismus führt 723 • Mathy
rührte hier an die seinerzeit oft, von keinem andern analytisch und prognostisch
schärfer als von ALEXIS DE TocQUEVILLE behandelte Frage der Vereinbarkeit von
Freiheit und Gleichheit in der egalitären Demokratie. Tocqueville wies auf den Weg
zur 'Knechtschaft' hin, der aus dem Gleichheitsprinzip in politischen Verfassungen
folgen müsse: L'egalite produit, en effet, deux tendances: l'une mene directement les
hommes a l'independance et peut les pousser tout a coup jusqu'a l'anarchie, l'autre les
conduit par un chemin plus long, plus secret, mais plus sur, vers la servitude 724 . Eine Ge-
sellschaft nivellierter „Gleicher" werde dazu neigen, sich um der Sicherheit, der Ord-
nung und ihres W ohfotandeB willen einer starken, zentralisierLen Staatsgewalt zu un-

719 Erfurter Programm, in: MoMMSEN, Parteiprogramme (s. Anm. 579), 350 f.
720 Offenburger Programm der südwestdeutschen Demokraten (10. 9. 1847), HUBER, Doku-
mente, Bd. 1, 262.
721 HANSEMANN, Donkeohrift (tJ, Anm. 171), 53.
722 Ebd., 222.
723 Reden LöwE-CALBES und MATHYS im Februar 1849, Sten. Ber. Dt. Nationalvers„

Bd. 7, 5243. 5299.


724 TocQuEVILLE, Democratie, t. 1/2 (1951), 295.

536
VII. 8. Freiheit - Gleichheit Freiheit

terwerfen. So komme esnotwenig zu einem neuartigen Despotismus, der aus der Demo-
kratie der Gleichheit erwachse und etwa so zu charakterisieren sei: Unefouleinnom-
brable d' hommes semblables et egaux qui tournent sans repos sur eux-m8mes pour se pro-
curer de petits et vulgaires plaisirs dont ils emplissent leur ame. Diese Menschen seien
isoliert, mit sich selbst beschäftigt, gemeinschaftsfremd. A u-dessus de ceux-1,d, s' eleve un
pouvoir immense, et tutelaire qui se charge seul d' assurer leur jouissance et de veiller
sur leur sort. Il est absolu, detaille, regulier, prevoyant et doux ... O'est ainsi que tous
les jours il rend moins utile et plus rare l' emploi du libre arbitre ... et derobe peu a peu
chaque citoyen jusqu'a l'usage de lui-m8me. L'egalite a prepare les hommes a toutr;s ces
choses 725 • So führe das Prinzip der Gleichheit zur Entmündigung des Menschen und
zum Verlust seiner persönlichen Selbständigkeit, d. h. der Freiheit. Tocqueville
folgerte aus der Unabwendbarkeit dieser Entwicklung jedoch nicht, daß eine aristo-
kratische Verfassung wiederhergestellt werden solle, sondern hält es für nötig, de
faire sortir la liberte du, sein de l,a, societe democratiq11.e m./, Di:eu nous fait vivre726 • Damit
war die Identitätsvorstellung von 'Freiheit und Gleichheit' zunichte gemacht.
Trotz der Prognose, daß Freiheit durch die Konsequenzen verwirklichter Gleichheit
der Abtötung anheimfallen werde, suchte Tocqueville nach Möglichkeiten, wie
Fmihflit. alR nr,r Grunilwr.rt. mr.nRohlioher Existenz auch und gerade in der sie ten-
denziell vernichtenden Demokratie wieder ermöglicht werden könne.
Auch LORENZ VON STEIN stellte die Beziehung von l!'reiheit und Gleichheit in ein
Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft. Er beschrieb die Geschichte Frank-
reichs seit 1789 nahezu ausschließlich mit Hilfe des Freiheitsbegriffs und betonte
dabei, daß die Ideen der Freiheit und Gleichheit nicht so sehr politische Prinzipien als
vielmehr gesellschaftliche Grundsätze seien und dadurch der sozialen Umgestaltung
des ganzen Volkes Raum gegeben worden sei. Die Verankerung der Freiheit im Ei-
gentum habe dann aber zu einer Situation geführt, die fragen lasse, ob die Freiheit
selber ... vielleicht im Widerspruch mit Staat und Gesellschaft überhaupt stehe 727 • Die
Antwort machte Stein davon abhängig, ob erstens das Proletariat der Gegenwart sich
seiner gesellschaftlichen Gleichheit mit dem besitzenden Stande bewußt werde, und ob
zweitens dieser zugunsten dessen eine Politik der Förderung der Freiheit betreibe 728 •
In einer solchen Republik des gegenseitigen Interesses seien Freiheit und Gleichheit
garantiert: 'Freiheit' wird dem Individuum zuerkannt, 'Gleichheit' aber ist das
Attribut der beiden in der industriellen Gesellschaft „offenen" Klassen. Diesem Mo-
dell des gesellschaftlichen Ausgleichs hat ROBERT VON MoHL weitgehend zuge-
stimmt; auch er suchte ihn im Zeichen der „persönlichen Freiheit" zu bewältigen.
1869 warf er dem Bürgertum vor, die von ihm geltend gemachten Freiheits- und
Gleichheitsrechte höher zu stellen und heiliger zu achten als die der Arbeiterschaft; dies
sei ein Makel unserer Gesittigung, aber auch eine Gefahr, die durch Wegräumung aller
noch bestehenden Reste von Beschränkungen der persönlichen Freiheit beseitigt werden
könne 729 •

725 Ebd., 324.


720 Ebd., 328.
727 STEIN, Geschichte der socialen Bewegung (s. Anm. 659), Bd. 1, 213 f. 503.
7 2s Ebd., Bd. 2, 96; Bd. 3, 207.

729 R. v. MOHL. Die Arbeiterfrage (1869), Polit. Sehr„ hg. v. Klaus v. Beyme (Köln, Opladen

1966), 38. 37.

537
Freiheit VIIl. AU!lblick

In den Verfassungslösungen Preußens und des Deutschen Reichs (1850, 1867/71)


blieb es bei der der konstitutionellen Monarchie eigentümlichen Verbindung der
Prinzipien individuell/„bürgerlicher" sowie (begrenzt) politischer Freiheit und
rechtlicher Gleichheit. Die bürgerliche Abwehr gegen die (1919 verstärkt, wenn auch
noch unfertig durchgesetzte) Tendenz einer intensiveren Verwirklichung des Dop-
pelbegriffs im Sinne parlamentarischer Demokratie in Verbindung mit dem (schon
im Kaiserreich in Gang gebrachten) „Sozialstaat" war stark. Selbst Liberale der
demokratischen Richtung trennten „gefährliche" Gleichheit von politischer Frei-
heit. THEODOR MoMMSEN rechnete 1849 das derrwkratische Evangelium „Gleichheit
vor dem Gesetze" zum Bestandteil der wirklichen Freiheit; in ihm liege der Keim einer
glücklichen Zukunft. Zugleich aber warnte er vor den falschen Propheten, welche ...
von „Gleichheit schlechthin" sprechen, die in W ahrhe!t die schreiendste Ungleichheit
ist ... Nicht diese Gleichheit dürft ihr fordern, sondern die „Gleichheit vor dem Ge-
setze"730. Auch GERVINUS war vom Emporstreben eines vierten Standes beunruhigt.
Die Bewegungsm{inner Frankreichs gefährden die Einheit mit dem Übermaße der
Gleichheit und die Gleichheit mit dem Unmaße der Freiheit. Ihnen stellte er vorbild-
haft die germanischen Ordnungen entgegen, die allein eine gesetzte und sichere Frei-
heit 11er.~cha,ffen kiinnen731.
Weit schärfer trennte TREITSCHKE alle politisch-sozialen Gleichheitstendenzen von
einer liberalen Verfassung ab. Alte Topoi mit neuem NaLionalismus verknüpfend,
brachte er das „Freiheit-Gleichheit"-Problcm in Bezug zum Nationalcharakter. Die
Geschichte zeige, daß die Franzosen trotz aller Begeisterung für die Freiheit immer nur
die Gleichheit gekannt haben, doch nie die Freiheit. Die Gleichheit aber ist ein inhalt-
loser Begriff, sie kann ebensowohl bedeuten: gleiche Knechtscliaft aller - als gleiche
Freiheit aller. Und sie bedeutet dann gewiß das erstere,, wenn sie von einem Volke als
einziges, höchstes Gut erstrebt wird, wie der Kommunismus zeige. Wir Germanen po-
chen zu trotzig auf das unendliche Recht der Person, als daß wir die Freiheit finden
könnten in dem allgemeinen Stimmrechte 732 . Diese Vorstellungen einer überlegenen
„deutschen Freiheit" übten in den folgenden Jahrzehnten eine erhebliche Wirkung
aus.
ÜHRISTOF DIPPER

VIII. Ausblick
Seit der MiLLe des 19. Jahrhunderts hat sich die schon vorher erkennbare Ten<lem;
fortgesetzt, daß die Vielfalt des semantischen Feldes von 'Freiheit' kaum noch be-
reichert oder gar verändert, die Verfügbarkeit des Wortes für jegliche Verwendung
jedoch weiter erleichtert und gesteigert worden ist. Dabei ist jeweils gemäß dem
Vorverständnis des Glaubens oder der Überzeugungen; den Suggestionen des „Zeit-
geists" und der taktischen Zweckmäßigkeit für die Sprachregelungen aus dem vor-
handenen Bestand geschöpft word~n. Der Freiheitsbegriff behielt, dabei hohe, nicht
anfechtbare Wertschätzung. So wird bis zur Gegenwart in der Regel nicht das Ideal

730 THEODOR MOMMSEN, Die Grundrechte des deutschen Volkes init Belehrungen und Er-

läuterungen (Leipzig 1849), Ndr. bg. v. Lothar Wickert (Frankfurt 1969), 8. 16 f.


731 GERVlNUS, Einleitung (s. Anm. 463), 166 f. 174 f.

732 TREITSCHKE, Freiheit (s. Anm. 627), 9.

538
Vill. Ausblick Freiheit

der Freiheit als solcher, sondern nur sein Mißbrauch, alter Tradition gemäß, in
Frage gestellt. 'Freiheit' konnte also z. B. sowohl auf die Überlieferung der „Revo-
lution" wie der „Gegenrevolution" bezogen werden, wobei dem jeweiligen Gegner
vorgeworfen wurde, daß er einen „falschen" Begriff von Freiheit vertrete. Wie alle
anderen Begriffe mit altüberliefertem Wertgehalt ist 'Freiheit' im politischen Kampf
seit dem 19. Jahrhundert immer von neuem ideologisiert und für (entgegengesetzte)
Parteirichtungen verfügbar gemacht worden. Dieser Vorgang ist allerdings nie völ
lig beliebig gewesen. Vielmehr ist in erster Linie unter dem Eindruck oder bei der
Bewältigung epochaler geschichtlicher Krisen- oder Erfolgserlebnisse im Für und
Wider der Deutungen und Begriffsmanipulationen 'Freiheit' besonders hervorge-
hoben, verwendet und verbraucht worden. Das traf zu: für das Ereignis der Reichs-
gründung 1870/71, die sowohl als Vollendung wie als Verlust der „Freiheit" gedeutet
wurde, für die Wertung der Reichsverfassung und der reichsdeutschen Verfassungs-
wirklichkeit sowie für die nationale „Weltpolitik", die etwa von FRIEDRICH NAu-
MANN gegen Vorwürfe des alten, kleinbürgerlichen Freiheitsideals im Sinne des Ge-
samtfortschritts der Kultur, die nicht anders möglich ist als durch Zerbrechung der na-
tionalen l!'reiheit kleinerer Völker, verteidigt wurde, wobei dieser Verlust durch Fort-
sr.hrit,t,e der rer.htlir.hAn 11nil lmltnrnllAn FrnihAit a11RgAglir.hAn wArcfon RolltA. Na.n-
mann sprach in diesem Zusammenhang zeitgemäß von einer Lebensweise moderner
Völker, die als freiheitlich bezeichnet werden kann, oder von der Aufgabe, den Groß-
betrieb mit Freiheit arbeiten zu lassen 788 • Ein großes Beisp~el ist ferner die ideologi-
sche Auseinandersetzung im ersten Weltkrieg, der - besonders seit 1917 - von den
westlichen Verbündeten als weltpolitischer Kampf für „Demokratie" und „Frei-
heit", von deutscher Seite aber als Selbstbehauptung im Geiste einer unabhängig
von der „westlichen" Demokratie wirkenden „deutschen Freiheit" bezeichnet
wurde. Gegen die Zumutung Wilsons, den Kampf um Macht und Existenz ... zu
einem Kampfe um die Verfassungsformen zu erweitern und uns ihre demokratische
Freiheit auf(zu)drängen, stellten auch Kritiker des bestehenden politischen Systems
wie FRIEDRICH MEINECKE das Ideal eigenständiger deutscher Verfassungsreform
auf den geistigen Grundlagen des deutschen Idealismus und der konstitutionellen
Monarchie als eines „sozialen Königtums" mit dem Streben nach Freiheit des In-
einander von Staat und Persönlichkeit 73 4. Die verfassungszugewandten Parteien der
Weimarer Republik suchten ihre Selbstbestätigung im Namen der demokratischen
Freiheit gegen deh freiheitshindernden deutschen „Obrigkeitsstaat" bis 1918. In
der Revolution habe sich, wie FRIEDRICH EBERT in seiner Rede zur Eröffnung der
Nationalversammlung 1919 ausführte, das Volk gegen eine veraltete, zusammenbre-
chende Gewaltherrschaft erhoben: es ist frei, bleibt frei und regiert in alle Zukunft sich
selbst 735 • HITLER agitierte für „Freiheit und Brot" 73 6 und führte den „Freiheits-

733 FRIEDRICH NAUMANN, Das Ideal der Freiheit (Berlin 1908), bes. 8 f. 13. 23. 31.
734 FRIEDRICH MEINECKE, Die deutsche Freiheit, in: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge
von Harnack, Meinecke, Sering, Troeltsch, Hintze, hg. v. Bund deutscher Gelehrter und
Künstler (Gotha 1917), 14 ff., bes. 29. 39.
735 F.' EBERT, Eröffnungsrede zur Nationalversammlung am 6. 2. 1919, in: Die Deutsche

Nationalversammlung im Jahre 1919, hg. v. EDUARD HEILFRON, Bd. 1(Berlin1919), Haupt-


teil, s. 4.
736 So der Untertitel des „Völkischen Beobachters".

539
Freiheit VIII. Ausblick

kampf des deutschen Volkes" gegen die „Ideen von 1789" und die „westlichen De-
mokratien". In seiner Ideologie verdrängte die kollektive Freiheit des rassisch ver-
standenen 'Volkes' völlig die individuelle: Das Recht der persönlichen Freiheit tritt
zurück gegenüber der Pfiicht der Erhaltung der Rasse. Schlüsselwort im Register von
„Mein Kampf" war daher auch nur der Freiheitskampf des deutschen Volkes (später
Propagandaschlagwort für den Zweiten Weltkrieg), d. h. die Wiedererringung der
Freiheit von morgen durch Beseitigung von Ursachen und Folgen der Niederlage von
1918, dem Joch der Sklaverei. 'Freiheit' ist in diesem Sinne für Hitler die Unabhän-
gigkeit des deutsche:q. Volkstums vom Willen anderer, wobei wie immer bei Hitler
Volk und Rasse (so die Kapitelüberschrift 1, 11) verbunden sind. Dieser Passus in
„Mein Kampf" mündet dann in das bekannte Programm: das Schwert für diesen
Freiheitskampf zu schmieden, sei die Aufgabe der innenpolitischen Leitung eines
Volkes; die Schmiedearbeit zu sichern und Waffengenossen zu suchen, die Aufgabe der
außenpolitischen 737 •
Nach dem Zusammenbruch seiner „Freiheit" verkündenden und „Freiheit" ver-
nichtenden Herrschaft stand der politische Wiederbeginn in Deutschland im Zei-
chen der Hoffnung auf .l!'reiheit. 8ie war elementarer denn je aufgrund der gemach-
t,en Erfahrnngen. Die Formel der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung"
(GG 1949) sollte alle Deutsche vereinen, erlangte aber nur in den westlichen Besat-
zungszonen Rechtsgültigkeit, während im Bereich der sowjetisch besetzten Zone
der Wille der Bevölkerung dem sowjetischen Freiheitsbegriff untergeordnet und
durch zunehmende Absperrung abgeschirmt wurde. Im offiziellen Verständnis der
DDR schließt der Freiheitsbegriff unter Verwendung des alten Topos von „N ot-
wendigkeit und Freiheit" als gesellschaftliche Kategorie ... das Problem der indivi-
duellen Freiheit in sich ein; 'Freiheit' konkretisiert sich immer historisch, eine abso-
lute Freiheit gibt es nicht. Die Notwendigkeit ist stets die Voraussetzung unserer Frei-
heit, die sich auch dann, wenn sie nicht als solche erkannt wird, immer spontan
durchsetzt. Erkennt man die Notwendigkeit und nutzt sie zweckvoll aus, so ver-
liert sie ihre Spontaneität und verwandelt sich in Freiheit. Da sich im Sozialismus
die gesellschaftliche Notwendigkeit in wachsendem Maße in Übereinstimmung mit dem
Einzelwillen der Werktätigen befindet, ist sie eine erkannte, bewußt gewordene Macht
und kann sich in gesellschaftliche Freiheit verwandeln, die ·an die Stelle der kapitali-
stischen Lohnsklaverei tritt. Sozialismus und Kommunismus sind das Reich der Frei-
heit. Da es eine absolute Freiheit nicht gibt, wird die westliche abstrakte Freiheits-
propaganda zur Leerformel, der reaktionäre imperialistische Inhalte unterschoben
werden, während im Sozialismus die persönliche Freiheit des Menschen ... immer an
gesellscliaftz.iche V V'ta'ussetZ'unyen gebunden bleibt 738 • Der politische Freiheitsbegriff ist
also gegenwärtig im deutschen Sprachbereich offiziell zweigeteilt.
Die Frage bleibt offen, wie weit und wie stark - ungeachtet unbegrenzter Manipu-
lationsmöglichkeiten - 'Freiheit' aufgrund eines uralten Sprachverständnisses und
anthropologischer Vorgegebenheit als „primitiver" Begriff739 durchgehalten sowie

737 Hl'l'Li.Jit, Mein Kampf, 636.-640. Aufl. (München 1941), 279. XI. 687 f. 311 ff. 689.
Vgl. MEYER 8. Aufl., Bd. 4 (1938), 654 ff., Art. Freiheit.
738 Kleines politisches Wörterbuch, hg. v. G. KÖNIG, G. SCHÜTZ, K. ZEISLER (Berlin 1967),

209 f. Vgl. die Verfassung der DDR vom 6. 4. 1968, Art. 19.
7 39 So TELLENBACH, Libertas (s. Anm. 1), 14.

540
VIIl. Ausblick Freiheit

dauerhaft und damit unmißverständlich lebendig bleiben kann. Diese Frage führt
zurück zu den Grundlagen des Begriffs und weist darauf hin, daß extreme Sprach-
manipulationen auch unter modernen Bedingungen vereinheitlichender Medienzu-
griffe nur begrenzt und zeitweise durchdringen, da eine bestimmbare· Grundsub-
stanz der dein Menschen angemessenen Sprache trotz allen Wandels vermutlich un-
zerstörbar ist.
Diese Annahme oder Erfahrung liegt immer dann zugrunde, wenn die jeweiligen
Verkettungen des Freiheitsbegriffs mit politischen und wirtschaftlichen Systemen
oder Ideologien wissenschaftlich unabhängig bloßgelegt werden. MAx WEBER steht,
indem er solche Bloßlegung bewerkstelligt, nach eigener Aussage am Ende einer
Epoche, in der die naiv freiheitlichen Ideale 740 noch unmittelbar wirksam und daher
auch leicht für jede „Bewegung" greifbar waren; und er steht zugleich am Beginn
der Frage des 20. Jahrhunderts, wie „Freiheit" (in irgend einem Wortsinn) oder,
politisch verstanden, „Demokratie" . . . überhaupt auf die Dauer möglich sei. Er
stellt diese Frage verneinend in Bezug auf die Wirtschaftsstruktur seiner Zeit, die
heutige hochkapitalistische Entwicklung, der keinerlei Wahlverwandtschaft mit
'Demokratie' oder gar mit '.lfreiheit' zuzuschreiben sei, und wendet sie analog auf
den geistigen Parademarsch in Richtung auf die ökonom1'.sche „ Vergesellscha.jtiing"
der Sozialdemokratie an 741 . Hinter allen sich mit „Freiheit" schmückenden Pro-
grammen und Schlagworten stand für ihn die unerbittlich zwingende Strukturwand-
lung zu fortschreitender Organisicrung und Organisicrbarkcit des Daseins, dieser
nüchterne Tatbestand der universellen Bürokratisierung 742 , der Weber veranlaßt, in
seinen auf das FreiheiLt1prolilem gerichLeLeu GegenwarLt1analyt1e die WürLer 'Frei-
heit' und 'Unfreiheit' in Anführungszeichen zu setzen und im ganzen überhaupt nur
sparsam zu verwenden. Doch gewinnt er gerade durch diese ideologiekritische,
begrifflich bewußte Zurückhaltung dem Freiheitsbegriff seine ,;primitive" Gestalt
zurück. Denn er weigert sich, ihn in einer als zwangsläufig erscheinenden Trendana-
lyse untergehen zu lassen. Wer Wetterfahne einer „Entwicklungstendenz" sein will,
der möge ... diese altmodischen Ideale verlassen 743 • Gemeint waren damit 'Demokra-
tie' und 'Freiheit'. Es sei eine gröbliche Selbsttäuschung zu glauben, ohne diese Errun-
genschaften aus der Zeit der ,,Menschenrechte" vermöchten wir heute ... überhaupt zu
leben 744 • Von da aus wurde Freiheit als Grundwert der Demokratie nicht nur bejaht
und gefordert, sondern in die doppelte Sicht der Sicherung und Kontrolle sowie der
Ermöglichung schöpferisch gestaltender Tätigkeit in Politik und Wirtschaft ge-
t1LellL: der le-itende Ge·ist: der „Unternelt'mer" lt'ier, der „Pulü·iker" dort 715 • Webers

740 MAx WEBER, Der NationaMaat w1d die VolkMwirtMchaftspolitik (1895), Ge:s. PoliL.

Sehr., 2. Aufl., hg. v. Johannes Winckelmann (Tübingen 1958), 7.


741 Ders., Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland (1906), ebd., 61 f. Vgl. ders.

Wirtschaft und Gesellschaft (s. Anm. 529a), 2. Halbbd., 455 zum Verhältnis von Freiheit
und Zwang im modernen Vertragsrecht: Vereinbarungen ... , die bei formaler Freiheit der
Benutzung durch alle doch tatsächlich nur den Be.sitzenden zugänglich sind.
742 Ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1917), Ges. Polit. Sehr.,

318.
743 Ders., Bürger!. Demokratie in Rußland, 61.
7 44 Ders., Parlament und Regierung, 321.

745 Ebd., 322.

541
Freiheit VIII.. Ausblick

aktueller Anwendungsfall war die Ablösung der deutschen „Beamtenherrschaft"


durch einen Parlamentarismus, der das notwendige Vordringen der bürokratischen
Struktur der Herrschaft 146 b~rücksichtigen und steuern sollte.
Mit dem Aufweis dieser Widersprüchlichkeit - zunehmender Zwang zu „Unfrei-
heit" im Systemgeflecht der organisierten Welt einerseits, die notwendige Bemü-
hung um Setzung und Durchsetzung von Freiheitssicherung andererseits - leitete
Max Weber die noch immer nicht endende post-„moderne" Auseinandersetzung um
das Freiheitsproblem der Gegenwart und der Zukunft ein. 'Freiheit' ist - so zeigt
es sich auf allen Ebenen dieser Auseinandersetzungen - als grundlegender Wert-
und Zielbegriff anthropologisch nicht eliminierbar.
WERNER CoNzE

746 Ders„ Wirtschaft und Gesellschaft, 650 ff., bes. 667.

542
Friede

1. Einleitung. II. 1. Germanische Tradition im mittelalterlichen Friedensbegriff. 2. Der


Friedensbegriff der mittelalterlichen Moraltheologie. 3. Durchdringung germanischer und
christlich-theologischer Ideenelemente. 4. Der politische Friedensbegriff des ausgehenden
Mittelalters. III.· 1. „Pax civilis" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit.
2. Der internationale Friede als labiler Vertragszustand. 3. (Ewiger) Friede als Forderung
des moralisch-praktischen Vernunftrechtdenkens der Aufklärung. 4. (Ewiger) Friede als
Verheißung der Vernunft im ökonomisch-utilitaristischen Rationalismus. 5. Die Ver-
schmelzung des moralistischen und utilitaristischen Friedensdenkens und die Doktrin des
bellum iustum. 6. Die Trennung von Staat und Frieden im Friedensbegriff der Französi-
schen Revolution. 7. Der Bellizismus. 8. Kants vermittelndes Friedensdenken. 9. Die Ent-
wicklung des Friedensbegriffs im 19. Jahrhundert. 10. Zusammenfassender Überblick über
ull:l Dl:lUl:luLungl:ln von 'Friede' um die Mitte des 19. Jahrhundert~. IV. Au!blick.

I. Einleitung
Wie die sprachlich verwandten Wörter 'frei', 'freien', 'Freund' geht 'Friede' (ahd.
fridu, mhd. fride) auf die idg. Wurzel pri - „lieben, schonen" zurück, meint also
ursprünglich einen Zustand der Liebe und Schonung 1, wobei freilich das Moment
aktiver gegenseitiger Hilfe und Stütze stärker betont ist als das einer gefühlsmäßigen
Bindung und Zuneigung. 'Friede' ist von vornherein ein sozialer Begriff: er kenn-
zeichnet eine bestimmte Form des menschlichen Zusammenlebens. Im Gegensatz
etwa zu dem ihm etymologisch nahestehenden 'frei' hat 'Friede' seinen ursprüng-
lichen Sinn niemals völlig verloren; vielmehr ist er in allen Bedeutungsvarianten,
die der Begriff 'Friede' im Verlaufe seiner Entwicklung ausgebildet hat, stets mehr
oder weniger stark gegenwärtig. Dabei ist festzuhalten, daß bereits dieser ursprüng-
liche Begriff von Friede zwei Bedeutungsnuancen umschloß, die sich später schär-
fer ausprägen und voneinander abheben sollten. Entscheidend war nämlich, ob man
den Friedenszustand vom „lieben" oder ob man ihn vom „_schonen" her verstand.
Dementsprechend ließ sfoh 'Friede' einmal als ein Verhältnis gegenseitiger Verbun-
denheit in Tat und Gesinnung (wie es vor allem zwischen Blutsverwandten herrsch-
te), das andere Mal als Zustarn;l bloßer Gewaltlosigkeit begreifen. Und es hat den
Anschein, als sei die „immanente" Bedeutungsentwicklung von ahd. fridu vor allem
in diese zweite Richtung verlaufen. Dafür spricht die im Mittcfoltcr sehr verbreitete
Gegenüberstellung von Sühne und Friede 2 , wobei 'Friede' eben nur das (zumeist
zeitlich befristete) Aussetzen der Gewalttätigkeit meint. Dafür spricht ferner die
noch heute übliche Verwendung von 'Friede' in der alltäglichen Umgangssprache
(Laß mich in Frieden, d. h.: störe mich nicht).
Mit dem Hinweis auf die „immanente" Begriffsentwicklung von fridu, fride wurde
bereits eine Tatsache angedeutet, die methodisch wie sachlich von Wichtigkeit ist:
weite Strecken der Entfaltung des Friedensbegriffs sind nicht am Wort 'Friede',
sondern am lateinischen Begriff 'pax' zurückgelegt worden. Das begreift sich ohne

1 KLUGE/MrrzKA 18. Aufl. (1960), 218; TRÜBNER Bd .. 2 (1940), 445.


2 Belege: RWB Bd. 3 (1935-38), 904; RUDOLF His, Das Strafrecht des deutschen Mittel-
alters, Bd. 1 (Leipzig 1920), 245.

543
Friede I. Einleitung

weiteres, wenn man bedenkt, daß es vor allem die christliche Theologie war, die -
biblische Anregungen und antike philosophische Bemühungen aufgreifend - den
Friedensbegriff zu einem Gegenstand der Reflexion gemacht und versucht hat, die-
sen noch weitgehend formalen Begriff inhaltlich aufzufüllen und zu präzisieren. Und
auch als die Diskussion über Wesen und Bedeutung des Friedens in der Neuzeit zu
einem guten Teil von der Moraltheologie auf die' Sozial- und Staatsphilosophie über-
gegangen war, wurde diese Diskussion lateinisch geführt. Dazu kommt ferner, daß
wir die Kenntnis über die Bedeutung von 'Friede' als Rechtsbegriff im frühen und
hohen Mittelalter ganz überwiegend lateinischen Quellen verdanken, bei deren
geistlichen Verfassern stets der Verdacht besteht, daß ihr theologisches Verständnis
der pax nicht ohne Einfluß auf ihren Sprachgebrauch geblieben ist 3 • Für die Inter-
pretation von 'Friede' ist deshalb der unausgesetzte Blick auf die fremdsprachigen
Entsprechungen (pax, paix, peace) notwendiger, als es bei anderen Begriffen der
Fall sein mag. l)enn gerade der Begriff der pax hat so nachhaltig auf den Begriff
'Friede' eingewirkt, daß sich wenigstens seit dem späteren Mittelalter eine strenge
Entsprechung von 'fride' und 'pax' feststellen läßt; dabei verdient es einen Hinweis,
daß bereits iuahd. Zeit fride als Glosse für 'pax' belegt ist 4 •
Dio duroh dio Thoologio vorgonommono Intorprotation von pax (- frido) hatto
tiefgreifende Folgen. Bezeichnete der germanische Friedensbegriff - wie erwähnt
- ursprünglich einen Tatbestand des sozialen Lebens, so begriff die christliche
Theologie die pax - vereinfacht formuliert - als ein kosmisches Ordnungsprin-
zip5. Dem christlichen Verständnis erschien die auf das menschliche Gemeinschafts-
leben gerichtete Bedeutung von pax als ein bloßer, und zwar minderwichtiger Teil-
aspekt des vollen Begriffsgehaltes. Sofern die pax auf den Menschen bezogen wurde,
stand dieser weniger als „ens sociale" denn als „ens morale" im Blickpunkt. Dazu
kam ferner, daß pax im Vollsinne allein dem Endzustande, der Versöhnung und
Vereinigung alles Lebendigen in Gott, zugesprochen wurde; und von· dieser pax
schlechthin her gedacht, konnten alle in dieser Zeitlichkeit begegnenden Formen
der pax nur als abgeschwächte, gleichsam getrübte Erscheinungen der „pax an
sich" gelten. Im christlichen Friedensbegriff überwogen also der „moralische" und
der „eschatologische" ·Aspekt, während der politisch-soziale Sinn von 'Friede' in
den Hintergrund gerückt wurde, zugleich aber - und das ist von großer Bedeutung
- entscheidende Züge des „moralischen" und „eschatologischen" Friedensver-
ständnisses annahm. Zur vollen Auswirkung kam dies freilich erst zu einer Zeit, als
sich die christliche Welt- und Geschichtsauffassung zu einer weltimmanenten Heils-
lehre säkularisiert hatte und der politische Friedensbegriff selbst mit moralischen
und endzeitlichen Kategorien befrachtet wurde 0 • Es sei vorab nur auf den Begriff
des „ewigen Friedens" verwiesen, der sich von der „pax aeterna" des heiligen Am-

s Vgl. da.zu für die „ca.rita.s-Tcrminologic", in der a.uch der Begriff der pax eine zentrale
Rolle spielt: REINHARD SCHNEIDER, Brüdergemeine und Schwurfreundschaft (Lübeck,
Hamburg 1964), passim.
4 RWB Bd. 3, 894.
5 EuGEN BlsER, Der Sinn des Friedens. Ein theologischer Entwurf (München 1960). Das

Buch enthält wertvolle historische Rückblicke, die freilich im Hinblick auf die dogmatische
Konzeption des Verfassers stets kritisch zu prüfen sind. Weitere Literaturangaben:
LThK 2. Aufl., Bd. 4 (1960), 367. 369.
8 Vgl. dazµ und zum Folgenden unten S. 567 ff.

544
II. 1. Germanische Tradition Friede

brosius - dem zeitenthobenen Frieden der menschliche Seele in Gott - bis zur
„paix perpetuelle" des Abbe de St. Pierre - dem dauernden Frieden zwischen den
Staaten - entwickelt hat, ohne in diesem Prozeß einer geradezu sinnverkehrenden
Wandlung des Begriffsinhalts auch nur ein wenig von dem erhabenen Pathos, von
der über die real erfahrene Bedingtheit alles Irdischen hinausweisenden Gestimmt-
heit seiner ursprünglichen Bedeutung zu verlieren. Daraus ergibt sich, daß bei der
historischen Untersuchung des politisch-sozialen Friedensbegriffs die außerhalb die-
ses Bedeutungsbereiches liegenden Sinngehalte von 'Friede' und deren Wandlungen
immer im Blick zu behalten sind.

II.

1. Germanische Tradition im mittelalterlichen Friedensbegriff

Es wurde schon gesagt, daß der germanische Friedensbegriff die Anlage zu einer
Entwicklung in zweifacher Richtung in sich trug. Einmal bezeichnete er den Zu-
stand des ungekränkten Rechts, der Freundschaft und gegenseitigen Liebe; das
andere Mal den Zustand der aufgehobenen Gewalttätigkeit. Diese zweite Bedeutung
verabsolutierte gleichsam einen Teilaspekt des ersten ursprünglichen Begriffssinnes:
den der Sicherheit und Geborgenheit. Friede - und das gilt für 'Friede' in seinen
hllirlen Rerle11t11ngen - war nur innerhalb rler Hechfaigemeinscha.ft möglich, im
Grenzfall' war es sogar erst der Friede selbst (als „gemachter" Friede) 7 , der eine
solche Rechtsgemeinschaft herstellte. Friede und Recht standen also in einer un-
auflöslich engen, wenn auch - wie unten näher auszuführen sein wird - keines-
wegs spannungslosen und unproblematischen Verbindung 8 . Wie nun der mittel-
alterliche Aufbau des sozialen Lebens eine Vielzahl nebeneinander-, übereinander-
und ineinandergeordneter Rechtsbereiche und Rechtsgemeinschaften kannte, so
gab es entsprechend auch eine Vielzahl von „Frieden" - 'Friede' hier in dem tech-
nischen Sinne der garantierten Rechtssicherheit verstanden. Der mittelalterliche
Friede begegnet konkret als pax specialis, als 'Sonderfriede' 9 , sei es als Sippen-, Haus-,
Ding-, Dorf-, Stadt-, Land-, Königs- oder Gottesfriede usw. 10• 'Friede' meinte hier
vor allem einen erhöhten Schutz des jeweiligen Rechtsbereiches, der sich praktisch

7 Über die mittelalterliche pax als pax facta vgl. MARGRET WIELERS, Zwischenstaatliche

Beziehungsformen im frühen Mittelalter (phil. Diss. Münster 1959), 4 ff.


8 Zum Verhältnis Friede - Recht vgl. Rlex. germ. Altertumskunde, Bd. 2 (1913/15), 93;
jüngsthin ÜTTO BRUNNim, L11nd und Hcrrsch11ft, 4. Aufl. (Wien 1050), 21 f. 28 ff. sowie
JOACHIM GERNHUBER, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichs-
landfrieden von 1235 (Bonn 1952), 5 ff.
9 Der moderne wissenschaftliche Begriff 'Sonderfriede' setzt zwar die Vorstellung eines

„allgemeinen Volksfriedens" voraus, deren Richtigkeit von der jüngsten Forschung stark
bezweifelt wird, vermag jedoch gleichwohl ein Charakteristikum des germanischen
Friedensdenkens recht treffend zu bezeichnen; vgl. GERNHUBER, Landfriedensbewegung,
7, Anm. 9.
10 Vgl. zu diesen Sonderfrieden Hrs, Strafrecht, Bd. 1, 241 ff. Jüngere Arbeiten zu einzelnen

Friedenstypen, die einen über ihre spezielle Thematik hinausgehenden Ertrag abwerfen:
KARL SIEGFRIED BADER, Das mittelalterliche Dorf als.Friedens- und Rechtsbereich, in:
ders., Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, Bd. 1 (Weimar 1957);

35--90386/1 545
Friede II. 1. Germanische Tradition

in der Form realisierte, daß Störungen dieser Rechtsordnung in besonderem Maße


geahndet wurden: Rechtsbruch war zugleich Friedensbruch. Dabei waren - auch
das ist von Bedeutung - diese Frieden nicht nur ihrer Struktur nach verschieden,
sondern auch in ihrer „Intensität" sehr abgestuft 11 : der Hausfriede z. B. schloß
jegliche Gewalttätigkeit aus, während sich der Landfriede im allgemeinen sehr wohl
rrrit kriegerischen Auseinandersetzungen (in Form rechter Fehde) vertrug. Der mit
telalterliche Friede war also seinem konkreten Inhalt nach funktionell abhängig
von der jeweiligen Rechtsordnung, die er schützte; Friede herrschte dort, wo die
Rechtsordnung ungestört blieb. Sofern man das Recht als eine verwirklichte Sollens-
ordnung versteht, darf man sagen: für das Mittelalter waren Friede und Recht iden-
tisch. Das gilt zumindest für die Bedeutung von 'Friede', wie sie in den Begriffen des
Gottes-, des Land-, des Stadtfriedens usw. enthalten ist. Daneben konnte 'Friede'
aber auch im Sinne der ruhenden Gewalttätigkeit bei st~ittiger Rechtslage verwen-
det und in dieser Hinsicht von der Sühne, der endgiiltigen Wiederherstellung der
gebrochenen Rechtsordnung, unterschieden werden. Ein solcher Frieden konnte
obrigkeitlich „geboten" oder von den streitenden Parteien vertraglich „gelobt"
werdenrn. Zweck des gelobten oder gebotenen Friedens war es, einen Zustand der
Sicherheit als Voraussetzung für eine friedliche (sei es gerichtliche, sei es vertraglich
vereinbarte) Streiterledigung, eine ~föhne, zu schaffen . .!für beide Ausprägungen des
Friedensbegriffs kennt das Lateinische die Bezeichnung 'pax' 13 ; besondere Akzente
ließen ßicih durch umschreibende Formeln oder erläuternde Adjektive ausdrücken:
so begegnet z. B. der Begriff der induciae pacis als Kennzeichnung des von der Sühne
abgehobenen Friedens, des Waffenstillstands 14, für den im allgemeinen das Wort
'treuga/treuva' zur Verfügung stand. Und m;ngekehrt findet sich für den endgiiltigen,
ohne Fristvorbehalte geschlossenen Sühnefrieden der Begriff der „pax perpetua"
(s'una se'u pax perpetua)1 5 •
Das Verständnis dieser beiden Bedeutungen von 'Friede' wurde vor allem vom
Begriff der securitas (Sicherheit vor unrechtmäßiger Gewalt [= Rechtssicherheit]
oder vor Gewalt überhaupt) her bestimmt. Es gab außerdem aber noch einen Be-
griff von Friede, der inhaltlich nicht so sehr auf securitas und justitia, als auf_cari-
tas (minne) und gratia hin orientiert war und der geradezu als Gegensatz zum Be-
griff des ius, des strengen und förmlichen Rechts, verwendet wurde 16 • Es ist eine
noch umstrittene Frage, ob die Gegenüberstellung von minne und recht (pax und

HAitTMUT HOFFMANN, GuLLei;frietleu urnl Treuga Dei (Stuttgart 1964); GERNHUBER, Land-
friedensbewegung; HEINZ ANGERMEIER, Königtum und Landfriede im deutschen Spät-
mittelalter (München 1966).
11 Als illustratives Beispiel dazu etwa ein aus dem 15. Jahrhundert überlieferter Rechts-

satz: die nackt besseren frieden hat als der tag, RWB Bd. 3, 895.
12 RUDOLF His, Gelobter und gebotener Friede im deutschen Mittelalter, Zs. f. Rechts-

gesch., germanist. Abt. 33 (1912), 139 ff.; ders., Strafrecht, Bd. 1, 245 f.
13 Vgl. ders., Strafrecht, Bd. 1, 246. 297. Auch im Deutschen kann 'fride' sowohl fiir dtm

„Waffenstillstand" als auch die „Sühne" gebraucht werden, vgl. BRUNNER, Land und
Herrschaft, 105, Anm. 3 ;. 'fride' i~L gegenüher 'suone' der umfassendere Ilegriff.
14 His, Strafrecht, Bd. 1, 245, Anm. 2.
15 LEONHARD ENNEN u. GOTTFRIED ECKERTZ, Quellen zur Geschichte der Stadt Köln,

Bd. 3 (Köln 1867), 346 f., Nr. 384.


16 Dazu SCHNEIDER, Brüdergemeine, z. B. 54 ff.; BRUNNER, Land und Herrschaft, 22.

546
ll. 2. Mittelalterliche Moroltheologie Frlede

ius) 17 innerhalb der germanischen Vorstellungswelt möglich war oder ob wir es


hier bereits mit spezifisch christlichen Denkgehalten zu tun haben. Sicher ist jeden-
falls, daß dem kirchlichen Rechtsdenken des Mittelalters ein Gegensatz von caritas
und iustitia gerade im Hinblick auf die pax geläufig war, und zwar in dem Sinne,
daß dem Christen (und auch dem Papst) im Interesse des Friedens ein Verzicht auf
sein Recht „propter caritatem" abgefordert werden konnte, freilich nur dann, wenn
die Durchsetzung der iustitia ein Ärgernis („scandalum") gegeben hätte 18 • 'Friede'
im Sinne von caritas, minne war also Gegenbegriff zu 'Streit' schlechthin, den „fried-
lichen" (d. i. gerichtlichen) Rechtsstreit eingeschlossen.
Aus dem Mangel an Eindeutigkeit und Prägnanz, der dem mittelalterlichen Begriff
'fride' (pax) anhaftete, erklärt sich die Praxis der Quellen, den jeweils gemeinten
Bedeutungsgehalt von 'Friede' durch charakterische Zwillingsformeln kenntlich
zu machen: fride und reht (pax - iustitia), fried und sicherheit (pax et securitas),
frid und gemach ( pax et tranquillitas), fridu und genade ( pax et carita..'I} - um nur die
wichtigsten, außerordentlich häufig belegten Beispiele anzuführen19•. In diesen
Wendungen kommt dem zweiten Bestandteil der Formel die Aufgabe zu, den spezi-
fischen Sinnakzent von 'Friede' herauszuheben: Friede als Ergebnis und Ausdruck
des ungebrochenen oder wiederhergestellten Rechts, Friede in seiner schützenden
und abwehrenden Kraft, Friede als Zustand ruhiger Ausgeglichenheit und Gewalt-
losigkeit, Friede als Zeichen und Frucht des Wohlwollens und der Liebe.

2. Der Fricdcnsbcgrift' der mittcloltcrlichcn Moroltheofogie

Von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Begriffsentwicklung von 'Friede'


war es, daß das aus der germanischen Tradition herrührende Verständnis von
'Friede' dem antik-christlichen Friedensverständnis sehr weit entgegenkam, wenig-
stens was die formale Struktur dieses Verständnisses anging. Hier wie dort das
gleiche Begriffsfeld, in das 'Friede' (pax) eingegliedert war: reht, minne, gemach,
sicherheit - iustitia, caritas, tranquillitas, securitas. Mag die inhaltliche Bestimmt-
heit der einzelnen Begriffe ursprünglich auch recht verschieden gewesen sein, so
waren die Voraussetzungen für eine Verschmelzung beider Vorstellungswelten doch
denkbar günstig. Und tatsächlich wurde seit dem hohen Mittelalter der politische
Friedensbegriff in einer Weise entfaltet, daß in ihm germanische und christliche
Elemente kaum voneinander zu scheiden sind 20 •

17 Über dieses Problem, das vor allem bei der Beurteilung von Ursprung und Wesen der

mittelalterlichen Schiedsgerichtsbarkeit eine große Rollo spielt, orientiert HrnRMANN


RlilNNlilFAIIRT, Boitru.g zu dor Fra.go dor Horkunft des Sohiedsgerfohtswesens, Schwei?:er
Beitr. z. Allg. Gesch. 16 (1958), 5 ff.
18 Dazu LUDWIG BurssoN, Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter

(Köln, Graz 1958), 193 u. ö.


19 liJH Htti n11r 1wr rlifl RAiApiAlA vp,1·wiA11An, diA da11 RWD Dd. 3, 894 ff. bringt.·
20 Über das Verhältnis von christlich-theologischem und weltlich-rechtlichem Friedens-

denken im MlLLelalter vgl. insbesondere G.l!l.Rl:lAltJ> CAltL W1LH. GöltltIB, De denkbeeltleu


over oorlog en de bemoeiingen voor vrede, in de elfde eeuw (Nijmegen 1912); ROGER
BoNNAUD-DELAMARE, L'idee de paix a l'epoque carolingienne (Paris 1939); dazu kritisch
ROBERT LATOUCHE, L'idee de paix pendant le haut Moyen Age, Annales de l'Universite
de Grenoble, Sect. Lettres-Droit 17 (1940/41), 259 ff.

547
Friede II. 2. Mittelalterliche Moraltheologie

Der Vater der christlichen Friedensidee ist AUGUSTIN (354-430) 21 . In bewußter Po-
lemik gegen das antike Kulturideal der „pax Romana" hat er in eben dem geschicht-
lichen Augenblick, als diese weltliche pax sich als vergänglich und fragw ürilig ent-
larvte22, einen neuen und - wie er überzeugt war - über alle konkret-historische
Gebundenheit hinaus schlechthin gültigen Begriff der pax entwickelt, der das ganze
abendländische Friedensverständnis bis zur Gegenwart hin nachhaltig beeinflußt
hat. Er griff dabei zurück auf stoisches Gedankengut 23, formte dieses aber durchaus
in christlichem Geiste µm. Pax und iustitia waren für ihn die Grundkategorien der
Weltordnung. ·Die pax begriff er als tranquillitas ordinis, den ordo als die parium
dispariumque rerum sua cuique loca distribuens dispositio 24 ; das Vermögen und den
Willen aber, jedem Ding den ihm zukommenden „richtigen" Platz in der hierar-
chisch aufgebauten Weltordnung zuzuweisen, nannte er iustitia, Gerechtigkeit. Der
vollkommene ordo omnium rerum sowie die ihm zugeordnete pax und iustitia waren
für Augustin nur von Gott als ihrem Urheber und Endziel her zu verstehen, Friede
und Gerechtigkeit im eigentlichen Vollsinne mithin nur im Zustand jenseitiger
Vollendung möglich und wirklich. Irdischer Friede und irdische Gerechtigkeit
konnten dagegen nicht mehr als unvollkommene Abbilder oder - im extremen
Fall - ZArrhil1for nAR AwigAn FriArlAnR ( pnx ru>tP.rnn)) rlAr Awigen Gerechtigkeit sein.
Hier in diesem Leben - so schien es Augustin - war günstigenfalls eine pax tempo-
ralis beschieden, und zwar im zweifachen Sinne dieses Wortes : es war ein Friede
innerhalb der Zeitlichkeit und als solcher stets ein Friede auf Zeit; denn ein dauern-
der Friede war nur jenseits aller Zeit möglich. Im gleichen Sinne schied später auch
THOMAS VON AQUIN (ca. 1225-1274) die pax temporalis als eine pax imperfecta,
quae habetur in hoc mundo, von der jenseitigen pax perfecta 25 • Dieser irdische, unvoll-
kommene und prekäre Friede ließ sich auf den Menschen als einzelnen und auf die
Menschen in Gemeinschaft beziehen, und beide Male konnte es sich um einen echten
oder unechten Frieden handeln. Der echte, wahre Friede - so führte AUGUSTIN aus
- vermochte nur zusammen init der Gerechtigkeit zu bestehen. Der Christ sucht
Friede (iustam pacem), um in einer vita quieta der göttlichen Gerechtigkeit inne und

21 Eine Spezialstudie: HARALD FucHs, Augustin und der antike Friedensgedanke (Berlin
1926).
22 Vgl. FRANZ GEORG MAIER, Augustin und das antike Rom (Stuttgart, Köln 1955), bes.
182 :ff.
23 Über das Friedensdenken der Antike vgl. WILHELM NESTLE, Der Friedensgedanke in

der antiken Welt (Leipzig 1938); HARALD FucHs, Antike Gedanken über Krieg und
Frieden (Basel 1946); ders., AugusLin, Beilage 3: Der· Begriff ues Frieuens, 167 ff. (über Uie
Begriffe eirene und pa.x). Die Idee des Wcltfricdc11s im Alte11 Testament und ihre Sunuer-
stellung im Rahmen der altorientalischen Friedensvorstellungen behandelt HEINRICH GRoss,
Die Idee des ewigen und allgemeinen Weltfriedens im Alten Orient und im Alten Testament
(Trier 1956); von den Ergebnissen dieser Arbeit her wäre der biblische Einschlag im au-
gustinischen Friedensdenken erneut zu überprüfen.
2 4 AUGUSTIN, De civitate Dei 19, 13. In unserem Zusammenhang ist es dabei gleichgültig,
ob man mit. E.LINS'l.' BEBNHEIM, PolitiAche BegriffA <lAR Mittefalters im Lioht.e der .Arniehau
ungen Augustins, Dt. Zs. f. Geschichtswiss., NF 1 (1896/97), lff. die pax oder mit HENRY
XAVIER ARQUILLIERE, L'Augustinisme politique, 2e ed. (Paris 1955) die iustitia als den
eigentlich zentralen Ordnungsbegriff versteht.
25 THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae 2, 2, qu. 29, art. 2.

548
II. 2. Mittelalterliche Moraltheologie Friede

teilhaftig zu werden; der Heide sucht Friede (iniquam pacem), um in der secura
nequitia seinen Lastern frönen zu können 26 • Und was für den einzelnen Menschen
galt, traf gleichermaßen auf die menschliche Gemeinschaft zu: sie glich einer Räu-
berbande, wenn ihre pax nicht auf der Gerechtigkeit beruhte. Ihr Friede war dann
ein unechter, falscher Friede - aber es war ein Friede. Es muß nämlich betont
werden, daß Augustin - im Gegensatz zu vielen sei'ner Nachfolger - auch den
falschen Frieden als Frieden gelten ließ. Nur deshalb brauchte er überhaupt eine
mit solcher Nachdrücklichkeit ausgeführte Unterscheidung zwischen dem echten,
mit der Gerechtigkeit verbundenen Frieden und dem falschen, in irgendeinem Sinne
„ungerechten" Frieden. Augustin konnte schon deshalb nicht auf eine solche quali-
tativ klassifizierende Zweiteilung des Friedensbegriffs verzichten, weil ein großer
Teil seiner pax-Definitionen durchaus formaler Art war. Nehmen wir etwa die hier
interessierende Bestimmung der pax civitatis als ordinata imperandi atque oboediend1:
concordia civium 27 , so begreift sich unschwer, daß eine solche Definition auf jede
„funktionierende" civitas zutraf; die Entscheidung über die Qualität dieses bürger-
lichen Friedens lag allein darin, wie diese concordia civium „geordnet" war.
Der Unterschied, den Augustin zwischen der vera 28 und ?nala bzw. falsa pax 29
ma.r.htr., wa.r von wr.ittra.er.nflr.r Rr.flm1t11ne 30 . F.r Rta.nfl im Mittr.lpun kt flr.r Al1R-
einandersetzung um den Begriff des irdischen Friedens in dem folgenden Jahrtau-
send. Zunächst muß aber in Erinnerung gerufen werden, daß der christliche Frie-
densbegriff - wie schon erwähnt - vor allem den Menschen als „moralisches"
Wesen im Blick hatte, Friede also vorzüglich als religiös-moralischer Wert behan-
delt wurde. Von der patristischen Überlieferung ausgehend, p:8.egte man seit dem
12. Jahrhundert vom 'Frieden' in dreifacher Hinsicht zu sprechen. Der erste fride
... daz ist fride mit gote, schrieb BERTHOLD VON REGENSBURG (um 1260) in seiner
Friedenspredigt; der ander fride ... daz ist fride mit dir selber. Der dritte fride daz ist
fride mit dinem naehsten 31 • „Sub specie moralitatis" erschien also der Friede im
sozialen und politischen Bereich nur als ein Sonderfall dieser letzten „pax hominum
ad homines" - ein Sonderfall freilich, dem man eine eingehende und vielfältige Auf-
merksamkeit zukommen ließ. Und es war nicht ohne Bedeutung, daß die „pax so-
cialis et politica" vom christlichen Friedensdenken her nicht als Friede schlechthin,

2s AUGUSTIN, De civ. 19, 12. 13.


27 Ebd.
28 Es sei an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß solche .Begriffe wie 'pax vera'

usw. eine weniger grundsätzliche und weitgespannte Bedeutung annehmen, wenn sie nicht
in theologisch-philosophischen Texten, sondern als Formeh1 in VerLrag1:mrkunden er-
sohoinen. Eino „vora ot sinooro. po.x" ho.tto do.nn nur den konkreten Sinn eines ohne
hinterhältige Vorbehalte geschlossenen Friedens. Ebenso besagte die - nicht sehr häufig
belegte - Stipulierung einer „pax perpetua" nur, daß der Friede bzw. die Waffenruhe auf
unbefristete Zeit gelten sollte. Die „pax perpetua" war hier lediglich das Gegenteil eines
von vornherein befristeten Friedensschlusses.
29 Der valsche fride hieß er um 1260 bei BERTHOLD VON REGENSBURG, Von dem fride,

Predigten, hg. v. Franz Pfeiffer, Bd. 1 (Wien 1862), 238 f.


30 Als Beispiel sei lediglich auf die Behandlung dieser Frage in der Fürstenspiegelliteratur

verwiesen; vgl. WILHELM BERGES, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters
(Leipzig 1938), bes. 134. 155. 244.
31 BERTHOLD VON REGENSBURG, Fride, Predigten, Bd. 1, 238.

549
Friede Il. 2. Mittelalterliche Moraltheologie

sondern nur als eine spezifische Teilerscheinung des einen umfassenden Friedens
begriffen werden konnte, gleichsam verzahnt blieb mit Sinngehalten von 'Friede',
die das Politische und Soziale transzendierten. Bedeutsam war dies deshalb,
weil nach dem Verblassen' des christlichen Weltverständnisses in der Neuzeit
der obsiegende politisch-soziale Friedensbegriff sich von den Bedeutungen des
Friedens, denen er bislang neben- oder untergeordnet war, keineswegs trennte,
vielmehr deren Sinn- und (vor allem) Gefühlsgehalte in säkularisierter Form in
sich aufnahm und es so vermochte, einen pseudoreligiösen Wertcharakter zu er-
werben32.
Der Friede der natürlichen menschlichen Gemeinschaft - für Augustin in der pax
domestica und der pax civitatis ausgeprägt - wurde von ihm begriffen als ordinata
imperandi oboediendique concordia der cohabitantium bzw. civium 33 • Als echte pax
socialis galt ihm jene ordinata concordia, cuius hie ordo est: primo ut nulli noceat,
deinde ut etiam prosit cui potuerit- es war die auf der gerechten, der richtigen Ord-
nung gegründete Eihtracht der socii. In eben diesem Sinne definierte einige Jahr-
hunderte später ENGELBERT VON ADMONT in seiner Abhandlung über das „Rö-
mische Reich" um 1310 den Gemeinschaftsfrieden als ordinis iustitiae tranquillitas
inoonoussa 34 •
Mit Augustin war das Mittelalter der Überzeugung, daß in der menschlichen Gesell-
schaft außer dieser „ vera pax" -wie THOMAS VON AQUIN sie ca.1270 nannte - auch
eine bloße „pax apparens", ein nur scheinbarer Friede möglich sei. Es war uie1:1 ein
Friede, der entweder auf einer schlechten Ordnung (d. h. aber auf der Unordnung)
beruhte oder dem die überzeugte Willensübereinstimmung der Menschen abging -
der Gewaltfriede also. Si enim, führte Thomas aus, concordet cum alio non spontanea
voluntate, sed quasi coactus timore alicuius mali imminentis, talis concordia non est
vere pax 35 • Die Gegenüberstellung des wahren (d. i. gerechten) und des nur schein-
baren Friedens in der menschlichen Gemeinschaft war dem Mittelalter eine so ge-
·läu:fige Denkform, daß man ihr allerorten begegnet. So unterschied z. B. RuFINUS,
der Verfasser eines Traktats „De bono pacis", am Ende des 12. Jahrhunderts eine
pax Aegypti, die auf der superbia, der impunitas und pertinacia beruht und fljp, a.lR
pax perniciosa charakterisiert war, von einer pax Babyloniae, gegründet auf iustitia,
humanitas und prudentia, über der sich dann als höchste Stufe die pax Jerusalem als
Frucht der pietas, caritas und humilitas erhob 36 • Diese pax Jerusalem aber eignet
nicht mehr der natürlichen, sondern allein der geistlichen Gemeinschaft; sie war
„pax spiritualis", von der gleich noch die Rede sein wird. Ganz ähnlich hob auch
JOHANN VON SALISBURY 1159 den wahren Gemeinschaftsfrieden von der pax regnan-
te Augusto 87 ab, welche der pax Aegypti des Ru:finus entspricht.
Bei Ru:finus deutete sich im übrigen bereits eine belangvolle Umdeutung des au-
gustinischen Begriffs der „pax temporalis" an. Hatte Augustinus darunter jeglichen

a2 Vgl. unten S. 583 ff.


33 AUGUSTIN, De civ. 19, 13. 14.
34 ~NGELBERT VON ADMONT; De ortu et fine Romani imperii 14.

35 THOMAS VON AQUIN, S; th. 2,2, qu. 29, art, 1.


36 RUFINUS, De bono pacis 2, 1. M!GNE, Patr. Lat., t. 150 (1854), 1611.
37 JOHANNES VON SALISBURY, Policraticus 2, 8, 18, ed. Clemens Ch. J, Webb (Oxford 1909),
360; vgl. BERGES, Fürstenspiegel, 134.

550
II. 3. Durchdringung germanischer und christlicher Elemente Friede

in dieser Zeitlichkeit erreichbaren Frieden begriffen und ihn der „pax aeterna",
dem zeitlosen Friedenszustand jenseitiger Vollendung, entgegengesetzt, so verstand
man wenigstens seit dem hohen Mittelalter die „pax temporalis" als weltlichen
Frieden, als Friede also, den die Menschen als „homines naturales" untereinander
hielten oder halten sollten. Ihm stand als Gegenbegriff die „pax spiritualis" gegen-
über, der geistliche Friede, in dem als „homines spirituales" die Menschen „im Frie-
den Gottes" miteinander lebten. Als solcher war die „pax spiritualis" auch der
Frieden, der der spirituellen Gemeinschaft der Christen eignete (der Kirche also). So
verfaßte PIERRE DuBOIS seinen großen Friedens- und Kreuzzugsplan (um 1306) ad
pacem temporalem at spiritualem ... omnium catholicorum. Und schon ein knappes
halbes Jahrhundert zuvor hatte THOMAS VON AQUIN als einziges legitimes Kriegs-
ziel die pax temporalis rei publicae conservanda bezeichnet38•
Diese Verschiebung im Verständnis der „pax temporalis" darf als symptomatischer
Ausdruck jener Aufwertung des irdischen Bereichs verstanden werden, den das
christliche Weltverständnis während' des Mittelalters vollzogen hat - vollziehen
mußte, nachdem zumindest im Abendland auch die weltlichen Gemeinschaftsord-
nungen es ausschließlich mit Christen zu tun hatten 39• Die historische Umwelt, in
der sich etwa Thomas von Aquin vorfand, machte es ihm unmöglich, im Begriff
'temporalis' noch implizit den Nebensinn „heidnisch" mitzuverstehen, wie es doch
bei Augustin ohne Zweifel der Fall war und sein mußte 40• Gerade weil im abendlän-
dischen hohen Mittelalter das nichtchristliche (oder gar unchristliche) Gemeinwesen
außerhalb des realen Erfahrungsbereiches lag, konnte auch die - ebenfalls stark
mit dem Friedensbegriff arbeiLe11de - Soziallehre eines heidni11chen Philosophen
wie Aristoteles unbefangen rezipiert und in verchristlichter Form als Ergänzung
der augustinischen Gedankenwelt übernommen werden.

3. Durchdringung germanischer und christlich-theologischer Ideenelemente.


Es ist dieser Begriff der „pax temporalis" im Sinne des weltlichen Friedens, in dem
augustinische und aristotelische Ideenelemente eingeflossen sind, mit dem es die
mittelalterlichen Sozialtheoretiker zu tun haben. Er korrespondierte im übrigen
genau mit dem deutschen Begriff des fride in seinem ursprünglichen Sinne. An die-
ser Stelle liefen die germanische und die christlich-scholastische Begriffsentwicklung
zusammen. Daß der Friede (pax temporalis) Zweck und Sinn jeder menschlichen

38 PIERRE DuBOIS, De recuperatione terrae sanctae, § 99, cd. Cho.rlcs Viotor Langlois

(Po.rio lSIH), 81; THOMAS VON AQUIN, s. th. 2,2, qu. 123, art. 5, 3.
39 Für das zunehmende Gewicht des „weltlichen" Sinngehalts von 'pax' im hohen Mittel-

alter vgl. etwa HELMUT BEUMANN, Widukind von Korvei (Weimar 1950), 211 ff.
40 Ein recht instruktives Beispiel für die veränderte Haltung mittelalterlicher Schrift-

steller zum Faktum des rein weltlichen Friedens ist ihre Beurteilung der „pax Augustana":
Während~ wie oben (S. 550) angedeutet - JOHANN VON SALISBURY 1159 echt augusti-
nisch die pax regnanteA ugusto als Schein.frieuen ahLaL, wußte CAESARIUS VON IlEISTERBACH
seinen Helden, den Erzbischof Engelbrecht I. von Köln, besonders deswegen zu rühmen,
weil er mntam fecit pacem, ut Augusti tempora crl'Äeres, CAESARIUS VON HEISTERBACH,
Vita Engelberti 1, 5, hg. v. Fritz Zschaeck, in: Die Wundergeschichten des Caesarius
von Heisterbach, hg. v. ALFONS HILKA, Bd. 3 (Bonn 1937), 242.

551
Friede Il. 3. Durchdringung germanischer und christlicher };Jemente

Gesellschaft war, durfte als allgemeine mittelalterliche Überzeugung gelten 41 •


Bonum et salus consociatae multitU<linis est, ut eius unitas conservetur quae dicitur pax,
schrieb THOMAS VON AQUIN 1265/66. Hoc igitur est, a<Z quod maxime rector multitU<li-
nis intendere debet, ut pacis unitatem procuret 42 • Eine entsprechende Bemerkung, die
ebenfalls die Begriffe 'pax' und 'unitas' eng aneinanderreihte, findet sich in der
„Summa contra gentiles" 43 •
Und an einer anderen Stelle sprach Thomas vom bonum pacis, quod est praecipuum
in multitudine sociali 44 • Den gleichen Gedanken formulierte dann keine 50 Jahre
später ENGELBERT VON ADMONT mit programmatischer Deutlichkeit: Pax enim
est finis, propter quem omnis hominum communitas et societas est constituta et forma
secundum quam regitur 45 • Wiederum ein gutes Jahrhundert später hieß es bei NIKO-
LAUS VON KuEs 1432/33: Omnis enim rex et imperator habet officium publicum ad
publicam utilitatem. Publica vero utilitas est pax, a<Z quam ordinantur iustitia (= Ju-
stiz) et iusta proelia 46 •
Dieser weltliche Friede und seine Früchte: unitas, securitas und tranquillitas trugen
zwar ihren Wert in sich selbst; doch wurde der Eigenwert der „pax temporalis"
uuch ge1:1LeigerL im Hinblick darauf, daß erst sie es dem Menschen moglich machte,
seine „Menschheit" (humanitas) völlig zu entfalten, und ihm darüber hina1111 (lfm
Weg zur Erreichung der „pax spiritualis" in diesem und der „pax aeterna" im jen-
seitigen Leben öffnete und freigab. Patet, sagte DANTE (ca. 1310), quod genus huma-
num in quiete sive tranqui;ll#ate prwi.~ ad propn:1tm suum opus, quod fere divinum
est ... , liberrime et facillime se habet. Unde manifestum est, quod pax universalis est
optimum eorum quae a<Z nostram beatitU<linem ordinantur 47 • Und NIKOLAUS VON
KuEs stellte lapidar fest: Principium autem pacis est, ad finem aeternum dirigere
subditos 48 • Im Bereich der innerweltlichen Ordnung stellte sich die „pax tempora-
lis" den mittelalterlichen Denkern als letztgültiger und absoluter, innerhalb der auf
Gott ausgerichteten und die Weltimmanenz übergreifenden Gesamtordnung jedoch
nur als vorläufiger und relativer Wert dar.
Unitas, securitas und tranquillitas des Gemeinwesens aber vermochte mittelalter-
lichen Vorstellungen zufolge nur jene pax zu garantieren, die mit der iustitia zusam-

41 Der gerechte Friede war es auch, der nach :mittelalterlicher Vorstellung den konkreten

Inhalt des „bonum commune", des „gemeinen Besten" ausmachte, das neben der pax als
„Staatszweck" sehr häufig genannt ist. Belege dafür bringt WALTHER MERK, Der Gedanke
des gemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung, in: Fschr . .Alfred
Schultze, hg. v. WALTHER MERK (Weimar 1934), 451 ff.; vgl. dazu auch ANTOINE-PIERRE
VERPAALEN, Der Begriff des Gemeinwohls bei Thomas von Aquin (Heidelberg 1954),
hr.~. ß7 ff. und die tmt.en zitierte Bemerkung des Nikolaus von Kues.
42 THOMAS VON AQUIN, De regimine principum 2.
43 Ders., Summa contra gentiles 4, 76.

44 Ders., De reg. princ. 5.


4 6 ENGELBERT VON ADMONT, De ortu 14.

46 NIKOLAUS VON KuEs, De concordantia catholica 1, 3, 7. Zur Gesellschaftslehre des

Nikolaus von Kues und ihrer Stellung innerhalb dtll· milLelalterlichen Sozialphilosophie
vgl. GERD HEINZ MoHR, Unitas christiana. Studien zur Gesellschaftsidee des Nikolaus von
Kues (Trier 1958); zum Friedensbegriff des Cusanus ebd„ 275 ff.
47 DANTE, De monarchia l, 4, 2.
48 NIKOLAUS VON KuEs, De conc. cath. 1, 3, 7.

552
II. 4. Politischer Friedensbegrift' des ausgehenden Mittelalters Friede

menging; davon war schon mehrfach die Rede. Verum cum pacis cultus, so lautete
die entscheidende Stelle im berühmten Friedensplan des böhmischen Königs GEORG
VON PoDIEBRAD (1462), a iustitia et iustitia ab illo esse non possit, et per iustitiam
pax gignitur et conservatur, nec sine illa nos et subditi nostri in pace subsistere poteri-
mus, ob id rei paci iustitiam annectimus 49 • Die Formulierung ist zweideutig und
schillernd, und zwar deshalb, weil der Begriff der iustitia hier zweideutig und schil-
lernd war. 'Iustitia' bedeutete einmal Gerechtigkeit als Prinzip der richtigen Ord-
nung und die auf die Erhaltung bzw. Herstellung dieser Ordnung gerichtete mora-
lische Verhaltensweise. 'Iustitita' bedeutete zum andern aber auch Rechtspflege,
Gerichtsbarkeit, kurzum: Justiz im modernen Sinne. In dieser zweiten Bedeutung,
wie sie vor allem in „staatstheoretischen" Texten des Spätmittelalters stark in den
Vordergrund tritt, haben wir 'iustitia' schon bei Nikolaus von Kues kennengelernt,
(vgl. oben S. 552), und auch bei Georg von Podiebrad ist der Begriff vorzüglich in
diesem Sinne gebraucht. Es verstand sich dabei für das Mittelalter von selbst, daß
die Justiz an der iustitia (Gerechtigkeit) orientiert sein mußte; denn die Trennung
von Recht und Gerechtigkeit hat erst die Neuzeit vollzogen 50 •
AmlererseiLs gab ruan sich auch iru MiLLelalLer keiuer Täwmhuug Jarülitll· hiu, Jaß
die Gerechtigkeit der geordneten und wirkungsvollen Justiz bedurfte, um sich ver-
wirklichen z~ können.- Diese Überzeugung lag schon den mittelalterlichen „Einun-
gen" zugrunde, die nichts anderes als Friedensverbände waren. Die Errichtung der
pax zwischen den Genossen ging stets mit der Etablierung von „Friedensgerichten"
Hand in Hand. Es sei nur darauf hingewiesen:, daß auch die berühmten Friedens-
entwürfe eines Pierre Dubois, eines Georg von Podiebrad oder eines Sully noch ganz
nach dem Vorbild solcher Einungen konstruiert waren. Es handelte sich bei ihnen
um Pläne, der gesamten „christianitas" die typische Struktur einer Einung zu geben,
in der eine Art von Fürsten- und Staatenkongreß die Funktion des Friedensgerichts
übernehmen sollte. Auch ihren Verfassern war jedenfalls die Erkenntnis geläufig,
daß Friedenswahrung und funktionsfähige Gerichtsbarkeit nicht voneinander zu
trennen sind 51 . Die Einsicht in diesen Zusammenhang war für das spätere Ver-
ständnis des politischen Friedensbegriffs deshalb von Wichtigkeit, weil damit einer
Entwicklung vorgearbeitet wurde, die den Frieden vor allem als den Zustand der-
jenigen menschlichen Gemeinschaft zu begreifen lehrte, die durch eine wirkungs-
volle und unbestrittene „summa potestas iurisdictionis" zusammengehalten wurde:
des Staates nämlich.

4. Der politische Friedensbegriff des ausgehenden Mittelalters

Es wurde oben davon gesprochen, daß der mittelalterliche Friede in dreifacher


Weise erscheint: 1) als Zustand der ungebrochenen oder wiederhergestellten Rechts-
ordnung: ;,pax et iustitia" 52 ; 2) als Waffenruhe im Rechtsstreit, der Fehde, und als
solche vom reht, der iustitia distanziert; die „tranquillitas pacis" macht hier den
Begriffsgehalt aus; 3) als „Befriedung" ganz besonderer Rechts-, Sach- und Perso-

49 Zit. HANS JÜRGEN ScHLOCHAUER, Die Idee des ewigen Friedens (Bonn 1953), 68.
50 BRUNNER, Land und Herrschaft, 134 ff.
51 Dazu GERNHUBER, Landfriedensbewegung, 172.
52 Vgl. S. 545f.

553
Friede II. 4. Politischer Friedensbegriff des ausgehenden Mittelalters

nenbereiche, wobei es die „securitas pacis" ist, auf die es ankommt. Alle mittelalter-
lichen Frieden - ganz gleich ob verkündet, geboten oder, vereinbart - waren
„paces speciales", Sonderfrieden, die unbefriedete Ilezirke in räumlicher, sachlicher
und personeller Hinsicht voraussetzten. Ein erster Schritt darüber hinaus waren die
Landfrieden, die z. T. unter dem sehr bezeichnenden Begriff der „pax generalis",
des allgemeinen Friedens, firmierten. Wenigstens ihrer Intention nach gingen sie
darauf aus, nicht nur einzelne Sachen und Personen oder bestimmte Zeiten aus ge-
waltsamen Rechtsstreitigkeiten herauszuhalten, sondern diese gewaltsamen Rechts-
streitigkeiten innerhalb eines regionalen Rahmens dauernd oder für eine gewisse
Zeit überhaupt aufzuheben, d. h.: die pax als Zustand garantierter Gewaltlosigkeit,
wenn auch in räumlicher Beschränkung, „allgemein" zu machen. Es ist bekannt,
daß die Landfriedensbewegung die von ihr intendierten Ziele während des Mittel-
alters nicht hat erreichen können; und selbst wenn es ihr gelungen wäre: die Land-
frieden wwden über den Charakter regionaler Sonderfrieden im übertragenen
Bedeutungssinne nicht hinausgekommen sein.
Wenigstens literarisch ist jedoch der Versuch unternommen worden, über dlln be-
grenzten territorialen .lfrieden, die „pax generahs terrae" bzw. „provinciae", hinaus
einen noc,h weite,rge,spannteu, wirklic,h allgemeinen Frieden anzustrebeu: die „pa:x:
universalis", den allumfassenden Frieden. Sie enim pax universalis finis est quem
querimus, quem in intentione nostra primo habemus (1306) 53 • Unde manifestum est,
quod pax universalis est optimum eorum, quae a;d nostram beatitudinem ordinantur
(um 1310) 54• Zunächst meint „pax universalis" ganz zweifellos nichts mehr als den
VUll allen kuukreLeu AuspriigWlgeu ausLrahierernleu Begrl.IT ues Frieueus schlechL-
hin, wie ihn AUGUSTIN gebrauchte, wenn er behauptete, daß die pax etwas sei,
quam omnia appetunt 55 (die latrones ebenso wie die beati), und wie ihn auch BERT-
HOLD VON REGENSBURG (ca. 1260) verstanden wissen wollte, wenn er - ganz in der
augustinischen Tradition stehend - 'sagte : Der fride ist ein dinc, des alliu diu werlt
begert und anders nicht danne des frides 56 • Im Sinne des abstrakten Friedensbegriffs
(Friede schlechthin) war „pax universalis" auch bei Dubais und Dante verstanden;
bei ihnen hat „pax universalis" darüber hinaus noch eine konkrete politische Be-
deutung; sie bezeichnete den alle personell, sachlich und regional eingeschränkten
„paces speciales" übergreifenden allgemeinen Frieden auf Erden - allerdings nur
soweit sie christlich war. Gemeint war die pax christiana universalis perpetua des
Artikels 1 der Westfälischen Friedensverträge von 1648.
Damit berühren wir ein letztes Problem, das noch zu besprechen ist: das Verhältnis
von µax und christianitas. Um 1270 hatte THOMAS VON AQUIN in seiner „Summa
theologiae" geschrieben: Sine gratia gratum faciente non potest esse vera pax, sed
solum apparens; denn die pax vera non potest esse nisi in bonis et bonorwm67 • Die Er-
kenntnis der wahren Güter aber konnte nur die durch die Offenbarung erleuchtete
Vernunft vermitteln. Die Heiden also waren von dieser Erkenntnis und damit auch
von der „pax vera" ausgeschlossen. Fraglos hatte Thomas trotz der allgemein gehal-
tenen ·Formulierung an -dieser Stelle vor allem die pax des .Einzelmenschen, den
53 PIERRE DuBOIS, De recuperatione, § 28, S. 21 (s. Anm. 38).
54 DANTE, De mon. 1, 4, 2.
66 AUGUSTIN, De civ. 19, 12.
66 BERTHOLD VON REGENSBURG, Fride, Predigten, Bd. 1, 236.
57 THOMAS VON AQurn, S. th. 2,2, qu. 29, art. 2.

554
II. 4. Politischer Friedensbegriff des ausgehenden MittelRiters Friede

moralischen Frieden im Sinne. Doch sind uns Quellenzeugnisse überliefert, die ein-
deutig erkennen lassen, daß auch von einem politisch-sozialen Gemeinschaftsfrieden
mir unter Christen die Rede sein konnte. Zwischen Christen und Heiden war allen-
falls eine concordia 58 möglich. Mag man später auf dergleichen terminologische
Feinheiten im allgemeinen keinen besonderen Wert mehr gelegt haben, so zeigen
solche vereinzelten Belege wie auch di.e Tatsache, daß alle großen universalen Frie-
densprojekte bis ins 18. Jahrhundert hinein nur eine „pax christiana" im Blick hat-
ten, daß auch die Verfechter einer „pax universalis" nicht über die Grenzen der
„christianitas" hinausdachten.
Tatsächlich war das abendländische· Mittelalter über die Vorstellung eines, um ein
Wort von Friedrich Heer zu gebrauchen 59 , „geschlossenen" Friedens nicht hin-
ausgekommen. Das begreift sich im übrigen leicht, wenn man die enge Verbindung
des abendländischen Friedensbegriffs mit den Begriffen 'Recht' und 'Gerechtig-
keit' bedenkt. Die augustinische „iustitia" war letzthin eine „iustitia fidei et fide-
lium", und die Idee eines von der gratia völlig unabhängigen Naturrechts und einer
damit gegebenen natürlichen Gerechtigkeit war zwar schon im hohen Mittelalter
konzipiert, doch erst in der Spätscholastik der beginnenden Neuzeit voll entwickelt
\Uld virulent gewori:lfm 60 . nf\m nllgP.mP.inP.n °RP.Wll ßtRP.in Rr.hiP.n P.iiiP. RP.r.htR- 11nil
damit Friedensgemeinschaft zwischen Heiden und Christen ausgeschlossen. Das
bedeutete nicht, daß Heiden und Christen ipso facto Feinde waren. Zwischen ihnen
konnte es durchaus eine pax im technischen Sinne eines gewaltlosen Nebeneinanders
geben, eine „pax vera" jedoch war nicht möglich. Das Auftauchen des Begriffs der
„pax christiana" in politischen Friedensverträgen der Neuzeit, das sei noch kurz
angedeutet, zeigt demgegenüber an, daß die Relation vo:p. -pax und christianitas
nicht mehr als Selbstverständlichkeit empfunden wurde, die pax vielmehr aus-
drücklich als „christlich" qualifiziert werden mußte; wobei „christlich" hier zu-
gleich auch die Funktion hat, die Verbundenheit der konfessionell unterschiedenen
christlich-europäischen Staaten zu beschwören.
Heben wir die im Hinblick auf di~ weitere Entwicklung wesentlichen Elemente des
politisch-sozialen Friedensbegriffs im Mittelalter noch einmal zusammenfassend
hervor:
a) die Einordnung von Friede in ein durch die Begriffe 'caritas' (minne), 'tranquillitas'
(gemach), 'securitas' (sicherheit) und 'iustitia' (im doppelten Sinne von Gerechtigkeit
und Justiz) abgestecktes Bedeutungsfeld, in dem besonders 'iustitia' und 'securitas'
hervorragen ;

68 Etwa FLODOAitD, .Annales ad 923, MG SS Bd. 3 (1839), 372 und Duno VON ST. QuENTIN,

De moribus et 11ctis primorum Norm11nni11c ducum, od. Julcs Auguste Lair (C11011 1865),
165 f. Bei beiden geht es um das Verhältnis zwischen den christlichen Franken .und den
heidnischen Normannen. Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß 'concordia' als Rechts-
begriff ein Verhältnis bezeichnete, das weniger intensiv war als eine pax-Beziehung
(THOMAS VON .AQUIN, S. th. 2,2, qu. 29, art. 1: pax inclwJ,it concordiam et aliquid addit).
Der heutige umgekehrte Sprachgebrauch (Eintracht ist mehr als Friede) kann zu Fehl-
interpretationen führen.
69 FRIEDRICH HEER, Historische Grundlagen der Weltfriedensidee, in: Fschr. Josef Lortz,

hg. v. ERWIN IsERLOH u. PETER MANUS, Bd. 2 (Baden-Baden 19158), 153 ff.
60 Vgl. ERNST REIBSTEIN, Die .Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts (Bern 1949).

Über die Frage nach dem Verhältnis von Menschheit und Christenheit im Spätmittel-

555
Friede m. 1. „Pax civilis" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit
b) die Unterscheidung zwischen dem wahren und dem falschen Frieden, als deren
Kriterium das Verhältnis der pax zur iustitia (Gerech._tigkeit) gilt;
c) das durchgängige Verständnis des Friedens als eines „geschlossenen" Friedens,
der „unbefriedete" Bereiche außerhalb seiner Wirkungs- und Geltungssphäre vor-
aussetzt;
d) die Offenheit des politischen Friedensbegriffs gegenüber den metapolitischen
(moralisch-theologischen) Bedeutungsgehalten von 'Friede';
e) die Wertschätzung des Friedens (pax temporalis) als Sinn und Zweck aller poli-
tischen Gemeinschaftsbildung; wobei, das verdient wenigstens noch erwähnt zu
werden, unter dem Einfluß des römischen Rechts und innerhalb einer gegen hierar-
chische Ansprüche gerichteten weltlichen Kaiserideologie der Begriff der „pax
temporalis" zum Begriff einer „pax civilis" verengt und verschärft werden konnte 6 1.
Es bleibt jedoch zu betonen, daß wir es hier mit einem Friedensverständnis und
einem Friedensbegriff zu tun haben, der aus dem von der communis opinio abge-
steckten Rahmen hinausfällt und letztlich „unzeitgemäß" war, immerhin jedoch
künftige Ausprägungen des Friedensbegriffs andeutend vorwegnahm.

m.
1. „Pax civilis" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit

Für den mittelalterlichen Begriff des wahren Friedens war die Glaubensspaltung
von folgenschwerer Bedeutung, deshalb nämlich, weil mit ihr der Sinn von Recht,
Gerechtigkeit und Christlichkeit problematisch wurde. Zwar war man auch im
Mittelalter über dergleichen durchaus nicht einer Meinung gewesen; solange aber
die abendländische christianitas sich in der einen Kirche darstellte, ließen sich
divergierende Ansichten über manche Einzelfrage ertragen, sofern die Grundlagen
der „fides catholica" nicht angetastet wurden. Allzu radikale Lehren und Vorstel-
lungen wurden als ketzerisch zurückgewiesen, ihre Vertreter aus der kirchlichen
(und damit zugleich der weltlichen) Rechts- und Friedensgemeinschaft ausgeschlos-
sen. Der Ketzer war friedlos, mit ihm gab es keine pax in irgendwelchem Sinne:
er wurde vernichtet, wenn er sich nicht unterwarf. Die durch die Reformation ver-
ursachte Aufspaltung der christianitas in Konfessionen schuf demgegenüber eine
völlig neue Lage, die ein überdenken der bislang gültigen Sinngehalte von 'Friede'
erforderte. Die „pax spiritualis" der christianitas war endgültig dahin, und die
„pax temporalis" innerhalb und zwischen den Gemeinwesen in Frage gestellt, weil
man sich über die iustiti1111ls „fundamentum pacis" nicht mehr einig werden konnte.
Was die eine Konfession als Recht 11ns11h, mußte der anderen als Teufelswerk gelten
(z.B. das kanonische Recht) 62 • Die konfessionell gespaltene Christenheit vermochte
Recht und Friede nicht mehr zusammenzubringen; ihr Friede wurde zur „pax

alter handelt auch FRIEDRICH AUGUST v. DER HEYDTE, Die Geburtsstunde des souveränen
Staates (Regem;bw·g 1952), 277 ff.
61 MARSILIUS VON p ADUA, Defensor pacis 3, 3.
62 Zu diesem ganzen Problemkreis vgl. die Aufsätze von MARTIN HECKEL, Autonomia und

Pacis Compositio, Zs. f. Rechtsgesch., kanonist. Abt. 45 (1959), 141 ff.; bes. ders., Parität,
ebd. 49 (1963), 263 ff.

556
m. 1. „Pax civilis" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit Friede

apparens", zum Scheinfrieden im Sinne der traditionellen Lehre. Eine „pax iusta et
vera", wie man sie bisher verstanden hatte, war letztlich nur noch durch Krieg
wiederherzustellen, einen Krieg, bei dem es nicht mehr wie bei den mittelalterlichen
Kriegen und Fehden darum ging, innerhalb der anerkannten Rechtsordnung einen
konkreten Rechtsstreit durchzufechten, sondern in dem diese Rechtsordnung als
solche umkämpft war. Man erhoffte von ihm nicht eine Lösung der Frage, was im
konkreten Fall, sondern was überhaupt und schlechthin Recht war und sein sollte.
Die Konfessionskriege und vor allem die konfessionellen Bürgerkriege wurden ge-
führt, um: die Möglichkeit zur Wiederaufrichtung der verlorenen „vera et iusta pax"
zu schaffen. Ihr Ergebnis war jedoch nicht jene „iusta pax'' im überkommenen
Sinne, sondern ein anderer, neuer Friede: die „pax civilis" - der Staatsfriede.
Dieser Friedenszustand innerhalb des Staates wurde in den nächsten zweieinhalb
Jahrhunderten als Friede katexochen begriffen. Jlriede, so beginnt der 1135 er-
schienene Artikel „Friede" in ZEDLERS „Universallexicon", wird ... vor den
Ruhestand einer Republik genommen, da keiner den anderen beleidigt und jeder den
anderen sein Recht ungekränkt genießen läßt 63 • Der Charakter dieser „pax civilis"
war es, über den in den: sozial- und staatstheoretischen Schriften der frühen Neuzeit
gestritten wurde. Eine wesentliche (und später noch zu erörternde) Rolle in dieser
Diskussion spielte die Einordnung des neuen Friedensbegriffs in das System des
philosophisch-rationalistischen Naturrechts (d. h. des enttheologisierten christlichen
Naturrechts) - jenes System, in dem nach dem Zerfall eines einheitlichen theo-
logischen Weltverständnisses noch einmal eine die Konfessionen übergreifende
gemeinsame „Weltanschauung" gewonnen werden konnte. In dieses Naturrecht
ist bereits die durch die großen Entdeckungen des 15. und 10. Jahrhundert!:! ver-
mittelte Erfahrung einer jenseits der christianitas liegenden Welt eingegangen, ja,
es war gerade diese Erfahrung, die neben der Konfessionsspaltung die Ausbildung
eines Naturrechtsdenkens vorangetrieben hatte, in dessen Blickpunkt weniger die
„eine Christenheit" als die „eine Menschheit" stand und das so wesentlich mit dazu
beigetragen hat, die enge mittelalterliche Bindung von pax und christianitas auf-
7.n lösen und statt dessen die moderne begriffliche Verbindung von 'pax' und
'humanitas' zu stiften.
Jean Bodin hat dem Verständnis des Friedens als „Staatsfriede" entscheidend
vorgearbeitet64, die eigentliche eeist.eRgeRr.hir.htliche Schlüsselfigur aber ist THOMAS
HoBBES. Er hat den neuen, zukunftsmächtigen Gedanken von der Identität des
„status civilis" und des „status pacü1" am nachdrücklichsten ausgesprochen. Friede
und Staat, so argumentierte er, bedingen einander: nur der Staat vermöge seinen
Bürgern den Frieden zu garantieren, und umgekehrt könne nur dasjenige Gemein-
wesen als Staat gelten, das den Frieden tatsächlich garantiere; eine „pax extra
civitatem" war für Hobbes ebenso undenkbar wie eine „civitas sine pace" 65 • Das

63 ZEDLER Bd. 9 (1735), 2094.


64 Nur hinsichtlich der pax civilis kann man das Urteil von HANS PRUTZ, Die Friedensidee.
Ihr Ursprung, anfänglicher Sinn und allmählicher Wandel (München, Leipzig 1917), 86,
Bodin sei der „Vater der modP.rn1m FriP.denAidee" gewesen, in etwa gelten lassen.
66 Dazu vor allem FERDINAND TöNNIES, Hobbes. Leben und Lehre (Stuttgart 1896), 213

u. CARL ScmnTT, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (Hamburg 1938).
Eine Zusammenstellung der wichtigsten Hobbes-Literatur bringen PETER CoRNELIUS

557
Friede m. 1. „Pax civilis" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit

Wesen des Friedens begriff er als Sicherheit (und zwar im doppelten Sinne des
faktischen Sicherheitszustandes und des subjektiven Sicherheitsgefühls); die „secu-
ritas pacis" hat bei ihm alle anderen herkömmlichen Bedeutungskomponenten von
'Friede' überspielt. Demnach waren nicht Kampf und Gewalttätigkeit, sondern
Unsicherheit und Furcht die Gegenbegriffe zu 'Frieden' im Sinne von Hobbes. The
nature of war consisteth not in actual fighting, but in the k~own disposition thereto
during all the time there is no ass1Irance to the contrary. All other time is peace66 -
ein Gedanke, der bis in die Formulierung hinein noch Fichte geläufig war 67 ~ Diese
Verabsolutierung eines Bedeutungselements (Sicherheit) im traditionellen Friedens-
begriff hatte zur Folge, daß das Verständnis von 'Friede' mit juristischer Eindeutig-
keit und Einseitigkeit zugleich fixiert war. Die überkommene Verbindung von pax
und iustitia wurde problematisch. Im Sinne einer wirksamen Justiz blieb die iustitia
eine wesentliche Vorbedingung der „pax civilis". Mehr noch: die „pax civilis" be-
ruhte schlechthin auf der effektiven staatlichen Justiz, die alle konkurrierenden
jurisdiktionellen Ansprüche ausgeschaltet hatte 68 • Die iustitia im Sinne der (ma-
teriellen) Gerechtigkeit wurde dagegen, . das ist das Entscheidende, radikal vom
Begriff des Friedens getrennt. Und nicht nur das: für Hobbes bestand das Wesen
der „pax civilis" gerade in dieser Trennung von Frieden und Gerechtigkeit - einer
Gerechtigkeit, die aufs engste mit dem Begriff der Wahrheit, der veritas, verknüpft
war. Die Verbindung von Friede, Gerechtigkeit und Wahrheit war es ja, an der sich
der konfessionelle Bürgerkrieg entzündet hatte. Und darauf gab Hobbes seine Ant-
wort: „Authoritas non veritas facit pacem" - um eine seiner wirkungsvollsten
Formulierungen69 etwas abzuwandeln. Es ging ihm nicht mehr um die „pax vera"
der mittelalterlichen Staatsdenker (die endgültig dahin war), sondern um eine „pax
effectiva". Und das war allein die autoritär erzwungene und garantierte, die Frage
nach Gerechtigkeit und Wahrheit beiseite schiebende „pax civilis", deren Inhalt
securitas und tranquillitas sind. Waren im Mittelalter pax und iustitia nebeneinan-
der geordnete Werte gewesen, so wurde nun die iustitia der pax rigoros unter-
geordnet. Und das nicht etwa nur in Hobbes' Staatsdenken. 1764 noch schrieb
JOHANN JAKOB MosER in seinem „Teutschen Staats-Recht" 70 : Der Religions-Fried
ist eine Art und ein Teil des Land-Friedens ... , und dem Religions-Frieden ganz nicht
zuwider ist, wenn man die beiderseitige Lehrsätze auf das äußerste gegeneinander verc
teidiget, wenn es nur auf eine solche Art geschiehet, daß darüber ke·ine Unruhe in dem
Staat entstehet. Der Religions-Fried ist, wie also Oonring. wohl dafür gehalten, nur
pax ci1rili8 und als solcher ein „äu ßerer" Friede - ein Friede also, der auf die Hand-

MAYER-TASCH in seiner „Leviathan" -Ausgabe, 2. Aufl. (Reinbek 1969), 308 ff. u. REINHARD
STUlllPF/JoN IJoNTIADEs/HERNARD WILLMS, Hobbes im deutschen Sprachraum. .H:ine
Bibliographie, in: Hobbes-Forschungen, hg. v. REINHART KosELLECK ·u. ROMAN SCHNUR
(Berlin 1969), 287 ff.
66 THOMAS HoBBES, Leviathan 1, 13. EW vol; 3 (1839; Ndr. 1966), 113.
67 FICHTE, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW Bd. 7 (1846), 165: Krieg also ist

nicht nur, wenn Krieg geführt· wird, sondern die allgemeine Unsicherheit aller vor allen ist
auch Krieg und hat für das Menschengeschlecht fast dieselben Folgen als der geführte Kr.ieg.
68 Vgl. CARL SCHMITT, Die vollendete Reformation. Bemerkungen und Hinweise zu neuen

Leviathan-Interpretationen, Der Staat 4 (1965), 51 ff.


69 Vgl. Anm. 105.
70 ·JOHANN JAKOB MOSER, Teutsches Staats-Recht, Tl. l (o. 0. 1764), 169.

558
m. 1. „Pax civiliS" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit Friede

lungen, nicht die Gesinnungen der Menschen abhob. Es wird hier besonders deut-
lich, um diel:l rückblickend kurr. einr.nfiigen, wie sehr LUTlllilRS Lohre von d1m 7.Wei
R.egimenten und die sich daraus ergebende, fast antithetische Auf.9paltung des
Friedensbegriffs in den inneren geistlichen Frieden und den äußeren weltlichen
Frieden der Rezeption des neuen Staatsdenkens in Deutschland die Bahn geebnet
hat, ungeachtet aller Gegensätze, die Luther von einem Mann wie Hobbes trennten.
Indem Luther nämlich - in der Tr.adition der Mystik stehend - den Begriff der
„pax spiritualis" in hohem Maße verinnerlichte, trennte er die mittelalterliche Ver-
bindung zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Frieden und erklärte diesen
zum theologisch indifferenten äußerlichen Frieden, der nicht Sache der Christen,
sondern der Juristen (dem tragenden Berufsstand des modernen Staates) sein.
Der Sinn der „pax civilis" lag darin, daß um Recht und Wahrheit eben nicht mehr
- mit MoSERS Worten - auf das äußerste gerungen werden durfte: die gewaltsame
Auseinandersetzung blieb ausgeschlossen. Der Friede war höchster und absoluter
SLaaLszweck; ihm haben 1:Üeh ilie auJeren Werte unterzuordnen bzw. auf ihn hin
a
neu 11llßzuriohtcm: rw pouvant faire, qu'il soit force la. jii.st1'.ce., on a. frt.Ü q11.'1:l .~oi:t
a
juste la force d' obeir; ne pouvant fortifier la justice, on a justifie la force, afin que
le fu.~te et lc fort fussent enseinble, et que la paix fut, qui est le souve.rain b·ien (PAHOAL,
um 1660) 72 •
Wenn man den s11.rkll.11tiHcli-kriLi:;ehe11 Unterton dieser Demerkung überhört, kann
sie als eine exakte Beschreibung des modernen Staatsfriedensbegriffs gelten; denn
dieser Friede war vor allem Sicherheit, und die vermochte nur die „force", die
effektive Zwangsgewalt, zu bieten. Die Trennung von Friede und Gerechtigkeit war
es, die .Kritik an Hobbes Friedensbegriff hervorrief; 'wobei daran zu erinnern ist,
daß ja schon von der scholastischen Soziallehre die erforderlichen Begriffe zu einer
abwertenden Klassifizierung der „pax civilis" bereitgestellt waren. In thomistischer
Terminologie ließ sich die „pax civilis" nur als „pax temporalis apparens", als
Scheinfriede „in temporalibus" begreifen 73 • Noch provozierender aber wirkte
Hobbes' Behauptung, daß weltlicher Friede überhaupt nur als „pax civilis" möglich
sei. Demgegenüber hielten sowohl die an der traditionellen scholastisehen Sozial-
11111 n1 71 wir. auch die am Naturrechtsrationalismus orientierten Theoretiker an dem
Begriff einer auf der natürlichen Gerechtigkeit gegründeten „pax naturalis" fest.
Die Vorstellung, daß Friede erst durch einen gesellschaftlichen Zusarnm1111Hehluß

71 Vgl. dazu LUTHER, Von weltlicher Obrigkeit (1523), WA Bd. 11 (1900), 251; ders.,

Predigt über Eph. 6, 10 ff. (1531), WA Bd. 34/2 (1908), 397.


72 PASCAL, Pensees 5, 299, etl. Charles-Marc des Granges (Paris 195i), 153 f. An Pascal
wird im übrigen deutlich, dies sei nebenbei bemerkt, daß die Begriffsentwicklung der
„pax spiritualis" in der frühen Neuzeit derjenigen der „pax temporalis" erstaunlich
parallel läuft. Ist der Staatsfrieden „Sicherheit vor Gewalt", so bestep.t der Seelenfrieden
jetzt in der „Sicherheit vor Glaubenszweifeln": Gewißheit - eine Vorstellung, die etwa
dem Verfasser der „Imitatio Christi" noch ganz fremd gewesen ist. Die .l:legriffsfolge, mit
der Pascal im „Memorial" seine „Bekehrung" beschreibt, ist dafür höchst erhellend:
Certitude, Gertitude. Sentiment, Joie. Paix, ebd., 71.
73 Vgl. oben S. 548. 550.

74 Dazu JOHN BowLE, Hobbes and his Critics. A Study in Seventeenth Century Consti-

tutionalism (London 1951).

559
Friede m. 1. „Pax civilis" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit
gestiftet werden müsse, um eine Formulierung KANTS 75 zu gebrauchen, Friede mit-
hin ein Kulturprodukt sei, wurde von diesen Denkern abgelehnt; ihnen galt der
Friede vielmehr als der „natürliche" Zustand auch des vorgesellschaftlichen Zu-
sammenlebens der Menschen und als solcher wirksam und ungebrochen, solange
sich die Menschen in ihren gegenseitigen Beziehungen von der natürlichen, d. h.
der Vernunft unmittelbar einsichtigen Gerechtigkeit leiten ließen.
Lorsque les hommes pratiquent ces devoirs (sc. de l'humanite) les uns envers les autres,
c' est ce qu' on appelle la paix, qui est l' &at le plus donforme ala nature humaine, le plus
capable de la conserver, et celui dont l'etablissement et le maintien est le but principal
de la loi naturelle. O' est meme l' aat propre de la natwre humaine consideree comme telle
puisqu'il crint d'un principe qui distingue les hommes d'avec les betes. So lautete 1672
PUFENDORFS Darstellung in der Übersetzung von JEAN BARBEYRAC 76 , auf der
Pufendorfs europäischer Einfluß beruhte. Demzufolge konnten die Traditionalisten
so wenig wie die Naturrechtsrationalisten den Jl'rieden vom Kriege her als „absentia
belli" begreifen, wie Hobbes es getan hatte 77 ; sie definierten umgekehrt den Krieg
vom Frieden her als „ruptura pacis" 78 • Und diese Verschiedenheit der Blickrich-
tungen auf das Begriffspaar 'Krieg' und 'Frieden' hin war und ist mehr als eine·
Differenz formaler Art.
Dim Sinn der „pax civilis" sahen die Naturrechtsrationalisten darin, den infolge
!llen1:1ehlicher Bosheit und Leidenschaft stets gefährdeten natürlichen Frieden zu
sichern. Ihnen war der Staatsfriede also nichts mehr und anderes als ein garantierter
natürlicher Friede, der die „:,;eeuritas pacis" verstärkte, ohne daß freilich - im
Gegensatz zu Hobbes - das Molllent der Sicherheit die anderen Bedeutungsinhalte
von 'Friede' ganz aufzehrte. Der so verstandene Staatsfriede, dem ja im Hinblick auf
die „pax naturalis" nur ein affirmativer Charakter zukam, konnte von der Gereehtig-
keit nicht absehen, denn - wie SECKENDORFF 1656 schrieb - der Friede fliesset her
aus der Gerechtigkeit, und die wird hinwiederumb durch Fried und Ruhe befördert 79 •
Im letzten stellte die Sozial- und Staatslehre des Naturrechtsrationalismus also den
Versuch dar, die „pax civilis" von Hobbes durch eine Eliminierung der in diesem
75 KANT, Zum ewigen Frieden (1795): Der Friooenszustand unter Menschen ... ist kein

Naturzustand (status naturalis), der vie/;mehr ein Zustand des Krieges ist ... Er muß also
gestiftet werden, AA Bd. 8 (1912), 3'48 f.
76 SAMUEL PuFENDOfü<', Le droit de Ja n11turo ot dos gcns 8, 6, 2, übers. v. JEAN BARBEYRAC,

5° ed. (Amsterdam 1734).


77 HoBBES: 'l.'he time, which is not war, is peace, De corpore 1, 11. EW vol. 4 (1840; Ndr.

1966), 84. Die „negative" Definition des Friedens wirkte übrigens so suggestiv, daß sie
auch von Denkern übernommen wurde, die ihre Voraussetzung, die Theorie des „bellum
omnium contra omnes", nachdrücklich ablehnten, so z. B. EMMERICH DE V ATTEL, Le droit
des gens ou principes de la loi naturelle 4, l, 1 (1758; Ndr. Washington 1916), t. 2, 249 f.
Sie dürfte darüber hinaus dem allgemeinen unreflektierten Friedensverständnis wenigstens
der Neuzeit sehr entgegenkommen.
7 R Vgl. :6. B. RlCARl>UI:! ÜUMßlllltLANll, De legibus naLurall ui1:14ui1:1itiu philo1:1ophica (Lon-

don 1672), frz. v. JEAN BARBEYRAC, Les loix de la nature expliquees par ... R. Cumberland
(Leiden 1757), 288 i 6t la gu6rra doit au aontrairc ctrc definie une discontinuation de la paü:
de meme que la sante n'est pas une absence de maladie, mais la maladie est, de sa nature,
contraire a la sante. La nature occupe toujours la premiere place.
79 VEIT LUDWIG v. SECKENDORFF, Teutscher F~sten-Staat 2, 8, 2 (Ausg. Frankfurt 1660),

138.

560
m. 1. „Pax civilis" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit Friede

Rllgriff Anth:i.ltAnAn rarlilrn.l nA11An RA<lm1timc11AlAm1mtA mit rlAr a.ltAn Vor~telhmr;


der „pax iusta" irgendwie in Einklang zu bringen. Es bleibt nämlich festzuhalten,
daß bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ehe Vertreter emes natürlichen Vernunft-
rechts Hobbes' Primat des Friedens vor der Gerechtigkeit praktisch anerkannt
haben. Die innerstaatliche Friedensordnung, selbst die ungerechte, erschien als ein
so hohes Gut, daß es nicht verlohnte, sie um einer ungewissen, wenn auch richtigeren
und gerechteren Ordnung willen aufs Spiel zu setzen. Es kann wohl kein Zweifel sein,
daß diese Haltung von der noch. wirksamen Erfahrung des konfessionellen Bürger-
kriegs initbestimmt war.
Gleichwohl wurde durch die Aufwertung der Gerechtigkeit im Verhältnis von pax
und iustitia, die sich die Naturrechtsrationalisten im bewußten Gegensatz zu
Hobbes angelegen sein ließen, in den Begriff der „pax civilis" ein „Sprengsatz"
installiert, der für die Zukunft um so bedrohlicher werden konnte, wenn man be-
denkt, daß ja auch die scholastische Staatslehre durch die Übernahme ihrer wesent-
lichen Elemente in die rationalistische Staats- und Gesellschaftstheorie noch keines-
wegs überwunden war, sondern ein vergleichsweise wirkungsvolles Eigenleben
weiterführte. Gerade in der scholastischen Soziallehre aber nahm die institia der
pax gegenüber eine doininierendc Stellung ein; und stets hatte man von dieser
Grundposition aus die „pax civilis" des modernen Staates mit kritiimh11m Miß-
trauen analysiert und moralisch disqualifiziert. Im großen „Dietionarium morale"
(einem moraltheologischen Kompendium) des Benediktiners PETRUS BERCHORIUS
von 1692 finden sich über die „pax imperata", den gebotenen innerstaatlichen
Frieden, die folgenden wenig freundlichen Ausführungen: Pax imperata ... est pax,
quam principes et magnates imperant subditis suis; nolunt enim quod rebellent contra
eos, sed quod pacifice portent tyrranides, quas imponunt. Ista est pax violenta (Gewalt-
friede) . . . I sti enim volunt, quod subditi erga eos pacem habeant, tamen ad subditos
pacem non servant 80 • Die aus scholastischem Gedankengut kommenden Bemerkun-
gen sind nicht sonderlich originell, jedoch init einer Schärfe formuliert, die der
„Encyclopedie" alle Ehre gemacht hätte. Sichtbarer als in den entsprechenden Aus-
führungen der Naturrechtsrationalisten wurde ·hier, wie mühelos die inittelalter-
lichen scholastischen Vorstellungen über den Frieden in aufklärerisch-bürgerliche
Staatskritik umzusetzen waren. Das Begriffsarsenal stand seit dem hohen Mittel-
alter b11r11it nnrl li11ß sir,h mit g11ringen AhAntverimhiebungen im 18. Jahrhundert
wiederum aktualisieren.
]freilich darf mau sieh vou diesen kritischen Bebrachtuugi;aspekLen der „pax civilis",
die niemals untergegangen waren und im 18. Jahrhundert dann auch praktisch-
politisch relevant wurden, nicht den Blick auf die Tatsache verstellen lassen, daß
der Ordnungswert als solcher, der den eigentlichen Inhalt der „pax civilis" aus-
machte, derart init dem Wesen des modernen Staates verknüpft blieb, daß er alle
kritischen Anfechtungen überdauerte und als Wert praktisch nicht mehr in Frage
gestellt wurde. Vornehmster Sinn des Staates und des von ihm geschaffenen Friedens
war und ist es, daß eine gesicherte Ordnung herrscht; und erst in zweiter Linie geht
es darum, oh diese Ordnung „richtig" ist. Staat und „innerer" Friede wurden -
unbeeinflußt durch alle revolutionären Erschütterungen des konkreten Staats-

80 R. P. PETRUS BERCHORIUS, Repertorium, vulgo d.ictionarium morale, s. v. pax. Opera,


t. 3/2 (Ausg. Köln 1692), 812.

80-90380/l 561
Friede ID. 1. „Pax civili$" als Zustand staatlich garantierter Ruhe und Sicherheit

gefüges in dieser Zeit - in der Vorstellungswelt des 18. und 19. Jahrhunderts in
einem solchen Maße einander begrifflich zugeordnet, daß dies höchst interessante
und belangvolle terminologische Konsequenzen hatte: der innere Staatsfriede
erschien so sehr als Selbstverständlichkeit, daß der Begriff 'Friede' für den inner-
staatlichen Ordnungszustand nicht mehr gebraucht und durch andere Termini
ersetzt wurde. 1775 bemerkte ADELUNG, daß Friede im eigentlichen Verstande zu-
nächst die öffentliche Ruhe und Sicherheit in der bürgerlichen Gesellschaft bedeute,
und fügte hinzu: in welchem jetzt größtenteils veralteten Verstande dieses Wort bei dem
ehemaligen Faustrechte sehr üblich war 81 • Und 1858 stellte HEFFTER im „Staats-
wört~rbuch" von BLUNTSOHLI/BRATER fest, daß den Begriff des Friedens im Innern
der Gesellschaft ... jetzt der publizistische Begriff der öffentlichen Ruhe und Sicherheit
vertrete 82 • In diesem Zusammenhang ist als charakteristischer Einzelzug hervor-
zuheben, daß die Gegenüberstellung von „innerem" und· „äußerem" Frieden eine
Bedeutungsverschiebung insofern erfuhr, als es nicht mehr der Unterschied zwischen
Handlung und Gesinnung, sondern von iniierstaatlich und außerstaatlich war, der
diesem Begriffspaar seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zugrunde gelegt wurde 83
- ein Symptom für die untergründige Verdrängung eines moralischen durch ein
etatistisches Friedensdenken.
Die beiden soeben - im chronologischen Vorgriff - angeführten Zitate zeigen an,
daß der Begriff des Staatsfriedens, der „pax civilis", im 18. Jahrhundert abgelöst
worden ist durch jene Begriffe der „publica tranquillitas et securitas", die von jeher
seinen spezifischen Sinngehalt ausgemacht haben. Davon ist schon gesprochen
worden. Das bedeutete einmal, daß der umstrittene Begriff der „pax civilis" sich
terminologisch verbarg und sich auf diese Weise gleichsam heimlich der Kritik ent-
zog, die stets am Begriff der pax, des Friedens, sich entzündet hatte. Unter dem Deck-
mantel der öffentlichen Ruhe und Sicherheit dagegen ist die „ µax civilis" im 19. Jahr-
hundert bis zu Georg Sorel hin ungeschoren und als Wert unbestritten geblieben.
Das bedeutete des weiteren aber auch, daß der Begriff 'Friede' frei wurde zur aus-
schließlichen Bezeichnung anderer, und zwar zwischenstaatlicher Verhältnisse und
unterschwellig die Bedeutungsnuance eines prekären, gefährgeten und eben deshalb
mit besonderer Inbrunst ersehnten Zustandes annahm. Für die Begriffsgeschichte
von 'Friede' ist die mit der Durchsetzung des modernen Staats als eines unbedingten
Friedemwerbandes im 18. Jahrhundert verbundene Verschiebung des Friedens-
verständnisses von der innerstaatlichen Ordnung weg auf die internationalen Be-
ziehungen hin von tiefgreifender Bedeutung. Sie markiert tatsächlich einen ent-
scheidenden Wendepunkt. Davon wird sogleich zu sprechen sein.

8l ADELUNG Bd. 2 (1775), 298.


82 HEFFTER, Art. Friede, BLUNTSCBLr/BRATER Bd. 3 (1858), 768.
83 Bei ZEDLER Bd. 9 (1735), 2094 f. und WALcH 2. Aufl., Bd. 1 (1740), 1063 wurden die

Begriffe 'innerlich' und 'äußerlich' noch ausschließlich zur Unterscheidung von Ge-
sinnung (Gemüts-Disposition) und Handlung gebraucht. 100 Jahre später sah sich KRuG
2. Aufl., Bd. 2 (1833), 93 dann veranlaßt, gegen den „üblichen" Sprachgebrauch zu polemi-
sieren: Wenn nun die Bürger eines St,aa,ts friedlich zusammen leben, so nennt man dies wohl
auch den innern Frieden, obschon es im Grunde doch nur ein äußerer Friede ist, weil dabei
bloß auf die äußeren Handlungen der Bürger reflektiert wird. Wenn dann weiter im Bezug
auf den ganzen Staat vom äußern Frieden die Rede ist, so refie'ktiert man auf das Verhältnis
der Staaten zueinander.

562
ID. 2. Internationaler Friede als labiler Vertragszustand Friede

2. Der internationale Friede als labiler Vertragszustand

Es bedarf keines eigenen Nachweises, daß das Verständnis des Friedens als ö:ffent-.
liehe Ruhe und Sicherheit, wie es die Herausbildung des modernen Staates mit sich
brachte, keineswegs alle anderen politisch-sozialen Bedeutungen von 'Friede' ab-
sorbiert hatte. Stets und jederzeit hatte 'Friede' auch - um eine lexikalische De-
finition aus dem Jahre 1819 anzuführen - den Zustand der aufgehobenen oder ruhen-
den Gewalttätigkeiten oder die Wiederherstellung des ruhigen und rechtlichen Verhält-
nisses unter den Staaten bezeichnet84• Es war gerade dieser Friede „inter principes
seu civitates", den etwa die „Friedensrufer und -planer" im Auge hatten, die seit
dem späten Mittelalter aus religiösen, moralischen oder auch national eigensüchtigen
Motiven heraus die Etablierung einer „pax universalis perpetua", eines allseitigen .
und dauernden internationalen Friedenszustandes forderten 85 . Dies ist durchaus
verständlich angesichts der Tatsache, daß hier die Gewalttätigkeit in Form des
Krieges mit weit größerer Selbstverständlichkeit und in einem weitaus stärkeren
Ausmaße praktiziert wurde als innerhalb der erklärten Friedensbereiche, und d. h.
für die Neuzeit: innerhalb der Staaten oder sich zu Staaten entwickelnden Terri-
torien. Entscheidend war aber, daß die Forderungen nach der zwischenstaatlichen
„pax universalis" bis weit in das 18. Jahrhundert hinein stets ein Thema kühner
Projekte oder moralischer Rigoristen blieb, niemals aber Gegenstand „offizieller"
Soziallehren wurde. Von folgenschwerer Bedeutung war es in dieser Hinsicht, daß
die scholastische Moraltheologie ihre „Staatstheorie" zwar ganz auf den Begriff der
„pax iusta" als dem konkreten Inhalt des „bonum commune" ausrichtete 86, die
Behandlung der „internationalen" Beziehungen jedoch auf den Begriff des „bellum
iustum" konzentrierte 87 • Der Grund dafür liegt zweifelsohne im Verhältnis von pax
und iustitia, das siph zumindest in praxi ganz verschieden gestaltete je nachdem,
ob man es als innerstaatliches oder zwischenstaatliches Problem betrachtete. Inner-
halb des Staates gründete der Friede nach scholastischer Auffassung in der Gerech-
tigkeit und wurde zugleich garantiert durch eine funktionierende Justiz, die im
Streitfall feststellte, was gerecht und Rechtens war, und die dafür sorgte, daß ihr
Urteil auch exekutiert wurde. Zwar beruhte auch der wahre Friede zwischen den
Staaten auf der Gerechtigkeit; aber es fehlte dort die Gerichtsbarkeit. Im Streitfall
hatten die souveränen Kontrahenten selbst über die Gerechtigkeit ihrer Sache zu
urteilen und ihre Sentenz auch selbst zu vollstrecken - durch den Krieg. Um
iudicia deficiunt incipit bellum, so lautete die Formel von HuGo GnoTius (1642) 88 •
Und noch WILHELM TRAUGOTT KRUG schrieb: Der Krieg kann vernünftigerweise

84 BROCKHAUS 5. Aufl., Bd. 3 (1819), 940.


85 Dazu KURT v. RAUMER, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Re-
naissance (Freiburg, München 1953) und Scm.OCHAUER, Idee des ewigen Friedens (s. Anm.
49).
86 Vgl. oben S. 552, Anm. 41.
87 Beste Darstellung: ROBERT HUBERT WILLEM REGOUT, La doctrine de la guerre juste

de saint Augustin a nos jours d'apres les theologiens et les canonistes catholiques (Paris
1934). ~inen guten Überblick gibt GEORG HUBRECHT, La juste guerre dans la doctrine
chretienne, des origines au milieu du 16° siecle, in: La Paix, Recueils de la Societe Jean
Bodin 15 (Brüssel 1961), 107 ff.
88 HuGo GROTIUS, De iure belli ac pacis 2, 1, 2.

563
Friede m. 2. Internationaler Friede als labiler Vertragszustond
nicht anders angesehen werden denn als ein großer Rechtsstreit oder Prozeß zwischen
Völkern (1834) 89 •
Deshalb gehörte nach scholastischer Doktrin - die im übrigen ungeschmälert in
die weltliche Naturrechtslehre eingegangen ist - zum „bellum iustum" die auf die
Wiederherstellung des Friedens gerichtete „intentio recta". Wie im Innern des
Gemeinwesens die Gerichtsbarkeit, so stand zwischen den Staaten der gerechte
Krieg im Dienst der „pax iusta". Der Gedanke jedenfalls, daß der Friede das ein-
zige legitime Kriegsziel ist, gehörte von Aristoteles an bis i~ das 19. Jahrhundert
hinein zu.den Gemeinplätzen in allen Theorien über die internationalen Beziehun-
gcn9o. Die Lehre vom gerechten Krieg und ihre - letztlich sinnverkehrende -
Modifizierung durch die Theorie vom rechtmäßigen Krieg hat bis zum Ende des
18. Jahrhunderts gegolten, ohne jemalR erm1thaft, he11tritt.fm ?.11 werden. Das hatte
erhebliche Konsequenzen für den zwischenstaatlichen Friedensbegriff: der Friede
„inter civitates" galt als ein lfriede, der im Vergleich zum inneren Staatsfrieden,
der „pax civilis", von minderem Wert schien. Mehr noch: Gewichtige Stimmen -
und zwar gerade solche, die der „pax civilis" mit besonderem Nachdruck das Wort
redeten, -hielten daR Neheneinander eines dauernden inneren Staatsfriedens mit
einem dauernden internationalen FrieJeu für umnüglich und sahen es als notwendig
an, den äußeren Frieden dem inneren Frieden als dem höheren Wert zum Opfer zu
bringen. Männer wie Bodin und Richelieu waren von dem im Interesse der Stabili-
sierung des Staatsgefüges unerläßlichen „Purgierungseffekt" des (Staaten-)Krieges
überzeugt91 • Wie gängig diese Überzeugung war, zeigt sich schon darin, daß
MoNTAIGNE sie einer kritischen Glosse für wert befand: Et, de vray une guerre
e.~trangiere e.~t 1J/YI, mal b1:en plus doux que la civile. Mais je ne croy pas quc Dicu
favorisat une si injuste entreprise d' offencer et quereler autruy pour nostre commodite'9 2 •
Erst als der durchgängige innere Friede des Gemeinwesens nicht mehr als eine
mühsam erworbene und stets gefährdete Errungenschaft des modernen Staates,
sondern als eine Selbstverständlichkeit begriffen wurde, geriet das problematische
Verhältnis von innerem und äußerem Frieden etwas aus dem Blick, zumindest in
der theoretischen Reflexion; in der politischen Praxis ist die Maxime von der Kon-
servierung des inneren Friedens durch einen äußeren Krieg oder außenpolitische
Verwegenheitsaktionen wohl niemals vergessen worden. Als 'Friede' wurde fortan
vor allem der keineswegs selbstverständliche Frieden zwischen den Staaten ver-
standen. Und die im 18. Jahrhundert so üppig ins Kraut schießenden Projekte zur
Etablierung einer „paix perpetuelle" zwisehen den Staaten setzen voraus, daß der
Bürgerkrieg „aus dem Erfahrungshorizont gewichen" 93 und der „ewige Friede"
im Staate als öffentliche Ruhe und Sicherheit93• bereits Realität geworden war.
Ansätze zu einer Verlagerung des Bedeutungsschwerpunkts von 'Friede' auf den

89 WILH. TRAUGOTT KRuG, Kreuz- und Querzüge eines Deutschen auf den Steppen uer

Staats-Kunst und Wissenschaft, Ges. Sehr., Bd. 4 (Braunschweig 1834), 55.


90 Beispiele zu bringen, erübrigt sich.
91 Vgl. EDMUND SILBERNER, La guorro dan0 la pcns6c cconomique du 16P. au 18P. siecle

(Paris 1939), 12 ff. und RAUMER, Ewiger Friede, 69.


92 MICHEL DE MoNTAIGNE, Essais 2, 23, ed. Pierre Michel, t. 4 (Paris 1957), 24.
93 REINHART KosELLECK, Kritik und Krise (Freiburg, München 1959), 213, Anm. 144.

93 • Vgl. Anm. 81. 82.

564
m. 2. Internationaler Friede als labiler Vertragszustand Friede

äußeren Frieden hin zeigen sich schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
So erklärte W OLFF 1721 den Frieden als den Zustand des gemeinen Wesens, da kein
auswärtiger Staat es offenbar beleidiget94 • (Der innere Friede firmierte bei W olff als
bürgerliche Sicherheit.) Erst seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts und vor allem
im 19. Jahrhundert aber überspielte der „äußere'' Friede in den Friedensartikeln
der gängigen Lexika den „inneren" Frieden, und 1858 zog HEFFTER in BLUNTSCHLI/
BRATERS „Staatswörterbuch" das Fazit der Begriffsentwicklung von 'Friede' mit
der Bemerkung: Nachdem nun die innere Ruhe und Ordnung und die JJ1acht de.~
Staates fester gegründet worden, bleibt hauptsächlich nur der äußere internationale
Frieden ein Gegenstand des öffentlichen Rechts und der Politik96 •
Dieser Begriff .des äußeren internationalen Friedens war seit jeher auf eine eigen-
tümlioho und charakteristische Weise doppeldeutig. Es wird dieses Wort - heißt es
in einem Lexikon von 1740 - sonderlich in einem zweifachen Verstand gebraucht,
daß es entweder einen [Zu-]Stand oder eine gewisse Handlung und Schluß bedeutet96 •
'Friede' meinte also einmal den Zustand der ruhenden Gewalttätigkeiten, das andere
Mal die Wiederherstellung des ruhigen ... Verhältnisses unter den Staaten (den
Friedensschluß), wie der angedeutete doppelte Sinn von 'Friede' im Jahre 1819
formuliert worden ist97 • Es kann kein Zweifel sein, daß es gerade diese ?.weite Re-
griffäbede11t1mg w11.r, rli11 im iihlinh11n politi11nhr.n Apra,nhgehra1rnh überwog: In einem
anderen Verstande (nämlich neben der Bedeutung Ruhestand einer Republik) wird
das Wort Friede auch vor dasjenige Factum genommen, wodurch der Krieg geendigt
wird (1735) 08 • Friede ( N at'urrecltt) 'ist der Vertrag, wod·urch e·in Krieg geendigt wird
(1785) 99 • Friede bezeichnet besonders die Wiederherstellung der öffentlichen fäthe
zw·isclien Staaten nach vorher ergangenem Krieg und den Vertrag, vermittelst dessen
solches geschieli,t (1775)100. ·
Die A1111dehnung des Begriffs 'Friede' auf das „pactum pacis" (etwa der Westfälische
Friede, der Friede von Utrecht u.ä.) und das dadurch angezeigte enge Aneinander-
rücken von 'Friede' und 'Friedensvertrag' beruhte auf ganz bestimmten Voraus-
setzungen. Zwar hatte auch das Mittelalter die pax im Sinne des Friedensvertrages
(sei es als „gemachter" Friede, sei es als Sühnevereinbarung) gekannt1 0 1 ; doch war
die pax in diesem technischen Sinne durchweg als eine „reformatio pacis" verstan-
den worden, als Aufhebung eines konkreten Friedensbruchs und Wiederherstellung
des vorgegebenen Friedens als des sozialen „Norlllalzust.a.ndes". Rrst die früh-
neuzeitliche Beschlagnahme des Friedensbegriffs für die „pax civilis" und die damit
verbundene Minderbewertung oder gar Leugnung einer allgemeinen, die Staats-
grenzen übergreifenden „pax universalis et naturalis" hatten es vermocht, den
Frieden mit dem Vertragsgedanken zu verkoppeln. Für den „Staatsfrieden" spielte

94 CHRISTIAN WoLFF, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der

Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen (Haiie 1721), 603.


96 HlilFFTER, Art. FriAdA; BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 3, 768.
96 W ALCH 2. Aufl., Bd. 1, 1063.
97 s. Anm. 84.

9S ZEDLER Bd. 9, 2095.

99 Dt. Enc., Bd. 10 (1785), 535.


ioo Am:r,UNG Rn. 2, 303.
101 Vgl. oben S. 545.

ri65
Friede m. 2. liitemationaler Friede als labiler Vertragszustand
der Vertragsgedanke eine zwar geistesgeschichtlich eminent wichtige, doch eben
nur theoretische Rolle; für den Begriff des „zwischenstaatlichen Friedens" war er
dagegen von praktischer Wichtigkeit. Denkern wie Hobbes und ~pinoza erschien
ein Friede zwischen Staaten nur denkbar auf Grund eines Vertrages, der den: Part-
nern ein Maß an gegenseitiger Sicherheit garantierte, das dem des innern Staats-
friedens wenigstens ähnlich war. Faktische Waffenruhe allein hob das „normale"
„bellum omnium( civitatum) contra omnes" noch nicht auf, bestand das Wesen des
bellum nach HoBBEs' Definition ja nicht im actual fighting (Krieg als Aktion), son-
dern in der Unsicherheit gegen eine jederzeit mögliche Gewaltanwendung102 • Dem-
gegenüber hielten die Naturrechtsrationalisten (und ihnen sind die berühmten
„Völkerrechtsklassiker" des 17. und 18. Jahrhunderts zuzu?.ählen) am Begriff des
Friedens als dm1 norm11lon und n11türliohon Zustandes auch zwischen Staaten fest.
On peut - sagte PuFENDORF 1672 - diviser la paix en universelle et particuliere.
L'universclle c'est celle que l'on entretient avec tous les hommes sans exception par la
pratique des seuls devoirs qui emanent purement et simplement du droit naturel. La
parl'iC'Ul'iere c' est celle qui depend de quelque alliance expresse et de certains devoirs
particulicrs que l' on c' est engage ase rendre reciproquement. Oette derniere .~e mn11:nt-ienl
ou au dedans parmi les membres d'une meme societe civile; ou au dchors avec les
f.trnm,(JP.r.~, f.rtm,f. rR.11.:r. q1(:i sonl ne'11,re1J uu 't:ml'ifferen11, qite ceux avec qui l'on a quelque
relation particuliere d'amitie et d'alliance10 3 ,
Wichtiger freilich als diese grundsätzlichen Ausführungen, mit denen sich Pufendorf
bewußt von Hobbes schied, war die Einschätzung des „natürlichen" Friedens als
eines sehr mangelhaften und prekären Zustandes (womit er in pra:xi wiederum
nahe an die Position von Hobbes herankam); denn il faut avouer pourtant, que la
paix de l'etat de nature (wie er allemal zwischen den Staaten herrscht) est assez /aible
et assez mal ass11ree, en ,frrrtp, q?te, si q1telque a1ttre chose ne vient ason secours, elle sert
a
de bien pour la conservation des hommes cause de leur malice, de leur ambition de-
mesuree et l'avidite avec laquelle ils desirent le bien d'autrui 104 • Und was hier im
Hinblick auf die natürlichen Menschen gesagt war, galt gleichermaßen für die
„homines arti:ficiosi", die Staaten. Damit der zwischenstaatliche Friede die not-
wendige securitas erhielt - die vom Staatsfriedensbegriff her gedacht zum wesent-
lichen Merkmal von 'Friede' überhaupt avanciert war -, mußte noch quelque autre
olwse hinzukommen: ein Vertrag nämlich. Gleichgültig also, ob man vom natür-
lichen Frieden (wie Pufendorf und seine Schule) oder vom natürlichen Krieg (wifl
Hob bes und seine Adepten) ausging, einen halbwegs gesicherten zwischenstaatlichen
Frieden vermochte man sich nur noch auf der Grundlage eines Friedensvertrages vor-
zustellen - „status pacis" und „pactum pacis" konnte man daher mit dem gleichen
Wort 'Friede' bezeichnen.
Infolge dieser Gleichsetzung von 'Friede' und 'Friedensvertrag' wurde 'Friede' in
immer ausschließlicherem Maße zu einem juristischen Begriff (was übrigens auch
für die ,;pax civilis" zutraf), ohne daß freilich die Jurisprudenz die ganze Breite des
politisch-sozialen Friedensbegriffs hätte in .Beschlag legen können. Vielmehr provo-
zierte <liesf\ VP.rnngung des Begriffshorizonts unter gewandelten sozialen und politi-

1o 2 Vgl. oben S. 558.


103 PUFENDORF, Le droit de la nature 1, 1, 8 (s . .Anm. 76).
104 Ebd. 2, 2, 12.

566
m. 3. (Ewiger) Friede als Forderung der Aufklärung Friede

sehen Verhältnissen das Wiederaufleben eines Friedensbegriffs, der seine Virulenz


gerade aus der Auseinandersetzung mit dem „ bloß" juristischen Friedensverständnis
bezog.

3. (Ewiger) Friede als Forderung des moraliseh-praktischen


Vernunftrechtdenkens der Aufklärung

Es ist jedenfalls bezeichnend, daß die beiden großen Projekte „zum ewigen Frieden",
die das 18. Jahrhundert hervorgebracht hat (St. Pierre und Kant), der Form nach
Vertragsentwürfe mit beigegebener Begründung waren. Das ist zumindest für
Kants Schrift insofern bemerkenswert, weil sie inhaltlich mit Ideenelementen durch-
setzt war, die in ihrer Kornuiquenz darauf ausgingen, den auf Hobbes zurückgehen-
den Begriff des Friedens als eines durch unwiderstehliche Gewalt garantierten ge-
sellschaftlichen Sicherheitszustandes zu destruieren. Kant spiegelte damit die eigen-
tümliche Bewußtseinslage der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
dem Problem des Friedens gegenüber. Diese Situation war dadurch gekennzeichnet,
daß man nicht mehr anders konnte, als auch den internationalen Frieden nach dem
Modell des vertraglich gesLifLeLen oder befestigten inneren StaatsfriedellS zu be-
greifen, sich zugleich aber bemühte, eben diese „pax civilis" in Frage zu stellen und
als einen despotischen Gewaltfrieden zu disqualifizieren. Dem aufklärerischen Den-
ken war der Ordnungswert als solcher in seinem Wertcharakter problematisch ge-
worden, damit natürlich auch jener Friedensbegriff, der gesicherte Ordnung und
nichts mehr bedeutete. Und zwar basierte diese Kritik am Staate und seinem Frie-
den auf einer neuen (und zugleich alten!) Interpretation des Verhältnisses von pax
und iustitia; stimuliert wurde sie zweifelsohne durch die Tatsache, daß in dem
gleichen Maße, in dem die positive Leistung der „ pax civilis": öffentliche Ruhe und
Ordnung, zu einer Selbstverständlichkeit wurde, die negativen Aspekte des Staats-
friedens (Ungerechtigkeit, Gewalt usw.) stärker ins Bewußtsein traten.
Der Friede des frühneuzeitlichen absolutischen Staates beruhte auf einer Gesetzes-
ordnung, deren wesentliches Erfordernis war, daß sie funktionierte, und nicht, daß
sie „richtig" war. Authoritas, non veritas facit legem - dieser Satz von THOMAS
HoBBEs 105 blieb in der Theorie zwar weitgehend bestritten; er wurde jedoch im
Hinblick auf die tatsächlichen Gegebenheiten und die politische Praxis wenigstens
insoweit anerkannt, als auch die markantesten Vertreter des Naturrechtsrationalis-
mus im 16. und frühen 17. Jahrhundert ihr System darauf anlegten, die veritas
bei der auctoritas zu vermuten, und selbst für den Fall des offensichtlichen Aus-
einandertretens von Macht und Gerechtigkeit nicht soweit gingen, vorbehaltlos ein
gewaltsames Vorgehen gegen die Staatsautorität im Namen des Rechts zuzulassen
oder gar zu fordern. Im Verhältnis von iustitia und securitas zur „pax civilis" hatte
die securitas bei ihnen noch eindeutig den Vorrang. Trotzdem war es von großer
Bedeutung, daß sich der Rechtsrationalismus in der Idee einer als „recta ratio" ver-
standenen natürlichen Gerechtigkeit eine Instanz geschaffen (oder vielmehr bewahrt)
hatte, vor der sich die gesetzliche Ordnung des Staates zumindest „moralisch" zu
verantworten hatte 10,6 • Dem Naturrechtsdenken waren Recht und Gesetz - die

105 HoBBES, Leviathan 2, 26. Opera, t. 3 (1841; Ndr. 1966), 202.


108 Dazu REIBSTEIN, Anfänge, bes. 46 ff. (s. Anm. 60).

567
Friede m. 3. (Ewiger) Friede a1s Forderung der Aufklärung
Hobbes im Interesse der „pax civilis" zugunsten der „lex civilis" identifiziert hatte
- zweierlei Dinge; und gleichgültig, ob man die bestehenden gesetzlichen Normen
mit Hilfe des ewigen Vernunftrechts rechtfertigte oder kritisierte, der alte stoische
und von der Scholastik bewahrte Begriff der „lex iniusta" und damit die Vorstellung
von der Möglichkeit einer ungerechten, verderbten staatlichen Zwangsordnung war
auch dem System des Rechtsrationalismus inhärent. Die „dictamina rectae ratio-
nis", die Normen des Vernunftrechts, aber waren nicht nur Rechtsgebote, sie waren
zugleich auch Anweisungen zu moralischem Handeln. In der auf die Idee der natür-
lichen Gerechtigkeit ausgerichteten rationalistischen Rechtsphilosophie, wie sie
wenigstens auf dem europäischen Kontinent im 17. und 18. Jahrhundert unbestrit-
ten galt, blieben Recht und Moral letztlich ungeschieden und unscheidbar. Die „lex
iniusta" mußte dementsprnr,h1mfl nicht nur als ein ungerechtes, sondern auch als
ein unmoralisches Gesetz empfunden werden. Und aus der Abwertung einer immer
mehr als ungerecht angesehenen 8taatsordnung mit Hilfe moralischer W e'rt-
kategorien bezog die aufklärerische Kritik dann schließlich auch ihre revolutionäre
Tendenz und Kraft.
Von der im 18 ..Tfl.hrhundert allmählich zu politischer Relevanz erstarkenden Idee
des (moralischen) VernunfLreehLi:! wurde der Begriff des Friedens mit.betroffen, die
alten Unterscheidungen zwischen dem wahren und dem falschen Frieden - niemfl.lR
völlig vergessen - lebten wiederum auf. Recht ist Friede, schrieb JhcHTE 1797101.
Hätte er damit nur sagen wollen, daß Friede ohne eine vertraglich oder gesetzlir,h
fixierte Rechtsordnung nicht denkbar sei, dann wäre das in den Augen der Zeit-
genol:!sen ein Gemeinplatz gewesen. Aber diese Aussage wollte fl.}s Forderung ver-
standen werden: (Wahrer) Friede gründete im (richtigen) Recht, nicht in Gewalt,
am allerwenigsten in unrechter Gewalt. Ein dauernder echter Friede zwischen den
Staaten - eins der großen Themen des 18. Jahrhunderts - war unvereinbar mit
innerstaatlichem Gewalt- (und nicht Rechts-)frieden. Im Gegenteil - so legte
Fichte in Übereinstimmung mit der Mehrzahl seiner Zeitgenossen dar: war erst ein-
mal die „pax civilis" in den Staaten zu einer „pax iusta" geworden, löste sich das
Problem des zwischenstaatlichen Friedens gleichsam von selbst. So erfolgt not-
wendig ( !) aus der Errichtung einer rechtlichen Verfassung im Innern und aus der
Befestigung des Friedens zwischen den einzelnen Rechtlichkeit im äußeren Verhältnisse
der Völker gegeneinander und allgemeiner Friede der Staaten 108 • Der GorhmkA, daß
innerer und äußerer Friede unlöslich miteinander verknüpft seien und daß es zu-
nächst darum gehe, die Struktur dieses inneren Staatsfriedens zu verändern, war
ein wesentliches Kennzeichen der aufklärerischen Friedensidee.
Nicht von ungefähr lautete der erste Definitivartikel in KANTS Entwurf zu einem
ewigen internationalen Frieden (1795): Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate
soll republikanisch sein 169 • Ohne „richtige" Ordnung im Innern gab es für Kant
keinen Frieden nach außen - und umgekehrt! Schon ein Jahrzehnt zuvor hatte er
nämlich geschrieben: Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen
Verfassung (= Geselhichaft, in welcher die Freiheit unter äußeren Gesetzen im

107 FICHTE,Rez. Kant, Zum ewigen Frieden (1796), AA 1. Abt., Bd. 3 (1966), 226.
108 FICHTE,Die Bestimmung des Menschen (1800), SW Bd. 2 (1845), 275.
109 KANT, Zum ewigen Frieden, AA Bd. 8, 349. Der Republikanism ist das Staatsprinzip
der Absonderung der ausführenden Gewalt •.. von der gesetzgebenden (ebd., 352).

568
ID. 3. (Ewiger) Friede als Forderung der Aufklllrung F:rlede

größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird)


ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und
kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden (1784) 110 • Die Grenze zwischen dem ab-
soluten inneren Staatsfrieden und dem prekären zwischenstaatlichen Frieden, die
Staatstheoretiker wie Bodin, Hobbes und selbst Pufendorf so sorgfältig und mar-
kant gezogen hatten, verwischte sich im Verständnis des Friedens als eines unbe-
dingten Vernunftpostulats: Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns
ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen mir
und dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten (1797) 111 . Tatsächlich
konnte der· Friede von der Idee eines moralischen Vernunftrechts her gedacht nicht
mehr in unterschiedlich qualifizierte Typen (pax civilis - pax inter status u.ä.)
zerlegt werden. Sowenig sich das „Recht" durch Staatsgrenzen verändern ließ,
sowenig duldete auch der Friedensbegriff solche inneren „Aufspaltungen"; er wurde
„unteilbar".
Kant war nicht der erste, der den Frieden als einen durch die Vernunft geforderten
gesetzmäßigen Rechtszustand beschrieb; er hatte aber zweifellos die größte Wirkung
auf das FriedenRvenitändnis der Liberalen im folgenden Jahrhundert: Friede ist der
Zustand des herrschenden Rechtsverhältnisses unter den Völkern (1819) 11 ~. Indessen
miiRse dfr Vernunft den Krieg immer als einen rechtlosen Zustand . . . verabscheiten
(1819) 119 • Mithin ist der Friede allein als ein durchaus vernunftmäßiger Zustand der
Völker zu betrachten (1833) 114 . Die Vernunft fordert Frieden ... Der Krieg also ist
eine faktische Auflehnung gegen die Herrschaft der Vernwnft (1838) 115 • - Ew·iger
Friede wird der Zustand der Menschheit genannt, ·in welcliern auch zw·ischen den
Staaten nicht die Gewalt, sondern das Recht herrscht und Streitigkeiten . . . nach
Rechtsbegriffen entschieden werden (1865) 116 • Diese Lexikazitate zeigen an, wie sehr
das von der Aufklärung aufgebaute Begriffsfeld: 'Vernunft' - 'Recht' - 'Friede'
auch das 19. Jahrhundert beherrscht hat. Allerdings ist der hier gebrauchte Ver-
nunftbegriff nicht ganz eindeutig; doch dürfte der Eindruck kaum trügen, daß die
Vernunft hier zunächst und vor allem als Quelle rechtlicher und moralischer For-
derungen verstanden wurde; es war Kants „moralisch-praktische Vernunft". Das
muß betont werden. Denn die Vernunft ließ sich auch primär als „Lieferant" kluger
und nützlicher Verhaltensregeln begreifen. Wenn auch bei dem durchschnittlichen
„Aufkliirer" beide ratio-Begriffe ineinander übergingen, so war es für die s-päterA
Entwicklung des Friedensbegriffs jedoch keineswegs gleichgültig, ob im Verständnis
der ratio der Aspekt der „praktischen Vernunft" in Kants Sinn oder der Aspekt de8
„common sense" vorherrschte, ob sich mithin die Vernunftforderung nach dem
Frieden aus moralischen oder utilitaristischen Erwägungen herleitete. Dement-
sprechend blieb zwischen dem Friedensdenken des kontinentalen und des insularen

11 ° KANT, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. 8,


24. 22.
111 .KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre (1797), AA Bd. 6 (1907), 354.
112 BROCKHAUS 5. Aufl., Bd. 3 (1819), 940.
113 Ebd., 571.
114 KRUG 2. Aufl., Bd. 2, 644.
115 ÜARL v. RoTTECK, Art. Friede, RoTTECK/WELCKER Bd. 6 (1838), 80.
116 BROCKHAUS 11. Aufl., Bd. 6 (1865), 83.

569
Friede m. 4. (Ewiger) Friede im ökonomisch-utilitaristischen Rationalismus
Rationalismus bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ein merklicher Unter-
schied fühlbar. Die Interpretation des Friedens als eines vernunftgemäßen recht-
lichen Zustandes war eine rein formale Deutung - wenn die Aufklärer selbst auch
zweifellos anderer Ansicht waren. Die Schwierigkeiten begannen erst bei der Dis-
kussion darüber, wie dieser Zustand materiell beschaffen sein müsse, um einen
dauernden Frieden zu garantieren. Denn - es wurde schon angedeutet - darum
ging es den Vertretern der Aufklärung im 18. und ihren liberalen wie sozialistischen
Nachfahren im 19. Jahrhundert: um den allgemeinen und dauernden, den „ewigen"
Frieden, die „pax perpetua universalis"117 •

4. (Ewiger) Friede als Verheißung der Vernunft im ökonomisch-


utilitaristischen Rationalismus

Es wurde oben bereits darauf hingewiesen118, daß die „Friedensplaner" des aus-
gehenden 17. und des „ vorrevolutionären'' 18. Jahrhunderts dabei aiisschließlich
den äußeren internationalen Frieden im Blick hatten und diesen durch eine ver-
tragliche Vereinbarung über die Konservierung des Status quo und die Einsetzung
eines mit jurisdiktioneller Gewalt ausgestatteten permanenten Staatenkongresses
zu erreichen hofften. Sie waren - auch das klang schon an 119 - in ihren Vorstel-
lungen weitgehend an vergangenen Modellen orientiert; und es nimmt deshalb nicht
wunder, daß sie (vor allem ihr markantester Vertreter, der Abbe de St. Pierre) von
verschiedensten Seiten hel' Kritik erfuhren. Ihre Entwürfe wurden günstigenfallt! als
belle chimere1 20 abgetan - und das nicht nur von Vertretern des „ancien regime",
sondern auch von dessen Kritikern und Gegnern. Sahen die einen den „ewigen"
Frieden als bloße Utopie an, so warfen die anderen dem Abbe vor, die wahren Wur-
zeln des bestehenden „ewigen" internationalen Kriegszustandes nicht bloßgelegt
und somit die wirklichen Bedingungen für einen „ewigen" Frieden gar nicht erkannt
zu haben. Denn seitdem sich den Eingeweihten die bislang dunklen und unreflektier-
ten Verhältnisse des Gesellschaftslebens im Lichte der „raison" aufhellten, begann
man zu erkennen, woran es denn lag, daß es bisher noch keine „pax perpetua" ge-
geben hatte: die Schuld trugen ganz bestimmte und durchaus korrigierbare Miß-
stände des sozialen und politischen Lebens. Diese den Aufklärern des 18. Jahr-
hunderts zum ersten Mal aufdämmernde „Erkenntnis" war für die weitel'e Bntwick-
lung des Friedensbegriffs von grundlegender Bedeutung. Dem Mittelalter war es
eine Gewißheit, daß letzthin jede Störung der Friedensordnung „iusLinctu diaboli"
erfolgte, und aus dieser Überzeugung heraus hatte es - von einigen chiliastischen
Sekten abgesehen121 - die Möglichkeit eines ewigen Friedens auf Erden verneint.

117 Vgl. zu diesem Thema ELIZABETH V. SouLEYMAN, The Vision of World Peace in

Seventeenth and Eighteenth Century France (New York 1941). Leider sind hier die tief-
greifenden Unterschiede zwischen dem Friedensdenken des 17. und des späteren 18. Jahr-
hunderts nicht genügend. herausgearbeitet.
l18 Vgl. oben S. 564.
m Vgl. oben S. 553.
1 2° Formulierung von BEAUHARNAIS vor der Assemblee Nationale 1790; Bulletin de !'As-
semblee Nationale, Moniteur 4 (1790; Ndr.1840), 392.
12 1 Dazu BERNHARD TÖPFER, Das kommende Reich .des Friedens. Zur Entwicklung
chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter (Berlin 1964).

570
lli. 4. (Ewiger) 1''riede im ökonomisch-utilitaristischen Rationalismu!i Friede

Ihm schien eine „pax perpetua" im Sinne des 18. Jahrhunderts nur in der „pax
aeterna" der jenseitigen Vollkommenheit realisierbar. Die bedeutendsten Vertreter
der klassischen rationalistisch.en Naturrechtsschule wollten vom Teufel zwar nicht
mehr viel wissen, glaubten aber - mit PUFENDORF zu sprechen '-in der angebore-
nen malice, ambition demesuree und avidite1 22 der Menschen einen Grund für die
permanente Gefährdung des natürlichen Friedenszustandes gefunden .zU haben.
Der Gedanke an einen ewigen Frieden, wie ihn die Aufklärung verstand, lag ihnen
jedenfalls fern: Wenn sie vom ewigen Frieden sprachen; meinten sie noch jene un-
befristeten Friedensvereinbarungen im hergebrachten Sinne 123. Die aufgeklärten
Philosophen des 18. Jahrhunderts aber ließen sich von der Vernunft nun überzeugen,
daß es durchaus nicht die teuflisch inspirierte oder angeborene natürliche „malice
des hommes" war, die dem ewigen Frieden entgegenstand; denn der Mensch als
solcher war gut. Es lag nicht an den Menschen, sondern an den von den Menschen
irrtümlich geschaffenen (schlechten) Institutionen, daß es noch keinen ewigen Frie-
den gab. Für VoLTAIRE z. B. waren es die kirchlichen Dogmen, die einer „paix
perpetuelle" im Wege standen124.
Viele Aufklärer sahen das eigentliche Hindernis fiir die Ausbreitung eines ewigen
FriedenszusLamles welliger iu einem unaufgeklärten religiösen Denken al0 in einem
unaufgeklärten ökonomischen Dimken. Die aus merkantilistischen Vorstellungen
resultierende Politik der Handelsbeschränkungen wurde in wachsendem Maße als
Hauptgrund für das Ausbleiben des ewigen Friedens unter den Staaten entlarvt.
Dagegen glaubte man in der Handels- und VerkehrsfreiheiL zwischen den Staaten
und in dem sich im Staatsinnern ausbreitenden „Handelsgeist" die vorzüglichsten
und unfehlbaren Garanten der „pax perpetua" gefunden zu haben. Die in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts gestiftete Verbindung von Wirtschaftstheorie und
Friedensgedanke 126, hervorgegangen aus dem Glauben an eine (zunächst ökono-
misch, dann aber auch moralisch verstandene) Interessenharmonie der Menschen
und Völker, machte den eigentlichen Horizont des aufklärerisch-bürgerlichen
Friedensbegriffs aus 126. Er ist bis heute wirksam. Oommerce and manufactures
122 S. oben S. 566.
123 PUFENDORF, Le droit de la nature 8, 7, 4 (s: Anm. 76): Pour moi, il me semble que
toute paix est eternelle de sa nature, je veux dire, que toutes les fois qu'on fait la paix, on con-
vient, de part et d' autre, de ne prendre jamais plue les armes au sujets des demBlez, qui avoient
all11.mi. Ta guerre, et de les tenir desormais pour entierement terminez ... L'idee d'une paix
eternelle n'emporte pas un engagement ou l'on entre de souffrir desormais toutes les injures de
l'ancien ennemi, sans lui resister jamais.
124 Le seul moyen de rendre 1a paix aux hommes est donc de detruire tou8 les dogmes qui

les divisent et de retablir la verite qui les reunit: c' est donc W, en effet la paix perpetuelle,
VOLTAIRE, De la paix perpetuelle, Oeuvres compl., t. 28 (1879), 128.
125 Dazu SILBERNER, La guerre dans la pensee economique (s. Anm. 91) u. vor allem ders.,

La guerre et la paix dans l'hisLoire des doctrines economiques (Paris 1957).


168 E1:1 sei ueLuuL, daß nur von diesem Glauben an die Interessenho.rmonio dor Monaohen

und Völker aus (und der daraus resultierenden Forderung nach Handelsfreiheit) Handel
und Friede sich überhaupt in Boziohung oofaon lioßon, Fiel dieser Glaube weg, dann schien
der Handel es eher mit dem Krieg als dem Frieden zu tun haben. Schon CoLBERT hatte
deshalb den Handel als guerre paisible bezeichnet, und 1738 schrieb DuTOT aus dem gleichen
Geist heraus: Faire 1a paix ... pour nous procurer tous les avantages d'un grand commerce,
a
c'est faire 1a guerre nos ennemis, zit. SILBERNER, La guerre dans la pensee economique,

571
Friede m. 5. Die Doktrin des hellum iustum
gradually introduced, order and good government, and with them, the liberty and security
of individuals, among the inhabitants of the country, who had before lived almost in a
continual state of war with their neiglWours, and of servile dependency upon their
superiors (ADAM SMITH 1776) 12 7. L'esprit de paix, eclaire et soutenu par le genie du
commerce (PALIER DE ST. GERMAIN 1788) 128 • L'esprit de conqu€te et l'esprit de
commerd s'excluent mutuellement dans une nation (JEAN FRAN901s MELON 1734) 129 •
Fried,e wird durch Freiheit des Handels garantiert (JOHANN AUGUST ScHLETTWEIN
1791) 13 0. En un mot, la paix perpetuelle ne depend pas d'une simple loi politique con-
ventionelle; elle depend ... de l'esprit general du commerce (SAINTARD 1757) 131 •
Was im 18. Jahrhundert als Verbindung von „esprit de paix" und „genie de com-
merce" begonnen hatte, weitete sich dann im 19. Jahrhundert zu einer Gleich-
setzung von ökonoinischem Denken und Frie<lens<l1mken 11.111'\: T,'P.r.nnnrm:e. poli#que
est la science par excellence de lct paix (SAY 1849) 132 . Hier wird unten anzuknüpfen
sein.

5. Die Verschmelzung des moralistischen und utilitaristischen Friedensdenkens


und die Doktrin des bellum iustum

Dem „esprit de commerce", dem „Ha.nrleli:;geist" -wie ihn Kant und Hegel nann-
ten-, stellte die aufklärerische Sozial- und Staatskritik den „esprit politique" ge-
genüber, der konkret als „esprit de conquete" interpretiert und als „unmoralisch"
gebrandmarkt wurde. Die von dieser Kritik im Blick auf den ökonomischen Bereich
vollzogene Gleichsetzung des Nützlichen init dem Moralischen im Medium des
Natürlichen („natürliche" Interes;ien harmonie, „natürliche" Handelsfreiheit, „na-
türliche" Gerechtigkeit usw.) war folgenschwer. Denn aus der Konfrontation des
„unmoralischen", auf Despotie im Innern und Eroberungen nach Außen gegründe-
ten und ausgerichteten Staates init der „moralischen" (handelnden und philosophie-

35. 53. Auch F:rcHTE war noch der Überzeugung, daß durch den freien Handel ein endloser
Krieg aller im handelnden PUblikum gegen alle entstehe, als Krieg zwischen Käufern und
Verkäufern; und dieser Krieg wird heftiger, ungerechter und in seinen Folgen gefährlicher,
je mehr die Welt sich bevölkert, ... die Produktion und die Künste steigen; Der ge-
schloßne Handelsstaat, SW Bd. 3 (1845), 457 f. Haben die beiden französischen Merkanti-
listen des 17. und frühen 18. J ahrhundcrts noch den Staatenkrieg im klassischen Sinne
im Blick, so deutet sich bei Fichte bereits eine „uneigentliche" futerpretation des Krieges
als inner- und zwischenstaatlicher Konkurrenzkampf einerseits und als eine Art „Klassen-
kampf" andererseits an.
127 ADAM SMITH, An fuquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations 3, 4.

Vol. 1 (London 1776), 495.


128 PALIER DE SAINT-GERMAIN, Nouvel essai sur le projet de la paix perpetuelle (Lausanne

1788), 19.
129 JEAN Fn.AN901s MELON, Essai politique sur le commerce (1734), zit. SlLHJjJJ:tNER, La

guerre dans la pensee economique, 172; vgl. ders., La guerre et la paix, XLIII.
130 JoH. AUGUST ScHLETTWEIN, Die wichtigste Angelegenheit für Europa oder System

eines festen Friedens unter den europäischen St1111tcn (Leipzig 1791), 134.
131 P. SAINTARD, Roman politique sur l'etat present des affaires de l'Amerique (Amster-

dam 1757), 332 f.


132 Congres des amis de la paix universelle, reuni a Paris· en 1849. Compte rendu (Paris

1850), 53.

572
m. 6. Trennung von Staal und Frieden Friede

renden) bürgerlichen Gesellschaft erwuc.hs die zur Revolution ilrii.ng1milA hiirgArlir.hA


Ideologie1aa. Friede, Moral und wirtschaftlicher Fortschritt mußten als untrennbare
Binheit gelten: Un jour regnera peut-e~re cette paix si rare et desiree, et alors enfin la
morale pourra etre comptee pour quelque chose dans l'administration des etats. Tous
les esprits se tourneront vers des objets d'amelioration, so schrieb 1767 JEAN FRANSJOIS
DE LA HARPE in einer Preisschrift der französischen Akademie über die Vorzüge
des Friedens und die Greuel des K.rieges134.
Das Verständnis des Friedens als eines Zustandes realisierter Moral bedingte die
Abwertung des Krieges als aktivierter Unmoral. Die Voraussetzung für eine solche
unbedingte Diskriminierung des Krieges wurde durch eine Identifizierung von
Krieg und Eroberung geschaffen. Der Eroberungskrieg wurde zum Krieg schlecht-
hin, und alle konkret erlebten Staatenkriege des 17. Jahrhunderts wurden als Er-
oberungskriege qualifiziert. Diese Einengung des Kriegsbegriffs auf den Begriff der
(verwerflichen) Eroberung hin ermöglichte nun eine entscheidende Neuorientierung
im Hinblick auf das Problem Krieg-Frieden. Nicht mehr Gewaltanwendung
schlechthin galt als verwerflich, sondern nur noch die unmora.lifmhe Gewalttat. Im
Gegenteil: Krieg konnte zu einer moralischen Pflicht werden. Und der moralisch
gerechtfertigte Krieg w11r vor 11llcm und zunächst der Bürgerkrieg. Ainsi la giierre
civile est m1, büm,, lnrsqu.e la Societe sans le secours de cette Operation . . . courroit
risq·ue de mu·ur·ir du despot·isme. Dieser von GABRIEL BONNOT DE MABLY nieder-
geschriebene Satz135 stellte eine radikale Absage an Hobbes' Begriff der „pax
civilis" dar und markiert damit die Bruchstelle im nem:eitlir.hcm Friedensdenken.
Mit der Rezeption der scholastischen Lehre vom echten und falschen Jfricdcn lebte
11uch die Doktrin vom gerechten und ungerechten Krieg zwangsläufig wieder auf,
und zwar in verwandelter und verschärfter Form. Insofern sich nämlich jetzt das
alte scholastische Gedankengut in der Idee eines letzten (notwendigen und gerech-
ten) Krieges 136 für einen echten und ewigen innerweltlichen Frieden konkretisierte,
wurden die traditionellen Theoreme gleichsam chiliastisch verfälscht. Die Scho-
lastik hatte keinen ewigen Frieden auf Erden und demzufolge auch keinen letzten
Krieg gekannt. Erst der Begriff der „pax perpetua in terris", von dessen Realisier-
barkeit die Aufklärung überzeugt war, führte dazu, daß der „ungerechteKrieg"als
das Verbrechen schlechthin abgewertet und der „gerechte Krieg" als Krieg für den
Frieden mit einer ihm bislang nicht zugekommenen Weihe umgeben wurde.

6. Die Trennung von Staat und Frieden im Friedensbegriff der


Französischen Revolution
Es waren die in der aufklärerischen Staatskritik zusammengefügten und anti-
thetisch gegeneinandergestellten Begriffsreihen: 'Vernunft' - 'Recht' - 'Moral' -
'Handel' - 'Industrie' - 'Freiheit' - 'bürgerliche Gesellschaft' - 'Friede' und

133 Vgl. KosELLECK, Kritik und Krise (s. Anm. 93).


134 JEAN FRAN901s DE LA HARPE, Des malheurs de la guerre et des avantages de la paix
(1767), Oeuvres, t. 4 (Paris 1778), 30.
135 GABRIEL BONNOT DE MABLY, Des droits et des devoirs du citoyen (Kell 1789), 93 f.
186 Dazu RAUMER, Ewiger Friede, 128. 195; P.lll'l'.lllR KLASS.ll:N, NationalbewußLsein und

Weltfriedensidee in der französischen Revolution, Die Welt als Gesch. 2 (1936), 33; ROMAN
ScHNuR, Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg 1791/92, Der Staat 2 (1963), 297 ff.

573
Friede m. 6. Trennung von Staat und Frieden
'Unvernunft' - 'Unrecht' - 'Unmoral' - 'Eroberungspolitik' - 'Unterdrückung'
- 'Staat' - 'Krieg', die den Horizont der in der Französischen Revolution wirk-
samen Vorstellungen über Krieg und Frieden absteckten. Der Friede, den die Wort-
führer der Revolution meinten, war nicht die die öffentliche Ruhe und Sicherp.eit
garantierende „pax civilis" des modernen Staates; denn sie beruhte - das glaubte
man genugsam erfahren zu haben - auf despotischer Zwangsgewalt, die Vernunft,
Freiheit und Moral unterdrückte und verspottete. Es war überhaupt nicht der
Staatsfriede - sei es der Gewaltfriede im Staate, sei es der auf einem kunstvoll aus-
gepe~delten Gleichgewichtssystem beruhende Friede zwischen den Staaten-, es
war vielmehr der allgemeine Menschheitsfriede137, den die Revolutionäre erstrebten,
jener Friede, der nicht durch Gewalt oder politisches Kalkül erst geschaffen werden,
sondern der sich aus der natürlichen, durch Unvernunft und Irrtum bislang ver-
deckten „fraternite" aller Menschen und Völker „von selbst" ergeben mußte, wenn
nur erst die Hindernisse, die ihm noch entgegenstanden, Qeseitigt waren. Und man
kannte die Hindernisse: das System und die Repräsentanten des absolutistischen
Staates. In der Formel: Guene aux chateaux, paix aux chaumieres138 , ist daher die
ganze Begriffswelt der Revolution über Friede und Krieg vollkommen eingefangen.
Friede den Hütten, weil das schlichte, einfache Volk die Welt des Friedens reprä-
sentierLe; Krieg den Palästen, weil die Paläste das notfalls gewalts~m zu beseiti-
gende Prinzip des Krieges, der Unmoral und Unterdriickung verkörperten. Es
wurden hier uralte Vorstellungen, von aufklärerischen Ideenrichtungen hoch-
gespielt, zum ersten Mal politisch aktualisiert. Schon HEsrnn 139 war der Gedanke
vertraut gewesen, daß die Welt des natürlichen und einfachen Lebens die eigentliche
Sphäre des Friedens sei, und diese Vorstellung hatte sich später im Topos von der
„Goldenen Zeit" verfestigt und in grauer Vorzeit bjstorisch lokalisiert. Die Literatur
der Aufklärung hatte der Überzeugung vom Frieden des einfachen und natürlichen
Lebens zunächst in der Idyllendichtimg Ausdruck gegeben 140• Indem die Idylle
137 Zu diesem auf die natürliche und brüderliche Einheit des Menschengeschlechts ab-

hebenden Friedensdenken und dessen Wortführer ANACHARSIS [d. i. JEAN BAPTIBTE


CLOOTS] vgl. SCHNUR, Weltfriedensidee, 302. Daß er sich hier - wie bei so vielen Ideen
der Revolution - um säkularisiertes christliches Gedankengut handelt, wird durch den
Blick auf eine entsprechende Bemerkung FENELONS deutlich: Toutes les guerres sont
civiles; car c' eat lO'uj1m,rH l'h<>m,m.e cnntre. l'homme, qiii repawl, son propre i;ung, qui decJiire
ses propres entrailles; Dialogues des morts 17. Oeuvres compl., t. 6 (Paris 1850), 256 .
.Noch eine charakteristische Stimme zum Friedensbegriff der Französischen Revolution:
L'.Assemblee declare ..• qu'elle regarde l'universalite du genre humain comme ne formant
qu'une· seule et meme societe, dont l'objet est la paix et le bonheur de tous et chacun de ses
membres, VOLNEY (1790), Moniteur 4, 403.
138 CHAMFORT [d. i. S:EBASTIEN RocH NrnoLAS], zit. BücHMANN (Ausg; 1959), 258. Diese

Parole stellt übrigens bereits eine erweiterte und mit sozialer Spannung aufgeladene
Fassung jenes Ausspruchs von MERLIN DE TmoNVILLE dar: guerre aux rois / paix aux
nations, der noch ganz aus dem Gedankenkreis jener unten (s. Anm. 152) erwähnten „Le-
gende'' von den friedliebenden Republiken und kriegslüsternen Monarchien hervorgegangen
ist, zit. H. A„GöTZ-BERNST.EIN, La diplomatie de la Gironde (Paris 1912), 61.
1 39 Dazu NESTLE, Friedensgedanke, 34. 69 (s. Anm. 23).
140 Vgl. WERNER BAHNER, Der Friedensgedanke in der Literatur der französischen

Aufklärung, in: .Grundpositionen der französischen Aufklärung, hg. v. WERNER KRAUSS


u. HA.NS MAYER (Berlin 1955), 141 ff.

574
ID. 7. Der Bellizismus Friede

schließlich die Welt der Poesie verließ und sich zum politischen Programm wandelte,
wurde sie zur Utopie; und· diese forderte zu kämpferischer Aktivität heraus.
Der Krieg wurde nicht mehr, wie es noch Rousseau getan hatte 141 , als eine Be-
ziehung von Staat zu Staat begriffen, sondern - sofern es sich um einen gerechten
Krieg handelte - als ein Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, von
Vernunft und Moral gegen Unvernunft und Unmoral, kurz: der Guten gegen die
Bösen. Der gerechte Krieg für den ewigen Frieden konnte nur als Bürgerkrieg, und
zwar als W eltbürgerkrieg 142 geführt werden. Denn - es wurde schon betont - das
Reich der Vernunft, des Friedens und .der allgemeinen Brüderlichkeit ließ sich nicht
durch willkürliche Staatsgrenzen einschränken. Der revolutionär-utopische Frie-
densbegriff der Aufklärung (ewiger Menschheitsfriede) ging mit dem Ende der Re-
volution nicht verloren. Auch in dieser Hinsicht galt, was scharfsinnige Beobachter
schon frühzeitig als den Hauptirrtum des Zeitalters (der Restauration) erkannt
hatten: nämlich· daß die Revolution (und die revolutionäre Gedankenwelt) schon
abgeschlossen und beendigt sei (F. SCHLEGEL, 1820/23) 143• Im Gegenteil: Vieles, was
an den Vorstellungen der Revolution über Krieg und Frieden noch un- oder halb-
ausgesprochen geblieben war, wurde erst im 19. Jahrhundert klar formuliert, man-
cher unfertige Gedanke jetzt erst zu Ende gedacht - und dieses Ende sah vielfach
anders aus, als es sich die Aufklärer des 18. Jahrhunderts vorgestellt hatten.

7. Der ßeUizismus

Es kam im 19. Jahrhundert allerdings auch das überkommene - sei es das in einem
gemäßigten Naturrechtsdenken wurzelnde, sei es das etatistisch orientierte - Ver-
ständnis des Friedens wieder stärker zur Geltung, das zwar niemals ganz verdrängt,
von den lautstark und eindrucksvoll vorgetragenen revolutionären Friedensparolen
jedoch zeitweise überspielt worden war. Es trat aber noch ein weiteres, und zwar
etwas völlig Neues dazu: eine positive Bewertung des Krieges als solchen.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Friedensbegriff manche Bedeutungs-
veränderungen erfahren, eines aber war gleichgeblieben: die Überzeugung, daß der
Friede ein Gut und der Krieg ein Übel sei; vielleicht ein notwendiges Übel, aber
eben doch ein Übel. Die Möglichkeit, schon auf Erden einen ewigen Frieden zu ge-
winnen, war aus grundsätzlichen (theologischen und philosophischen) 144 oder mehr

1 4 1 Rouss.KA.u, Contrat social 1, 4. Vgl. CARL SCHMITT, Der ..Nomos der Erde (Köln 1950),

121 ff. u. ERNST REIBSTEIN, Völke~echt. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und
Praxis, Bd. 1 (Freiburg, München 1958), 561 ff.; Bd; 2 (1963), 165.
142 Dazu allgemein HANNO KESTING, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg (Heidel-
berg 1959); SCHNUR, Weltfriedensidee, Der Staat 2, 297 ff. (s. Anm. 136); CHRISTIAN
GRAF v. KRocKow, Soziologie des Friedens (Gütersloh 1962).
143 F. Sem.EGEL, Die Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, 8W 1. Abt„ Bd. 7 (1966), 488.
144 Als Beispiel für eine Ablehnung des „ewigen" Friedens und eine Bejahung des Krieges

aus religiös-theologischen Gründen sei DE MAISTRE angeführt, zit. MAx JÄHNS, Über
Krieg, Frieden und Kultur, 2. Aufl. (Berlin 1898), 298 f. Aufschlußreich auch die Bemer-
kungen von HEINR. GoTTLIEB TzscHIRNER: Sieht ein Volk im Genusse eines langen ...
Friedens nur glückliche Tage ... , so verbreitet sich . . . Gottvergessenheit . . . Dadurch wirkt
der Krieg . . . in ganzen Geschlechtern das Bewußtsein der sittlichen Kraft und der Ab-
hängigkeit von Gott, Über den Krieg. Ein philosophischer Versuch (Leipzig 1815), 26!:1f.271.

575
Friede m. 8. Kants vermittelndes Friedensdenken

praktischen Erwägungen heraus geleugnet worden; niemand hatte jedoch bestrit-


ten, daß ein solcher Zustand wünschenswert sei. Erst als der ewige Friede zu einem
durchaus realisierbar erscheinenden Projekt und zum Abgott des (aufklärerischen 18.)
Jahrhunderts 145 erhoben wurde, provozierte er die Frage danach, ob er - von der
Wahrscheinlichkeit seiner Verwirklichung ganz abgesehen - überhaupt erstrebens-
wert sei. Schon 1779 hat JOHANN VALENTIN EMBSER die Segnungen des Krieges den
Greueln eines ewigen Friedens entgegengehalten 146, und zwar mit Argumenten, die
seitdem immer wieder in neuen Variationen vorgebracht worden sind. Zu ihrer
eigentlichen Wirkung kamen diese Gedanken freilich erst um die Mitte des 19. Jahr-
hunderts. Es muß nachdrücklich betont werden, daß dieser im 18. Jahrhundert
aufkommende Bellizismus als Reaktion auf den gleichzeitig entstandenen Pazifis-
m us 147 zu verstehen ist und daß beiden Bewegungen als auslösendes Moment der
gleiche Friedensbegriff zugrunde lag: ewiger Friede unter den Menschen auf Erden, so
wie ihn die Aufklärung als Gebot und Geschenk der Vernunft verkündet und verheißen
hatte, nur, daß dem Bellizismus dieses Geschenk ein Danaergeschenk erschien.

8. Kants vermittelndes Friedensdenken

Bei keinem Denker wurden die verschiedenen Ausprägungen des Friedensbegriffs,


die die frühe Neuzeit hervorgebracht und dem 19. Jahrhundert trndiert hat, so
<l1mtlich wie bei KANT 148 . Vl!m der französischen Aufklärung übernahm er die Idee
des ewigen Friedens, begriff sie aber als eine unbedingte Vernunftforderung und
nicht als utopische Zukunftsvision. Die Frage, ob ein ewiger Friede überhaupt
möglich sei, klammerte er als letztlich unerheblich aus. Also ist nicht mehr die Frage:
ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoreti-
schen Urteile betrügen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln,
als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist (1797) 149• Von der Gewißheit aber, daß das
„Ding" sein wird, wenn nur ganz bestimmte, der menschlichen Manipulation zu-
gängliche Voraussetzungen erfüllt seien, lebte der utopisch-revolutionäre Friedens-
gedanke.

Überhaupt darf nicht übersehen werden, daß die Stellungnahmen gegen ein ewiges
Friedensreich auf Erden, wie es die Aufklärung und die von ihr stimulierten Sozial-
theorien des 19. Jahrhunderts verhießen, woitgeh1md von rcligiö11en Überzeugungen ge-
leitet wurden (vgl. noch Anm.171).
u. 5 JOHANN VALENTIN EMBSER, Die Abgötterey unseres philosophischen Jahrhunderts.
Erster Abgott: Ewiger Friede (Mannheim 1779); 2. Aufl. u. d. T.: Widerlegung des
ewigen-Friedens-Project's (Mannheim 1797).
146 EMBSERS Fazit, das die herrschenden Vorstellupgen seiner Zeit auf den Kopf stellte:

so müßte ewiger Friede notweruiig ( !) die Erde zur Mördergrube urui Hölle umschaffen, ebd„
1. Aufl. (1779), 163.
147 Zum Prohlflm des Pazifismus vgl. MAx ScHELER, Die Idee des Friedens und der

Pazifismus (Berlin 1931).


148 Dazu l'AUL .NATORP, Kant über Krieg und Frieden. Ein geschichtsphilosophischer

Essay (Erlangen 1924); CARL JOACHIM FRIEDRICH, Inevitable Peace (Oambridge/Mass.


1948); HERBERT KRAUS, Von ehrlicher Kriegführung und gerechtem Friedensschluß.
Eine Studie über Imma.nucl Ka.nt (Tübingen 1950); neuerdings HANS SANER, Kants Weg
vom Krieg zum Frieden, Bd. 1 (München 1967).
149 KANT, Rechtslehre (1797), AA Bd. 6, 354.

fi7ß
m. 8. Kants vermittelndes Friedensdenken Friede

Von dem sozialen Utopismus schied sich Kant auch durch seinen Begriff des Frie-
denszustandes als eines unter Gesetzen gesicherten Zustandes des Mein und Dein 150
und seine dementsprechende Überzeugung, auch Staaten untereinander könnten
nur in einer gesetzmäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit 151 finden. Kant hielt
noch ganz an Hobbes' Begriff des Friedens als eines durch eine gesetzliche Zwangs-
ordnung „gestifteten" Sicherheitszustandes fest. Nichts lag ihm ferner als der
Glaube an einen aus der natürlichen Brüderlichkeit aller Menschen sich ergebenden
Menschheitsfrieden.
In seinen Ausführungen darüber, wie denn der erstrebte ewige Friede am ehesten
zu erreichen sei, wie die gesetzmäßige Ordnung beschaffen sein müsse, die am besten
allgemeine Ruhe und Sicherheit garantiere, zeigte sich Kant freilich in weitgehen-
dem Maße von Vorstellungen der französischen Aufklärung beeinflußt. So war er
der Überzeugung, daß die Republik ... ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein
mufJ 1 h 2 ; zwar nicht deshalb, weil das „Volk" gut ist, aber weil Friede im materiel-
len Interesse jedes Staatsbürgers liegt. So glaubte er, in der durchgängigen Tendenz
der Natur ... durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen
emporkommen z1.t la.mm, eine Garantie für die Wahrscheinlichkeit eines künftigen
ewigen Frie1lens auf Erden sehen zu können 16 ~, womit er - wenn auch 11ehr in-
direkt und voller Vorbehalte - der Theorie von der Unvermeidbarkeit eine.s kom-
menden allgemeinen und dauernden Friedens auf Erden seinen Tribut zollte. So
erschien ihm weiterhin der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen
lcann und der früher oder später sü;h jedes Volks bemäcltl·igt 151, als die stärkste zu
einem ewigen Frieden drängende reale Kraft. Und er machLe sich schließlich und
endlich auch jene abwertende Interpretation der fälschlich sogenannten Friedens-
schlüsse155 als bloßer Waffenstillstände 156 (Atempausen für neue Kriege) zu eigen,
die seit den Tagen des ERASMus 157 zum festen Bestandteil der moralischen Kritik

150 Ebd., 355.


151 KANT, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. 8, 24.
152 Ders., Zum ewigen Frieden, AA Bd. 8, 356. Kant stand völlig unter dem Eindruck

der aufklärerischen „Legende", daß „Kriege nur immer im Königsschlossegemachtwür-


den", FRANZ SCHNABEL, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhu~dert, 2. Aufl., Bd. 2 (Frei-
burg 1949), 122. Sio ho.tto sohon M!RABEAU vergeblich mit dem Hinweis zu zer~türnn
versucht, die Völker seien womöglich noch kriegerischer als die Könige, zit. JÄHNS, Krieg,
Frieden und Kultur, 284. ·
163 KANT, Zum ewigen Frieden, AA Bd. 8, 360.
154 Ebd., 368.
155 Ebd., 386.
156 Ebd.
157 · Justum bellum vocant, cum ad exhauriendam opprimendamque rempublicam principes

inter se colludunt; pacem vocant, cum in Jwc ipsum inter sese conspirant, ERASMUS VON RoT-
TERDAM, Adagia, Chil. 3, Centur. 3, I'rov. l. Opera, t. 2 (Ausg. Leyden 1703), 775. Der
Gedanke, die konkret erfahrenen Friedenszustände und -schlüsse als Waffenstillstände zu
diokroditioron, iot d11nn vor 11llom in dor Aufklärung hoohgoopielt worden. Die Aufklärer
verurteilten das europäische Staatensystem des Ancien regime als einen Zustand, in welchem
der Fri<Jde nur darum gesch'lossen wird, damit man wi<Jderum Krieg anfangen klJnne, FrnH'l']jJ,
Handelsstaat, SW Bd. 3, 482. Auch im 19. Jahrhundert war die Gleichsetzung: zwischen-
staatlicher Friede = Waffenstillstand noch lebendig (vgl. Anm. 201).

37-90386/l 577
Friede m. 8. Kants vermittelndes Friedensdenken

an den europäischen Staatenbeziehungen gehörte und seit dem 18. Jahrhundert die
notwendige Voraussetzung für die prononcierte Betonung des „Ewigkeitscharakters"
im aufklärerischen Friedensbegriff darstellte. Jedoch traten alle diese Elemente,
so richtig sie sein mochten, bei Kant hinter dem grundlegenden Gedanken zurück,
daß es die „ Vernunft" sei, die vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Ge-
walt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings 11erdammt, den Friedenszustand
dagegen zur unmittelbaren Pfiicht macht 158 • Es war dieser an den ]'riedensbegriff
herangetragene Pflichtgedanke, der Kant von all jenen utopischen Friedensvorstel-
lungen trennte, die - in der englischen und französischen Aufklärung angelegt -
sich im 19. Jahrhundert machtvoll !lntfaltet haben. Er war es schließlich auch, der
den deutschen Philosophen eine höchst zweideutige Stellung zu jener Gleichsetzung
von science d' economie politique und .~cience de paix 159 einnehmen ließ, auf der die
utopische Friedenserwartung(sei es die liberale, sei es die sozialistische) des 19. Jahr-
hunderts beruhte. Wohl sah Kant den Handelsgeist als eine zum ewigen Frieden
treibende Kraft an; doch befürchtete er andererseits, daß ein langer Friede den
bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit
herrschend zu machen und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen pfiegt. Und
obgleich er den ewigen Frieden als unabdingbares Vernunftgebot begriff, fühlte er
sich gedrängt, selbst den Ifrieg, wenn er mit Ordming und Heiligachtung der bürger-
lichen Rechte geführt wird, als etwas Erhabenes160 zu betrachten und einzuräumen, daß
er ungeachtet der schrecklichen Drangsale ... dennoch eine Triebfeder mehr ist ... , a.lle
Talente, die zur Oultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln (1790) 161 • Ile-
merkungen dieser Art zeigen, wie groß die Kluft zwischen Kant und seinem jüngeren
Zeitgenossen JEREMY BENTHAM war, der die utilitaristische Richtung des euro-
päischen Rationalismus auf ihre Höhe führte und dessen Diktum: War is mischief
upon the largest scale (1786/89) 162 das Motto für die moderne Spielart des Pazifismus
abgab, dem der Friede jeden Preis wert war. In diesem Begriff des Friedens als eines
schlechthin absoluten Wertes drückte sich ein Denken aus, das den Menschen vor
allem als homo oeconomicus begriff und dem deshalb (ökonomisch verstandener)
Nutzen Ziel auch des moralischen Verhaltens war. Diese Koinzidenz von Utilität
und Moralität ist Kant fremd geblieben; er kann daher auch kaum als Pazifist in
jenem Sinne gelten, in dem das Wort heutzutage gemeinhin verstanden wird. Viel-
mehr sollte sich aus der Idee einer (sich als „Sittlichkeit" darstellenden) „zweck-
freien" Moral heraus gerade die Abwertung eines Friedens, der dem bloßen Handels-
ye-i1Jt entsprungen ist und zugute kommt, als jener Teil von Kants Friedensdenken
erweisen, dem im 19. Jahrhundert keineswegs die geringste Wirkung beschieden
warlsa.

168 KANT, Zum ewigen Frieden, AA Bd. 8, 356.


169 Vgl. oben S. 571 f.
160 KANT, Kritik der Urteilskraft, § 28. AA Bd. 5 (1908), 263.

181 Ebd., § 83. AA Bd. 5, 433.


162 J EREMY BENTHAM, Principles oflnternational Law (1786 /89), W orks, ed. John Bowring,

vol. 2 (Edinburgh 1843), 544. Zu Bentham und seiner Bedeutung als „Vater" des modernen
Pazifismus vgl. RAUMER, Ewiger Friede, 116 ff. u. REIBSTEIN, Völkerrecht, Bd. 2, 29
(s. Anm. 141).
1a 3 Vgl. unten S. 580.

578
m. 9. Entwicklung im 19. Jahrhundert Friede

9. Die Entwicklung des Friedensbegriß's im 19. Jahrhundert

Das dem Friedensbegriff zugeordnete neuzeitliche Ideengut, das am Ausgang des


18. Jahrhunderts Kant noch einmal in abwägender und umformender kritischer
Überprüfung zusammengefaßt hatte, löste sich im 19. Jahrhundert wiederum in
mehrere nebeneinander laufende Entwicklungsstränge auf: a) in einen betont anti-
pazifistischen Bellizismus; b) in eine sehr stark mit Elementen der traditionellen
christlichen Soziallehre arbeitende und an die Entwicklung einer „organischen"
Staatstheorie angelehnte Interpretation des Friedens; c) in die Entfaltung des
auf die Gleichung: „Recht ist Friede" abgestimmten gemäßigt-liberalen Friedensbe~
griffs; d) in ein aus aufklärerischem Optimismus kommendes, liberalen und soziali-
stischen Theorien zugrundeliegendes sozialutopisches Friedensverständnis.
a) Kant war von den Philosophen, die dem Kriege an sich selbst eine innere Würde ge-
setzt und als einer ge?t1issen Vere.delwnq if,p,r M('.'fl„~(',h,h,p,1:t f'.inf'. LnhrPi/R; eehalten hat-
ten164, in seinem Friedenstraktat zwar deutlich abgerückt, hatte ihren Ansichten
aber doch bereits -wie wir sahen - seinen reichlichen Tribut gezollt. Was bei ihm
nur sehr vorsichtig und uneigentlich zu Wort kam, sprach sich dann später pointiert
und ungehemmt aus: die Verachtung des „faulen" Friedens, der ""wohlgemerkt - ·
nichts mit der „falsa pax" der scholastischen Moraltheologen, auch nichts mit dem
interimistischen schlechten Frieden des Kriegstheoretikers CARL VON CLAUSEWITZ
(1816/30) 165 zu tun hatte, der überhaupt keine qualitativ schlechten Rigernmhaften
aufwies, der vielmehr einfach deshalb als schlecht und gefährlich galt, weil er lange
dauerte. Der faule Friede war der mit negativer Benotung versehene ewige Friede,
den die Aufklärer als den Frieden verstanden hatten, der allein dem wahren Begriff
des Friedens entsprechen konnte und den sie als Ideal und künftige Wirklichkeit zu-_
gleich verkündeten. Die ganze Masse würde im ewigen Frieden in stinkender Ruhe
entschlafen (EMBSER 1778) 166 . Es ist durch diese zweite Seite der Beziehung (d. h. die
negative) für Gestalt und Individualität der sittlichen Totalität (d. i. des Staates) die
Notwendigkeit des Kriegs gesetzt; der ... ebenso die sittliche Gesundheit der Völker
in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Fest-
werden derselben erhält, als die Bewegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt,
in welche sie eine dauernde Stille, wie die Völker ein dauernder, oder gar „ein ewiger
Friede" versetzen würde (HEGEL 1802/3) 167. Sodann ist hier vorauszunehmen schon
der Krieg überhaupt als Völkerkrisis und als notwendiges Moment höherer Entwickl•uny
... Der lange Friede bringt nicht nur Entnervung hervor, sondern er läßt das Entstehen
einer Menge jämmerlicher, .angstvoller Notexistenzen zu, welche ohne ihn. nicht ent-
ständen und sich dann noch mit lautem Geschrei um „Recht" irgendwie an das Dasein
klammern, den wahren Kräften den Platz vorwegnehmen und die Luft verdicken, im
ganzen auch das Geblüt der Nation verunedeln. Der Krieg bringt wieder die wahren
Kräfte zu Ehren (BuRCKHARDT ca. 1850) 168. So erwachte jetzt wieder der unmännliche

184 KANT, Zum ewigen Frieden, .AA Bd. 8, 365.


185 CARLV.CLAUSEWITZ, Vom Kriege, 16. Auß.,hg. v. WERNERHAHLWEG (Bonnl952),310.
18 8 EMBSER, Ewiger Friede, 1. Aufl.. (1779), 192 (s. Anm. 145).
187 HEGEL, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, SW Bd. 1

(1927), 487 f.
188 JAKOB BURCKHARDT, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Ges. Werke, Bd. 4 (Darm-

stadt 1962), 117. 119.

579
Friede m. 9. Entwicklung im 19. Jahrhundert
Traum vom ewigen Frieden, dies sicherste Zeichen politisch ermatteter und gedanken-
armer Epochen (TREITSCHKE 1879) 1 69 •
Als wesentlich für das Verständnis dieses im Namen sittlicher Kräftigung und des
Kulturfortschritts geführten Plädoyers für den Krieg170 und gegen das jämmerliche
Manchestertum (HERMANN BAUMGARTEN 1870) 171 und seine Friedensideologie ist zu
beachten, daß die Begriffe 'Krieg' und 'Friede' hier ganz auf die internationalen
Beziehungen reduziert sind. Der Bellizismus des 19. Jahrhunderts war durchweg
verbunden mit einem von starken Affekten gegen die „bürgerliche Gesellschaft" ge-
tragenen Etatismus 172 und setzte den innerstaatlichen Frieden der „öffentlichen
Ruhe und Sicherheit" als selbstverständliches Faktum voraus. Es galt seinen Ver-
tretern als ausgemacht, daß der Krieg die inneren Institutionen und das friedliche
Familien- und Privatleben (HEGEL 1821) 173 unangetastet lassen müsse.
b) Anders verhielt es sich in dieser Hinsicht mit den Verfechtern einer „organischen"
8taatslehre, die im (meist falsch interpretierenden) Rückgriff auf traditionelles
Ideengut und in bewußtem Gegensatz zur vernunftrechtlichen Staatstheorie der
Aufklärung den Staat als Friedenskorporation 174 zu verstehen lehrten. Ihnen ging es
also um eine nähere Bestimmung des problematisch gewordenen inneren Staats-
friedens, welche1· - nach F. SCHLEGEL, einem zwar nicht i>unuerlich Leueut:.;amen,
doch typfoehen Vertreter dieser restaumtiven Theorie in der gesicherten Rithe und
gerechten Ordnung unter den eigenen Mitgliedern besteht (1820/23) 17 s. Diese Definition
war weder neu noch inhaltsreich; aber sie erhielt ihren Wert dadurch, daß mit ihrer
Hilfe die tatsächlichen Verhältnisse diagnostiziert wurden. Und es sind gerade der
polemische Charakter, den diese wiederauflebenden alten Gedankengänge jetzt an-
nahmen, und die kritische Scharfsicht ihrer Verfechter, die näher an die eigentlichen
Probleme des Friedensbegriffes im 19. Jahrhundert heranführten, als es die Leute
vermochten, denen der moderne Staatsbegriff trotz Revolution nicht fragwürdig

189 HEINRICH v. TREITSCHKE, Deutsche Geschichte, 8. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1909), 601.

Von dieser mit dem Begriff des „faulen" Friedens verbundenen Metaphorik (Fäulnis,
Sumpf, Stagnation, Stickigkeit, Gedrücktheit usw.) aus ist übrigens auch HEINRICH LEos
berüchtigte,s Wort vom frischen, fröhlichen Krieg (1853) zu verstehen, Volksblatt für.Stadt
und Land (1859), Nr. 35, zit. BüCHMANN (Ausg. 1959), 267.
170 Zu diesem Problemkreis vgl. die materialreichen Darstellungen von AnoLF LASSON,

Prinzip und Zukunft des Völkerrechts (Berlin 1871), bes. den Anhang, u. JÄHNS, Krieg,
Frieden und Kultur (s. Anm. 144).
171 HERMANN BAUMGARTEN, Brief an Heinrich v. Treitschke vom 2. 8.1870: Unsere Lehre

vom Kriege erfährt die glänzendste Bestätigung. Nichts derrwralisiert ein Volk mehr als dieses
jämmerliche Manchestertum, das nichts ist.als das Hängen der Seele an den vergänglichen
Gütern der Welt. Und darin tritt das religiöse Moment alles wirklich Großen und Tüchtigen
hervor, zit. Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, hg. v. PAUL WENTZCKE u.
JuLrns HEYDERHOFF, Bd. 1 (Bonn, Leipzig 1925), 473.
172 Recht ·und Frfrde ·und Ordnwng kann der Vielheit sozialer Interessen in ihrem ewigen

Kampfe nicht von innen heraus kommen, sondern nur von derjenigen Macht, die über der
GcBcllschaft Bttht, aU11gt1•üsttt mit tintr Gewalt, welche d·ie wilde ~oz·iale Lei,den~chaft z·u bän-
digen vermag, TREITSCHKE, Politik, hg. v. Max Cornicelius, 4. Aufl. (Leipzig 1918), 56.
11a HEGEL, Rechtsphilosophie,§ 338.
174 F. SCHLEGEL, Gegenwärtiges Zeitalter (1820/23), SW 1. Abt., Bd. 7, 546 (s. Anm. 143).
170 Ebd., 548.

580
III. 9. Entwicklung im 19. Jahrhundert Friede

geworden war. Für Schlegel war das Zeitalter (der Restauration) gekennzeichnet
durch inneren Unfrieden, der bei Fortdauer eines fest und sicher begründeten äußeren
l!'riedens (als „pax civilis" und „pax inter civitates") dennoch überall hervorbricht,
d. h. durch einen unentschieden schwankenden Zustand zwischen eigentlichem Un-
frieden und scheinbarem Frieden 176 • Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang
die Einführung des bislang vorzüglich dem privaten Bereich vorbehaltenen Begriffs
'Unfrieden' zur Kennzeichnung einer innerstaatlichen Situation, in d.er zwar - mit
Schlegels Worten - von gesicherter Ruhe, keineswegs aber von gerechter Ordnung
die Rede sein konnte und auf die der Begriff '(Bürger-)Krieg' sowenig zutraf wie der
des Friedens in tieferem Sinne. Es war jener für das nachrevolutionäre Europa des
19. Jahrhunderts charakteristische Zustand, auf dessen Gefilden der Friede herrscht,
die Prinzipien der Gesellschaft aber ohne Aufhören kämpfen (1843) 177 • Unfriede
herrschte dort, wo die antagonistischen Kräfte der Gesellschaft vom Staat zwar
noch niedergehalten, aber nicht mehr aufgefangen und 1:1LaaLlich inLeg1·iel"L werden
konnten: es war der Zustand der latenten Revolution, der die europäische Entwick-
lung des 19. JahrhundertR beRtimmte. Schlegel glaubte den Grund für diese re-
volutionäre Spannung in der herrschenden ... Idee des strengen und absoluten Rechts,
wolohoo auf dom Buohotabon dos Gosot~os boruht, ork61Y1/n.6n :m könn<m und wollte di0se11
strenge 1md absolu.te RP-cht durch eine auf dem System der Billigkeit gegründete zu-
yle,ich menschlich unvollkommene und doch christliche Gerechtigkeit ersetzt wissen 17R.
Denn er argwöhnte, daß jeder von einem absoluten Geiste beseelte (d. h. ideologi1:1ierte)
Staat nur auf Krie.g und Zerstör1tng au.~geht (nach innen und außen) und eigentlich nie
von einem wahren Frieden weiß 179•
c) Dieser Vorwurf - obwohl er jeden Staat betrifft, der sich mit einer „Welt-
anschauung" identifiziert hat - war zunächst und vor allem gegen die aus der Idee
eines absoluten Vernunftrechts heraus konstruierte „liberale" Staatsauffassung und
ihre Hochschätzung des Rechtsbegriffs gerichtet. Denn tatsächlich war es das Recht,
das in FICHTES Formel „Recht ist Friede" (die den Inhalt des liberalen Friedens-
begriffs prägnant beschreibt) die dominierende Stelle einnahm. So wollte ÜARL VON
RoTTECK keinen Frieden als solchen anerkennen, dessen Bedingungen etwas dem
ewigen Rechte Widerstreitendes (z. B. eine despotische Verfassung)1 80 enthalten; und
in eben demselben Bande des „Staatslexikons", in dem sich Rotteck über 'Friede'
ausließ, liest man aus der Feder von WILHELM SCHULZ jenen schon von Rousseau
geäußerten Vorbehalt gegen den ewigen Frieden im Sinne des Abhe de St. Pierre:
man soll nicht e·inmal hoffen, daß auf der Grundlage der bestehenden (ungerechten)
politischen Verhältnisse der Frieden dauernd sich befestige181• Denn - so hatte Schulz
voraufgeschickt- der Friede (hier als Zustand allgemeiner Waffenruhe verstanden)
kann . . . ein Zustand der Rechtslosigkeit sein 182 und damit kein wahrer, sondern

176 Ebd., 483. 487.


177 0. v. P[LATEN], Wehrverfassungen, Kriegeslehren und Friedensideen im Jahrhundert
der Industrie (J:!erlin 1843), 317.
178 F. Sem.EGEL, Gegenwii.rtiges Zeit11.lter, RW 1. Abt„ Bd. 7, 572 f.
179 Ebd„ 573.
18 ° CARL v. RoTTECK, .Art. Friede, RoTTECKjWELCKER Dd; 6, 83.

1 81 WILHELM SCHULZ, .Art. Frieden, Friedensschlüsse, ebd., 133,


182 Ebd., 87.

581
Fi·iede m. 9. Entwicklung Im 19. Jahrhundert
nur ein scheinbarer Friede, um Schlegels Worte zu gebrauchen. Gleichwohl blieb
dieser dauernde Friede das Ziel aller liberalen Vorstellungen über die internationalen
Beziehungen. Denn die· Vernünftigkeit des Friedens und die Scliädlichkeit sowohl als
die Unzuverlässigkeit des Krieges liegen so sehr vor Augen, daß es eitel Zeitverschwen-
dung wäre, darüber zu reden und erst den Beweis zu führen, daß ewiger Friede das Ideal
des Völkerlebens sei. Die Frage kann nur sein, ob und wie dieser Zustand erreicht wer-
den möge (ROBERT VON MoHL 1855) 183• Mit Kant waren sich die gemäßigten Libe-
ralen des 19. Jahrhunderts darin einig, daß ein solcher Zustand organisatorisch nur
durch einen Staatenbund, keineswegs durch einen Weltstaat zu erreichen sei. Schon
die Aufklärer des 18. Jahrhunderts hatten von ihrem Begriff der individuellen Frei-
heit der Vorbehalte gegen einen Weltstaat angemeldet, und diese prinzipiellen
Bedenken waren durch die Erfahrungen der Napoleonischen Ära, deren Frierle
man als verstummendes Elend (FEUERBACH 1811) 184 kennen und hassen gelernt,
haLLe, nur vertitiirkt worden. Mehr noch: Es mehrten sich in zunehmendem Maße
die Zweifel, ob der ewige internationale Friede überhaupt irgendwie „organisiert"
werrlen könne. Je mehr der kämpferische Elan und die optimistische Zukunfts-
hoffnung, die die Aufklärung dem Liberalismus mitgegeben hatte, erlahmten und
verblaßten, desto mehr vorlegte m11n Gioh d11muf, in der zunehrnenden Ges·itt·uny ...
der Völker (M O'ffT, 1Rl'il'i) 186 il An Weg zum ewigen Frieden zu sehen und von rl er Hoff'-·
nung zu zehren, daß das Ziel erst dann zu erreichen sei, wenn Vernunft und H umani-
tät durch die Fortschritte der Menschenbildung zu allgemeiner Herrschaft gediehen
.~ein werden (R0'.1.'TECK 1838)186.
d) In diesem Begriff des (dauernden) Friedens als eines unbedingt gültigen Gebotes
der Vernunft und eines zwangsläufigen Ergebnisses der sich fortschreitend aus-
breitenden Vernünftigkeit stimmten die Gedankenwelt des „gemäßigten" und die
des „utopischen'' Liberalismus überein. Beide zehrten vom Ideengut der Aufklä-
rung, ihr jeweiliges politisches Weltbild beruhte auf den gleichen Grundlagen. Sie
unterschieden sich jedoch einmal in der Intensität ihrer Fortschrittsgläubigkeit und
in der Beurteilung des Weges, der zur Herrschaft der Vernunft (und damit des
Friedens) führen sollte. Glaubten die einen, die Vernunftherrschaft nur auf dem
langen und mühevollen Wege der „Menschenbildung" erreichen zu können, so waren
die anderen gewiß, daß dieses Ziel rascher und unmittelbarer durch eine Umbildung
der bestehenden politischen und sozialen Verhält,nisse zu gewinnen sei. In diese
Grundüberzeugung teilten sich der extreme Liberalismus und die ihm entwachsenen
sozialistischen Systementwürfe.
Ihren Anhängern war der Friede nicht nur der vernunftsgemäße, sondern zugleich
auch der natürliche Zustand unter den Menschen und Völkern. Er brauchte keines-
wegs gegen die Natur „gestiftet" zu werden (wie Hobbes, Kanf und mit ihnen ein
Teil de~ Liberalen annahmen); vielmehr würde er sich „von selbst'' einstellen, wenn

183 ROBERT v. MoHL, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1
(Erlangen 1855), 438.
184 PAUL JoH. RITTER v. FEUERDAOII, Dio Wolthcrrachaft, das Orab der Menechheit
(Nürnberg 1814), 11: Dein Friede war verstummeruies Elend,. Die gängigen Argumente
gegen den Weltstaat bei KANT, Zum eWigen Frieden, AA Bd. 8, al:l7.
185 MoHL, Staatswissenschaften, Bd. 1, 438.
18 8 RoTTECK, Art. Friede, RoTTECKjWELCKER Bd. 6, 87.

582
m. 9. Entwicklung im 19. Jahrhundert Friede

erst die „unnatürlichen" Mißbildungen des sozialen Lebens als solche erkannt, in
ihren Bedingungen durchschaut und beseitigt waren. Hatten Menschen und Völker
einmal begriffen, daß sie durch eine natürliche Harmonie der Gesinnungen und
lnteriissen verbunden waren, dann bedurfte es letztlich keiner weiteren „Garantien"
für einen ewigen Frieden mehr. Vivez en paix, car vos interets sont harmoniques et
l' antagonisme apparent qui vous met souvent les armes ala mairi est une grassiere erreur
(1849) 1 8 7• 'Harmonie' - das war das große, dem Friedensbegriff zugeordnete Zau-
berwort, mit dem diese utopischen (liberalistischen oder sozialistischen) System-
entwürfe arbeiteten 188. Ihren Verfechtern sagte die Vernunft nicht nur, daß Friede
sein sollte, sie sagte vielmehr mit noch weit größerer Bestimmtheit, daß Friede sein
werde, sofern nur die Gesetze des menschlichen Zusammenlebens hinreichend, und
das hieß :·im Sinne allseitiger Harmonie, begriffen seien.
Wenn des Irrtums Tempel fällt,
Dann steigt ew'ger Friede nieder,
Alle Menschen werden Brüder,
Und m:n Rif.p,n urird d1;p, Welt (1838)189,
Und diese Gesetze, biiilang von de~ Irrtums .Te.mzw.l vHr1lH11kl., w11.rH11 iiko110111i1·ml1tt
0P.Rfltze. Der unwiderstehlich vordringende „Geist der Industrie und des Handels"
werde den „Geist des Krieges und der Unterdrückung" ablösen und das Reich des
Friedens herbeiführen. Sit8t q·ue l"industrie agit seule, et partout ou elle agit seule,
la paix s'etablit.nat1,rellement dans les relations (CHARLES DuNOYER 1845) 190. Aber
keineswegs der „Geist" allein, auch die tatsächlichen Fortschritte der Industrie
würden dem }'rieden zugute kommen: Evidemment, c' e~~t p,n fai.~ant glisser son char
sur les rails des grandes lignes cosmopolites, que la civilisation191 fera le tour du

187 Congres 1849, 26 (s. Anm. 132).


188 Ober die Bedeutung des Harmoniebegriffs für das aufklärerische Friedensdenken vgl.
BAHNER, Friedensgedanke, 192 (s. Anm. 140); hierzu noch ein Zitat aus einem Werk, das
- ohne sich durch einen originellen Gedanken auszuzeichnen - als wahres Kompendium
eines religiös getönten aufklärerischen Friedensverständnisses gelten darf: Das ist also
die erste .Anforderung der Idee eines gehaltreichen Friedens, wie er sein soll: daß der Krieg,
über seine passive Negation hinaus, in die entgegengesetzte positive .Aktivität U?ngekehrt
werde 1ind in eine oraam.i.sche Harm.<mi:e des äußeren und inneren Völkerlebens aufgehe,
JoH. BAFTIST SARTORIUS, Organon des vollkommenen Frieden.S (Zürich 1837), 9.
189 Mofilrz v. PRITTwITZ, Andeutungen über die künftigen Forttmhritw und Grenzen der

Civilisation (Mannheim 1838), 327, zit. KESTING, Geschichtsphilosophie, 175.


19 ° CHARLES DuNOYER, De la liberte du travail, t. 1 (Paris 1845), 33L
191 Die hier ausgesprochene Verbindung von Friede und Zivilisation (zwangsläufig gegeben

durch die Definition des Friedens als des vernunftgemäßen Zustandes) ist von Wichtigkeit.
Sie zeigt an, daß der Begriff des Welt- und Menschheitsfriedens, wie er im 18. und 19. Jahr-
hwidert verkündet wurde, die Voraussetzung implizierte, daß es dabei nur um die zivili-
sierte Menschheit gehe. Mit einem Verständnis des Friedens als Ergebnis zivilisatorischen
.l!'ortschritts waren Aufrufe zur Verbreitung der Zivilisation über Europa hinaus in.Form
gewaltsa.mer Kolonisß.tion durchaus vereinbar (vgl. etwa Saint-Simon mit seiner in Anm.
194 zitierten Abhandlung). So ersehnte HEFFTER 1858 einen allgemeinen europäischen
·verlJ·ürglen Fr·iedenssland, wm fürthfa dtn Ki·ieg nur noch außerhalb für einen ewigen Friooon
führen zu können, Art. Friede, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 3, 771. Dementsprechend konnte
man blutige Kolonialkriege guten Gewissens als „Pazifizierungsaktionen" deklarieren,

fi8S
Friede m. 9. Entwicklung im 19. Jahrhundert

monde, en compagnie de ses deux smur.~: l,a paix p,t l", libP.rte (OONSTAN'.J'JN PF.flQTTF.TTR
1842)192 • La paL'C et la liberte ! Die Verdrängung der Begriffe 'Recht' und 'Gerechtig-
keiL' aus ihrer jahrhundertealten festen Verbindung mit dem Friedensbegriff ist
außerordentlich bezeichnend für ein Ver~tändnis von 'Friede', das völlig auf die
natürliche Interessenharmonie (zugleich eine Harmonie brüderlicher Gesinnung) der
Menschen abgestimmt war. Von hier aus gesehen bedurfte es allein der Freiheit -
des Handelns, Denkens, der politischen Entscheidung -, die Harmonie eines all-
seitigen und dauernden Friedens würde sich dann mit Notwendigkeit verwirklichen:
la paix resulte de la liberte aussi necessairement que la guerre de l'oppression (1866) 193 •
Der Fortschritt von Vernunft und Freiheit werde das Goldene Zeitalter des ewigen
Friedens herbeiführen. L' age d' or du genre humain n' est point derriere, il est au-
devant, il est dans la perfection de l'ordre social (1814) 194• ·
In diesem berühmten Worte ST. SIMONS enthüllt sich der chiliastische Horizont des
liboralißtischcn und soziafütischen Friedensbegrilk Die „öffentliche Ruhe und
Sicherheit" im Staate war als eigentlicher Unfriede, der vertraglich vereinbarte
zwischenstaatliche Friede als bloßer Waffenstillstand, beides mithin als Surrogate
des Friedens im ureigensten Begriffssinne entlarvt worden - jenes wahren Friedens,
der nichl;11 a111l11r11H alH 11Hr 11wige Friede einer ungestörten und unzomtörb11ron Har-
monie aller Menschen und Völker sein konnte: Signum des Gol<lernm 7.11it.alters ode.r
- christlich gesprochen - · des Paradieses auf Erden (Und ein Eden w-ird die
Welt) 195 • Dieser Friedensbegriff nahm völlig ilie Züge der christlichen „pax aeterna"
an, mit dem entscheidenden Unterschied freilich, daß dieser zeitenthobene Friedens-
zustand in der Zeit realisierbar erschien und das Hnde der „Geschichte" ankündigte.
HENRY MAcNAMARA, Verfa.sser einer von der Londoner ]'riedensgesellschaft preis-
gekrönten Schrift, sah im Blick auf die Zukunft a rainbow across the political horizon,
telling man, that the storm of ages had passed away and that peace, happy peace was
restored (1841) 196 • Die auf einen religiös-biblischen Ton gestimmte Diktion ist hier

und zwar ohne jenen Zynismus, den man heute aus einer solchen Bezeichnung heraushören
würde. Auf die Ähnlichkeit des mittelalterlichen Verhältnisses von Friede und christianitas
mit dieser modernen Beziehung von Friede und Zivilisation braucht nicht eigens verwiesen
zu werden (vgl. oben S. 555).
192 CoNSTANTIN PECQUEUR, De la paix, de son prinoipe et de sa r~lisation (Paris 1842),

237. Die gleiche Vorstellung von der völkerverbindenden und damit friedestiftenden Kraft
der Eisenbahn teilte übrigens auch FR1EDRIOH L1sT, zit. KESTING, Geschichtsphilosophie,
176 (List spricht generell von „Transportmitteln").
193 LEMONNIER, La verite sur le congres de Geneve (1867), zit. JACOB TER MEULEN, Der

Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung, Bd. 2/2 (Den Haag 1940),
33. Diesem gleichen Gedanken hatte bereits 1849 der liberale Nationalökonom FREDERIC
BASTIAT.ein eigenes umfangreiches Buch gewidmet: Paix et liberte (Paris 1849), dessen
Ergebnis er so zusammenfaßt: Liberttf au derlans. Paix au dehors. Voilii tout le programme
(S. 23), was besagen will: Wenn sich die Freiheit im Innern durchgesetzt hat, ergibt sich
der· Friede nach außen zwangsläufig.
194 8.AINT-SIMON, De la roorganisation de la societe europl-.ennfl (1814), e.d. Alfred Pereire

(Paris 1925), 97.


195 s. Anm. 189.

1 98 HENRY TntWHITT JONES MAcNAMARA, Peace, Permanent and Universal (London

1841), 290.

584
m. 10. Zusammenfassender Vberblick Friede

ebensowenig zufällig wie in den Schriften der Frühsozialisten. Denn es war ja gerade
die Hineinnahme des religiösen Sinns von 'Friede' in den politisch-sozialen Friedens-
begriff, die alle vom Ideengut der Aufklärung zehrenden sozialen Entwürfe kenn-
zeichnete. Für dieses Verständnis von 'Friede' war es unerheblich, wie man sich die
endgültige und „richtige" menschliche Gemeinschaftsordnung im einzelnen vor-
stellte (es gab da erhebliche Differenzen); unerheblich war es auch, ob man darauf
vertraute, das Goldene Zeitalter werde sich auf natürlich-evolutionärem Wege von
selbst' einstellen, oder ob man überzeugt war, ihm eine wirksame Geburtshilfe in
Form eines „letzten" revolutionären Krieges geben zu müssen. Von Bedeutung war
der säkularisierte religiöse Friedensbegriff jedoch für das Verständnis von Krieg
und Feindschaft überhaupt. Aus dem Gesichtskreis einer politischen Ideologie
heraus, die sich der Ankunft eines innerweltlichen Friedensreiches gewiß war und
die sich nicht nur als Prophetin, sondern ebenso schon als gegenwärtige Repräsen-
tantin dieses kommenden Reiches begriff, mußte jeder, der an dieses Friedensreich
nicht glaubte oder seine Ankunft gar aufzuhalten suchte, nicht nur als Feind im
herkömmlichen Sinne gelten; vielmehr wurde jeder, der die prätendierte Friedens-
ordnung aufhielt oder angriff, zu einem Feind des Friedens schlechthin, zum ab-
soluten .l!'eind (wie es der mittelalterliche Ketzer gewesen war), der im Namen des
künftigen Friedens vernichtet werden mußte. Der Begriff des absoluten Feindes
(des Friedens- und Menschlieitsfeindes) 197 - bereits der Französischen Revolution
und auch Kant198 nicht fremd - sollte später vor allem in der marxistischen Lehre
seine Triumphe feiern.

10. Zusammenfassender tlberblick über die Bedeutungen von 'Friede' um die Mitte
desl9.Jahrhunderts
überblicken wir abschließend noch einmal die verschiedenen Ausprägungen des
Friedensbegriffes, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts präsent waren.

197 Dazu die deutsche "Übersetzung der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte",

die 1834 in Paris gedruckt wurde und unter den dort in kommunistischen Vereinigungen
zusammengeschlossenen deutschen. Handwerksgesellen kursierte: Art. 51: Wer sich die
Herrschaft anmaßt, ist ein öffentlicher Feind; er erklärt der ganzen Gesellschaft den Krieg.
Art. 53: Wer ein einziges Volk unterdrückt oder zu unterdrücken trachtet, erklärt sich als
Feind aller und muß als ein gegen die menschliche Natur ( !) empörter .Räuher überall ver-
folgt werden; vgl. WOLFGANG ScmEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung
(Stuttgart 1963), 318. Dem Begriff des „absoluten" Feindes korrespondierte übrigens
ein entsprechendes neues Verständnis des Krieges, das VICTOR Cousm 1840 in seiner
berühmten Definition so fixierte: La guerre est un echange sanglant d'idees, Introduction
a l'histoire de la philosophie (Brüssel 1840), 71. Solange nämlich nur Staaten und Staats-
interessen im Konflikt lagen, konnte es höchstens eine relative, auf jeweils konkrete Streit-
punkte bezogene Feindschaft geben. Bei einer Veränderung der Macht- und Interessen-
lage verwandelte sich der inimicus ohne weiteres in einen amicus. Seitdem aber ein
„absoluter Geist" (Schlegel) sich der Staaten bemächtigt hatte, mußten die Kriege tat-
sächlich zu „Ideenkriegen" werden, d. h. jenen unbedingten, auf Vernichtung abzielenden
Charakter annehmen, den die europäischen Kriege seit dem Ende der Konfessionskriege
abgelegt hatten.
198 KANT, Rechtslehre (1797), § 60. AA Bd. 6, 349. Vgl. dazu SCHMITT, Nomos der Erde,

140 ff. (s. Anm. 141).

[i8[i
Friede m. 10. Zusammenfassender tllierblick
Während der dem Aufkommen des modernen Staates zugehörige Begriff der „pax
civilis", der den eigentlichen politischen Friedensbegriff der frühen Neuzeit ausge-
macht hatte, fast ganz von der Formel „öffentliche Ruhe und Sicherheit" aufge-
zehrt worden war199, bezeichnete 'Friede' jetzt gemeinhin einen zwischenstaatlichen
Zustand, und zwar in Beziehung auf die -Wirklichkeit den Zustand der aufgehobenen
oder ruhenden Gewalttätigkeit ... unter Staaten (1819) 200 • Er gründete im allge-
meinen auf einem „pactum pacis", das ein rechtliches Verhältnis zwischen den Staa-
ten geschaffen hat. Es kann kein Zweifel sein, daß dem Begriff 'Friede' im unreflek-
tierten „normalen" Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts durchweg diese Bedeu-
tung der „zwischenstaatlichen Waffenruhe" zugrunde lag 201 • Da das vertraglich be-
gründete zwischenstaatliche Rechtsverhältnis allein auf dem Willen der souveränen
Vertragspartner beruhte, konnte es Rich durchweg nur um eirnm prekären, unge-
sicherten und vergleichsweise kurzlebigen Frieden handeln. Und an dieser Art
Friede mußte das auf ein ewiges Vernunftrecht ausgerichtete Denken der Auf-
klärung und des Liberalismus Anstoß nehmen. War nämlich Friede eine Forderung
der Vernunft, so konnte dieser Forderung nur ein ewiger Friede entsprechen; denn
Krieg ist eine faktische Auflehnung gegen die Herrschaft der Vernunft oder eine
zeitl-iclie Unterbrecliung derselben (1849) 202 • Wellll J.ie VemunCL al~o ihren absoluten
Herrschaftsanspruch nicht selbst aufheben wollte, durfte sie nur einen Friedens-
begriff anerkennen, der das Moment der unbefristeten Dauer, der Ewigkeit in sich
enthielt: den ewigen Frieden. Vor dem Tribunal der Vernunft kam also dem em-
pirisch bekannten, befristeten Frieden zwischen den Staaten höchstens ein vor-
läufiger Wert zu, der zudem noch durch die moralische Kritik als bloßer W afferi-
stillstand, als Atempause für neue Kriege, und damit letzthin als Unwert dis-
kreditiert wurde. Die Vernunft stellte aber nicht nur Forderungen; sie wies vielmehr
auch den Weg zum ewigen Frieden und bürgte zugleich fü,r die Erreichung dieses
Ziels. Als Prophetin der unaufhaltsamen Arikunft ihrer eigenen Herrschaft in einem
ewigen Friedensreich gab sie dem Fortschrittsoptimismus des Zeitalters den
Rückhalt. Sie lehrte, die Entwicklung der Menschheit zu begreifen als ein Fort-
schreiten von der Barbarei- zur Zivilisation, vom Antagonismus zur Harmonie,
durch die Drangsale ihrer unaufhörlichen Kriege zum endlichen ewigen Frieden
(FICHTE 1800) 2 03• Denn der Krieg und der Friede sind die bezeichnenden Merkmale
der -r:ergangenheit und der Zukunft (1828/29) 204 • La paix ... est ala guerre ce que la

199 Vgl. oben S. 562.


200 BR0CK11Aus 5. Aufl„ Bd. 3 (1819), 940.
20 1 Vgl., etwa die - freilich kritisch gefärbte, doch sachlich exakte - Beschreibung des
vordergründig-unreflektierten Friedensbegriffs im 19. Jahrhundert aus der Feder von
PROUDHON:, Qu'est-ce danc que la paix? Une suspensian d'armes, causee, soit par la lassitude
des puissances, soit par l'egalite de leurs forces, et reglee par un traite. Voila tout: il n'y a
pas autre chose dans ce mot de paix, PIERRE JOSEF PROUDHON, La guerre et la paix, t. 2
(Paris 1861), 101.
202 ROTTEOK, Art. Friodo, RoTTEOK/WELOKER Bd. 6, 80.
203 FIOHTE, Die Bestimmung des Menschen (1800), SW Bd. 2 (1845), 307.
204 La doctrine de Saint-Simon (Exposition 1e annee), ed. c. BoUGLE u. ELIE ll.ALEVY

(Paris 1924), dt.: Die Lehre Saint-Simons, hg. v. GOTTFRIED S.ALOMON-DELATOUR (Neu-
wied 1962), 96. ·

586
m. 10. Zusammenfassender Oberblick Friede

philosophie est au mythe (PROUDHON 1861) 205 . Der „Geist der Eroberung", dem der
Krieg (und des Krieges Kind: der Staat!) zugeordnet war -Bo glaubten es die An-
hänger des Fortschrittsgedankens zu erkennen -, hatte seine historische Rolle aus-
gespielt206, der Geist der „Industrie", der neue gesellschaftliche Organisations-
formen (Assoziationen) und dauernden Frieden mit sich bringt, würde ihn ablösen.
Die Anwendung der Kategorien von Entwicklung und Fortschritt auf die Begriffe
'Krieg' und .'Friede' gab schließlich auch die Möglichkeit, jenen Theoremen ent-
gegenzukommen, die den Krieg als Motor des Kulturfortschritts nicht unterschätzt
wissen wollten 207 . Man gab ihnen recht, was die Vergangenheit anging; nahm dem-
gegenüber aber Gegenwart und Zukunft (und vor allem diese!) als Zeitalter des
Friedens in Anspruch. Als historisches Phänomen ließ sich der Krieg ohne Preisgabe
moralischer Wertungskategorien rechtfertigen. Nicht gegen den Krieg als historische
Erscheinung, nur gegen den Krieg als ewige Erscheinung erhebt sich die Vernunft ...
Dieser Rechts-(= Friedens-)zustand, nicht der Kriegszustand ist die Bestimmung,
die höhere Epoche der Menschheit; der Krieg also nur eine bloße Periode ihres Lebens
(ALEXANDER LIPS 1814) 208 . Es war freilich nicht gelungen, die innere Würde des
Krieges -wie KANT formuliert hatte 209 - historisch zu relativieren; im Gegenteil:
die Verfechter jener Lehren, die vom dauernden Frieden „Fäulnis" und „Versump-
fung" befürchteten, vom Kriege aber „sittliche Erhebung" erwarteten, standen
um die Mitte des Jahrhunderts erst am Beginn einer breiteren Wirkung.
Allerdings setzen sich diese Ansichten ganz unvermittelt und schroff von den sieg-
reich vordringenden Sozialtheorien ab, die die Etablierung einer vollkommenen
sozialen Ordnung erstreben und auf die damit gegebene AnkunfL eines mit pseudo-
religiösen Zügen ausgestatteten Reiches des eigentlichen und wahren Friedens
warteten. Entscheidend für die weitere Begriffsentwicklung von 'Friede' war jeden-
falls die fortschreitende Abwertung des juristischen Friedensbegriffs („pax civilis"
bzw. „pactum pacis") zugunsten eines Verständnisses von 'Friede', das mit mehr
oder weniger utopischen sozialen Ordnungsvorstellungen verknüpft und dement-
sprechend mit - negativen und positiven - Gefühlswerten in extremem Maße
befrachtet war. Freilich - das bleibt zu betonen - konnte dieser Friedensbegriff
nur theoretische Geltung (wenn auch in zunehmendem Maße) gewinnen, weil in
praxi der nachrevolutionäre „Staat" des 19. Jahrhunderts zwar der permanenten
Bedrohung durch die „gesellschaftlichen Kräfte" ausgesetzt war, sich ihnen gegen~
über jedoch als Staat im klassischen Sinne zu behaupten, d. h. von der Idee der
per/eot'ion de l'O'rdre social 210 unabhängig zu halten vermochte. Deshalb gelang es
dem Staat auch, die mit ihm selbst g~setzten klaren Distinktionen von Krieg und

2os PROUDHON, La guerre et la paix, t. 2, 380. .


206 Dieser Gedanke wurde mit besonderem Nachdruck abgehandelt bei BENJAMIN CoN-
STANT, De l'esprit de conquete et de l'usurpation (Paris 1814) u. PROUDHON, La guerre
et la paix. Er findet sich übrigens schon bei MoNTESQUIEU, Esprit des lois 20, 2.
20 7 Vgl. bes. PROUDHON, La guerre et la paix.
208 ALEXANDER LIPS, Der allgemeine Friede, oder wie heißt die Basis, über welcher allein

ein dauernder Weltfriede gegründet werden kann? (Erlangen 1814), 8 f.


209 KANT, Zum ewigen Frieden, AA Bd. 8, 365.
· 210 Vgl. oben S. 584. ·

587
Friede l V. Ausblick

Friede 211 vordergründig, d. h. im allgemeinen unreflektierten Bewußtsein lebendig


zu halten, während untergründig der ihm eignende friedestiftende und kriegshegende
Ordnungswert immer mehr in Frage gestellt wurde. Der zwiespältige - teils re-
staurativ-retardierende, teils die im 18. Jahrhundert angelegten „revolutionären"
Tendenzen radikal vorwärtstreibende Charakter des 19. Jahrhunderts wird an der
Entwicklung des Friedensbegriffs besonders deutlich.

IV. Ausblick
Jene Überzeugungen, die den Krieg nicht nur als notwendiges und zulässiges
Mittel staatlicher Machtsteigerung 212 oder nationaler Selbstgewinnung und -be-
hauptung213 gelten ließen, sondern ihn als ein für die Regeneration der moralischen

211 D. h. die unbedingte Geltung des als öffentliche Ruhe und Sicherheit umschriebenen

inneren Staatsfriedens („pax civilis") und das Verständnis des Krieges als eine Beziehung
von Sta.a.t zu Sta.a.t, der mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte - so KANT,
Kritik der Urteilskraft, AA Bd. 5, 263 - zu führen war und eine. „Feindschaft" der
jeweiligen Staatsbürger ausschloß.
Vergleichsweise unbefangenen und tieferblickenden Beobachtern allerdings blieb es nicht
verborgen, daß es letzthin nicht mehr der Staat war, der die Grenzen zwischen Friede und
Krieg zog, sondern daß die - durchweg ideologisch gebundenen - gesellschaftlichen
Kräfte hier die eigentlich bestimmende Funktion übernommen hatten i Erst dann, wonn
wirklich neben der Anerkennung seiner selbst (d. i. des revolutionären französischen Staates)
als einer selbstiindigen Macht die Anerkennung und Gültigkeit seiner eigenen Lebensgesetze
auch innerhalb der anderen Teile des Staatensystems erfolgt ist, kann ein wahrer Friede ein-
treten. Denn erst alsdann ist die Bedingung des allgemeinen Friedens, die Gleichartigkeit der
allgemeinen sozialen und politischen Zustände, wirklich vorhanden. Eben darum ist alle Lehre
vom ewigen Frieden, insofern sich derselbe durch gewisse einzelne organische ( = organisierte)
und gemeinsame Institute herausbilden soll, eine leere Utopie, LORENZ v. STEIN, Geschichte
der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Ndr. d. 3. Aufl. (1850),
hg. v. Gottfried Salomon, Bd. 1 (München 1921), 428.
Und 1847 schrieb der Liberale WILHELM SCHULZ, k;eineswegs „sirre ira et studio", doch mit
sicherem Gespür für die Situation: Der Friede ist also auch jetzt nicht unterbrochen •••
Was ist es aber, was .•. das Schwert in der Scheide zurückgehalten hat? Es ist •.• die Furcht
vor dem eigenen Volke, zumal vor der proletarischen Masse. Aber dieselbe Furcht, die jetzt
noch den Frieden erhält, kann den Krieg unvermeidlich machen •.• Noch ist überall derbe-
waffnete Friede ... nicht die Revolution ist noch für Europa zu fürchten, die sich in geschlos-
senen Reihen auf das Schlachtfeld drängt; wohl aber jener kleine Guerillaskrieg, der in stets
wiederholten Angriffen die Grundlagen der Gesellschaft allmählich untergräbt ... , Art. Frie-
densschlüsse, RoTTECK/WELCKER 2. Aufl., Bd. 5 (1847), 231 f.
212 Vgl. ADOLF LASSON, Das Culturidcal und der Krieg (Berlin 1868).

21a Dazu der Vers EMANUEL GEIBELS:

Krieg! Krieg/ Gebt einen Krieg uns für den Hader


Der uns das Mark versenget im Gebein -
Deutschland ist todkrank, schlagt ihm eine Ader!
:t.iL. WILHELM BAUER, Der Krieg in der deutschen Geschichtsschreibung von Leopold v.
Ranke bis Karl Lamprecht, in: Das Bild des Kri~es im deutschen Denken, hg. v. AUGUST
FAUST, Bd. 1 (Stuttgart, Berlin 1941), 171.

588
IV. Ausblick Friede

Kräfte eines Volkes unerläßliches „Stahlbad" hochschätzten 214, vermochten in der


zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen größeren Einfluß zu gewinnen als jemals
zuvor 215 . Als Bestandteil faschistischen Ideengutes blieben sie auch im 20. Jahr-
hundert noch wirksam, überlebten jedoch den Zusammenbruch des Faschismus
nicht. Fraglos haben die neuen Formen der Kriegs- und Wa:ffentechnik beim Unter-
gang des Bellizismus („Gesinnungsmilitarismus") eine entscheidende Rolle gespielt,
entzogen sie doch der Gegenüberstellung: „fauler Friede" ~ „frischer fröhlicher
Krieg" (auf der alle Gedanken dieser Art letztlich basierten) jeden realen Boden.
Immerhin hatten die „Bellizisten" - darauf wurde schon hingewiesen - bei ihrem
Lobpreis des Krieges ausschließlich an den Staatenkrieg gedacht. Es ist keinem von
ihnen eingefallen, den Wert des innerstaatlichen Friedens der öffentlichen Ruhe und
Sicherheit in Frage zu stellen 216. Das hat erst am Anfang des 20. Jahrhunderts
-GEORG SoREL in seinen „Betrachtungen über die Gewalt" getan 217 . Indem er die
„violence" als eine notwendige Form auch der innerstaatlichen Auseinandersetzung
anerkannt wissen wollte, hob er den Sinn des neuzeitlichen Staates als eines unbe-
dingten Friedensverbandes auf. Seine „Reflexions" markieren in der politischen
Ideengeschichte deshalb einen ganz entscheidenden Punkt, insofern der Staat nicht
nur als ein untaugliches Mittel zur Erreichung des ihm inhärenten .Zweckes, des
Friedens nämlich, verdammt wird (das hatten schon alle jene getan, die von der
„perfection de !'ordre social" den wahren Frieden erhofften), sondern insofern jetzt
dieser Zweck selbst, die unbedingte Friedenswahrung, als Wert angezweifelt wurde.
Daß solche Ideen kaum geeignet waren, populär zu werden, versteht sich. Es mag
aber dahingestellt bleiben, inwieweit sich - von allen theoretischen Erörterungen
abgesehen - der Staat selbst durch die Duldung von „Arbeitskämpfen" und die
Anerkennung eines eigenen „Arbeitsfriedens" (Sonderfriede!) neben dem allgemei-
nen Staatsfrieden als „Staat" im klassischen Sinne bereits tatsächlich aufgegeben
hat21s.
Freilich waren es nicht diejenigen, die 'Frieden' mit „Fäulnis und Erschlaffung"
assoziierten und auf Krieg und Gewalt setzten, die den herrschenden Friedensbegriff
vertraten. Das späte 19. und noch mehr das 20. Jahrhundert stand und steht viel-
mehr unter dem Eindruck jenes pseudoreligiösen Sinns von 'Friede', den die sozial-
utopischen Systementwürfe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts hochgespielt
haben.
Bis ihr an das Ziel gedrungen
Wo der Preis des Kampfes winkt
Bis der große Sieg errungen
Der den ew' gen Frieden bringt,

214 Beide Einstellungen von MAX ScHELER als Instrumental- und Gesinnungsmilitarismus

unterschiedell', Die Idee des Friedens und d~r Pazifismus (Berlin 1931), 11 f.
216 Vgl. vor allem den Aufsatz von HEINRICH v. TREITSCHKE, Das constitutionelle König-

thum in Doutsohlund (1869/71), Hist. u. polit. Aufs., 7. Aufi., Bd. 3 (Leipzig 11!15),
bes. 467 ff.
218 Vgl. oben S. 580.
217 GEORGES SoREL, Reflexions sur la violence (Paris 1908).
218 Dazu HERBERT KRÜGER, Allgemeine Staatslehre (Stuttgart 1964), 204.

58!)
Friede IV. Ausblick

lautete die sehr bezeichnende Schlußstrophe eines Gedichtes, mit dem die Metall-·
arbeitergewerkschaft ihr 500 000. Mitglied willkommen hieß 219 •
Die Fixierung des Friedensbegriffs auf mehr oder weniger bestimmte soziale Ord-
nungsvorstellungen wirkte so suggestiv, daß jede politisch etablierte Ordniing be-
müht war, sich mit dem Attribut einer Friedensordnung zu schmücken. L'empire
c' est la paix, sagte NAPOLEON III. 220 .Das deutsche Kaiserreich ist wahrhaft der Friede,
kam 1871 das Echo aus Berlin zurück 22 1, wobei sich gerade in der darin verborgenen
- unbewußten und ungewollten - Blasphemie 222 die eigentlich religiöse Dirnen
sion des hier gemeinten Friedensbegriffs enthüllt. Dieses Phänomen wird verständ-
lich, wenn man beachtet, daß die Staaten in zunehmendem Maße begannen, sich
selbst nicht mehr als neutrale Friedensordnungen, sondern als (z. T. vorläufige)
Inkarnationen und Realisationen bestimmter sozialer Systeme zu begreifen 223,
denen bei aller Gegensätzlichkeit das eine gemeinsam ist, daß sie den wahren und
ewigen Frieden auf Erden versprechen. Der Staatenkrieg wird somit zwangsläufig
zum Ideenkrieg (VICTOR Cousrn) 22 4, zum Kreuzzug für das künftige Friedensreich.
Diese dem modernen Krieg inhärente Zielsetzung läßt keinen Friedensvertrag im
überlieferten Sinne mehr zu. Es geht nämlich letzthin überhaupt nicht mehr um
einen zwischenstaatlichen Frieden, wie man ihn bisher gekannt hatte; denn für
diese Art Friede der aufgehobenen Gewalttätigkeit ... unter Staaten (1819) 225 hat man
inzwischen den Begriff des „Kalten Krieges" erfunden.
Deshalb hat sich der Friedensbegriff weitgehend eines allgemein anerkannten kon-
kreten Inhalts entleert und ist zu einer Art Zauberwort geworden, mit dem man eine
Welt der Harmonie, der Freiheit, Gerechtigkeit und des allgemeinen Gliir.kl'I ?.11 be-
schwören hofft und das sich mit beliebigen Vors~ellungen assoziieren läßt. 'Friede'
wurde zur gängigen Kurzformel einer innerweltlichen Heilserwartung. Dabei ist
freilich im Blick zu behalten, daß angesichts der nuklearen Waffentechnik dieses
„Heil" auch einen recht nüchternen Sinn bekommen hat, insofern der Friede nicht
mehr nur den idealen Zustand menschlichen Zusammenlebens bezeichnet, sondern
als Weltfriede („pax universalis") zur Bedingung für den Bestand der Menschheit
schlechthin geworden ist. Die Bemerkung von HoLBACH: La guerre ... , les con-
qu€tes sont des choses oontraires a l'humanite226, gilt heute in jener verschärften
Weise, daß der Krieg in extremer Form (Weltkrieg) nicht nur gegen die humanitas,
sondern zugleich auch gegen das „humanum genus" als ganzes ·gerichtet ist. An-
gesichts dieser alle historische Erfahrung übersteigenden Situation ist ein verstärktes
wi1:11:1tm1:1chaftliches Bemühen um den Frieden wach geworden. Daß allerdings die

2 19Metallarbeiterzeitung, 29. Jg., Nr. 22 (Juni 1911).


220 Zit. TER MEULEN, Internationale Organisation, Bd. 2/1 (1929), 326.
221 EMIL Du Bors-REYMOND, Das Kaiserreich und der Friede (Berlin 1871), 6.
222 Daß irgendwer oder irgendwas der Friede , ,sei" (nicht nur vorbereite, ermögliche usw.),

das war bisher nur von Christus gesagt worden; vgl. Eph. 2,14.
223 Es ist gleichgültig, ob der Staat der jüngsten Zeit dabei faktisch einem Mißverständnis

seiner selbst unterliegt, insofern er in Wirklichkeit keine „Idee" repräsentiert, sondern


ein gegen „Ideen" immuner „technischer Apparat" ist; vgl. HELMUT ScHELSKY, Der
Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (Köln, Opladen 1961), 20 ff.
224 s. Anm. 197.
225 Vgl. oben S. 563.

226 BARON PAUL HEINR. DIETR. v. HoLBACH, Systeme social, t. 1(London1773), 110.

590
IV. Ausblick Friede

Resultate dieser „Friedensforschung" trotz aller institutionellen Ausbreitung und


publizistischen Fruchtbarkeit227 so wenig überzeugend sind, liegt wohl nicht zuletzt
daran, daß die Meinungen darüber, wie der Gegenstand der neuen Wissenschaft -
eben der Friede - zu begreifen 1,lld zu verstehen sei, so weit auseinandergehen
wie kaum zuvor.
WILHELM JANSSEN

227 Vgl. GERDA ScHARFFENORTH u. WOLFGANG HUBER, Bibliographie zur Friedensfor-

schung (Stuttgart, München 1970).

591
Geschichte, Historie

I. Einleitung. II. Antike. 1. Terminologie. 2. Historia-Begriff und „Geschichts"vorstellun-


gen. III. Begriffsverständnis im Mittelalter. 1. Zur Wortbedeutung von 'historia' und
'res gesta'. 2. Die Geschichtsschreibung, ihre Klassifizierung und ihr Erfahrungshorizont.
a) Die „Gattungen". b) Gliederungskriterien im Mittelalter. c) Erfahrungsweisen und
Formungsfähigkeiten. d) Darstellungslehre. 3. Ort und Funktion der Historie im Wissens-
gefüge. IV. Historisches Denken in der frühen Neuzeit. 1. Voraussetzungen. 2. Dante und
der Humanismus. 3. Das 16. Jahrhundert. a) Machiavelli und Guicciardini. b) Geschichts-
auffassung im reformatorischen Deutschland. c) Historische Rechtsinterpretation und
Theorie der Geschichte. 4. Die Herausforderung der neuen Wissenschaft. a) Problemati-
sierung der Historie. b) Begründungsversuche und Quantifizierung der Zeit. c) Der Wahr-
heitsbegriff. d) Auf dem Wege zum modernen Geschichtsbegriff. 5. Zum Toposwandel von
'Historia' und 'Geschichte'. a) Von den 'Historien' zur 'Geschichte'. b) Magistra vltae,
Lehrbarkeit und Nutzen. c) Lux veritatis, Wahrheit und Abbildungsverhältnis. d) Vita
memoriae, Erinnerung des Unvergangenen. V. Die Herausbildung des modernen Geschichts-
begriffs. 1. Terminologiegeschichtliche Hinführung. a) Die Entstehung des Kollektiv-
lilinp;ularii. b) Die Kontamination von 'Geachichte' imd 'Hilitorie'. 2. 'Die Gelichichte' al11
Geschichtsphilosophie. a) Die ästhetische Reflexion. b) Von dei· Moralisierung zur Pro-
zouuuuliuiorung do1• Gooohiohto. o) Von doi• mtion11lon HypoLhooonbildung zu1• Vomunft
der Geschichte. d) Ergebnisse der geschichtsphilosophischen Wende zur Zeit der Revolu-
tion. 3. Die Ausprägung der 'Geschichte' zum Grundbegriff. a) Von der 'historia naturalis'
zur 'Naturgeschichte'. b) Von der 'historia sacra' zur 'Heilsgeschichte'. c) Von der 'historia
universalis' zur 'Weltgeschichte'. VI. 'Geschichte' als moderner Leitbegriff. 1. Soziale und
politisohe Funktionen des Gesohiohtsbegriffs. 2. Gesohiohtliohe Relativität und Zeitlioh-
keit. 3. Die aufreißende Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung. 4. 'Geschichte' zwischen
Ideologie und Ideologiekritik. VII. Ausblick.

1. Einleitung*
Daß 'Geschichte' ein geschichtlicher Grundbegriff sei, scheint sich aus dem Wort
von selbst zu ergeben. Der Ausdruck hat aber seine eigene Geschichte, die ihn erst
gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem politischen und sozialen Leitbegriff
aufrücken ließ. Vergangenheit und Zukunft zugleich erfassend, wurde 'die Ge-
schichte' zu einem regulativen Begriff für alle gemachte und noch zu machende
Erfahrung. Der Ausdruck reicht seitdem weit über den Bereich bloßer Erzählung
oder historischer Wissenschaft hinaus.
Andererseits ist die 'Historie' als Kunde, Erzählung und Wissenschaft ein alter
Befund europäischer Kultur. überhaupt gehört das Geschichten-Erzählen zur
Geselligkeit des Menschen. Mehr noch, ohne Geschichten keine Erinnerung, keine
Gemeinsamkeit, keine Selbstbestimmung sozialer Gruppen oder politischer Hand-
lungseinheiten, die sich nur im Medium gemeinsamer Erinnerung zusammenfinden
können. Solche 'Geschichten' sind freilich keine Grundbegriffe, sondern bleiben
immer Erzählungen von dem, worum es in einer Geschichte ging. Es mag die Ge-

* Für zahlreiche Hinweise, Hilfen und Korrekturen danke ich den Studierenden zweier
Seminare, besonders den Herren Horst Günther, Jörg Fisch, Rolf Reichardt und Reiiihard
Stumpf.

38-90386/l 593
Geschichte I. Einleitun~

5ohiohte einer Sohfooht EJoin, oinoEJ RoohtEJhandolfl, cino1• Roioo uuo.r cinc8 Wunders,
eines Königsmordes oder einer Liebe. Immer wird erzählt, von wem und worum
es sich handelt. So lange ist der Ausdruck 'eine Geschichte' kein Grundbegriff,
sondern höchstens das, was als Summe einer Erzählung an deren Ende auf einen
Begriff gebracht werden kann.
Daß es in der Geschichte um 'Geschichte selber' geht und nicht um eine Geschichte
von etwas, ist eine moderne, eine neuzeitliche Formulierung. Erst damit, kurz vor
der Französischen Revolution; wird das alte. Gebrauchswort zu einem zentralen
Begriff der politischen und sozialen Sprache.
In diesen Begriff der 'Geschichte an und für sich' sind zahlreiche alte Bedeutungs-
streifen eingegangen, die schneisenartig in den folgenden Artikel aufgenommen
wmilr.n: ili11 <111Rr.hfohtr. .alR F.migniR 11nn n11RR1:m En:ä.hlung, als Schicksal und als
K11nile ilariiber, als Vorsehung und Zeichen davon, alles Wissen der Historie als
.Heispielsammlung für ein frommes und gerechtes, für ein kluges oder gar weises
Leben. Ohne sie alle abzustoßen, hat der moderne Geschichtsbegriff viele der
alten Sinnzonen in sich gebündelt.
Daß das gesamte politisch-soziale Beziehungsgeflecht auf dieser Erde in allen seinen
zeiLlicheu E1'1:1Lreckllllge11 ah> 'GeMchichte' begriffen wird, ist dagegen neu. Wo friiher
Recht oder Strafe, Gewalt, Macht, Vorsehung oder Zufall, Gott oder das Schicksal
beschworen werden mochten, konnte man sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
auf die Geschichte berufen.
Neue Bedeutungen sind hinzugekommen, die sprachlich früher auf einen Begriff
zu bringen noch nicht möglich war: die Geschichte als Prozeß, als Fortschritt, als
Entwicklung oder als Notwendigkeit. 'Geschichte' wil'u zu eiuem wnfal:ll:ltmden
Bewegungsbegriff.
Demgegenüber öffnet sich der andere neue Bedeutungsraum: 'Geschichte' als
Handlungsfeld und Tat, als Freiheit. Geschichte wird planbar, produzierbar, machbar.
Aus 'Geschichte' wird auch ein Aktionsbegriff. Beide Varianten, die objektive und
die subjektive Seite, die sich logisch einander ausschließen, verleihen dem Begriff
eine Zweideutigkeit, die ihm seitdem innewohnt. Seine Verwendung als Schlagwort,
seine Anfälligkeit für Ideologie und Ideologiekritik sind daraus ableitbar.
Die Ausbildung des neuen Begriffs indiziert eine Erfahrungsschwelle, die im Zeit~
alter der Französischen Revolution überschritten wurde, indem sie neue Erwartun-
gen eröffnete. Der Ausdruck bezeugt die Erfassung dessen, was als neue Zeit er-
fahren wird, und zwar in ihrer Einmaligkeit und Andersartigkeit gegenüber allem
Bisherigen. Der Beginn der Neuzeit ist freilich ein längerfristiger Vorgang, an dessen
Ende erst die Einsicht in die Prozeßhaftigkeit der Neuzeit steht: eben die Ent-
deckung der 'Geschichte überhaupt' als Ergebnis der Aufklärung.
Zuvor gab es eine Vielzahl von Geschichten, die grundsätzlich einander ähneln
oder sich gar wiederholen mochten; Geschichten mit bestiinmten handelnden oder
leidenden Subjekten, oder, in der Erzählung, mit bestimmbaren Objekten. Seit
dem 18. Jahrhundert gibt es eine 'Geschichte Mchlechthin', die ihr eigenes Subjekt
und Objekt zu sein schien, ein System und kein Aggregat, wie man damals sagte.
Ihr korrespondiert räumlich die eine Weltgeschichte. Zeitlich entspricht ihr die
Einmaligkeit des Fortschritts, der erst mit der. 'Geschichte' zugleich auf seinen
Begriff gebracht wurde - bevor sich beide Begriffe im 19. Jahrhundert mehr oder
weniger auseinanderbewegten.

594
ß. 1. Terminologie Geschichte

Es gehört zu den strukturellen Merkmalen dieser neuen Geschichte, daß sie die
Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem bzw. die Ungleichzeitigkeit von Gleich-
zeitigem auf einen Begriff gebracht hat, auch darin dem Fortschritt verwandt.
Das gilt nicht nur in dem selbstverständlichen Sinne, daß jede Erzählung Ver-
gangenes in die Gegenwart einholt und insofern die Zeitunterschiede, die sie
thematisiert, aufhebt. Vielmehr setzt sich die Wirklichkeit der modernen Geschichte
aus einer Vielzahl, nach Kalenderrechnung gleichzeitiger, aber nach Herkunft,
Ziel und Entwicklungsphasen ungleichzeitiger Abläufe zusammen. Daraus ent-
stehen Spannungen, Perspektiven der Verzögerung und der Beschleunigung, Ver-
zerrungen und Vereinheitlichungen, die zur Thematik unserer Weltgeschichte
gehören.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zeichnet sich schon in der antiken Historie
ab, als die Hellenen in ihrer Perspektive bei den B~rbaren Verhaltensweisen der von
ihnen selbst schon zurückgelegten Kulturstufen entdeckten. Die zeitliche Spannung
verstärkte sich im Erwartungsraum christlicher Erfahrung. Diese bezieht die Hoff-
nung auf eine Zukunft ein, deren Heilsversprechen schon die Gegenwart prägt,
wogegen ein Heide der vorchristlichen Vergangenheit verpflichtet bleibe.
Seit der Entdeckung der Kugelgestalt unserer Erde wird die Gleichzeitigkeit djls
Ungleichzeitigen zur allgemeinen Erfahrung der auf diesem Globus lebenden
Völker. Seitdem wird die Geschich,te in einem genuinen Sinne verzeitlicht. Die Zeit
wird mehrschichtig, nicht mehr nur als naturgegeben erfahren, sondern als Vollzugs-
weise und Ergebnüi memichlichen Handelns, menschlicher Kultur und vor allem
menschlicher Technik. E1·st seitdem Beschleunigung und Verzögerung Erfahrungs-
differenzen ausmessen, die so oder so auszugleichen ein Leitmotiv politisch-ßozialen
Handelns wird, und erst seitdem sich damit die Erwartung einer planbaren Zu-
kunft verbindet, gibt es den Begriff der Geschichte. 'Geschichte' greift als Legi-
timationsbegriff weit über seine wissenschaftliche Verwendung hinaus. Er hat die
neuzeitlichen Erfahrungen und Hoffnungen in einem Wort gebündelt, das seitdem
zum Streit- und Schlagwort unserer politisch-sozialen Sprache werden konnte.

REINHART KosELLECK

II. Antilee

1. Terminologie

Das Wort fowet11 begegnet in unsern Quellen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr., das
erste Mal bei HERODOT, dem pater historiae1 • Es bezeichnet dort sowohl Wissen
wie Erkundung, Forschung und Forschungsergebnis. Man benutzt das Wort des-
wegen heute gern als Terminus für die vielfältigen von Jonien aus betriebenen
geographischen und ethnographischen Erkundungen („jonische Historie"). Spe-

1 HERODOT, Prooemium. Vgl. 7, 96, l; 2, 99, l; 2, 118, l; 2, 119, 3; 2, 44, 5. Der unter

den Heraklit-Fragmenten (Nr. 129) aufgeführte Beleg ist vermutlich unecht. Pater
historiae: CICERO, Leg. 1, 5.

5!)5
Geschichte II. 1. Terminologie

ziell steht es für die Erkundung durch Befragen von Zeugen 2 • Entscheidend für
die weitere Wortgeschichte war, daß Herodot irnoel11 als Obertitel für seine ver-
schiedenen Forschungsweisen in der ersten Zeile seines Prooimions gebraucht hat:
Dies ist die Darlegung der Forschung (frn:oel1J' dn6öe;i,) des Herodot von Halikarnaß.
Vermutlich erschien es ihm als die wichtigste Weise der Ermittlung von Wissen,
nicht zuletzt in Hinblick auf den besonders umfangreichen Komplex vergangener
Fakten, deren Kenntnis nur durch Zeugen gewonnen werden konnte 3 .
Damit war nichts über den Gegenstand dieser Forschung, den Inhalt des herodotei-
schen Werkes gesagt. Vielmehr ~ar das Wort damals neutral gegen jeden Inhalt.
'la1:0el11 konnte sich auf alles empirisch Erforschbare (und vermutlich noch darüber
hinaus) erstrecken. Fast paradox ist, daß das Wort, das später „Geschichte" be-
zeichnen sollte, in seiner ursprünglichen spezifischen Bedeutung auf die RrforRc;hnng
der größten Teile der Geschichte nicht angewandt werden konnte: denn methodisch
zu erforschen ist das Vergangene nach Herodot nur für die letzten zwei bis drei
Gene:r;ationen4.
Daß Herodot die allgemeine, inhaltlich offene Methodenbezeichnung gleichsam zur
Überschrift nahm, war nur konsequent. Sein Werk fand seine Einheit nur darin,
daß es der Forschungsbericht dieses Mannes war 5 • Thematisch umfaßte es eine Viel-
falt von Gegenständen,· die wir heute etwa als historisch, geo- und ethnographisch
bezeichnen würden. Für den besonderen Ausschnitt, der Herodot interessierte,
gibt es noch heute keinen Terminus und kann es wohl auch keinen geben 6 • Herodot
selbst sagt, es gehe ihm um die Bewahrung dessen, was ·von Menschen geschehen ist·
(rd yev6µeva e; dvDew:nwv), und von großen und wunderbaren Werken (eeya), die von
Griechen und B<11Tbaren aufgewiesen wurden, sowie darum, zu ermitteln, aus welchem
Grunde und durch welche Schuld (öi' 1)11 alTl11v) sie miteinander Krieg führten 7• Unter
den eeya sind nicht nur politische und militärische Taten, sondern etwa auch
Architekturwerke, unter den yev6µeva e; dvDew:nwv wohl auch institutionalisierte
Geschehensweisen, etwa Sitten und Ordnungen, Weisen zu leben, inbegriffen.
Mit der Frage nach den Ursachen des Perserkrieges (und, zu ergänzen, des griechi-
schen Sieges) ist das, modern gesagt, historische Interesse bezeichnet. Man konnte
diese Frage zwar auf viele Weisen beantworten. Herodots Weise aber war die der
historischen Erklärung durch Rekonstruktion eines multisubjektiven Geschehens,

2 Vgl. BRUNO SNELL, Die Ausdriicke für <len Begriff des Wissens in der vorplatonischen

Philosophie (Berlin 1924), 59 ff. Weitere Literatur bei KrrTEL Bd. 3 (Ausg. 1967), 394 ff.,
s. v. irnoeew.
a Denkbar wäre etwa auch Dsroela gewesen (vgl. HERODOT 1, 29, 1; 1, 30, 1 f.). Dann hieße
die Historie heute 'Theorie' - und die Rede von der Theoriebedürftigkeit zielte auf ein
Defizit an Historie.
4 Vgl. B. SHillIBON, Ileoyro, Twv fiµei, löµev, Emnos 71 (1973), 45 ff.

5 Hierzu und zum Folgenden vgl. CHRISTIAN MEIER, Die Entstehung der Historie, in:
Geschichte - J!:reignis und Erzählung, hg. v. REINHART KosELLECK u. WOLF-DIETER
STEMPEL (München 1973), 251 ff.
6 Es geht jedenfalls nicht an, dieses Themenkonglomerat von heute her als die im wahren

Umfang begriffene Geschichte zu verstehen - so HERMANN STRASBURGER, Die Wesens-


bestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung (Wiesbaden 1966).
7 HERODOT, Prooemium.


596
ll. 1. Terminologie Geschichte

das sich aus vielfältigen Handlungen, Ereignissen, Abläufen in ihren jeweiligen


Verschränkungen zusammensetzt, und zwar über ca. drei Generationen hin. Dieses
Verfahren war neu, mit ihm ist die „Historie" bei den Griechen entstanden. Wie
weit sich Herodot aber bewußt war, daß er durch seine Art, auf jene Frage zu
antworten, einen besonderen Gegenstandsbereich konstituierte, ist unklar. Jeden-
falls hatte er für diesen Bereich, oder anders: für die besondere Form des (histori-
schen) Zusammenhangs zwischen Handlungen, Ereignissen und Abläufen über
Generationen hin, die er wahrnahm, keinen Terminus. Auch für die besondere Art
des Fragens, des Erklärens und des Darstellens hatte er kein Wort. Er hatte wohl
auch nicht das Bedürfnis danach.
Seine Abhandlung nannte Herodot J.6yor; 8 • Das hieß etwa Darlegung in Prosa. Er
benutzte das Wort zugleich, um den roten Faden, insofern indirekt, aber nicht
spezifisch den übergreifenden „historischen" Zusammenhang, den er knüpfte, zu
bezeichnen.
Bei THUKYDIDES ist dann das politisch-militärische Geschehen eindeutig und streng
aus der viel breiteren Vielfalt menschlicher Erfahrungen, von der Herodot handelt,
herausgeschält. Dies läuft parallelder sehr viel tieferen Anlage und sachgerechteren
Erkenntnis dicBcß BercichB. Aber 1mch bei 'fhukydidoa ifit nicht zu sehen, daß er
sich der Riiimnderheit des Gegenstandsbereichs „Geschichte" bewußt gewesen
wäre oder gar gemeint hätte, seine Art der - wie wir es ansehen-: „Geschichts-
schreibung" sei die rechte oder: Geschichte sei in Wirklichkeit politische Ge-
schichte9. Er sagt jedenfalls in seinen Eingangsworten nur, daß er den „Krieg der
Athener und der Peloponnesier" beschreibe. Das Wort l<n:oela hat.er nicht.
Als allgemeine Termini für die Gegenstände des „historischen" Interesses begegnen
nur Bezeichnungen für Einzelnes, etwa Partizipien von ytyveai}ai für Geschehnis,
Ereignis, leyov, das bei Herodot zumal Tat, Handlung, Werk, bei Thukydides auch
Ereignis heißt10, neayµa, das ein breites Spektrum von Tat, Handlung, Plan, Vor-
gehen über Aufgabe, Vorfall, Angelegenheit, Geschehnis bis hin zu „Ereignis-
komplex", Ablauf umfaßt und auch mit „Geschichte" (etwa von der komplizierten

8 Ebd. 1, 5, 3; 1, 95, l; 2, 3, 2; 2, 123; 4, 30, l; 6, 19, 2. 3; 7, 152, 3; 7, 171; 7, 239, 1.

Vgl. TlruKYDIDES 1, 97, 2. Entsprechend Äoyonoi6.- (HERODOT 5, 125), im Unterschied zu


ino- und µuuuunutur;, und Äuyuygdipu.- (THUKYDIDES 1, 21, 1). Thukydides spricht von
gvyyeaip~ (1, 97, 2. Vgl.. l, l, 1. Ferner gvyyeaipwr; für den Historiker: XENOPHON, Hell. 7,
2, l; PoLYBIOS 1, 2, 1 u. ö.). Spätere Historiker bezeichnen ihre Werke als Abhandlungen
(neayµa-reta z.B. PoLYBIOS 1, 1, 4; 4, 20, 5; <1magtr; ebd. 1, 4, 2; 8, 2 (4), 5. 11).
9 Dies ist deswegen keine Haarspalterei, weil man ja, um meinen zu können, welches die

richtige Geschichtsschreibung sei, wenigstens wissen muß, daß es „Geschichts"schreibung


gibt. Thukydides will zwar etwas besser. machen als alle vor ilim, zumal als Herodot,
aber dati it!t nur·, daß ei· besLimmLe ErkennLnisse über menschliches, zumal politisch-
militärisches Handeln und Sich-Ereignen sachgerecht erwerben und vortragen will. Und
das tut er auch. Daß „Geschichte" nach ilim nur Politik und Krieg sei oder der Pelopon-
nesische Krieg „das bedeutendste Stück Geschichte" (STRASBURGER, Wesensbestimmung,
23), wird ilim erst von unserm Geschichtsbegriff her untergeschoben. THUKYDIDES nennt
den Krieg nur die größte Bewegung oder Erschütterung (utvriair; 1, 1, 2).
10 Vgl. HENRY R. IMMERWAHR, Ergon: History as a Monument in Herodotus and Thucy-

dides, American Journal of Philol. 81 (1960), 261 ff.

507
Geschichte II. 1. Terminologie

Entdeck-ung eines Grabes) übersetzt wcruon kallll. Bei POL)'lJlUS i1:1t :tt(}äf;ti;; in ähn-
licher Bedeutung häufig. -Daß somit verschiedene Bezeichnungen für Tun und
Handeln zugleich die Termini für Geschehenskomplexe geworden sind, scheint
Indiz dafür zu sein, wie sehr die griechische Historie das Handeln in ereignishafte
Zusammenhänge, in multisubjektive Abläufe eingebettet sah. Dies wieder ergab
sich daraus, daß die Erfahrung von politischem Handeln in den Polisbürger-
schaften breit verteilt war und das Interesse daran das Interesse an dessen Be-
dingungen einschloß 11 • Geschehnisse früherer Zeit wurden gern als Ta naÄau.i be-
zeichnet; Ta M11&"d meinte den Perserkrieg, Ta Kee"veat"a die Ereignisse um
Kerkyra 12 usw.
Ein spezifischer Name für die Geschichtsschreibung findet sich für uns das erste
Mal in cfor Poi~tik ilAR AR.TRTOTw.r.w.s13 . In der 1.111:0efa gehe es um die Wiedergabe
dessen, was geschehen ist (Ta yevoµe:va Uyew). Es werde nicht die Einheit einer
Handlung, sondern die l!Jinheit einer Zeit dargestellt ( <5~J.w11t, ... iv6, xe6vov), was
nämlich zu einer bestimmten Zeit sich ereignete mit einem oder mehreren, die sich
zueinander verhielten, wie es sich gerade traf. Die Ereignisse laufen nicht auf ein
und dasselbe Ziel {lv TeÄo•) zu. Gegenstand der Historie sind nach Aristoteles die
.vuliLi1:11Jh-llliliLä1i1:1ehen Ereigni1:1abULufe. Den Terminus für diese Gattung hat er
(oder jemand vor ihm) offenbar aus Herodots erster Zeile übernommcn 14, wobei 11r
mißverstehend i11Toet11 als Bezeichnung für den „historischen Inhalt" nahm, genauer:
für das ästhetische Genos, das durch den Inhalt „politisch-militärische Ereignis-
abläufe in einem Zeitraum" bestimmt ist. Bei Aristoteles begegnet auch erstmals
der Terminus foTo(!t"6i;;15. Erst nachträglich also, im Blick auf ein schon weit ver-

11 Vgl. als extremes Gegenbild etwa die Auffassung vom nahezu bedingungslosen Handeln-
und Bewirkenkönnen des ägyptischen Königs, ERIK HORNUNG, Geschichte als Fest (Darm-
stadt 1966), 14 f.
12 Die Belege shi.d den einschlägigen Lexika leicht zu entnehmen. Ergänzend wäre noch

auf die Participia von avµßalvw hinzuweisen (vgl. ArusTOTELES, Metaph. 982 b 22; POLY-
BIOS 3, 4, 13; TO naeai5of;ov TWV 11vµßaw6nwv). Interessant scheinen besonders noch die An-
gaben im Stil von Ta ••• neo avTWV oder Ta BTt naÄaheea (THUKYDIDE~ 1, 1, 3). Das Neu-
trum Pluralis der Adjektiva von Stadt- oder Vulkimamen dient auch dazu, die „Geschich-
ten" ilie1,ier Städt11 und Völker zu bezeichnen (vgl. u.). HERODOT gebraucht dafür etwa
Atßv"ol Äoyot (2, 161, 3). Für die Kunde von der frühesten Zeit kam wohl schon im
5. Jahrhundert der Terminus 'Archäologie' auf (PLATON, Hippias Maior 285 d).
13 ArusTOTELES, Poet. 1451 a 36 ff.; 1459 a 17 ff. (die Übersetzung nach Gigon). Dazu

Rhet. 1360 a 36.


14 ArusTOTELES denkt hier besonders auch an Herodot (Poet. 1451 b 2; 1459 a 25 f.).

Außerdem war es Üblich, die Bücher dieser Zeit, die keine Titel hatten - FELIX JACOBY,
Atthis (Oxfurcl 1949), 82 - , lnit den Anfangsworten oder lnit einem der Anfangsworte zu
zitieren, vgl. ERNST NACHMANSON, Der griechische Buchtitel (Göteborg 1941), 46. 49 f.
Genau dies scheint mit Herodots i11Toet11 geschehen zu sein (wie später noch bei DIONYS
VON lliLIKARNASS, Pomp. 3). In ganz ähnlicher Weise muß uvyyeaq;e.Vr;; im Blick auf
die Anfangszeile des Thu.kydides zum Terminus für Zeithistoriker umgewandelt worden
sein (Scholia in Dionysii Thracis Artem Grammaticam p. 11, 4. 166, 13. 168, 4 Hilgard).
15 ARISTOTELES, Poet. 1451 b 1. Im allgemeinen Sinn von „Forscher" oder „Sachver-

ständiger": Rhet. 1359 b 32.

598
II. 1. 1.'erminologie Geschichte

breitetes Genus literarischer Darstellung scheint l<noela einen spezifisch „histori-


schen" Sinn erhalten zu haben. Pate stand ein Bedürfnis nach Klassifikation.
Daneben stand weiter der alte allgemeinere Sinn des Wortes: Wissen, Wissen-
schaft, Forschung, wie etwa in :n:eel <pvaew, lcn:oela (PLATON, ARISTOTELES) oder
lateinisch in der naturalis historia bzw. den naturae historiarum libri des PLI-
N1us16.
In einem weiteren Schritt hat lcn:oela dann die Bedeutung „Geschichte" (im Sinne
von Geschehen) angenommen. Wir finden das Wort erstmals bei PoLYBIOS so ge-
braucht17, und dort hat die Bedeutungsübertragung einen besonderen Sinn. Denn
Polybios fand, daß die Ereignisse und Abläufe der Welt ( al Tij' ol"ovµ8111J' :n:edge,,)
vor 220 vereinzelt, gegeneinander isoliert gewesen seien, danach aber sei es ge~
schehen, daß die Geschichte (laToela) gleichsam körperförinig ( awµa1:0eti3~,p 8 , das
heißt ein zusammenhängendes Ganzes wurde, indem sich die Han,dlungen und
Geschehnisse in den verschiedenen Teilen der Welt untereinander verknüpften Ulld
alle auf ein und dasselbe Ziel (h . .. TEÄo,) richteten19. Das Ganze war ein Hand-
lungszusammenhang (b leyov ), ein Schauspiel {b Oeaµa) init Anfang, Mitte und
Ende 20 • In direktem Bezug auf Aristoteles, init ästhetischen Kategorien, wird also
den Geschehnissen der Zeit der röinischen Welteroberung Einheit vindiziert,
Wfm'l1m cfüi Merkmale literarischer (genau: poetischer) Einheit in der Geschichte
verwirklicht gesehen; als Autor figuriert Tyche (vgl. u.). Dafür aber gab es vom
Objektbereich (der nur :n:ea;ei,, yev6µeva etc. kannte) keinen Namen. So bezeich-
nete Polybios die von ihm festgestellte singularische „GeRr,hir,hte" Reiner Zeit mit
dem Terminus für die literarische Einheit 'Historie'. Ob er sich theoretisch darüber
klar war odor nicht, hier drückte sich aus, daß die Geschichte sich er11t und nur im
literarischen Zusammenhang konstituieren läßt. So war es nur konsequent, daß die
von und in der Historie konstituierte Geschichte in dem Moment, als sie als singu-
larisch erschien (übrigens nur für eine bestimmte Zeit!), auch lcn:oela genannt
wurde. · ·
Polybios hat zwar kaum Schule gemacht. 'lcn:oela und das ihm genau entspre-
chende lateinische 'historia' kamen aber auch dadurch dazu, die Bedeutung „Ge-
schichte" in sich aufzunehmen, daß dieses Wort zu einem Sammelbegriff für all
das wurde, was die historische Literatur enthielt. Es bedeutete dann die Summe des
überlieferten, insofern die Summe der Geimhehnisse. Man spricht etwa von e" Tij,
fowela, µu:f>r1a1,, oder es heißt: plena exemplorum est liistoria oder: docet ... histo-

16 PLATON, Phaidon 96 a 7; ARISTOTELES, Organ.· 298 b 2; die lateinischen Belege im TLL


Bd. 6/3 (1936-42), 2833 f.
17 POLYBIOS 1, 3, 4. Ebenso: 6, 58, l; 8, 2 (4), 11; 12, 25 a, 3. Vgl. DIONYS VON IIALrKAR-

NASS 1, 2, 1. Natürlich konnte das gleiche auch pluralisch (mit :n:edgei,) bezeichnet werden
(39, 8, 6. Vgl. 1, 4, 1).
18 POLYBIOS l, 3, 3 f. Vgl. 1, 4, 7 zum Bild des Körpers (das übrigens auch zur Kenn-

zeichnung des literarischen corpus dient, vgl. PLATON, Phaidros 264 c; ARISTOTELES, Poet.
1459 a 20; DIODOR 20, l, 5; CICERO, Ad fam. 5, 12. 4; LUKIAN, Hist. conscr. 23. 55).
19 PoLYBIOS 1, 3, 4; 1, 4, 1 f. Vgl. 3, 32, 7; 4, 28, 3 f.; 5, 105, 4 f. 9 u. ö.
20 Ebd. 3, 1, 4 f. Vgl. 1, 1, 6; 1, 4, 5, wo außer von leyov von dychviaµa die Redeist; auch

hier ist wohl eine Anspielung auf das (literarische) Drama mitzuhören, vgl. ARISTOTELES;
Poet. 1451 b 37.

599
Geschichte II. 1. Terminologie

ria 21 • Die Fälle, in denen ausschließlich die Geschichte und gar nicht die Historie
gemeint ist, sind ganz selten. CICERO meint etwa einmal, die historia Romana sei
obscura (weil ein gewisser Name nicht überliefert ist). AUGUSTIN unterscheidet,
von seinen theologischen Voraussetzungen her, zwischen narratio historica und
historia ipsa 22 • In der Regel kann man kaum zwischen „Historie" und „Geschichte"
unterschieden haben. Eins war ohne das andere kaum denkbar, die Geschichte war
in der Historie enthalten, deren Funktion CICERO besonders klar formulierte als
testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis 23 •
RP.ariht.lich ist„ daß das Wort sehr häufig im Singular vorkommt und ohne Be-
stimmung durch Genetiv oder Adjektiv 24 • (Dabei wird das einzelne Geschichts-
werk oft im Plural als „Historien" bezeichnet.)
'Historia' war also durchaus ein Begriff, aber primär für die Form, für den Rahmen
und sekundär für das p;anze Paket von Handlungen, -Geschehnissen, Abläufen,
das darin enthalten war. Inhaltlich zielte es mehr auf die Summe der Ereignisse
als auf den Zusammenhang zwischen ihnen, der in der Form der Historie(n) her-
gestellt wurde. Es zielte nicht auf eine dynamische Bewegung, einen großen Strom,
in dem man seinen Ort bestimmen, dessen Einheit man annehmen, dessen Sinn
man suchen konnte. Die literarische Bedeutung blieb insgesamt und meist auch
in den einzelnen Belegen überwiegend. Es konnte offenbar, von AuRna.hmen abge-
sehen, keine eigene Bedeutung „Geschichte" für 'historia' geben. Die Ge1:1chichte
konnte sich nicht von der Bestimmung als Inhalt der Form Historie lösen.
Der Objektbereich von 'historia' konnte dabei die ganze Menschheit umfassen.
Man spricht von uow~ foroela, AUGUSTIN von historia gentium (welche viele Vor-
zeichen enthalte) 25 • Meist bezeichnet uow~ foroela eine Darstellung, die di11 Ge-
schichte mehrerer Völker behandelt26 •
Die Gattung historia umfaßte die verschiedensten Darstellungen, einschließlich
Genealogien und Lokalchroniken. Eine klare Abgrenzung hat es nicht gegeben 27 •

21 PoLYBIOS 1, 1, 2; CICERO, Divin. 1, 50; AUGUSTIN, De civ. Dei 5, 12, 13. Vgl. DIONYS

VON IIALIKARNASS 1, 3, l; CICERO, Divin. 1, 38; De orat. l, 165; 2, 265; PROPERZ 3, 4, 10;
3, 22, 20; Pumus, Ep. 7, 9, 8; FRoNTO, p. 106, 4 Naher.
22 CICERO, Rep. 2, 33; AUGUSTIN, De doctrina chrisLiana 2, 28 (44), CO Ser. Lat., Bd. 32

(1962), 63 (vgl. ders., lDe civ. Dei 10, 32, 3, wo historia etwa so gebraucht wird, wie wir
heute vom „Buch der. Geschichte" sprechen können, in qua ita narrantur praeterita). Vgl.
CICERO, Fin. 5, 5; evtl. Brutus 44; GELLIUS 3, 3, 8.
23 CICERO, De orat. 2, 36. Vgl. PLINIUS, Ep. 9, 27, 1: quanta potestas, quanta dignitas,

quanta maiestas, quantum denique numen sit historiae.


24 Vgl. die lateinischen Belege im TLL Bd. 6/3, 2835 f.
25 DIONYS VON IIALIKARNASS 1, 2, l; AUGUSTIN, De civ. Dei 6, 5 (7); 21, 8. Vgl. 10, 16.

FLoRus sagt in der PraefaLio !!einer „Epitome rerum Romanarum", Rom habe seine
Macht so weit erstreckt, ut qui res illius le,gunt, non unius populi, sed generis humani fata
condiscant.
26 DIONYS VON HALIKARNASS, Pomp. 3; uowai :n:ed~et~: DIODOR 4, 1, 3; 5, 1, 4; 11,

37, 6.
27 PoLYBIOS 9, 1, 2 ff.; FELIX JACOBY, Über die Entwicklung der griechischen Historio-

graphie und den Plan einer neuen Sammlung der griechischen Historikerfragmente, Klio 9
(1909), 88, Anm. 4. 96, Anm. 1.

600
II. 2. Historia-Begriil und „Geschichts"vorstellungen Geschichte

Als Titel steht 'historia' in Konkurrenz mit zahlreichen anderen, vor allem mit den
Bildwgen vom Typ 'E).).riviua, Koewfhaua etc. CAssrns Drns römische Geschichte
wird sowohl als 'Pwµmua wie als 'Pwµaiu-Yj lcn:oela zitiert 28 • Aber so sehr die Gat-
tung - zumal in der Behandlung einzelner Städte und Länder - auch weiter
Geographisches und Ethnographisches einschloß, so deutlich ist doch innerhalb
des historischen Bereichs die Konzentration auf die Ereignisgeschichte. Der Ter-
minus ist also nicht auf die Philosophie„geschichte", die „Geschichte" der Erfin-
dungen u.ä. ausgedehnt worden 29 • Er blieb inhaltlich im Ganzen auf die politisch-
militärischen :n:ea~eir; beschränkt.
Auffällig ist, daß man in Rom das Bedürfnis verspürte, 'historia' von 'annales' zu
unterscheiden, übrigens nach recht verschiedenen Kriterien 30•
Sicher war mit 'historia' vor allem ein hoher literarischer Anspruch verbunden,
CICERO nannte sie opus . . . oratorium maxime, QuINTILIAN carmen quodammodo
solutum 31 • Man grenzte sie gegen kunstlose „Aufzeichnungen" ab (v:n:oµvfiµm:a,
commentarii) 32 • Wenn etwa Cicero und Lukian theoretisch über historia refl:ektier-
ten, so hauptsächlich darüber, wie man sie schreiben sollte. Dabei ging es auch um
das Gebot der Wahrheit, aber mehr darum, daß man sich daran halten soll, als
rlarnrn, wie man sie ermittelt33 .

2. Historia-Begrift' und „Geschichts"vorstellungen

Man kann der Ant.ike nicht nachtrii.glioh einen Geimhiohtsbegriff imputieren. Wohl
finden sich dort gewisse Entsprechungen zu Auffassungen, die heute als „Ge-
schichtsauffassung" firmieren und im Geschichtsbegriff Platz gefunden haben.
Aber zur antiken Vorstellung von 'historia' gehören sie bestenfalls insofern, als sie
gewisse Inhalte gliedern und summarisch verstehen helfen, die in der Form, auf

28 E. ScHWARTZ, Art. Cassius Dio, RE Bd. 3 (1897), 1685.


29 Auch wenn solche technischen Fortschritte, die in der politischen Geschichte eine Rolle
spielten, in der Historie natürlich erwähnt werden konnten, vgl. PoLYBIOS 9, 2, 5; 10,
47, 12.
30 GlllLLIUB 5, 18; Smi.vrns ad Aon. 373. fuTTHI.As GELZER, Der Anfang römischer Ge-

schichtsschreibung, Kl. Sehr„ hg. v. Hermann Strasburger u. Christian Meier, Bd. 3


(Wiesbaden 1964), 93.
31 CICERO, Leg. 1, 5; vgl. KARL-ERNST PETZOLD, Cicero und Historie, Chiron 2 (1972),

253 ff.; QuINTILIAN 10, 1, 31; vgl. STRASBURGER, Wesensbestimmung, 27; KARL KEUCK,
Historia. Geschichte des Wortes und seiner Bedeutungen in der Antike und in den roma-
nischen Sprachen (phil. Dis1:1. Münster 1934), 16 .0:.
32 Dies wird am besten an der Ausnahme deutlich, die die Regel bestätigt: CICERO,

Brutus 262. Vgl. LUKIAN, Hist. conscr. 16. Andererseits konnte PoLYBIOS seine His-
torien auch vnoµvfiµm:a nennen, 1, 35, 6.
33 z.B. CICERO, De orat. 2, 15. 62; QuINTILIAN 10, 1, 102; LUKIAN, Hist. conscr. 39:

einzige Aufgabe des Historikers, zu sagen, wie es gewesen (ror; i:n:eax'°'1J el:n:eiv); dazu dann
aber 50 f.; FRITZ WEHRLI, Die Geschichtsschreibung im Lichte der antiken Theorie, in:
Eumusia, Fschr. ERNST HowALD (Erlenbach/Zürich 1947), 54 ff.

601
Geschichte II. 2. Bistoria-BegriH und „Geschichts''vorsteilungen

die dieses Wort primär zielt, enthalten sind. Man muß von dem ausgehen, was die
Antike unter 'historia' verstand.
Der Inhalt, der in der Form 'historia' enthalten ist und den das Wort zugleich
meinen kann, wurde vor allem von der politisch-militärischen Ereignisgeschichte
ausgemacht. Es ging einerseits um denkwürdige Taten, Ereignisse, Schicksale (aus
denen man für das politische Handeln - und auch Leiden34 - etwas lernen konnte,
die in Rom als exempla35 interessant waren; an diese „Einzelheiten" dachte man,
wenn man von historia magistra vitae sprach; sie machten das Genus ästhetisch
anziehend 36). Andererseits ging es um Rekonstruktion und historisches Verständnis
länger.er Abläufe (literarisch in Monographien oder historiae perpetuae 37 ). Diese
aberbestanden, zwar nicht ausschließlich, wie gleich zu zeigen, aber doch wesent-
lich nur in der Verknüpfung der Ereignisse. Das heißt: das Ganze solcher Ge-
schichten von Städten, Völkern, Reichen oder auch der allgemeinen Geschichte
mehrerer Völker war kaum mehr als die Summe seiner Teile. Wie bewußt auch
immer: man fand hier einen Bereich menschlicher Praxis, unter ganz bestimmten
Bedingungen, mit ganz bestimmten Wirkungen und machte ihn zum Gegenstand
von Forschung und Darstellung. Diese Art der Geschichtswahrnehmung und
-schreibung entsprach recht genau der antiken Art der Geschichte, und zwar von
Anfang an. Denn es war nicht einfach ein Ergebnis höherer Kultur und breiLereu
wissenschaftlichen Interesses oder eine spät eintretende Nachwirkung des homeri-
schen Epos 38 , sondern insbesondere auch eine Konsequenz der besonderen Be-
schaffenheit des ~iechischen Lebens, wenn im 5. Jahrhundert eiu ganz neuartiges
Interesse an Ereignisgeschichte erwachte 39 • In den breiten Kreisen von Bürgern,
die in den, z. T. schon demokratischen, Poleis an der Politik ~erantwortlich und
betroffen beteiligt waren, entstand ein besonderer Sinn für politisch-militärisches
Geschehen. Politik erhielt - durch die neuartige und ungewöhnlich starke Be-
tonung politischer Zugehörigkeit - einen ganz neuen Stellenwert, sie intensivierte
sich, ungeahnte Möglichkeiten zu handeln, zu planen, zu verändern wurden frei-.
gesetzt. Politische Ordnung erschien plötzlich als machbar. Infolge davon ent-
stand ein neues Bedürfnis nach Orientierung in der Politik, entstand breithin
Sachverstand und Kritik. Politik konnte nicht mehr nur ah Serie von großen
Taten, Veränderung nicht mehr nur als Ausdruck tieferer Sinnzusammenhänge
(etwa der schicksalhaften Verkettung von Schuld und Siihne oder von Auf- und
Abstieg) erscheinen. Politik konnte auch nicht mehr einfach in problemloser
Routine weiterb!ltrillben werden. So konnte und mußte l'olitik von außen und
doch sachverständig beurteilt werden, ließen sich nicht nur engere, sondern auch
weitere Zusammenhänge „nur noch historisch erklären" 40. So konnte denn auch

34 PoLYBIOS 1, 1, 2.
35 GELZER, Kl. Sehr., Bd. 3, 95 f. 285. Vgl. ebd., Bd. 2 (1963), 365; Bd. 3,234, Anm.48.272.
88 Cwimo, De orat. 2, 36; vgl. STRASBURGER, Wesensbestimmung, 27.

37 CICERO, Ad fam. 5, 12, 2.


38 So zuletzt sehr betont STRASBURGER, Wesensbestimmung, u. ders., Homer und die

Geschichtsschreibung (Heidelberg 1972).


39 Vgl. MEIER, Historie, auch zum Folgenden.

40 Dazu.HERMANN LÜBBE, Was heißt: „Das kann man nur historisch erklären"?, in:

KosELLECK/STEMPEL, Geschichte (s. Anm. 5), 542 ff.; MEIER, Historie, ebd., 265 ff. 268 ff.
295 ff.

002
II. 2. Bistoria-Begrift' und „Geschichts"vorstellungen Geschichte

die Kontingenz des politisch-militärischen Geschehens plötzlich zum Prinzip


generationenübergreifender Rekonstruktionen werden. So wurde ereignisgeschicht-
liche Betrachtung literaturfähig. Der Öffentlichkeit der breiten Kreise von Freien
und Gleichen entsprach die Veröffentlichung größerer Gesc.hichtswerke.
Die Festlegung der Historie auf die Ereignisgeschichte ist dann in den. folgenden
Jahrhunderten befördert worden durch die Vorbilder des Epos und des Thukydi-
des, durch die daran anknüpfenden Regeln der Gattung. Sie ist aber keineswegs
einfach aus der Iristitutionalisierung bestimmter Interessen und Erwartungen
unter Historikerh und ihren Lesern zu verstehen. Denn die Ereignisgeschichte
blieb - auch sofern die Bürgerschaften aktiv weniger daran teilnahmen - einer-
seits die zentrale Sphäre interessanter Schicksale und wichtiger Identifikationen.
Die gesellschaftliche und die politische Seite des Lebern> blir,b1m fiir alle Maß-
gebenden engstens miteinander verknüpft, den politischen konkurrierende Zuge-
hörigkeiten und Identitäten spielten keine große Rolle 41 . Andererseits blieb die
Ereignisgeschichte die einzige Sphäre wichtiger, interessanter, wahrnehmbarer
Veränderung. Denn vom Intellektuellen, Technischen, Wirtschaftlichen, Sozi~len
her haben sich die Lebensbedingungen in der Antike (nach den frühen, prägenden,
aber nüitorisch wenig bezeugten Zeiten 42 ) relativ wenig gewandelt. Wohl hat man
einige prozessual entstehende Veränderungen in der Historiographie berücksich-
tigt, aber zumeist nur als Ergebnisse, nur gelegentlich oder neben dem historischen
Zusammenhang. Die geschichtliche Dynamik war im Ganzen so schwach, daß sie
die Schwelle nicht überwinden konnte, jenseits derer sie sich erst der herkömm-
licnen Hüitorie als Teil der Geschichte hätte aufdrängen können. Es gab kaum
tiefere Veränderungsprozesse jenseits des politisch-militärischen, Bühnengesche-
hens, die größere Teile der Menschheit unabhängig von ihrer politischen Gliederung
zum Träger oder Thema einer „Geschichte" hätten werden lassen.
Daß die antike Historiographie die Welt relativ so wenig historisch nahm, war also
wesentlich auch durch einen Mangel an Geschichte bedingt. Man muß sich die
„Zwischenlage" der Antike wenigstens grob deutlich machen. Man sah damals
nicht mehr im Sinne alter orientalischer Vorstellungen Politik und Natur in eins,
nahm nicht etwa mehr eine feste Zuordnung von Zeit und politischer Ordnung vor.
Vielmehr wurde die Welt von Polis und Politik aus der sie umgebenden Natur
herausgelöst43 • Die Zeit war nicht mehr die Zeit bestimmter politischer Gebilde,
die sich für die Welt hielten, und noch nicht die Zeit einer unabliä.ngig von politi-
scher Gliederung anscheinend im Fort.<icnritt begriffenen Menschheit. So klaffte,
was sich in der Neuzeit zu verschiedenen Teilen eines Geschichtsbegriffs integrierte,
was die Geschichte vornehmlich als einen umfassenden Wandlungsprozeß erkennen

41 Der Begriff 'Zugehörigkeit' muß an anderem Ort erläutert werden. Zur Sache: MAx

WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft (Ausg. Köln, Berlin 1964), 1026 ff.; MosEs 1. FmLEY,
The Ancient Economy (London 1973).
42 Diese verbleiben eigenartigerweise zwischen den konstruierten Kulturentstehungs-

lehren und den. historisch besser bezeugten Zeiten in einer Art Niemandsland: es handelt
sich etwa um die Zeit vom 10. bis zum 6. Jahrhundert, aus der die griechische Überliefe-
rung relativ wenige Zeugnisse bewahrte. Später war den Griechen ihre Eigenart so selbst-
verständlich, daß sie sich für deren Entstehung kaum interessierten.
43 CHR. MEIER, Entstehung des Begriffs 'Demokratie' (Frankfurt 1970), 19 ff.

()03
Geschichte Il. 2. Historia-Begrift' und „Geschichts''vorstellungen

ließ, in der Antike auseinander. Zwischen der Ereignishistorie (nachdem sie einmal
entstanden war) und den großen Geschichtsspekulationen nach Art der Weltalter-
lehre Hesiods oder der Weltzyklen Platons 44 gab es keine Annäherung, keine Ver-
bindungsglieder. Es gab keinen übergeordneten Gesichtspunkt, unter dem, und
keine gesellschaftliche Alternative, von der her Geschichtsspekulation, -erwartung,
Geschehen und Historie hätten zusammenkommen können. Mindestens in der Zeit
der heidnischen Antike ist keine gesellschaftliche Gruppe je in die Lage gekommen,
ihren Aufstieg historisch zu verstehen und zu legitimieren, Orte in der Geschichte
zu be1:1Li11umm (uml Vergleiche .zwischen verschiedenen, größeren'.' Abläufen ziehen
zu können). Nur im 5. Jahrhundert finden wir bei THUKYDIDES eine Ortsbestim-
mung im Blick auf die Entwicklung der Macht- und Größenverhältnisse in der
griechischen Geschichte 46 • Aber das blieb - wie die Bewegung umwälzender
Neuerung, zu der es gehörte 46 , - Ausnahme und ohne Nachwirkung. Dieser Mangel
an historischem Sinn, an temporaler Mediatisierung 47 hing eng zusammen mit
einer bestimmten Form gesellschaftlicher Gleichzeitigkeit und Kapazität, der
„Konkretheit" und geringen Ideologiefähigkeit, um von weiteren Interdependen-
zen zu schweigen.
Die Grenzen antiker Geschichtswahrnehmung wirk1m sich auch in den allgemei-
neren Konzeptionen geschichtlicher Abläufe und Zusammenhänge aus. Herodots
Vermutungen etwa über den Zusammenhang von '.l'un und Ergehen beziehen sich
nur auf die Auf- und Abstiege je einzelner Menschen, Dynastien, Reiche 48 • Die
Behauptung, daß in Rom auf Mißerfolg immer neue Erfolge gekommen seien,
verknüpfte nur einzelne Ereignisse 49 • In diesen und ähnlichen Auffassungen werden
also nur eLwas größere Zusammenhänge als in der üblichen Behandlung der Er-
eignisse beobachtet oder vermutet. Wie dort die Politik, so werden hier eigenartige
Zusammenhänge und Schicksale politischer Größen zu verstehen gesucht. Von

44 Vgl. dazu den Abschnitt „Geschichte und Ontologie" bei KONRAD GAISER, Platons

ungeschriebene Lehre, 2. Aufl.. (Stuttgart 1968). Besonders interessant PLATON, Nom.


677 c. d: die Beobachtung von Fortschritten als Beleg für die Notwendigkeit, angesichts
der unermeßlichen Zeit mit kulturvernichtenden Katastrophen zu rechnen.
45 THUKYDIDES 1, 2 :ff.
46 - Fortschritt, Bd. 2, 355 :ff.
47 Man hat zwa1· viele ArLen von t1t111ktu1'flllim Zusa.mmenhängen erkannt, etwa zwischen

Musik, Moral und Verfassung -- FmTZ SOIIACIIERMEYR, Damon, in: Beiträge zur Alten
Geschichte und deren Nachleben, Fschr. Franz Altheim, hg. v. RuTH STIEHL u. HANS
ERICH STIER, Bd. 1(Berlin1969), 192 :ff.-, zwischen Verfassung und Rhetorik -TACI-
TUS, Dialogus de oratoribus - , zwischen Wirtschaft, Technik und Kriegführung -
THUKYDIDES 1, 2 ff. -, zwischen Demographie und Verfassung - .ARISTOTELES, Pol.
1286 b 8 ff. -, zwischen allgemeinem Wohlstand und dem Niedergang wissenschaftlicher
Leistung - PL1mus, Nat. hist. 14, praef. Allein, diese Feststellungen blieben eigen-
tümlich vereinzelt und selten, geschweige denn, daß sie zur Annahme einer umfassenden
Veränderung zusammengeballt worden wären.
48 MEIER, Historie (s. Anm. 5), 277 :ff. mit weiterer Literatur. ,
49 AMMIANUS MARCELLINUS 31, 5, 10-16; FRIEDRICH VITTINGHOFF, Zum geschichtlichen

Selbstverständnis der Spätantike, Rist. Zs. 198 (1964), 549 f. 560; MANFRED FUHRMANN,
Die Romidee der Spätantike, Rist. Zs. 207 (1968), 551. Vgl. ebd., 536, Anm. 22. 553 f.
zum crescere posse malis des RUTILIUS NAMATIANUS.

604-
Il. 2. Historia-Begrül' und „Geschichts"vorstellungen Geschichte

einem Begreifen von Geschichte kann man kaum sprechen, nur von einem Nach-
vollziehen ihres ereignishaften Ganges im Kleinen und Großen.
Die griechische Geschichte konnte von Anfang an und der politischen Gliederung
entsprechend nur multisubjektiv aufgefaßt werden. Es gab da keine Einheit, kein
Subjekt, dessen langfristiger Wandel als „Geschichte" hätte begriffen werden
können. Der Rahmen, in dem alle historischen Bewegungen sich vollzogen, blieb
sich mehr oder weniger gleich50 . In ihm mochten sich Reiche ablösen, Situationen
und Ereignisse wiederholen 51 . Die Zeit war nicht an einzelne Gebilde gebunden.
Insofern konnte sie - außer in den weit über die Dinge hinausgreifenden, Jahr-
hunderte umfassenden Spekulationen von Philosophen - nicht als zyklisch auf-
gefaßt werden. - Und wenn dies in Rom nachher anders war, so haben doch
gerade die Römer sich ihre Geschichte nicht als einen Kreislauf vorzustellen ver-
mocht52.
Die Vorstellung von vielen neben- und nacheinander sich vollziehenden Abläufen
hat auch PoLYBIOS gehabt. Die Einheit der Geschichte, die er beobachtet, soll
zwar durch einen Plan (oluovoµla) gestiftet sein53, aber dieser wird auf Tyche
zurückgeführt 54 . Die Verknüpfung der Vorgänge der ganzen Welt war die größte
unter den stets neuen Überraschungen, die Tyche üblicherweise bereitet55 . Die
Ausgangspositionen waren durcha.1rn kontingent56, ein tieferer Sinn wird in dem
„Drama" nicht .gesehen. Eine historische Beziehung zu früheren Reichen wird
nicht hergestellt (nur ein statischer Vergleich mit ihnen erfolgt 57). Wie es weiter-
geht, ist offen, nichts spricht dafür, daß die allseitige Verknüpfung der Hand-
lungen und Ereignisse von Dauer sein soll58 . Gleichgültig also, ob Polybios Tyche
mehr als Zufall oder als Wirken göttlicher Mächte versteht 59 , diese Einheit eines
Stücks Geschichte weist nicht auf eine irgendwie geartete Einheit der Geschichte.
Mit einer solchen Einheit rechnet dann der Fortsetzer seines Werks, der Stoiker
PosEIDONIOS. Man führt auf ihn wohl zu Recht folgende Äußerung zurück: der
Historiker müsse danach streben, die ganze Menschheit (navn:r; lJ.vf}ewnot} in ihrer

5o Vgl. für Herodot: MEIER, Historie, 286 ff.


51 Vgl. etwa AURELIUS VICTOR, Liber de Caesaribus 35, 13.
52 VITTINGHOFF, S11lhstverständnis, 541. 572 ff. Allgemein: ARNALDO MoMIGLIANO, Time

in Ancient Hi~Loriography, History and Theory, Beih. 6 (1966), 1 ff.


53 POLYBIOS 1, 4, 3; 3, 32, 9; 8, 2 (4), 2; 9, 44, 2.

u Ebd. l, 4, 1 ff. Vgl. 1, 1, 5; 3, l, 10; 6, 2, 3; 8, 2 (1.), 3 f.


55 KmvonoieiafJai: ebd. 1, 4, 5; 4, 2, 4; 9, 2, 4.

58 Vgl. auch MoMIGLIANO, Ancient Historiography, 18 f.


s? PoLYBios 1, 2.
58 Vielmehr sieht PoLYBIOS schon eine neue Umwälzung der römischen Verfassung voraus

(6, 9, 12 ff.). Vgl. 3, 4, 7 (wo an die Zeit gedacht wird, in der das römische Reich schon
historisch ist) sowie 3, 4, 12 - 5, 6: nach cler E!'Uberung entsteht wieder r:aeaxT/ ual ulv11atr;
(3, 4, 13), d. h. die Peripetie kündigt sich schon an. So schwierig diese Stelle zu inter-
pretieren ist - vgl. FRANK WILLIAM W ALBANK, A Historical Commentary on Polybios,
vol. 1 (Oxford 1957), 302 f. - , so liegt diese Zeit doch wohl schon nach dem „überein-
stimmend. festgestellten Ende" der einheitlichen Geschichte (3, 1, 4 f. Vgl. 1, 4, 3:
avvdkta). Nichts spricht dafür, daß Polybios mit einer Folge von Weltreichen rechnete.
59 Vgl. dazu KURT v. FRITZ, The Theory of the Mixed Constitution in Antiquity (New

York 1954), 388 ff.; KoNRAT ZIEGLER, Art. Polybios, RE Bd. 21/2 (1952), 1532 ff.

605
Geschichte n. 2. Historia-BegrUr und „Geschichts''vorstellungen
Verwandtschaft wie in ihrer örtlichen und zeitlichen Getrenntheit unter ein und dieselbe
(darstellende) Ordnung ( uvv-ragir;) zu bringen und dadurch gleichsam zu einem Organ
der göUlichen Vorsehung zu werden. Denn wie diese die Ordnung der Gestirne am
Himmel und die menschlichen Naturen zu einer gemeinsamen Analogie vereint, in
aller Ewigkeit im Kreislauf treibt, indem sie jedem das ihm vom Schicksal Zukom-
mende zumißt, so machen die, die die gemeinsamen Geschehnisse der Welt ( ai "otval
t:fjr; ol"ovµevT}r; ne6.geir;) als wie einer einzigen Stadt aufzeichnen, ihre Darstellung zu
einer einheitlichen Rechenschaft und zu einem gemeinsamen Verwaltungsamt des
Geschehens 60 • Wir besitzen von Poseidonios nicht ·genug, um zu sehen, wie weit er
diese Erkenntnis zum Programm seiner Geschichtsschreibung gemacht und wie er
es gegebenenfalls ausgeführt hat .. Die „Sympathie" zwischen Kosmos und Ge-
schichte spricht dafür, daß die Geschichte nicht einem Ziel zustrebt. Ihre einheit-
liche Ordnung müßte dann eher die Regel im Wechsel der Kreisläufe bedeuten.
Dann würde hier im Grunde eine ähnliche Auffassung der geschichtlichen Welt
wie bei Herodot vorliegen. Das würde dazu passen, daß damals der zunehmenden
Vereinigung der bekannten Welt unter Roms Herrschaft die zunehmende Krise
der Republik korrelierte 61 • Vermutlich blieb es also für Poseidonios bei den Ge-
schichten - als Teil und im Rahmen einer philosophisch postulierten übergreifen-
den Ordnung. Es wäre dann hier mehr Ordnung, mehr Vorsehung, aber weniger
Zusammenhang zwischen den Ereignissen angenommen als bei Polybios.
Etwas anders lagen die Dinge in Rom. Die dortige Historiographie war von vorn-
herein auf die Geschichte eines einheitlichen Subjekts konzentriert. Sie sollte Roms
Erfolge erklären, seine Expansion und seine Ansprüche legitimieren (und da~m die
Beispiele der Väter weitergeben) 62 • Dazu benutzte man die Geschichte vor allem
als Arsenal. Sie enthielt die Verkündigung des vergöttlichten Romulus: caelestes
ita velle, ut mea Roma caput orbis terrarum sit63 ; weiter die historische Begründung
der Güte der römischen Verfassung 64, nicht zuletzt die unzähligen exempla der virtus
und Überlegenheit römischer Feldherrn und Soldaten und der Weisheit römischer
Staatsmänner65 • Der Ablauf der Geschichte mit der langen Reihe von Erfolgen,
der schrittweisen Eroberung der Welt bot zugleich die Bestätigung für die Richtig-
keit dieser religiösen, moralischen und politisch-militärischen Feststellungen. Inso-
weit blieb auch die römische Historie im Ganzen auf die Ereignisse orientiert, nur

60 DIODOR 1, 1, 3. Vgl. KARL REINHARDT, Poseidonios (Münohen 1921), 32 f.; ders.,

Kosmos und Sympathie (München 1920), 184. Die Über"Hetzung in Anlehnung an Rein-
hardt und MAx PoHLENZ, Die Stoa, 4. Aufl. (Göttingen 1970), 213 f.
61 Vgl. H. STRASBURGER, Poseidonios on Problems of the Roman Empire, Journal of

Roman Studies 55 (1965), 40 ff.


62 GELZER, Kl. Sehr.; Bd. 3, 51 ff. 95 ff. 258. DIETEU TIMPE, Fabius Pictor und die Anfänge

der römischen Geschichtsschreibung, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt,
hg. v. HlLDEGARD TEMPORINI, Bd. 1/2 (Berlin, New York 1972), \128 ff.
63 LIVIUS 1, 16, 7. Vgl. 1, 55, 5 f.; 5, 54, 7.

6 4 CICERO, Rep. 2, 1 ff. .


65 Vgl. etwa LIVIUs 9, 17-19; praef. 9 ff.; HANS DREXLER, Die moralische Geschichts-

auffassung der Römer, Gymnasium 61 (1954), 168 ff., bes. 172 ff.; VIKTOR Pöscm., Die
römische Auffassung der Geschichte, Gymnasium 63 (1956), 190 ff. Zur Nachwirkung
VINZENZ BucHHEIT, Christliche Romideologie im Laurentius-Hymnus des Prudentius, in:
Polychronion, Fschr. Franz Dölger, hg. v. PETER WIRTH (Heidelberg 1966), 128 ff.

606
D. 2. Historia-Begriß' und „Gescbichts"vorstellungen Geschichte

eben mit besonderen Interessen und indem sie diesen und ihrer Aufeinanderfolge
einen besonderen Sinn abgewann.
Gerade nach den Erfolgen und in der daraus resultierenden Erfolgsgewißheit 66 gab
dann aber. die Verschränkung der immer weiter ausgreifenden Expansion mit der
Krise und dem Sittenverfall der spätrömischen Republik sowie der Übergang von
der in höchstem Ansehen stehenden republikanischen Verfassung Roms zum
Kaisertum zu denken.
Für die „Geschichts"auffassung ist vor allem eine der in dieser Situation gefun-
denen Antworten interessant: der Lebensaltervergleich. Seit der späten Republik
sind Einteilungen der römischen Geschichte nach den Altersstufen des Menschen
bezeugt67 • Sie ermöglichten eine Gliederung und vor allem eine Bestimmung des
eigenen Ortes in Hinsicht auf die römische Geschichte. In den wechselhaften
Wendungen dieser für sich betrachteten umfassenden Geschichte bestand offenbar
ein Bedürfnis danach. Der Lebensaltervergleich ermöglichte auch eine relative
Aufwertung der eigenen Spätzeit, indem man sich auf die Vorzüge des Alters be-
sann, in dem die römische Geschichte zur Vollendung kam. Vom Tode Roms ist
dabei nicht die Rede, jedenfalls nicht in he1dmscher Z.eit68 •
Eine andere Antwort auf die Vermutung des Zuriickhleib!'lnR hint,P.r i!P.r großP.n
Vor:r.eit ist die Relativierung der Vorzüge dieser Zeit zugunsten einer Pro und
Contra differenzierter abwägenden Geschichtsbetrachtung: nisi /orte rebus cunctis
inest quidam velut orbis, ut quemadmodum temporum vices, ita morum vertantur; nec
omnia apud priores meliora, sed nostra quoque aeta.9 multa laudis et artium imitanda
posteris tulit, heißt es bei TACITus 69 •
Naoh den Untergangsä.ngsten der späten Republik und der Bürgerkriegs.zeit -
LuKREZ rechnet sogar mit einem Unfruchtbarwerden der Äcker 70 - wurde be-
hauptet, Augustus habe die „aurea aetas" wiederhergestellt. VERGIL legte Jupiter
die Verheißung eines imperium sine fine, und zwar zeitlich wie räumlich unbegrenzt,
in den Mund. Der Auftrag des regere imperio populos ... pacique imponere morem
zielte also offenbar auf eine ewige Herrschaft 71 •
Schon einige Zeit vorher, im frühen 2. Jahrhundert v. Chr., war eine andere Ge-
schichtskonzeption nach Rom übernommen worden, die Vier-Reiche-Lehre, die
ihren bekanntesten Ausdruck im Buch Daniel gefunden hat, die aber in Wirklich-
keit offenbar bei den Persern müer griechischer Herrschaft entwickelt worden ist,
anknüpfend an das Drei-Reiche-Schema, in dem der Grieche Ktesias im 4. Jahr-
hundert in seinen „l'ersika" die assyrische, medische und persische Geschichte ge-
schrieben hatte. In ihrer ursprünglichen persischen und jüdischen Form spekulierte

66 Vgl. Lrvros l, 16, 7.


67 REINHARD lliuSSLER, Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs, Hermes
92 (i964), 313 ff.; VITTINGHOFF, Selbstverständnis, 557 ff.; ANTONIO TRUYOL y SERRA,
The Idea of Man and W orld History from Seneca to Orosius and Saint Isidore of Seville,
Cahiers d'histoire mondiale 6 (1960), 698 ff.
68 Bei Livms (welcher den Vergleich nicht hat) heißt es einmal, man müsse sehen, daß

die Kräfte der Bürgerschaft, welche unsterblich sein soll, nicht altern (6, 23, 7).
69 TACITUS, Ann. 3, 55, 5; vgl. den Dialogus de oratoribus.

70 LUKREZ 2, 1173 f.
71 VERGIL, Aen. 1, 279; 6, 851 f.; zur „aurea aetas" ebd. 6, 791 ff. Vgl. Livms 4, 4, 4;

6, 23, 7.

607
Geschichte II. 2. Historia·Degrift' und „Gesehichts"vorstellungen

diese (zunächst oppositionelle) Lehre auf den Untergang des vierten und letzten
Reiches 72 • Wie und wie weit dieses Ende in Rom weggedacht worden ist und wie
weit die Gleichsetzung des römischen mit dem vierten Reich einherging mit der
Annahme, daß sich im römischen Reich „die Geschichte" vollende - oder wie weit
diese Lehre nur eine äußerliche Gliederung der Weltgeschichte ermöglichen
sollte -, ist nicht mehr auszumachen.
Mindestens in der Kaiserzeit muß dann aber verschiedentlich mit der Vollendung
der Geschichte im römischen Reich gerechnet worden sein. Dieser Gedanke ist
gewiß verknüpft gewesen mit dem im 2. Jahrhundert n. Chr. vorhandenen Be-
wußtsein, daß man unter den segensreichen Wirkungen der pax Romana auf vielen
Gebieten einen noch nie dagewesenen Stand erreicht habe 73 • Er verband sich mit
den mannigfachen Vorstellungen von der Ewigkeit Roms und seiner Herrschaft,
die in ideologischer Versteifung noch fest gehegt und verfochten wurden, als längst
die SympLume für ilie HiufälligkeiL u.m1 Reiehes überall sichtbar wurden 74 •
Gerade in der Auseinandersetzung mit den Christen hat man sich darauf besonnen.
Innerhalb des die ganze (Mittelmeer-)Welt umfassenden römischen Reiches hatte
sich offenbar die Vorstellung von Geschichte so stark mit Rom verknüpft, daß eine
nieht- oder naehrömische Geschichte kaum mehr denkbar war. Übrigens konnten
auch die Christen sich dieser Grundgegebenheit kaum entziehen. 81; Rnmn, pp,rit,
quid salvum est? fragt HIERONYMUS 75 • Die Christen wandten gegen die Heiden ilie
Endlichkeit der Geschichte ein. Sie sahen im Lebensaltervergleich auch ein Zu-
geständnis des bevorstehenden UntcrgangR rleR römischen Reiches 76 • Aber der
eschatologische Gesichtspunkt trat im Laufe der Zeit zurück, er ließ jedenfalls
Raum für eine eigene Deutung der Geschichte innerhalb der christlichen Apolo-
getik.
Diese Deutung äußerte sich zunächst in der christlichen Chronographie, die eine
Art Philosophie der Geschichte enthielt 77 • In ihr prägte sich ein Modell providen-
tieller Geschichte aus, das von der Erschaffung der Welt, die jüdische Geschichte
entlang zu Christi Geburt verlief und in die Geschichte des römischen Reiches ein-
mündete. In ihm wurde eine Synchronisation zwischen biblischer und paganer

72 KTESIAS bei DIODOR 2, 1-34. Vgl. ALBrn LESKY, Geschichte der griechischen Lite-

ratur, 3. Au1l. (Bern, München 1971), 697 f.; JOSEF. WARD SWAIN, The Theory of the Four
Monarohies, Classical Philol. 35 (1940), 1 :II.; KLAUS KocH, Spätisraelitisches GeschichL~­
denk1m am ReiRpiel des Buches Daniel, Hist. Zs. 193 (1961), 1 :II.; KuRT LORENZ, Unter-
suchungen zum Geschichtswerk des Polybios (Stuttgart 1931), 15 (zum jüdischen Be-
arbeiter der sibyllinischen Sammlung); VITTINGHOFF, Selbstverständnis, 551 :II., insbe-
sondere zur Fortbildung der Lehre bei Orosius und Augustin. Zu Pompeius Trogus: ÜTTO
SEEL, Eine römische Weltgeschichte (Nürnberg 1972).
73 _,. Fortschritt, Bd. 2, 361.
74 THEODORE. MoMMSEN, St. Augustine and the Christian Idea of Progress, Journal of

the History of Ideas 12 (1951), 347; V1TTINGHOFF, Selbstverständnis, 547 :II.; FUHRMANN,
ßoinidee, 529 ff. Vgl. Anm. 71.
75 HIERONYMUS, Ep. 123, 16, 4.
76 VITTINGHOFF, Selbstverständnis, 538. 550 f. 560 f.
77 A. MoMIGLIANO, Pagan and Christian Historiography in the 4th Century, in: The Con-

flict between Paganism and Christianity, ed. A. MOMIGLIANO (Oxford 1963), 83 :II.; vgl.
VITTINGHOFF, Selbstverständnis, 535 :II. ·

608
D. 2. Historia-Begriff und „Geschichts"vorstellungen Geschichte

Geschichte vorgenommen. Dadurch wurde die Bestimmung des eigenen Ortes in


der von Gott gelenkten Geschichte möglich.
Als neue Gattung entstand die Kirchengeschichte, die die Christen wie ein eigenes
Volk nahm, dessen Historie sie sein wollte. Dabei spielten die Verfolgungen und
die dogmatischen Streitigkeiten eine besondere Rolle - sie wurden nun an die
Historie herangebracht, auch wenn die Historiographie der Kirche ein eigenes
Genre blieb 78 •
Die irdische Geschichte wurde von einigen Apologeten als einheitlich und sinnvoll,
weil von Gott gelenkt, verstanden. Es erschien als besondere Vorsehung Gottes,
daß Christi Geburt mit der Konsolidierung des römischen Reiches unter Augustus
zusammenfiel. Die Einigung der Welt unter einer Herrschaft erschien als von Gott
geplante Voraussetzung der christlichen Mission 79 • Andererseits wurden der Friede
und der Wohlstand des Reiches auf das Wirken Gottes zurückgeführt. Eben daß
es dem Reich seit Augustus relativ gut ging, erschien als Indiz für das Wirken
Gottes im Sinne Roms. Man verhieß weitere Besserung durch Ausbreitung des
Christentums, durch die Gebete der Gläubigen. Es entwickelte sich ein gewisser
Fortschrittsglaube 80• Origenes und Eusebios wandten messianische Prophetien
auf das rtlmfache Reic.h an 81 • Gelegentlich erscheint diese1:1 wie die Verwirklichung
dcR R.cichcA Gottes 11uf Erdcns2. Seit dem Apiitcn 2. ,fohrhundcrt finden wir die
Vier-Reiche-Lehre bei den Christen gegenüber Daniel derart modifiziert, daß Rom
das vierte Reich bildete, die Endphase der göttlich gelenkten Geschichte, das
um:ixov aus dem Thessalonicher-Brief des Paulus 83 • Man rechnete damit, daß dieses
Reich Bestand haben würde bis zum Auftreten des Antichrist. Insofern nahmen
viele Christen durchaus an der heidnischen Rom-Verehrung teil 84 - wenn sie auch
an die Ewigkeit Roms 11ieht ernsthaft glauben konnten. Dureh die Christianisierung
des Reiches unter Constantin wurden die in das römische Reich gesetzten Erwar-
tungen verstärkt, der Glaube an dessen providentielle Bestimmung wird sich stark
verbreitet haben. Angesichts der dann folgenden Niederlagen des Reiches, vor dem
Problem, ob diese durch den Groll der vernachlässigten heidnischen Götter bedingt
seien, belebte sich die Frage nach der göttlichen Lenkung der Geschichte noch
einmal. Orosius vermochte dann sogar das siegreir,he Anstiirmen der Germanen
und ihre Eroberungen in den göttlichen Heilsplan zu integrieren85 •
Allein, man darf über diesen und anderen Zeugllissen nicht übersehen, daß das
Nachdenken über die Geschichte, dieses, wie TERTULLIAN sagt, „Wandeln in der
Fremde", nur einen begrenzten Stellenwert in der damaligen Christenheit, hat.tP. 86 •

78 MoMIGLIANO, Historiography, 88 ff.


79 --+ Fortschritt, Anm. 53.
80 --+Fortschritt, Anm. 54 f. Dazu 0Rosrus, Historia adversus paganos 1, 14 ff.; CHARLES

NORRIS CocHRANE, Christianity and Classical Culture (Oxford 1940), 243 ff. zu dem da-
mals entstehenden Sinn für umfassende Veränderungen in der Geschichte.
81 MoMMSEN, Idea of Progress, 361 ff.
82 JOHANNES STRAUB, Christliche Geschichtsapologetik in der Krisis des römischen Rei-

ches, Ifäioria 1 (191JO), ()1 f.


83 MoMMSEN, Idea of Progress, 348 f.; VITTINGHOFF, Selbstverständnis, 554 f.
84 VITTINGHOFF, Selbstverständnis, 562; BucHHEIT, Christliche Romideologie (s. Anm. 65).
8 5 STRAUB, Geschichtsapologetik, 75.
86 TERTULLIAN, Apologeticum 19, 7. Vgl. AMos FuNKENSTEIN, Heilsplan und natürliche

39-90386/1 609
Geschichte m. 1. 'Historia' und 'res gesta'
Alles in allem genommen gehen die christlichen Vorstellungen der Geschichte nicht
weit über die heidnischen hinaus. Weithin werden die heidnischen Auffassungen
übernommen und christianisiert. Neu ist der Glaube, daß die Geschichte endlich
ist. Dies verändert zusammen mit den eschatologischen Erwartungen die Stellung
der Menschen in der Geschichte. Neu sind die Annahmen einer umfassenden Ver-
besserung der irdischen Verhältnisse, eines „Fortschritts" bei Eusebios, Orosius
und einigen anderen, die in konstantinischer Zeit wohl breitere Resonanz fanden,
aber vermutlich schon vor Augustin unter dem Druck entgegenstehender Evidenz
abzunehmen begannen. Neu ist schließlich das Verständnis der Geschichte als Werk
Gottes. Dies führte aber in der Spätantike hauptsächlich .nur zu einer neuen Be-
gründung der heidnischen Auffassung, daß das römische Reich das Ziel der Ge-
schichte sei (mindestens soweit sie sich auf Erden abspielt). Erst auf die Dauer
sollte daraus ein neues Potential der Sinnvermutung resultieren.
CHRISTIAN MEIER

m. Begriffsverständnis im Mittelalter
1. Zur Wortbedeutung von 'bistoria' und 'res gesta'
Mit einem dreifachen Bedeutungsinhalt, so wie er Cicero schon geläufig war, ver-
mittelte lsrnoR VON SEVILLA (ca. 560-633) dem Mittelalter durch seine Enzyklo-
pädie87 den Begriff 'historia'.
Den „Noctes Atticae" des Grammatikers Gellius und dem Vergilkommentar des
Grammatikers Scrvius konnte er die unter den veteres vorgenommene Eingrenzung
des .Begriffes entnehmen: 'Historia' ist Niederschrift nur dessen, was der Autor
selbst erlebt hat, ist also sicheres Wissen und besitzt infolgedessen höchsten Wahr-
heitsgrad. Dieses den Begriff charakterisierende Wahrheitsmotiv läßt sich bis ins
Hochmittelalter hinein verfolgen: historia est res visa, res gesta; historia enim grece
latine visio dicitur, unde historiogra/us rei vise scriptor dicitur 88 •
Die Beschränkung der historia auf die Zeitgeschichte lehnte Isidor in Übereinstim-
mung mit der Bildungstradition seiner Zeit jedoch ab, indem er die annales der
historia subsumierte. Folglich bezog sich 'historia' a) auf die_ Erkenntnisweise alles
Vergangenen: historia est narratio rei gestae ... , per quam ea, quae in praeterito
/acta sunt, dinoscunt'!tr 89 • Dabei ging die von Sempronius Asellio getroffene Akzen-

Entwioklnng. Formen der Gcgcnwartsbcstimmnng im Ceschichtsdenken des hohen Mittel-


alter!! (München 1965), 30. Bei liu>J:'OLYT äußert sich, um ein Beispiel zu nennen, „Miß-
trauen gegen ein Imperium, das eine Ökumenizität in Anspruch nimmt, die nur der Kirche
zukommt", ERICH PETERSON, Theologische Traktate (München 1951), 85 f. Vgl. seine
Deutnng, daß das römische Reich in „zehn Demokratien" zerfallen werde, auf die die
zehn Zehen der Füße am Standbild des Nebukadnezar-Traumes vorausweisen sollen,
SANTO MAzzARINO, Das Ende der antiken Welt, übers. v. Fritz Jaffe (München 1961), 38.
87 IsrnoR VON SEVILLA, ~tymologiae, bes. 1, 41--44, ed. W. M. Lindsay, vol. 1 (Oxford

1911).
88 KONRAD VON HmsAu, Dialogus super auctores, ed. R. B. C. Huygens (Berchem, Brüssel

1955), 17; vgl. auch ÜTTO VON FREISING, Gesta Friderioi imperatoris 2, 41, MG SS rer.
Germ. i. u. sch., 3. Aufl., Bd. 46 (1912), 150; WILHELM VON TYRus, Historia rerum in
partibus transni.arinis gestarum, Prologus; VINZENZ VON BEAUVAIS, Speculum doctrinale 3,
127.
89 ISIDOR, Etym. 1, 41, 1.

610
m. 1. 'Historia' und 'res gesta' Gesehlehte

tuierung im Unterschied zwischen den annales als einer Aufzählung bloß äußerer,
nicht mehr selbsterlebte.r Ereignisse und der historia als selbsterlebtem und deshalb
mit inneren Beweggründen darstellbarem Stoff dem Mittelalter zum Teil verloren.
Nur zum Teil deshalb, weil Ausführlichkeit in der Darstellung ein Kennzeichen
der historia blieb mit der Tendenz, über eine referierende Darstellung hinaus eine
belehrende Wertung mit dem Berichteten zu verbinden90 •
Der Wahrheitsanspruch des Selbsterlebten dehnte sich infolgedessen als Problem
auf die weiter zurückliegende Vergangenheit aus; an die Stelle der Augenzeugen-
schaft trat die mündliche Überlieferung91 oder die Ni!lderschrift der Vorfahren92 •
Das Erkennen bedient sich des schon Erkannten; insofern konnte sich 'historia'
b) als das gesicherte Wissen vom Vergangenen auch auf die Zeugnisse älterer Er-
k1mnt,nis übertragen93 ,
Weil die Quell.en Anspruch auf Wahrhaftigkeit erhoben, bzw. nur deswegen als
solche ausgeschöpft wurden, zählte c) auch der Erkenntnisgegenstand selbst zum
Begriff: historiae sunt res verae quae factae sunt94 • 'Historia' war also das gesicherte
Erkennen geschichtlicher Ereignisse oder das Zeugnis aus der Vergangenheit oder
das geschichtliche Einzelereignis wie auch die Gesamtheit dieser Ereignisse selbst.
Man kann nicht sagen, dem .l!'rühmittelalter sei das Bedürfnis nach dem gesicherten
Wissen voni Vergangenen völlig verlorengegangen, aber es wurde iiherlagert, vom
Moment des Wissenswerten überhaupt. Das Ereignis stand im Vordergrund und
weniger die Frage nach der zuverlässigen Kenntnis von Ereignissen. Nur so ist die
Austauschbarkeit von 'historia' und der aus dem Plural des Neutrums in die
feminine Singularfie:xion übergegangenen 'gesta' erklärbar.
Das allgemein Wissenswerte als Ziel war geeignet, die hißtorfooho Dimonoion doo
Erkenntnisgegenstandes zu sprengen, wie sich an drei Beispielen deutlich machen
läßt. Seit dem 9. Jahrhundert konnte 'historia' das auf einem Bild festgehaltene
historische Ereignis oder das Bild selbst meinen, woraus sich seit dem 13. Jahr-
hundert 'historiare', 'historier' oder 'storiare' im Sinne von „Herstellen einer bild-
lichen Darstellung" oder ganz allgemein von „Ausschmücken" bildete. Im Ver-
ständnis des Amalarius von Metz (t 850) bezog sich 'historia' auf einen der Bibel

90 ÜTTO VON FRETSTNG, Chronik 2, Prolog, MG SS rer. Germ. i. u. sch„ 2. Aufl., Bd. 45
(1912), 68: Nem,o a·utem a nob·i8 sentent·ias aut moralitates expectet; vgl. ebd. 6, 23, S. 286.
91 BEDA, Historia ecclesiastica, Praefatio, ed. Rert.ram Colgrave and R. A. B. Mynors

(Oxford 1969), 6: vera lex historiae est, simplicitcr ea quae jama vulgante oollegimus ad, in-
struetionem posteritatis litteris mandare studuimus.
9 2. WILHELMVONMALMESBURY, Gesta regum Anglorum 5, 445, ed. William Stubbs (London
1889; Ndr. o. 0. 1964), 518: Ego enim veram legem secutus historiae nihil unquam posui nisi
quod a fidelibus relatoribus vel scriptoribus addidici.
93 CICERO, Inv. 1, 27: historia est gesta res ab aetatis nostrae memoria remota.
94 IsrnoR, Etym. 1, 44, 5; auch RANULl!' HwuEN, Polychronicon 2, 18, ed. Churchill

Babington, vol. 2 (London 1869), 362 ff. Vgl. zum ganzen KEUCK, Historia (s. Anm. 31),
6 ff.; LAETITIA BoEHM, Der wissenschaftstheoretische Ort der historia im frühen Mittel-
alter. Die Geschichte auf dem Wege zur „Geschichtswissenschaft", in: Spcculum Histo-
riale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, Fschr.
Johannes Spörl, hg. v. CLEMENS BAUER/LAETITIA BoEHM/MAx MÜLLER (Freiburg,
München 1965), 672 ff.; mit reichen Belegstellen, aber nicht so klar BENOiT LACROIX,
L'historien au Moyen Age (Montreal, Paris 1971), 16 ff.

611
Geschichte m. ·2. Geschichtsschreibung: Klassifizierung, Erfahrungshorizont
entnommenen Bericht und auf Responsorien, die zum gesanglichen VurLrag im
Anschluß an die Lektionen aus Stellen des biblischen Berichts zusammengestellt
waren; im 12. Jahrhundert jedoch erscheint bereits das gesamte Officium gleich
welchen Festtages von der Wortbezeichnung 'historia' erfaßt95 • IsrnoR VON SEVILLA
erklärte: (histriones) autem saltando etiam historias et res gestas demonstrabant 96 •
Auch aus späteren Glossaren wird nicht ersichtlich, was szenisch dargestellt wurde;
erst seit dem 12./13. Jahrhundert schälte sich 'historia' als religiöses Schauspiel
heraus und griff auch auf das lebende Bild über, als sich dieses vom Schauspiel
a bspaltete97 •
In gleichem Maße verzweigte sich auch die Wortbedeutung. Der zu Anfang auf
das Ereignis selbst und auf die Mitteilung des Ereignisses anwendbare Oberbegriff
dehnte sich auch auf die Tätigkeit des Mitteilens aus. Und berüokoiohtigt man,
daß seit dem 12. Jahrhundert das franz. 'geste' ('chanson de geste') vereinzelt auf
den Gegenstand des Liedes ('geste' = „Fainilie", „Volk" usw.) überging, dann ist
auch die Identifizierung von 'historia' Init einem wichtigen Bestandteil des Initzu-
teilenden Ereignisses dieser Verzweigung zuzuzählen.
Es ist gewiß nicht zufällig, daß ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert wieder stärker
na0h dem Wahrheitsgehalt der Mitteilung gefragt wurde. Die Begriffe 'historia',
'fabula', 'vita', 'chronique', 'co:iite' oder 'roman' konnten im Sinne einer einfachen
Erzählung gleichbedeutend sein. Im 13. Jahrhundert aber schon wurde 'geste' als
unterhaltsamer Bericht abgedrängt. Der Anspruch, wahrheitsgemäße Aussagen
vorzulegen, engte sich auf den Begriff 'estoire' bzw. 'histoire' ein, eine ~ntwicklung
freili0h, die ihren Abschluß erst nach dem 15. Jahrhundert finden sollte. Die Rück-
kehr zur spätantiken Eingrenzung der Wortbedeutung 'historia' ging also von der
Geschichtsschreibung im engeren Sinne aus.

2. Die Geschichtsschreibung, ihre Klassifizierung und ihr Erfahrungshorizont

a) Die „Gattungen". Das Bild, das wir von den Gattungen der historiographischen
Literatur im Mittelalter besitzen, scheint nahezu unverrückbar festzustehen.
'Chronik', 'Annalen', 'Vita', 'Gesta', 'Volksgeschichte' und 'Geschichtsdichtung'
sind heute feste fachwissenschaftliche Begriffe98 •
Die Chronik, von einem einzigen, gewöh:iilich mit dem Namen bekannten Autor
verfaßt und für ·einen breiten Leserkreis hesLimmf;, sud1f;H Hinen umfangreichen
historischen Stoff möglichst vom Ursprung bis zur Gegenwart unter einem ganz
bestimmten Leitgedanken einzufangen. Innerhalb dieses Gesamtrahmens sind Dif-
ferenzierungen möglich. Eusebius (ca. 265-339) und Hieronymus (ca. 347-419/20)
entwickelten in der Weltchronistik den Typ der „series temporum", der alle Nach-
richten in eine zeitliche Relation zu bringen als seine vornehmste Aufgabe betrach-
95 KEUCK, Historia, 47ff. 80ff.; PAUL LEHMANN, Mittelalterliche Büchertitel, Sb. d.
Bayr. Akad. d. WiRR., philoR.-hiRt„ Kl., H. :l (l!lfi:l), HI ff., wiArlAr a.hg11rlr. in: rlArR., F.r.for.
schung des Mittelalters, Ausg. Abh. u. Aufs., Bd. 5 (Stuttgart 1962), 65 ff.
os lt:Huuit, Etym. 18, 48.
97 KEuCK, Historia, 66 ff. 87 ff.

98 Vgl. die kompendienartige Übersicht von HERBERT GRUND MANN, Geschichtsschreibung

im Mittelalter, in: Deutsche Philologie im Aufriß, 2. Aufl.., hg. v. WOLFGANG STAMMLER,


Bd. 3 (Berlin 1962), 2221 ff., überarbeitet als Sonderausg. (Göttingen 1965).

612
a) Die „Gattungen" Geschichte

tete. Von Orosius (t nach 418) stammt der Typ des „mare historiarum", der durch
größte Stoffülle zuweilen, wie man annimmt, mit dem Ziel bloßer Unterhaltung
besticht. Der dritte von Isidor von Sevilla entwickelte Typ der „imago mundi"
verstand die Geschichte bewußt nur als einen Teil der Gesamtwirklichkeit; beson-
ders deutlich prägt sich diese Absicht in tler Dreiteilung „speculum historiale",
„speculum naturale" ilnd „speculum doctrinale" aus, die VINZENZ VON BEAUVAIS
(1184/94-ca. 1264) seinem Werk gegeben hat99 •
Engte sich das weltgeschichtliche Blickfeld entscheidend ein, konnten analog
dazu vom Teilgegenstand her bestimmte Chroniken entstehen, wie die von Cas-
siodor (ca. 485- nach 580) mit seiner Gotengeschichte entwickelte Volksgeschichte
(origo gentis), die Stadtchronik, die Ordenschronik usw.
In manchem als ein Kehrbild dazu steht die Annalistik. Gewöhnlich von mehreren,
namentlich nicht bekannten Autoren geschrieben und auch nicht auf weite Ver-
breitung bedacht, tendierte schon der schematisch gegliederte Aufbau nach Jahren
auf den Eintrag nur zeitgenössischer Nachrichten, jedenfalls nicht auf einen Rück-
griff bis zum Ursprung, und entbehrte zwangsläufig eines durchgehenden Leit-
gedankens.
In der antiken Theorie zählt die Biographie nicht zur Historiographie, drang aber
dessen ungeachtet seit Plutarch und Sueton in der Form aneinandergereihter
Herrscherbiographien in die Darstellungsweisen der Geschichtsschreibung ein. Die
mangelnde theoretische Begründung und die weitgehend akzeptierte Forderung
. des Verfassers der Martinsvita, Sm.Picnrs SEVERUS (ca. 363--ca. 420), nur das
Leben eines Heiligen dürfe beschrieben werden, weil sein Vorbild allein den Blick
des Lesers zum Jenseits lenke 100, versperrte dem Mittelalter eine .gradlinige lfort-
entwicklung des vorhandenen Ansatzes. Herrscherbiographien sind im Mittelalter
auffallend selten 101 • Und der reichen hagiographischen Literatur lag großenteils
nicht die Absicht zugrunde, persönliche Geschichte im Sinne von Handlungs-
abläufen oder Bewegungen vorzulegen (etwa weil diese Darstellungsweise völlig
unbekannt gewesen wäre), sie suchte vielmehr die von Anfang an bestehende Be-
rufung zur Heiligkeit in allen Taten des Heiligen aufzuzeigen.

99 VINZENZ VON BEAUVAIS, zit. ANNA DOROTHEE v. DEN BRINKEN, Die lateinische Welt-
chronistik, in: Mensch und Weltgeschichte. Zur Geschichte der Universalgeschichtsschrei-
bung, hg. v. ÄLEXANDER RANDA (Salzburg, München 1969), 57; vgl. dies., Studien zur
lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising (Düsseldorf 1957).
100 SULPICIDS SEVERUS, Vita Sancti Martini 1, 1, dazu den ausführlichen Kommentar von

JACQUES FoNTAINE in seiner zweisprachigen Ausgabe: SULPICE S:Ev:ERE, Vie de Saint


Martin, t. 1 (Paris 1967), bes. 72 ff.
101 Vgl. HELMUT BEUMANN, Die Historipgraphie als Quelle für die Ideengeschichte des

Königtums, Rist. Zs. 180 (1955), 456 ff., Ndr. in: ders., Ideengeschichtliche Studien zu
Einhard und anderen Geschichtsschreibern des früheren Mittelalters, 2. Aufl. (Darmstadt
1969), 47 ff. Seine Meinung, gerade an Hand der Herrscherbiographien unter Einschluß der
Sachsengeschichte Widukinds von Corvey lasse sich eine zumeist latent vorhandene pro-
fongcoohichtlioho Auffoooung n11chwoiBon, müßto nooh gcgonübcr dor Fmgo 11bgo!liohort
werden, warum Herrscherbiographien nur dann geschrieben wurden, wenn sich Umwälzun-
gen im Herrschaftsgefüge anbahnten, und ob in der zuweilen bewußt „profanierten" Sicht-
weise nicht eine Anpassung des Autors an die noch wenig entwickelte christliche Lebens-
auffassung des Adels vorliegt.

613
Geschichte m. 2. Geschichtsschreibung: Klassifizierung, Erfahrungshorizont
Dennoch gab es Reihen von Kurzbiographien. Ihre von 'res gestae' abgeleitete
Bezeichnung 'gesta' weist auf die Absicht hin, Ereignisse aufzuzeichnen. Die zu
schildernden „Taten" jedoch konzentrieren sich auf Amtspersonen, deren Sukzes-
sion den mehrere Generationen übergreifenden Zusammenhang einer lnstitutior1
kenntlich macht. Zwei Momente können dabei im Vordergrund stehen; entweder
hebt die katalogartig immer wiederkehrende Aufzählung bestimmter Merkmale
der Amtstätigkeit, häufig verbunden mit inserierten Rechtsdokumenten in wört-
licher Wiedergabe 102, das Statische einer juristisch normierten Institution hervor,
oder die Fülle verschiedenartiger Ereignisse legt den Akzent auf die Wirkmächtig-
keit der Amtsträger, deren Tätigkeit dann auch die Bedeutung der Institution
verkörperte. In beiden Fällen ist nicht ausgeschlossen, daß die Darstellung aus-
führlicher wird, je näher sie der Gegenwart des Verfassers zuläuft, und am Ende
in eine breit angelegte Biographie ausufert.
Mit der nur selten schriftlich überlieferten Volkslieddichtung, deren chronologische
Perspektive sich für Hörer und Vortragenden in der zeitlichen Tiefe verlor, hat die
lateinische Geschichtsschreibung nur den Reim gemeinsam; dem Bedürfnis nach
Bereicherung der Schullektüre entsprungen, widmete sie sich vorzugsweise einer
Pomon odor einem Einzelereignis mit einem Hang zu panegyrischer ÜberLreilmng,
die sich auch propagandistisch einsetzen ließ.
Die Unterscheidungsmerkmale dieser Gattungseinteilungell gehören verschiedenen
Ebenen an und sind erst von der Forschung des 19. Jahrhunderts auf phänomeno-
logischem Wege gefunden worden. Was man unter 'Chronik' versteht, ist von der
Intention des Geschichtsschreibers und vom Gegenstand her gewonnen; ilie 'Vita'
begreift sich allein von der dargestellten Person her, während hervorstechendes
Kennzeichen von 'Annalen' und 'Gesta' das an der Jahresfolge bzw. Amtssukzes-
sion orientierte Gliederungsprinzip zu sein scheint. Angesichts der vielen Über-
gänge in der historiographischen Wirklichkeit aber beziehen sich diese Struktur-
merkmale offenbar nur auf post festum gewonnene Typisierungen. Schon was den
Begriff der Annalen angeht, ist nicht zu übersehen, daß Sempronius Asellio zu
seiner Kennzeichnung ganz andere Kriterien angelegt hat als der heutige fach-
wissenschaftliche Sprachgebrauch. Die Selbstaussagen der Geschichtsschreiber des
Mittelalters deshalb zu Wort kommen zu lassen, ist unumgänglich.

b) Gliedenmgskriterien im Mittelalter. Die ältere Unterscheidung zwischen histo-


ria als dem Bericht nur zeitgenössischer Ereignisse und annales als der Darstellung
weit zurückliegenden Geschehens lehnte IsrnoR VON SEVILLA, wie schon gesagt,
ab, und dennoch sah er sich genötigt, den Begriff der annales zu berücksichtigen.
Denn dem Zeitmaß des Tages, des Monats und des Jahres entsprächen ephemerida,
kalendaria und annales; das genus historiae also gliedere sich dreifach103• Dieses an
einem formalistischen Gliederungsprinzip orientierte Unterscheidungskriterium
ließ er gelten, aber es war für eine Gattungseinteilung offenbar nicht maßgebend .

. 102Zu denken wäre hier an spätere Teile des „Liber Pontificalis" - vgl. ÜDILO ENGELS,
Kardinal Boso als Geschichtsschreiber, in: Papst und Konzil, Fschr. HERMANN TÜCHLE
[erscheint voraussichtlich München 1975] - oder an die Historia Compostellana.
ios IsrnoR, Etym. 1, 44. - Vgl. hierzu allgemein J. FoNTAINE, Isidore de Seville et Ja
culture classique dansTEspagne wisigothique, t. 1 (Paris 1959), 180 ff.

614
b) Gliederungskriterien im Mittelalter Geschichte

Das Frühmittelalter ist ihm darin gefolgt, insofern es die vielen Annalenwerke in
Überschriften gewöhnlich nicht mit dem Gattungsbegriff 'annales' kennzeichnete.
Wenn Isidor äußert, Sallust habe eine historia verfaßt, und die Werke des Livius,
Eusebius und Hieronymus bestünden aus historia und annales, dann war das nicht
mehr als eine Konzession an überkommene Definitionen. An anderer Stelle näm-
lich104 nennt er die Chronik; in lateinischer Übersetzung heiße sie temporum series,
Eusebius habe sie erstmals geschrieben und Hieronymus ins Lateinische übersetzt.
Historia und annales in einem Werk miteinander zu verbinden, war also etwas
Neues, angesichts dessen das Unterscheidungsmerkmal der zeitlichen Nähe zum
Autor verblaßte und vom Begriff der Chronik verdrängt wurde. Die heute geläufige,
am Gliederungsprinzip orientierte Unterscheidung zwischen Chronistik und Anna-
listik wurde. somit gerade nicht gemacht105, so daß man die bis zum Ende des
11. Jahrhunderts vorherrschende Annalistik mit gutem Grund als die Darstellungs-
form der Chronik schlechthin bezeichnen kann10 6 •
Der Unterschied zwischen historia und annales ging unter einem anderen Gesichts-
punkt, den Isidor unberücksichtigt ließ, jedoch noch nicht verloren. CmER0 107 und
QUINTILIAN 108 hatten die annales wegen ihrer vorwiegenden Aneinanderreihung
von Daten und Namen als eine anspruchslose Darstellungsform uharakLerisiert.
CAssrnnoR identifizierte schon, ohne es ausdrücklich zu sagen, die Chronik mit dem
Annalenwerk, da er die Chronik als imagines historiarum brevissimaeque comme-
morationes temporum definiert 109 • Der Unterschied ist sogar dem Hochmittelalter
gegenwärtig. GERVASIUS VON CA NTERilURY (13. Jahrhundert) polemisiert nämlich:
Cronicus autem annos incarnationis Domini annorumque menses computat et kalendas,
aotuo otiam regum et principum quae in ipsis. eve'm:unt bre.i1ite.r ednrR.t., m1emt11..~ e,tiam,
portenta vel miracula commemorat. Sunt autem plurimi, qui cronicas i1el annale.~
scribentes limites suos excedunt, nam philacteria sua dilatare et. fimbrias magnificare
delectant. Dum enim cronicam compilare cupiunt, historici more incedunt et, quod
breviter sermoneque humili de modo scribendi dicere debuerant, verbis ampullosis
aggravare conanturno.
Da es sehr viele sind, wie Gervasius schreibt, hätte man hier bereits an eine Ver-
fallserscheinung zu denken, die dahin tendierte, die geraffte oder die breit angelegte
Darstellungsweise als die eigentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen Chro-
nik/Annalen und hi:;t.oria a.ufzuheben. In seiner Weltchronik hatte sich ÜTTO VON

104 IsrnoR, Etym. 5, 28.


1o6 LACROIX, Moyen Age, 34 ff. versucht stattdessen unter Berufung auf diese Belegstellen,
Historia, Annalen und Chronik als die drei eigentlichen Gattungen des Mittelalters heraus-
zuschälen, gerät dann aber bei seinem Versuch, Chronik und Annalen gegeneinander abzu-
grenzen, in offenkundige Verlegenheit.
108 So REGINALD L. PoOLE, Chronicles and Annals. A Brief Outline of their Origin and

Growth (Oxford 1926).


107 CICERO, De orat. 2, 12.
108 QUINTILIA.N 10, 2, 7.
109 CASSIODOR, Institutiones divinarum et humanarum litterarum 1, 17, 2, ed. R. A. B.

Mynors (Oxford 1963), 56.


no GERVAsms VON CANTERBURY, Chronica maior, Prologus, ed. William Stubbs, The
Historical Works, vol. 1 (London o. J. [1879]; Ndr. o. 0. 1965), 87 f.

615
Geschichte m. 2. Gesehiehtssehreibung: Klassifizierung, Eriahrungshorizont

FREISING (ca. 1112-1158), was die Fülle des Stoffes angeht, schon wegen der ins
Auge gefaßten Zeitspanne stärker zu beschränken als in seiner „Gesta Friderici
Imperatoris", und hinsichtlich des Stils sind keine sonderlichen Unterschiede zu
beobachten. Wenn dennoch die „Weltchronik" den ursprünglichen Titel „Historia"
und die „Gesta" den Titel „Cronica" führten 111 , dann offenbar wegen des un-
gleichen Zeitumfanges, der zu bearbeiten war. Die Kennzeichnung des Weitgefaß-
ten für die historia also blieb, aber sie verlagerte sich - und das nicht nur bei
Otto von Freising - von inneren Kriterien auf äußere Merkmale.
Das von Isidor erwähnte dreifache genus historiae war auch dem Hochmittelalter
nicht unbekannt. ROBERT VON ToRIGNI (= VON MONT-SAINT-MICHEL, Ende
12. Jahrhundert) vermerkt im Prolog seiner Chronik zu Sigebert von Gembloux,
seiner Vorlage : de ducibus N ormannorum nihil aut parum dicit. N am f,(1,mRm, hnr.
fecit negligenter, sed quia carebat his tribus historiis 112 • Die Geschichte der Nor-
ma1111e11herzöge darzustellen, wäre nach damaliger Sitte anhand der Amtssukzes-
sion üblich gewesen. Von der antiken Theorie des Gliederungsprinzips war das,
was wir heute mit dem Begriff 'gesta' zu bezeichnen pflegen, noch nicht erfaßt;
deshalb entschuldigt Robert das Versäumnis seiner Vorlage.
Dieses Beispiel macht auf dem Hintergrund der vorausgegangenen .Beobachtungen
zweierlei deutlich. Die Theorie der Antike wmd11 .inzwisc.hen eingetretenen Ver-
änderungen nicht angepaßt, sondern bis ins 13. Jahrhundert hinein suchte man
umgekehrt mit offenkundig vergeblicher Mühe die historiographische Wirklichkeit
wieder an den überkommenen Normen auszurichten. Isidor hatte bereits den Be-
griff 'annales' für ein Gliederungs- und ein Gattungselement ohne nähere Kenn-
zeichnung verwandt, und bei Robert von Torigni sehen wir die drei dem Zeitmaß
abgewonnenen Gliederungselemente Tag, Monat und Jahr summarisch mit 'histo-
riae' bezeichnet. In der Sache wurde zwischen Gliederungs- und Gattungsprinzipien
streng geschieden, offensichtlich aber nicht in der Wortwahl, womit für den Ver-
such der modernen Geschichtsforschung, Gattungsunterschiede wenigstens zum
Teil von der Gliederung her zu bestimmen, eine weitere Erklärung gefunden wäre .

. c) Erfahrungsweisen und Formungsfähigkeiten. Bevor nun voreilig geschlossen


wird, das Moment der Kontinuität von der Spätantike bis zum Hochmittelalter
herrschte voT, Rollte noch der Erfahrungshorizont der mittelalterlichen Historio-
graphie unter dem Aspekt siiiniiR formgeschichtlichen Reichtums, und darin ein-
geschlossen dessen wichtigste Wurzeln, abgiitaRLeL werden.
Die heidnische Geschichtsschreibung der Spätantike dachte nicht zyklisch, sondern
linear 113 ; insofern bedeutete die Einführung eines christlichen Telos keinen völligen
Bruch mit der bisherigen Historiographie 114 • Was die auf ein geordnetes Daten-
gerüst bedachte Weltchronik des Eusebius/Hieronymus noch nicht vermochte, das

111 FRANz-JoSEF SCHMALE in seiner Einleit,unp; 1r.11 : R1scHoF ÜTTO VON F;aEISING ·und

RAHEWIN, Die Taten Friedrichs, übers. v. Adolf Schmidt, hg. v. Franz-Josef Schmale
(Darmliltadt 1965), 75 f,
112 ROBERT VON ToRIGNl, Chronica, Prologus, ed. Leopold Delisle, t. 1 (Rouen 1872), 94.
113 Vgl. VITTINGHOFF, Selbstverständnis (s. Anm. 49).
114 ARNALDO MoMJGLIANO, L'eta de! trapasso fra storiografia antica e storiografia medie-

vale (320-550), in: La storiografia altomedievale, Bd. 1 (Spoleto 1970), 89 ff.

616
c) Erfahrungsweisen und Formungsfähigkeiten Geschichte

gelang ÜROSIUS, dem Schüler des Augustinus 115 • In den sieben Büchern seiner
„Historiae adversus paganos" löste er sich vom Assyrerkönig Ninus, dem Gründer
Ninives, als dem Beginn jeder faßbaren Geschichte, der vom Großreich der spätan:
tiken Gegenwart her gefunden worden war, und begann als erster seine Darstellung
mit dem biblischen Schöpfungsbericht. Die Anschauung vom Höchstwert und des-
halb von der Unwiederholbarkeit des römischen Weltreiches oder von der Unum~
kehrbarkeit der bisherigen historischen Zielrichtung fallenzulassen, gelang ihm aller-
dings noch nicht; die pax Augusta identifizierte er kurzerhand mit einer pax chri-
stiana und hielt an der Kongruenz von Reich und Religion fest, weil die Ausbreitung
des Heils nach dem Plan der göttlichen Vorsehung nur vom vierten Großreich ge-
tragen werden könne.
Erst in der Vorstellungswelt lsmoRs VON SEVILLA schrumpfte das römische Univer-
salreich zu einem regnum neben anderen regna zusammen und machte der ecclesia
als der einzigen alle Völker umspannenden Einheit Platz 116 ; folglich griff er anstelle
einer Aufeinanderfolge von vier Weltreichen das von Augustinus bereits konzipierte
Einteilungsprinzip nach „aetates" auf und verstand sie im Sinne einer Reifung des
Menschheitskörpers als Weltalterstufen 117 •
Ebenfalls noch in der Spätantike entstanden Papstlisten in Analogie zu den antiken
fasti consulares, die durch Beifügtmg biographischer Angaben zum „Liber ponti-
:ficalis" anwuchsen 118• Formgeschichtlich hat dieser Prototyp der Gesta mit der
antiken Annalistik eine gemeinsame Wurzel, dem Gegenstand nach setzte er die
antiken Kaiserbiographien fort, doch aufgrund der Gleichföl'lnigkeit der aufzuneh-
menden Datenangaben verstand er sich als eine amtliche lnstitutionengeschichte.
Alle später gebräuchlichen Gliederungsprinzipien - die Abfolge von vier W eltrei-
chen bzw. Weltmonarchien oder von Weltalterstufen, das der Weltära zugrunde lie-
gende annalistische Schema und die Sukzessionsliste von Amtsträgern - waren
damit ausgebildet. Dennoch fanden sie im Mittelalter nicht ohne weiteres eine Fort-
setzung.
BEDA (672/73--735) 119 kannte die Chroniken des Hieronymus und des Isidor, und
er bediente sich der Einteilung in Weltalterstufen. Aber nicht diese wirkte auf dem
Festland weiter, sondern seine Vorausberechnung des Osterfesttermins bis zum
Jahre 1063. Die in der karolingischen Geschichtsschreibung vorherrschende Anna-

11 6 Kuwr A. S11HiiNll01t~·, Die Geschicht.stheologie des Orosius (phil. Diss. München 1952;

Mschr.); BENOiT LACROIX, Orosc et scs idees (Montreal, Paris 1965); HENRI llti:NEE MAR-
ROU, Saint Augustin, Orose et l'Augustinisme historique, in: Storiografia, Bd. 1, 59 ff.
116 Jos:E Lms RoMERO, San Isidoro de Sevilla. Su pensamiento hist6rico-politico y sus

relaciones con la historia visigoda, Cuadernos de hist. de Espaiia 8 (1947), 51 ff,


117 Mehr noch als in Isidors Chronik erschließt sich dieser Sinn in seinen „Etymologiae",

wie ARNO BORST, Das Bild der Geschichte in der Enzyklopädie Isidors von Sevilla, Dt.
Arch. 22 (1966), 21 ff. zeigen konnte.
118 ÜTTORINO BERTOLINI, II „Liber Pontificalis", in: Storiografia, Bd. l, 387 ff.; GERT

MELVILLE, „ ... De gestis.sive statutis romanorum pontificum ... ". Rechtssätze in Papst-
geschichtswerken, Arch. hist. pontificiae 9 (1971), 377 ff.
119 Am besten immer noch WILHELM LEVISON, Bede as Historian, in: Bede, His Life,

Times and Writings. Essays in Commemoration oftheTwelfthCentenary ofHisDeath, ed.


A. HAMILTON THoMPSON (Oxford 1935), 111 ff., erweitert abgedr. in: W. LEVISON, Aus
rheinischer und fränkischer Frühzeit, Ausg. Aufs. (Düsseldorf 1948), 347 ff.

617
Geschichte m. 2 .. Geschichtsschreibung: Klassifizierung, Erfahrungshorizont
listik entwickelte sich aus einem praktischen Bedürfnis: Tafeln mit den Osterfest-
terminen boten Gelegenheit, bedeutsame Ereignisse des laufenden Jahres auf dem
Rand einzutragen, ein Brauch, der sich schließlich verselbständigte und ausgestaltet
wurde. Hier bot die·verbesserte Chronologie Bedas willkommene Hilfe. Man könnte
argumentieren, damit sei über Beda eine Verbindung von der karolingischen Anna-
listik auch zu Eusebius/Hieronymus hergestellt gewesen. In Wirklichkeit aber war
dieser Strang nur höchst sekundär, denn trotz ihrer Gleichförmigkeit mit dem anti-
ken Vorläufer lebte die mittelalterliche Annalistik aus eigener Wurzel. Und es ist
nicht ausgeschlossen, daß auch PAULUS DIACONUS (720/24-799 ?) die dem Edikt
Rotharis vorangestellte Liste der Langobardenherrscher,.also wiederum eine nicht
der Spätantike entnommene Vorlage, als Modell für das durch die Amtssukzession
geprägte Gliederungsschema seiner „Gesta episcoporum Mettensium" benutzt
hat120.
Jedenfalls reduzierte sich die angewachsene Summe der Formungsmöglichkeiten auJ
die beiden Gliederungsprinzipien des Jahreseintrags und der Sukzessionsliste, die
vorerst allein fortlebten; und das ging auf Kosten des weltgeschichtlichen Horizon-
tes. Die Chronik des Orosius diente sowohl der „Historia Romana" des Paulus
Diaconus wie auch der Weltchronik Frechulfs von Lisieux (ca. 825-:-852/64 ?) als
Vorlage. Dennoch gelang beiden Autoren nicht mehr als ein bloßes chronologisches
Nacheinander einzelner Episoden, und beide Werke enden mit der Darstellung Ju-
stinians bzw. Gregors des Großen, also mit dem endgültigen Zerfall des römischen
Imperiums im Westen. Im Unvermögen, mit der weltgeschichtlichen Darstellung
bis in die Gegenwart des Verfassers fortzufahren, spiegelt sich die Abhängigkeit der
Geschichtsschreiber von der nicht mehr römisch bestimmten Lebensauffassung
ihrer Umwelt wider. Die Chronik REGINOS VON PRÜM (ca. 840-915) empfindet die
Entstehung der Germanenreiche schon als eine entscheidende Zäsur 121 .
Paulus Diaconus und Frechulf waren aber auch nicht mehr fähig, das Gliederungs-
schema ihrer Vorlage zu übernehmen oder dem weltgeschichtlichen Stoff eine an-
dere, diesem Thema angemessene Gliederung zugrunde zu legen. Daß nicht etwa
ein übermäßiger Schwund in der Kenntnis antiker Bildung als Ursache dafür zu
gelten hat, beweist EINHARDS (ca. 770-840) „Vita Karoli Magni" 122. Es muß auf-
fallen, daß sich der Typ eines wirklichkeitsnahen Heiligenlebens, mit dem die angel-
sächsischen Missionare den Kontinent bekanntgemacht hatten, an der Seite der auf
das Postulat des Sulpicius Severus zurückgehenden und für liturgische Zwecke
typologisierten Vita 128 behaupten konnte, bis im Hochmittelalter (mit Ausnahme

120 ERNESTO SESTAN, La storiografia dell' Italia langobarda: Paolo Diacono, in: Storio-

grafia, Bd. 1, 357 ff. Der „Liber Pontificalis" und die „Angelsächsische Kirchengeschichte"
Bedas waren Paulus Diaconus nachweislich ebenfalls bekannt; eine Entscheidung muß
deshalb offenbleiben.
121 HEINZ LöwE, Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit,

Rhein. Vjbll.17 (1952), 151 ff., bes. 173 ff., Ndr. in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild
im Mittelalter, hg. v. wALTHER LAMMERS (Darmstadt 1965), 91 ff., bes. 125 ff.
122 SIEGMUND HELLMANN, Einhards literarische Stellung, Hist. Vjschr. 27 (1932), 40 ff.,

Ndr. in: ders., Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie des Mittelalters, hg. v.
Helmut Beumann (Darmstadt 1961), 159 ff.; HELMUT BEUMANN, Topos und Gedankenge-
füge bei Einhard, Arch. f. Kulturgesch. 33 (1951), 337 ff.
123 Vgl. die Literatur bei GRUNDMANN, Geschichtsschreibung, 2252, zu§ 6 (s. Anm. 98).

618
c) Erfahrungsweisen und Formungsfähigkeiten Geschichte

Österreichs) auch die mit anderen Gliederungselementen unvermischte Annalistik


wieder verschwand. Insofern ist man berechtigt, in der karolingischen Geschichts-
schreibung einen neuen Ansatz zu sehen, der freilich nicht zu einer weiteren Ausfor-
mung gelangte. Ein realitätsbezogenes Lebensbild oder mehr als ein einfaches Da-
tengerüst zu liefern, waren Vita und Annalistik in der Spätantike nicht befähigt
gewesen; nunmehr aber schienen gerade sie dazu geeignet. Hier wirkte offenkundig
die aus eigener Wurzel und zunächst für den gegenwartsbezogenen Eintrag entwik-
kelte Form nach.
Erst seit dem ausgehenden 11. Jahrhiindert gelangte man zunehmend wieder zur
Abfassung abgerundeter Weltchroniken. Das lag nicht an der Lektüre antiker
Autoren allein, sondern wesentlich auch am neuen Erfahrungshorizont. Im Zuge
OflR TnvflRtitnrRtreiteR lebte die Anschauung von den zwei höchsten Gewalten in
Form der Zweischwerter-Lehre wieder auf und schlug eine neue Brücke zur Spät-
antike124. Vornehmlich der Westen lehnte zwar die weltgeschichtlich zentrale Funk-
tion des einen von der Antike bis in die Gegenwart reichenden Imperiums als dem
legitimen Gegenpol zum Sacerdotium ab, aber auch er fand im Papsttum einen allen
gemeinsamen Bezugspunkt als der vollends verwirklichten Spitze der ecclesia125 .
Zugleich l.mwL.Len neue, das lllickfeld des Geschichtsschreibers bereichernde Gegen·
stände die Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert in Bewegung 126 und lenkten
die Aufmerksamkeit des Historiographen auch auf neue Themen, wie Kreuzzüge,
Adelshäuser, fürstliches Territorium oder Stadt12 7. ·
Die Zahl der bekannten Gliederungsprinzipien vermehrte sich damit nicht; Suk-
zessionsliste und Jahreseintrag wurden, jetzt allerdings in sichtlich zunehmender
Vermischung, weiterhin verwandt, und auch die Abfolge von Weltmonarchien fand
durch den Brückenschlag zur Antike wieder Zuspruch. Am Ende beherrschte das
der Gesta eigentümliche Gliederungsprinzip das Feld; im Spätmittelalter behielten
die von den Dominikanern benutzten „Martinianen" nach dem Vorbild Martins von

124 Das deutsche Imperium erscheint bei Frutolf von Michelsberg erstmals klar als Fort-

setzung des römischen Weltreiches. Wichtigste Orientierungshilfe war ihm bei der Abfas-
sung die Chronik des Hieronymus, aber das annalistische Schema zeigt sich durch Zusam-
menfassungen an den entscheidenden Nahtstellen bereits durchbrochen; s. FRANZ-JOSEF
SoHMAT.F./JRF.NF. SmrnAr.F.-ÜTT, ~inleitung zu: Frutolfä und Ekkehards Chroniken und die
anonyme Kaiseruhmnik (Darmstadt 1972), 8 ff. Zusammen mit Lampert von Hersfeld
gehört Frutolf der Übergangszeit. an, die das annalistische Gliederungsprinzip zngtmHten
übergreifender Zusammenhänge abzustreifen sucht.
125 Hugo von Fleury schrieb als erster eine „Historia ecclesiastica", Johannes von Salis-

bury identifizierte erstmals die Kirchengeschichte mit der Papstgeschichte; vgl. HARALD
ZIMMERMANN, Ecclesia als Objekt der Historiographie. Studien zur Kirchengeschichts-
schreibung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Sb. d. Österr. Akad. d. Wiss., philos.-
hist. KI. 235/4 (Wien 1960); HUBERT JEDIN, Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 1
(Freiburg 1963), 28 f.
126 JOJIANNES SJ:'ÖRL, Wandel des Welt- und Geschichtsbildes im 12. Jahrhundert? Zur

Kennzeichnung der hochmittelalterlichen Historiographie, in: Unser Geschichtsbild, Bd. 1,


hg. v. CARL RüDINGEl!. (München 19GG), 99 ff., überarbeitet in: LAMMER~, Geschichteden·
ken, 278 ff. ·
127 Vgl. HANS PATZE, Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichts-

schreibung im hochmittelalterlichen Reich, Bll. f. dt. Landesgesch. 100 (1964), 8 ff.; 101
(1965), 67 ff.

019
Geschichte m. 2. Geschichtsschreibu'ng: Klassifizierung, Erfahrungshorizont
Troppau eine Einteilung des welthistorischen Stoffes anhand von synchron neben-
einandergestellten Sukzessionslisten der Kaiser und Päpste bei, die von den Fran-
ziskanern fortgesetzten „Flores temporum" hingegen begnügten sich mit der Amts-
folge der Päpste.

d) Darstellungslehre. Unter dem Einfluß erhöhten geschichtlichen Erfahrungsdran-


ges lebte im Laufe des 12. Jahrhunderts die wissenschaftstheoretische Diskussion
wieder auf. Daß die Theorie der Spätantike von Anfang an in sie eingebracht wurde,
braucht keiner weiteren Begründung. Die Diskussion konzentrierte sich dabei vor
allem auf die Frage, wie im einzelnen das historische Nachrichtenmaterial zu ver-
arbeiten sei.
Als Bestandteil der Rhetorik war die historia auch narratio von Ereignissen der
Vergangenheit 128 ; der historiographus hatte ein officium narrationis inne, sein Er-
gebni11 galt al11 ein opus narrationi1:1 129 • Im 7. wie im 12. Jahrhundert setzte sich
die historia unter Berufung aufihren höchsten Wahrheitsgrad von der fabula („neque
verum neque verisimile"), vom argumentum („non verum sed verisimile") und von
der Dichtung ab 130 . Aber_,... und dieser Aspekt scheint ein bedrückendes Problem
geworden zu seiu - ye1Jta ... ternporum infinita pene sunt 131 , so daß eine Auswahl
des in die narratio aufzunehmenden Stoffes unumgänglich war 132 • BerückRicht.ignng
hat nur das verdient, wul:! ·in r1hu11 rtUUJn·i11 rn,ertwriaque dignis 100 sei. In den Augen
HUGOS VON ST. VICTOR (t 1141) waren es noch ganz schematisch drei Faktoren:
die das Ereignis beherrschende Person, der Ort des GcschehenR und die das Ereignis
umspannende Zeit 134• Im 14. Jahrhundert dagegen wurden bereits sieben famosa
actionum genera der entsprechenden ständischen Figuren genannt 135 • Aufzählungen

128 IsrnoR, Etym. 1, 41; VINZENZ VON BEAUV.AIS, Speculum doctrinale, 3, 127.
129 LACROIX, Moyen Age, 15 f.
130 IsrnoR, Etym. 1, 44; vgl.. JOHANNES VON SALISBURY, Policraticus 2, 19; RANULF

HIGDEN, Polychronicon 2, 18.


l31 HuGo VON ST. VICTOR, De tribus maximis circumstantiis gestorum, ed. William M.

Green, Speculum 18 (1943), Mil.


1 32 ÜTTO VON FREISING im BegleiLsuh!'eiben an Rainald von Dassel anläßlich der Über-
sendung seiner Chronik an Kaiser Friedrich I.: Scitis enim, quod, omnis doctrina in duobus
consistit, in fuga et c"lectione, . . . ipsa est, quae secundmn s·uam d·iscipli'llam dvcet eligere ea,
quae conveniunt proposito, et fugere, quae impediunt propositum ... Sie et chronograplwrum
f acultas habet, quae purgando fugiat, quae instruendo eligat; fugit enim mendacia, eligit
veritatem, Chronik (s. Anm. 90), MG SS rer. Germ. i. u. sch., Bd. 45, 4 f. Vgl. auch WILHELM
VON MALMESBURY, Gesta regum Anglorum 5, 445.
133 Cicero, De orat. 2, 63.
131 Vgl. Anm. 131.
13 " RANULF HIGDEN, Polychronicon 1, 4 (s . .Anm. 94; vol. 1, :l4): ... nnto. q11,ni/.·.~P.ptP.m.
leguntur personae, quorum gesta crebrius in historiis memorantur, videlicet principis in
regno, niilitis i1i b~lk>, ·iud·iois ·in foru, prui:,lfulü1 üi clerv, puUUC'l in popuk>, oeconM11,icl in
domo, monastici in templo. Dem entsprechen septem famosa actionum genera, quae sunt
constructiones urbium, devictiones hostium, sanctianes iurium, correctiones criminum, com-
positio rei popularis, dispositio rei familiaris, adquisitio meriti salutaris, et in his jugiter
relucent praemiatianes proborum et punitiones perversorum.

620
d) Darstellungslehre Geschichte

dieser Art136 entspra11gen dem Versuch, der inzwischen angewachsenen Breite des
zu verarbeitenden Materials gerecht zu werden und das Instrumentarium des Ge-
schichtsschreibers zu systematisieren.
Man sollte meinen, eine stilistisch anspruchslose Beschreibung h~tte genügt, um
Vergangenes in unverfälschter Aussage zu berichten. Als Teil der Rhetorik aber
fühlte sich die historia der virtus bene scribendi verpflichtet; folglich mußte sich der
Historiograph bemühen, durch die Kunst der Rede die Gunst des Lesers für den
Stoff zu gewinnen. Die Ankündigung des Stoffes kleidete er deshalb gerne in tro-
pische Umschreibungen; die Metapher im Buchtitel sollte das schon andeuten, was
gewöhnlich im Exordium erläutert wurde 137 . Auch in diesem Rahmen fand das
Problem der Auswahl des Stoffes Berücksichtigung. Was vorher verstreut war, zu
AinAm K Ta,m: mFm,mmAngAfiiet.138 1md a.lR nf':lrnR fl-a.m:AR voTt:>;ARt,Allt, im ha.h1m 1 39, a.lRo
Einzelelemente aus einer ungeordneten Fülle ausirnwählen und mit. Hilfe dieseT
Verkürzung zu einem rational geformten .lfüd zu gelangen, gerade diese 'fätigkeit
metaphorisch auszudrücken, war nicht neu, aber es ist kein Zufall, daß dies erstmals
an der Wende zum 12. Jahrhundert im Titel (liber ftoridus) der Exzerptensamm-
lung LAMBERTS VON ST. ÜMER einen Niederschlag gefunden hat 140• Mit einer Ver-
mehrung LisLoriographischer GaLLw1gen haL Jie wachsenJe Fülle Jieser neuen
Buchtitel ni~hts zu tun, sondern in ihnen spiegelt sich eine gesteigerte Reflexion
des eigenen historischen Arbeitens wider 141 •
Von hier läßt sich wieder eine Brücke zur Wortgeschichte schlagen. Das 12. Jahr-
hundert erweist sich auf verschiedenen Ebenen als eine Wende. Das wachsende Ge-
sichtsfeld des Geschichtsschreibers faßte die weiter zurückliegende Vergangenheit
wieder stärker in den Blick und relativierte damit die seit dem 8./9. Jahrhundert
vorherrschende Gegenwartsnähe der Darstellung. Die seit dem 8. Jahrhundert un-
scharfe Grenze zwischen 'res gestae' und 'historia' begann sich zu klären; der Akzent

136 Vgl. dazu die gesammelten Belege bei LACROIX, Moyen Age, 16 ff.
1 37 HENNING BRINKMANN, Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau
und Aussage, Wirkendes Wort 14 (1964), 1 ff.; vgl. speziell zur Topik GERTRUD SIMON,
Untersuchung zur Topik der Widmungsbriefe mittelalterlicher Geschichtsschreiber bis
zum Ende des 12. Jahrhunderts, Arch. f. Diplomatik 4 (1958), 52 ff.; 5/6 (1959/60), 73 ff.
188 KÖNIG ATHALARICH in seinem Brief von 535 an den römischen Senat über die Goten-

geschichte Cassiodors, von CASSIODOR selbst formuliert: Originem Gothieam hi&toriam


feC'it es&e Rcnnanam, colz.ige:1i& quaB·i -in unam coronami ge1wien fwrüJ,um, quod per librorum
eamp08 pa&&im fuerat ante di&per&um, Variae 9, 25, 5, MG auctores antiquissimi, Bd. 12
(1894), 292.
139 IsrnoR, Etym. 1, 41, 2: Serie& autem dicta per tran&lationem a &erti& '{f,orum invicem

. comprehen&orum. Vgl. auch ADAM VON BREMEN, Gesta Hammaburgensis ecclesiae ponti-
ficum, Prolog, MG SS rer. Germ. i. u. ach., 3. Aufl., Bd. 2 (1917), 3: fateor tibi, quibUB ex
pratis de'{f,oravi hoc &ertum.
140 GERT MELVILLE, Zur „Flores-Metaphorik" in der mittelalterlichen Geschichtsschrei-

bung. Ausdruck eines Formungsprinzips, Rist. Jb. 90 (1970), 65 ff., zusammenfassend


77 II.
14 1 Die neuen Buchtitel lauten beispielsweise: „Margarita Decreti" (MARTIN VON TROP-
PAU), „Flores historiarum" (ROGER VON WENDOVER), „Eulogium historiarum" (ANONY-
MUS VON MALMESBURY), „Gemma ecclesiastica" (GIRALDUS CAMBRENSIS), „Compilatio
de gestis" (15. Jahrhundert) usw., zit. MELVILLE, „Flores-Metaphorik", 65 f. 73.

621
Geschichte m. 3. Die Historie im Wissensgefüge

verlagerte sich vom Geschehnis im wenig differenzierten Sinne auf den Bericht mit
unbedingtem Wahrheitsanspruch. Dafür blieb das Wort 'historia' reserviert; was
diesem Anspruch nicht gerecht werden konnte, begann sich unter anderem Namen
abzusondern. Die Bemühungen, im Zuge dessen einen Anschluß an die Theorie-
diskussion der Spätantike zu gewinnen, schenkten der Verarbeitung des zugänglichen
Stoffes erhöhte Aufmerksamkeit. Wiederaufgenommen wurde die Anschauung, den
Bericht in kunstvoller, den Leser ansprechender Darstellung verfassen zu müssen.
Was die Gliederung des Stoffes und Einteilung in geschichtsschreiberliche Gattungen
angeht, glückte der Anschluß jedoch nicht mehr. Unter dem Eindruck der wachsen-
den Vielfalt in Betracht zu ziehender Gegenstände sind zwar immer wieder Ver-
suche zu differenzieren und zu systematisieren gemacht worden, aber die der Spät-
antike noch unbekannten oder von ihr noch nicht reflektierten Strukturprinzipien
als etwas Neues zu begreifen und grundsätzlich in die Diskussion einzubeziehen, war
man offenbar nicht in der Lage.
Die spätmittelalterliche Historiographie ist zugegebenermaßen noch zu wenig er-
forscht, um hier sichere Aussagen machen zu können. Daß die im Hochmittelalter
wieder einsetzende intensive Reflexion auf halbem Wege stehen blieb, weil sie sich
von der Autorität des antiken Vorbildes nicht hinreir.hend r.11 lösen vermochte,
kann somit nur als Eindruck wiedergegeben werden.

3. Ort und Funktion der Historie im Wissensgefüge

Innerhalb des antiken Trivium war die historia als Hilfsfach in gleicher Weise der
Grammatik und der Rhetorik verpflichtet142 • Die Grammatik lehrte methodice
rechtes Schreiben w1d Sp1·echen, hü1torice aber auch die Kommentierung zuvor
gelesener Werke. Der historische Aspekt bezog sich hier nur auf die Beschäftigung
mit der literaris.chen Überlieferung im weitesten Sinne, nicht auf eine bestimmte
Erkenntnisweise; weil das literarische Material der Vergangenheit entstammte,
konnte AuGUSTINUS den grammaticus als den custos historiae bezeichnen 143 . Dem-
gegenüber suchte die Rhetorik zum bene dicendi vorzudringen, zur Kunst der Rede,
deren Überzeugungskraft zu steigern sei. Die species narrationis sonderten die
historia als wahrheitsgetreuen Bericht vergangener Ereignisse von Argument und
Fabel ab. Da aber letztes Ziel der Rede ihre erfolgreiche Wirkung blieb, ließen sich
alle species narrationis nach Bedarf einsetzen. Unter dieser Voraussetzung gelangte
die Kenntnis des Vergang1m1m nir.ht. über die Grenze des Exemplarisch-Nützlichen
hinaus; als vitae magistra stand die Historie im Dienste umfassender Lebensnor-
men.
Methode und Funktion des antiken Bildungsgutes änderten sich mit der Ver-
christlichung nicht, aber vom neuen Bildungsziel konnte die historia nicht unberührt
bleiben. War es in der Überzeugung des AuGUSTINUS möglich, mit den sinnlichen
und geistigen Kräften eines Menschen zur ewigen Wahrheit vorzudringen, dann
rnußLeu 1:lich u,ueh Ru.11g unu 8Lellw1g der Historie ändern. Unter den doctrinae der
Heiden unterscheidet A11e;11Rtin11R r.w11i instüu.tiones 144 : solche, die der menschlichen
Praxis entstammen und darum entbehrlich, wenn auch nützlich sind; und solche,
142 Vgl. vor allem BoEHM, Historia (s. Anm. 94), 675 ff. mit reicher Literatur ebd., 692 f.
!43 AUGUSTINUS, De muRioa 2, l.
144 Ders., De doctrina christiana 2, 19 (29). 28 (44), CC Ser. Lat., Bd. 32, 53 f. 63.

622
ID. 3. Die Historie im Wissensgefüge Geschichte

die dem Menschen vom Schöpfer gesetzt und darum nicht auswechselbar sind. In
diesem Rahmen gehen die geschichtlichen Ereignisse zwar auf menschliche Taten
zurück, vollziehen sich aber im vorgegebenen (ordo) temporum ... , quorum est
conditor et a<lministrator Deus. Die historia gehört also beiden Bereichen an, und das.
gibt ihr einen doppelten Stellenwert im Aufstieg der menschlichen Erkenntnis zur
ewigen Wahrheit. Als nicht wieder rückgängig zu machende und darum vorge-
gebene Faktenkette ist sie dem Lernenden auctoritas und eine erste notwendige Stufe
auf dem Heilsweg; die der Geschichte entnommenen Beispiele dienen der Seele als
Anfangsnahrung, um auf einer höheren Stufe von der ratio abgelöst zu werden. Ge-
stiftet ist diese auctoritas von der providentia Dei, welche die Beispiele bewirkt hat.
Damit war die historia in ihrer Gesamtheit nicht nur heilspädagogisch .nutzbar,
Rnnflr.rn r.rhifllt auch einen transzendenten Bezugspunkt. Verlauf und Erfüllung aller
RreigniRketten bezogen sich nicht mehr auf ein weltimmanentes Ziel, weswegen man
bisher am V ollendungscharakter des römischen Reiches festhalten zu müssen ge-
glaubt hatte, sondern die gesamte - auch die außerhalb eines Großreiches verlau-
fene - Menschheitsgeschichte fand sich zu einer Einheit zusammengefügt, deren
Rahmen von jeglicher Stetigkeit weltimmanenter Faktoren unabhängig war145 .
Die historia war seitdem (auch) 146 „Heilsgeschichte" und unentbehrlicher Bestand-
teil theologischen Denkens. In diese wurden alle Heilstatsachen sukzessiv eingebet-
tet; der Bibeltext, so vor allem bei Beda zu sehen, bedurfte deshalb einer gesicherten
Chronologie. Biblische und allgemeine Geschichte ließen sich seitdem auch auf einer
gemeinsamen Ebene ansiedeln, eine Sichtweise, die seit Beginn des 12. Jahrhunderts
wieder an Aktualität gewann. Unter der Voraussetzung nämlich, daß die ganze
Geschichte als ein göttliches Heilswerk zu gelten habe, konnte die Heilige Schrift als
ein historisches Buch wie jedes andere auch verstanden werden. Die in n11ohbibli-
scher Zeit anzutreffende Wiederholung biblischer Zahlenkombinationen oder ana-
loger Ereignisabläufe gestattete dann der „intelligentia spiritualis" eine Sinndeu-
tung der wahren Gesamtwirklichkeit. So wie die Schöpfung vom Göttlichen über
das Geistige zum Stofflichen herabgestiegen sei, müsse das menschliche Auge vom
Stofflichen über das Erfassen symbolischer Zusammenhänge zum Abbild des Gött-
lichen vordringen 147 • In diesem System des Geschichtssymbolismus148 - einer vor-

140 Vgl. .ltEINHART KosELLECK, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in:

KosELLECK/STEMPEL, Ge11chichw (ti. Awn. 5), 21L 217 Jf.


146 Vor allem der Patristik war die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn geläufig, die

immerhin eine gewisse Differenzierung weltlicher und geistlicher Momente desselben Er·
eignisses in der Deutung zuließ.
147 Über den wissenschaftstheoretischen Standort Hugos von St. Victor, der die ge-

schichtssymbolistische Arbeitsweise begründete, ohne selbst eine Geschichtsdarstellung


dieser Art zu verfassen, WILHELM AUGUST SCHNEIDER, Geschichte und Geschichtsphilo·
RophiA hAi Hneo von Rt„ Vir.tor (phil. Diss. Münster Hl33); ,JoAOHIM EHLERS, Hugo von
St. Viktor. Studien zum Geschichtsdenken und zur Geschichtsschreibung des 12. Jahr-
hunderts (Wiesbaden 1973).
148 CLEMENS BAUER, Die mittelalterlichen Grundlagen des historischen Denkens, Hoch·

land 55 (1962/63), 24 ff.; FuNxENSTEIN, Heilsplan (s. Anm. 86); MATTHÄUS BERNARDS,
GeschichtspArioflischeR Denken in der Theologie des 12. Jahrhunderts, Kölner Dombl.
26/27 (1967), 115 ff.

623
Geschichte m. 3. Die Historie im Wissensgefüge
wiegend deuLi>cheu VariauLe der Frühi:;chulatiLik - gah eti keiue Liblische und pro-
fane Geschichte, keine natürliche und übernatürliche Wirklichkeit, sondern nur eine
nichtchristliche und eine dem Christen eigentümliche Erkenntnisfähigkeit. Noch
deutlicher als in der Spätpatristik kommt hier die fehlende Eigenständigkeit der
Geschichte zum Ausdruck. Die isoliert gesehene Ereigniskette besaß einen geringen
Wahrheitsgehalt, erst als Bestandteil der dies- und jenseitigen Gesamtwirklichkeit
erschloß sie sich in ihrer vollen Bedeutung. Wie in der Antike sollten auch jetzt noch
geschichtliche Beispiele zum Guten anspornen oder vom Bösen abhalten, die Dar-
stellung der Vorgeschichte sollte den gegenwärtigen Zustand rechtfertigen oder kor-
rigieren helfen; alles das stellte im Prinzip nichts Neues dar. Aber das Erkenntnis-
ziel hatte sich entscheidend verschoben, sofern in den g~schichtlichen Ereignissen
Tat.P.n Got.t,P.A gP.Aehen wurden. Aufgrund dieser Klammer schien selbst die Veränder-
lichkeit geschichtlicher Abläufe Zugang zum unveränderlichen Sein zu eröffnen 149.
ln diesem ~rkenntnishorizont konnte alles irdische Geschehen zu einer Einheit
finden; gerade im Anschluß an augustinisches Gedankengut waren so erste Vorbe-
dingungen für eine Universalgeschichte, die damit selbst noch nicht realisierbar
war 150, geschaffen.
Als diese Sicht während des 12. Jahrhunderts in Werken von seltener GeRtaltungR-
kraft ihren Höhepunkt erreichtel51, zeigten sich schon Symptome ihrer Auf-
lösung152; eine Vorstufe des neuzeitlichen Geschichtsverständnisses ist hier anzu-
setzen. Im Zuge der Aristoteles-Rezeption gründete die Scholastik - unter der
Prämisse, Erkenntnis- und Seinsordnung müßten konform sein - ihre Erkenntnis-
tätigkeit auf Kosten der auctoritas in der ratio; um zu ewigen Wahrheiten vorzu-
dringen, eignen sich veränderliche Tatbestände als Ausgangsstufen schlecht. Das
führte schon rein äußerlich zur Vemachlätitiiguug der Leiden artes im Trivium. Die
Beschäftigung mit der historia wurde damit nicht überflüssig, aber ihr Bezug zum
geistlichen Erkenntnisziel verlor an Selbstverständlichkeit; ihre Funktion ini
Wissensgefüge wurde gleichsam säkularisiert. Da sie aufhörte, im Dienst der
sapientia zu stehen, konnte ihr Erkenntnisziel bis zu jener Grenze zurückgenommen
werden, wo alle Dinge einer Veränderung unterliegen; eine Bereitschaft zur reli-
giösen Indifferenz wurde damit freigegebe11. Sie wurde überdies gefördert durch
die weitere Bereicherung und Differenzierung der Wissensgebiete im 13./14. Jahr-
hundert, die sich alle aus einer Einbindung in einen ordo zu lösen versuchten. Der
Standort der historia blieb vorerst ungeklärt; das ist die theoretische Kehrseite
zur wachsenden Fülle der RirnhtitP.l und ihrer neuen, empirischen Themen.
ÜDILO ENGELS

149 Vgl. JOHANNES VON SALISBURY, Historia pontificalis, Prolog; ÜTTO VON FREISING,

Chronik 2, 4:l (s. Anm. :l), R. 119.


150 Vgl. die von ARNO BORST, Weltgeschichten im Mittelalter?, in: KosELLECK/STEMPEL,

Getichichte, 4112 ff. vorgebrachten Argumente.


151 Vgl. JOHANNES SPÖRL, Grundformen hochmittelalterlicher Geschichtsanschauung.

Studien zum Weltbild der Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts (München 1935),
bes. 39 ff.
152 Vgl. BoEHM, Historia, 667 ff.

624
IV. 1. Voraussetzungen Geschichte

IV. Historisches Denken in der frühen Neuzeit

1. Voraussetzungen

Historisches Denken in der frühen Neuzeit kann so lange nicht verstanden werden,
als es unter dem Verdikt des Historismus steht, eine nur vorläufige und unzurei-
chende oder gar falsche Ansicht der geschichtlichen Welt gewesen zu sein. Und es
ist selbst ein Moment seiner Krise, daß der Historismus dabei versagte, das reich
dokumentierte und in leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit den bewegenden
Kräften der Epoche geäußerte Bewußtsein von Geschichte eines anderen Zeitalters
zu lesen und in sein eigenes zu übersetzen, um es so als Organon der Geschichte selbst
zu gebrauchen. Die Werke von Dilthey, Troeltsch, Croce, Collingwood und Mei-
necke vfü'drängten die frühe Neuzeit in eine - und zwar :1.unehmend dürfLigel'e -
Vorgeschichte des historischen Denkens, während doch einige gründliche wissen-
schaftliche Arbeiten über jene Zeit sich vom historistischen Vorurteil weitgehend
freihalten konnten. Ist auch die Zahl der Monographien über Historiker und Ge-
schichtstheoretiker sowie über die antiquarischen Studien der Philologen und Ju-
risten vor allem des 16. Jahrhunderts im Steigen begriffen, so fehlt es doch an Un-
Ler:;uehu11ge11, die hl1:1Luri1:1uhe1:1 AdieiLe11 urnl De11ke11 im Zu1:1ummc11hu11g der politi-
schen und sozialen Geschichte, als Funktion und Projektion, zu interpretieren und,
mehr noch, die theoretische Herausforderung anzunehmen vermöchten, in der Zeit,
da es entstand, unsere Zeit, die es erkennt, oder anders gesagt, an ihrem Gegen-
stand die Form der Geschichte überhaupt 153 darzustellen.
So wenig die Aufgabe des Geschichtsschreibers des historischen Denkens hier ge-
leistet werden kann, so unabdingbar ist diese Perspektive für eine historische Se-
mantik, eine Geschichte des Begriffs 'Geschichte' bzw. 'historia', der sich von ande-
ren Begriffen durch den höchsten Grad der Allgemeinheit unterscheidet. Er bezeich-
net alle Handlungen und Tatsachen, die je berichtet und beschrieben wurden oder
es noch werden können, selbst die der Natur, mit der sich die Geschichte erst spät
terminologisch streng in die ganze sichtbare Welt teilt. Diese Allgemeinheit der Be-
deutung läßt den Begriff selten operativ und argumentativ gebrauchen und statt-
dessen die Auseinandersetzungen um die Geschichte und in ihr im Namen der ein-
zelnen Gegenstände und Kategorien führen. Deshalb auch transportieren die Defi-
nitionen und Klassifikationen der Wörterbücher und Enzyklopädien ihre in Antike
und Mittelalter geprägten Elemente mit so geringen Varianten bis in die spätere
Neuzeit, daß ihre Aussagen oft unspezifisch sind und gegenüber anderen Quellen
hier zurücktreten müssen.
Dabei sind einige Voraussetzungen bei allem Wandel des Begriffes in seinem Ge-
brauch bis zum 18. Jahrhundert vergleichsweise dauerhaft, wenn auch der Wider-
spruch in immer neuen Ansätzen an ihnen sich entzünden mag. Da ist zunächst die
Schriftlichkeit und die durch sie anscheinend verbürgte Autorität. In der Tradition
des mehrfachen Schriftsinnes bezieht sich der „sensus historicus" bzw. „litteralis"
auf diese buchstäbliche Gegebenheit der schriftlichen Überlieferung, die mehreren

163 WILHELM v. HUMBOLDT, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers (1821), AA Bd. 4

(1905), 41; vgl. WALTER BENJAMIN, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, Die


literarische Welt v. 17. 4.1931.

40---90386/l 625
Geschichte IV. 2. Dante und der Humanismus

spiritualen Deutungen offensteht oder figural durch etwas gleichfalls Wirkliches,


Geschichtliches erfüllt werden kann154• Häufig wird dabei, oft stillschweigend und
weit bis ins 18. Jahrhundert, Autoritat und Annahme der inneren Übereinstim-
mung von den heiligen Schriften auf die als ein Corpus gedachten Werke der gesam-
ten Antike übertragen, und diese Annahme kann noch die strengste Kritik moti-
vieren. Antike Geschichtsschreibung galt als unüberholbar, und an ihr bildete sich
die Meinling, daß Historiographie im wesentlichen Beschreibung der Ereignisse der
selbsterlebten Zeit sei. Die historische Wissenschaft sah ihre Aufgabe im Kommen-
tieren der vorhandenen Werke, in der antiquarischen Forschung nach systemati-
schen Gesichtspunkten, woraus z. B. die juristische Institutionenlehre und die
Numismatik entstanden, und im Beschreiben von Zeiten, über welche noch nichts
Zusammenhängendes vorlag155 • Die zu Zwecken der Lehre oder Unterhaltung ver-
faßten Geschichtsübersich~en sind weit weniger repräsentativ für die historische
Arbeit, als ihre Masse es erscheinen läßt.
Das hatte zur Folge, daß die bedeutende antiquarische Forschung dieser Zeit und
die eigentliche Geschichtsschreibung in erstaunlichem Maß unabhängig nebeneinan-
derher laufen und die methodische Literatur, die beide zu vermitteln suchte, sich
zu einer eigenen Gattung entwickelte, halb Rhetorik, halb Theorie, die gewiß das
historische Denken prägte, deren Einflüsse sich aber kaum als bestimmend in den
folgenreichen Geschichtsdarstellungen nachweisen lassen.
Das Neue und gegenüber der Antike andere, verbunden mit wachsendem Bewußt-
sein davon, vollzieht sich weniger in der Beschreibung und kausalen Verkettung von
Ereignissen, die in einer vielfältiger gesehenen Umwelt zwischen differenzierter
gezeichneten Individuen geschildert werden können, als in der durch zeitliches
Dista.nr.ieren ermöglichten perspektivischen Ansicht der Ve;i:gangenheit und der in
vermeintlicher Rekonstruktion erst produzierten Antike als in sich geschlossener
Welt, zu der sich die eigene vergleichend in Beziehung setzen läßt. Diese Antike in
ihrem zeitlichen Verlauf zu sehen, ihre Beispiele, Erfahrungen und Institutionen in
oder gegen die eigene Zeit zu setzen und von daher deren Gestaltung zu planen,
bestimmt zunächst das historische Denken der Neuzeit.

2. Dante und der Humanismus

DANTE, von dem Vrno sagen wird, daß er nichts anderes sang als Historien (ehe pure
non cantO altro ehe istorie)156, bildet einen Höhepunkt nicht nur der figuralen Deutung
des Gesamtverlaufs der Geschichte, in der aus den gegenwärtigen zerrütteten Zu-
ständen ein christliches Imperium projiziert wird, welches dem vergangenen römi-
schen entsprechen soll, sondern auch einer noch nicht dagewesenen Vergegenwärti-
gung historischer Individuen und ihrer Handlungen, die in der Fiktion, für ewig

154 HENRI DE LUBAC, Exegese medievale, t. 1 (Paris 1959), passim; ERICH AUERBACH,

.l!'igura, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, hg. v. Gustav Konrad
(Bern 1967), 55 ff.
155 Vgl. ARNALDO MoMIGLIANO, Ancient History and the Antiquarian, Journal of the

Warburg Institute 13 (1950), 285 ff.


156 GIAMBATTISTA Vwo, La scienza nuova 3, 1, 1 (1744), ed. Fausto Nicolini, Bd. 2 (Bari

1928), 6.

626
IV. 2. Dante und der Humanismus Geschichte

gerichtet zu sein nach einem System theologischer sowohl wie politischer und sehr
persönlicher Werte, so außerhalb der Zeit doch gerade ihre zeitliche Leidenschaft ohne
Reue, ihre Sehnsucht ohne Ermatten perpetuieren. Die Perspektive einer Geschichte
seit Beginn der Welt teilt Dante mit Zeitgenossen wie seinem Lehrer BRUNETTO
LATINI, dessen Enzyklopädie „Li livres dou tresor" verspricht, k' ele traite dou eo- .
mencement du siecle, et de l' ancienete des vielles istores et de l' establissement dou monde
et de la nature de toutes coses en some 157 ; die :figurale Interpretation konnte kein zwei-
tes Mal überzeugende Gestalt gewinnen, der Entwurf einer geschichtlich gesehenen
Welt aus dem Bewußtsein politischer Verantwortung blieb lange Zeit singulär, und
erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist auf ganz anderen Fundamenten annähernd
Vergleichbares möglich.
Betrachtete man das historische Denken nach dem Schema einer „Entwicklung" -
und gewiß sammelt und steigert Dante die Bildung der ihm vorangegangenen Zeit
-, so hätte mail das Abbrechen dieser Entwicklung festzustellen 158 an eben dem
Punkt, wo die Forschung üblicherweise sie erst beginnen läßt. PETRAROA und der
Humanismus haben deren Ansicht der Sache selbst herbeigeführt: sie ließen die
Kontinuität zerfallen oder sahen sich außerstande, die nachantike Welt gleichwertig
der antiken parallel zu setzen, wie es Dante vermocht hatte. Sie schufen, antikem
Denken darin so fern wie irgend möglich, aus faktisch11r V11rgang11nh11it 11in Ideal,
das sie von ihrer Epoche vermeintlicher Erneuerung abhoben durch eine dunkle
Zwischenzeit159, und in diesem „parteilichen" und polemischen Sinne ist vielleicht
zum erstenmal von der 'ganzen Geschichte' gesprochen worden: Quid est enim aliud
omnis historia quam. Romana laus ?160 Vereinzelte universale Ansprüche, ex omnibu.~
tcrris ao scoolis illustres viros in unum oontrahcndi illa mlihi solitudo dodit ammum 161 ,
waren eher rhetorischer Überschwang, denn wie hier bei den „De viris illustribus"
handelte es sich um einzelne Biographien aus biblischer und klassischer Antike, die
nachträglich auf das römische Altertum eingeschränkt wurden. Bestimmend für die
ganze Neuzeit und das Bewußtsein der Moderne wirkte Petrarca, indem er den
historischen Innenraum öffnete, die Flucht in die Vergangenheit freigab aus einer
ungeliebten Gegenwart, die doch unlösbar festhielt und die Sehnsucht verquickte
mit dem heiklen Gefühl einer, hier noch christlich motivierten, moralischen Über-
legenheit der eigenen Zeit. Die dem mittelalterlichen Chronisten autoritativ unaus-
weichlich zugemutete Universalität und Kontinuität der Geschichte war aufgegeben
oder uneinsichtig geworden, die Bedingungen weitgreifender politischer Vision wa-
ren vorüber, und sie blieb zunächst so folgenlos wie im gleichen 14. Jahrhundert im
Bereich des westlichen Islam die Anwendung soziologischer Begriffe auf die Ge-

167 BRUNETTO LATINI, Li livres dou tresor 1, 1, 1, ed. F. J. Carmody (Ausg. Berkeley,

Los Angeles 1948), 17.


16 8 Vgl. E. AUERBACH, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike

und im Mittelalter (Bern 1U58), 242; MARVIN B. BECKER, Dante and His Literary Con-
temporaries as Polit.ica.J Men, Speculum 41 (1966), 665 ff.
169 THEODORE. MoMMSEN, Petrarch's Conception of the 'Dark Ages', Speculum 17 (1942),
~~ .

1so PETRARCA,. Apologia, Opera omnfa (Basel 1554), 1187.


1s1 Ders„ Familiares 7, 3, ebd., 767.

627
Geschichte IV. 2. Dante und der Humanismus

schichte in dem erstaunlichen Werk des IBN KHALDÜN 162. Diese Zerstückelung hatte
jedoch ein dauerhaftes Ergebnis, sie begründete die philologisch-historischen Wis-
senschaften.
Die Beschränkung auf einzelnes und die anekdotische Darstellung sowie die selbst-
verständliche Zuordnung der Historie zur Rhetorik verändern den Exempelcharak-
ter des historischen Faktums. Solange der Gesamtverlauf der Geschichte zwischen
Schöpfung und Jüngstem Gericht für ohne Zweifel sinnvoll galt, war einzelnes böses
Handeln in der Ökonomie des Ganzen zu rechtfertigen wie in den gegensätzlichen
Wertordnungen der beiden augustinischen „civitates". Mit dem Zerfall des univer-
salen Geschichtsbildes waren nicht nur einzelne historische Gestalten und Taten
Beispiele für ethische Sätze, sondern jedes Faktum prinzipiell moralisierbar. Und
wenn die bedeutendere politische Geschichtsschreibung auch kaum Gebrauch davon
machte, so wurde die Historie in der sich konstituierenden Ordnung der Wissen-
schaften an Schulen und Universitäten bis ins 18. Jahrhundert der Moralphilosophie
untergeordnet und ihr Nutzen darin gesehen, daß sie der die Entscheidungen be-
gründenden Rhetorik Exempel lieferte, die im Gegensatz zur Poesie die Würde der
~'aktizität haben.
Gegenüber diesem Sinn des einzelnen Gesohohono, .Hoiflpiol oinoß allgemeinen Satzes
zu sein, ist cfüi aristot.elische Unterscheidung historischer (bloßer) Wahrheit und
poetischer (philosophi1:mherer) Wahrscheinlichkeit163 unanwendbar geworden und
dem langen Streit zwischen Poesie up.d Historie der begriffliche Boden entzogen.
Die Auseinandersetzung bricht jedoch immer dann auf, wenn die Poesie sich der
Darstellung des Wirklichen bemächtigt und in das Gebiet der Historie übergreift,
oder aber die Historie durch die Höhe ihrer Gestaltung poetische Erzeugnisse irrele-
vant erscheinen läßt und durch dio Deutung des Geschehens selbst in das Allgemeine
sich erhebt. Ein Scheinproblem also und wegen der Austauschbarkeit der Begriffe
nicht zu lösen, aber doch geeignet, immer wieder die Diskussion anzufachen, je nach-
dem ob Poesie oder Historie ein und dieselben wesentlichen Interessen zum Aus-
druck zu bringen vermögen oder es nur beanspruchen, wobei die Werke beider Gat-
tungen jeweils für die Prätentionen der Theorie geradezustehen haben.
Der Widerspruch ist schon bei VALLA deutlich. Als glänzender Philologe entwickelt
er die Fähigkeit, historische Relationen in der literarischen Tradition wahrzuneh-
men und gelehrt zu belegen, und so wenig er selbst als Geschichtsschreiber über-
zeugt, so sehr versucht er, die Rolle der historia zu heben. Mit Moses als erstem
Historiker sei sie älter als die Poesie, nicht weniger· univer!:lal ahi diese, die so oft
nur einzelnes schildere, und überträfe in bürgerlicher Weisheit sogar die Philoso-
phie164. Eher einlösbar ist die von PoLIZIANO gepriesene wiedergewonnene Genauig-
keit historischer Studien: Felix historiae fides renatae 166 , und mit diesem Begriff

1 62 IBN KHALDÜN, The Muqaddimah. An Introduction to History, engl. Franz Rosen-


thal, 3 vol. (London 1958); vgl. Encyclopedia oflslam, neue Ausg., vol. 3 (London 1965),
825 ff.
163 ARISTOTELES, Poet. 1451 b.
16 i LoRENZO V ALLA, Historia Ferdinandi regis Aragoniae, Prooemium, Opera omnia,

t. 2 (Ausg. Paris 1528; Ndr. Turin 1962), 6.


165 ANGELO PoLIZIANO, Opera omnia (Basel 1553), 621; vgl. V ALLA an Flavio Biondo,

Opera omnia, t. 2, 119; GUILLAUME Bum~, De Asse (1514), Opera omnia, t. 2 (Basel 1557),
66.

628
a) Machiavelli und Guicciardini Geschichte

'fides historica' bezeichnen die Humanisten von Valla bis BUDE ihr methodisches
Ziel. Sie bezieht sich auf die Erforschung der Antike, die in Miszellaneensammlun-
gen, in Übersetzungen der alten Historiker, und bei Bude, erstmals eine konkr,ete
Einheit gewinnend, in der Rekonstruktion des gesamten Münzwesens der Antike
sich niederschlägt : Non in unum genus illam quidem editam aut disciplinarum, aut
artium: sed in universum pertinentem ad antiquitatis interpretationem, et per omne
prope genus auctorum probiorum utraque lingua patentem166 • Das schriftlich über-
lieferte klassische Altertum in beiden Sprachen, durch Sammeln und Edieren von
den Humanisten verfügbar gemacht, tritt nun als ein Gegenstand der Erkenntnis
auf mit dem Anspruch, als ein Ganzes studiert 'zu werden. So entsteht, abgehoben
von der biblischen und unsicheren orientalischen Geschichte ebenso wie von der
nachantiken Zeit, ein zusammenhängendes Gebilde, das selbst als Ganzes Verifika-
tionsebene ist. Nicht wie im sakralen Text hat die einzelne Stelle autoritative Gel-
tung, sondern nur, sofern sie mit dem Corpus der Überlieferung übereinstimmt.
Wir haben diese Linie des humanistischen Geschichtsbegriffs bis zum Beginn des
16. Jahrhunderts durchgezogen, wo er auch schon nicht mehr unwidersprochen
bleiben sollte und mehrere ganz andersartige Vorstellungen zu wirken beginnen.
Die leidenschaftlich vorangetriebene Konstruktion eimir anderen Zeit, die man der
eigenen gcgcnübcrsfulltc, unterscheidet den Humanismus von anderen Epochen
historischen Denkens und erläutert selbst seine methodischen .l!:rrungenschaften wie
Bewußtsein zeitlicher Distanz und Relation, den im einzelnen schwer zu bestim-
menden Sinn für Anachronismen, Unterscheidung ursprünglicher und abgeleiteter
Quellen, und zugleich erklärt sie, daß Reine eigene Produktivität. nicht in großen
Geschichtl!<larstellu:Ugen liegen konnte, sondern mit tastenden Identifikations- und
Vermittlungsversuchen in der rhetorischen Biographik und den Stadtgeschichten
der Bürgerhumanisten sich in Beziehung zur Antike setzte.

3. Das 16. Jahrhundert

a) Machiavelli und Guicciardini. Zwei Höhepunkte geschichtlichen Denkens aus


einem erstmals wieder Dante vergleichbaren politischen Bewußtsein, das zugleich
ein Bewußtsein des Scheiterns politischer Hoffnungen ist, nüchterner jedoch und
von aller Transzendenz säkularisiert, erstehen nach dem Ende der florentinischen
Republik auf den Bedingungen des Humanismus. Dabei sind die Richtungen der
Erkenntnis gegenläufig. MACHIAVELLI argumentiert noch ganz im Stil der Huma-
nisten mit dem Begriff der Nachahmung der Exempla aus den Geschichtswerken,
Istorie, der Alten, und das ermögliche die Gleichheit der wesentlichen Eigen-
schaften der menschlichen Natur und der übrigen Voraussetzungen des Handelns.
Dabei ist er sich tiefgreifender Wandlungen, z. B. der militärischen Technik inner-
halb weniger Generationen, bewußt, und er beweist seinen historischen Sinn gerade
in der Konstruktion typischer Verlaufsformen geschichtlicher Ereignisse funktional
zu bestimmten Ausgangssituationen und korrigierenden Einflüssen und darin, daß
er aufgrund dieser Analyse wegen teilweiser Vergleichbarkeit der antiken und zeit-
genössischen Lage Handlungsvorschläge unterbreitet, deren Erfolg selbst wieder
von bestimmten und auch geschichtlichen Bedingungen abhängt. Dabei wird aller-

166 Bumli, De Asse, Praefatio, t. 2, 1.

629
Geschichte IV. 3. Das 16. Jahrhundert

dings vorausgesetzt, daß Erfahrungen an der Geschichte einer vorbildlichen Zeit


gemacht und auf die Gegenwart übertragen werden können, ein Weg vom Wesent-
lichen der Geschichte zum Notwendigen in der aktuellen Politik führt.
Die andere Richtung von der Enttäuschung über die Möglichkeit einer sinnvollen
Politik zur Analyse der kausalen Mechanismen und darüber hinaus zur sachlichen
Darstellung der nicht im einzelnen erklärbaren instabilita 167 der menschlichen Dinge
schlug GUICCIARDINI ein. Die Zerrüttung der italienischen Kleinstaaten und das Ein-
dringen fremder Mächte, das zu begründen auch nicht die Fiktion eines Imperiums
dienen konnte, führten ihn zuerst dazu, über die Grenzen eines Staates hinaus und
ohne Partei zu ergreifen das auf eine größere geographische Einheit wirkende poli-
tische Handeln genau zu beschreiben. Vergleichbares ist in Deutschland bis ins
18. Jahrhundert gar nicht denkbar. Er gibt dem Begriff 'Geschichte' ebensowenig
wie Machiavelli eine definitorische Bestimmung; allein den Sachen, cose,zugewandt,
gebraucht er ihn außer im Titel auch fast gar nicht.

b ). Die Geschichtsauffassung im reformatorischen Deutschland. Während gleich-


zeitig Commines das erste durch den Ausdruck eigener Erfahrung „moderne"
Memoirenwerk schreibt, so „mittelalterlich" uns seine historischen Kategorien und
die moralischen Urteilskriterien anmuten, und Sabellicus eine von allP.r heilsgeschicht-
lichen Ordnung und Zielsetzung säkularisierte Universalgeschichte im öffentlichen
Auftrag Venedigs verfassen kann, ist die Situation in Deutschland völlig anders,
obwohl alle <liese SchriftP.n im 16. Jahrhundert da gelesen und sogar z. T. übersetzt
werden. ·
Auch in Deutiichland war das historische lnteresse erwacht und hatte sioh in popu.
lären Chroniken und ehrgeizigeren Versuchen einer nationalen Geschichtsschreibung
(Rhenanus, Wimpheling) bekundet. Repräsentativen Charakter gewann die
„Chronica" Carions, geschrieben unter dem Einfluß MELANCHTHONS, der sie später
umarbeitete, ein lange benutztes Lehrbuch, welches das Wissen seiner Zeit in die
drei Zeitalter und die vier Monarchien ordnete und in diesem Material eine Ge-
schichte der Kirche oder gar, in Melanchthons Fassung, die Rechtfertigung prote-
stantischer Lehrmeinungen aufzuzeigen suchte. Im Vergleich etwa mit Otto von
Freising ist kein Fortschritt im Bewußtsein geschichtlicher Problematik festzustel
len, und im Gegensatz zur gleich:r,eitigen ita.lifmischen Historiographie fällt auf, daß
die Autoren unsicherer und weniger konkret werden, je näher sie der eigenen Zeit
kommen .. Liefert sie im einzelnen moralische .ffixempel, so dient für Melanchthon
die universale zeitliche Erstreckung dem Verständnis der biblischen Prophezeiun-
gen: Ut libri prophetici melius intelligantur, omnium temporum historia complectenda
est168 • Prophetie, Weltende und die mit Matth. 24 um des Heiles willen erwartete
Verkürzung oder Beschleunigung der letzten Zeit als vereinigender Gesichtspunkt
bestimmt auch LUTHERS Geschichtsanschauung. Sie kann durch ein lebhaftes Be-
wußtsein von zeitlichem Wandel und Einzigartigkeit eines historischen Momentes
aktualisiert werden. Gottis wort 11,nd gna<le 1:st ein farender platz re.gen, der nicht wider
kompt, wo er eyn mal gewesen ist... Und yhr deutschen dürfft nicht dencken,

167 FRANCESCO GuICCIARDINI, Storia d'Italia, ed. Costantino Panigada, Bd. 1 (Bari
1929), 1.
168 MELANCHTHON, Chronicon Carionis, CR Bd. 12 (1844), 714.

630
b) Reformatorisches Deutschland Geschichte

das yhr yhn ewig haben werdet, Denn der undanck mit verachtung wird yhn
nicht "lassen bleyben 169 • Auf dieses Modell der „Translatio" wird nur der Glaube
und allenfalls das Geschick der Kirche bezogen, der Lauf der Welt aber ist
keiner rationalen Deutung zugänglich, sondern offenbare das überraschende Han-
deln Gottes : Das man wol mag sagen, der wellt "lauf ft und sonderlich seyner heyligen
wesen sey Gottes mummerey, darunter er sich verbirgt und ynn der wellt so wunderlich
regirt und rhumort 1 7o. In dieser Welt herrschen auch deren Gesetze, schon von den
heidnischen Philosophen gültig formuliert, und in ihr stellen sich die Frommen,
alls were keyn Gott da und müsten sich selbs erretten und selbs regiren 171 • Die reformato-
rische Lehre wird an die historischen Fakten der Heilsgeschichte gebunden, was die
Kritik der „Schwarmgeister" hervorrief: Die Lmherischen haben einen historischen
Christum/ quem secundum literam cognoscunt, den sie nach dem Büchstaben erkennen/
nach seinen geschickten / lehre / mirackeln und thatten / nicht wie er heut lebendig ist
vnd wirckt / Wie sie auch einen historischen vernunfft G"lauben / vnnd historische
Justification haben 172 • Folgenschwerer war die Aktualisierung der Lehre Augustins
von den zwei Reichen, deren zeitloses und doch immer schon vorhandenes, die civi-
tas Dei, im wechselvoll geschichtlichen, der civitas terrena, erschemen kann, wobei
die Versuchung besteht, in deren Folge von Untaten, Torheiten und Leiden, die
doch nur bei einei· die irdischen Werte umkehrenden Deutung Sinn erhalten können,
einzelnes Geschehen rechtfertigend auf die eigene Machtposition oder Parteistellung
zu beziehen. Zudem suchte man eine vorbildliche Epoche als Maßstab zur Erneu-
erung geschichtlich zu verorten, und wie die Antike für die Humanisten projizierte
man eine noch nicht korrumpierte frühe Kirche in die ersten christlichen Jahrhun·
derte, und was Bedingung ihrer Situation war, Folge äußerer Unterdrückung und
fehlender Macht, wurde normativ gesetzt, und aller Wandel nach moralischen Kri-
terien als individuelle Schuld verurteilt. Schwieriger noch war die oft versuchte und
nie geklärte Gleichsetzung der beiden Reiche mit der inneren und der äußeren Welt,
wobei die lutherische Tendenz, die äußere unbefragt der Obrigkeit zu unterstellen,
noch den Hang verstärkte, bei Fehlschlägen oder getäuschten Erwartungen den
Rückzug zur Reinheit des Gewissens und der Gesinnung freizugeben, die historisch-
politische Welt aber der Verantwortungslosigkeit auszuliefern.
Das bedeutete vor allem für Deutschland, da~ bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts
die Kirchengesc.hichte den Vorrang bHlrn.11pl•A1iA. Dm1 gilt, von dem mit beachtlicher
Organisation einer kollektiven Arbeit, mit weitem, polemisch geschärftem lnteresse
und systematischer Quellenbenutzung unternommenen Werk der Magdeburger
Centuriatoren (1559-1574) und seinen katholischen Gegendarstellungen bis zu
Mosheims konfessionell entschärfter Kirchengeschichte, deren deutsche Übersetzung
das verbreitetste Geschichtsbuch seiner Zeit wurde. Das bestimmte aber auch die
selbständige Rolle der geystlichen doppel W elt 1 7 3 und ihrer händel, die nicht in eine
160 LU'l'.llER, An ilie Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen

aufrichten und halten sollen (1524), WA Bd. 15 (1899), 32.


170 Ders., Der 127. Psalm ausgelegt an die Christen zu Riga in Liefland (1524), ebd., 373.
171 Ebd.
172 CASPAR SCHWENCKFELDT, Der 93. Sendbrief (1550), Epistolar, Bd. 1 (o. 0. 1566),

812 .
. 173 SEBASTIAN FRANCK, Chrönica, Zeitbuch unnd Geschichtbibell (Ausg. o. 0. 1536),
3. Tl., uv. .

631
Geschichte IV. 3. Das 16. Jahrhundert

allgemeine Geschichte integrierbar schien, und die Bedeutung der „Ketzergeschich-


ten", in denen eine Gegentradition der offiziell Unterdrückten konstruiert wurde,
am wirkungsvollsten von SEBASTIAN FRANCK und Gottfried Arnold. Auch die apo-
kalyptischen Visionen und Versuche, die letzten Tage auf jeweils nahe Zukunft fest-
zulegen, fanden in Johann Albrecht Bengel und Heinrich Jung-Stilling noch ge-
wichtige Vertreter.
Selbst für die Reichsannalistik und die, wenn nicht konfessionell so dynastisch ge-
bundene, politische Geschichtsschreibung wirkte es sich nachteilig aus, daß Me-
lanchthon in der Studienordnung der protestantischen Universitäten den „mos
italicus" der dogmatischen Auslegung des römischen Rechts verbindlich gemacht
hatte. Die von Bude begründete und um die Mitte des 16. Jahrhunderts vor allem in
Frankreich sir,h entfalt1mflr. hiRtoriRnhr. R.echtslehre, der „mos gallicus", der histo-
risches Forschen und Denken entscheidend förderte, konnte sich in Deutschland
so nicht ausbreiten, und seine wichtigsten Werke wurden erst 150 Jahre nach ihrem
Erscheinen wieder beachtet und neu aufgelegt, und ebenso ging es Machiavelli und
Bodin im Staatsrecht, wenn man von Ausnahmen wie Conring absieht, der sie schon
früher in den akademischen Unterricht einführte.

c) Historische Rechtsinterpretation und Theorie der Geschichte. Die historische


Interpretation des römischen Rechts hatte genaue Kenntnisse und ein entwickeltes
Jmitrumeutarium der Forschung bereitgestellt, ähnlich dem Florentiner Humanis-
mus, die in Momenten der Krise eine breite historisch-politische AuseinanflerAflbmng
ermöglichten. Die Zuspitzung der Religionsstreitigkeiten und der nach dem Tode
Heinrichs II. 1559 ausbrechende Kampf um die Rechte von Generalständen, Adel
und Regentin ließ nach geschichtlich begründeten Argumenten und Prinzipien su-
chen. Sie dokumentierten sich in der reichen hugenottischen Pamphletliteratur17 4
und in einer dichten Folge historischer und theoretischer Werke. Dabei kann der
römisch-rechtliche Ausgangspunkt zur schärfsten Ablehnung der Pandekten führen,
wie in Hotmans „Anti-Tribonian", und neben der Rekonstruktion des Rechtes der
älteren, vor allem republikanischen Zeit das Studium der eigenen Rechtstradition
und ihrer Institutionen motivieren. Die universalen Konzeptionen und der „kom-
paratistische" Zugang zum Studium von Recht und Gesellschaft konnten nicht ver-
hindern, daß zur Ausführung vor allem Nationalgeschichten kamen. Die weitere
Geschichtskonzeption bot aber Vorteile, die späteren national beschränkten oder
den universalen Rahmen nur extensiv füllenden Schriften nur zu oft fohlten.
Begnügen wir uns mit dem Blick auf zwei Werke, die den Begriff der Geschichte ver-
ändert haben. Aus rechtshistorischen Studien wie aus Erfahrung in Politik und
Konfessionsdiplomatie entwickelt FRANSJOIS BAUDOUIN den Plan einer umfassenden
Geschichte, historia universa, als Erkenntnis der ganzen Welt in Raum, Zeit und
menschlichen Angelegenheiten, me agere de historia integra 175 , die mit der Rechts-
wissenschafL, welehe die Kriterien richtigen Handelns liefern soll, verbunden werde
zur wahrnn PraxiR. TTnfl mit AnRpiehmg auf das, was Machiavelli an Livius versucht

174 V1TTORIO DE 0.APRARIIS, Propaganda e pensiero politico in Francia durante le guerre


di religione, Bd. 1: 1559-1572 [nur ein Bd. erschienen] (Neapel 1959), passim.
176 FRAN901s BAUDOUIN, De institutione historiae universae et eius cum iurisprudentia

coniunctione (Paris 1561), 22.

632
c) Historische Rechtsinterpretation, Theorie der Geschichte Geschichte

habe, wird entsprechend größerer Gewinn für die Politik aus der vergleichenden
BetrachLung der ganzen Geschichte in Aussicht gestellt. Großartig wird hier das
Studium des Wissens dessen, was ist und was sein soll, skizziert, im Bewußtsein des
Ganzen antike und biblische, sakrale und profane Geschichte versöhnt, die Erfor-
schung des „barbarischen" Mittelalters eröffnet, in dem die modernen Institutionen
wurzeln, mündliche Traditionen, Orient und neue Welt einbezogen und unter dem
höchsten Gesichtspunkt des nach seiner Rechtmäßigkeit zu beurteilenden Han-
delns die menschliche Geschichte von der der Natur getrennt. Dieser Entwurf der
Geschichte, nicht weniger „modern" als Vico, den späteren Leser überraschend an
Hegel und Droysen erinnernd, ist nicht das Werk eines Vorläufers. Er formuliert
bestimmter und weiter blickend, was dem verantwortlichen historisch-politischen
Denken seiner Zeit als dringende Aufgabe der Wissenschaft erschien. Vor der Bar-
tholomäusnacht 1572 ist für Frankreich repräsentativ nicht die Enttäuschung
Guicciardinis, sondern die verzweifelte Hoffnung Machiavellis auf rationale Gestal-
tung der Politik auf dem gewaltig verbreiterten Fundament historischer und geo-
graphischer Kenntnisl76.
Den Schlüssel zur Nutzung dieser neuen Kenntnisse lieferte JEAN BomN mit seiner
„Methodus" wenige Jahre später 177 , mit der er weder Anleitung noch Skizze zur
historischen Synthese gab und auch weniger eine Geschichtstheorie als viAlmAhr
eine gegenüber früheren unerhört ge8chärfte Methode zur Analy8e hi8tori:;cher EnL-
wicklunge:il und zum Vergleich des öffentlichen Rechts und der Institutionen. Es
dürfte schwer fallen, methodische Elemente bei Montesquieu zu finden, die Bodin
nicht auf hohem Niveau diskutiert, sei es in der „Methodus", sei es in den „Six livres
de la republique", in denen er auf historischem Boden sein Lehrgebäude der Politik
errichtet.
Ilaudouins Werk ebenso wie Bodins „Methodus" erschienen bald neu mit zwei
antiken und rund einem Dutzend zeitgenössischer Traktate zur Methodik der Hi-
Rtorie in einem Sammelband 178, der daR wachRende IntereRRe für diese Disziplin be-
zeugt, in die sich Poeten, Rhetoriker, Theologen, Juristen und Philosophen teilten
und deren Entwicklung im 16. Jahrhundert eine deutliche Tendenz von der Schreib-
anleitung und dem traditionellen Lob der 'historia' zu ihrer wissenschaftlichen
Begründung und handlungsorientierten Erkenntnislehre .beobachten läßt. Die
Schwierigkeit, den Einfluß der Rhetorik zu bestimmen, liegt darin, daß die Historie
auf beiden Etappen durehau8 rhetori8ch i8t, nur da8 eine Mal al8 wenig verbindliches
Lehrfach in konventioneller Übung, dann aber, um verantwortlich zur Entschei-
dung in den wichtigsten Angelegenheiten des Staates z_u motivieren oder seinen be-
drohlichen Zustand erkennen zu lehren.
Fast gleichzeitig mit Baudouin versuchte FRANCESCO PATRIZI in zehn Dialogen den
Gegenstand zum erstenmal von der Frage her zu untersuchen, was Geschichte sei:

176 Vgl. GEOFFROY ATKINSON, Les nouveaux horizons de la reni+issance frarn;iaise (Paris

1935), passim; JEAN MoREAU-REIBEL, Jean Bodin et le droit public compare (Paris 1933),
jJlWijilll.
1 77JEAN BoDIN, Methodus ad facilem historiarum cögnitionem (Paris 1566), passim.
178 Artis historicae penus, hg. v. JOHANN WoLFF, 2. Aufl. (Basel 1579), dazu BEATRIUE
REYNOLDS, Shifting Currents in Historical Criticism, Journal of the History of Ideas 14
(1953), 471 ff.

633
Geschichte IV. 3. Das 16. Jahrhundert

ehe cosa, o quale sia l'historia 179 • Die Traktate hatten sonst - und taten es auch
weiterhin - Geschichte mit Geschichtsschreibung identifiziert und, statt begrifflich
zu erläutern, die Hilfswissenschaften Chronologie, Geographie und Genealogie
herangezogen. Patrizi, als Philosoph entschiedener Platoniker und für dieses Ele-
ment bei der Ausbildung der neuen Physik nicht ohne Einfluß, macht eine erste
„kopernikanische Wendung" von den Dingen zum Bewußtsein und definiert 'Ge-
schichte' als „Erinnerung der menschlichen Dinge": la historia ~ memoria delle cose
humane 180. Das erfordert eine Bestimmung der Zeit, und daraus ergibt sich, wie aus
dem frühen Auftreten zyklischer Verlaufsschemata der Geschichte, daß sie nicht
auf die vergangenen und gegenwärtigen Dinge zu beschränken ist, sondern die erin-
nernde Vorwegnahme des Zukünftigen umfaßt1 81 • Bezieht sich darauf die historische
Erkenntnis, so erfüllt sie sich erst in der Umsetimng in gflRchichtliches Handeln,
dessen Ziel Sein ist und Fortdauer und, in der Vermittlung der besonderen Erkennt-
nis mit dem Allgemeinen, menschliche Glückseligkeit. ·
Die Wahrheitskriterien werden in der Richtung des beginnenden Pyrrhonismus
diskutiert, der schon eine Generation vorher von AGRIPPA VON NETTESHEIM in radi-
kaler Skepsis antizipiert wurde 182 ; hier werden sie, weniger aus Mangel einer metho-
dischen Quellenkritik als aus der Erfahrung einer generell im späten 16. Jahrhundert
sich zunehmend öffentlicher Verhandlung und Rechtfertigung entziehenden Politik,
um <liP- Problematik der Öffentlichkeit gruppiert. Die Wahrheit zu wollen genügt
nicht, wo die Ursachen des Handelns als „Arcana" verschleiert bleiben, es sei denn,
der Fürst selbst :,;chriebe Geschichte.
Die Theorie der Geschichte erreichte in diesen Jahren eine Höhe, die sie trotz man-
cher weiteren Differenzierung nicht halten konnte. Ebenso fällt auf, daß Geschichts-
darstellungen dieses Ranges oder den Werken der großen Florentiner vergleichbar
nicht zu verzeichnen sind. Ein Blick auf das 16. Jahrhundert, so flüchtig er sein muß,
zeigt, daß der Begriff von Geschichte sich „prägnant" genug bildete, um gegen ein-
seitige Definitionen sich zu sperren, die lemurenhaft die wissenschaftliche Literatur
durchgeistern. Wie MoNTAIGNE in der Unmittelbarkeit der Selbsterfahrung ein All-
gemeines suchte: l'homme en general, de qui je cherche la cognoissance183, so sucht
LA PoPELINul:RE nach der Kritik aller bisherigen Geschichtsschreibung eine voll-
kommene allgemeine Historie im vollständigen Erfassen der Gesellschaft und ihrer
Sitten zu skizzieren: l'Histoire sera Generale, quand l'autheur luy aura donne la
substance enti~e et accomplie des Etats 184 • Und obwohl sich gegen Ende des Jahr-
hunderts stoisch geprägter Pessimismus und Verfallsstimmung aus den angedeute-

179 FRANCESCO PATRIZI, Della historia dieci dialoghi (Venedig 1560), Ndr. in: EcKHARD

KESSLER, Theoretiker humanistischer Geschichtsschreibung (München 1971), lv.


180 Ebd., 18v.
181 Ebd., 15 ff. 41 ff.
182 HEINRICH CoRNELIUS AGRIPPA v. NETTESHEIM, De incertitudine et vanitate scien-

tiarum atque artium, declamatio (1530), Opera omnia, t. 2 (Lyon o. J.; Ndr. Hildesheim
1970), 22 ff.
183 MoNTAIGNE, Essais 2, 10 (1580), ed. Albert Thibaudet et Maurice Rat (Paris 1962),

396.
184 HENRI LANCELOT-VOisIN DE LA POPELINIERE, L'idee de l'histoire accomplie, in:

L'histoire des histoires (Paris 1599), 85.

634
a) Prohlematisierung der Historie Geschichte

ten Gründen ausbreiten, sind die komplementären viel eher als widersprüchlichen
Vorstellungen von Fortschreiten und Fülle der Natur einerseits, zyklischem V er-
lauf, Gleichförmigkeit und Verfall andererseits gleichzeitig festzustellen und ge-
winnen bis ins 18. Jahrhundert und darüber hinaus Aktualität185. Die weiträumige
Öffnung, perspektivische Verkürzung und Freiheit des Spiels mit der historischen
Welt bezeugt SHAKESPEARE, auch wenn in seiner Antike zur Bestürzung der Ge-
lehrten der trojanische Rektor Aristoteles zitieren darf18 6 •

4. Die Herausforderung der neuen Wissenschaft

a) Problematisierung der Historie. Der entscheidende Wandel des physikalischen


Weltbildes im 17. Jahrhundert und damit der Wandel der Begriffe der Materie,
Bewegung, Zeit, Unendlichkeit, mit dessen Durchsetzung wir bis in die Mitte des
18. Jahrhunderts vorgreifen können, ja die Ver1mche einer generellen Verzeitlichung
und Dynamisierung der Weltansicht haben den Begriff von Geschichte in dieser
Epoche eher irritiert als entwickelt. Verglichen mit Baudouin, Bodin und Patrizi
haben die Theoretiker der Geschichte, aber auch die Geschichtsschreiber und die
Enzyklopädien einen reduzierten Begriff der Geschichte, reduziert auf die Erzähluug
orfor ReEmhreibung des Faktischen. Diesen auf faktische Genauigkeit ohne Raison-
nement beschränkten Gebrauch hat vor allem das Französische in 'histoirc', 'histo-
rien' mit den negativen Gegenbegriffen 'fabel', 'rom.an' bis in die Gegenwart be-
wahrt. Typisch für die polemifmhe Abwertung der 'historia' gegenüber der produk-
tiven 1scientia' ist DESCARTES: Per Historiam intetligo itlud omne quod 7am inventum
est, atque in libris continetur. Per Scientiam vero, peritiam qiiaest1'.one.s omne.~ re.~nlne:nd1:,
atque adeo inveniendi propria irulustria illud omne quod ab humano ingenio in ea.
scientia potest inveniri; quam qui habet, non sa.ne multum aliena desiderat, atque adeo
valde proprie alrraexr1~ appellatur 187 • Damit kaschiert Descartes zwar, wieviel er
selbst der philosophischen Tradition schuldet, aber sein Begriff 'scientia' wird noch
Vico dazu bewegen, statt einer Theorie der Geschichte eine „Scienza nuova" zu
schreiben, und er bezeichnet die Lage der Historie nach dem methodisch notwendi-
gen, wenn auch weder konsequenten noch ganz glaubwürdigen Bruch mit der Auto-
rität der Überlieferung. New philosophy calls all in doubt 188 , und sie hält nicht an vor
der Würde der GeEmhir,hte, die nur noch als Material zur wissenschaftlichen Nutzung
und im übrigen als „Rumpelkammer" dient.
Es war die Zeit ausgedehntester historischer Forschung189 , aber deren Ertrag war
nicht das, was später 'Geschichte' heißt, sondern eine der Tendenz nach systemati-
sche und vollständige Sammlung von „Staats- und Privataltertümern", von Über-
resten und Quellen, die antiquarisch und philologisch exakt bearbeitet wurden. Man

186 Vgl. HERBERT WEISINGER, Ideas of History durirtg the Renaissance, Journal of the

History of Ideas 6 (1945), 415 ff.


186 SHAKESPEARE, Troilus and Cressida 2, 2, 166.
187 DESOARTEB a Hogelande, 8. 2. 1640, Oeuvres, ed. Charles Adam et Paul Tannery,

Suppl. Bd. (Paris 1913), 2 f.'


188 JOHN DoNNE, An Anatomie of the Worlde, First Anniversary (1611), in: ders„ Poems

with Elegies on the Author's Death, ed. John Marriot (London 1633), 241.
18 9 MoMIGLIANO, Ancient History (s. Anm. 155).

635
Gesehichte IV. 4. Herausforderung der neuen Wissenschaft

versuchte, in allen Sparten die extensive „historia universalis" auszufüllen, während


mit der Sache auch der Begriff der intensiven „historia unive~sa" bzw. „integra"
unseres Wissens völlig verlorenging. Sogar methodisch unselbständig geworden,
bewegte sich die umfangreiche Literatur über historische Verifikation und Glaub-
würdigkeit im Schlepptau der juristischen Wahrheitsfindung, ohne eigene Prinzi-
pien historischer Erkenntnis zu gewinnen.
Die Historiographie verbesserte diesen Eindruck nicht. Antike Geschichte, die bis
Ende des 17. Jahrhunderts kommentiert und nicht selbst dargestellt wurde, und
die in nationalen Frühgeschichten erarbeitete Institutionenlehre hatten inzwischen
das substantielle Interesse verloren, da Staatsrechtler und Theoretiker der Politik
naturrechtlich konstruierten, statt historisch abzuleiten. Neuere Geschichte der
Religionskriege lag vor in gegensätzlichen, einander wi<lerlf1g1m<l1m Werken, deren
Quellen gewöhnlich nicht öffentlich zugänglich waren und deren konfessioneller
Eifer wissenschaftlich unergiebig schien, während der literarische Glanz auf den
Memoiren von Retz bis zum Herzog Saint-Simon lag. Das Mittelalter, 'medium
aevum', wie seit Justus Lipsius zunächst die christliche Zeit ab Augustus genannt
wurde 190, war mit Wundern, Heiligenlegenden und gefälschten Urkunden, deren
Nachweis einst wissenschaftliche l'hilologie begründete, jetzt die allgemeine
Skepsis verstii.rkt.e, selbst bei gelehrten Ordensleuten nicht mehr sicher vor Spott.
Die Jesuiten hiell,en ilie Geschichte fast völlig fern von den in ganz Europa ver-
bindlichen Lehrplänen ihrer Kollegs. Und den protestantischen Universalhjstorien
gereichte es nicht zu höherem Ansehen, im wesentlichen nur den bei Carion und
Melanchthon schon leicht anachronistischen Stand zu halten.
Die Geschichte war, wie im cmblcmati3chen Bild, eine gebor11tene Säule, wie im
.barocken Trauerspiel, wo sie statt des antiken Mythos nun den Stoff lieferte, Ruine,
dem Nachdenken gewidmeter Schauplatz unaufhaltsamen Verfalls, in jedem ein-
zelnen Beispiel moralischer Betrachtung zugänglich und jenseitiger Verklärung
fähig191.
Die Geschichte, als Wissenschaft im neuen Sinne nicht zu behandeln, mußte zu
einer unsicheren Grenzprovinz in der Gelehrtenrepublik werden. Die fehlende
Öffentlichkeit des politischen Handelns drängte sie mehr als bisher in den Dienst
der Fürsten oder in private Räume, wo die „historia literaria", die Sammlung
gelehrter Kenntnisse, die beliebteste Disziplin wurde. Das nur schwer oder unter
Gefahr methodisch zu klärende Verhältnis zur Sakralgeschichte belastete die Inte-
grität der Historiker ebenso, wie die „pruvÜ:;urische Moral" Descartes' ein vor-
läufiges Ende der Rhetorik bezeichnet, von der nur die Deklamation blieb. Hier
gewinnt Bossuets „Discours sur l'histoire universelle" eine groteske Repräsentanz,
da er eine Stelle, die auszufüllen die zeitgenössische Forschung sich versagte, ohne
zureichende Kenntnis und historisches Urteil, mit naiver Teleologie die Antike
zum Vehikel biblischer Geschichte gebrauchend, in glänzender Kanzelrede be-
setzt.

19° FRANZ XAVER v. WEGELE, Geschichte dor deutschen Historiographie (München 1885),

482 ff.; JÜRGEN Voss, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs (München
1972), passim.
191 Vgl. WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels (Frankfurt 1963),

197 ff.

fi36
b) Begründungsversuche, Quantifizierung der Zeit Geschichte

b) Begründungsversuche und Quantifizierung der Zeit. Die Versuche, Geschichte


wissenschaftlich zu begründen, waren an der Reduzierung ihres Begriffs selbst be-
teiligt. So will KECKERMANN der Historie das geben, was Bodin in der „Methodus"
nicht gelungen sei, eine methodische und das heißt für ihn logische Behandlung192 .
In streng binärer Filiation wird die Historie in allen ihren traditionellen Teilen
dargestellt. Sie wird definiert als explicatio et notitia rerum singularium, sive indivi-
duorum193 und muß, da die Fakten der Zahl nach unendlich, der Art nach unbe-
stimmt, vagae et indefinitae, sind, unvollkommene Erkenntnis, notitia imperfecta,
bleiben 19 4. Durch logische Induktion können aus einzelnen Tatsachen allgemeine
Sätze gewonnen oder bestätigt werden, vor allem in der Ethik, aber schon in
Ökonomie und Politik haben sie partikuläreren Charakter195 • Diese Begriffsbestim-
mung läßt einige der wichtigsten Tendenzen auch noch der folgenden Zeit er-
kennen.
Generell ist der Anspruch von philosophischer Wahrheit der historischen Erkennt-
nis zurückgeschraubt auf partielle Richtigkeit der Fakten, ihre Anwendung von
politischer Veränderung auf private Einsicht. Damit macht die Historie zunächst
nur kümmerlichen Gebrauch von dem durch Entpolitisierung geschaffenen Frei-
raum, in dem die neue Wissenschaft sich entfaltet, und sie erst wird Begriffe und
Methoden entwickeln, deren über sich selbst hinausweisende Geltung und Trag-
weite der Historie erlaubt, sich ihrer zu bedienen. So ermöglicht die Reduktion auf
Einzelfakten deren Quantifizierung und Summierung in einer Erfahrungszeit,
womit BACON <l.ie unbefragte AutoriLäL der AnLike sLürzen kann, indem er sie als
Jugend und Anfang eines seither fortgesetzten Zeitverlaufs bestimmt, der nur
allmählich die gesuchte Wahrheit enthüllt 196 • Zwar kennt die ganze Renaissance
und besonders VIVES ein im Vergleich zur Antike deutliches Bewußtsein wachsen-.
der Erfahrung: q·uot·id·ie en·im al·iqwid prodü veter-ibus ·inaudüum, incognitum, tam-
quam proficiente mundo 197 , aber die zweifache zeitliche Perspektive einer Antike,
welche respectu nostri antiqua et major, respectu mundi ipsius nova et minor fuit 198 ,
zeichnete doch erst Bacon, der auch in der Ausdehnung der Historie auf das, was
noch zu entdecken und zu tun ist, die Zukunft konkreter als in prophetischen und
prognostischen Vorwegnahmen im Begriff einer 'historia experimentalis' faßt 199 •
Eine ähnliche Vorstellung von Erfahrungen addierender Zeit und prinzipieller

192 BARTHOLOMÄUS KECKERMANN, De natura et proprietatibus historiae commentarius

(Hannover 1610), 5.
193 Ebd., 8.
194 Ebd., 23 ff.
195 Ebd., 49. 13.
196 FRANCIS BACON, Novum organon 1, Aphorismus 84. Works, vol. 1 (1858), 190 f.;

vgl. WILLIAM v. LEYDEN, Antiquity and Authority, Journal of the History of Ideas
19 (1958), 473 ff.; FRITZ SAXL, Veritas Filia Temporis, in: Philosophy and History. Essays
presented to Ernst Cassirer, ed. H. J. PATON and FRITZ SAXL (Oxford 1936), 197 ff.
197 JuAN Lms VIVES, De prima philosophia, liber 1. Opera omnia, t. 3 (Valencia 1782;

Ndr. London 1964), 214; vgl. HANS BARON, The Querelle of Ancients and Modems,
Journal ofthe History of ldeas 20 (1959), I:! f.
198 BACON, Novum organon, Works, vol. 1, 190.
199 Ders., Parasceve ad historiam naturalem et experientalem (1620), ebd., 391 ff.

u37
Geschichte IV. 4. Herausforderung der neuen Wissenschaft

„generatio aequivoca" liegt auch der modernen Parteinahme in der „Querelle des
anciens et des modernes" zugrunde. Nur führt neben dem Umstand, daß sie seit
Richelieu offiziöse Doktrin ist, die Festlegung beider Parteien auf das ästhetische
Paradigma zu beträchtlichen Schwierigkeiten. Denn war das Lob der Gegenwart
auf Kosten der Antike Frage des Geschmacks, solange die französische Klassik
große Werke hervorbrachte, so wurde es seit Beginn des 18. Jahrhunderts unglaub-
würdig schon im Blick auf die eigene Vergangenheit. Die Folge war die Ausgliede-
rung der mechanischen Künste und Wissenschaften aus dem System der „artes" 20 o,
ihre Zuordnung zu den fortsciireitenden·Naturwissenschaften und der Mathematik,
während die „schönen Künste" in eine Zeitlosigkeit plaziert wurden, die ihre
Historisierung beschleunigte, die geschichtsphilosophische Betrachtung jedoch
hemmte. ·
c) Der Wahrheitsbegriff. Gleichzeitig hatte sich der Gebrauch der Begriffe 'Wahr-
heit' und 'Wahrscheinlichkeit' gewandelt. Stand in der aristotelischen Tradition
Wahrheit des (historisch) Einzelnen gegen Wahrscheinlichkeit des (poetisch) All-
gemeinen, so änder~ sich nun dieses Verhältnis. Die logisch oder juristisch disku-
tierte historische Glaubwürdigkeit stieß auf die von Ker.ktlrmann bezeichneten
Grenzen, die THOMASIUS ein wenig modernisiert: Von abwesenden Dingen können
wir niemahlen 1tnstreitige W arheiten vermittels einer klaren und deutlichen Erkänt-
nüß begreiUen / sondern alles / was wir davon bejahen / ist entweder nur wahr.~cheinlich
oder doch sehr dunclcel und confu.~ 201 , und er fügt hinzu: was detr Mensch von dem
Wesen des V ergangenen gewiß und deutlich verstehet / das ist nicht anders als eine
Er:innerung solcher Dinge/ die er zuVO'r als yeyenwärtiy allbereit begriUen ... Und
muß also auch in Erwegung der wahrscheinlichen Dinge das Vergangene und Zu-
künfftige nach dem Gegenwärtigen gerichtet werden 202 • Historische Erkenntnis er-
reicht also nicht einmal die bloße Wahrheit faktischer Gewißheit, die ihr bisher in
den Definitionen wenigstens als Ziel gesetzt wurde, sondern eine Wahrscheinlich-
keit, die als nur teilweise Gewißheit bestimmt wird 203 , während die Dichtung in
der Tradition des Neuplatonismus eine eigene Wahrheit beansprucht 204 , die sich
als philosophische auf allgemeines bezieht. So behauptet DmEROT in der „Eloge
de Richardson" emphatisch, que l'histoire la plus vraie est pleine de mensonges,
et que ton roman est plein de verites. L'histoire peint quelques individus; tu peins
l'e.~pe,c,e h1"maine 206 • Der Wahrheitsanspruch der Dichtung gewinnt im 18. Jahr-
hundert an Boden, der der Geschichte wird da.von abl1ängen, daß sie aLs ein Ganzes
begriffen und gedeutet werden kann.
Die analog zur englischen. Gerichtspraxis abnehmende Glaubwürdigkeit eines Be-
weises, je mehr Schritte seine Überlieferung brauchte, auf der LOCKE für die Ge-

aoo PAUL ÜSKAR KRISTELLER, The Modern System of the Arts, in: ders„ Renaissance
Thought, vol. 2 (New York 1965), 163 ff.
201 CHRISTIAN THOMASIUS, Einleitung zu der Vernunfft-Lehre 11, § 6 (Halle 1691), 243.

202 Ebd. 11, §§ 20. 23, S. 247.


2 0 3 Vgl. JAKOB BERNOUILLI, Ars conjectandi 4, 1 (Basel 1713): Probabilitas est gratlus

certitwiinis et ab ooc diflert ut pars a toto.


204 z. B. MACROBIUS, Somnium Scipionis 1, 2, 7: modus per figmentum vera refereruii.
206 DrnEROT, Eloge de Richardson (1761), Oeuvres compl.. t. 5 (Paris 1875), 221.

638
d) Zum modernen Gesehichtshegrift' Geschichte

schichte besteht 206, fand eine kuriose Berechnung, die eine im Quadrat der Zeit
verminderte und schließlich erlöschende Glaubwürdigkeit historischer Fakten und
auch der christlichen Offenbarung ergab 207, die HUME erst überzeugend wider-
legte2oa.
d) Auf dem Wege zum modernen GeschichtsbegriJf. Wie in der physikalischen
Revolution des 17. Jahrhunderts bedurfte es eines Vorgriffs aufs Unendliche und
eines durch Erfahrung nicht einholbaren Modells 209 , um dem modernen Begriff von
Geschichte den Weg zu bahnen. Ausgehend davon, daß der Mensch n'est produit
que pour l'infinite und sein Gedächtnis jedem einzelnen und allen zusammen un.
continuel progres erlaube, konzipiert PASCAL einen einzigen komme universel aus
allen Menschen in der ganzen Folge der Zeiten, qui subsiste toujours et qui apprend
continuellement 210• LEIBNIZ, der dieses Manuskript kannte, schuf in immer erneuten
Versuchen das philosophische Instrumentarium, die Welt als dynamischen, pro-
gredierenden Gesamtprozeß anzusehen 211 . Diese Einsicht auf den Begriff der Ge-
schichte zu übertragen oder gar in seinen Geschichtswerken über einzelne harmoni-
sierende Deutungen hinaus zu verwirklichen, blieb ihm versagt; seine historische
Arbeit erschöpfte sich im wesentlichen darin, die von Mabillon und den Maurinern
entwickelten Methoden auf deutsche Quellen anzuwenden.
Die „historia naturalis" diente auch SPINOZA, diesmal, um die Auslegung der Bibel
der Vernunft zu unterwerfen: N am sicuti methodus interpretandi naturam in hoc
potissimum consistit, in concinnanda scilicet historia naturae, ex qua, utpote ex certis
datis, rerum naturalium definitiones conclUdimus: sie etiam ad Scripturam inter-
pretandam necesse est 212 . Diese Absicht in der unermüdlichen Richtigstellung ver-
kehrter Meinungen, im Sturz angemaßter Autorität verfolgte BAYLE, ohne doch
in der Geschichte insgesamt etwas anderes sehen zu können als le. por.trait de la
misere de l'Jwrnme21s.
Und es war die gemeinsame Natur der Völker, die Vrno mit dem Begriff des Un-
endlichen und der Konzeption eines idealen Zeitverlaufs lesbar macht und darstellt
als eine ewige ideale Geschichte, una storia ideal eterna, der gemäß die einzelnen
Geschichten der Völker, le storie di tutte le nazioni, verlaufen. Mit dem erkenntnis"
theoretischen Sprung, daß il mondo civile, was man später die 'geschichtliche Welt'
nennen wird, im Gegensatz zur Natur und, weil von den Menschen geschaffen,
auch von ihnen erkannt werden müsse, da die Prinzipien dazu in den Strukturen

208 LOCKE, An Essay Concerning Human Understanding 4, § 10 f. Works, vol 3 (1823),

108 f.
207 JOHN CRAIQ, Theologiae christianae principia mathematica (London 1699), passim,

z. Tl. Ndr. in: History and Theory 3, Beih. 4 (1969), bes. 26.
208 HUME, A Treatiee of Human Nature 1, 3, 13. Works, vol. 1 (1886), 441 f.
909 Vgl. ALEXANDRE KoYRE, Etudes d'histoire de la philosophie (Paris 1961), 239.

210 PASCAL, Fragment de preface pour Je traite du vide, Oeuvres compl., ed. Fortunat

Strowski, t. 1 (Paris 1923), 403.


211 Vgl. ARTHUR 0. LovEJOY, The Creat Chain of Boing (1036; Ausg. Cambridgo/Mass.

1966), 242 ff. .


212 SPINOZA, Tractatus theologioo-politicus 7. Opera, ed. Carl Gebhardt, t. 3 (Heidel-

berg o. J.), 98.


213 BAYLE 5e ed., t. 3 (1740), 548 b.

63!)
Geschichte IV. 4. Herausforderung der neuen Wissenschaft

unseres menschlichen Geistes gefunden werden können und müssen, vollendet Vico
die „kopernikanische Wende" von den Dingen zum Bewußtsein. In der Geschichte
begreift der Mensch sich selbst, und indem er sie sich erzählt, schafft er sie sich
selbst nach seinen eigenen Gesetzen 214 • Da es ihm um ein allgemeines, um Gesetz-
mäßigkeiten geht, kann Vico entlegene Epochen, nur poetisch überlieferte Anfänge
mit vorher ungekannter Intensität deuten, die Wahrheit dichterischer Gedanken,
universali fantastici, erkennen und zugleich die Historie zu einer philosophischen
Wissenschaft machen.
Vico stand isoliert und fast wirkuugi;lui; iu 8tÜuer Zeit, alier dersellie historische
Relativismus, nur in verkleinernder und verharmlosender Perspektive, bestimmt
FoNTENELLE bei seinem Versuch, de faire l'histoire de l'histoire meme 216 • Der gleiche
durch die „histoire naturelle" geschulte Blick für die Fülle individueller Umstände
und Verschiedenheiten verbindet Buffon mit Montesquieu und Diderot und läßt
die eigene Methode des „point de vue de l'histoire" abheben von strikt deduzieren-
den oder rigoros klassifizierenden Verfahren 216 • Diderot kann Selbstbewußtsein
und Identität begreifen als eine histoire, produziert durch die memoire, ( qui) lie
les impressions qu'il regoit, forme par cette liaison une histofre qui est celle de sa vie,
et acquiert conscience le lui 217 • Die Verinnerlichung der Geschichte ins Rewußtsein
und, bei Rousseau, die Sprengung des historischen Innenraums, wo die geschicht-
lich korrumpierte und zugleich bewußt gewordene Natur des Menschen in der
geschichtlichen Welt mit sich versöhnt werden soll, warf Schwierigkeiten auf, die
mit den vorhandenen Mitteln nicht zu lösen waren; Die der „histoire naturelle"
verdankte räumliche Ausdehnung und Genauigkeit konnte wohl im eimr.elnen,
in Kunst uud Wii;i;eusuhaft „Eutwiukluug" uml damit sinnvolle Geschichte sehen,
aber nicht in Verbindung mit dem modernen Zeitbegriff Geschichte im ganzen
begreifen. Zum Gegenstand historischer Forschung macht VoLTAIRE, mit kollek-
tivem Singular, l'histoire de l'esprit humain. Und in kosmologischer Analogie, ent-
sprechend der früher nur geahnten Ordnung des Universums, dessen Gesetze nun
erkannt seien, fordert er als bisher unerreichtes Ziel: O'est donc l'histoire de l'opinion
qu'il fallut ecrire; et par ia ce chaos d'evenements, de factions, de revolutions, et de
crimes, devenait digne d'etre presente aux regards des sages 218 •
In Deutschland tritt der Kollektivsingular 'Geschichte' zunächst im theologischen
Kontext der Rechtfertigung des Dbels auf219 , bleibt aber noch bis zum späten
Kant der teleologischen Urteilskraft unterworfenes Objekt, welche Newtons Be-
griff einer absoluten· und homogenen Zeit voraussetzt. Das Hereinbrechen einer
anderen Zeiterfahrung zugleich mit der Erfahrung verändernden politischen.
Handelns ließ, vielfach vorbereitet· und begrifflich vereinzelt fast vorweggenom-
men, in einem neuen Sinne von 'Geschichte' sprechen.

214 Vrno, Scienza nuova 1, 4; 1, 3. Bd. 1(Bari1928), 128. 117. 91 (s. Anm. 156).
2u FoNTENELLE, Sur l'histoire, Oeuvres compl., t. 2 (Paris 1818; Ndr. Genf 1968), 424 ff.
216 HERBERT DIECKMANN, Cinq le9ons sur Diderot (Genf 1959), 49.
217 DIDEROT, Reve de d'Alembert (1769), Oeuvres compl., t. 2 (1875), 113.
218 VoLTAIRE,Remarques de l'essai sur les moeurs (1763),0euvres compl., t. 24 (1879),

547.
219 ALBRECHT v. HALLER, Über den Ursprung des Übels (1734) ändert in der 4. Aufl.
(1748) den Plural 'Geschichten' in den kollektiven Singular: 0 Wahrheit! sage selbst du
Zeugin der Geschichte!, Gedichte, 5. Aufl. (Zürich 1750), 88.

640
a) 'Historien' - 'Geschichte' Geschichte

5. Zum Toposwandel von 'Historia' und 'Geschichte'

Die Traktate zur „historischen Kunst" und die Vorreden der Geschichtswerke
überliefern seit der Antike bestimmte Formeln, um Wesen und Aufgabe der Ge~
schichtsschreibung so allgemein und doch so prägnant wie möglich zu umreißen.
Unbefragte Voraussetzung war zunächst, daß die Geschichte nicht um ihrer selbst
willen, wie es erst der Historismus fordern konnte, sondern für einen Zweck be-
trieben wurde; man wollte Nutzen von ihr haben, und den glaubte man darin zu
finden, daß sie die Erfahrungen anderer lehre und verwertbar mache. Die größte
Schwierigkeit fand man in der Erforschung und Darstellung der Wahrheit, und ein
Ziel über den 'benannten Zweck hinaus läßt sich in der durch die Geschichtsschrei-
bung ermöglichten Erinnerung sehen.
Der Wandel des Begriffes 'Geschichte' läßt sich an Gebrauch und Interpretation
der Topoi ablesen. Wir begnügen uns hier, diesen Wandel und die Themen Lehr-
barkeit, Wahrheit und Erinnerung knapp zu skizzieren.

a) Von den 'Hi11torien' zur 'Ge11c:hic:hte'. Kein Satz findet ,sich in der hist,orisc.he.n
Litfm1.tnr so häufig zitiert wie ÜICEROS Lob des fünffachen Nutzens der Historie
für den Rhetor: llistoria vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra
vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur ?220 Im
Deutschen des späten 16. Jahrhunderts lautet die meist allein zitierte erste Hälfte:
Historien sind ein zeugniß der zeiten / ein liecht der warheit / das leben des gedächt-
niß / aina an>!aigung das altan 1wäs1ms / und .Lehrmeisterin und unterweiserin des
menschlichen lebens 221 • Dabei dokumentiert der Plural 'Historien' ein richtiges
Verständnis des Textes und zugleich die vorwiegende Geschichtsauffassung der
frühen Neuzeit, daß es die Berichte einzelner Ereignisse sind, die diesen Nutzen
gewähren. Die theoretisch bereits sehr früh, wie wir sahen, _formulierte Einheit der
Geschichte und ihrer Überlieferung wird in Deutschland erst von den fünfziger
Jahren des 18. Jahrhunderts an in der Geschichtswissenschaft greifbar. So be-
richtet PüTTER 1752: Ich habe mich am meisten bemühet, zuerst die Geschichte auf
eine zu akademischen Vorlesungen schickliche Art in einen gewissen Zusammenhang,
ich weiß nicht, ob ich es sagen darf, in eine Art von System zu bringen 222 . Und was
hier als Leistung der Methode oder gar nur der Didaktik beschrieben wird, legt
GATTERER einige Jahre später der t'.fache selbst bei: Es gibt also, eigentlich zu reden,
nur eine Historie, die Völkergeschichte, imd diese ist die wahre und eigentliche Uni-
veri;alhistor·ie; ein Werk, das nouh n·iuhl yei;uhrieben ·ist. Er kann sagen: D·ie Ge-
schichte, die ganz Zusammenhang sein soll, und den Wunsch äußern: Der höchste
Grad des Pragmatischen in der Geschichte wäre die Vorstellung des allgemeinen Zu-
sammenhanges der Dinge in der Welt (Nexus rerum universalis). Denn keine Be-
gebenheit in der Welt ist, sozusagen, insularisch2 23 .

22o CICERO, De orat. 2, 36; vgl. 2, 51.


221 GEORG FORBERGER (Übers.), Francisci Guicciardini Gründtliche unnd wahrhafftige
beschreibung aller fürnemen historienn (Basel 1574), Dedikation, 2v.
2 22 J OH. STEPHAN PüTTER, Grundriß der Staatsveränderungen des Teutschen Reichs,
Vorrede zur 1. Aufl. 175~, ~.Aufl. (Göttingen 1755), V.
223 JoH. CHRISTOPH GATTERER, Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden

Zusammenfügung der Erzählungen, GATTERER, Rist. Bibl., Bd. 1 (1767), 25. 26. 28. 85.

41-llll:J88/l 641
Geschichte IV. 5. Toposwanclel von 'Historia' uncl 'Geschichte'

b) Magistra vitae, Lehrbarkeit und Nutzen. Nun erst kann 'die Geschichte' lehren,
beweisen oder fordern, und der am häufigsten ausgegliederte Teil des Ciceroniani-
schen Topos 'historia magistra vitae', der als Titel über der jahrhundertelangen
Auseinandersetzung um die Lehrbarkeit und Vorbildlichkeit historischer Erfahrung
steht und dessen Auflösung selbst geschichtstheoretisch gedeutet werden kann 224,
wird nun so paraphrasiert: Die Geschichte ist die zuverlfi,ssigste Lehrmeisterin der
Moral 225 • Diese Festlegung des historisch Lernbaren auf die Moral bezeichnet eine
wichtige Tendenz, ist aber llicht allgemein repräsentativ. In den dreißiger Jahren
des 18. Jahrhunderts nannte SCHMAUSS die Historie polemisch gegen ihren erbau-
lichen Mißbrauch eine Schule der Staatsdiener 226 , und fast ein Jahrhundert früher
begegnet die gelungene Formulierung: Und kan das Politische Leben ohne Historien
nicht bestehen 227 •
Die unterschiedlichen Übersetzungen deuten darauf hin, daß ~cht nur der Begriff
'Geschichte' sich geändert hat, sondern ebenso der. des Lebens und dessen, was
lehrbar oder zu lehren wert ist. Bei Cicero selbst ist 'magistra vitae' keine Aus-
zeichnung allein der historia, es wird.anderenorts der Philosophie zugeschrieben 22 s.
Die Historie gewinnt aber damit ·einen Platz innerhalb der Rhetorik, und das
bedeutet weithin für die Antike und die Republiken der Renaissance, des neben
Strategie und Ökonomie geschätztesten Vermögens, die alle drei ebenso wie die
Ethik der Staatslehre untergeordnet sind 229 • Ihrer Fülle an Ex.empeln wegen bildet
die Historie weniger bei den Geschichtsschreibern selbst als im Unterricht den
lebendigeren empirischen Teil der Moralphilosophie, der den dogma.Lisdum ergänzt.
SENECA brachte es auf die knappe vielzitierte Formel: longum iter est per praecepta,
breve et efficax per exempla 230• Was hier didaktisch begründet ist, darf aber nicht
verallgemeinert werden; derselbe Seneca warnt vor der vernunftlosen Anwendung
der Beispiele: Inter causas malorum nostrorum est, quod vivimus ad exempla; nec
ratione componimur, sed consuetudine adducimur 231 • Gegen den beispielgläubigen
Wissenschaftsbetrieb kann RoGER BACON noch - oder schon - sich dieser Waffe
bedienen232 • Generell bestreitet den Wert historischer Beispiele vielleicht zuerst
in der Neuzeit Sm PHILIP SIPNEY: the Historian wanting the precept, is so tyed,
not to what shoulde bee, but to what is, to the particular truth of things, and not to the
general reason of things, that hys example draweth no necessary consequence, and
therefore a lesse fruiteful doctrine 233•

224 REINHART KosELLECK, Historia Magistra Vitae, in: Natur und Gei,iehichte, Fschr.

Karl Löwith, hg. v. HERMANN BRAUN u. MANFRED RIEDEL (Stuttgart 1967), 196 ff.
m ADELUNG Bd. 2 (1775), 601.
228 JoH. JAKOB SCHMAUSS in einem Gutachten zur Gründung der Universität Göttingen,

zit. GöTz v. SELLE, Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737-1837 (Göttingen


1937), 21 f.
227 THOMAS GARZONI, Piazza universale (Frankfurt 1641), 408.
2 2s CrcERO, Tusc. 2, 16; vgi. 2, 49; 5, 5.

229 ARrsTOTELES, Nikom. Eth. 1094 b.


230 SENECA; Ep. 6, 5.
231 Ders., Ep. 123, 6.
232 ROGER BACON„ Opus tertium, o. 22, ed. J. S. Brewer (London 1859), 72.

233 Sm PmLIP SrnNEY, An Apologie for Poetrie (London 1595; Ndr. Amsterdam, New

York 1971), D 3r. ·

642
c) Lm: veritatis Geschichte

Zu dieser Zeit hatten die Geschichtstheoretiker des späten 16. Jahrhunderts Kri-
terien entwickelt, die über den in Ciceros Topos ausgesprochenen Nutzen hinaus-
reichen. Es bleibt aber im wesentlichen der mögliche Schluß vom Vergangenen auf
das Zukünftige, das Recht des Historikers, über seinen Gegenstand zu urteilen,
und die selbstverständliche Voraussetzung, daß die Erkenntnis des Vergangenen
in ähnlichen Fällen wieder anzuwenden ist. So kann P ATRIZI empfehlen, im Gegen-
satz zum Entstehen der Staaten und Bewahren der Herrschaft ihren Niedergang
nur kurz oder gar nicht zu schildern, da keine Lehre für das Glück des Staates
( all'altrui felicita civile) daraus zu gewinnen sei 234 • Hier wird sich das Interesse
des Zeitalters von Montesquieu und Gibbon entscheidend verlagern. Und schon
die Polyhistoren des 17. Jahrhunderts wollen nicht mehr wie Baudouin, Patrizi
und Bodin, historische Erkenntnis in Handlung umsetzen, sondern sehen das Ziel
der Historie darin, daß die Ereignisse gewußt werden (ut sciantur)2 35•
Auf diesem Wege bereitet sich langsam ein Wandel im Verständnis des Lehrbaren
in der Geschichte vor. Maximen des Handelns sind aus ihr nach der Erfahrung der
Französischen Revolution nicht länger zu gewinnen. Was die Erfahrung aber und
die Geschichte lehren, ist dies, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der
Geschichte gelernt haben, kann HEGEL feststellen. Das Bildende der Geschichte liegt
nun in der ..4.rbeit des Geistes, der Erkenntnis de.ssen ... , was er ist: Die.ser Prozeß,
dem Geiste zu seinem Selbst, zu seinem Begriffe zu verhelfen, ist die Geschichte 236 •
Kontinuität im geschichtlichen Selbstbewußtwerden des Geistes ist die Historie
als begriffne Geschichte 287 nun geworden. Damit erhält auch der Satz Ilistoria vitae
magistra einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn. Wir wollen durch Er/ahrung
nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden 238 • So versucht
JACOB BuRCKHARDT, die Auseinandersetzung zu schlichten, und doch werden
politische Ökonomie und Soziologie versuchen, durch Analyse historischen Ge-
schehens strukturelle Veränderungen vorherzubestimmen und daraufhin mögliches
Handeln wissenschaftlich zu begründen. Und kaum einer der bedeutenderen
Historiker des 19. Jahrhunderts widerstand der Versuchung, selbst wenigstens
zeitweise politisch tätig zu sein und so dem Topos in einem vergangenen Sinne
Tribut zu zollen.

c) Lux veritatis, Wahrheit und Abbildungsverhältnis. Überhaupt wendet sich aber


der moderne Historiker vorwiegend an seine Gegenwart, während der antike vor
allem für die Nachwelt und deren Nutzen oder Erkenntnil'l a.rl1eil.e!. 239 • Damit
ändert sich der Objektivitätsanspruch. ÜICEROS Frage, ob es nicht selbstverständ-
lich sei für den Historiker, ne quid falsi dicere audeat? deinde ne quid veri non

234 PATRIZI, Della hist-Oria dieci dialoghi (s. Anm. 179), 34v.
235 Typisch dafür ist GERHARD Voss, Ars hist-Orica (1623; 2. Aufl. Leiden 1653), 15.
986 HEGEL, Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, 5. Aufl. (Ham-

burg 1955), 19. 183. 72; vgl. DROYSEN, Historik, hg. v. Rudolf Hübner, 4. Aufl. (Darmstadt
1960), 353 ff.
2 37 HEGEL, Phänomenologie des Geistes, SW Bd. 2 (Ndr. 1964), 620. _
238 JACOB BURCKHARDT, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Jakob Oeri, 2. Aufl.

(Berlin, Stuttgart 1910), 9.


23 9 ARNALDO MoMIGLIANO, Tradition and the Classical Hist-Orian, Hist-Ory and Theory 11

(1972), 297 ff., bes. 291.

U43
Geschichte IV. 5. Toposwandel von 'Historia' und 'Geschichte'

audeat? 240 ist zu formell, als daß nicht ihr zweiter Teil auf begründete Kritik
stoßen müßte 241 . Aber die Forderung der Wahrheit veranlaßt LuKIAN, das Ideal
eines so unparteiischen Historikers zu. entwerfen, der nirgendwo sozial verortet
sein kann: als Fremdling nur in Büchern und in keiner Stadt zu Hause, nur eigenem
Gesetz und keinem Herrn verpflichtet, erwägt er nicht die Meinungen von diesem oder
jenem, sondern stellt Tatsachen fest 242 • Dafür bot sich die Metapher des Spiegels
an 243 , die ein ständiger Topos bleibt, in der Erkenntnistheorie zum Bild des leben-
den Spiegels sich wandelt, als der erst Gott ( speoulum aeternitatis vivum, quod est
forma formarum)2 44 und bald der Mensch in seiner Stellung zur Welt gedeutet wird:
Et in quocunque loco cuncta mundi statueris entia: in eius opposito abs te collooandus
et reoipiendus est Homo, ut sit universorum speoulum 245 • Im Dunstkreis magischer
Vorstellungen wird darauR der .~chaOende Spit>{fel, den FauRt von Mephistopheles
fordert 246 , und mit diesem Bilde glaubte FRIEDRICH MEINECKE den Historismus
charakterisieren zu sollen als die um ihrer selbst willen betriebene Beschwörung
des Vergangenen 247 • Es sind aber auch bei der Sorge um die sich notwendig ein-
mischende Individualität des Historikers gegensätzliche Haltungen zu unterschei-
den. RANKES Glaube an die Objektivität einer erst zu entdeckenden unbekannten
W cügcschichtc 24 R war so stark, daß er die im Bewußtsein einer fortschreitenden Ze·it
wohl zuerst von GOETHE ausgesprochene Bemerkung: Daß die Weltgeschichte von
Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse 249 , nur ungern zugestand. Er sehnte sich,
in reüie'r Anscltawung nach M-ilgef'ühl, M,it,wissenscltaft des Alls 250 zu streben: Ich
wünschte, mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge, die mächtigen
Kräfte erscheinen zu lassen 251 • Demgegenüber äußert JACOB BuRCKHARDT aus Ein-
sicht in die Blindheit unseres Wünschens angesichts der Zukunft: Könnten wir
völlig auf unsere Individualität verzichten und die Geschichte der kommenden Zeit
etwa mit ebensoviel Ruhe und Unruhe betrachten wie ... das Schauspiel der Natur
... , so würden wir vielleicht eins der größten Kapitel aus der Geschichte des Geistes
bewußt miterleben. Und bei den zu gewärtigenden Umwälzungen würde man, ohne

240 CICERO, De orat. 2, 62.


241 VOLTAIRE, Art. Historiographe, Oeuvres compl., t. 19 (1879), 372.
e4 1i LuKIA.N, Rist. conacr. 41, 1: ~€110<; iv t'oi' ßißÄloi,,, ual dnoÄi~" avwvoµoc;,
aßatJlÄevw,, ov Tl TijJCie, fj Tip& Ci6~et, Äoy1C6µ8'1'0,, aÄÄa Tl :n:ii:n:(laUTat, .Uywv.
243 Ebd. 51, 1.
2 44 NmoLAUS VON KuEs, De visione Dei, Opera, t. 1 (Paris 1514), 107r.
245 CAROLUS BOVILLUS, Liber de sapiente (Paris, Amiens 1510), Ndr. in: ERNST CASSIRER,

Individuum und Kosmos in der Renaissance, 3. Aufl.. (Darmstadt 1969), 353; vgl. miroir
vivant bei LEIBNIZ, Nouveaux essais sur l'entendement humain 2, 21, § 72. Philos. Sehr.,
hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 5 (Berlin 1882), 196.
248 GOETHE, Faust 1, Paralipomenon Nr. 11. WA Bd. 14 (1887), 291.

247 FRIEDRICH MEINECKE, Schaffender Spiegel (Stuttgart 1948), 7.


248 LEOPOLD v. RANKE, Brief an Heinrich Ritter v. 22. 3. 1828, SW 2 u. 3. Aufl.., Bd. 53/54

(1890), 195.
249 GOETHE, Geschichte der Farbenlehre, 4. Abt., 16. Jahrhundert, Baco von Verulam

(1810), Die Schriften zur Naturwissenschaft, Bd. 6/1 (Weimar 1957), 149.
26o RANKE, Tagebuchblätter, SW Bd. 53/54, 569 f.
261 Ders., Englische Geschichte, SW Bd. 15 (1870), 103.

644
c) Lux veritatis Geschichte

noch zu fürchten oder zu hoffen, durch die Bedeutung des Gegenstandes fast dazu
genötigt, nur mehr nach Erkenntnis verlangen 252 •
Mehr Subjektivität liegt in dem Vergleich mit der Zeichnung, dem Gemälde, dem
Tableau. In den ästhetischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts liebt man es, die
Eigenart der Literatur durch die der Malerei zu erläutern, selbst nachdem Lessing
durch die temporalen Kategorien Sukzession und Gleichzeitigkeit in seinem
„Laokoon" 1766 die Unvergleichbarkeit postUlierte. RAMLER in der Übersetzung
von Batteux geht davon aus, daß Lebrun ebenso wie Curtius Rufus die Schlachten
Alexanders gemalt hätten: Dieser mit willkürlichen und angenommenen Zeichen,
nämlich mit Farben und Pinselzügen; jener mit natürlichen und nachahmenden
Zeichen, nämlich mit Worten. Sind sie der Wahrheit genau gefo7,gt, so sind sie beide
Historienschreiber. Und sehr vage kann von dem allgemeinen Gemälde des mensch-
lichen Geschlechtes gesprochen werden 253 • BonMER spricht den historischen Be-
gebenheiten im Vergleich mit den erdichteten den Vorteil zu, daß sie richtig nach
der Natur gezeichnet sein und weniger betriegen254 • Der Sprachgebrauch legt es nahe,
daß ein Charakter gezeichnet, von einer historischen Persönlichkeit ein Porträt
geliefert wird. Den Vorzug der römischen Historiker vor denen der späteren Zeit in
dieser Kunst sieht SAINT-EVREMOND darin begriindet, daß dort die Schreiber der
Geschichte an ihr auch teilnahmen und die römische Ämterlaufbahn durch Reli-
gion, Heerführung und Politik zu einer umfassenden Menschenkenntnis führen
konnte. Daher die grande de'licatesse de discernement in der peinture eines Sallust
oder Tani 1,us: 0' e.~t 11,ne certaine ditference, dont chaque vice oU chaque vertu est
marquee par l'impression particuliere qu'elle prend dan.~ "le.~ e.~prit.~ ou elle se trouve 255•
In einem weit geführten Vergleich kann der CARDINAL DE RETZ seinen Leser aus
dem ungenügend beleuchteten Vorzimmer, das den Entwurf zum Vorspiel des
Bürgerkrieges enthält, in die Galerie mit den lebensgroßen Porträts geleiten 2 56.
Allgemeiner ist die Vorstellung GuNDLINGS: Die Historie ist ein Kabinett, darinnen
man alles sehen kann, was passieret; alle revolutiones, eventus rerum kann man da
sehen 257 • Das deutet auf eine Verräumlichung, die sich auch in der Naturwissen-
schaft findet, wo man in einem wohleingerichteten cabinet d'histoire naturelle das
systeme de la nature elle-meme studieren soll 268 •
Mit der zeichnerischen Darstellung verbindet sich das Bild der nacketen, unge-

2n 2 BURCKHARDT, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 273 f.


253 KARL WILHELM RAMLER, Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem
Franz. des Herrn Batteux, 4. Aufl., Bd. 4 (Leipzig 1774), 263 f. 276.
254 JoH. JACOB BoDMER, Historische Erzählungen, die Denkungsart und Sitten der

Alten zu entdecken (1769), Sehr., hg. v. Fritz Ernst (Frauenfeld, Zürich 1938), 73.
255 SAINT-EVREMOND, Discours sur les historiens frarn;iois, Oeuvres, t. 3 (Amsterdam

1726), 219. 223. .


256 C.ARDINAL DE RETZ, Memoires, ed. Maurice Allem et Edith Thomas (Paris 1956),

152.
257 Nrn. HIERONIMUS GuNDLING, Ausführlicher und mit illustren Exempeln aus der

Historie und Staaten Notiz erläuterter Discours über Jo. Franc. Buddei Philosophiae
Practicae Part. III, Die Politic (Frankfurt, Leipzig 1733), Prolegomena, 4.
2 5 8 VA.LMONT DE BoMARE, Dictionnaire raisonne universel d'histoire naturelle, t. 5 (o. 0.

[en Suisse] 1780), 414; vgl. 430.

645
Geschichte IV. 5. Toposwandel von 'Historia' und 'Geschichte'

schmückten Wahrheit 259 , die der HiStoriker anstreben soll, und daneben steht die
seit der Antike geläufige Vorstellung einer erst allmählich durch die Zeit (Chronos)
entschleierten Wahrheit: veritas filia temporis 260 • Optische Metaphorik und Ver-
räumlichung läßt CoMENIUS eine Karikatur der Historiker entwerfen, derzufolge
sie mit einer Art in Windungen gelegter und gebogener Posaunen ... über die Schul-
ter hinweg nach rückwärts schauten, wobei noch ein jeder ein anderes Bild durch die
gebogenen Perspektiven (= Fernrohre) erblickt 261 • Positiv gewendet in der Tradi-
tion der Monadologie von Leibniz kann CHLADENIUS die Geschichte nur durch je
bestimmte Sehepuncte erkennen und in verjüngten ·Bildern darstellbar sein
lassen 262 •
So einleuchtend dieser Vergleich ist, widerspricht er doch dem Verfahren der
menschlichen Erinnerung und gerade auch der Wirkung historischer Beispiele, die
viel stärker betroffen machen können als die vertraut gewordenen der eigenen
Zeit 263 • Die optisch-räumlichen Metaphern werden verdrängt durch mechanische
und dynainische, von denen hier nur GATTERERS Triebwerk der Begebenheiten auf-
geführt sei 264 • ' ·

d) Vita memoriae, Erinnerung des Unvergangenen. Hängen die optischen Meta-


phern mit der korrekten Etymologie der griechischen lar.oela zusammen, die sich
von oMa, luµeii {„ich weiß", verwandt Init 'video') herleitet, so stehen die dyna-
Inischen Metaphern in Beziehung zur ironisch gefärbten Etymologie PLATONS 265 •
Den Übergang von der einen zur anderen Vorstellungsweise erläutert BESOLU:
Est vita memoriae, quia, quae piscis novisque seculis acciderunt, facile e memoria
excidere solent. Proinde memoria salutare quasi remedium suae infirmitatis et in-
constantiae ex Historia haurit.: et veluti reviviscit, cum in illa, tanquam in amplissimo
aliquo theatro et speculo tersissimo nitidissimoque, praeteritorum temporum acta
contemplatur. Unde Historiam d:no Toif tO'TaaOai n}v •fji; µv~µTJi; l}vaw Platonem
derivasse ajunt, quod memoriam labilem ac vacillantem, ceu perennem P,uvium,
sistat 266 •
In diesem Aufhalten und Festhalten der Erinnerung ist schon Thukydides' Absicht
zu verstehen, über den Nutzen und Genuß hinaus einen „Besitz für immer"
in:ijµa n: ei; alel zu schaffen 267 • Es liegt in der Tendenz der Erkenntnistheorie
der Neuzeit, sich von der Abbildtheorie zu lösen und das Erkannte als ein Kon-
strukt, eine vom erkennenden Geist geschaffene Hervorbringung anzusehen. In der

259 BoDMER, Erzählungen, 73.


260 Vgl. Anm. 196 u. ERWIN PANOFSKY, Studies in Iconology (1939), c. 3: „Father Time"
(Ausg. New York 1972), 69 ff.
261 JoH. AMos CoMENIUS, Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631),

aus d. Tschechischen übers. v. Zdenko Bandnik (Jena 1908), 107.


262 JoH. :I.\'.LIBTIN CHLADENIUS, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden

und Schriften (Leipzig 1742; Ndr. Düsseldorf 1969), §§ 309. 353.


26a CARDINAL DE RETZ, Memoires, 161.
264 GATTERER, Vom historischen Plan (s. Anm. 223), 68.
265 HJALMAR FRISK, Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1 (Heidelberg 1960),

740; Bd. 2 (1970), 357; PLATON, Krat. 437 b.


266 BESOLD (Ausg. 1697), 394.
267 . THUKYDIDES 1, 22.

646
a) Entstehung des Kollektlvslngtilars Geschichte

historischen Erkenntnis ist diese Einsicht zunächst Vico, dann vor allem Hegel
und Humboldt zuzuschreiben. Sie auch in der historischen Forschung durchzu-
setzen, war das leidenschaftliche Bemühen DROYSENS. Nicht ein Bild des Gesche-
henen, sondern was aus den Vergangenheiten .. , noch unvergangen ist, bildet den im
Prozeß .des Verstehens zu gewinnenden Gegenstand der Forschung. Und die er-
mittelte Tatsache ist im Verhältnis zu den Zuständen, in die sie hineintritt, deren
Gegensatz, deren Kritik und Gericht 26 8.
HORST GÜNTHER

V. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs

1. Terminologiegeschichtliche Hinführung

Wenn heute von 'Geschichte' die Rede ist, so hat dieser Ausdruck einen Bedeutungs-
umfang und einen Bedeutungsgehalt, die erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts .
erreicht worden sind. 'Die Geschichte' ist ein moderner Begriff, der trotz seiner
Fortführung alter Wortb~deutungen fast einer Neuprägung gleichkommt. Termino-
logiegeschichtlich ent.'lteht iler Begriff nach zwei langfristigen Vorgängen, die
schließlich zusammentreffen und damit einen Erfahrungsraum erschließen, wie er
zuvor noch nicht formuliert werden konnte. Einmal handelt es sich um die Bildung
des Kollektivsingulars, der die Summe von Einzelgeschichten in einem gemein-
samen Begriff bündelt. Zum anderen handelt es sich um die Kontamination von
'Geschichte' als Ereignis(-r.rnm.mmenhang) und von 'Historie' als Geschichtskunde,
-err.ählung und -wissenschaft.

a) Die Entstehung des Kollektivsingulars. Die Femininbildung ahd. 'gisciht',


mhd. 'geschiht' (daneben 'seiht' bzw. 'schiht') ist von ahd. scehan, dem Stammverb
von 'geschehen', abgeleitet und bedeutet im Ahd. „Ereignis, Zufall, Hergang", im
Mhd. zusätzlich: „was einem Dinge zukommt, Eigenschaft, Weise"; allgemeiner:
„Wesen, Ding"; ferner, vor allem im Frühneuhochdeutschen: „B.egebenheit, Sache";
aber auch: „was von einem geschieht, Tat, Werk"; daneben: „eine Folge von Er-
eignissen, Zufall und Schickung"; schließlich im Frühneuhochdeutschen wie
'historie': „Erzählung von Geschehenem". Damit ist zunehmend der Bereich
menschlichen Tuns und Erleidens abgesteckt; der Ausdruck konnte pmgmata, re·s
gestae, gesta, facta, accidens, casus, cvcntus, fortuna und ähnliche Äquivalente er-
setzen. Um 1300 trat das Neutrum 'daz geschichte' hinzu, das sich verbreitete und
noch bei Luther mit den Bedeutungen: „Begebenheit, Einteilung, Ordnung" die
gewöhnliche Form ist 269 •
'Die Geschichte' (neben 'die Geschicht' und, seit dem 15. Jahrhundert: 'die Ge-
schichten') war nun bis tief ins 18. Jahrhundert hinein eine Pluralform, die die
Summe einzelner Geschichten benannte. Die geschickte sind, heißt es 1748 bei
JABLONSKI 270, e1:n sp1:egel der t1tgend und laster, darinnen man durch fre?nde erfahrung

268 DROYSEN, Historik (s. Anm. 236), 316. 20 f. 166.


269 GRIMM Bd. 4/1,2 (1897), 3857 ff.; vgl. BENECKE/MüLLER/ZARNCKE Bd. 2/2 (1866),
115 ff.
210 JABLONSKI 2. Aufl., Bd. 1 (1748), 386.

647
Geschichte V. 1. Heraushildung des modernen GeschichtshegriJfs

lernen kann, was zu tun oder zu lassen sei; sie sind ein denkmal der bösen sowohl als
der löblichen taten. Oder BAUMGARTEN definiert 1744 in alter Tradition 271 : Die Ge-
schichte sind ohne allen Zweifel der lehrreichste und nützlichste, als der ergötzlichste
Teil der Gelehrsamkeit. Noch HER.DER hat gelegentlich 'die Geschichte' in ihrer
additiven, pluralen Bedeutung verwendet 272 •
Grammatikalisch konnte nun die alte Pluralform 'die Geschichte' auch als Variante
des femininen Singulars gelesen werden. Begrifflich aber ist in der Umbesetzung
desselben Wortkörpers 'die Geschichte' vom Plural zum Singular eine bewußte
Leistung zu erkennen. Sie wurde erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
von zahlreichen geschichtstheoretischen Schriften vorbereitet. Seitdem handelt es
sich nämlich um den Kollektivsingular, der die Summe einzelner Geschichten als
„Inbegriff alles in der Welt Geschehenen" (Grimm) bezeichnet 273 •
1775 registriert ADELUNG beide Verwendungen nebeneinander: Die Geschichte, plur.
et nom. sing . ... Was geschehen ist, eine geschehene Sache, sowohl in weiterer Bedeu-
tung, eine jede, sowohl tätige als leidentliche Veränderung, welche einem Dinge
widerfährt. In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung zielt das Wort auf verschiedene,
miteinander verbundene Veränderungen, welche zusammengenommen ein gewisses
Gaiius ausmachen ... In eben d·iesem Vernlwn1le .~lelt.et I'..~ u/t eull1x~l'i've und ohne Plural,
von mehreren geschehenen Begebenheiten einer Art274 •
Als Adelung den neuen Kollektivsingular aufspürte, definierte er auch schon seine
Funktion, nämlich eine Reihe von Begebenheiten in ein zusammenhängendes Gan-
zes zu bündeln. Die 'Geschichte' erhielt eine die einzelnen Befunde rnler Tatsachen
übergreifende Bedeutung, wie sie von der Anfklärungshistorie gern betont wurde.
So schrieb etwa ÜARL FRIEDRICH FLÖGEL 1765 eine Geschichte des menschlichen Ver-
.~tandes, in der er die Ursachen untersuchte, welche ihn entwickeln und vollkommen
machen 276 • Modern gesprochen handelte es sich dabei um einen anthropologischen
und sozialhistorischen Entwurf, der die Entstehung des rationalen Menschen er-
klären sollte. Daß solche Gesamtvorgänge und ihre Analyse als 'Geschichte' be-
zeichnet wurden, wirkte zunächst befremdlich. Noch 1778 monierte ein Rezensent:
Das Modewort Geschichte ist ein förmlicher Mißbrauch der Sprache, weil in dem Werke
(von Flögel) höchstens nur in den Beispielen Erzählungen vorkommen 276 • Die narra-
tive oder exemplarische Bedeutung des Wortes, die bisher vorwaltete und sich auf
einzelne Geschichten bezog, verblaßte. Das neue Schlagwort 'GeEml1inl1t•e' indizierte

271 Uebersetzung der allgemeinen Welthistorie, dt. v. SIEGMUND JAKOB BAUMGARTEN,

Bd. 1 (Halle 1744), 59, Vorrede; vgl. PAUL E. GEIGER, Das Wort „Geschichte" und seine
~usammensetzungen (phil. Diss. Freiburg 1908); 16.
272 HERDER, Über die neuere deutsche Literatur (1767 /68), SW Bd. 1 (1877), 262.
273 Vgl. G.l!llG.l!lR, „Geschichte", 9; GRIMM Bd. 4/1,2, 3863 f.; vgl. JOHANNES HENNIG,

Die Geschichte des Wortes „Geschichte", Dt. Vjschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. 16


(1938), 511 ff.
2 74.ADELUNG Bd. 2 (1775), 600 f.
276 CARL FRIEDRICH FLÖGEL, Gescµichte des menschlichen Verstandes (Breslau 1765),
Vorrede. . '
276 Rez. der 3 . .Aufl. (1776) des in .Anm. 275 genannten Werkes, .Allg. dt. Bibi. 34 (1778),

473.

648
a) Entstehung des Kollektivsingulars Geschichte

einen höheren Abstraktionsgrad, der übergreifende Einheiten geschichtlicher Be-


wegung kennzeichnen konnte.
'Die Geschichte' war von größerer Komplexität, als die einzelnen Geschichten bisher
zuließen. Der in dem „Modewort" angelegte Begriff zielte nun darauf, diese Kom-
plexität als eine genuine Wirklichkeit zu erfassen. Damit wurde eine neue Er-
fahrungswelt erschlossen, eben die der Geschichte. Ein sicheres Indiz dafür sind die
Umschreibungen 'Geschichte an und für sich', 'Geschichte an sich', 'Geschichte
selbst' oder 'Geschichte überhaupt'. Bisher war es unmöglich gewesen, den Terminus
ohne ein Subjekt zu denken: 'Geschichte' bezog sich auf Karl den Großen, auf
Frankreich usw. In ÜHLADENIUS' Worten: Die Begebenheiten, und mithin auch die
Geschichte sind Veränderungen. Diese aber setzen ein Subjekt, ein dauerhaftes Wesen
oder Substanz voraus 277 • Oder eine Geschichte zielte - als Erzählung - auf ein ihr
zugehöriges Objekt. Das ändert sich, sobald die aufgeklärten Historiken die 'Ge-
schichte selbst' zu erfassen trachteten. Die 'Geschichte an und für sich' konnte ohne
ein ihr zugeordnetes Subjekt gedacht werden. Gemessen an der Faktizität der Per-
sonen und Ereignisse war 'die Geschichte selbst' ein Metabegriff.
Zunächst freilich meinte die Wendung nur den Ereignisbereich, wie GuNDLING 1734
formulierte: Die Historie an sich selbst, quatenus res gestas complectitur, schärOet das
Jwl1foium n·iclit, - dazu gehöre die historische Lugik 278 • Oder wie es HAUSEN·
mit dem d~utschen Wort ausdrückte: Die Geschichte an und vor sich selbst ist eine
Reihe von Begebenheiten, sie hat keine allgemeine Grundsätze und ist demnach als keine
Wissenschaft zu betrachten270• Bei dieser rationalen GegenüberRtellung einei! puren
Ereignisbereiches und seiner wissenschaftlichen Bearbeitung blieb .es aber nicht.
Der genuine Wirklichkeitsanspruch der Geschichte wuchs, sobald er mehr umfaßte
als die Summe aller Fakten, die nur aufgezählt zu haben ein dauernder Vorwurf der
Aufklärer an ihre Vorgänger war.
Eine Reihe von Begebenheiten wird eine Geschichte genannt, definierte ÜHLADENIUS
1752 2 so. Aber das Wort Reihe 6edeutet allhier ... nicht bloß eine Vielheit oder Menge;
sondern zeigt auch die Verbindung derselben untereinander, und ihren Zusammenhang
an. Dieser einmal gesehene Zusammenhang, der meist in pragmatischer Absicht als
ein Geflecht von Ursachen und Wirkungen gedeutet wurde, ließ die Ebene bloßer
Ereignisse und Begebenheiten unter sich. Es ist die große Geschichte, wie PLANCK
1781 sagte, die sich d~irch so viel kleinere durchschlingt 2 8 1 •
Für die Begriffsgeschichte entscheidend ist nun, daß der Wirkungszusammenhang
nicht nur als ein rationales Konstrukt gedeutet wurde - über diesen Aspekt handelt
der nächste Abschnitt -, sondern daß er als ein eigenständiger Bereich erkannt

277 JoH. MARTIN CHLADENIUS, Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund

zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit geleget wird (Leipzig 1752), 11.
278 NrnoLAUS HIERONYMUS GuNDLING, Academischer Discours über des Freyherrn Samuel

von Pufendorffs Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten (Frank·
furt 1737), 2.
279 CARL RENATUS HAUSEN, Rede von der Theorie der Geschichte, Vermischte Sehr.

(Halle 1766), 131.


280 CHLADENIUS, Geschichtswissenschaft, 7.
281 [GoTTLIEB JAKOB PLANCK], Geschichte der Entstehung, der Veränderungen und der

Bildung unsere protestantischen Lehrbegriffs, Bd. 1(Leipzig1781), IV.

649
Geschichte V. 1. Heraushildung des modemen Geschichtshegrift's

wurde, der in seiner Komplexität alle menschliche Erfahrung leitet. Die Geschichte
selbst wurde, sprachlich gewendet, zu ihrem eigenen Subjekt.
1767 fragte sich lsELIN, ob er nicht seine „Geschichte der Menschheit" besser „Von
dem Geiste der Geschichte" genannt hätte. Ihm schien, dieser Titel würde nicht
übel stehen um die Absicht und den InhaU des Werkgens deutlicher auszudrücken 282 •
So spricht 'J.'HOMAS ABBT metaphorisch von der Majestät der Geschichte, gegen die
man sich durch keine Auslegung versündigen dürfe. Oder er meint, daß die Geschichte
immer von ihrem Anfange ohne sich aufzuhalten wegrollet, und daß sie wie ein
Körper von der Natur geordnete Ursachen und Wirkungen und demgemäß eine
eigene Geschwindigkeit habe 283 • Jetzt konnte HAUSEN in Analogie zum Theater der
Welt auch vom Theater der Geschichte sprechen, das auf die menschlichen Herzen
einwirke 284 . Und vier Jahre später - 1774 - hat sich HERDER in einer so merk-
würdigen Krisis des menschlichen Geistes, in der man sich befinde, vorgenommen,
den Saft und Kern aller Geschichte zu suchen 285 •
Die einmal als selbständig und selbsttätig entdeckte Geschichte gliedert dann auch
die Darstellung: die Einteilung aber gibt uns die Geschichte selbst an die Hand 2 86.
Mehr noch, sie befähigt den Historiker, die Heldensucht der Fürsten abzukühlen,
besonders wenn die Geschichte selbst die Geschichtsschreiber zu Philosophen bildet 2 87.
Schritt für Schritt steigert diese Geschichte mit ihrem genuinen und komplexen
Wirklichkeitsgehalt auch ihren eigenen Wahrheitsanspruch. Die Geschichte selbst,
wenn man sie allgemein betrachtet, gibt uns die beste Anleitung von den V erliältnissen
aller verständigen, sittlichen und gesellschaftlichen Wesen, schreibt WEGELIN 1783.
Natur- und Völkerrecht gründen auf ihr, Freil).eit und Sittlichkeit sind ohne sie
nicht, el'fahrb11.r. H·ierwus ·entsteliet der Beyr·iU •vmt der s-ittz.iclwn Welt, oder von dem
Zusammenhange aller denkenden und wfrksamen Wesen. D·ieser allyerneine Begriff ist
nichts als der Ausdruck der Geschichte überhaupt 288 • Die Fundierung der historischen
Aufklärung in einer selber nicht mehr abgeleiteten· Geschichte, in der 'Geschichte
überhaupt', war damit auf ihren Begriff gebracht worden.
Die Geschichte rückt auf zu einer letzten Instanz. Sie wird zum Agens menschlichen
Schicksals oder gesellschaftlichen Fortschritts. In diesem Sinne hatte 4DAM WEIS-
HAUPT, indem er bewußt von Einzelereignissen absah, seine „Geschichte der Ver-
vollkommnung des menschlichen Geschlechts" geschrieben. Dies war eine Geschichte

282 lsAAK ISELIN, Tagebuch, 1. 3. 1767, zit. ULRICH IM Hol!', Isaak Iselin und die deutsche

Spätaufklärung (Bern, München 1967), 90.


283 THOMAS ABBT, Briefe, die neueste Litteratur betreffend 12 (1762), 259, 196. Brief;

ders., Vom Vortrag der Geschichte, Vermischte Werke, Bd. 6 (Frankfurt, Leipzig 1783),
124f.
284 C. R. HAUSEN, Von dem Einfluß der Geschichte auf das menschliche Herz (Halle

1770), 8.
285 HERDER, Auch eine PhiloRophie der GeRchichte zur Bildung der Menschheit (1774),

SW Bd. 5 (1891), 589.


286 JoH. LoR1'lNZ v. MosHEIM, Geschichte der Kirchenverbesserung im sechzehnten Jahr-

hundert, hg. v. Joh. Aug. Christoph v. Einem (Leipzig 1773), 4.


287 [NIKOLAUS VOGT], Anzeige, wie wir die Geschichte behandelten, benutzten und dar-

stellen werden (MainZ 1783), 19.


288 JAKOB WEGELIN, Briefe über den Werth der <?eschichte (Berlin 1783), 24.

650
a) Entstehung des Kollektivsingulars Geschichte

ohne J ahrzahl und Name, wie er ~tolz registriert; die Geschicht,e von der Entstehung
und Entwicklung unserer Leidenschaften und Triebe, die von jetzt an rational be-
herrscht werden müsse: Nun sollen die Schauspieler auftreten und selbst spielen. Aber
die 'Geschichte selbst' wird weiterhi:i;i dafür sorgen, daß alles unfehlbar zur Voll-
kommenheit ausschlägt, denn die Geschichte hat noch allezeit selbst die hartnäckigsten
Irrtümer besiegt 289 •
Es liegt nahe, hinter dieser neuen Begrifflichkeit, die die Geschichte als Agens auf
sich selbst zurückverweist, die versteckte oder verwandelte Vorsehung Gottes zu
erblicken, was wirkungsgeschichtlich richtig ist. Im Sinne der göttlich offenbarten
Geschichte hatte z. B. AUGUSTIN festgestellt, daß die historischen Darstellungen
zwar von menschlichen Einrichtungen handelten, daß aber die Geschichte selbst
(ipsa historia) keine menschliche Einrichtung sei. Denn was einmal geschehen sei
und nicht mehr rückgängig gemacht werden könne, das gehöre in die Folgeordnung
der Zeiten- (in ordine temporum habenda sunt), deren Stifter und Verwalter Gott
sei29o.
Nun hat zweifellos die Historizität von Jesus als empirischer Quelle der Offenbarung
stark dazu beigetragen, dem Begriff der Geschichte einen emphatischen Wahrheits-
anspruch zu verleihen. Denn das sa.cra,ment odder geschieht ~tnd die wort / so man
vom sacrament redet/ sind zweyerley (LUTHER) 291. HAMANN verwendet schon den
Kollektivsingular, wenn er die Geschichte, die Natur und die Offenbarung als die drei
Quellen verständiger Einsichten definierte, oder mehr noch, wenn er die Geschichte
dem Geschehenen konfrontierte: Olme Autorität (verschwindet) die Wahrheit der
Geschichte mit dem GeschR-henen selbst 292 • Vor allem durch Herder und im schwäbi-
schen Lager der föderaltheologischen Pietisten wurde der moderne Sprachgebrauch
vorangetrieben. Die Tatsächlichkeit der Geschichte erhält eine eigene Weihe durch
die Inkarnation Christi 293 . Die Zeit ist endlich gekommen, schreibt WizENMANN, daß
man anfängt, die Geschichte J esu nicht bloß als Spruchbuch für die Dogmatik, sondern
als hohe Geschichte der Menschheit zu behandeln ... Lieber wollte ich die Philosophie
aus der Geschichte, als die Geschichte aus der Philosophie bestätigen. Eine einzige neue
Tatsache könne ganze Systeme umstürzen. Geschichte ist die Quelle, aus der alles
geschöpft werden muß294_
Was den neuen -Begriff einer 'Geschichte überhaupt' auszeichnete, war seine Ver-
zichtleistung, nicht mehr auf Gott zurückverweisen zu müssen. Damit einher ging
die _b'reilegung einer nur der Geschichte eigentümlichen Zeit. 8ie umfaßt, wie
CHLADENIUS gegen den landläufigen Sprachgebrauch betont, alle drei temporalen

289 ADAM WEISHAUPT, Geschichte der Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts,

Bd. 1 (Frankfurt, Leipzig 1788), 228.


290 AUGUSTIN, De doctrina christiana 2, 28 (44), CC Bd. 32, 63 (s. Anm. 22).
291 LUTHER, Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis (1528), WA Bd. 26 (1909), 410.
292 JoH. GEORG HAMANN, Briefe eines Vaters 1(um1755), SW, hg. v. JosefNadler, Bd. 4

(Wien 1952), 217; Golgatha und Scheblemini (1784), SW Bd. 3 (1951), 304; vgl. SW Bd. 1
(1949), 9. 53. 303; Bd. 2 (1950), 64. 176. 386 (Polemik gegen den scharfsinnigen Ckladenius);
Bd. 3, 311. 382.
293 Zum damals neuen Begriff der Tatsache vgl. REINHART STAATS, Der theologiegeschicht-

liche Hintergrund des Begriffes „Tatsache", Zs. f. Theo!. u. Kirche 70 (1973), 316 :ff.
294 THOMAS WIZENMANN, Die l]eschichte .Tesu nach dem Matthäus als 8elbstbeweis ihrer

Zuverlässigkeit betrachtet, hg. v. Joh. Friedrich Kleuker (Leipzig 1789), 67. 55.

651
Geschichte V. 1. Herausbildung des modernen Geschichtshegrift's

Erstreckungen: Zukünftige Dinge gehören zum Geschichten . . . Denn ohngeachtet die


Erkenntnis des Zukünftigen gegen die Erkenntnis des Vergangenen sehr enge und kurz
gefasset ist; so haben wir doch mancherlei Einsicht ins Zukünftige, nicht allein durch
die Offenbarung, sondern auch in der Astronomie und in bürgerlichen Gescliäften, so
wie in der „Artzneykunst". Und daher muß in der Vernunftlehre der Geschichte dieser
Begriff allerdings so weitläufig gefasset werden, daß er das Zukünftige unter sich be-
greifet295. Und gegenläufig zur christlichen Erwartung gewinnt diese Geschichte bei
Chladenius einen grundsätzlich unbegrenzten Horizont: Denn die Geschichte an und
vor sich hat kein Ende2 96 .
KANT polemisierte später offen gegen den messianischen Geschichtsglauben, der den
Ablauf der Ereignisse nach einezn ordo temporum deuten und begrenzen zu können
meine, wie es etwa Bengel in seiner Auslegung der Johannes-Apokalypse getan
habe: als ob sich nicht die Chronologie nach der Geschichte, sondern umgekehrt die
Geschichte nach der Chronologie richten müßte 297 .
Damit hatte Kant pointiert, daß die Geschichte mehr sei als die zeitliche Sum-
mierung einzelner Daten, die sich letztlich in einer naturalen Zeit aneinanderreihten.
Die Freilegung einer genuin geschichtlichen Zeit im Begriff der Geschichte fiel zu-
sammen mit der Erfahrung der „Neur.eit" (~Fortschritt). Seitdem sind die Histo-
riker genötigt, Zusammenhänge zu sichten, die sich nicht mehr an der natürlichen
Generationsabfolge der Herrscher, an den Umläufen der Gestirne oder an der
:figuralen Zahlensymbolik der Christen orientieren. Die Geschichte stiftet sich ihre
eigene Chronologie.
'Systeme von Begebenheiten', sagte GATTRRER schon 1767, und damit umschrieb
er Jen Befunu, für Jeu i,iich der neue Begrift'von Geschichte noch nicht eingebürgert
hatte: Systeme von Begebenheiten haben zwar ihren eigenen Zeitlauf, allein dieser
richtet sich nicht nach der bürgerlichen Abteilung der Zeit 298 .
Mit solchen Reflexionen wie über die geschichtliche Zeit wuchs dem Begriff der
Geschichte jener komplexe Wirklichkeitsgehalt zu, der der 'Geschichte selbst' einen
eigenen Wahrheitsanspruch sicherte. Die aristotelische Deklassierung der Historie,
die ihr eine bloße Addition chronologischer Fakten zugemutet hatte, wurde ver-
abschiedet299. So war im Medium der Begriffsbildung ein neuer Erfahrungsraum
erschlossen worden, der die folgende Zeit prägen sollte. Drei Kriterien seien zu-
sammenfassend genannt.
Die Geschichte im kollektiven Singular setzte die Bedingung möglicher Einzel-
geschichten. Alle Rinr.elgeschichten standen seitdem in einem komplexen Zusam-
menhang, der eine nur ihm eigentümliche, selbständige Wirkungsweise hat. Über
den Geschichten ist die Geschichte, faßte 1858 DROYSEN die neue Erfahrwigswelt
der Geschichte zusammen 300•
Dfese Erfahrungswelt hatte ihren immanenten Wahrheitsanspruch. Nicht mehr der

295 CHLADENIUS, Geschichtswissenschaft, 15.


296 Ebd., 147.
297 KANT, Der Streit der Fakultäten (1798), AA Bd. 7 (1907), 62; ders., Anthropologie

(1798), ebd., 195.


298 GATTERER, Vom historischen Plan (s. Anm. 223), 81.

299 ARISTOTELES, Poet. 1451 b.


300 DROYSEN, Historik (s. Anm. 236), 354.

052
b) Kontamination von 'Historie' und 'Geschichte' Geschichte

antike, immer weitergereichte Topos zählte, daß Geschichten nur schreiben könne;
wer sie selbst gesehen oder getätigt habe. Geschichte wurde vielmehr schlechthin
zum Erlebnisraum, der seinerseits historische Urteile freigibt. Über Geschichte kann
niemand urteilen, wie GOETHE feststellte, als wer an sich selber Geschichte erlebt
hatao1.
Schließlich war, um den Rückbezug der Geschichte auf sich selbst als einer letzten
Instanz zu kennzeichnen, die Wendung von der 'Geschichte überhaupt' geprägt
worden, und wie die entsprechenden Formeln lauten mochten. Der intendierte Sinn
ging bald in den schlichten Wortgebrauch von 'Geschichte' ein. Diese Geschichte als
Subjekt ihrer selbst wurde zum eigentätigen Agens, so daß HEGEL später von der
Arbeit der Weltgeschichte sprechen konnte 302 •
In den Jahrzehnten der Vereinfachungen und der Singularisierungen, als aus den
Freiheiten 'die Freiheit' wurde und aus den Revolutionen 'die Revolution', da ord-
nete sich 'die Geschichte' die einzelnen Geschichten unter. Es ist der Begriff, dem
im historisch-politischen Sprachhaushalt der Deutschen wohl am ehesten der Platz
zukommt, den im Französischen die 'Revolution' einnimmt. Die 'Geschichte'
wurde schon vor der Französischen Revolution auf ihren neuen Begriff gebracht,
die revolutionären EreigniRzm111.mm1m hänge werden dann das überraschend Ein-
malige dieser neuen Geschichte zu einem gleichsam axiomatischen Erfahrungssatz
ausmünzen.
b) Die Kontamination von 'Historie' 1md 'Geschichte'. Die Geschichte, deren
Sinnzuwachs bisher geschildert wurde, war nicht nur ein neuer Wirklichkeitsbegriff,
sie war ebernm ein neuer Reflexionsbegriff. Nach 1780 konnte HERDE:& den neuen
Kollektivsingular für beide Ebenen in einem Satz verwenden: Tatsache ist der Grund
alles Göttl?:chen der Rel1:1Jinn, nnd die.se kann n~tr in Geschichte dargestellt, ja sie muß
selbst fortgehend lebendige Geschichte werden. Geschichte ist also der Grund der Bibel3° 3 •
Was schon die bisherigen Belege durchklingen ließen, soll jetzt aufgewiesen werden:
daß der neue Erfahrungsraum der Geschichte nur erschlossen wurde, weil die Re-
flexion über sie mit in den Begriff einging. Terminologiegeschichtlich zeigt sich das
darin, daß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts der Bedeutungsgehalt von
'Hist'orie' - unter Zurückdrängung dieses Wortes - zur Gänze von 'Geschichte'
aufgesaugt wird.
Seit der Eindeutschung der la~inischen 'historia' im 13. Jahrhundert304 hatten
'Geschicl11,(e)' und 'Historie' deutlich unterscheidbare Bedeutungen behalten, wie
schon bei KoNRAD VON MEGENBERG: . . . sam die historien sagent, daz sind die
geschrift von den geschickten in den landen und in den zeiten 3 0 5 • 1542 reimt BuRKART
WALDIS: Wan solch geschickte sein geschehen,/ Wie in historien ist zusehen 306 • Der

301 GoETHE, Maximen und Reflexionen, Nr. 217. HA Bd. 12 (1953), 395.
so2 HEGEL, Vernunft (s. Anm. 236), 182.
303 HERDER, Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780/85), SW Bd. 10 (1879),

257 f. Dazu STAATS, „Tatsache", 327.


304 HEINZ RUPP J OSKAR KÖHLER, Historia - Geschichte, Saeculum 2 (1951), 632.
305 KONRAD VON MEGENBERG, Buch der Natur (ca. 1350), hg. v. Franz Pfei:lfer (Stuttgart

1861; Ndr. Hildesheim 1971), 358.


306 BURKART W ALDIS, Streitgedicht (1542), hg. v. Friedrich Koldewey (Halle 1883), 33.

653
Geschichte V. 1. Herausbildung des modemen GeschichtsLegrift's

„objektive" Ereignis- und Handlungsbereich sowie die „subjektive" Kunde, Erzäh-


lung oder - später - die Wissenschaft davon konnten bis in das 18. Jahrhundert
hinein mit getrennter Terminologie erfaßt werden. So heißt es 1705 in der Vorrede zu
einem geographischen Lexikon: Historie oder Wissenschaft der Geschichten 307 • Frei-
lich wurde diese Gegenüberstellung selten so rigoros wie in Definitionen eingehalten.
Die eine Bedeutung färbte die andere ein, wenn auch in ungleich starker Weise.
Die Überlappung beider Bedeutungsfelder konstatieren die Vokabularien des
15. Jahrhunderts: 'historia' wird übersetzt mit: eyn geschehen, eyn ding dz gesehen
ist, geschieht, ein gescriben red der getad as es gescach und historie (history)aoa. Sowohl
geschehen ding wie historie stehen nun für 'historia', die als res /acta definiert wird
und als ein geschicht-erzelung einer geschehenen sach beides in eins bedeutet3°9 • Diese
Ausweitung der 'Historie' auf die Geschehnisse selber oder deren Ablauf bleibt auf
der Ebene der Wörterbücher durchgehend erhalten 310• In der historischen Literatur

807 zit. GEIGER, „Geschichte", 15 mit typischem Plural, wenn auch mit der neuen Plural-
form 'Geschichten'.
808 LORENZ DIEFENBACH, Glossarium Latino-Germanicum mediae et ihfimae aetatis

(Frankfurt 1857), 279.


809 Vocabularius incipiens Teutonicum ante Latinum (Nürnberg 1482), 47r. 62r; Vocabu-

larius gemma gemmarum (Straßburg 1508), 58v; PETRUS DASYPODIUS, Dictionarium


Latino-Germanicum, lat.-dt. Tl. (Straßburg 1536; Ndr. Hildesheim 1974), 93r.
3 1o Vocabularius incipiens Teutonicum ante Latinum, 47r: Geschehen ding. historia. unde
historiographus. ein schreiber der geschieht; ebd., 62r: Historie. historia. vulgare geschehen
ding; Vocabularius gemma gemmarum, 58v: Historia est res /acta: ein geschehen ding
oder history. Historiographus est scriptor historiarum: ein historien schryber; DASYPODIUS,
Dictionarium, 93r: Hi8fm-ia, Ein geschicht/erzel1tng einer geschehenen sach. Historicus,
et Historiographus, ein geschichtschreiber; vgl. ebd., 3': Acta, Handlungen/geschickten;
ebd., 67r: Factum, Ein geschieht oder that; ebd., dt.-lat. Tl. 332v: Geschehen. Fieri.
ordenlich Geschicht/da alle umbstend gemeldet werden. Historia GeschichtlYUch auf! jarliche
leuff/oder ein jarbüch. Annales; vgl. ebd., 437r: Thaat/geschicht. Factum; JACOB
ScHÖPPER, Synonyma. Das ist/Mancherley gattungen Deutscher worter/so im Grund
einerley bedeutung haben (Dortmund 1550), Ndr. hg. v. Karl Schulte-Kemminghausen
(Dortmund 1927), 29: Facinus: That / geschieht / handel; MAALER (1561), vgl. Anm.
314; JoHA:N.N.l:!lS F.1t1sws, Dictionarium Latinogermanicum (Ausg. Zürich 1574), 630:
Historia. Ein history / Ein geschieht / Ein ordenliche erzellung und erklärung waarhafjter /
grundtlicher unn geschächner dingen; GEORG HENISCH, Teutllche Sprach und Weißheit.
Thesaurus linguae et sapientiae Germanicae, Bd. 1 (Augsburg 1616), 1530 f. 1534: Ge-
schehen / sich zu tragen / begeben / begegnen / ßeri, evenire, cadere, incidere, accidere, contin-
gere, venire, evenire usu, geri, confore. Der.(ivativum) Geschicht / es geschieht / evenit,
accidit. Geschicht / eventus, acta, actum, gestum, historia. Geschehen ding / gesta, res actae,
res gestae. Geschicht / es geschieht / accidit, contingit. Siehe geschehen. Geschicht / (die)
historia. Geschicht / eines thun und lassen / actus hujus actus. Der. (ivativum) Ge-
schicht / that / acta, gesta · historia • . . Geschichten und· Handlungen / acta; Dict.
fran9.-all.-lat. (DHUEZ; Leyden 1642), 149: Geschicht / That / Acte, Gesta, Facta.
Histori / Histoire, Historia. Historie, Ein Geschicht / und Geschichtbuch / Historia, Dict.
fran9.-all.-lat. (1675), 617: histoire, narre, eine Erzehlung / Geschicht / Historia, narratio,
enarratio. Histoire digeree, par suitte d'annees, Ein Geschichtbuch nach Ordnung der Zeit
eingerichtet / Gestarum rerum annales. historier, descrire, Beschreiben / in einer Geschicht
verfasse.n / Describere; STIELER (1691), 1746: Geschicht/ die/ factum, historia, actum, res

654
b) Kontamination von 'Historie' und 'Geschichte' Geschichte

dagegen setzt sich in Anlehnung an die lateinische Gelehrtensprache die von Cicero
herrührende Definition durch: Die Historie, _sagt HEDERICH 1711, ist eine wahrhafte
Erzählung geschehener Dinge 311 • Eine auf den Sachzusammenhang selber zielende
Wendung, wie sie bei LEIBNIZ einmal auftaucht, ist äußerst selten geblieben:
... daß kein Chur- und Fürst mehr bei dem publico thut, und also mehr an der Univer-
sal Histori dieser Zeit theil nimmt als Chur-Brandenburg 312 •
Während 'Historie' gegen ihre Einfärbung durch 'Geschichte' vergleichsweise
immun blieb, setzte sich die Gegenübertragung der Bedeutungen von 'Historie' auf
'Geschichte' sehr viel schneller und sehr viel gründlicher durch. LUTHER schon ver-
wendete 'Geschicht(e)' in beiderlei Sinn von „Begebenheit" und von „Erzählung",
einmal sogar im selben Satz: Die geschieht aber des koniges Dauid beyde die ersten
und letzten sihe die sind geschrieben unter den geschickten Samuel 313 • JosuA MAAI,ER
verbuchte 1561 für 'Geschichte': ein ordenliche Erzellung und erklärung waarhaffter,
grundtlicher und geschächner dingen, daneben: Geschichten und handlungen. Acta314•
In den Büchertiteln des 17. Jahrhunderts werden deshalb gerne Doppelformen be-
nutzt wie „Historie und/oder Geschichte von ... " 315, womit die Unterscheidbarkeit,
aber ebenso schon die Konvergenz von Ereigniszusammenhang und Erzählung aus-
gedrückt werden mochte. Es war schließlich nicht der Ausdruck 'Historie', sondern
'Geschichte', der beide Bedeutungsfelder ineinander blendete. Der berühmte Buch-
titel JoH. JOACHIM WINCKELMANNS: Geschichte der Kunst des Altertums hat 1764
beide Bedeutungen so sehr auf einen gemeinsamen Nenner gebracht 316 , daß aus dem
Wort nicht mehr abgeleitet werden kann, ob die Betonung auf dem erzählten Ge-
genstandsbereich oder auf der Darstellung liegt. Seit der Jahrhundertmitte ver-
drängt die Überschrift 'Geschichte' zunehmend -die 'Historie' aus den Titeln

gestae. Geschicht erzehlen / histariam narrare, commemorare. Geschichte schreiben / scribere


res gestas, monumenta factorum oomponere; PoMEY, Grand Dict. Royal (1715), t. 1, 485:
Histoire, haec histaria, haec narratio, eine Geschicht/ Geschichts-Erzählung; ebd., t. 2, 144:
Histaria, histoire, rapport des choses veritables, eine Histarie, eine wahrhaftige Erzählung
geschehener Dinge; ebd., t. 3, 129: Geschicht / Tat / acte, histoire, gesta, facta; CHRISTOPH
E.tt.NS'l' S•rJ;JINßAOH, Vollständiges Deutsches Wörter-Buch, Bd. 2 (Breslau 1734; Ndr.
Hildesheim 1973), 395: Geschichte (die) factum, res gesta, historia; FRISCH, Dt.-lat. Wb.,
Dd. 2 (1741), 176: Schicht, Gesch·ichte, ·ist ·veraltet, und Gescli-ichte ·von geschehen, gebUeben
( ... ) factum, histaria, s. Historie; ebd., 168: Sehehen, Geschehen, fieri, evenire, accidere;
ebd., Bd. 1, 456: Historie, vom lat ..historia, Geschicht-Beschreibung oder Erzählung dessen,
was bei etwas nötig ist ... Eine Historie von etwas schreiben, histariae aliquid mandare eines
Dings H istarie schreiben, histariam scribere, res gestas scribere.
311 BENJAMIN HEDERICH, Anleitung zu den fürnehmsten historischen Wissenschaften,

2. Aufl. (Wittenberg 1711), 186.


312 LEIBNIZ, Werke, hg. v. Arno Klapp, 1. R., Bd. 10 (Hannover 1877), 33.
313 LUTHER, 1. Chron. 30, 29 [Zerbster Handschrift 1523; moderne Zählung: 29, 29],

WA Dt. Bibel, Bd. 1 (1906); 281 f.


314 l\fAALER (1561), 195 b.
315 Vgl. GEIGER, „Geschichte", 14.
316 J. J. WrncKELMANN, Geschichte der Kunst des Altertums, SW, hg. v. Joseph Eiselein,

Bd. 3 (Donaueschingen 1825).

6155
Geschichte V. 1. Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs

historischer Bücher317 ; die wenigen Titel mit 'Historie' entsprechen zahlenmäßig


denen mit dem Plural 'Geschichten•a1s.
Winckelmann erläuterte den als neu empfundenen Begriff, indem er besonders auf
die systematische Absicht verwies, die ihn leitete: Die Geschichte der Kunst des
Altertums, welche ich zu schreiben unternommen habe, ist keine bloße Erzählung der
Zeitfolge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Geschichte
in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache hat, und meine
Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern 319 •
Damit hatte Winckelmann die zw;eite Quelle genannt, aus der sich der moderne
Kollektivsingular speiste. Eine 'Geschichte' zu denken, die über die chronologische
Erzählung von Veränderungen hinausführen sollte, war eine theoretische Leistung.
Sie ließ die Wirklichkeit der Geschichte in ein 'Lehrgebäude' einmünden, ohne das
die mehr als ereignishafte GeschicJite gar nicht erkannt werden konnte. Nur in
der Reflexion über die einzelnen Geschichten wurde 'die Geschichte' freigelegt.
W ortgeschichtlich leistete hier die 'Historie' Hilfestellung, wie sie von den zahl-
reichen Kunst- und Methodenlehren der Geschichtsschreibung seit dem Humanismus
dauernd bedacht und definiert wurde. Die 'Historie' als Lehre oder als wissenschaft-
liohe DiR?.iplin konnte immer schon reflexiv nn<l ohne Objekt verwendet werden.
Seit CICERO war die gesammelte Kunde von den einzelnen Geschichten kollektiv
unter dem Terminus 'historia' subsummiert worden: Historia magistra vitae320.
Um nur ein wirkungsgeschichtlich wichtiges Zeugnis der zahllosen Wendungen zu
nennen, die die Lehrfunktion dieser historia betonen: Porro, sagte MELANCHTHON,
non alia prirs litP-raru.m plu„s au.t volu.ptati:s rwt i1,tilitat1:.~ a.dfP-rt .st11,di:osis, qu.a.m histo-
ria0n. PUJj'J!:NDORb' war wohl der erste, der 1682 das kritisch gesichtete Wissen von
den zu lehrenden Geschichten eine Wissenschaft nannte. Die Historie ( sey) die
anmutigste und nützlichste W issenschaft 322 •
Diese Bedeutung ging nun scheinbar zwanglos auf 'die Geschichte' über. PoMEY
mußte 1715 H istoria noch mit Geschichts-Beschreibung übersetzen, als er die cice-
ronischen Topoi aufführte: Die Geschichts-Beschreibung ist ein Zeuge der Zeit, ein
Licht der Wahrheit, eine Lehrmeisterin des Lebens, und eine Erzählerin aller Dinge,
so vor uns geschehen 323 • Der Übersetzer RoLLINS kann 1748 bereits den deutschen
Kollektivsingular dafür einsetzen: Die Geschichte ist mit Recht die Zeugin der Zeit 324 •

317 Vgl. WILHELM HEINSIUS, Allgemeines Bücher-Lexikon oder vollständiges Alpha-

betisches Verzeichniß der von 1700 bis zum Ende 1810 erschienenen Bücher, 2. Aufl.,
Bd. 2 (Leipzig 1812), 82 ff. 391 f.
318 CHR. G-0TTLOB KAYSER, Index locupletissimus librorum. Vollständiges Bücher-

Lexicon, enthaltend alle von 1750 bis zu Ende des Jahres 1832 in Deutschland und in
den angrenzenden Ländern gedruckten Bücher, Bd. 2 (Leipzig 1834), 355 ff. 368; Bd. 3
(1835), 155.
319 WINCKELMANN, Geschichte der Kunst, 9, Vorrede.
320 Vgl. KosELLECK, Historia Magistra Vitae (s. Anm. 224), 196 ff.
3 21 MELANCHTHON, Brief an Christoph Stalberg v. 1526, CR Bd. 1 (1834), 837.
322 SAMUEL PUFENDORF, Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten

(Frankfurt 1682), l', Vorrede.


323 PoMEY, Grand Dict. Royal, t. 1 (1715), 485.

324 CHARLES ROLLIN, Historie alter Zeiten und Völcker, Bd. 12 (dt. Dresden, Leipzig

1748), 221.

656
b) Kontamination von 'Historie' und 'Geschichte' Geschichte

Seitdem wird es schwierig, die 'wirkliche' Geschichte oder die als wirksam
reflektierte Geschichte auseinanderzuhalten. FRIEDRICH DER GROSSE stutzte noch,
als ihm der Bibliothekar J OH. ERICH BIESTER sagte, er habe vorzüglich sich mit
der Geschichte beschäftigt. Der König fragte ihn, ob dies soviel bedeute, als Historie,
weil ihm das deutsche Wort nicht geläufig war, wie der Referent erläuterte. Das
Wort wird er gekannt haben, aber nicht den reflexiven Sinn, der im neuen Kollektiv-
singular enthalten war 325 • 1777 heißt es schon ganz selbstverständlich, daß lsELIN
beabsichtigt hatte, die Geschichte zu studieren und Lehrer der Geschichte zu werden 326 •
ADELUNG schließlich registrierte 1775 den Sieg der 'Geschichte'. Der Ausdruck hat
drei gleichrangige Bedeutungen, die er seitdem nicht mehr verloren hat: 1. Was
geschehen ist, eine geschehene Sache . . . 2. Die Erzählung solcher Geschichte oder
geschehenen Begebenheiten; die Historie ... 3. Die Kenntnis der geschehenen Begeben-
heiten, die Geschichtkunde; ohne Plural. Die Geschichte ist die zuverlässigste Lehr-
meisterin der Moral, wie der letzte Punkt erläutert wird. In dem knappen Artikel
über 'Die Historie' tauchen dieselben Definitionen auf, und Adelung fügt hinzu:
In allen diesen Bedeutungen ist nunmehr, wenigstens in der anständigen Schreibart,
dafür das deutsche Geschichte gangbarer 321 • ·
Nun könnte man diesen Befund, den Adelung sicher auch in sprachpolitischer
Absicht registriert hat, rein onomasiologisch deuten, daß der Bedeutungsraum eines
Wortes - 'Historie' - eben von einem anderen Wort - 'Geschichte' - über-
nommen worden sei. Die Wortgeschichte hat aber gezeigt, daß solche Konvergenzen
seit dem spät.er• Mit,tela.lt,er mi.iglich und a11cl1 iihlic11 waren. Auch ist nicht ent-
scheidend, daß 'Historie' jetzt ganz im Sinne von 'Geschichte' gebraucht werden
konnte, was uns die „Deutsche Encyclopädie", trotz gelehrter Differenzierungen,
bestätigt 328 • Entscheidend war, daß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine
Schwelle überschritten wurde. Die drei Ebenen: Sachverhalt, Darstellung und
Wissenschaft davon wurden jetzt als 'Geschichte' auf einen einzigen gemeinsamen
Begriff gebracht. Es handelte sich, wenn der gesamte damalige Wortgebrauch
berücksichtigt wird, um die Fusion des neuen Wi:rklichkeitsbegri:ffes von 'Geschichte
überhaupt' mit den Reflexionen, die diese Wirklichkeit überhaupt erst begreifen
lehrte. 'Geschichte' war, überspitzt formuliert, eine Art transzendentaler Kate-
gorie, die auf die Bedingung der Möglichkeit von Geschichten zielte.
Ale1 HEGET, rflKLRLflll!;p,: Gp,.~cli:1:chtp, 'l!P:rp,-im:iat ·1:n Wn8erer S7mwhp, ,z,,;p, nfijp,kt1:11e sowohl
und subjektive Seite und bedeutet ebensowohl die historiam rerum gestarum als die res
gestas selbst-, da erachtete er diesen Befund nicht als äußerliche Zufälligkeit. Die

320 Hofrat BöTTIGER, Erinnerungen an das literarische Berlin im August 1796, in: Über-

lieferungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Vor- und Mitwelt, hg. v. FRIEDR.
ADOLPH EBERT, Bd. 2/1 (Dresden 1827), 42.
326 Ephemeriden der Menschheit, hg. v. lsaak lselin, 11. Stück (1777), 122 f., Anm.

s27 AmiwNn Rfl. 2 (l77fi), 600 f. 1210 f.


328 HEINR. MARTIN KösTER, Art. Geschichte, Dt. Enc., Bd. 12 (1787), 67; ders., Art.

Hist.orie, Philosophie der Hist.orie, ebd., Bd. 15 (1790), 649. Vgl. ferner den wortgeschicht-
lichen Exkurs von GusTAV HERTZBERG, Art. Geschichte, ERSCH/GRUBER 1. Sect„ Bd. 62
(1856), 343, Anm. 2, der WILHELM WACHSMUTH, Entwurf einer Theorie der Geschichte
(Halle 1820), 2 ff. referiert und dessen Unterscheidungen bei uns im Folgenden wieder
auftauchen.

42--90386/l 657
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' als Geschichtsphilosophie

eigentlich geschichtlichen Taten und Begebenheiten, die den vorgeschichtlichen Raum


natürlicher Geschehnisse hinter sich ließen, seien nur zugleich mit i hrP.r Verarbei-
tung im Medium der Geschichtserzählung entstanden329 • Das eine verweist auf das
andere und umgekehrt. Oder wie DROYSEN später die Seinsweise der Geschichte
an ihr Bewußtsein zurückband: Das Wissen von ihr ist sie selbst 380•
Damit waren der neue Wirklichkeitsbegriff und der neue Reflexionsbegriff zur
Deckung gebracht. Wissenschaftstheoretisch führte diese Konvergenz zu zahlrei-
chen Ungenauigkeiten und Unklarheiten. Niebuhr 331 und nach ihm viele andere
suchten deshalb den Wortgebrauch wieder zu differenzieren. Die Vergeblichkeit
dieser Bemühungen verweist uns darauf, daß die 'Geschichte' als sozialer und als
politischer Begriff mehr oder weniger, jedenfalls anderes leistete: er wurde zu
einem mnfassenden, überwissenschaftlichen Begriff, der die neuzeitliche Erfahrung
einer selbsttätigen Geschichte in die Reflexion der sie vollziehenden oder erleiden-
den Menschen einzuholen nötigt.

2. 'Die Geschichte' a1s Geschichtsphilosophie

Wie sehr die neue Wirklichkeit der 'Geschichte überhaupt' erst durch die Reflexion
auf ihren JJegrilI gel.irachL wurden war„ :.ieigt die parallele Wortbildung 'Geschichts-
.philosophie'. Die Freilegung der 'Geschichte überhaupt' fiel zusammen mit der
Entstehung der Geschichtsphilosophie. Wer den neuen Ausdruck: Philosophie der
Geschichte verwende, schrieb KösTER 1790 in der „Deutschen Encyclopädie" 332 ,
der müsse sich n'ur merken, daß dieses keine eigentliche und besondere Wissenschaft
sei, wie man bei dem ersten Anblick dieses Ausdrucks leicht glauben möchte. Denn es
ist, wofern ein ganzer Teil der Historie oder eine ganze historische Wissenschaft so
abgehandelt wird, weiter nichts als Historie an süii selbst. Schon die pragrnaLÜiehe
Geschichtsschreibung, die aus eigenen und fremden Erfahrungen Schlüsse ziehe,
verdiene diesen Namen, ebenso die historische Oritik, die Wahrheit von Wahrschein-
lichkeit unterscheiden lehre, und deshalb könne man auch die Logik der Geschichte
oder die Theorie der Historie so nennen. Mit dem registrierten Sprachgebrauch faßte
Köster den neuen Befund zusammen. ·
Es war eine Leistung der Aufklärungsphilosophie, kraft derer sich die Historie als
Wissenschaft von der sie flankierenden RheLurik und Moralphilosophie ablöste und
aus der ihr übergeordneten Th;ologie und Jurisprudenz befreite.
Daß die Historie, die bisher vom Einzelnen und Besonderen und vom Zufälligen
handelte, der „Philosophie" fähig sei, verstand sich nicht von selbst. Während sich
die historisch-philologischen Methoden und die Hilfswissenschaften schon seit dem
Humanismus verselbständigt hatten, wurde die Historie als solche erst zu einer
eigenen Wissenschaft, als sie - in der 'Geschichte überhaupt' - einen neuen
Erfahrungsraum gewonnen hatte. Sei~dem konnte . sie auch ihren spezifischen
„Gegenstandsbereich" freilegen. Die Ausbildung der Geschichtsphilosophie indiziert

s2s HEGEL, Vernunft (s. Anm. 236), 164.


33 0 DROYSEN, Historik (s.
Anm. 236), 331; ferner: ebd., 325. 357.
331 Vgl. Anm. 361.
a3 2 KösTER, Art. Historie, 666.

658
a) Die ästhetische· Reßexion Geschichte

diesen Vorgang. Drei Schritte haben dahin geführt: die ästhetische Reflexion, die
Moralisierung der Geschichten und die Hypothesenbildung, die eine theologische
Geschichtsdeutung durch den Rekurs auf eine „natürliche" Geschichte zu über-
holen suchte.
a) Die ästhetische Reßexion. Im Vorfeld der Geschichtsphilosophie wurden Histo-
rik und Poetik neu aufeinander zugeordnet, deren Verhältnisbestimmung ein antikes,
seit dem Humanismus immer wieder aufgegriffenes Thema war. Schematisch läßt
sich die Beziehung zwischen Historie und Dichtung dur~h zwei Extrempositionen
kennzeichnen, die eine gleitende Skala von Zuordnungen ermöglichten333 .
Entweder wird der Wahrheitsgehalt der Historie höher eingestuft als in der Dich-
tung, denn wer sich mit den rcs foctac abgebe, müsse die Wahrheit selbst zeigen,
während die res :fictae zur Lüge verleiten. Historiker dieser Position bedienten sich
gern der seit Lukian weitergereichten Spiegelmetapher, um ihren Auftrag zu defi-
nieren, die 'nackte Wahrheit' zu schildern. Die Historie habe eine nudite si noble et
si majestueuse, schrieb 1714 FENELON, so daß sie keiner poetischen Ausschmückung
bedürfe 334 • Die nackte Wahrheit zu sagen, das ist die Begebenheiten, die sich zugetragen
/i.a.be.n, ohne a.lle. Bcli:m:inke. 211. e.·rzähle.n, Ro hARtii.tigt GoTTRC:Hlm diei:ie Anfgahe der
Historiker 335 •
Gegen die erkenntnistheoretische Unbekümmertheit, die aus solchen Sätzen sprach,
berief sich die andere Position auf ARISTOTELES 336 • Aristoteles ha.tfaoi die Hif1torie
gegenüber der Dichtung abgewertet, weil sie sich nur nach dem Ablauf der Zeit
richte, in der vielerlei geschehe, wie es sich gerade trifft. Sie erzähle, was geschehen
ist, während die Dichtung erzählt, was geschehen könnte. Die Dichtung zielt auf das
Mögliohe und das Allgemeine, weshalb sie philosophischer und bedeutender als die
Historie sei. Wie es LESSING, der Aristoteliker im 18. Jahrhundert, formulierte:
Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahr-
heiten nie werden 337 , daher habe auch die innere Wahrscheinlichkeit der Dichtung
eine höhere Kraft als das oft fragwürdige historisch Wahre 338. Im Unterschied zum
Historiker ist der Dichter . . . Herr über die Geschichte; und er kann die Begebenheiten
so nahe zusammenrücken als er will339, wie es Lessing moderner ausdrückt. Infolge

333 Kr.Aus HEITMANN, Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer

Theorie, Arch. f. Kulturgesch. 52 (1970), 244 ff.


334 FRAN901s DE FENELON, Lettre a M. Dacier sur !es occupations de l'Academie, Oeuvres

compl., t. 6 (Paris 1850), 639.


335 JoH. CHRISTOPH GoTTSCHED, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 3. Aufl. (Leipzig

1742), 354; vgl. FRITZ WINTERLING, Das Bild der Geschichte in Drama undDramentheorie
Gottscheds und Bodmers (phil. Diss. Frankfurt 1955; Mschr.), 15. Zum ganzen ROLF
REICHARDT, Historik und Poetik in der deutschen und französischen Aufklärung (Staats-
arbeit Heidelberg 1966; Mschr.); zur Metapher der nackten Wahrheit in ihren geschicht-
lichen TmnRformatiomm: HA NS Rr.TTMF.NllF.Ro, Paradigmen einer Metaphorologie, Arch.
f. Begriffsgesch. 6 (1960), 47 ff.
88H ARISTOTELES, .l:'oet. 1451 b; 145\J a.

337 LESSING, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), Sämtl. Sehr., Bd. 13

(1897), 5.
338 Ders., Abhandlungen über die Fabel (1757), Sämtl. Sehr., Bd. 7 (1891), 446.
339 Ders., Briefe, die neueste Literatur betreffend, Nr. 63. Sämtl. Sehr., Bd. 8 (1892), 168.

659
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' als Geschichtsphilosophie

seiner aristotelischen Vorbehalte gegen historische Erkenntnis verwundert es nicht,


daß Lessing dort, wo er - 1784 - selber als Geschichtsphilosoph auftrat, in seiner
„Erziehung des Menschengeschlechts", auf den Ausdruck 'Geschichte' verzichtete.
Das zeigt negativ, wie langsam sich der neue, philosophisch imprägnierte Terminus
'Geschichte' durchgesetzt hatte.
Daß die Geschichte der Philosophie fähig wurde, war nun keineswegs auf den Sieg
eines der beiden Lager zurückzuführen, die bisher schematisch verkürzt skizziert
wurden. Weder die Vertreter der 'nackten Wahrheit', also die Wegbereiter der
'Geschichte selbst', setzten sich durch, noch die Verfechter der überlegenen Dich-
tung, die ihre Darstellung den Regeln einer immanenten Möglichkeit unterwarfen.
Vielmehr gingen beide Lager eine Fusion ein, bei der die Historie von der allgemeine-
ren Wa.hrhoit dor Diohtung, von ihror innoron Plo,uaibilitiit, profitierte - wie um-
gekehrt die Dichtung sich zunehmend dem Anspruch geschichtlicher Wirklichkeit
stellte. Das Ergebnis wird schließlich signalisiert in der Geschichtsphilosophie.
Schon EoDIN hatte - im Unterschied zu Bacon - die Historie entschieden auf-
gewertet. Ohne ihre heiligen Gesetze ( sacrae historiae leges) käme niemand im Leben
aus, selbst die Philosophie versage ohne die historischen dicta, /acta, consilia: dank
ihrer könne man sich auf die Zukunft cinricl:ttcn340 • Es war nun gerade das Reich
der Wahrscheinlichkeit, das die menschliche Historie - im Gegeut:iaL:i: :i:ur mathe-
matischen oder zur religiösen Wahrheit - auszeichne und aus deren Ungewißheiten
und Wirrnissen die Philosophistorici ihre Einsichten gewönnen3 41 •
In dieser Bescheidung lag auf die Länge der Gewinn, denn in der folgenden Ausein-
andersetzung mit der cartesischen und pyrrhonistischen Kritik an der Unsicherheit
und Unzuverlässigkeit historischer Aussagen wurde jener Bereich der verites de
faits freigelegt, deren Gegenteil mit LEIBNIZ zwar denkmöglich war, deren Tat-
sächlichkeit aber nach Graden der Wahrscheinlichkeit wissem1r.ha.ft,lir.h flruim·t wer-
den konnte 342 •
Ob man es nun zwar in der Historie zu einer vollkommenen Gewißheit nicht bringen
kann, resümiert ZEDLER 1735 den Sieg über den Pyrrhonismus, so hat doch dabei
die Wahrscheinlichkeit, welche gleichfalls eine Art der Wahrheit ist, statt. Wer eine
Historie beurteilen wolle, müsse fragen nach der Geschichte selber, inwiefern dieselbe
möglich ist, oder nicht 343• Damit hatte die Historie im Rahmen der aristotelischen
Abschichtung einen Rang Arklornmen, der sie in die Nähe der Dichtung rückte .
.Nicht nur die Wirklichkeit wurde erfragt, sondern zunächst einmal die Bedingungen
ihrer Möglichkeit. Darauf aber war auch die Dichtung verpflichtet. Einmal unter
einen gemeinsamen rationalen Anspruch gestellt, konnte auch ihr Nutzen gemein-
sam definiert werden: Le but principal de l' H istoire, aussi bien que de la poesie, doit

340 BoDIN, Methodus ad facilem cognitionem historiarum (1572), Oeuvres philos., ed.

PiArrA MARnarfl (P11.riR 1951), 112 a.


341 Ebd., 114 f. 138 b. Zur Begriffsgeschichte der Wahrscheinlichkeit s. BLUMENBERG,

Paradigmen, 88 ff.
342 LEIBNIZ, Monadologie,§ 33. Philos. Sehr., hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 6 (Berlin 1885),

612; ders., Theodizee, §§ 36 ff., ebd., 123 ff.; ders., Discours de metaphysique, Philos.
Sehr., Bd. 4 (1880), 427 ff.
343 ZEDLER Bd. 13 (1735), 283, Art. Historie.

660
a) Die ästhetische Reßexion Geschichte

€tre d' en8e'iyner la prudence et lu Ve'ft'U pwr des exe'fll!jileS, et pwis de 'iftUn/1re1' le ·v·Ü;e
d'une maniere qui en donne de l'aversion, et qui porte ou serve a l'eviter 344 .
Innerhalb der Dichtung war es die neue Gattung des bürgerlichen Romans, die nun
ihrerseits dem Postulat einer geschichtlichen Tatsachentreue unterworfen wurde.
Wie in zwei kommunizierenden Röhren wurden Historie und Roman einander an-
geglichen. Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft des Romans wuchsen im Maß,
als er sich einer 'wahrhaftigen Historie' annäherte. Bezeichnend für diesen Vorgang,
dem offensichtlich eine realitätsbezogene Lesererwartung entsprach, ist der rapide
Titelwechsel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts 345 • Um der Vermutung nach
Wirklichkeitsgemäßheit zu genügen, wurden die französischen Romane gern
'Histoire' oder 'Memoires' genannt. Der Versuch von CHARLES SoREL, die alte
Trennung zwischen Roman 1.md Historie aufrec.htzuerhalt.en, setzte sich nicht durch:
Il ne faut pas se persuader que quelque roman que ce soit puisse jamais valoir une
vraie histoire, ni que l'on doive approuver que l'histoire tienne en quelque sorte du
roman346.
Durch die Verschränkung von Poetik und Historik wurde vielmehr der neue, kom-
plexe Geschichtsbegriff freigesetzt, der die höhere Wahrheit von Philosophie und
Dichtung an die historische Tatsächlichkeit zurückband, So benutzte DrnEROT die
aristotelischen Kutcgoricn des W uhrcn, Wahrsoheinliohen und Möglichen, um den
Vergleich von 'histoire' und 'poesie' durchzuführen. L' art poetique serait donc bien
avance, si ie traite de la certitude historique etait fait 347 . Und seine „Eloge de Richard-
son" zeigt 1762, wie sich unter der Hand Diderots der Begriff der Geschichte aus
seinen aristotelischen Fesseln befreit. Die Historie sei oft voller Lügen und zeige nur
Ausschnitte oder befristete Ereignisse, heißt es noch herkömmlich. Anders der
Roman Richard~orn;, er handle von der Gesellschaft und ihren Sitten, seine Wahr-
heit umfasse alle Räume und Zeiten des Menschengeschlechts, j'oserai dire que
souvent l'histoire est un mauvais roman; et que le roman comme tu l'as fait, est une
bonne histoire/348
In Deutschland vollzieht sich eine ähnliche Aufwertung. JOHANN WILHELM VON
STUBENBERG prägte 1664 für den Roman den Ausdruck Geschicht-Gedicht, um dessen
Rückbindung an die Wirklichkeit zu kennzeichnen. Die Geschwister ScuDERY
behandeln in ihrer „Clelie", wie er sagte, lauter wahre beglaubte Geschichten vor und
an sich selbst / denen sie aber solche mögliche / wahrscheinige / vernunftmässige Zu-
fälle beydichten / die ihnen Anlaß und Fug geben / ihre Sitten- und Tugendlehren ...
schickUch. nnzu,tragwn. RrnKF.N fiigt11 in RAin11r Po11t,ik nooh 1'1An AnRdrnck Gedü:ht-

344 LEIBNIZ, Theodizee,§ 148. Philos. Sehr., Bd. 6, 198.


34 5 P. S. JONES, A List from French Prose Fiction from 1700 to 1750 (phil. Diss. Columbia
University; New York 1939), Introd.; dazu: Livre et societe dans la France du XVIII0
siecle, ed. FRAN901s FuRET (Paris, Den Haag 1970).
346 CHARLES SoREL, De la connaissance de bons livres ou Examen de plusieurs autheurs

(1071), :6iL. GusTAVE DULONG, L'abM de Saint-Real. Etude sru· les rapports de l'histoire
et du roman au 17° siecle, t. 1 (Paris 1921), 69.
3 4 7 DENIS DIDEROT, De la poesie dramatique (1758), Oeuvres compl., ed. J. Assezat, t. 7

(Paris 1875), 335, vgl. 327 f.


3 -' 8 Ders., Eloge de Richardson (1761), Oeuvres, t. 5 (1875), 221, vgl. 215. 218.

661
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' als Geschichtsphilosophie

Geschicht hinzu 349, um das Epos vom Roman zu unterscheiden. Seitdem erscheinen
„die Grenzen dichterischer und wahrscheinlicher Erfindung ... als die Grenzen der
historisch denkbaren Welt" 350 . Und seit rund 1700 verdrängt der Ausdruck 'Ge-
schichte' den 'Roman' und mehr noch die 'Historie' aus den Titeln der deutschen
Romane 351 .
Also längst bevor die historischen Autoren von der Überschrift 'Historie' zur
'Geschichte' wechselten, hatten sich die Dichter bereits des zugkräftigeren, einen
erhöhten Realitätsgehalt versprechenden Titels bedient. 1741 forderte BoDMER,
den erzählten Zusammenhang mit bekannten Dingen zu verknüpfen. Dadurch er-
hebet sich das Gedichte und der Roman nach und nach bis zu der Würde der Historie,
welche in dem höchsten und äußersten Grade der Wahrscheinlichkeit bestehet; maßen
die so gerühmte historische Wahrheit nichts anders ist, als Wahrscheinlichkeit, die durch
zusammenstimmende und vereinigte Zeugnisse bewiesen wird 352 •
Während die Romankunst auf die geschichtliche Realität verpflichtet wurde, geriet
umgekehrt die Historie unter das poetologische Vorgebot, sinnstiftende Einheiten
zu schaffen. Es. wurde ihr eine größere Darstellungskunst abgefordert, sie sollte,
statt chronologische Reihen zu erzählen, geheime Motive eruieren und dem zufälli-
gen Geschehen eine innere Ordnung abgewinnen. So führtim hllide Gattungen durch
eine Art gegenseitiger Osmose zur Entdeckung einer nur in der Reflexion zu ge-
winnenden geschichtlichen Wirklichkeit. 1714 hatte F:ENELON vor der Akademie
das Programm formuliert: La principale perfection d' une histoire consiste dans l' ordre
et dans l'arrangement. Pour parve.nir a ce bel ordre, l'historien doit embra.~se·r el ]JO.s-
seder toute son histoire.: il doit la voir tout entiere comm,e d'nne seule t1ue , .. Il faut en
montrer l'unite, et tirer, pour ainsi dire, d'une seule source tous les principaux eve-
nemens qui en dependent. Damit, gewinne der Leser Nutzen und Vergnügen zu-
gleich353.
Erst durch eine subjektive, standpunktgebundene Leistung des Historikers ent-
hüllt sieh jene Einheit der Geschichte, die dann zunehmend in der geschichtlichen
Wirklichkeit selbst gefunden werden sollte. Diesem Anspruch leistete nun die theo-
logische Perspektive einer christlich erfahrenen Universalgeschichte Vorschub.
BossUET insistierte darauf, daß alle Geschichten miteinander zusammenhängen,
so daß man comme d'un coup d'<Eil, tout l'ordre des temps erfassen könne. La vraie
science de l'histoire. est de remarquer dans chaque temps ces secretes dispo.~ition.~ qwi

349 MADELEINE u. GEORGES DE ScUDERY; Clelia: Eine Römische Geschichte, dt. v. Joh.

Wilhelm Frh. v. Stubenberg, Bd. 1(Nürnberg1664), Zuschrift, zit. WILHELM VossK.AMP,


Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg (Stutt-
gart 1973), 11 f., dort auch weitere eingehende Analysen.
3 6° VossKA:MP, Romantheorie, 13.
361 HERBERT SINGER, Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko (Köln, Graz

1063), Bibliogra.phie, S. 182 ff.


352 JoH. JACOB BonMER, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der

Dichter. Mit einer Vorrede von Joh. Jacob Breitinger (Zürich 1741), 548, zit. VossKAMP,
Romantheorie, 156.
a5a FENELON, Lettre (s. Anm. 334), 639.

662
a) Die ästhetische Reßexion Geschichte

ont prepare les grands changements, et les conjonctures importantes qui les ont fait
arr'i1ver 351 .
LEIBNIZ bediente sich schon der viel diskutierten Metapher des Romans, um die
innere Einheit der bestmöglichen Menschengeschichte zu umschreiben: Oe Roman
de la vie humaine, que fait l'histoire universelle du genre humain, s'est trouve tout
invente dans l'entendement divin avec une infinite d'autres. Aber nur die tatsächliche
Ereignisfolge ( cette suite d' evenemens) habe Gott zu verwirklichen beschlossen, weil
sie sich optimal in alles übrige fügeass.
Wie sehr freilich die theologische Gewißheit der göttlichen Providenz zurücktrat,
um die Einheit der Geschichte wissenschaftlich abzusichern, bezeugt GATTERER,
als er 1767 vom historischen Plan handelte und der darauf sich gründenden Zusam-
menfügung der Erzählungen. Gatterer stieg bewußt in die poetologische Diskussion
ein, um den einheitstiftenden Auftrag der Historie zu begründen, die sich vom
Ohaos eines widerspenstigen Quellenmaterials herausgefordert sah. Die Historie,
bisher im Schatten der Dichtkunst, findet jetzt unter uns eine durch die Dichter
geöOnete Laufbahn vor sich. -Alles komme auf den Plan an und auf die Kategorien,
mit denen die Geschichte zu erkennen und darzustellen sei. Am natürlichsten ver-
fahre man, wenn man Begebenheiten syste;,,,weise zusammenstellet . . . Begebenheiten,
die nicht zum System gehören, ... sind jetzt für den Gesch1:ch.tschre.1:be.r, ,~nz11„~rurn, km:ne.
Begebenheiten. Nur durch seinen systematisierenden Vorgriff wer<l.en ilie pragmati-
schen Zusammenhänge aufgedeckt. Ist der Historiker Philosoph, und dieser muß er
schlechterd'inys se·in, wenn er 'pragmatiscli werden will, so macht er sich allgemeine
Maximen, wie die Begebenheiten zu entstehen pfiegen. Er reflektiert auf die Bedin-
gungen der möglichen Geschichte, und damit wird der historische Plan an die
Geschichte selber zurückgebunden. Der Übergang vollzieht sioh gleitend: der Histo-
riker begründet, vergleicht, achtet auf Charakter und Motive und wagt es, hieraus
ein System von Begebenheiten, das Triebwerk herzuleiten, das er entweder durch zeit-
genössische Quellen bestätigt oder durch den ganzen Zusammenhang der Geschichte
gerechtfertigt findet. Der theoretische Vorgriff: der nexus rerum universalis wird also
von der Geschichte selber erhärtet. Denn keine Begebenheit in der Welt ist, sozusagen,
insularisch. Alles hängt aneinander, veranlaßt einander, zeugt einander, wird veran-
laßt, wird gezeugt und veranlaßt und zeugt wieder 3 5 6 •
So wurde von der Herausforderung zu einer pragmatischen Darstellung, die Wir-
kung und Nutzen der Historie zu berücksichtigen hatte, ein Zwang ausgeübt, auch
im pragrnaLischen Ereigniszusammenhang ein inneres System zu erblicken. Und
es ist bezeichnend, daß der ersten in Deutschland verfaßten Philosophie der Historie
bescheinigt wurde - vermutlich von GATTERER selbst-, daß sie nichts Neues ent-
hält357. KösTER, ihr Verfasser, begriff nämlich unter einer Philosophie der Historie
bzw. der Geschichte die Regeln der Darstellung wie der Forschung und wendete den
Begriff ebenso auf das System der Universal-Historie an, das man auch Ontologie

354 BossuET, Discours sur l'histoire universelle (1681), ed. Jacques Truchet (Paris 1966),
40. 354.
s5s LEIBNIZ, Theodizee,§ 149. Philos. Sehr., Bd. 6, 198.
35 6 GATTERER, Vom historischen Plan (s. Anm. 223), 21. 16. 82 ff.
35 7 Ders., Rez. H. M. G. KösTER,· thier die Philosophie der Historie (Gießen 1775), Hiat.
Journal 6 (1776), 165.

663
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' a1s Geschichtsphilosophie

oder die Grunillehre der Geschichte nennen, unil ihm den Titel der Philosophie der
Geschichte nicht wohl vers<UJen kann3 58 .
Köster brachte die Intentionen der Chladenius, Iselin, Gatterer oder Schlözer nur
auf einen gemeinsamen Begriff, den sie selber noch nicht verwendet hatten.
Der Plan des Autors und die von der Geschichte selbst her aufweisbare innere
Einheit kamen langsam zur Deckung, indem sie sich wechselseitig zu stimulieren
schienen. In diesem Sinne schlug 1768 JusTUS MösER vor, der deutschen Reichs-
geschichte seit 1495 den Gang unil die Macht der Epopee zu geben. Seinem Plan, die
Geschichte zur Einheit zu erheben, entsprach dann eine vollständige Reichshistorie,
die einzig und allein in der Naturgeschichte einer Vereinigung des Reiches bestehn
kann 359 •
Den philosophisch wegweisenden Durchbruch erzielte KANT, als er die Frage nach
dem Verhältnis der Geschichte zu ihrer adäquaten DarRtelhmg zurückführte auf
die moralische Aufgabe, der Historiker und Geschichte gleicherweise verpflichtet
seien. Er wollte mit seiner Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leit-
faden a priori hat, nicht die empirische Arbeit der Historiker erübrigen. Aber Kant
entlastete die Diskussion über eine sachgerechte Darstellung, insofern er die ge-
!chichtliche Wirklichkeit au J.itJ ti:a111:1i.ernleul,11.le11 R111li11gu11gen ihrer Erkenntnis
11:uriickba.nd. Zustimme.nd zitierte er Hume, daß das erste Blatt des Thukydides
der einzige Anfang aller wahren Geschichte sei.
Andererseits wehrte sich Kant gegen die Metapher, daß man die Geschichte wie
einen Roman teleologisch konsLruieren könne. Die teleologische Einheitsstiftung ist
weniger eine ästhetische als eine moralische Aufgabe. Man kann die Geschichte der
Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur
ansehen, wenn man nur in der Praxis, durch unsere eigene vernünftige Veranstaltung,
darauf hinwirkt, die geforderte Zukunft schneller herbei(zu)führen. Das hat dann
auch darstellerische Folgen. Überführt man erst -wie Schlözer gefordert hatte -
das planlose Aggregat menschlicher Hanillungen in ein System der Geschichte, dann
wachsen auch die Chancen, dieses System zu verwirklichen. Darin liegt die ge-
schichtsphilosophische Grundierung aller Geschichte. Ein philosophischer Versuch,
die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene
bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich
und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden. So wirkt der philo-
1:1u phi1:1che Entwurf, die Geschichte konstituierend, auf die wirkliche Geschichte ein.
Menschliche Planung foruert mehr als uer ästhetische Plan: sie kommt in moralisch-
praktischer Absicht mit dem geheimen Plan der Natur überein 360 .
Wie sehr die transzendentale Wende die Aufgaben der Darstellung mit dem inneren
Zusammenhang der Ereignisse zur Einheit der Geschichte verschränkt hatte, zeigt
eine Reflexion NIEBUHRS von 1829, mit der er seine Vorlesungsankündigung zur

358 KöSTER, Philosophie, 54. 50. 73 ff.


JusTus MösER, Osnabrückische Geschichte (1768), SW Bd. 12/1 (1964), 34; ders.,
3 .5 9

Vorschlag zu einem neuen Plan der deutschen Reichsgeschichte, Patriotische Phantasien,


SW Bd. 7 (1954), 132 f.
360 KANT, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 8. u. 9.

Satz. AA Bd. 8 (1912), 30. 29, Anm. 27. 29. Zur Romanmetapher noch ders„ Mutmaßlicher
Allfang der Menschengeschichte (1786), AA Bd. 8, 109.

664
a) Die ästhetische Reßenon Geschichte

„Geschichte des Zeitalters der Revolution" begründete. Er wollte zwar nicht von
der Revolution allein reden, aber sie sei der Mittelpunkt in der Zeit der letzten vierzig
Jahre; sie gibt dem Ganzen die epische Einheit, deshalb nehme er sie zum Ausgangs-
punkt. Freilich sei die Revolution selbst nur ein Produkt der Zeit, über die er
eigentlich handeln wolle. Es fehlt uns allerdings ein Wort für die Zeit im allgemeinen,
und bei diesem Mangel mögen wir sie das Zeitalter der Revolution nennen 361 •
Die Revolution hat gleichsam von sich aus die darzustellende, die epische Einheit
der Geschichte gestiftet, aber hinter ihr steht die Zeit im allgemeinen, das genuine
Thema der modernen Geschichte, die in der Revolution auf ihren ersten erfahrungs-
gesättigten Begriff gebracht worden ist.
HUMBOLDT hat schließlich - in Auseinandersetzung mit Schiller - den alten
DiRp11t zwiRr.hen der Hi~t.orik und Poetik aufgelöst, indem er - 1821 - die M11ß
stäbe ihrer Darstellung aus der 'Geschichte überhaupt' abzuleiten suchte. Mit der
nackten Absonderung des wirklich Geschehenen ist aber noch kaum das Gerippe der
Begebenheit gewonnen. Was man durch sie erhält, ist die notwendige Grundlage der
Geschichte, der Stoff zu derselben, aber nicht die Geschichte selbst.
Um zur Geschichte selbst vorzustoßen, bedürfe es einerseits der kritischen Ergrün-
dung des Geschehenen, also der historisch-philologi1mh1m Forschung, zum anderen
aber der produktiven Ph11nt11sic, die den Geschichtsschreiber mit dem Dichter ver-
binde. Erst dann könne jener Begriff der Wirklichkeit entwickelt werden, die ihrer
scheinbaren Zufälligkeit ungeachtet, dennoch durch innere Notwendigkeit gebunden ist.
Kraft dieser Erkenntnis gewinne der Stoff des Geschehens jene durchgängige Form,
die ihn als Geschichte strukturiert. Der Geschicht.~chrm:bp,r, der dieses Namens würdig
ist, muß jede Begebenheit als Teil eines Ganzen, oder, was dasselbe ist, an jeder die Form
der Gesckiclite überhaupt darstellen. Insoweit scheint Humboldt noch den Regeln einer
Poetik zu folgen, die die formalen Kriterien einer stofflichen Darstellung liefert.
Aber Humboldt geht, auf Kant und Herder fußend,. den entscheidenden Schritt
weiter, wenn er den zunächst unsichtbaren Zusammenhang aller Ereignisse auf
hintergründig wirkende und schaffende Kräfte zurückführt, die selber die Geschichte
gestalten, ih:r die Form geben, die sie habe. Worauf es ankon;ime, sei deshalb nicht
nur, die Form mitzubringen, die die labyrinthisch verschlungenen Begebenheiten der
Weltgeschichte ordne, sondern: diese Form von ihnen selbst abzuziehen. Darin liege
kein Widerspruch, denn die Geschichte als Wirkungszusammenhang und alR Rr-
kenntnis haben einen gemeinsamen Grund, da alles, was in der Weltgeschichte wirk-
sam ist, sich auch in dem lnnp,rn rfr.~ Menschen bewegt 362 •
Die transzendentale Bestimmung der Geschichte als einer Kategorie der Wirklich-
keit und der Reflexion zugleich erweist sich hier als Ergebnis eines langen Prozesses
zwischen Poetik und Historik, in dem schließlich die Ästhetik von der Geschichts-
philosophie absorbiert wurde.
Jetzt war es möglich, daß ScHALLER 1838 in den „Hallischen Jahrbüchern" lako-
nisch feststellen konnte: Die Geschichte als die Darstellung des Geschehenen ist in
·ihrer Volknd·uny nolwvnd·iy •t:uyle·iclt Pkilus1Yplde der Geschichte 000 •
aRl BARTIIOLD ÜEORG NIE:SUIIR, GeschichLe lle~ ZeiLalLer~ uer Revolubiun, Bd. 1 (Häm-
burg 1845), 41.
362 HUMBOLDT, Geschichtschreiber (s. Anm. 153), 36. 40 f. 47.
363 Juuus SmIALLER, Hallische Jbb„ Nr. 81 (1838), 641, Rez. von Hegels Vorlesungen

über die Geschichte der Philosophie.

665
Geschichte V• 2. 'Die Geschichte' als Geschichtsphilosophie

b) Von der Moralisierung zur Prozessualisierung der Geschichte. Der poeto-


logische Auftrag an die Historie hatte einen sinnvollen Zusammenhang darzustellen
gefordert. Dieser Zusammenhang wurde kraft geschichtsphilosophischer Reflexionen
der 'Geschichte selber' überantwortet und somit an ihr selber aufweisbar. - Die
alte moralische Aufgabe der Historie, durch Urteile nicht nur zu belehren, sondern
auch zu bessern, unterlag einem ähnlichen Wandel. War zunächst die Unterwerfung
einer tatsächlichen Geschichte unter moralische Normen das Geschäft des Histori-
kers als eines philosophischen Sachwalters, so wurde gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts die Beweislast für die Mo.ralität der Geschichte selber übertragen.
Lebhaft debattierten die Historiker, ob sie ihr Urteil in die Erzählung einfließen
oder ob sie nicht besser die Geschichte selber sprechen lassen sollten. So schrieb
etwa HAUSEN, der Geschichtsschreiber müsse sich, nach den Regeln des Lukians
gebildet, ... hie;r ve;rbe;rgen 864 • Die Geschichte hat ihre eigene Beredsamkeit, sagte schon
1748 MosHEIM; deshalb solle der Historiker malen, und soll doch ohne Farben
malen 365• Denn, wie MösER 1768 hinzufügte, in der Geschichte müßten, so wie auf
einem Gemälde, bloß die Taten reden ... Eindruck, Betrachtung und Urteil müssen
jedem Zuschauer eigen bleiben 366 • Es war also ein beliebtes rhetorisches Gebot an die
Historiker, gerade um exemplarisch wirken zu können, die Wahrheit der Geschichte
für sich selber sprechen zu lassen, - ein Gebot, das sich seit Lukian durchgehalten
hatte.
Auf der anderen Seite verstärkte sich durch die Aufklärung ganz entschieden das
T.;:i,gAr, nfl.R nAm HiRtoriker eine emphat.isc.he Parteinahme für die. Wahrheit abfor-
derte, speziell für die moralische Lehre der GeRchichten. Dill :mtike Wendung, daß
.lfarcht oder Hoffnung vor dem historischen Urteil in der Nachwelt verhaltens-
regulierend wirke, wurde, etwa von BoDIN367, schon im Humanismus aufgenommen.
V1PERANOS Formel, ein Historiker müsse bonus judex et incorruptus censor sein368,
fand um so mehr Anklang, als die Nachwelt im 18. Jahrhundert - anstelle des
Jüngsten Gerichts - zum Forum der Gerechtigkeit erhöht wurde. Der Historiker
steht gleichsam übe;r den Gräbern und ruft die Toten hervor; ohne auf Titel oder
Gefolge zu achten, betrachtet er sie mit bald gleichgültigem, bald richtendem Auge869 •
So könnten sich sogar die Herrscher, denen die Wahrheit immer vorenthalten werde,
dank der Historie im voraus selbst beurteilen lernen. Es ging eine moralisierende
Kraft von ihr aus, die Historie bildete, in den Worten n' ALEMBERTS, ein tribunal
integre et terrible 370 • Die regierenden Herren Reien keineRwegR RLraffrei, wie lohend

364 HAUSEN, Freye Beurtheilung über die Wahl, über die Verbindung, und Einkleidung

der historischen Begebenheiten, und Vergleichung der neuen Geschichtschreiber mit den
römischen, Vermischte Sehr. (s. Anm. 279), 10.
366 J. L. v. MosHEIM, Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte,

2. Aufl. (Göttingen 1748), 42 f.


366 MösER, Osnabrück. Geschichte, Vorrede. SW Bd. 12/1, 33.

367 Bonm, Methodus (s. Anm. 340), 112 b f.


368 GIOVANNI ANTONIO VIPERANO, De scribenda historia liber (Antwerpen 1569), KESSLER,

Theoretiker (s. Anm. 179), 65.


369 ABBT, Briefe, die neueste Litteratur betreffend 10 (1761), 211, 161. Brief.
370 n'ALEMBERT, Discours preliminaire de l'Encyclopedie (1751), hg. v. Erich Köhler

(Hamburg 1955), 62.

666
b) Moralisierung und Prozessualisierung der Geschichte Geschichte

der Übersetzer BACONS registriert; die Historie ist ihr Strafgesetz 371 . Und darin lag
ihr „philosophisch" verstandener Einsatz: Die Geschichte drückt wirklich schönen
Handlungen das Siegel der Unsterblichkeit auf und bedeckt die Laster mit einem Brand-
mal, den Jahrhunderte nicht auszulöschen.vermögen. Wenn man also die Geschichte auf
eine gute Art studieret, so ist es eine Philosophie, die einen desto größeren Eindruck
auf uns macht, je mehr sie mit uns durch lebendige Beispiele redet 372 . Die exemplarisch
lehrende Historie wurde schon im 17. Jahrhundert als Philosophie definiert: Cum
ergo Historia nihil aliud sit, quam Philosophia exemplis utens, wie MoRHOF geschrie-
ben hatte 373 . Und die von Bolingbroke aufgenommene Wendung, die Historie sei
die mit Exempeln lehrende Philosophie, wurde lauf~nd zitiert; dem moralisierenden
Historiker war darüber ein philosophisches Richteramt zugewachsen. Historische
Gerechtigkeit ist die Fertigkeit, aus der aus Tatsachen entstehenden historischen Wahr-
heit gültige Schlüsse zu machen374.
Eine für die Neuzeit wegweisende Schwelle wurde nun überschritten, als das tradi-
tionelle Richteramt der Historie mit der Konzeption des Kollektivsingulars auf die
'Geschichte überhaupt' übertragen werden konnte. Eine Übergangsformel benutzte
ROBESPIERRE, als er 1792 der Nachwelt zurief: Posterite naissante, c' est toi de a
cro:Ure et d'amener les jours de la prosperite et du bonheur 375 . Aus dem historischen
Urteil wurde eine geschichtliche Erwartung der llechtsvollstreckung. Nicht mehr
nur die einzelne Geschichte zählte als Exempel, sondern die ganze Geschichte wurde
nunmehr prozessualisiert, indem ihrem Vollzug eine rechtsstiftende und rechts-
waltende Aufgabe vindi:r.iert; wurde. All'l HERDF.R iieine „Ideen :r.ur Pl1ilosopliie der
Geschichte der Menschheit" herausgab, ging er davon aus, daß wie in der Natur
auch in der Geschichte Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen. Eine
solche Regel hieß : Der Mißbrauch wird sich selbst strafen und die Unordnung eben
durch den unermüdeten Eifer einer immer wachsenden Vernunft mit der Zeit Ordnung
werden 376 . Die Moral der Geschichte wurde verzeitlicht zur Geschichte als Prozeß.
SCHILLERS Halbvers aus dem Jahre 1784 machte schnell die Runde: Die Welt-
geschichte ist das Weltgericht 377 . Der Verzicht auf eine im Jenseits ausgleichende
Gerechtigkeit führt zu deren Verzeitlichung~ Die Geschichte hie et nunc gewinnt
unentrinnbaren Charakter: Was man von der Minute ausgeschlagen, / Gibt keine
Ewigkeit zurück.

an 80 die .lformuliorung des sohwodisohon GRAFEN 'l'EBBIN; zit..lfRANOIS .BACON, Über


die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, dt. v. Joh. Hermann Pfingsten (Pest
1783; Ndr. Darmstadt 1966), 196, Anm.
372 HALLE Bd. 1 (1779), 521.
3 73 DANIEL GEORG MoRHOF, Polyhistor literarius, philosophicus et practicus, hg. v.

Johann Moller, 2. Aufl., t. 1 (Lübeck 1714), 218 [l. Aufl. 1688]; vgl. HENRY ST. JOHN
VISCOUNT BOLINGBROKE, Letters on the Study and Use of History (1735; Ausg. London
1870), 5.
374 [Anonym], Über historische Gerechtigkeit und Wahrheit, Euda.emonia. oder dP.11t.s('hAR

Volksglück 1 (1795), 307.


37 1> ROBESPIERRE, Rede im Jacobinerklub über die Kriegsfrage am 11. 1. 1792, Oeuvres,

ed. Marc Bouloiseau, Georges Lefebvre, Albert Soboul, t. 8 (Paris 1953), 115.
376 HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/87), SW Bd. 14

(1909), 244. 249.


377 SCHILLER, Resignation, SA Bd. 1 lo. J.), 199.

667
Geschichte V. 2. Die 'Geschichte' als Geschichtsphilosophie

1822 konnte HUMBOLDT feststellen, daß sich das Recht in dem unerbittlichen Gange
der sich ewig richtenden und strafenden Begebenheiten Dasein und Geltung ver-
scha:ffe378. Damit formulierte er theoretisch, was zur allgemeinen geschichtsphilo-
sophischen Legitimation politischen Handelns geworden war, wenn etwa das Recht
der Weltgeschichte beschworen wurde, das man auf seiner Seite wisse 379 . Oder wenn
ERNST MoRITz ARNDT ausrief: Die den Staat rückwärts führen wollen, sind Narren
oder Buben. So hat die lange Geschichte gerichtet, und dieses Gericht gibt eine von den
wenigen Lehren der Vergangenheit, die wir gebrauchen sollten 380• Und 1820 bestätigte
PöLITZ, daß die Geschichte seit 1789 den fruchtbaren Beleg für das inhaltsschwere
Wort Schillers geliefert habe3Bl.
Die Geschichte, als Gericht erfahren, vermochte den Historiker von seiner subjek-
tiven Urteilsbildung zu entlasten. Deshalb verteidigte sich HEGEL guten Gewissens
gegen den Vorwurf der Anmaßung, sich als Weltrichter betragen zu haben, als er die
Geschichte als Prozeß entwickelte. Die Begebenheiten der allgemeinen Welt-
geschichte stellten für Hegel die Dialektik der be.~ondern Völkergeister, das Welt-
gericht, dar 3B2 • Im überschritt von der moralischen Urteilsbildung der Historiker
zum Prozeß als Weltgeschichte hatte sich die philosophische Geschichtsbetrachtung
der Aufklärung zur Geschichtsphilosophie der Neuzeit verfestigt.
Wenn sich später ilie Hi:;turi:;che Schule gegen diese Deutung wehrte, so konnte sie
doch nicht das einmal gefundene Erfahrungsraster sprengen. Der Topos begleitet
seitdem die neuzeitliche Geschichte, ob kritisch oder ideologisch verwendet, weil
er die Einmaligkeit und die Richtung der sich ständig überholenden modernen
Erfahrungen indiziert. 1841 schrieb WILHELM SCHULZ im „Brockhaus der Gegen-
wart383: Dem einseitigen Treiben folgte die Strafe der Weltgeschichte als des Welt-
gerichts auf dem Fuße nach, indem für die Restauration der ungemessene Rücksprung
in die V ergangenhe1:t eben.~nwnhl zum Salto mortale w11.rde, als es fiir die Revolittion
der Sprung in die Zukunft geworden war.
Auch als Phrase und ·bar jeder Hegelschen Bedeutung zehrt die Gerichts-
metapher von der Voraussetzung einer durch die Geschichte sich vollziehenden
Gerechtigkeit. Deshalb konnte sie HITLER 1924 beschwören - um nur eines der
zahllosen Beispiele zu nennen -, als er sich gegen die Anklage des Hochverrats
verteidigte: Mögen Sie uns tausendmal schuldig sprechen, die Göttin des ewigen
Gerü:htes der Geschichte u1ird lächelnd den Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil
des Gerichtes zerreißen; denn sie spricht uns frei 384 •

378 HUMBOLDT, Geschichtschreiber (s. Anm. 153), 55.


379 zit. HANS RoTHFEL.S, Theodor von Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution
von 1848 (Halle 1937), 193.
380 ERNST MoRITZ ARNDT, Der Bauernstand - politisch betrachtet (Berlin 1810), 113.
381 KARL HEINR. LuDw. PöLITZ, Die Weltgeschichte für gebildete Leser und Studierende,

3. A\\fl.., Bd. 4. (Leipzig 1820), 1.


382 HEGEL, Enzyklopädie der philusophi~chen Wissenschaften im Grundrisse, 3. Aufl.

(1830), hg. v. Friedhelm Nrnolm u. Otto l'öggeler (Hamburg 1Y5Y), 24. 426 (Vorwort u.
§ 548).
383 W. SCHULZ, Art. Zeitgeist, BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. 4/2 (1841), 462.

384 ADOLF HITLER, Schlußwort vor der Urteilsverkündigung, 24. 3. 1924, in: Der Hitler-

Prozeß vor dem Volksgericht in München, Tl. 2 (München 1924), 91.

668
c) Die Vemunft der Geschichte Geschichte

c) Von der rationalen Hypothesenbildung zur Vernunft der Geschichte. Die


poetologische Herausforderung zu dem historischen Plan führte zur inneren
Einheit, zum 'System' der Geschichte. Das Postulat nach der Moral einer Ge-
schichte führte zur Gerechtigkeit des geschichtlichen Prozesses. Beide Antworten
waren für die Zeitgenossen Ergebnis philosophischer Reflexion über die Historie.
Der Ausdruck selber: La philosophie de l' histoire stammte von VOLTAIRE, der 1765,
getarnt als Abbe Bazin, unter diesem Titel eine Schrift veröffentlichte385, die sofort
mehrfach aufgelegt und nachgedruckt wurde. Drei Jahre später erschien in deut-
scher Übersetzung von JOHANN JACOB HARDER Die Philosophie der Geschichte 386 •
Die Herausforderung, die in der Entfaltung des neuen Begriffs enthalten war,
brachte der deutsche Herausgeber auf einen Satz: er entsinne sich nicht, in irgend-
einem Buche so viele Einwürfe gegen den historischen Glauben der heiligen Schrift
beisammen gefunden zu haben als in der Philosophie der Geschichte 387 • Und er suchte
in Anmerkungen, die länger waren als Voltaires Text, dessen Angriffe auf die Bibel,
auf die Schöpfungsgeschichte und auf den historischen Glauben an die Vorsehung
zurückzuweisen. Die 'Philosophie der Geschichte' war in der Tat zunächst ein pole-
mischer Begriff: er richtete sich kritisch gegen den Schriftglauben und metaphy-
RiRch gP.g1m die göt.tliche Providenz, die nac.h theologischer Deutung den inneren
Zusammenhang der Geschichten stiftete. Voltaire stand im Gefolge der Simon,
8pinoza oder .Bayle, der Pyrrhonisten und Rationalisten, als er deren Heraus-
forderung an die Theologie aufnahm.
Im gleichen Akt sah sich die Historie provoziert. Denn entfiel der göttliche Plan,
so war die Historie genötigt, Zusammenhänge, wenn überhaupt, aus Faktoren zu
entwickeln, die sich aus der Geschichte selber ergaben. La philosophie de l'histoire
est fondee sur les rnodifications et l'ordre success·if des faüs rnhnes, wie es WEGELIN
formulierte, als er in den Jahren von 1770 bis 1776 seine „Philosophie de l'histoire"
der Berliner Akademie vorlegte 388 • Dabei ging es darum, die Mannigfaltigkeit und
Abfolge historischer Tatbestände philosophisch konsistent deuten zu kön-
nen, der Zufall und die Wunder wurden durch rationale Begründungen elimi-
niert. Um diese Aufgabe zu leisten, bediente sich die Historie zunehmend der
Hypothesen, die geeignet waren, Lücken im Faktenwissen zu überbrücken, vom
Bekannten auf Unbekanntes zu schließen. Es kam darauf an, wie Wegelin eine
Metapher Bacons nutzte, ein halb verloschenes Gemälde oder eine verstümmelte Bild-
.~ä11,le einigen Ori:gfr111,l-Ziigen z~lfolge auszubessern und zu vervollständigen. Die
theoretische Voraussetzung geschichtlicher Unter.~iwhwngen w:i.r nP.Rhalh, 7.wiRch1m
der möglichen und wahrhaften Geschichtkunde zu unterscheiden 389 • Damit rückte auch
hier, gemäß der aristotelischen Rangfolge, die Historie an die Philosophie heran.

385 ABBE BAZIN [d. i. VOLTAIRE], La philosophie de I'histoire (Amsterdam 1765), hg. v.
J. H. Brumfitt (Genf 1963).
386 Die Philosophie der GeRchioht,fl nflR VflrRt.orhflTiflTI H firm Aht~fl RA 7.TN", rlt„ v . .loh. ,fa.cnh

Harder (Leipzig 1768).


387 ElJ1l., Vudiel'icht.
388 JAKOB WEGELIN, Sur la philosophie de l'histoire, Nouveaux memoirs de l'Academie

royale, Jg. 1770 (Berlin 1772), 362.


389 Ders., Briefe (s. Anm. 288), 4; dazu FRANOIS BACON, The Advancement of Learning 2,

2, 1 ff. Works, vol. 1 (Ndr. 1963), 329 ff.

669
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' ais Geschichtsphilosophie

RuuHHJ!)AU hatte 1754 in seinem „Discours" über den Ursprung menschlicher Un-
gleichheit eine solche histoire hypotetique entworfen, deren conjectures zu Vernunft-
gründen werden, quand elles sont les plus probables qu' on puisse tirer de la nature
des choses. Es sei Aufgabe der Historie, die Tatsachen zu verbinden, c'est la a
philosophie a son defaut, de determiner les faits semblables qui peuvent les lier390.
Kraft dieser Verbindung von Philosophie und Geschichte wurde im 18. Jahrhundert
die Naturrechtslehre historisiert. Man versicherte sich der Natur der Geschichte,
um Zusammenhänge erkennen zu können, ohne auf überhistorische Gründe
oder Zwecke rekurrieren zu müssen. In diesem Sinne handelte es sich um eine
anthropologische Begründung der Geschichte, als IsELIN - ein Jahr vor Voltaires
Schrift - 1764 seine Ph"ilosophischen Muthmaßungen über die Geschichte der
Menschheit herausgab 391 , Und wenn Iselin versuchte, die menschliche Ge1mhiohte
aus inqeren Motivationen heraus fortschreitend auszulegen, so gab er offen zu:
Die Revolutionen der Menschheit, welche wir in diesem Buche abgeschildert haben,
sind indessen mehr wie philosophische Hypothesen als wie historische Wahrheiten
anzusehen 392 •
Unbeschadet der weiterwirkenden Hintergrundsfigur göttlicher Providenz oder
eines Naturplanes war es der Mut imr Hypothese, der die philosophischen Entwürfe
einer neuen Geschichte ermöglichte. Die schottischen Historiker und Moralphilo-
sophen, die sozialhistorisch gesättigte und praxisbezogene Universalgeschichten
zur Entstehung der modernen Welt verfaßt hatten, formulierten auch diese
Prämisse393 : In examining the history of mankind, as well as in examining tlie pheno-
mena of the mater1:al world, when we c,annot tra,ce the process by which an event has
been produced, it is often of importance to be able to show how it may have been
produced by natural causes ... To this species of philosophical investigation, which
has no appropriated name in our language, I shall' take the liberty of giving the title
of Theoretical or Conjectural History, an expression which coincides pretty nearly
in its meaning whith that of Natural History, as employed by Mr. Hume, and with
what some French writers have called Histoire Raisonnee894 •
Auch in Deutschland war es jenes ewige Drechseln an einer Theorie der Geschiclue,
das Gatterer einmal vorgeworfen wurde 395 , das die für die Erkenntnis der geschicht-
lichen Welt erforderlichen rationalen Konstruktionsprinzipien erörterte. FRIEDRICH
SCHLEGEL faßte den um 1800 wissenschaftstheoretisch erreichten Reflexionsstand

390 RoussEAU, Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi Ies hommes,

Oeuvres compl., t. 3 (1964), 127. 162 f.


391 ISAAK lsELIN, Philosophische Muthmaßungen. Ueber die Geschichte der Menschheit

(Frankfurt, Leipzig 1764), 2. Aufl. u. d. T.: Ueber die Geschichte der Menschheit, 2 Bde.
(Zürich 1768).
392 Ders., Geschichte der Menschheit, Bd.. l, 201.
393 HANs MEDICK, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft

(Göttingen Hl73), 137. 100. 203. 306ff.; zur Wortgeschichte von 'history': cbd., 154f.,
Anm. 55. 200, Anm. 84.
394 DuGALD STEWART, Account of the Lifä and Writings of Adam Smith (1793), Collected

Works, ed. William Hamilton, vol. 10(Edinburgh1858), 34.


395 [Anonym], Schreiben aus D ... an einen Freund in London über den gegenwärtigen

Zustand der historischen Litteratur in Teutschland, Der Teutsche Merkur (1773), Bd. 2,
253; dank frdl. Hinweis von Jürgen Voß.

670
c) Die Vemunft der Geschichte Geschichte

zusammen: Da man immer so sehr gegen die Hypothesen redet, so sollte man doch
einmal versuchen, die Geschichte ohne Hypothese anzufangen. Man kann nicht sagen,
daß etwas ist, ohne zu sagen, was es ist. Indem man sie denkt, bezieht man Fakta
schon auf Begriffe, und es ist doch nicht einerlei, auf welche. Wer auf die begriffliche
Reflexion verzichte, überlasse sich willkürlicher Auswahl, schmeichle sich, reine
solide Empirie ganz a posteriori zu haben, verfolge aber tatsächlich und ohne es zu
wissen, eine höchst einseitige, höchst dogmatizistische und transzendente Ansicht
a priori - :wie Schlegel die kantische Kritik aufnahm 396 • In der Hypothesenbildung
wurden fachspezifische wissenschaftstheoretische Ansprüche mit ·transzendental-
philosophischen Reflexionen vereinigt. So lautet die erste Frage, die der junge
ScHELLING an eine Philospohie der Geschichte stellte: wie eine Geschichte überhaupt
denkbar sei, da, wenn alles was ist, für jeden nur durch sein Bewußtsein gesetzt ist, auch die
ganze vergangene Geschichte für jeden nur durch sein Bewußtsein gesetzt sein kann 397 •
Vom Boden der Bewußtseinsphilosophle aus entwickelte nun der deutsche Idealis-
mus Geschichtsphilosophien, die die bisher geschilderten Voraussetzungen der
Aufklärungszeit in sich aufnahmen und aufeinander abstimmten. Die ästhetische
Sinneinheit historischer Darstellung, die der Geschichte zugemutete oder abge-
wonnene Moral und endlich die vernunftsgemäße Konstruktion einer rp.öglichen
Gesohiohte --- 11llo dioso Faktoren wurden zusammengefügt zu einer Geschichts-
philosophie, die schließlich die. 'Geschichte selber' alf1 verniinftig setzte und als
vernünftig wiedererkannte. Was Kant noch als moralisches Postulat formuliert und
hypothetisch entworfen hatte, das wurde jetzt als Emanzipation des Rechts oder
des Geistes oder der Vernurift und ihrer Ideen im Prmr.eß der Geschichte begriffen.
Wie Schelling weiterhin sagte: Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende, all-
mäliz.ich s·ich entküllende Offenbarung des Absoluten308 • Im Begriff der Geschichte liege
der Begriff einer unendlichen Progressivität enthalten, die dahin wirkt, den Fort-
schritt der Menschheit zur Errichtung einer allgemeinen Rechtsau/fassung zu beschleu-
nigen. Schelling begnügt sich deshalb 1800 damit, daß das einzig wahre Objekt der
Historie nur das allmähliche Entstehen der weltbürgerlichen Verfassung sein kann,
denn eben d?;e,~e i.~t der e?:nzige Grund einer Geschichte; alle andere Geschichte bleibe
rein pragmatisch 3 99 •
Nachdem die Philosophie einmal die Geschichte systematisiert hatte, konnte diese
Geschichte auf die Philosophie zurückwirken und sie geschichtlich begreifen. Für
FICHTE war 1794 die Philosophie . . . die systematische Geschichte des. menschlichen
Gei.~te.~ in .~efr1,en all,gem.P.'l:nen Ham.dl1tngsweisen 400 • Deshalb könne man allerdings aus
Vernunftgründen, unter Voraussetzung einer Erfahrung überhaupt, vor aller bestimm·
ten Erfahrung vorher, den Gang des Menschengeschlechts berechnen. Als Philosoph
zeige man, welche Stufen der Kultur eine Gesellschaft zurücklegen müsse, als

396 FRIEDRICH Sem.EGEL, Athenäums-J!'ragm. Nr. 226. SW 1.. Abt., Bd. 2 (1967), 201 f.
397 RoHELf,TNG, Syst.em des transzendentalen Idealismus 4,3 (1800). Werke, Bd. 2 (1965),
590; dazu FRANZ JOSEPH MOLITOR, Ideen zu einer künftigen Dynamik der Geschichte
(Frankfurt 1805).
898 ScHELLING, System, 603.
8 9 9 Ebd., 591 f.

400 FICHTE, Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie,

AA Bd. 2/3 (1974), 334.

671
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' als Geschichtsphilosophie

Historiker befrage man die Erfahrung, welche Stufe zu einem bestimmten Zeit-
punkt tatsächlich erreicht sei. Eine philosophische und historische Aufgabe zu-
gleich sei es, die zukünftigen Mittel der Bedürfnisbefriedigung zu erkennen 401 .
Für HEGEL ist die Konvergenz von Philosophie und Geschichte vollends erreicht.
Die Selbstentfaltung des Geistes vollzieht sich sowohl in der Geschichte wie in der
Philosophie, und das zeigte sich auch in der Historiographie. Sowohl in syste-
matischer wie in diachronischer Abfolge gliederte Hegel die Geschichtsschreibung
in drei Arten: die ursprüngliche, die reflektierte und die philosophische4° 2 • Dabei
unterschied er sich noch nicht von seinen Vorgängern, wenn für ihn die Philosophie
der Geschichte nichts anderes als die denkende Betrachtung derselben war. Ent-
scheidend war der einfache Gedanke der Vernunft, daß es auch in. der Weltgeschichte
vernünftig zugegangen ist. Diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung
in Ansehung der Geschichte als solcher überhaupt 403 • Dainit ist 'die Geschichte' als
Kollektivsingular aller einzelnen Geschichten nicht nur Ergebnis vernünftiger
Reflexion, sondern selber die Erscheinungsweise des Geistes, der sich in der Arbeit
der Weltgeschichte entfaltet. Dieser Prozeß, dem Geiste zu seinem Selbst, zu seinem
Begriffe zu verhelfen, ist die Geschichte 404 • Inhaltlich ist der Prozeß ein Fortgang
in dAr Tllntwiokhmg dor Frcihoit, clio flioh in clor Mon1Johhoit vorwirklioht. .l!'r01l10h
sich selbst bleibt der Geist, der sich in seine geschichtlichen Erscheinungsformen
entäußert, letztlich gleich. 8eine zunehmende Konkretion in der Zeit verliert sich
nicht in der Unendlichkeit einer Zukunft oder Vergangenheit, sondern ist jeweils
erfüllte Zeit.
Deshalb begreift Hegel die Geschichte auch als eine Geschichte, die zugleich keine ist;
denn die Gedanken, Prinzipien, Ideen, die wir vor uns haben, sind etwas Gegen-
wtirtiges ... Historisches, d. h. Vergangenes als solches, ist nicht mehr, ist tot. Die
abstrakte historische Tendenz, sich mit leblosen Gegenständen zu beschäftigen, hat
in neueren Zeiten sehr um sich gegriffen, fügt er hinzu. Wenn aber ein Zeitalter alles
historisch behandelt, sich also immer nur mit der Welt beschäftigt, die nicht mehr ist,
sich also in Totenhäusern herumtreibt, dann gibt der Geist sein eigenes Leben, welches
im Denken seiner selbst besteht, auf4 05. Hegel hatte, indem er die Einmaligkeit jeder
Situation init der Bestimmung aller Geschichte als Geschichte der Vernunft zu-
sammendachte, schon die Kritik an jenem Historismus vorweggenommen, der diese
Spannung nicht mehr nachvollziehen konnte und in rfüi verlorene Zeit; rler Ver-
gangenheit emigrierte.
Andererseits hat die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus, aufbauend
auf ihren aufklärerischen Prämissen, das dauernde Gerüst geliefert, aus dem sich
die historische Schule - unerachtet ihrer Kritik an der Konstruktivität der
Geschichtsphilosophie - nicht mehr hat lösen können. Kraft des Transzenden-
talismus wurde die 'Geschichte' Begriff einer säkularen Bewußtseinsreligion, die

401 Ders„ Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), AA Bd. l/~

(1966), 53.
402 HEGEL, Vernunft (s. Anm. 236), 4.
4oa Ebd., 25. 28.
404 Ebd., 72; vgl. ders., Einleitung in die Geschichte der Philosophie, hg. v. Johannes

Hoffmeister, 3. gekürzte Aufl., hg. v. Friedhelm Nicolin (Hamburg 1959; Ndr. 1966), lll.
405 Ders., Einleitung, 133 f.

672
d) Wende zur Zeit der Revolution Geschichte

der Geschichte als Offenbarung des Geistes weiterhin die Strukturen einer Theodizee
zumutete; denn die ganze Geschichte ist Evangelium, wie NovALIS schrieb 406 , alles
Göttliche hat eine Geschichte 407 • Laß jene messen und wägen, versicherte DROYSEN,
unseres Geschäftes ist die Theodizee 408 • Diese Geschichte produzierte einen Be-
gründungsüberschuß für alle gemachte und noch zu machende Erfahrung. Auch die
methodischen Vorbehalte der historischen Schule .konnten nichts dagegen ver-
schlagen, daß jedes Handeln in der Geschichte seitdem als ein Handeln für die Ge-
schichte begriffen werden konnte, für eine Geschichte, die allem Tun ein Ziel und allem
Leiden einen Sinn verlieh. Die Nation als Träger des Weltgeistes; die Politik als
Vollzug von Ideen oder Tendenzen, Kräften oder Mächten; der allem Geschehen
innewohnende Zweck der Rechtsvollstreckung; Hegels „List der Vernunft"; die
Verwirklichung menschlicher Freiheit oder Gleichheit oder Humanität im Ablauf
der Ereignisse - alle die Topoi der sozialen und politischen Sprache suchten gegen
Ende des achtzehnten Jahrhunderts 'die GeschichLe überhaupt' inhaltlich auf
ihren Begriff zu erheben.
1830 stellte KARL HEINRICH HERMES rückblickend fest, daß erst jetzt wie die
wahre Naturwissenschaft auch die Wissenschaft der Geschichte ihren Anfang
nehme. Der bisher verwendete Begriff der Geschichte sei hilflos und tautologisch:
Die Geschichte ist die Darstellung merkwürdiger Begebenheiten, heißt offenbar nichts
anderes, als die Geschichte ist die Geschichte ... Erst durch die neuesten Fortschritte
in der Wissenschaft des Geistes sind wir tiefer in die Bedeutung der Geschichte einge-
drungen; erst dnrch F?:chte, Schelling, Hegel haben wir erfahren, was früh.er nur die
Ahnung der seltensten Geister war, daß Geschichte die Entwickelung des Geistes in der
Menschheit ist, und an uns ist es jetzt, nach dieser Einsicht, aus dem rohen Materiale,
das uns bisher unter dem Namen der Geschichte dargeboten wurde, das wissenschaft-
liche Gebäude der Geschichte aufzuführen 409 •

d) Ergebnisse der geschichtsphilosophischen Wende zur Zeit der Revolution.


Die idealistischen Geschichtsphilosophien haben die Einheit der Geschichte in
ihrer zeitlichen Erstreckung und in der Art ihrer Bewegung zu begründen gesucht.
Fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen sind der Stoff der Ge-
schichte (NovALIS) 410 • Was nicht progressiv ist, ist kein Objekt der Geschichte
(SCHELLING) 411 • Die Ausgangs- und Endlagen der Weltgeschichte wurden speku-
lativ einbezogen, aber stets im Hinblick auf die Diagnose der eigenen Zeit. El'St
seitdem war der Begriff 'Geschichte' fähig, jenseits aller wissenschaftlichen Metho-
dik den Raum ehedem kirchlicher Religion auszufüllen, erst seitdem war der
Begriff geeignet, die Erfahrungen der Revolution zu verarbeiten. Drei Kriterien

4 0& Nov,u.is, Fragmente und Studien 1799-1800, Nr. 214. GW Bd. 3 (1968), 586.
407 Ders., Die Lehrlinge zu Sais, GW Bd. 1 (1960), 99.
4 os Jon. GuSTAV DROYBEN, Brief an Wilhelm Arendt v. 30. 9. 1854, Briefwechsel, hg. v.

Rudolf Hübner, Bd. 2 (Stuttgart, Berlin 1929), 283.


4o9 KARL HEiNR. HERMES, Blicke aus der Zeit in die Zeit. Randbemerkungen zu der Tages-
geschichte der letzten fünfundzwanzig Jahre, Bd. 1 (Braunschweig 1845), 11. Es handelt
sich um eine Münchner Vorlesung vom Sommer 1830 über die Französische Revolution.
410 NovALIS, Die Christenheit oder Europa (1799), GW Bd. 3, 510.
' 11 SCHELLING, Aus der „Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Literatur",

Werke, Bd. 1 (1958), 394.

43--90386/l 673
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' als Geschichtsphilosophie

seien genannt, die wegweisend blieben für die Freilegung einer neuen Zeit, die in
der geschichtsphilosophischen Reflexion zum neuen Begriff von 'Geschichte'
geführt hat.
Erstens hat die idealistische Geschichtsphilosophie das Einmaligkeitsaxiom einge-
führt, auf dem sowohl der· 'Fortschritt' wie die historische Schule fußten. Die
Summe der einzelnen Geschichten wurde überhöht zur Einheit der Geschichte
selbst, die schlechthin einmalig ist. Dieses Konzept, das die Erfahrung der Franzö-
sischen Revolution zu bewältigen suchte, führte zunächst dazu, die pragmatische
Kausalanalyse der Aufklärung zu relativieren. ScHLÖZER hatte noch additiv und
eher quantifizierend betont, daß der Begriff der Geschichte in seiner edleren Bedeu-
tung ... den N ebenbegriU von Vollständigkeit und ununterbrochnen Zusammenhang in
sich schließe. Diese Geschichte werde Philosophie, indem sie immer Wirkungen an
Ursachen kettet 412 • Wenn aber die Geschichte immer einmalig ist, d. h. wenn in der
Geschichte immer mehr oder weniger geschieht, als in den Vorgegebenheiten ent-
halten ist, dann kann keine Kausalanalyse der Einzigartigkeit einer Lage gerecht
werden. In einer Wendung ÜREUZERS: Der Geist sucht eine Einheit, die höher liegt
als der Kausalnexus selbst . . . Diese Einheit allein kann eine historische heißen ...
oder die Einheit e·iner Idee 413•
Herder, Hegel und Humboldt haben aufje eip;ene Weise den prap;matischen Ansatz,
nach Uniachen und Wirkungen zu forschen, als vordergründig abgetan; die Freiheit
verliere sich in der Notwendigkeit. Dabei führte die Abkehr von einem mechanistisch
verstandenen Kausalnexus, der auf von Natur her gleichen Faktoren gründet, zur
Freilegung einer geschichtlichen Zeit, die allen Faktoren selber innewohnt und sie
damit als geschichtlich verschieden qualifiziert. Es ist nie gleichgültig, wann etwas
geschehe oder geschehen sei oder geschehen werde, sagte HERDER. Eigentlich hat jedes
veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich; dies besteht, wenn auch kein anderes
da wäre; keine zwei Dinge haben dasselbe Maß der Zeit ... Es gibt also (man kann es
eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten. Damit
hatte Herder die Grunderfahrung der Moderne, in der sowohl 'Fortschritt' wie
'Geschichte' enthalten sind414 , auf eine Formel gebracht, die ihn fast erschreckte:
die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bzw. die Ungleichzeitigkeit des Gleich-
zeitigen. Deshalb sei die Zeit, wie Herder gegen Kants Bestimmung der Zeit als
reiner Form innerer Anschauung einwenden konnte, allerdings ein Erfahrungs-
begr·iUIJ.15. OJer wie NovALIS aphoristisch folgerte: die Zeit ist der sicherste Hi8to-
riker416.
HERDER führte auch den Begriff der Kraft in die Geschichtsbetrachtung ein, der
in seiner temporalen Gerichtetheit ebenfalls die Fähigkeit zur Individuation,
zur geschichtlichen Einmaligkeit in sich barg. Aus den mechanistischen

412 AUGUST Lunw. ScHLÖZER, Fortsetzung der allgemeinen Welthistorie, Bd. 31 (Halle

1771), 256; ders., WeltGeschichte nach ihren IlauptTheilen im Auszug und Zusammen-
hange, 3. Aufl., Bd. 1 (Göttingen l 78fi), 8.
4 13 GEORG FRIEDRICH ÜREUZER, Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung
und Fortbildung (Loipzig 1803}, 230 u. Anm. 37.
41 ' -+ Fortschritt.
4 1 5 HERDER, Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft,

1. Tl. (1799), SW Bd. 21 (1881), 59.


416 NovALis, Das Allgemeine Brouillon (1798/99), Nr. 256. GW Bd. 3, 286.

674
d) Wende zur Zeit der Revolution Geschichte

Triebfedern etwa psychologisch konstanter Ursachen wurden dynamische


Kräfte 417 • Diesen Ansatz nutzte HUMBOLDT, um auch ein anderes Erbe der
Aufklärung zu kritisieren, die finalen Be1:1timmungen der Geschichte. Die
sogenannte philosophische Geschichte - etwa ScHILLERs 418 - stelle der Ge-
schichte wie eine fremde Zugabe ein Ziel voran. Nicht den Endursachen, sondern
den bewegenden soll nachgespürt; es sollen nicht vorangehende Begebenheiten, aus
welchen nachfolgende entstanden sind, aufgezählt; die Kräfte selbst sollen nachge-
wiesen werden, welchen beide ihren Ursprung verdanken. Wo es darum gehe, zu den
wirkenden und schaffenden Kräften vorzustoßen, komme man mit der - in sich
zulässigen und erforderlichen - Kausalanalyse nicht mehr aus. Letztlich gründen
die Kräfte in den Ideen, die richtungweisend und als Krafterzeugung die Welt-
gesch-ichte . . . durchwalten. Sie aber aus begleitenden Umständen Jierzuleüen sei
nicht möglich 419 •
So wurde ami der Geschichte ali; einem trarn;zendeutaleu Reflexiorn;Legriff ein in
sich reflexiver Begriff der Geschichte. In NovALlS Diktion: Die Geschichte erzeugt
sich selbst 426 • Die Unvergleichbarkeit, die Einmaligkeit konkreter geschichtlicher
Situationen---: auch ein Effekt der Französischen Revolution - führte zur schöpfe-
risch produktiven Geschichte.
Damit veränderte sich - zweitens - das prognostische Potential der alten
Historien. Deren überkommene Aufgabe, Lehrerin für das Leben zu sein, entfi~l,
sobald keine analogen Lagen mehr aufweisbar waren, aus denen Schlüsse für das
11igem1 V11rhalt11n zu zi11h11n 1111i11n. ScHr.ÖllRR., d11ss11n K11.1mi.la.nalys11n alle Begeben-
heiten vom Zufälligen entkleidet hatten, ging noch konsequent davon aus, daß nichts
Neues mehr unter der Sonne geschehe 421 • In diesem .Befund sich gleichbleibender
Faktoren gründete die historische Lehrbarkeit und Berechenbarkeit politischen
Handelns 422 •
KANT zog nun aus der gleichen Prämisse, der Konstanz der Wirkungen und Gegen-
wirkungen, den entgegengesetzten Schluß: daß es bleiben werde, wie es von jeher
gewesen ist, und man daher nichts voraussagen könne 423 • Ein solches Verhalte~
führe zur Tatlosigkeit, und Kants ganze geschichtsphilosophische Anstrengung
zielte darauf, eine Vorhersage zu begründen, die zeigt, daß die Menschengeschichte
in Zukunft anders, und zwar besser werde. Ist die ganze Geschichte einmalig, muß
e.1 auch die Zukunft sein.
So führte die Geschichtsphilosophie zu einer Umbesetzung der Zukunft. Aus der

417 Vgl. HANS-GEORG GADAMERS Nachwort zu HERDER, Auch eine Philosophie der Ge-

schichte zur Bildung der Menschheit (Frankfurt 1967), 146 ff., bes. 163 ff.
418 Vgl. SCHILLER, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?,

SA Bd. 13 (o. J.), 20 f.: Der philosophische Geist ... bringt einen vernünftigen Zweck in den
Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte: ob sich der Ansatz bestä-
tige oder widerlegt werde, bleibe offen, auch wenn der Wille, die Zukunft zu beschleunigen,
den Menschen an ihrer Herbeiführung hindere.
419 HUMBOLDT, Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte

(1818), AA Bd. 3 (1901.), 360; dom, Gosohichtoohroibor (s. Anm. 153), 16 f. 51 f.


420 NovALIS, Fragmente und Studien 1799-1800, Nr. 541. GW Bd. 3, 648.

421 ScBLÖZER, WeltGeschichte, 3. Aufl„ Bd. 1, 9.


422 Vgl. KosELLECK, Historia Magistra Vitae (s. Anm. 224) mit weiteren Belegen.

423 KANT, Idee (s. Anm. 360), AA Bd. 8. 25.

675
Geschichte V. 2. 'Die Geschichte' als Geschichtsphilosophie

pragmatischen Prognose möglicher Zukunft wurde eine langfristige Erwartung


neuer Zukunft, die das Verhalten prägen sollte. Diese zeitliche Neubestimmung
wirkte.auf den Begriff der Geschichte zurück: er wurde auch zu einem Handlungs-
begriff. Freilich hatte die oft zitierte Wendung Kants, daß der Mensch die Begeben-
heiten, die er selber macht, auch voraussagen könne, noch einen ironischen Unter-
ton. Er richtete sich gegen das Ancien regime, das mit seiner menschenfeindlichen
Politik die Folgen selbst produziere, die· es befürchte. Kant war in seiner Aus-
messung der Geschichte als einem moralisch determinierbaren Hancllungsraum
vorsichtiger. Er beantwortete seine Frage: Wie ist aber eine Geschichte a priori
möglich? nur indirekt, denn was die Menschen tun sollen, tun sie noch lange nicht.
Gleichwohl erblickte er in dem moralischen Echo auf die Ereignisse der Französi-
Fmlrnn H1wolntion flin (ip,.~r.hirJ1t.~7.p,Ü1hr,n (.~ianum. rr,mr,mm"'t.1:1111.m., dr,mnnstra.ti:vum.,
prognostikon), das auf die Gesamttendemr. 7.Um Fortschreiten hinweise. Seitdem
schien ihm sicher, datl die Belehrung durch öftere J!)rfahrung die Menschen dahin
führe, dem Naturplan gemäß eine Verfassung in Freiheit und Recht zu stiften 424 •
Während Kant den Theologen im Hinblick auf die Vergangenheit zurief: Daß aber
ein Geschichtsglaube Pflicht sei und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube - , hat er die
ZukuufL der Ge1:1ehiehLe in prnkLi1:1eher Au1:1iehL al1:1 planung1:1fähig ersehlmisen 4D6 •
Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben 426 •
So führte die geschichtsphilosophische Verarbeitung der Französischen Revolution
zu einer neuen Zuordnung von Erfahrung und Erwartung. Die Differenz zwischen
allen bisherigen Geschichten und der Geschichte der Zukunft wurde zu einem
Prozeß verzeitlicht, in den handelnd einzugreifen menschliche Pflicht sei. Damit
hat die Geschichtsphilosophie den Stellenwert der alten Historie gründlich ver-
schoben. Seit die Zeit eine geschichtlich-dynamische Qualität gewonnen hatte,
ließen sich nicht mehr, gleichsam in natürlicher Wiederkehr, von früher auf heute
dieselben Regeln anwenden, die bis in das 18. Jahrhundert exemplarisch aufbereitet
worden waren. Die französische Revolution war für die Welt eine Erscheinung, welche
aller historischen Weisheit Hohn zu sprechen schien, und täglich entwickelten sich aus
ihr neue Phänomene, über welche man die Geschichte immer weniger zu befragen
verstand, schrieb WoLTMANN 1799, um dem entgegenzusteuern 427 •
Konsequenterweise hat sich - drittens - auch der Stellenwert der Vergangenheit
im Begriff der Geschichte verändert. Die zur steten Einmaligkeit verzeitlichte und
prozessua.lisierte Geschichte konnte nicht mehr exemplarisch gelernt werden:
fol,glich ist der didaktische Zweck mit der Historie unverträglich. Die Geschichte solle
vielmehr, wie ÜREUZER fortfuhr, von jedem neuen Geschlechte der fortschreitenden
Menschheit neu angeschaut, neu erklärt werden 428 • Die Aufarbeitung der Vergangen-
heit wurde zu einem mit der Geschichte fortschreitenden Prozeß der Bildung, die
in das Leben :Zurückwirkt. Dabei trat zunächst die Revolution in ihrer geschichts-

424 Ders., Streit der Fakultäten (s. Anm. 297), 2. Abschn. AA Bd. 7, 81 f. 79 f. 84. 88.
425 Ebd., 1. Abschn. AA Bd. 7, 65.
428 Ders., Idee; 8. Satz. AA Bd. 8, 27; vgl. ders., Streit der Fakultäten, 2. Abschn. AA

Bd. 7, 81.
427 Geschichte und Politik. Eine Zeitschrift, hg. v. Karl Ludwig Woltmann, 1 (Berlin

1800), 3.
428 CREUZER, Historische Kunst (s. Anm. 413), 232 f.

G7G
d) Wende zur Zeit der Revolution

philut:iuphi1:1chen Einordnung an ilie Stelle der bisherigen Geschichten. ln UöRRES'


Worten: Jede Gegenwart muß auf sich selber setzen, weil sie am besten weiß, was ihr
frommt und dient . . . Die Geschichte kann euch wenig lehren. Wollt ihr aber bei ihr
zur Schule gehen, dann nehmt die Revol'ution zur'Lehrerin; vieler trägen Jahrhunderte
Gang hat in ihr zum Kreislauf von Jahren sich beschleunigt429 •
Die damals immer wieder apostrophierte Beschleunigung ist ein untrügliches Indiz
für geschichtsimmanent gesetzte Kräfte, die eine eigene geschichtliche Zeit hervor-
rufen, kraft derer sich die Neuzeit von der Vergangenheit unterscheide. Um der
Einmaligkeit der ganzen Geschichte und der Unterscheidbarkeit von Vergangen-
heit und Zukunft in gleicher Weise gerecht zu werden, kam es also darauf an, die
Geschichte insgesamt zu erkennen, die Wirklichkeit, ihren Verlauf und ihre Rich-
tung, die auß der Vcrgangcnheit in, die Zukunft führt. Die5e Aufgabe zu lösen, war
die Anstrengung der Geschichtsphilosophen geworden.
Über diese Aufgabe ging der alten Historie ihr pragmatischer Nutzen verloren,
Befunde der Vergangenheit für die eigene Lage aufzubereiten. Wie HEGEL sagte:
Das Bildende der Geschichte ist etwas anderes als die daraus hergenommenen Refiexio-
nen. Kein Fall ist dem andern ganz ähnlich ... Was die Erfahrung aber und die
Geschichte lehren, ist dies, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Ge-
sclvicltte yelernl wnd nault Leltren, die wus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt
haben 430 • Aus Hegels Diagnose ließ sich theoretisch der Ort der neuen Geschichts-
wissenschaften ableiten. Als eine Wissenschaft von der Vergangenheit konnte sie
nur mehr um ihrer selbst willen betrieben werden - es sei denn, sie greift auf dem
Weg geschichtlicher Bildung mittelbar in das Leben ein.
Genau dieses folgerte HUMBOLDT aus der gleichen Diagnose. Auch die neuzeitlich
begriffene Geschichte sei dem handelnden Leben verwandt: sie diene nicht mehr
d1.1,rch einzelrui Reispüd,e, des zu, Befolgenden oder Verhiltenden,. die oft irrefilhren und
selien belehren. Ihr wahrer und unermeßlicher Nutzen ist es, mehr durch die Form,
die an den Begebenheiten hängt, als durch sie selbst den Sinn für die Behandlung der
Wirklichkeit zu beleben und zu läutern 431 • Modern gesprochen: es gibt formale
Strukturen, die sich durch die Ereignisse hindurchhalten, Bedingungen möglicher
Geschichten, deren Erkenntnis eher auf die Praxis zu beziehen ist als die Kenntnis
der Begebenheiten selber.
So hat die Geschichtsphilosophie durch die neue Zuordnung von Vergangenheit
und Zukunft, durch die geschichtliche Qualität, die die Zeit in ihr gewonnen hatte,
einen modernen Erfährungsmum erschlossen, von dem die ganze historische Schule
seither zehrte. Die Einmaligkeit der sich aus sich selbst hervorbringenden Kräfte
und Ideen, der Tendenzen und Epochen, aber auch der Völker und Staaten konnte
durch keine Quellenkritik verzehrt werden. Je erfolgreicher freilich die historisch-
kritische Methode aus dem Quellenmaterial harte Tatsachen abzuleiten vermeinte,
desto größer wurde die Kritik an der geschichtsphilosophischen Spekulation, von
deren theoretischen Prämissen die historische Schule gleichwohl· weiter lebte.
Deshalb konnte FERDINAND CHRISTIAN HAUR 1845 zu Recht sagen: Mit dieser
.~ogenannten Q1tellenkrit1:k 1:.~t noch sehr wenig ausgerichtet, solange man nicht zu der

429 JOSEPH GöRRES, Teuts.chland und die Revolution (1819), Ges. Sehr., Bd. 13 (1929), 81.
430 HEGEL, Vernunft (s. Anm. 236), 19.
431 HUMBOLDT, Geschichtschreiber, 40.

677
Geschichte V. 3, .Ausprägung der 'Geschichte' lllDlll Grundhcgrlif

Einsicht, gekommen ist, daß die Geschichte überhaupt Kritik ist. In der Geschichte
würden Vergangenheit und Gegenwart vermittelt, aber nur, sofern das Subjekt sich
dieser Vermittlung kritisch bewußt werde. Dann erweist sich der äußere geschicht,-
liche Proceß als ein geistiger Proceß, in dem der Mensch zur Erkenntnis. seines
Wesens gelange. Denn um zu wissen, was er sei, muß er wissen, wie er es geworden
ist. Die Objektivität der Geschichte und ihre subjektive Verarbeitung aufeinander
zu beziehen, leistet die Kritik. In der Kritik wird die Geschichte von selbst zur Philo-
sophie der Geschichte4 32 •

3. Die Ausprägung der 'Geschichte' zum Grundbegriff


Die narrative Geschichte, die Erzählung, gehört zu den ältesten Weisen mensch-
lichen Umgangs, und das ist sie bis heute geblieben. Insofern könnte man die
'Geschichte' dauernd als einen Grundbegriff der Gesellschaft, besonders der Ge-
selligkeit, bezeichnen. Wenn im 18. Jahrhundert 'die Geschichte', deren termino-
logische und deren theoretische Fundierung wir bisher kennengelernt haben, zu
einem Grundbegriff der sozialen und der politischen Sprache ausgeprägt wurde,
so deshalb, weil der Begriff zu einem regulativen Prinzip aller Erfahrung und mög-
lichiir F.rwartnng 11.11friickt.ii. namit veränderte sich der Stellenwert der 'Historie'
als propäueuLischer Wi1:11,;e111:1chaft, wie im Folgenden 1:1kizziert werden soll: 'die
Geschichte' erfaßte zunehmend alle Lebensgebiete, indem sie - gleichzeitig - zu
einer zentralen Wissenschaft aufrückte.
Die gelehrten Stammbäume, die seit dem Humanismus alle Wissensbereiche der
historia gliedern und im Spielraum gewisser Variationen aufeinander zuordnen,
bedienten sich durchgängig derselben Klassifikationsschcmata: erstens wurde die
historia zeitlich gestaffelt, etwa nach den vier Reichen oder - seit Cellarius einge-
bürgert - nach der alten, mittleren und neuen Geschichte 433 ; zweitens wurde die
historia nach Sachgebieten eingeteilt, wobei die Dreiteilung in die historia divina,
civilis, naturalis am geläufigsten war, wenn auch seit Bacon zunehmend in Frage
gestellt; drittens wurde die historia nach formaleU: Kriterien bestimmt, als historia
universalis oder specialis; viertens nach Darstellungsarten, etwa als erzählende
oder beschreibende Kunst definiert. Es liegt auf der Hand, daß jede Neubestim-
mung eines dieser Schemata Rückwirkungen auf die anderen haben mußte, solange
alle AfllliaLionen der hisLuria syswrnaLiseh aufeinan<ler bezogen waren.
Die Ausprägung der Geschichte zum alles begründenden Begriff läßt sich nun an
drei Vorgängen aufweisen: an der Ausfällnng der historia naturalis aus dem
historischen Kosmos, was aber die Historisierung der 'Naturgeschichte' nach sich
zog; zweitens an der Einschmelzung der historia sacra in die allgemeine Geschichte;
und drittens an der Konzeptualisierung der Weltgeschichte als Leitwissenschaft,
die die alte Universalhistorie transformiert.
a) Von der 'historia naturalis' zur 'Naturgeschichte'. Historische Kenntnisse
galten bis in das 18. Jahrhundert hinein als die empirische Voraussetzung aller

4 32 FERDINAND CHR. BAUR, Kritische Beiträge zur Kirchengeschichte der ersten Jahr-

hunderte, mit besonderer Rücksicht.auf die Werke von Neander und Gieseler, Theol. Jbb. 4
(1845), 207 f.
433 -... Zeit, Zeitalter.

678
a) Von der 'historia naturalis' zur 'Naturgeschichte' Geschichte

Wissenschaften, so daß KECKERMANN sagen konnte, es müsse soviel Historien


geben, wie es Wissenschaften gibt 434 • Als allgemeine Erfahrungskunde handelte die
Historie vom Einzelnen, vom Besonderen, während Wissenschaften und Philo-
sophie auf das Allgemeine zielten. Es sei bekannt, schrieb JoNsrus, daß funda-
mentum omnis scientiae esse historiam, observationes, exempla, experientiam, e
quibus tanquam singularibus, scientia universales suas propositiones format 435 oder,
wie schon emphatischer JOHANN MATTHIAS GESNER 1774 schrieb: Ita Historia est
quasi civi:tas magna, ex qua progrediuntur omnes aliae disciplinae 436 •
In diesem Erfahrungsraum war es noch selbstverständlich, daß die Kunde von der
Natur so sehr zur Historie gehöre wie die von den Menschen und ihren Handlungen.
So begann JOHANN GEORG BüscH - nacH' den Vorlagen des Reimarus - 1775
Rr.inr. ,,Rnr.yr.lnpii.flir. flr.r WiRRr.nRr.haft,r.n" mit flr.m r.rRt,r.n Rnr.h: V nn dP.r H1:.~trm:p,
iiberhmtpt 1tnd bP.8onder8 von dP-r N at11,rgp,.~r,h,ü:htP- . . . H1:.~trm:e odP-1' GP-.~chichte nennp,n
wir alle .Nachrichten, von dem, was entweder wirklich ist, oder wirklich gewesen ist 4 ;j'1•
Diese Historie als Wirklichkeitswissen war eine Erfahrungswissenschaft, die sich -
für die Gegenwart - auf eigene und - für die Vergangenheit - auf fremde Er-
fahrung stützte. Aus dem temporalen Doppelaspekt, der gleichwohl die Einheit
vou Natw· uuu Memicheuwell voraussetzt, folgte eueuso Jie alte Zweiheit der
Darstellung, daß die Historie sowohl beschreibt wie erzählt. JusTus Lrrsrus war
sogar soweit gegangen, die beschreibende historia naturalis der historia narrativa
gegenüberzustellen, die sich ihrerseits aUf die historia divina und humana er-
strcckt438.
Nun blieb es vor allem die historia naturalis, die Naturkunde, die bis zu Linne
Zustände beschrieben hat, die das Erd-, Pflanzen-, Tierreich und den Raum der
Gestirne beobachtete und klassifizierte. Auch als der Ausdruck 'Natur-Geschichte'
die 'historia naturalis' verdrängte, etwa bei ZEDLER 1740439 , zielte er weiterhin auf
Gegebenheiten der Natur, ohne sie „geschichtlich" zu deuten. Die langfristig sich
anbahnende Historisierung - modern gesprochen~ der Natur, also ihre temporale
Einstufung, so daß sie selber eine 'Geschichte' bekommt, vollzog sich nun nicht
unter dem Titel der 'historia naturalis': der Ausdruck war für die Beschreibung des
dauernd Vorgegebenen reserviert.
BACON, der die historia nur in naturalis und civilis gliederte, hatte die Natur noch
als ungeschichtlich begriffen. Aber er entwarf sie als durch menschliche Kunst
verä.ndP.rbar, weRhalb er die h1:8toria, art1:Mm ebenfalls unter flie hiRtoria naturalis

434 EmL MENKE-GLÜCKERT, Die Geschichtsschreibung der Reformation und Gegen-

reformation (Osterwiek/Harz 1912), 131.


436 JOHANNES JoNsrns, De scriptoribus historiae philosophicae, 2. Aufl., hg. v. Joh.

Christoph Dorn (Jena 1716; Ndr. Düsseldorf 1968), 2.


436 JoH. MATTHIAS GESNER, Isagoge in eruditionem universalem, t. 1(Leipzig1774), 331.
437 JoH. GEORG BüscH, Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathei:nati-

schen Wissenschaften (Hamburg 1775), 12.


438 Zit. MENKE-GLÜCKERT, Geschichtsschreibung, 34. Herr Galli hat mich darauf aufmerk-

811.Ill gelllachl, uaß e8 vor allelll kathuli8che Gelehrte waren - Beurei· UllU Gla8el' -, uie
entlang der theologischen Gegenüberstellung von Schöpfer und Schöpfung auch die
Historie zweiteilten in historia naturalis, die Natur- und Menschengeschichte zugleich
umfaßt, und historia divina.
439 ZEDLER Bd. 23 (1740), 1063.

679
Geschichte V. 3. Ausprägung der 'Geschichte' zum.Grundbegriff

zählte 440, was er durch den Ausdruck experimentalis erläuterte 441 • Die Erforschung
der Ursachen aber, Voraussetzung der Veränderbarkeit der Natur, zählte er nicht
mehr zur historia naturalis, sondern zu den theoretischen Wissenschaften, zur
Physik: Etenim in hisce omnibus Historia Naturalis factum ipsum perscrutatur et
refert, at Physica itidem causas4 42 •
Mit der Öffnung der Zukunft durch die fortschreitenden Naturerkenntnisse und
mit der Landnahme in Übersee, mit der Entdeckung neuer Erdteile und Völker,
korrespondierte die zeitliche Ausdehnung auch der Vergangenheit. Sie überschritt
schon im 17. Jahrhundert die Schöpfungschronologie der Bibel443 • LEIBNIZ stieß
z.B. mit seiner „Protogaea", die als Einleitung zu seiner Welfengeschichte gedacht
war, in diese Vorvergangenheit der Natur. Er nannte seinen diachronen Entwurf
o.bor nicht hiotorio. no.turo.lio. Ich fange an von den höchstcii Antiquitäten diese1· La1ule,
ehe sie vielleicht von Menschen bewohnt worden, und so alle Historien übersteigen,
aber aus den. Merkmalen genommen werden, so uns die Natur hinterlassen 444 .
Eigentlich handele es sich um eine Theorie über das Kindesalter unserer Erde, die
vielleicht eine neue Wissenschaft, die Natur-Geographie, stifte. Es war keine Histo-
rie, denn der Begründungszusammenhang blieb hypothetisch 446 • Aus dem gleichen
Grund bediente sich KANT 17f>f> des Doppeltitels „Allgemeine .Naturgeschichte und
'l'l1AnriA rlAR Hirnnrnlfi", wl'\il 1>,r m1r mit, diesew Aui;•.lrlwk df.'.u hyputh11sendurchsetz-
ten Entwurf kennzeichnen konnte, der die Natur zur sukzessiven Vollendung der
Schöpfung verzeitlicht hatte 446 •
lJie Verzeitlichung der Natur, die ihre endliche Vergangenheit auf eine unendliche
Zukunft hin öffnet und die ihre geschichtliche Auslegung vorbereitete, vollzog sich
- und das entspricht unserer Begriffsgeschichte im 18. Jahrhundert - im Rahmen
der Theorie und nicht der historia naturalis. Deshalb verwundert es nicht, daß
diese traditionelle Naturkunde lang11am 1m11 dllm KnRmos der historischen Wissen-
schaften ausgefällt wird. Natur und Geschichte wurden getrennt. VOLTAIRE sprach
in der „Encyclopedie" von l'histoire naturelle, improprement dite histoire, ... qui
est une parte essentielle de la physique 447 • ADELUNG nahm 1775 die Distanzierung
auf: In sehr uneigentlichem Verstande wird es in dem Worte Naturgeschichte gebraucht,
das Verzeichnis und die Beschreibung der zu dem Naturreiche gehörigen Körper zu
bezeichnen448 •

440 ßAOON, De dignitatc et augmentis scientiarum 2,2. Works, vol. 1 (1864), 495; rFING-
sagt dafür Mechanik, allerdings in dem weiteBten Sinne, den das Wort K unstGeschichte
S'l'l!l.N
oder ••• beBser Technologie hat; Würde und Fortgang der Wissenschaften (s. Anm. 371),
178 m. Anm.
4 41 BAOON, Novum Organum 1, 111. Works, vol. 1, 209.

442 Ders., De augmentis 3, 4 (p. 551).


443 ADALBERT KLEMPT, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum

Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert (Göttingen 1960), 81 ff.
444 TiF.TR'NT7., Gesehichfüehe Aufäätze, hg. v. G. H. Pertz, Bd. 4 (Hannover 1847), 240.
44 5 Ders., Protogaea, dt. v. Wolf v. Engelhardt, Werke, hg. v. Will Erich Peuckert,

Bd. 1 (Stuttgart 1949), 19; vgl. ebd., 171.


446 KANT, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), AA Bd. 1 (1902),

312.
447 VOLTAIRE, Art. Histoire, Encyclopedie, t. 8 (Genf 1765), 220 f.

44 8 ADELUNG Bd. 2 (1775), 601.

680
a) -Von der 'historia naturalis' zur 'Naturgeschichte' Geschichte

regiliLriurL .11wur uueh ueueu tler Er.11ühluug vuu E1·eig11ii:jlfüll wuvh dit:
Kü<1'l'.K1:t
Beschreibung von fortdauernden Dingen als zur Historie gehörig, aber die schlechtweg
sogenannte Historie handele nur von den Menschen und ihren Begebenheiten449 •
Bei CAMPE schließlich ist die Trennung vollzogen: Die Naturbeschreibung ... , d. h.
der Dinge in der Natur besonders auf Erden, ihrer Gestalt und ihren Eigenschaften
nach. Wird ihre Entstehung, die Art und Weise ihrer Fortdauer, die Veränderungen
derselben während ihrer Dauer, die Zeü ihrer Dauer ... etc. erzählt, so ist dies Natur-
geschichte, welche von jener bloßen Beschreibung zu unterscheiden ist 450 •
Mit der Abspaltung der alten deskriptiven historia naturalis wird also auch schon
der korrespondierende Vorgang greifbar: die neue Bedeutung der Naturgeschichte,
die sich im vorausgegangenen halben Jahrhundert durchgesetzt hatte. Die Natur
selber wurde dynamisiert und damit einer Geilchichte im modernen Sinne fähig.
Wie BuFFON 1764 in seiner „Histoire naturelle" schrieb: Die Natur sei keine
Sache und kein Sein, sie ist eine lebendige Kraft, une puissance vive . . . c' est en
meme temps la cause et l' effet, le mode et la substance, le dessein et l' ouvrage. Sie ist
un ouvrage perpetuellement vivant und un ouvrier sans cesse actif zugleich451 • Mit
diesem Vorgriff, der ihm die Natur in historische Epochen zu gliedern erlaubte,
war eine .Definition gefunrlen, rlie sich stark rlem Geschichtsbegriff nähert, der
dann in Deutschland seit Hcrder entwickelt wurde: Die ganze Menschengeschichte
ist eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort
und Zeit 452 • Herder hat die Wende bereits vollzogen. Die einmal historisierte Natur
konnte jetzt auch als Strukturmerkmal menschlicher Geschichte dienen.
Auch hier war es KANT, rler rlen Wechsel von rler historia naturalis alten Stils zur
temporalisierten Naturgeschichte als erster offen gefordert hatte. Man muß, so sehr
man auch und zwar mit Recht der Frechheit der Meinungen feind ist, eine Geschichte
der Natur wagen, welche eine abgesonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach
von Meinungen zu Einsichten fortrücken könnte 453 • 1788 suchte Kant 'Naturge-
schichte' für den wissenschaftlichen Untersuchungsgang zu sichern, der den
Zusammenhang gegenwärtiger Beschaffenheiten der Naturdinge mit ihren Ursachen
in der ältern Zeit nach Wirkungsgesetzen ... aus den Kräften der Natur ableite.
Diese Wissenschaft müsse sich der Schranken ihrer Vernunftprinzipien vergewissern
und deshalb ihre Theorie mit Hypothesen durchsetzen, - im Gegensatz zur Natur-
beschreibung, die ein vollständiges System erarbeiten könne. Dabei war sich Kant
über die terminologischen Schwierigkeiten im klaren, die mit seiner Historisierung
der 'Naturgeschichte' auftauchten, da 'Geschic.hte' wie 'Historie' gleicherweise im
Sinne von Erzählung und von Beschreibung verwendet würden. Um den entschei-
denden zeitlichen Aspekt der neuen Wissenschaft zu betonen, schlug er Ausweich-

449 Dt. Enc„ Bd. 15 (1787), 649 f.


uo CAMPE Bd. 3 (1809), 461.
451 BUFFON, Histoire naturelle, Oeuvres philos., ed. Jean Piveteau (Paris 1954), 31.

452 HERDER, Ideen (s. Anm. 376), 145.


463 KANT, Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775), AA Bd. 2 (1905), 443.

Die Mitbegründer der Geologie in Deutschland verwendeten bereits den neuen Geschichts-
begriff: JoH. GOTTLOB LEHMANN, Versuch einer Geschichte von Flötz-Gebürgen (Berlin
1756); GEORG CHR. FücHSEL, Entwurf zu der ältesten Erd- und Menschengeschichte,
nebst einem Versuch, den Ursprung der Sprache zu finden (Frankfurt, Leipzig 1773).

681
Geschichte V. 3. Ausprägung der 'Geschichte' zum GrundhegriJI

bezeichnungen vor wie Physiogonie oder - in der „Kritik der Urteilskraft" -


Archäologie der Natur 454 . Doch die Sprachschwierigkeit im Unterscheiden kann
den Unterschied der Sachen nicht aufheben 455 . Der Weg war frei für die Entwicklungs-
theorien des kommenden Jahrhunderts 456 , in denen sich die Geschichte als Leit-
sektor der Naturforschung erweisen sollte. In den Worten BIEDERMANNS (1862):
Die Naturgeschichte beginne im Unterschied zur Naturkunde erst da, wo Zusammen-
hang, Stetigkeit, Verbindung des einzelnen zu einem Ganzen sich zeigt. Sie ist ein
Proceß des Werdens in der Zeit ... , wobei das gesamte Reich der sichtbaren Wesen,
vom Stein bis zum Menschen, als ein zusammenhängendes, stufenweise entwickeltes
Ganzes, als das Resultat eines allmählichen Processes des Werdens und Geschehens
erscheint 457 .

b) Von der 'historia sacra' zur 'Heilsgeschichte' Hi.~trm:ae, id est, verae


narrationis tria sunt genera: humanum, naturale, divinum. Die menschliche Historie
handele vom Wahrscheinlichen, die Naturgeschichte von der Notwendigkeit, die
göttliche von der Wahrheit der Religion 458 • BonIN, der diese Abfolge an den drei
Rechtslehren orientierte, sah in ihr eine Skala sich steigernder Gewißheit. Aber er
behandelte in eeinem „MeLhrnl ui-1" 11 ur 1fo-J li:i.~ltrr·i11, h:111rrumu1., 111111 du.mit stand er
in flAr Tradition der weltbezop;enen Geschichtsschreibung, wie sie im Spätmittelalter
urnl vum Humanismus entwickelt worden war. Die heilige Geschichte wurde in der
Folgezeit entweder von der politischen Historie getrennt behandelt, - .oder sie
wurde zunehmend als Geschichte der Kirehen und religiöser Lehrmeinungen wie
eine weltliche Geschichte traktiert oder vollends in diese einbezogen 459 • Darüber
verlor auch die theologische Deutung allen weltlichen Geschehens zusehends an
Kraft.
Ein Gradmesser dieses Wandels ist zunächst die Ausfällung der historia divina aus
dem Kosmos historischen Wissens. FREIGIUs scheint mit seiner Historiae synopsis
1580 darin vorangegangen zu sein. Er kannte nur die Historia mundi majoris der
Natur im ganzen und die Historia mundi minoris aller menschlichen Taten sowie
der opiniones circa religionem aut philosophiam im einzelnen 460 • BACON reduzierte
die Historie ebenfalls auf nur mehr zwei Gebiete, die Historia naturalis und c·foü·i.~,
und letztere teilte er in drei Gattungen.: primo, Sacram, sive Ecclesiasticam; deinde
eam quae generis nomen retinet, Oivilem; postremo, Literarum et Artium461. So wurde
die bürgerliche Historie erstmals zum Oberbegriff für flill heilige oder Kirchen-
geschichte.
LEIBNIZ, der die Zweiteilung aufnahm, reihte unter die Histoire humaine bereits

464 KANT, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788), AA

Bd. 8, 161 f. 163, Anm. 1; ders., Kritik der Urteilskraft (1790), 2. Tl., Anh., § 82. AA Bd. 5
(1908), 428, Anm.
466 Der11., Teleolog. Prinzipien, 163.
466 -+ Entwicklun~.
467 FRIEDR. KARL BIEDERMANN, Art. Geschichte, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 6

(1862), 428.
468 Bonrn, Methodus (s. Anm. 340), 114 b.
459 Ki:.EMPT, Säkularisierung, 42ff.
460 Ebd., 44.

461 BACON, De augmentis 2, 4 (p. 502).

682
b) Von der 'historia sacra' zur 'Heilsgeschichte' Geschichte

eine Fülle verschiedener Wissenschaftsgebiete: die UniversalhisLurie urnl Geo-


grnphie, die Antiquitäten, die Philologie und Literarhistorie, Gewohnheiten und
Gesetze, schließlich auch Hiftoire des Religions, et surtout celle de la veritable
Religion revelee, avec l'Histoire Ecclesiastique 462 • So wurde entsprechend der welt-
weit gesammelten Erfahrung einer Vielzahl von Religionen und christlicher Kirchen
bei Leibniz aus der historia sacra eine historia religionum innerhalb der mensch-
lichen Geschichten.
Als VoLTAIRE in der „Encyclopedie" - wie noch manche Zeitgenossen - die
histoire sacree traditionellerweise erwähnte, fügte er ironisch hinzu: Je ne toucherai
point a cette matiere respectable 463 • Und als KRUG schließlich 1796 noch einmal
ein System aller Wissenschaften entwarf, erschien innerhalb der Geschichte der
Jl!en1Jclu!1nwdt ode1' des ·menschl·iclum Geschltchts - vorzugsweise Geschichte genannt,
an untergeordneter Stelle auch die Religion des Jesus von N azareth - im Rahmen
der Kulturgeschichte, nach Gewerben, Künsten, Sitten, Gelehrsamkeit und
Literatur und innerhalb der Geschichte der religiösen Kultur nach der natürlichen
Religion und der Geschichte des Fanatizismus als eine von mehreren offenbarten
Religionen 464 .
Die Einschmelzung der heiligen Geschichte in die Weltgeschichte war nun innerhalb
dor protestantischen Kirchenhistoriographie vorbereiteL wur<l.eu, sofern diese, vor
allem die Göttinger Schule im 18. Jahrhundert, aus der Historia ecclesiastica eine
Geschichte der kirchlichen Gesellschaften und ihrer Lehrmeinungen gemacht hatte.
In der Geschichte der Kirche ist es gewiß das konvenienteste, davon auszugehen, sich in
jeder ihrer verschiedenen Perioden das Eigentümliche und Charakteristische der gesell-
schaftlichen Verbindungsform ·... zum ersten Augenmerk zu machen, und den Gang
aller Ereignisse ... nur in ihrer Beziehung auf diese zu verfolgen 466 • Übersinnliche
Erfahrungen wurden ausgefällt zugunsten solcher historiRChllr Tatsachen, die in
das Licht zunehmender fortschreitender Moral getaucht oder psychologisch ge-
deutet werden konnten. Die erste immanent geschichtliche Zeiterfahrung, die des
Fortschritts, historisierte folgerichtig auch die bisher als unveränderlich erachteten
Lehrsätze. SEMLER hoffte seine Leser davon zu überzeugen, daß es nie eine ein für
allemal abgemessene unveränderliche Vorstellung des Inhalts der christlichen Lehre
und Religion gegeben habe 466 • Der Einbruch der neuen 'Geschichte' in die bisher als
ewig erachteten Wahrheiten wurde begründet und aufgewogen durch die neue,
auch die Religion umgreifende, Gewißheit, daß die Entwicklung der moralischen Welt,
nach Gottes Ordnung, ebenso ihre Perioden und Stufen habe als die Kenntnis und

462 LEIBNIZ, Memoire pour des personnes eclairees et de bonne intention (1694 ?), Werke,

hg. v. Onno Klopp, 1. R., Bd. 10 (Hannover 1877), 13; vgl. WERNER CoNZE, Leibniz als
Historiker (Berlin 1951), 36 ff. mit weiter!ln Belegen.
46 3 VOLTAIRE, Art. Histoire (s. Anm. 447), 221.
464 KRuG, Enz., Bd. 1 (1796), 49 ff. 79.
466 GoTTLIEB JAKOB PLANCK, Einleitung in die theologischen Wissenschaften, Bd. 2

(Leipzig 1795), 223; vgl. KARL VöLKER, Die Kii·chengeschichtsschreibung der Auf-
klärung (Tübingen 1921), 22; dort weitere Belege.
466 JoH. SALOMO SEMLER, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte,

Bd. 2 (Halle 1774), Vorrede; zit. PETER MEINHOLD, Geschichte der kirchlichen Historio-
graphie, Bd. 2 (Freiburg, München 1967), 46.

683
Geschichte V. 3. Ausprägung der 'Geschichte' zum Grundbegrift'

Entdeckung der physischen 487 . Seitdem die Geschichte eine mit der Zeit fortschrei-
tend sich wandelnde Qualität gewonnen hatte, ließ sich auch die hiRtoria sac.ra in
diesem Sinne - wie die historia naturalis - 'geschichtlich' auslegen.
Freilich war an der Heraufkunft des alles durchgreifenden Geschichtsbegriffs, so
neu er war, theologische Schubkraft nicht unbeteiligt. Gerade die historia sacra als
eine über die biblische Offenbarung hinauswirkende Geschichte, wie sie etwa im
föderaltheologischen Lager gelehrt wurde, brachte christliche Momente in den
modernen Geschichtsbegriff ein. Das im eschatologischen Erwartungshorizont immer
wieder reproduzierte und reproduzierbare Schema der Verheißung und Erfüllung
war seit je geeignet, dem zeitlichen Verlauf eine geschichtliche Qualität im Sinne
der Einmaligkeit und sogar der Steigerung zu verleihen. Auch die Umsetzung der
eschatologiMhon Zukunft in einen mit der Zeit fort5chreiternleu Pl'Uzeß bezog aus
der religiösen Erwartung ihre Impulse. Die Erfüllung muß weder meistens in den
ersten Jahrhunderten, noch gar in den noch künftigen Zeiten gesetzet, sondern mit einer
nicht gar ungleichen Teilung auf die ganze Reihe der Zeiten des neuen Testaments
dergestalt gelegt werden, daß das. ganze wahre System aller Historie bei Juden und
Heiden, Christen und Türken durch und durch in die Erklärung einfiießt 468 . Für
BENGEL wurde die ganze Geschichte eine Geschichte der sich zunehmend enthüllen-
den Offenbarung, wobei die Beweislast für die Deutung aus dem Testament in die
nachbiblische Geschichte überwechselte. Niemand könne die Offenbarung erklären,
wenn er die Kirchen- und Weltgeschichten nicht dazu nimmt 469 . An ihnen zeigt sich
die systematische Einheit der Historie. Der Interpret muß nur die wirkliche 8umme
der Welt- und Kirchengeschichte erschöpfen und in sich fa.~.~en, dabei aber nicht sowohl
auf die Teile, als au/das Ganze, in Hauptsachen, Hauptzeiten und Hauptorten, zum
Exempel, Rom und Jerusalem, sehen470.
Die stufenweise Aufdeckung der Johannesapokalypse durch die Geschichte erwies
sich dann als eine Art Phänomenologie des Geistes, die alle vergangenen Fehl-
deutungen der Auslegung sukzessiv korrigiert und damit ihren künftigen, den
wahren Sinn erschließt, der mit dem Ende der bisherigen Geschichte identisch
sein wird. Wie es 0ETINGER, Bengels Schüler, formulierte: Es hat ein jedes Jahr-
hundert nach Christo sein eigenes Maß der wahren, obwohl nicht völligen Erkenntnis.
Aber Gott sende von Zeit zu Zeit solche Werkzeuge, die nach dem Maß der wachsenden
Erkenntn·i8 ·in jedem Jahrhundert eine mehrere Eröffnung tun 471 •
Die Reihe der pietistisch inspirierten Theologen, der Arnold, Bengel - auch
Hamann -, der Oetinger, Wizcnmann oder Heß kann für die deutsche Begri.!Tsbil-
dung der Geschichte als einer im ganzen sinnhaften und fortschreitenden Offenba-
rung kaum unterschätzt werden. Das Reich Gottes wurde selber zum geschichtlichen

467 J. S. SEMLER, Lebensbeschreibung von ihm selbst verfaßt, Bd. 2 (Halle 1782), 157; zit.
MEINHOLD, Geschichte, Bd. 2, 64.
468 JOHANN BRNCH:r„ Erklärte Offenbarung ,Johannis oder vielmehr Josu Christi, 2. Aufl.
(1747), hg. v. Wilhelm Hoffmann (Stuttgart 1834), 75.
460 Ebd., 137.
470 Ebd., 654.
471 FRIEDR. CHRISTOPH ÜETINGER, Predigten über die Sonn-, Fest- und Feiertäglichen

Episteln, hg. v. Karl Chr. Eberh. Ehmann (Reutlingen 1852), 11; ders., Evangelien-
predigten, Bd. 2 (Reutlingen 1853), 110.

684
b) Von der "historia sacra' zur 'Heilsgeschichte' Geschichte

Prozeß. Die Konvergenz mit einem „weltlichen" Fort11chritt~begriff der GeschichLe


vollzog sich dabei in der Weise gegenseitiger Inspiration. Wie etwa THOMAS
W1zENMANN schrieb, der den Plan Gottes aus der historischen Entwicklung ab-
leitete: Der Mensch ist in ewiger Bewegung, und jeder Rückfall ist ein Schritt weiter
zur Vollkommenheit des Ganzen ... Mit seiner Geschichte rückt seine Erkenntnis fort,
und es ist politisch wie theologisch wahr, daß die wahre eigentliche Erkenntnis nur in
dem Grade transzendenter werden kann, in welchem es die Geschichte wird 472 •
Das Zeugnis für die göttliche Wahrheit hat sich mit Wizenmann vollends von den
Lehren auf die T,atsachen verlagert, von der Bibel auf die Geschichte: Das, worauf
ich in unsern heiligen Schriften ein besonderes Augenmerk richten zu müssen glaube,
ist die Geschichte. Sie ist es, die diese Schriften vor allen Religionsbüchern auszeichnet,
und sie zur göttlichen Offenbarung macht 473 • Damit war der Weg frei, im Gefolge der
idealistischen Geschichtsphilosophen auch die christliche Eschatologie prozessual
aufzulösen. So beschreibt RICHARD HoTHE den Verlauf des geschichtlichen Processes
so, daß sich die christliche Kirche immer mehr aufhebe und einschmelze in den
christlichen Staat der Zukunft. Das Jüngste Gericht - die Krisis - wird quasi auf
die geschichtliche Entwickelungsreihe ausgedehnt, daß die ganze christliche Geschichte
üherha11,pt eü1.e (Jro/Je knntfr1.11.iP.rlir:hP. Kri111:11 11.n11P.rs Ge.sr:.hle.r:.hts ~:st, die im Abfouf der
Zeit die Kirche versittliche und damit erübrige 474 •
Von Hanke und Scheliing beeiniluJ.lt, war· es JOHANN ÜHRISTIAN VON HOFMANN,
der 1841 den vorher selten gebrauchten Ausdruck 'Heilsgeschichte' übernahm.
Dabei handelte e:; :;ich nicht um eine Übersetzung der verblaßten 'historia sacra',
sondern um einen Begl'iff, der sich als christlicher Begriff dem umgreifenden An-
spruch der geschichtsphilosophisch begründeten Geschichte gewachsen zeigen
sollte 475 •
EDGAR BAUER formulierte damals in dem kritischen Jahrzehnt des Vormärz
polemisch: Durch die Religion wird die Geschichte eine Fabel, durch die Geschichte
wird die Religion ein Mythus, in der Geschichte widerlegt die Wahrheit von heute
diejenige von gestern, um von der morgigen von neuem über den Haufen geworfen
zu werden, in der Religion soll es nur eine einzige Wahrheit gebe_n 476 • Der alternative
Zwang forcierte die Historisierung. Unter seiner Herausforderung war der Terminus
'Heilsgeschichte' geprägt worden. Rückblickend läßt sich das Ergebnis der schlei-
chenden Wende seit dem achtzehnten Jahrhundert so formulieren: Während in

472 Thomas Wizenmann, der Freund Friedrich Hoinrioh Juoobis, hg. v. ALEXANDEit Fmr.

v. DER GoLTZ, Bd. 1 (Gotha 1859), 147. Zu Plan und Entwicklungs. [THOMAS WIZENMANN],
Göttliche Entwickelung des Satans durch das Menschengeschlecht (Dessau 1792), 2. 18.
28. 57 u. ö.; ders., Geschichte Jesu (s. Anm. 294), 8. 46 ff. Vgl. ERNST BENZ, Verheißung
und Erfüllung. Über die theologischen Grundlagen des deutschen Geschichtsbewußtseins,
Zs. f. Kirchengesch. 54 (1935), 484 ff.
47 3 WrzENMANN, Entwickelung des SaLans, 1 f.
4 74 RICHARD ROTHE, Die Anfänge der Chl'istlichen Kirche und ihl'er Verfassung, Bd. 1

(Wittenberg 1837), 59.


475 JoH. CHR. KONRAD v. HOFMANN, Weissagung und Erfüllung im alten und neuen

Testamente, 2 Bde. (Nördlingen 1841/44); vgl. GusTAv WETH, Die Heilsgeschichte (Mün-
chen 1931), 81 ff.
476 Bibliothek der Deutschen Aufklärer, hg. v. MARTIN v. GEISMAR [d. i. EDGAR BAUER],

Bd. 2, H. 5 (Leipzig 1847; Ndr. Darmstadt 1963), 127.

ü85
Geschichte V.3. Ausprägung der 'Geschichte' zum Grundbegrift'

der 'historia sacra' der Verweis auf das ewige Heil den Begriff ausgezeichnet hatte,
übernahm in dem zusammengesetzten Begriff der Heilsgeschichte den leitenden
Part die Geschichte. Aus ihr wurde der Weg zum Heil abgeleitet.
In jedem Fall blieb das jüdisch-christliche Erbe erhalten, und es zeugte von der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in dem neuen Geschichtsbegriff, daß die
ehedem eschatologische Erwartung jetzt auch auf ihn einwirkte und vor allem mit
ihm kombinierbar blieb. So verwundert es nicht, daß MosEs HEss, ebenfalls im
Gefolge des deutschen Idealismus, 1837 „Die Heilige Geschichte der Menschheit"
hat schreiben können, in der nach dem joachitischen Schema die dritte und letzte
Periode, die letzte Entpuppung der Menschheit, deren Process noch nicht vorüber ist477,
mit der Französischen Revolution begonnen habe. Die Heilserwartung blieb
streifänweil:le dem Gelilchic.ht.sbegriff inhärent. \1lld reic.hte d\U'ch die ver~chiedensten
Lager, vom staatstreuen Protestantismus bis zum Sozialismus.
Nachdem die alte historia sacra zur Heilsgeschichte überholt worden war, geriet
das christliche Selbstverständnis in den Sog seiner Vergeschichtlichung - auch
der historisch-kritischen Methode -, so daß es seitdem zwischen zwei extremen
Antworten pendelt. Entweder wird das Christentum als mit der Geschichte schlecht-
hin unvereinbar erklärt. So registriert ÜVERllECK das moderne Bestreben, das
Christentum der Geschichte untertan zu machen, und folgert daraus: Auf den Boden
der geschichtlichen Betrachtung versetzt, ist das Christentum rettungslos dem Begriff der
Endlichkeit oder ... der Dekadenz verfallen 478 • Oder die Geschichte muß insgesamt
auf Gott bezogen bleiben, so daß der Unterschied zwischen. einer christlichen und
einer nicht christlichen Geschichte entfällt. In KARL BARTHS Worten: Alle Rel?:-
gions- un,d Kirchengeschichte spielt sich ganz und gar in der Welt ab. Die sog. 'Heils-
geschichte' ist aber nur d·ie fortlauf ende Kr,is,is alle-r Gesckicltte, rt'icltt l!'ine Geschichte
in oder neben der Geschichte 479 • Die fortschrittliche Komponente des Begriffs ist
verblaßt, aber das prozessuale Moment, das von der existentiellen Präsenz des
ewigen Gerichts herrührt, hat sich, mit föderaltheologischem Erbe, durchgehalten.
c) Von der 'historia universalis' zur 'Weltgeschichte'. Die Einverwandlung der
Natur und der historia sacra in den allgemeinen geschichtlichen Prozeß hat den
Begriff der Geschichte zu einem Grundbegriff menschlicher Erfahrung und Er-
wartung aufrücken lassen. Der Ausdruck 'Weltgeschichte' war nun besonders
geeignet, das ]j;rgebnis dieses Vorgangs zu präzisieren.
Rein wortgeschichtlich ist der Übergang von der 'Universalhistorie' zur 'Welt-
geschichte' gleitend und ohne allzu großen Nachdruck vollzogen worden. Beide
Termini konnten im 18. Jahrhundert sehr wohl alternativ verwendet werden.
Den Ausdruck uuerltgeskihten hatte - atif die göttliche Vorsehung bezogen -
schon NoTKER (t 1022) .geprägt, aber das Wort hatte sich nicht durchgesetzt 48 0.

477 MosEs HEss, Die Heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinozas,

Philos. u. sozialistische Schriften 1837-1850, hg. v. Auguste Cornu u. Wolfgang Mönke


(Berlin 1961), 33. ·
478 FRANZ ÜVERBECK, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur mo-

dernen Theologie, hg. v. Carl Albrecht Bernoulli (Basel 1919; Ndr. Darmstadt 1963), 7 f.
479 KARL BARTH, Der Römerbrief, 10. Aufl. der Neubearbeitung (1922; Zürich 1967), 32.
480 Notkers des Deutschen Werke, hg. v. EnwARD H. SEHRT u. TAYLOR STARCK (Halle

1952), 33.

080
e) Vuu der 'hliiluria aiuiver11w• zur 'Wellge11chichte• Geschichte

Der erste Beleg für eine Historia imiversalis findet sich erst viel später.; 1301. er
schien ein solches Werk, das bald darauf den treffenderen Titel Oompendium
historiarum erhielt 481 . Historien dieser Welt, die eine Summe von Einzelgeschichten
mit universalem Anspruch zu bündeln suchten, entstanden erst, als - mit Borst
zu reden - das Weltbild des christlichen Gottesvolkes zerbrach. Sobald die Land-
nahme in Übersee voranschritt und die kirchliche Einheit zerfiel, häufen sich
universalhistorische Titel, die die neuen, heterogenen, Erfahrungen registrieren
und vereinen sollten. Dabei taucht im 17. Jahrhundert auch das verlorene Wort
'Weltgeschichte' wieder auf, das in Sm WALTR RALEIGHS „History of the
World" ein Vorbild haben mochte 482 . STIELER verzeichnet Weltgeschichte/historia
mundi sive universalis 483 , und seit. dem 18. Jahrhundert folgen ebenso gerne Misch-
formen wie 'Universalgeschichte' oder 'WelLhisturie'.
Trotz der terminologischen Varianten läßt sich nun am Vordringen des Ausdrucks
'WeHgeschichLe' eiu. Liefgreifemler uegri1l'licher Wandel aufzeigen. Ein Signal war
bereits die Übersetzung von VoLTAIRES „Essai sur l'histoire generale" mit „Ver-
such einer allgemeinen Weltgeschichte" im Jahre 1762, wobei es darum ging, die
Vorsehung zu diskreditieren 48 4.
Die Pluralform, etwa der merkwürdigsten W eltgosohiohton war liingot, ooit dem Ende
des 17. Jahrhunderts, im Sinne weltlicher Geschichten eingebiirgert485 , nnrl rleRnalh
konnte ÜHLADENIUS noch 1752 feststellen: Die geme·inen Weltgeschichte gehen duclt
nur mi'.t Taten der Menschen um, die Offenbarung aber mit den großen Taten Gottes 486 •
Es war genau diese antitnetiRon a1111gegrenzte Bedeutungszone der Menschenwelt,
die dem neuen Ausdruck eine stärkere Durchschlagskraft verlieh, als sie die über-
kommene 'Universalhistorie' hatte.
Die weltbezogene Thematik griff um sich und suchte nach einem adäquaten Begriff.
1773 registrierte der „ Teutsche Merkur" als sonderbar, daß in den letzten zwei bis
drei Jahren so viele Universalhistorien erschienen seien 487 , und ScHLÖZER, einer
ihrer Verfasser, stellte im gleichen Jahr fest, daß der Begriff der Weltgeschichte
noch undefiniert und vage sei. Es müsse ein Plan, eine Theorie, ein Ideal dieser
Wissenschaft entwickelt werden, um ihr den fundamentalen Rang zukommen zu
lassen, der ihr gebühre4ss.
Ein gutes Jahrzehnt später - 1785 - urteilte Schlözer bereits rückblickend:
Universalhistorie war weiland wichls als e·in „Gemengsel von einigen historischen

4 81 Dazu BORST, WeltgeRohicht1m (R. Anm. 150), 452 ff. ,


4 82 Sm WALTER RALEIGH, The History ofthe World (London 1614).
483 STIELER (1691; Ndr. 1968), 1747.
4 s 4 VOLTAIRE, Essai sur l'histoire generale et sur les moeurs etl'esprit des nations depuis

Charlemagne jusqu'a nos jours, 7 vol. (Genf 1756), dt. u. d. T.: Allgemeine Weltgeschichte,
worinnen zugleich die Sitten und das Eigene derer Völkerschaften von Carl dem Großen
bis auf die Zeiten Ludwigs XIV. beschrieben werden, 4 Bde. (Dresden 1760/62).
485 JoH. CHRISTOPH GATTERER, Handbuch der Universalhistorie nach ihrem gesamten
Umfange, Bd. 1: .Nebst einer vorläufigen Einleitung von der Historie überhaupt und
der Universalhistorie inRonderheit, 2. Aufl. (Göttingen 1765), 127 f.
4 86 CHLADENIUS, Geschichtswissenschaft (s. Anm. 277), Vorrede, o. S.
4 8 7 Schreiben aus D ... (s. Anm. 395), 262.
488 A. L. ScHLÖZER, Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2 (Göttingen, Gotha 1773),

Vorbericht, o. S.

687
Geschichte V. 3. Ausprägung der 'Geschichte' znm Grundbegriß'

Datis", die den Theologen und Philologen als Hilfs-Wissenschaft gedient habe.
Anders die Weltgeschichte, die jetzt in den Titel seines Werkes aufgerückt war:
W eltGeschichte - diese Schreibweise bevorzugte Schlözer noch, um den zusammen-
gesetzten Begriff zu kennzeichnen, W eltGeschichte studieren, heißt, die Haupt V er-
ändrungen der Erde und des M enschenGeschlechts im Zusammenhang denken, um den.
heutigen Zustand von beiden aus Gründen zu erkennen 489 •
Damit hatte Schlözer schon die beiden Kriterien genannt, welche die neue Welt-
geschichte auszeichneten: sie bezog sich räumlich auf den ganzen Globus und
zeitlich auf das gesamte Menschengeschlecht, deren Beziehungen untereinander zu
erkennen. und im Hinblick auf die Gegenwart zu erklären seien. Und er ging,
Anregungen von Gatterer und Herder aufgreifend und Kant vorarbeitend 490 , auch
den 80hritt weiter, die alte universalhistorische Summe aller Spem:alGe.~cl·1,1:chten als
ein bloßes Aggregat zu kritisieren, um dem neuen System der W eltGeschichte Raum
zu schaffen. Das System erreichte auf einer höheren Ebene der Abstraktion einen
erhöhten Wirklichkeitsanspruch. Es vermittelt kleine und große Ursachen, wodurch
die Weltgeschichte selber zur Phi:losophie werde. Vor allem achtet es darauf; daß
der RealZusammenhang der Begebenheiten von ihrem ZeitZusammenhang wohl zu
unterscheiden, daß der eine nicht auf den anderen Zusammenhang zu reduzieren
Rei, obwohl beide einander bedingen. Daraus ergäben sich Schwierigkeiten der
Darstellung, auf die schon Gatterer hingewiesen hatte, die zu bewältigen aber die
globale Interdependenz der neuzeitlichen Geschichten erkennen heiße. Chrono-
logische und synchronistische Gesichtspunkte oder, modern gesprochen, Diachronie
und Synchronie müssen einander ergänzen, um die Weltgeschichte nach immanenten
Kriterien zu gliedern. Dann erübrigen sich die Vier Monarchien göttlicher Weis-
sagung, und die neuen Epochen ergeben sich aus der Bedeutung, die die Haupt-
oder Nebenvölker für die Weltgeschichte gehabt haben. Nur die Revolutionen, nicht
die besondere Geschichte der Könige und Regenten, ja nicht einmal alle Namen derselben
zählten dann, wie es GATTERER pointiert hatte 491 • Eigentlich ist sie die Historie der
größeren Begebenheiten, der Revolutionen: sie mögen nun die Menschen und Völker selbst
oder ihr Verhältnis gegen die Religion, den Staat, die Wissenschaften, die Künste und
Gewerbe betreffen: sie mögen sich in älteren oder neuern Zeiten zugetragen haben„92 •
Damit war das neue Bedeutungsfeld abgesteckt worden. Es hat unter Verzicht auf
Transzendenz erstmals das Menschengeschlecht als das präsumtive Subjekt seiner
eigenen Ge1mhi0hte in dieser Welt ange:;ipror,hen. Wie hilflos hatte nor,h 1759
SULZER definiert: Die allgemeine Historie, Historia Universalis, aller Zeiten und
Völker kann nicht anders als sehr kurz über einzelne Begebenheiten sein. Sie kann
also den ganzen Nutzen einer ausführlichen Historie nicht haben 493 • Drei Jahrzehnte

489 Ders„ WeltGeschichte (s. Anm. 412), Bd. 1, 1. 71.


490 GATTERER, Vom hisLurii:ichen Plan (s. Anm. 223), 25. 28 f. u. ü.; HERDE&, A. L.
Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie (1772), SW Bd. 5 (1891), 436:ff.; KANT,
Idee (s. Anm. 360), 9. Satz. AA Bd. 8, 29.
491 GATTERER, Vom historischen Plan, 66 f.
492 J. CHR. GATTERER, Einleitung in die synchronistische Universalhistorie (Göttingen

1771), 1 f.
493 [JoH. GEORG SULZE&], Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theile der Ge-

lehrsamkeit, 2. Aufl. (Frankfurt, Leipzig 1759), 35.

688
c) Von der 'historia universalis' zur 'Weltgeschichte' Geschichte

später, 1790, resümiert KösTER in der „Deutschen Encyclopädie" die dazwischen


entfachte Debatte und ihr Ergebnis 494 . Das Verhältnis allgemeiner und spezieller
Historien sei je nach der Definition der Gegenstandsbereiche relativ und daher
zweideutig ... Es gibt aber noch eine andere Universalhistorie, schlechtweg so genannt,
welche man auch die allgemeine Weltgeschichte nennt. Sie handele vom ganzen
menschlichen Geschlecht und vom Erdboden als seinem Aktionsfeld. Sie zeige,
warum das men.~chliche Geschlecht das geworden ist, was es wirklich ist, oder in ~inem
jeden Zeitraum war. - .
Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts stellte sich eine gewisse Einhelligkeit her-
aus, diese Weltgeschichte sei eine Leitwissenschaft, daß sie aber bisher noch nicht
geschrieben worden, in KANTS Worten, daß sie ihren Kepler oder Newton noch
nicht gefunden habe49S.
Aber gleichzeitig stellen dieselben Autoren fest, und das indiziert jene neuzeitliche
Erfahrung, die erst über die 'Weltgeschiehte' erschlossen wurde, daß eine solche
Weltgeschichte zu schreiben erst jetzt möglich geworden sei. Darin beruhe die
eigentliche Überlegenheit, der Erfahrungsvorsprung vor den Alten 496 . Der Ver-
fassungswandel und die Ausbreitung Europas über den Globus habe die Welthändel
immer verwickelter gemacht, so daß es gar nicht mehr möglich sei, einzelne Staaten-
geschichten zu schreiben, da der wirkliche Zusammenhang überall hindurchgreife 497 •
Streckenweise schien es speziell der europäische Handel, in welchen sich allmählich
die ganze Weltgeschichte aufzulö.~en sche?;nt, 498 • 178::\ konnte eine Mainzer niRRertation
emphatisch und asyntaktisch beginnen: Das Men1whe·riye1:1chledtl ·i1:1t wu/ e·inen Punkt
gekommen, wo durch bekannte Revolittionen die Mauern, die sonst Weltteil von Weltteil,
Volk von Volk trennten, niedergerissen wurden, und die einzelnen JYIenschenabteilungen
in ein großes Ganze ausgefiossen sind, das durch einen Geist belebet wird - so auch die
Geschichte - die Welt 1:st ein Volk, so auch eine allgemeine Weltgeschichte -und so muß
sie auch auf die Welt nützlich und einfiießend behandelt werden. Die Geschichte bilde
die Völker stufenweise zur allgemeinen Weltbürgerschaft heran, sie weite sich aus zur
Weltgeschichte. Dies ist eine Wahrheit, dt:e selbst in der Geschichte ihren Grund hat 499 •
Der auf sich selbst zurückverweisende Begriff der neuzeitlichen Geschichte suchte
in der 'Weltgeschichte' seinen empirischen Halt zu finden. Hier lag das Aktionsfeld
jenes hypothetischen Subjekts des Menschengeschlechts, das nur in seiner offenen
zeitlichen Erstreckung als RinlieiL geda.cl1t werden konnte. Pa.rallel zu den welt.-
geschichtlichen Entwürfen erschienen daher zahlreiche anthropologisch motivierte
Leitfäden zur Geschichte der Menschheit 500 • Was ihr an heutiger Erfüllung man-
gelte, wurde kompensatorisch für die Zukunft erwartet. Das wahre Ideal einer
solchen Geschichte aber, die nichts weniger als ein Aggregat aller Partikular- und

494 KösTER, Art. Historie (s. Anm. 328), 651. 654.


495 KA'NT, Idee, AA Bd. 8, 18.
496 GATTERER, Vom historischen Plan, Hi ff.

497 Büscm, Rneydopii.rlie (s .. Anm. 437), 123; vgl. ebd., 133. 165. Ferner HALLE Bd. 1

(1779), 537.
498 GEORG FoRSTER, Die Nordwestküste von Amerika und der dortige Pelzhandel (1791),

Werke, Bd. 2 (o. J.), 258.


499 VOGT, Anzeige (s. Anm. 287), 3 ff.·

500 Vgl. FRIEDR. AUGUST CARUS, Ideen zur Geschichte der Menschheit, Nachgel. Werke,

Bd. 6 (Leipzig 1809) mit seinem großen Literaturüberblick S. 10 ff.

44-90386/1 689
Geschichte V. 3. Ausprägung der 'Geschichte' zum Grundbegriff

Spezialgeschichten ist, ist erst in neuern Zeiten entwO'tfen worden, wie KRUG auf
Kant verwies, als er die Geschichte der Menschheit eigentlich als eine Geschichte
der menschlichen Kultur defi.nierte501.
Schillers berühmte Frage seiner J cnenser Antrittsvorlesung 178!) - „ Was heißt
und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte 1" - faßte knapp und
großartig alle Argumente zusammen, die die Weltgeschichte zur Leitwissenschaft
aller Erfahrung und aller Erwartung gemacht hatte. Wie im 'Fortschritt' die Neu-
zeit sich als eine neue Zeit begreifen lernte, so hat sie sich in der 'Weltgeschichte'
ihrer raum-zeitlichen Totalität versichert. Deshalb wurde der Ausdruck als Voraus-
setzung und Grenzbestimmung möglicher Erfahrung auch zu einem Strukturmerk-
mal möglicher Geschichten: Alle Geschichten sind nur verständlich durch die Welt-
geschichte uiid in der Weltgeschichte51> 2 , oder, wie es NovALIS noch konooquentcr
formulierte: Jede Geschichte muß Weltgeschichte sein, und nur in Beziehung auf die
ganze Geschichte ist historische Behandlung eines einzelnen Stoffs möglich 503 •
Der neue Begriff hatte einen in sich geschlossenen Totalitätsanspruch gewonnen,
der konkurrierende Erklärungsmodelle ausschloß. 1805 konnte deshalb FRIEDRICH
SCHLEGEL seine „Vorlesungen über Universalgeschichte" Init dem Satz eröffnen:
Da überhaupt alle Wissenschaft genetisch ist, so folgt, daß die Geschichte die uni-
versellste, allgenieinste und höchste aller Wissenschaften seüi müsse. Soweit nur von
der Geschichte der Menschen die Rede sei, heiße sie schlechtweg Geschichte 5 0 4 • Es
war die 'Weltgeschichte', die im Zeitalter der Französischen Revolution dem Be-
griff der Geschichte seine LeitfunkLion zugewie1:1en hatte, die er 1:1eitdem nicht mehr
verloren hat. 1845 notierten MARX und ENGELS zur deutschen Ideologie: Wir
kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte . .Sie umfasse die
der Natur und die der Menschen. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange
Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der M ensch,en ge-
genseitig505. 'Geschichte' war nur noch als natürliche und als menschliche, d. h. als
Weltgeschichte denkbar, so daß diese Bedeutung in jenem Begriff aufgehoben
blieb.
Die umfassenden welthistorischen Darstellungen verloren - nach Rankes großer
Gesamtkonzeption - an Kraft, teils weil die historisch-kritische Methode die
Ansprüche steigerte und damit die Spezialisierung förderte, teils weil die Unab-
schließbarkeit aller Gesnl1inl1tr. die Rinwände gegen univeri:!ale Entwürfe wachsen
ließ 506. In jedem Fall blieben sie unreflektiert zumeist das, als was sie HANS FREYER
l!:l48 auf den Begriff gebracht hat: Weltgeschichte Europas 507 , die erst im 20. Jahr-·

601 KRuG, Enz., Bd. 1, 66 f.


60.2HEINRICH LUDEN, Ueber den Vortrag der Universalgeschichte, Kl. Aufsätze, Bd. 1
(Göttingen 1807), 281; zu SCHILLER s. Anm. 418. Vgl. EBERHARD KESSEL, Rankes Idee
der Universalhistorie, Rist. Zs. 178 (1954), 269 ff.
603 Nov.ALis, ]fragmente und l::ltudien, Nr. 77. GW Bd. 3, 566.
604 Rom.F.m:r., VorleR1mgen über Universalgeschlcht.e (1805/06), SW 2 . .Abt., Bd. 14,

(1960), 3.
60 GMARx/ENGELS, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3 (1962), 18, Anm.
606 Vgl. ERNST TROELTSCH, Der Historismus und seine Probleme (Tübingen 1922; Ndr.
Aalen 1961), 652. 706 u. WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften
(1922), Ges. Sehr., Bd. 1 (Leipzig, Berlin 1922), 93 ff.
607 HANS FREYER, Weltgeschichte Europas, 2 Bde. (Wiesbaden 1948).

690
VI. 1. Soziale und politische Funktionen des Geschichtsbegriffs Geschichte

hundert anfängt, in eine 'Weltgeschichte selber' überzugehen. Damit ist der


Erwartungshorizont, den das 18. Jahrhundert mit dem Begriff ausgezogen hatte,
verändert, aber noch nicht überschritten worden.
Der einzige wirkungsgeschichtlich folgenreiche Versuch, die Weltgeschichte aus
ihrer prozessualen, stets sich erneuernden Einmaligkeit herauszudrehen, stammte
von ÜSWALD SPENGLER, als er den kommenden Untergang des Abendlandes aus
einer kreisläufig - naturhaften Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Ge-
schichte ableitete 508 • Inwieweit seine pluralistischen Kulturkreise in ihrer struk-
turalen Analogie die künftige Weltgeschichte beeinflussen, bleibt vorerst offen.

VI. 'Geschichte' als moderner Leitbegrift'

Wenn FRIEDRICH SCHLEGEL 1795 formulierte: Den Gang und die Richtung der moder-
nen Bildung bestimmen herrschende Begriffe, da setzte diese Erkenntnis bereits den
modernen Begriff der Geschichte voraus 509 • Schlegel bediente sich einer Reihe von
aktuellen Bewegungsbestimmungen, die alle vom Geschichtsbegriff umfaßt wurden.
Insofern galt von der 'Geschichte' besonders, was Schlegel für die herrschenden
.Begriffe bearnipruehte: lltr l!J'in/luß 'i1Jt alsu 'Urtendl,iclt wichtig, ja entsclte,idend.
Ge~ehiehLe kumit.e nu.c :t-llll! mudemcn LeiLbegl'i.lf W\l.cden, wllil illl ZeiLalte.c der
Aufklärung und durch die Wirkungen der Revolution alle bisher geschilderten
Vorleistungen erbracht wurden, die den Begriff geprägt hatten.

1. Soziale und politische Funktionen des Geschichtsbegrift's

Die Ausprägung des modernen, reflexiven, Geschichtsbegriffs vollzog sich sowohl


in wissenschaftlichen Diskussionen wie im politisch-sozialen Sprachraum des All-
tags. Was beide Sprachebenen zusammenhielt, waren die Kreise des Bildungs-
bürgertums, seiner Bücher und seiner Zeitschriften, die sich im letzten Drittel des
18. Jahrhunderts schubweise vermehrten und denen, besonders im 19. Jahrhundert,
zahlreiche Vereine und Institutionen folgten. Die Entstehung einer eigenständigen
Geschichtswissenschaft läßt sich auf jenes Bildungsbürgertum zurückführen, das
sich zugleich mit der Ausprägung ·eines geschichtlichen Selbstbewußtseins seine
Identität zueignete. Insofern fällt die Genese des niodernen Geschichtsbegriffs mit
KHiner sozialen und politischen Funktion zusammen - ohne freilich darin aufzu-
gehen. Gatterer war stolz darauf, Professor der Geschichte zu sein, ohne als Hof-
historiograph Diener eines Fürsten sein zu müssen. Aber die wissenschaftstheo-
retischen Fragen, die er sich stellte, behalten unbeschl!'det seiner Selbsteinschätzung
ein dauerhaftes Interesse. Es war gerade der wissenschaftliche Anspruch des Ge-
schichtsbegriffs, der seine sozial und politisch integrative Kraft verstärkte.
Die Geschichtswissenschaft, die in Deutschland im 19. Jahrhundert ihren Höhe-
punkt erreichte, vereinigte in sich zwei vorangegangene Etappen. Erstens die
emsige Sammlertätigkeit und Ausbildung der Hilfswissenschaften, die seit dem

50S OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes. Um}'.isse einer Morphologie der
Weltgeschichte, 52. Aufl. (München 1923), 6.
5o9 Scm.ElGEL, Über das Studium der griechischen Poesie (1797), Kritische Schriften, hg.

v. Wolfdietrich Rasch (München 1964), 156.

691
Geschichte VI. 1. Soziale und politische Funktionen des Geschichtshegriß's

Humanismus auf den Weg gebracht worden waren. Zweitens die theoretische und
kritische Reflexion, mit der die Aufklärung auf ihre Vorgänger reagiert hatte.
Beide Etappen fanden in der deutschen Historiographie seit Niebuhr ihre frucht-
bare Synthese.
Dabei gewann die Historie ihren wissenschaftlichen Freiraum im Maß, als sie sich
aus der dienenden Funktion gegenüber der theologischen und der juristischen
Fakultät löste. Das Ergebnis dieses Zugewinns an Autonomie zeichnet sich ab
im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, als auch der neue Geschichts-
ueg1ilI geprägt woruen war 610 • Er indiziert einerseits die gewonnene Eigenständig-
keit der historischen Wissenschaft. Parallel dazu änderte 'Geschichte' - anderer-
seits - ihren Stellenwert im politischen Sprachgefüge. Indem der Ausdruck zum
Zentralbegriff der Weltdeutung aufrückt, stilisiert er auch das Selbstbewußtsein
jenes Bürgertums, das sich in diesen Dezennien vom gelehrten zum Bildungs-
bürgertum ausweitet. Der pragmatische Nutzen der Geschichtsschreibung müsse
allen Ständen zugute kommen, hatte schon Abbt gefordert, und 1765 stellte
CHRISTIAN KESTNER in Göttingen die suggestive Frage: Ob sich der Nutzen der
neueren Geschichte auch auf Privatpersonen erstrecke? Selbstverständlich, der Ge-
schichtsschreiber .rnll iM1.11 drin. ga,n,z1.1n ll!~1rwolwn .~oh·1:l1uYni, nfrht wu.1· in det· seltenen
und besonderen Stellung, da er Völker beherrscht oder da 1Jr Länder cruberl 011 •
Die große Bestimmung, die 8CHLÖZER der Geschichte zuwies, diente zur Aufklärung
und zum Glücke der bürgerlichen Gesell8chaft 512 • Da.raus ergaben sich Weiterungen
in der Organisation und in den Gegenstarnfabereichen. Die ganze Gesch,ich,t.~d1.rp,1;hp,rf'.1;
müsse als eine großp, 11/fl,(',ndlich zusammengesetzte l!'abrike betrachtet werden, in der
Samutt:~lu, Forl:lchen und Darstellen verschiedenartige Aufgaben seienS 13 . Inhaltlich
traten neben die herkömmlichen Kirchen- und Staatengeschichten im 18. Jahr-
hundert die seit Bacon geforderte Literargeschichte, die Kunst- und Technik-
geschichten, die Geschichte des Handels, die Wissenschaftsgeschichten und die
Kulturgeschichte, schließlich, alles umfassend, in GATTERERS Worten: die Geschichte
der Völker. Es gibt also, eigentlich zu reden, nur eine Historie, die Völkergeschichte 514 •
Die neue bürgerliche Gesellschaft entwirft sich als Volk, als Nation, und deshalb
pflichtet KRUG dem bei, als er den Kosmos aller historischen Teilwissenschaften
zusammenfügte: es sei schädlich, die Geschichten von Staat und Volk zu trennen,
weil wegen des innigen Zusammenhangs zwi1:1chen beiden die Geschichte des einen
ohne die Geschichte des andern gar nicht verstanden werden kann 5 1 5 •

610 Vgl. Hundert Jahre Historische Zeitschrift 1859-1959. Beiträge zur Geschichte der

Historiographie in den deutschsprachigen Ländern, hg. v. THEODOR ScmEDER, Hist. Zs.


189 (1959); WILHELM VossKAMP, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im
17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein (Bonn 1967}; NoTKER HAMMERSTEIN, Jus
und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Univer-
sitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert (Göttingen 1972).
611 CHR. KESTNER, Untersuchung der Frage: Ob sich der Nutzen der neuem Geschichte

auch auf Privatpersonen erstrecke?, GATTERER, Hist. Bibi. 4 (1767), 214 ff.
512 Voffeue ScHLÖZERS zu: ABBE MABLY, Von der .Art die Geschichte zu schreiben, dt. v.

F. R. Salzmann (Straßburg 1784), 7.


613 Ebd., 13.
614 GATTERER, Vom historischen Plan (s . .Anm. 223), 25.

515 KRUG, Enz., Bd. 1, 81.

692
VI. 1. Soziale und politische Funktionen des Geschichtsbegriffs Geschichte

Nachdem die 'Geschichte' einmal zum Reflexionsbegriff geworden war, der die
Zukunft mit der Vergangenheit erklärend, begründend oder legitimierend ver-
mittelt, konnte diese seine Aufgabe auf verschiedene Weise wahrgenommen werden.
Nationen, Klassen, Parteien, Sekten oder weitere Interessengruppen konnten, ja
mußten sich auf die Geschichte berufen, solange die genetische Ableitung der je
eigenen Position Rechtstitel im politischen oder sozialen Handlungsgefüge verlieh.
Der große Streit zwischen Thibaut und Savigny 1814 über die Möglichkeit einer
generellen: Gesetzgebung oder die heftige Auseinandersetzung 1861 zwischen Sybel
und Ficker über den außenpolitischen Sinn früherer, und darin enthalten heutiger,
Italienpolitik bezeugen die allgemeine Evidenz, die geschichtlichen Begründungen
innewohnte, unbeschadet, ob der Zweck mehr auf eine Neuerung oder Stabilisierung
zielte 516 .
Im Sinne der historischen Rechtsschule betonte SAVIGNY die Überlegenheit der
Herkunft: Die Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart wird sich auch da
äußern können, wo sich die Gegenwart absichtlich der Vergangenheit entgegensetzt 517 •
FICKER verwies stärker auf die Fungibilität geschichtlicher Urteile und damit auf
die Gefahr parteilicher Einseitigkeit: Am schwersten werde sich eine Überein-
stimmu.ng der Forscher 1:mmf!r da. hBr.~tdfon, wo .~fo a,m un:chti;g.~tcn wäre, nämlich da,
wo es sich um geschichtliche Auffassungen handelt, welche zu praktischen Fragen der
Gegenwart in näherer Beziehung stehenU8 • Beide Überlegungen - hier aus konserva-
tivem Lager - erhärten ein geflügeltes Wort des 19. Jahrhunderts, daß man aus
der Geschichte alles beweisen könne 519 • Entscheidend war deshalb, daß man sich
überhaupt. auf die gemeinsa.me Plattform geschichtlicher, d. h. strittiger Beweise
begab, um sich rechtlich ouei· poliLisch oder sozial auszuweisen. LUDEN wünschte
1810, daß wir als Deutsche die Geschichte der Deutschen hier hörten, und er ver-
sicherte sich und seine Hörer dessen, um uns auf den Standpunkt zu stellen, von
welchem aus wir diese Geschichte zu betrachten haben, und in die Gemütsverfassung zu
setzen, mit welcher wir sie nur würdig betrachten können 520 • 'Geschichte' war also
keineswegs nur die auf die Vergangenheit und deren Erinnerung beschränkte
Spezialkunde, sie behielt ihre politische Aktuosität und soziale Herausforderung
an die Zeitgenossen, die sie gegen Ende der Aufklärungszeit gewonnen hatte.
Deshalb begründete JACOB BuRCKHARDT 1846 seine berühmte Flucht in den
schönen faulen Süden damit, daß dieser Süden der Geschichte abgestorben ist 521 •
Die Italienreise war also keine Flucht in die Geschichte, sondern, indem sich
Burckha.nlt. det• akut.en polit.isclum KriSe ent,r.og, aus der Geschichte heraus. Um-

616 Vgl. Thibaut und Savigny. Ein programmatischer Rechtsstreit auf Grund ihrer

Schriften, hg. v. JACQUES STERN (1914; Ndr. Darmstadt 1959); Universalstaat oder
Nationalstaat, Macht und Ende des ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von
Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hg. von
FRrnDitWH SCHN.t<:W.llllt, 2. Aufl. (Innsbruck 1943).
617 STERN, Thibaut und Savigny, 137.

ns SCHNEIDER, Universalstaat, 31.


619 W ANDER Bd. 1 (1867), 1593.
5.2 0 HEINRICH LUDEN, Einige Worte über das Studium der vaterländischen Geschichte

(Jena 1810; Ndr. Darmstadt o. J.), 11.


521 JACOB BuRCKHARDT, Brief an Hermann Schauenburg v. 28. 2. 1846, Briefe, hg. v.

Max Burckhardt, Bd. 2 (Basel 1952), 208.

693
Geschichte VI. 1. Soziale und politische FUJlktionen des Geschichtsbegritfs

gekehrt berief sich SYBEL 1889 im gleichen Argumentationshaushalt offen auf seine
preußischen und nationalliberalen Überzeugungen. Er hoffe, daß seine Reichs-
gründungsgeschichte als nähere Veranschaulichung der Krankheit und der Krisis
nur zur Kräftigung der gewonnenen Gesundheit und Eintracht dienen könne 522 •
Drastischer und ungeniert formulierte TREITSCHKE seine analoge Absicht: Mein
Bestreben war, aus dem Gewirr der Ereignisse die wesentlichen Gesichtspunkte heraus-
zuheben, die Männer und die Institutionen, die Ideen und die Schicksalswechsel,
welche unser neues Volkstum geschaffen ·haben, kräftig hervortreten zu lassen 523 •
Noch deutlicher als sein Vorgänger zeigt der vorliegende Band, daß die politische
Geschichte des Deutschen Bundes nur vom preußischen Standpunkt aus betrachtet
werden kann; denn nur wer selber fest steht, vermag den Wandel der Dinge zu beur-
teilen 524. Nach der Reichsgründung bezeugt der Streit zwischen Treitschke und
Schmoller, wie sehr wissenschaftstheoretische - und methodische - Vorent-
scheidungen in eine politische oder soziale Funktion einrücken und sie wahrnehmen
konnten. Treitschke argumentierte, im Gefolge aristotelischer Ansätze, herrschafts-
stabilisierend, um eine Sozialdemokratie zu bekämpfen, die Schmoller mit sozial-
evolutionären und reformträchtigen Geschichtstheoremen zu gewinnen suchte.
niA nimlrto politifjchc Verwendung OAr 'Gesohiohto' mit Anu1u·u,1_iho ltn ein breite!!
Hl:lrer- und Lesepublikum war nur möglich, weil die GeschichLe nicht nur als
Wissenschaft von der Vergangenheit b11griffen wurde, sondern zunächst als Er-
fahrungsraum und Reflexionsmedium der jeweils erstreht.e11 sozialen oder politi-
schen Handlungseinheit. Mitnichten habe es die Geschichtswissenschaft nur m1:t
der Totenmaske der Vergangenheiten z11, tun . . . V erstehend und verstanden ist ihnen
ihre Geschichte ein Bewußtsein über sich, ein Verständnis ihrer selbst. So fordert sich
unsere Wissenschaft ihre Stelle und ihre Pflicht in dem je Werdenden; was um uns her
und mit uns geschieht, was ist es anders als die Gegenwart der Geschichte, die Geschichte
der Gegenwart 525 • Oder, wie es ScHOPENHAUER schlicht formulierte: Erst durch die
Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollständig bewußt526 •
Was für das bürgerliche Nationalbewußtsein gilt, suchten Marx und Engels auch
für das zu entfalten:de Klassenbewußtsein der Arbeiter im Medium historischer
Reflexion zu gewinnen. So schrieb ENGELS 1850 über den deutschen Bauernkrieg:
Die Klassen und Klassenfraktionen, die 1848 und 49 überall verraten haben, werden wir
schon 1525, wenn auch auf einer niedrigeren Entun:ckl?J.nysst·ufe, als Verräter vor-
findenG27. MARX verspottete jene weltgeschichtlichen Totenbeschwömngen, die der
politischen SelbststiliRi1mmg dienten. Die soziale Revolution des neunzehnten Jahr-
hunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der
Zukunft . . . Die früheren. Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rücker-

6 2 2 HEINRICH v. SYBEL, Die Begründung des deutschen Reiches durch Wilhelm 1., Bd. 1
(München, Leipzig 1889.), XIII f.
6 23 HEINRICH v. TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1 (1879;

Ausg. Leipzig 1927), VIII.


m Ebd„ Bd. 3 (1885; Ausg. 1927), VIII.
626 JoH. GusTAV DROYSEN, Geschichte der preußischen Politik, Bd. 1 (Berlin 1855), III.
62 6 ARTHUR ScHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), SW Bd. 2-

(München 1911), 507.


627 FRIEDRICH ENGELS, Der deutsche Bauernkrieg, MEW Bd. 7 (1960), 329.

694
VI. 2. Geschichtliche Relativität und Zeitlichkeit Geschichte

innerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neun-
zehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen
Inhalt anzukommen 628 • Aber er verfaßte selber scharfe zeitgeschichtliche Analysen,
wie den „18.'Brumaire des Louis Bonaparte", um das Proletariat aus dem Scheitern
bisheriger Revolutionen zu belehren und in den Geist der neuen Sprache einzuüben.
Je nach Standort dienten - und dienen - verschiedene Vergangenheiten der
politischen und sozialen Selbstbestimmung und ihren prognostischen Folgerungen.
Nur ist dieser vielfältig gebrochene Aspekt der einen Geschichte keineswegs Aus-
druck eines hemmungslosen Subjektivismus oder eines Historismus, wie ihn 1921
THEODOR LESSING charakterisierte: er berge in sich die tollhäuslerische Annahme
... , daß das Denken eines Prozesses der Prozeß selber sei 629 • Vielmehr gehört die
Relativität historischer Urteile in Wissenschaft und Politik zu den Erkenntnissen,
die den Begriff der Geschichte mit konstituiert haben. Unbeschadet des Wahr-
heitsanspruches der Geschichte als Wissenschaft ist die Rückbindung an die
Situation der Erkenntnis ein Erfahrungssatz, der im 18. Jahrhundert die Welt der
Geschichte entdecken half.

2. Geschichtliche Relativität und Zeitlichkeit

1623 verglich CoMENIUS die Tätigkeit der Historiker mit dem Blick durch Fern-
rohre, die posaunengleich über die Schulter nach rückwärts weisen. So suche man
für die Gegenwart und Zukunft Lehren aus der Vcrgangenheit zu ziehen. Aber was
dabei überrasche, seien die gebogenen Perspektiven, die alles in verschiedenem
Licht zeigen. Daher kllnne mau sieh durchaus n·iclit dfJll'auf ve1·lasmi, . . . daß eine
Sache sich auch wirklich so verhalte, wie sie dem Beobachter erscheine. Jeder traue nur
seiner eigenen Brille, und daraus folge Streit und Zanksao.
Die Übertragung der naturwissenschaftlichen Perspektivenlehre auf die Historie
gewann l.m Jahrhundert der Glaubenskämpfe und seiner konfessionellen Streit-
schriften an Evidenz, - sobald die Autoren dogmatische Standpunkte als relativ
anzuerkennen bereit waren. Aber daraus folgte noch nicht, daß auch der neue, der
vernunftgemäße und überkonfessionelle Standpunkt relativierbar sei. Der antike
Topos, daß der Historiker apolis, vaterlandslos sein müsse, um der Wahrheit zu
<lienen, um nur zu berichten, was sich zugetragen hatöai, zieht sich vielmehr als wis-
senschaftsethisches Postulat durch alle Jahrhunderte. Bayle und Voltaire haben
sich darauf so sehr verpflichtet wie Wieland oder RANKE: Alles hängt zusarnrnen:
kritisches Studium der echten Quellen, unparteiische Auffassung, objektive Darstel-
lung; - das Ziel ist die Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit, auch wenn sie nicht
ganz erreicht werde 0 s2.

5 ~ 8 KARL MARx, Der achtzehnte Brumairo des Louis Bonaparte (1852), MEW Bd. 8

(1960), 115. 117.


029 THEODOR LESSING, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (München 1921), 21.
530 JoH. AMos COMENIUS, Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens 11, 15

(1623), dt. v. Zdenko Baudnik, hg. v. Pavel Kohout (Luzern, Frankfurt 1970), 105 f.
531 LUKIA.N, Wie man Geschichte schreiben soll 41, 148, dt. v. H. Homeyer (München 1965).
532 RANKE, Einleitung zu den Analekten der englischen Geschichte, SW Bd. 21, 3. .Aufl.

(1879), 114.

695
Geschichte VI. 2. Geschichtliche Relativität und Zeitlichkeit

Die Selbstenthebung vom Parteistandpunkt richtete sich geschichtlich immer


gegen konkrete, je verschiedene Parteien. Erkenntnistheoretisch steht hinter dem
Postulat der Überparteilichkeit, um die vergangene Wirklichkeit annäherungs-
weise in voller Wahrheit wiederzugeben, eine Art naiver Realismus. Es war nicht
diese methodisch alte und unerläßliche Schaltstelle im Forschungsgang, Überpar-
teilichkeit zu intendieren, die die geschichtliche Welt konstituiert hat. Vielmehr ist
es die Rückbe~ogenheit der Geschichte auf ihre eigenen Erkenntnisvoraussetzun-
gen, die die moderne Geschichte sowohl im wissenschaftlichen wie im vorwissen-
schaftlichen, im politischen und sozialen Feld zusammenfaßt.
Noch orientiert am realistischen Erkenntnisideal schrieb ZEDLER resignativ, es
wäre sehr schwer, ja fast unmöglich, ein vollkommener Geschichtschreiber zu sein. Wer
ein solcher sein wollte, müßte, wenn es angehen könnte, weder einen Orden, nnch ei:ne
Partei, noch eine Landsmannschaft noch eine Religion haben533 • NiwhgP.wiesen zu
haben, daß genau die!:! unmöglich sei, war das Verdienst von Chladenius.
CHLADENIUS ging davon aui;, daß die Geschichte und die Vorstellung von ihr übli-
cherweise zusammenfielen. Um aber eine Geschichte auslegen unfl beurteilen zu
können, bedürfe es der strikten Trennung: Die Geschichte ist einerlei, die Vorstellung
cibl3r dwoon ist verschieden und mannigfaltig534. Eine Geschichte an sich sei nm wider-
spruchsfrei zu denken, aber jeder Bericht flariihffl· sei perspektivisch gp,hrochen.
Das, was in der Welt geschiehet, wird von versclciedenen Leuten auch auf verschiedene
Art angeselien535 • Es sei schlechthin entscheidend, ob ein Ereigniszusammenhang
von einem Interessenten oiler Fremden, einem Freitnd oder Fe'inll, einem Gelehrten
oder Ungelehrten, von einem Hofmann, Bürger oder Bauern, von einem Aufrührer
oof\r P.inem trei1.en Untertan beurteilt werde. Aufl diesem lebensweltlichen Defuud
folgerte nun Chladenius zweierlei: erstens die unüberholbare Relativität aller An-
schauungsurteile, aller Erfahrung. Es kann zwei einander widersprechende Berichte
geben, die beide die Wahrheit für sich verbuchen. Denn es gibt einen Grund, warum
wir die Sache so, und nicht anders erkennen: und dieses ist der Sehe-Punckt von der-
selben Sache ... Aus dem Begriff des Sehe-Puncts folget, daß Personen, die eine Sache
aus verschiedenen Sehe-Puncten ansehen, auch verschiedene Vorstellungen von der
Sache haben müssen ... ; quot eapita, tot sensus 536 • .

Zweitens folgerte Chladenius aus seiner Analyse der Augenzeugenschaft und der
Verhaltenseinstellungen die PerH1111kt.ivik auch späterer Forschung und Darstellung.
Freilich müsse man durch gerechte Ilefragung enLgegengesetzter Zeugen und durch
Spurensicherung die Geschichte selbst zu erkennen trachLen - insofern huldigt
auch Chladenius einem gemäßigten realistischen Erkenntnisideal-, aber die ver-
gangenen Ereigniszusammenhänge ließen sich durch keine Darstellung mehr in toto
wiedergeben. Besonders der Historiker, der sinnreiche Geschichte berichten will,
kann gar nicht umhin, als sie in verjüngten Bildern wiederzugeben537 • Er muß aus-
wählen, er muß verkürzen und er muß sich allgemeiner Begriffe bedienen, - damit
aber liefert er sich unentrinnbar neuen Zweideutigkeiten aus, die erneut der Ausle-

633 FAMIANUS STRADA (1572-1649), zit. ZEDLER Bd. 13 (1735), 286, Art. Historie.
634 ÜHLADENIUS, Einleitung (s. Anm. 262), 195.
536 Ebd., 185 u. dcrs., Geschichtswissenschaft (s. Anm. 277), 151.
636 Ders., Einleitung, 188 f.
537 Ebd., 221; Geschichte ist hier noch Plural!

696
VI. 2. Geschichtliche Relativität und Zeitlichkeit Geschichte

gung bedürfen. Denn ein Geschicht-Schreiber, wenn er verjüngte Bilder schreibt, (hat)
allemal sein Absehen auf etwas, - was der Leser durchschauen muß, wenn er die
Geschichte beurteilen will, um die es geht538 •
Von der erlebten bis zur wissenschaftlich erarbeiteten Geschichte wird 'Geschichte'
immer in sinnhaltigen und sinnstiftenden Perspektiven vollzogen, die ihrerseits auf-
einander verweisen. Seit Chladenius waren die Historiker besser abgesichert als zu-
vor, in der Wahrscheinlichkeit eine eigene, eben eine historische Form der Wahrheit
erblicken zu dürfen. Und sie gewannen den Mut, wenn sie schon ihren Sehepunkt
haben müssen, auch offen und bewußt einen Standort zu beziehen. Für ABBT war
es dann klar, daß die Geschichte von einerlei Volk in Asien anders lautet als in Euro-
pa539. GATTERER verfaßte eine vergleichende Abhandlung vom Standort und Ge-
.~Ü;ht.~p11inkt dP.s GP.schichtschreibers, in der Livius an einem möglichen teutsohen Li-
vius gemessen wird 540. Auch Schlözer, Wegelin, Semler oder Köster bedienten sich
der Wendung vom 'Sehepunkt' oder 'Standpunkt'. So auch HEss, der 1774 einen
solchen wählte, der ihm eine Vorstellungsart erlaubte, die ich für die schicklichste
sowohl in Rücksicht aufs Vergangne als mit Hinsicht aufs Künftige hielt 541 • So wurde
die Sichtweise des Chaldenius zum Gemeinplatz.
Die 'irren &ehr, die verlangt haben, daß e·in Gescli;icht,~1:hr„;i:1Jer s'ich WÜ!. ein Mensch ohne
Relig1:on, ohnP. Vaterland, ohne Familie anstellen soll; und haben n?:cht bedacht, daß S'ie
unmögliche Dinge fordern. Der Historiker komme wie der Beteiligte nicht umhin,
nach Herkunft, Stand, Interesse und Stellung seine Gesichtspunkte einzubringen,
so daß sich eine Geschichte post eventum immer verwandelt 512 • Und CHLADJo.:füVI:>
ging noch einen Schritt weiter, indem er die geRchichtsbezogene Perspektivik ab-
setzte von der parte·i·isclwn Er~ülil-uny, die wider Wissen und Gewissen die Begeben-
heiten vorsetzlich verdrehet oder verdunkelt ... Eine unparteiische Erzählung kann also
auch nicht so viel heißen, als eine Sache ohne alle Sehepunkte erzählen, denn das ist
einmal nicht möglich: und parteiisch erzählen, kann also auch nicht so viel heißen, als
eine Sache und Geschichte nach seinemßehepunkte erzählen, denn sonst würden alle
Erzählungen parteiisch sein.
Mit dieser Feststellung, daß perspektivische Urteilsbildung und Parteilichkeit nicht
identisch seien, hat Chladenius einen theoretischen Rahmen gespannt, der bis heute
nicht überschritten worden ist. Denn der Anspruch des Verstehens, das Postulat,
auch den anderen und den Gegner zu berücksichtigen, die Lelne, diH lleit Herder
jedem Zeitalter, jedem Volk und jedem Individium ihr eigenes Recht zuweist, kön-
nen nur eingelöst werden, wenn die Kriterien der Urteilsbildung und Darstellung
nicht auf eine bloße Parteinahme reduzierbar sind.
In anderer Hinsicht verblieb Chladenius noch im Vorfeld der geschichtlichen Welt,
deren Hermeneutik er erstmals umrissen hatte: seine Erkenntniskritik und -meta-

538 Ebd., 237.


5 39 THOMAS ABBT, Geschichte des menschlichen Geschlechts, soweit selbige in J!;uropa be-
kannt worden, vom Anfange der Welt bis auf unsere Zeiten. Aus dem großen Werke der
allgemeinen Welthistorie ausgezogen, Alte Historie, Bd. 1 (Halle 1766), 219.
540 J. C. GATTERER, Abhandlung vom Standort und Gesichtspunkt des Geschicht-

schreibers oder der teutsche Livius, GATTERER, Hist. Bibl. 5 (1768), 3 ff.
5 41 JoH. JAKOB HEss, Von dem Reiche Gottes. Ein Versuch über den Plan der göttlichen

Anstalten und Offenbarungen, Bd. 1 (Zürich 1774), XXIV.


542 CHLADENIUS, Geschichtswissenschaft, 166. 151.

697
Gesebiehte VI. 2. Geschichtliche Relativität und Zeitlfohkeit

phorik waren in erster Linie raumbezogen. Die einmal abgelaufene Geschichte war
ihm als solche ein unverrückbarer Gegenstandsbereich, auf den die Menschen nur
ihre verschieden gerichteten Blicke werfen. Daß auch der zeitliche Ablauf die Quali-
tät einer Geschichte ex post verändern könne, hat Chladenius noch nicht weiter
bedacht.
Die zeitliche Komponente der Perspektivik drängt sich aber - angeregt durch
Chladenius - schnell hoch. GATTERER bekam schon Zweifel: Die Wahrheit der
Geschichte bleibt im wesentlichen dieselbe: wenigstens setze ich dieses hier ... voraus,
ob ich wohl weiß, daß man auch dieses nicht allemal voraussetzen darf543. Büsen stellte
1775 fest: Indessen können neu entstehende Vorfälle uns eine Geschichte wichtig ma-
chen, welche uns vorhin wenig oder gar nicht interessierte, und er berief sich dabei auf
die Geschichte Hindostans, die erst seit zwanzig Jahren dur.ch die Engländer in den
allgemeinen Wirkungszusammenhang eingeholt worden sei 544 •
Daß die Geschichte selbst erst durch ihren Wirkungszusammenhang konstituiert
werde, ist die nächste Folgerung, die ScHLÖZER - noch beiläufig -1784 zog: Ein
Faktum kann, für jetzo, ·äußerst unbedeutend scheinen, und über lang oder über kurz;
für die Geschichte selbst, oder doch für die Kritik, entscheidend wichtig werden 545 . Im
Horj.zont der einheitlich konzipierten Weltgeschwhte konnten swh also rückwirkend
die Vorgegebenheiten in ihrem SteUenwert ve1·iindem.
Schließlich wurde der wachsende Zeitenabstand zur Vergangenheit nicht nur als
konstitutiv für deren Veränderung an gesehen. Es wurde noch die weitere Konse-
quenz gezogen, daß sich mit der wachsenden zeitlichen Distanz auch die Erkennt-
nischancen steigern. Damit wurde auch der Augenzeuge aus seiner bisher privile-
gierten - von Chladenius bereits relativierten - Stellung als wichtigster Quelle
verdrängt: die Vergangenheit wird nicht mehr durch mündliche oder schriftliche
Tradierung in Erinnerung gehalten, sie wird vielmehr im kritischen Verfahren re-
konstruiert. Jede große Begebenheit ist immer für die Zeitgenossen, auf welche sie
unmittelbar wirkt, in einen Nebel verhüllt, der sich nur nach und nach, oft kaum nach
einigen Menschenaltern wegzieht. Ist erst einmal genügend Zeit verstrichen, dann
erscheint die Vergangenheit dank der historischen Kritik, die auch den wahrheits-.
fördernden Anspruch des Parteigeistes einzukalkulieren weiß, in einer ganz andern
Gestalt 546 •
Mit der Verzeitlichung der Geschichte gewann die temporale Perspektive an metho-
dischem Rang. Auch hier war es die Heilsökonomie, die jetzt - wie bei Lessing -
als Zeitökonomie die geschichtlichen Vcriindcrungen progressiv auszulegen ermög-
lichte. Es gibt niemals eine unveränderliche Historie, sagt SEMLER 1788. Die Quer-
summe der Daten, Inhalt und Bearbeitung zeitigen von Mal zu Mal einen Unter-
schied. Dieser Unterschied ist geradehin unvermeidlich ... Er ist eine Folge der erha-
bensten Haushaltung Gottes in der Menschenwelt 547 .

643 GATTERER, Abhandlung vom Standort, 7.


644 BüscH, Encyclopädie (s. Anm. 437), ll8.
345 ScHLÖZER, Vorrede zu Mably (s. Anm. 512) 15, Anm.
646 PLANCK, Geschichte der Entstehung (s. Anm. 281), Bd. 1, VII; ders., Einleitung

(s. Anm. 465), Bd. 2 (1795), 243.


647 JoH. SALOMO SEMLER, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte

mehr aufzuklären (Leipzig 1787), 1 ff.

698
VI. 2. Geschichtliche RelatMtät und Zeitlichkeit Geschichte'

Ungleichheit, Veränderung und Abwechslung aller Umstände dauern immer wieder


fort, zur fernern moralischen immer andern Erziehung der Menschen. Auf diese vor-
aus liegende Geschichte aller ... Historiker habe man viel zu wenig geachtet, bevor
man ihre Texte las. Hieraus ließen sich die Stufen wachsender Erkenntnis ableiten,
die die später Geborenen befähigt, die parteilichen Interessen der früheren Genera-
tionen und ihrer Historiker zu entlarven. Genau das beabsichtigt Semler mit den
drei frühchristlichen Jahrhunderten zu tun. Wer die Unveränderlichkeit des Kirchen-
systems in seiner Geschichte behaupte, der fröne Vorurteilen und diene hierarchi-
schen Herrschaftsinteressen. Er verhindere die moralische Entfaltung der christ-
lichen Religion, und es kann keine größere Sünde wider alle historische Wahrheit ...
geben548.
Seitdem sie in die zeitliche Perspektive ihrer geschichtlichen Entwicklung getaucht
wird, ist aus der historisch-relativen Wahrheit eine überlegene Wahrheit geworden.
Voraussetzung dieser überlegenen Position war die perspektivische und - daraus
folgend wie bei Semler - die tatsächliche Andersartigkeit der Vergangenheit
gemessen an Gegenwart und Zukunft. Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umge-
schrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben,
11chriAh h11.lrl cfo.muf GolllTITl!l. E·i~~o uololw Notwendiykt:i:t t:nt.~tf:/1,t abtw nicht t.twa dalter,
weil viel Geschehenes nachentdukt worden, son1lm·n we·il 1wue An11Ü.Jltlen yeyeben werden,
weU der GenoRRll llinllr fortschreitcnden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen
sich das Vergangene auf eine nette Wei.~e übersdwuen und beurteilen läßt 549 . Seitdem
gewann auch die Geschichte überhaupt eine genuin zeitliche Qualität. Goethe hatte
eirni langf!a.m angewachsene geschichtliche Erfahrung ausgesprochen, die seit Chla-
denius gesammelt worden war: daß die Standpunktbezogenheit konstitutiv für
geschichtliche Erfahrung undfür historische Erkenntnis ist. Mit der Verzeitlichung
dieser perspektivisch gebrochenen Geschichte wurde es erforderlich, auch den eige-
nen Standort zu reflektieren, da er sich in und mit der geschichtlichen Bewegung
verändert. Diese Erfahrung wurde nun durch die abrollenden Ereignisse der Fran-
zösischen Revolution bestätigt: sie besonders übten konkreten Zwang aus, Partei
ergreifen zu müssen.
Deshalb forderte FRIEDRICH SCHLEGEL die offene Reflexion des eigenen Standortes.
Er verlangte vom Historiker, seine Ansichten und Urteile, ohne welche keine Ge-,
schichte, wenigstens keine dar.~tellende m .Ychreiben möglich ist, sowie seine rechtlichen
und glaubensn:iäßigen Grundsätze offenherzig darzulegen. Der Parteilichkeit sollte
man ihn nicht beschuldigen, wenn wir auch andrer Meinung sind als er, fügte er
ganz im Sinne von Chladenius hinzu 550 • Solange die Parteien der Vergangenheit in
der Gegenwart fortdauern, sei sogar eine doppelte Behandlung der Geschichte unver-
meidlich und notwendig. Eine Täuschung sei es freilich, wenn man die historische
Wahrheit einzig und allein bei den sogenannten unparteiischen oder neutralen Schrift-
stellern zu finden hoffe 551 • Die offene Frage war dahei, welches die rechte Partei sei,
derenStandpunktman beziehen müsse. Der politische Entscheidungszwang ging in

548 Ebd., 101 f.


549 GOETHE, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, HA Bd. 14 (i960), 93.
55 0 F. SCHLEGEL, Über die neuere Geschichte, Vorlesungen 1810/11, SW 1. Abt„ Bd. 7

(1966), 129.
551 Del's., Über Fox und dessen historischen Nachlaß (1810), ebd., 115 f.

699
Geschichte VI. 2. Geschichtliche Relativität und Zeitlichkeit

die Urteilsfindung ein. Schlegel suchte die Antwort geschichtsphilosophisch, indem


er sich zu dem großen Standpunkt der Geschichte zu erheben trachtete, der die lang-
fristige Richtung der dauernden Neuerungen anzeigt. Oder, wie er es später - in
der „Signatur des Zeitalters" - gedämpfter sagte: man dürfe nur ... nicht die
Partei als Partei gelten lassen ... Wir sollen zwar Partei nehmen für das Gute und
Göttliche, ... niemals aber sollen wir Partei sein oder gar machen 552 •
Im Hinblick auf die Aporie, die zwischen Wahrheitsanspruch und ihrer geschicht-
lichen Bedingtheit aufreißt, hat Schlegel fast die Position Hegels umspielt. HEGEL
wollte auf der einen Seite die Totalität aller Gesichtspunkte berücksichtigen, als er
seine philosophische Weltgeschichte vortrug 553 . Andererseits forderte er rückhaltlos
die Parteinahme für die Vernunft, für das Recht. Sie allein dürfe beanspruchen, die
wahre Geschichte zu erkennen, sie ergreift Partei für das Wesentliche 554 • ••• Es wird
altklug gesagt, daß man historisch verfahren müsse. Die Forderung nach Unpartei-
lichkeit habe nur Sinn, solange man damit das Vorgefundene gegen einseitige Ur-
teile schütze. Aber sie soweit auszudehnen, daß sie den Historiker in die Rolle des
Zuschauers dränge, der zweckfrei alles und jedes erzähle, heiße die Unparteilichkeit
selber zwecklos machen: Ohne Urteil verliert die Geschichte an Interesse.
Mi!; (]Hr Part.einahrne fiir die Vernunft„ cfoi 11!\r (1Hfi11i[,iontlrn eigentlich keine andere
ParLui zulüDL, lmL Hugul Üulliur uuuh uu11 SvrnuhuukLui:! uur frnm;üi:!ii:!uheu Revolu-
tionäre auf die Geschichte angewendet . .bJs bleibt seitdem das Dilemma aller histori-
schen Darstellungen, Parteinahmen entrinnen zu sollen, die beziehen zu müssen
gleichwohl ein Vorgebot geschichtlicher Erkenntnis ist. So plädierte GERVINUS, als
Propagator liberaler Politik, für das überkommene Postulat, unbefangen und unpar-
teilich zu sein. Widersprüche zu versöhnen scheint das Los des Historikers zu sein.
Glaube, Obrigkeit oder Vaterland dürften seinen Sinn nicht verwirren: und doch
muß er ein Parteimann des Schicksals, ein natürlicher Verfechter des Fortschritts sein.
Die Sache der Freiheit zu vertreten, sei unverzichtbar 555 .
Gegen diese Identifizierung der Standpunktnötigung mit einer politischen Partei-
nahme berief sich denn RANKE auf die extreme Gegenposition, die - scheinbare -
Zeitenthobenheit der historischen Wissenschaft: Gervinus, so sagte er in seinem
Nachruf556 , wiederholt häufig die Ansicht, daß die Wissenschaft in das Leben eingreifen
müsse. Sehr wahr, aber um zu wirken, muß sie vor allen Dingen Wissenschaft sein;
denn itnmöglfrh kann man se1'.nen Sta.ndpitnkt in dem Leben nehmen imd diesen auf die
Wissenschaft übertragen: dann wirkt das Leben auf die Wissenschaft, nicht die Wis-
senschaft auf das Leben ... Wir können nur dann eine wahre Wirkung auf die Gegen-
wart ausüben, wenn wir von derselben zunächst absehen, und uns zu der freien objekti-
ven Wissenschaft erheben. Ranke suchte letztlich der geschichtlichen Bedingtheit
seiner historischen Urteile zu entrinnen, wenn er jede Ansicht strikt ablehnt, die

552 Ders., Neuere Geschichte, 129; ders., Die Signatur des Zeitalters (1820/23), ebd.,

519 f.
553 HEGEL, Vernunft (s. Anm. 236), 32.
554 Ders., Einleitung (s. Anm. 404), 283; vgl. ebd., 134 f.; ders., Enzyklopädie (s. Anm.

382), 427 ff., § 549.


555 GEORG GOTTFR. GERVINUS, Grundzüge der Historik (Leipzig 1837), 92 ff.
556 RANKE, Georg Gottfried Gervinus, Gedächtnisrede v. 27. 9. 1871, Hist. Zs. 27 (1872),

142 f.

700
VI. 2. Geschichtliche Relativität und Zeitlichkeit Geschichte

alles Gewesene unter dem Standpunlct des heutigen Tages ansieht, zumal, da sich dieser
unaufhörlich verändert. Für Ranke blieb ihre geschichtliche Bedingtheit ein Ein-
wand gegen historische Erkenntnis.
Es kennzeichnet nicht nur die damaligen Parteinahmen; die in dieser Kontroverse
bezogen wurden, sondern ebenso und vielleicht noch mehr die Ambivalenz der
'Geschichte selber', daß sie alle Einwände, die gegen sie erhoben werden können,
gleich mitliefert. Das gehört zur Begrifflichkeit eines Leitbegriffes, der je nach Stand-
ort und Partei verschieden besetzbar blieb.
Daß sich die zeitliche Perspektive auf eine dauernd sich verändernde und schließlich
beschleunigende Bewegung bezog und gerade von dieser hervorgetrieben wurde,
hatte LöRENZ STEIN 1843 klar formuliert: Seit fünfzig Jahren beschleunige sich das
Leben. Es ist, als ob die Geschichtsschreibung der Geschichte kaum mehr zu folgen im
Stande sei. Und dennoch zeigt sich der näheren Betrachtung gerade das Entgegenge-
setzte. Wie alle jene verschiedenartigen Bildungen mit einem Schlage entstanden sind,
so lassen sie sich wiederitm mit einem Blick erfassen. Das ist der wesentliche Unter-
schied dieser Zeit von der vorherigen, daß in ihr das richtige Urteil mehr von dem Stand-
punkte, in jener mehr von der geschichtlichen Kenntnis bedingt wird 557 •
Stein hatte die geschichtliche Bedingtheit des jeweiligen Standpunktes als Voraus-
setzung geschichtlicher Erkenntni11 aheptiert. Denn wenn Rir1h die Zcitrhyt.luncn
der Geschichte selber verändern, bedarf es ihnen angemessener Perspektiven. Des„
halb suchte Stein die Bewegungsgesetze der Geimhichte, d. h. der Neuzeit zu erken-
nen, um eine Zukunft daraus abzuleiten, die er durch die Klar1:1tellung seines Stand-
punktes zugleich beeinflussen wollte. Die Diagnose kann um so eher eine Prognose
riskieren, wenn sie sich ihrer geschichtlichen Bedingtheit und Grenzen vergewissert.
Während die frühere Geschichte auf alle Überraschungen gefaßt blieb, weil sich
ihre Geschichten nicht grundsätzlich veränderten, scheint die Neuzeit unvorbereitet
für Überraschungen, weil sich die Zukmrlt nicht mehr unvermittelt aus der Erfah-
rung der Vergangenheit ableiten läßt. Geschichte hat, in den Worten FEUERBACHS
1830, nur das, was selbst das Prinzip seiner Veränderungen ist 558 • Damit ist der ge-
schichtliche Perspektivismus vollends aus einer Erkenntniskategorie zu einer aus
der Geschichte selbst herrührenden Grundbestimmung aller Erfahrung und Erwar-
tung geworden. Die zeitliche Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft hat
ihre eigene, eine geschicht,lir,l1e Qnali1.ii.1; gewnmrnn, die sich nur durch Einsichten
beurteilen läßt, die sich ihrer Relativität, ihrer 'Zeitlichkeit' bewußt bleiben. Des-
halb suchte ein damaliger Zeitgenosse sein Heil ... allein ... im Verstehen und Be-
nutzen unserer eigenen Zeit, die schon deshalb lehrreich ist, weil sie nicht mehr wie die
frühere eine schon gemachte Geschichte empfängt, um sie ungeändert den Nachkommen
zu überliefern 559 •
Eine Zeit, die immer als neue Zeit erwartet wird, kann gar nicht anders als eine Ge-
schichte aus sich hervortreiben, die nur perspektivisch erfahren wird. Mit jeder

557 LORENZ STEIN, Die Municipalverfassung Frankreichs (Leipzig 1843), 68.


558 LUDWIG FEUERBACH, Todesgedanken (1830), SW, hg. v. Wilhelm Bolin u. Friedrich
Jodl, 2. Aufl„ Bd. 1 (1960), 48; vgl. HANS BLUMENBERG, Die Legitimität der Neuzeit
(Frankfurt 1966), 74.
559 CLEMENS THEODOR PERTHES, Friedrich Perthes' Leben, 6. Aufl„ Bd. 3 (Gotha 1872),

360 (Brief eines Freundes an Perthes).

701
Geschichte VI. 3. Die Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung

neuen Zukunft entstehen neue Vergangenheiten. Es ist gar nicht abzusehen, was alles
noch einmal Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch we-
sentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte! (NIETZSOHE) 560 •

3. Die aufreißende Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung

Die Geschichte, schrieb NoVALIS 1799, setzt sich aus Ehemaligem und Künftigem
zusammen, aus Hoffnung und Erinnerung 561 • Diese klare Gleichung wurde zum
Problem. Der zeitliche Perspektivismus ergab sich aus einer Geschichte, die sich mit
wachsender Geschwindigkeit aus ihren Vorgegebenheiten zu entfernen schien. Die
Erfahrung eines Bruchs, der die Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft
auseinanderreiße, das Bewußtsein einer Übergangszeit ist seit der großen Revolu-
tion allgemein bezeugt. Seitdem treten auch die Blickrichtungen in eine zu schaf-
fende Zukunft und in eine zunehmend verloren gehende und nur historisch wieder-
zugewinnende Vergangenheit auseinander, obwohl sie zunächst noch beide vom
Begriff der Geschichte abgedeckt werden. Es bildet sich im Laufe des 19. Jahrhun-
derts eine gewisse Unterscheidung heraus, die di11 Znk1mftsdim11nRinn m11hr dem
'Fortschritt', die der Vergangenheit mehr der 'Geschichte' zuweist, obwohl sieh dieses
Begriffäpaar keineswegs nur antithetisch,verwenden ließ. ln der als '.l!;ntwicklung'
gedachten Geschichte fanden sie zusammen.
Das Wissen, um 1800 herum an einer epochalen Wende zu stehen, war allgemein
verbreitet. Alle Vergleiche unserer Zeit mit den Wendepunkten in der Geschichte ein-
zelner Völker und einzelner Jahrhunderte sind viel zu kleinlich, schrieb PERTHES naeh
dem Sturz Napoleons; nur dann wird man die unermeßliche Bedeutung dieser Jahre
ahnen können, wenn man erkennt, daß unser ganzer Weltteil sich in einer Übergangs-
zeit befindet, in welcher die Gegensätze eines vergehenden und eines kommenden halben
Jahrtausends zusammenstoßen 562 • Perthes' Schriftwechsel stellt einen Resonanz-
boden der damaligen Öffentlichkeit dar, und so verweisen denn auch zahlreiche
Briefstellen auf jene Erfahrung der Beschleunigung, die als spezifisch für die an-
hebende neue Zeit bezeichnet worden war. Je unmittelbarer die Geschichte das Auf-
einanderfolgende zusammendrängt, um so he/t'iger ·und allgemeiner w-ird der Streit sein.
Frühere Epochen kannten Richtungswechsel nur über Jahrhunderte hinweg:
unsere Zeit aber hat das völlig Unvereinbare in den drei fetzt gleichzeitig lebenden Ge-
nera.tüinen vereinigt. Die u,ngehei1ren Gegenslitze der Jahre 1750, 1789 und 1815 ent-
behren aller Übergänge, und ersche·inen n·icht als e·in N aclteoinander, sondern als ein
Nebeneinander in den fetzt lebenden Menschen, je nachdem dieselben Großväter, Väter
oder Enkel sind. Mit dieser Diagnose der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hatte
Perthes einen Maßstab für die unglaubliche Schnelligkeit des Wandels gewonnen 563 •
Die existentielle Erfahrung einer immer schneller dahinschwindenden Vergangen-
heit entfachte gegenläufig - gleichRam kompensatorisch - überall die Lust und
Neigung zur Geschichte. An allen Orten und Enden, schrieb Perthes anläßlich seiner
Förderung der „Monumenta Germaniae historica", wenden sich fetzt die Gelegen-

66,0 NIETZSCHE, Die Fröhliche Wissenschaft (1882/86), Nr. 34. Werke, Bd. 2 (1955), 62.
561 NovALis, Heinrich von Ofterdingen 1, 5. GW Bd. 1 (1960), 258.
662 PERTHES, Leben, Bd. 2, 240 f.
663 Ebd„ 146 f.

702
VI. 3. Die Kluft zwischen Erfahnmg und Erwartung Geschichte

lteit1J1Jcltr'i/ten, d'ie P'fU'v·inzü1,lbUitter, d·ie Scku~pruyrwmme, welclte a'ußerltalb delJ Marktes


der <Jroßen Literatur erscheinen, der Geschichte, meistens der Lokal<Jeschichte zu und
geben Zeugnis von der ernsten Liebe, mit welcher unsere Vorzeit betrachtet wird 564•
In solch offenbar günstiger Marktlage suchte Perthes seine „Europäische Staatenge·
schichte" zu lancieren. Aber er hatte Schwierigkeiten, die sich aus der neuen ge-
schichtlichen Erfahrung der Beschleunigung ergaben. Sie ließ die professionellen
Historiker zögern, moderne Geschichten zu verfassen, besonders solche, die wie
früher üblich bis zur 'Zeitgeschichte' heranführen sollten.
Die drei Dimensionen der Zeit schienen auseinanderzubrechen. Die Gegenwart sei
zu schnell und zu provisorisch. Uns aber fehlt es durchaus an einem gewonnenen
festen Standpunkt, von dem aus sich die Erscheinungen betrachten, beurteilen und
h.ina.b bis zu uns führen la.ssen, schrieb ihm RIST. Man lebe in Zeiten des Untergangs,
der erst begonnen hat. Und PoEL bestätigte das: Ist nicht überall im bürgerlichen,
politischen, religiösen und finanziellen Leben der Zustand ein provisorischer? Aber
nicht das Werden, sondern das Gewordene ist das Ziel der Geschichte. Das zu erkennen
falle immer schwerer, weil sich die Zukunft immer rascher verändere. Wo ist der
Mann, der die ungeheuren Umwälzungen einer nahen Zukunft auch nur im Dämmer-
Uclae sieht? Der Verwandlungsprozeß greife zu tief, als daß man schon eine Geschich-
te der Vergangenheit schreiben könne. Selbst die Lcgitimistcn, die sich dem Gange
der Zeit entgegen.stemmten, stützten sich nicht auf die Vergangenheit. Und eine Ge-
schichte der Gegenwart zu verfassen, verbiete sich dem distanzierten Historiker,
denn sie helfe höchstens den Parteienstreit entfachen. Das Fazit all dieser Überle-
gungen war: Von einer Geschichte, die jetzt geschrieben wird, läßt sich nicht.~ Bleiben-
des, n·icltt w·irkl·iclte Gesclt'icltte erwarten. Die 'Gel:lchichte' der Historiker wurde also
- im Unterschied zum Sprachgebrauch unseres Verlegers - mit Dauer assoziiert.
Mit anderen Worten, die Beschleunigung der Geschichte hinderte die Historiker an
ihrem Beruf. Tatsächlich aber änderten sie die Stoßrichtung ihrer Arbeit; sie warfen
sich auf die Forschung, die eine verlorengehende Vergangenheit rekonstruieren
sollte. Das gaben auch unsere Zeugen 1822 zu: daß die Begebenheiten unserer Zeit in
einzelnen Menschen das Bedürfnis einer gründlichen geschichtlichen Forschung er-
weckt haben 565 • Die Stiftung der 'Geschichte' als methodisch-strenger Vergangen-
heitsforschung, wie sie Hegel schon ironisiert hatte, fällt genau in diese Jahre, als
sich der überkommene Erfahrungsraum immer weniger mit den auftauchenden und
hochschnellenden Zukunftserwartungen zur Deckung bringen ließ. Bald entstand
das bittere Wort DAHLMANNS von einer Historie, viel zu vornehm, um bis auf den
heutigen Tag zu gehnsss.
Die Französische Revolution hatte, in den Worten des „Brockhaus der Gegenwart"
eine blutige Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft gezogen 567, die auch den
Geschichtsbegriff selber perspektivisch brach und janusgesichtig machte, je nach-
dem, in welcher Richtung er verwendet wurde. lMMERMANN, in die aktuelle Diskus-
sion über historische Dichtungen eingespannt, unterschied damals drei Stadien eines
ge.iehichLlichcn E!'lJigni.i.ie.i: uie er.iLe rnytlt·isclte Phal:le Heiner· Entstehung, die zweite

664 Ebd., Bd. 3, 22.


565 Ebd., 24 ff.
566 FRIEDR. CHRISTOPH DAHLMANN, Die Politik, 3. Aufl. (Leipzig 1847), 291.
567 SCHULZ, Art. Zeitgeist (s. Anm. 383), 464.

703
Geschichte VI. 3. Die Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung

des Geschehens selbst nannte er historisch und die dritte schließlich historiogra-
phisch. Da ist es mit der eigentlichen Geschichte vorbei, und das Stadi?tm der Ge-
schichtsforschung ward betreten568 .
Die Diskontinuität wird zum ersten und entscheidenden Kriterium der neuzeitlichen
Geschichtserfahrung, soweit sie von der großen Revolution geprägt worden war.
MACAULAY hat das in einem Vergleich zwischen England und Frankreich apostro-
phiert. In England sei die Historie immer noch vom Parteigeist vergiftet, denn wo
die Geschichte als ein Repositorium von Urkunden betrachtet werde, seien die Vor-
gänge des Mittelalters noch immer gültig. Die Vergangenheit blieb gegenwärtig im
Maß, als sie rechtlich wirksam war. Anders in Frankreich, wo man die Geschichte
distanziert behandeln könne: Der Abgrund einer großen Revolution trennt das neue
System vollkommen von dem Alten569 •
Durch die Revolution befreiten sich die Franzosen von ihrer Geschichte, wie es RosEN-
KRANZ mit dem Blick auf die Vergangenheitsgeschichte ausdrückte 570 . Umgekehrt
konnte SOHM 1880 der deutschen historischen Schule in Hinsicht auf die aktuelle
'Geschichte' vorwerfen, sie habe den Bruch mit der Geschichte fördern helfen571.
So schillert der Begriff der Geschichte, entsprechend der gebrochenen Erfahrun~,
die ihn prägt. Einmal nur die entschwindende Dauer der Vergangenheit meinend,
konnte er eben,so die a11halte11rle W1mrhm13 ~.ur Zulu111fl, f11ril1wn, di1:1 Rü:.hLuug
anzeigen, die einzuschlagen sei. Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu reali-
sieren, ist der elastische Punkt der progre.~.~i11fm. Rildung 1tnd der Anfang der modernen
Geschichte, wie SCHLEGEL 17\m notierte 5 n. Die~ charakterisiert den Erwartungs-
horizont, wenn nicht gar den Sprachgebrauch der Revolutionäre, in Deutschland
später der Hegelianer, besonders der Linken unter ihnen. Die Geschichte will Ent-
wicklung, neue Gestaltungen, Fortschritt und Umändrungen, wie BRUNO BAUER
betont 573 • Die Hinwendung zur Zukunft konnte, in Absetzung von einem quieti-
stisch verstandenen Hegel, soweit vorangetrieben werden, daß die Geschichte über-
haupt nur noch als eine Geschichte der Zukunft begriffen wurde. FEUERBACH er-
wartete in einem Schreiben an Hegel - 1828 - eine neue Geschichte, eine zweite
Schöpfung, den Untergang der bisherigen Geschichte 574 . - Darum ist die Feststellung
der Erkennbarkeit der Zukunft eine unentbehrliche Vorfrage für den Organismus der
. Geschichte - wie CIESZKOWSKI 1838 folgerte 57 5. Die Rückständigkeit bisheriger

568 KARL IMMERMANN, Memorabilien (1839), Werke, hg. v. Harry Maync, Bd. 5 (Leipzig,

Wien [1906]), 230 f.


569 THOMAS BABINGTON MACAULAY, Die Geschichte Englands seit dem Regierungsantritte

Jacobs II., dt. v. Friedrich Bülau, Bd. 1 (Leipzig 1849), 22 f.


576 KARL ROSENKRANZ, Aus einem Tagebuch. Königsberg Herbst 1833 bis Frühjahr 1846

(Leipzig 1854), 199; die Notiz stammt von 1834.


571 RUDOLF SoHM, Fränkisches und römisches Recht, Zs. f. Rechtsgesch„ germanist. Abt. l

(1880), 80; vgl. F.RNRT-WOT.'FOANO 'RÖ<TKF.Nli'ÖR.ml, niP. HiFJfori1>che Rechfaschule und das
Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: Collegium Philosophicum, Fsclir. JOACHIM
Rr1"l'J!JH. (Basel, Stuttgart 196:1), 24.
57 2 SCHLEGEL, Athenäums-Fragm. Nr. 222. SW Bd. 2, 201.
573 BRUNO BAUER, Die Juden-Frage, Dt. Jbb., Nr. 274 (1842), 1094.
574 Briefe von und an Hegel, hg. v. JOHANNES HOFFMEISTER, Bd. 3 (Hamburg 1954), 246 f.
575 AUGUST GRAF CrnszKOWSKI, Prolegomena zur Historiosophie (Berlin 1838), 9.

704
VI. 3. Die Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung Geschichte

Erfahrung gemessen an der zu erwartenden Zukunft kennzeichnete den neuer-


schlossenen, utopischen Erwartungshorizont. So ging es BRUNO BAUER darum, der
Geschichte ein für allemal ihren neuen Weg zu bereiten 576 • - Wir können unsere Ver-
gangenheit nicht anders fortführen, als durch den entschiedensten Bruch mit ihr, schrieb
RuGE 1843 an MARX, der sich aber - hegelnäher - auf die innere Bewegung der
Geschichte berief: Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedanken-·
strich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der
Gedanken der V ergangenheit 577 •
Marx, der Deutschland unter dem Niveau der Geschichte stehen sah 578, der dessen
Rückstand beschleunigt aufzuholen strebte, indem es seine Philosophie zu ver-
wirklichen habe, Marx verlegte den Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft
selber in die Zukunft: Ist eret einmal dor homiohaftofroio Zuotand doo Kommuniß-
mus erreicht, dann verwandelt sich alle bisherige Geschichte in Vorgeschichte. Mit
dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesell-
schaft ab 579 • Die tatsächliche Geschichte wird zur Vorbereitung einer Zukunft degra-
diert, deren Erwartung permanent reproduziert wird und reproduzierbar bleibt.
Marx und ENGELS glaubten es empirisch begründet - in der „Deutschen Ideologie"
-- , daß du.roh dio komm1f.niotioolw Revoli"tion . . . die Befreiung jedes einzelnen
Indi-viduums ·in demselben Maße dwrchgesetzt wird, ·in dem d·ie Ge:sclvivltw :s·ivlt 'VUll-
ständig in Weltgeschichte verwandelt 580• Der Kommunismus ist das aufgelöste Rätsel
der Geschichte und weiß sich als di:ese Lö.~11,ng 581 - nie Erwartung hat die Erfahrung
vollends verschluckt.
So mußte der Begriff der Geschichte dazu dienen, alle temporalen Erstreekungen
abzudecken, von der erfahrungsarmen Zukunftshoffnung bis zur erwartungs-
losen Vergangenheitsforschung. Die dritte, hier nicht weiter zu verfolgende Kom-
ponente, beides über den Begriff der 'Entwicklung' 582 zu verinitteln, war in der
Alltagssprache des 19. Jahrhunderts wohl am meisten verwendet worden. Der Appell
an die einmal entdeckte 'eine Geschichte' rief ein so vielfältiges Echo hervor, wie
es 'Standpunkte' gab. Jedenfalls induzierte die Differenz zwischen Erfahrung und
Erwartung eine zeitliche Dauerspannung, aus der 'Geschichte' in ihrer jeweiligen
Einmaligkeit hervorzugehen schien.
Dafür ist nun kennzeichnend der ebenso ambivalente Gebrauch des Ausdrucks
'Historismus', als er aufkam. DaR Wort Hi:.~tnri.~m, erRtmalR bei NovALIS belegt und
dort undeutlich mit OonfusionsSystem und Mystizism assoziiert 583, wird erst im
Vormärz definitorisch in die Wissenschaftssprache eingebracht.

078 BRUNO BAUER, Die gute Sache der Freiheit. und meine eigene Angelegenheit (Zürich,

Winterthur 1842), 209. Zum Ganzen HORST STUKE, Philosophie der Tat (Stuttgart 1963).
577 ARNOLD RuGE, Brief an Marx v. August 1843, Dt.-Franz. Jbb. (Paris 1844; Ndr.

Amsterdam 1965), 36; MARx, Brief an Ruge v. September 1843, ebd., 39 u. MEW Bd. 1
(1957), 346. .
578 MARx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, 380.
579 Ders„ Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort 1859, MEW Bd. 13 (1961), 9.

580 MARx/ENGELS, Dt. Ideologie, MEW Bd. 3, 37.


581 MARx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Erg. Bd. 1 (1968), 536.
582 ---+ Entwicklung.
58 3 NoVALIS, Allg. Brouillon, Nr. 927. GW Bd. 3, 446.

45-90386/1 705
VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik Geschichte

FEUERBACH bezeichnete in den vierziger Jahren mit 'Historismus' „ein durch ein
falsches Geschichtsverhältnis deformiertes Bewußtsein" 584 und konnte den Histori-
ker Heinrich Leo die personifizierte Mißgunst des Historismus gegen die gesunden
Blutstropfen der Gegenwart heißen 585. Während Feuerbach kraft des negativen Aus-
drucks 'Historismus' die Geschichte bereits von ihrem Bezug zum Leben und zur
Wahrheit abtrennt, konnte gleichzeitig BRANISS mit demselben Wort noch eine
zukunftsgerichtete Geschichtsphilosophie bezeichnen. Diese umfassende Wissen-
schaft begründe - im Gegensatz zum Naturismus - die große Zeit der sich selbst-
bewußt vollbringenden Weltgeschichte, die schon begonnen habe 586 .
Auch die dritte Position, den übergreifenden Entwicklungszusammenhang beto-
nend, konnte als 'Historismus' bezeichnet werden: der wahre Historismus gründe
auf den Lehren Lessings und Kants und fasse die Weltgeschichte im weitesten Sinne
als ein Ganzes, als die einheitliche, nach Vernunftgesetzen notwendige Entwicklung
eines Prozesses, - so definierte ihn 1852 FELIX DAHN, seinen Lehrer Prantl wieder-
gebend587.
Erst im 20. Jahrhundert griff die von Feuerbach gestiftete negative Bedeutung uin
sich, die Verfallenheit an eine bereits abgestorbene Vergangenheit meinend, -
wogegen Troeltsch, Meinecke oder Ilothacker die unüberholbare Erfaluung ge-
HehiehLlieher RelaLiviLiiL und ihre wfasenschaftliche Verarbeitung betonten. So hat
die neuzeitliche Geschichte rund hundert Jahre nach ihrem Beginn einen ihr korre-
spondierenden Bewegungs- und Reflexionsbegriff evoziert, der heute wiederum einer
scharfen Ideologiekritik 11nterimg1m wiril. Nun eehört P.R fff1ilich :;mm nr.m:r.it,lir.hP.n
Begri:ft' der Geschichte, daß er von Anfang an ideologieanfällig und damit ideolo-
giekritisch in Frage zu stellen war. Diese Ambivalenz, die in den bisher dargestellten
Mehrdeutigkeiten enthalten war, teilt der Begriff mit den übrigen Leitbegriffen der
Moderne.

4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik

Die Geschichte wird wohl als Schiedsrichter angerufen, aber doch nur scheinbar; denn in
Wahrheit gebraucht jeder die historischen Tatsachen nur als Mittel, um seine bereits
vorhandene unumstößliche Mein11in{J ü1, ralntl·i,~t·1:.~nlw:r We-ise z·u. be.yrünt.len ·uncl zu
rechtfertigen - diese Beobachtung machte ÜAJUS GRAF REVENTLOW 1820, als er
die damals entfachte Adelsdebatte beschriebb 88 • .Nun gehört die Verwendung histo-

684 GUNTER ScHOLTZ, „Historismus" als spekulative Geschichtsphilosophie: Christlieb

Julius Braniß 1792-1873 (Frankfurt 1973), 130; dort die bisher vollständigste Begriffs-
geschichte zu 'Historismus', die auch im Folgenden verwendet wird.
686 FEUERBACB:, Über das Wunder (1839), SW 2. Aufl. (fl. Anm. 558), llc'I. 7 (1060), 1.1..

5 86 ÜHRISTLIEB Juuus BRANISS, Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart als leitende
ldee im akademischen l::ltudium (ßreslau 1848), 106 :lf. Dazu 8CHOLTZ, „Historismus",
125 ff.; ders., .Art. Historismus, Rist. Wb. d. Philos., Bd. 3 (1974), 1141 ff.
687 FELIX D.AHN, Für freie Forschung gegen Dogmenzwang in den Wissenschaften, Philos.

Studien (Berlin 1883), 95 ff.; zit. ScHOLTZ, „Historismus", 132 ff.


5 8 8 Zit. PERTHES, Leben (s. Anm. 559), Bd. 2, 192.

706
VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik Geschichte

rischer Argumente seit alters zum rhetorischen Geschäft, sei es um rechtliche oder
soziale, theologische, moralische oder politische Positionen zu verstärken. Aber
derartige Argumente gewannen an Gewicht, als die Geschichte zu einer Art letzter
Begründungsinstanz aufrückte. Zugleich verloren sie an Eindeutigkeit, weil sie
sofort in die perspektivischen Fluchtlinien glitten, die den neuzeitlichen Geschichts-
begriff kennzeichnen. Geschichtliche Beweisführungen gerieten, seit 'Geschichte'
zum Reflexionsbegriff geworden war, in einen Sog zur Mehrdeutigkeit. Sie konnten
ideologiekritisch eingesetzt werden, wurden aber dementsprechend selber ideolo~
gieanfällig.
GöRRES hat diesen unumkehrbaren Vorgang bedauernd registriert. Bisher sei die
Geschichte Lehrerin des Lebens gewesen, da hatte man noch herzhaft an das Dasein
einer großen, unverwüstlichen objektiven Wahrheit geglaubt ... Die neue Zeit hat diesen
Glauben ganz verloren, die Regel aller Wahrheit ist ihr dem subjektiven Verstande ein-
gepfianzt; alles historisch Objektive aber, ein Erzeugnis der Vorurteile, Irrtümer, Be-
fangenheit finsterer Jahrhunderte, muß sich erst bei diesem Wardein bewähren.
Die bisher geschilderten Bemühungen von Aufklärung und Geschichtsphilosophie,
'die Geschichte selber' in ihrem prozessualen Charakter zu erkennen, werden von
Görres auf ihr1m 1mbjektivifJtifJohon Amm.tz reduziert. Nach der selbstkonstruierten
Natur, dem selbstfäbrizierten Staat, der selbsLge111u1JhL1J11 Kirche urnl dem i,ielbst-
gemachten Bilde Gottes mußte zur Ergänzung des Apparats auch noch eine selbst-
geschaffene Geschichte nachgeliefert werden. Und es wmde rasch zum Werk geschritten,
statt der gefundenen Geschichte wurde d·ie erfundene eingeführt. Dabei h11rnfole eR Rir.h
um eine riicklä1tfige Geschichte, die von heutiger Warte aus altklug doziert
werde 680 •
Görres war also in seiner Kritik bereits einen Schritt weitergegangen. Weniger die
situativen Lügen moniert er; vielmehr sieht er in dem transzendentalen Ansatz,
Geschichte nur über eine Theorie möglicher Geschichten zu verarbeiten, selbst
schon einen Zwang zur Mißdeutung enthalten. Eine solche Geschichtsschreibung
könne gar nicht anders, als die Tatsachen den vorgefaßten Meinungen zu beugen.
Aber wie war der Beliebigkeit anders zu entrinnen, als wenn man seine theoretischen
Prämissen aufdeckt~ Dies nicht zu tun, indem man sich eben auf 'die Geschichte'
berief, war der ideologiekritische Vorwuif, den KARL HEINRICH HERMES 1837 gegen
die historische Schule erhob. E.~ gibt wen:ÜJ A11„s1lrüc:ke in itnserer Sprache, mit denen
ein sträflicherer Mißbrauch getrieben wird, als mit dem Worte geschichtlich. Geschichte
he1:ßt bekanntUch alles, was geschieht und geschehen Wird, - die Dimension der Vcr-
gangenheit spart Hermes vorsorglich aus; aber nicht darin liegt seine Pointe, son-
dern er betont den höchsten Allgemeinheitsgrad, der dem Begriff der Geschichte
innewohnt, so daß er eigentlich nichts auszuschließen erlaube. Ebenso wie es am
Ende nichts gibt, was außerhalb der Geschichte läge, gibt es auch nichts, was nicht in
dem einen oder in dem andern Sinne geschichtlich wäre.
Es sei durchaus willkürlich, wenn die Vertreter der historischen Schule glauben,
gar keines Beweises rnelir zu bedürfen, sobald s·ie -irgend etwas, das ihnen gerade in den
Wurf kommt, geschichtlich nennen. Ebernm könn11 man 'nng11R11hir.htli.ch' sagen, da

689 GöRRES, Die wahre und falsche Geschichte, Eos, Nr. 59 (1828), Ges. Sehr., Bd. 15

(1958), 49 f.

707
Geschichte VI. 4., 'Geschichte' zwischen Ideologie und ldeolo!Pekritik

es sich bei der Wortverwendung nur um vorgefaßte Meinungen handele. Vollends


uneinsichtig sei, wieso alles Geschichtliche nur sein solle, was Anspruch auf ewige
Dauer habe. Wieso sei die Entwicklung mehr geschichtlich als die Revolution, das
Entstehen mehr als das Vergehen ? Wieso dürfe man - mit Steffens - behaupten,
daß alles, was die Geschichte mit uns wolle, bewußtlos geschehe. Dann gelte nur noch
das als geschichtlich, von dem wir nicht wissen, wie und warum es geschieht 590•
Die Kritik von Hermes richtete sich also speziell gegen die einseitig vergangenheits-
bezogene und auf Dauer eingestellte Verwendung des Geschichtsbegriffs - darin
sah er eine innere Verlogenheit der historischen Schule. Darüber hinaus zeigte
Hermes jenen semantischen Befund, der jedermanns Zugriff offenstand. Die 'Ge-
schichte', 'das Geschichtliche' waren schnell abrufbare Blindvokabeln geworden,
die wegen ihrer universalen Sinnzone und ihrer allgemeinen Verwendbarkeit nichts-
sagen<l werden konnten. Darin lag ihre - gleichsam semantische - Ideologiean-
fälligkeit enthalten: Darin aber lag ebenso ihre politische und soziale Verwertbar-
keit beschlossen.
Der Streit um GeschichLe, speziell um ihren Begriff, war nicht nur ein methodischer,
wissenschaftstheoretischer oder wissenschaftspolitischer Streit. Er reichte tief in
die politische und soziale Dimension des Sprachfeldes, denn dem Begriff wohnte als
einem generellen Bewegungsbegriff auch jene integrative und distanzierende Kraft
inne, die politisches Handeln motivieren konnte. Das zeigt sich in der Zensurpolitik
und ihrem Spottvogel, der politischen Lyrik.
Sobald die ständisch entgliederten Massen gesellschaftlich und politisch zu neuer
OrganiRation hcrauRfordcrtcn, wuchs die Rolle des Geschichtsunterrichts. Er war in
der Revolution und während der Restauration von entgegengesetzten Motiven ge-
leitet, Amnesieklauseln wurden allenthalben eingearbeitet, und so entstand das
Diktum DROYSENS : Allerhöchste Befehle setzen fest, was der Geschichte dafür gelten
soll, geschehen zu sein°91 •
Gegen derartige Steuerungspraktiken richtete sich die politische Lyrik, die kritisch
zerlegten Begriffe in die Öffentlichkeit tragend. HOFFMANN VON F ALLERSLEBEN
lachte über „Die historische Schule", die den Thronen nahestand. Ihr stützt euch auf
Geschichte, / Und sucht nicht was ihr suchen sollt, / Und findet was ihr finden wollt
- / Das nennet ihr Geschichte!/ Und das Alte gehet doch zunichte 592 • GLASSBRENNER
zog 1844 nach, als er „Die Geschichtlinge" verspottete: Wir hängen uns selber nun
wnd 'm:e /Am Weltgericht der Geschichte! - /Denn wir hassen auch ihre Despotie,/ Ihr
dummen gelehrten Wichte! 593 Am deutlichsten verschob FRIEDRICH VON SALLET den

590 HERMES, Steffens und die geschichtliche Schule (1837), in: ders., Blicke aus der Zeit

(s. Anm. 409), Bd. 1, 314. Hermes hatte Schwierigkeiten gehabt, sich in Breslau zu
habilitioron; BROOKII.Aus, CL Gegenwart„ Bd. 2 (1839), 851.
591 JoH. GusTAV DROYSEN, Das Zeitalter der Freiheitskriege (1843/46), hg. v. E. E. Leh-

mann (Berlin Ll!H8J), 256.


692 HEINRICH HOFFMANN v. FALLERSLEBEN, Die historische Schule, in: ders., Unpolitische

Lieder, Bd. 2 (Hamburg 1841), 5L


093 ADOLF GLASSBRENNER, Die Geschichtlinge (um 1844), in: Um Einheit und Freiheit

1815-1848, hg. v. ERNST VOLK.MANN, DLE Polit. Dichtung, Bd. 3 (Leipzig 1936), 223.

708
VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik Geschichte

Sinn der Geschichte in einen revolutionären Handlungszusammenhang: In unsrem


Wörterbuche heißt sie: Taten, / Das Werdende, und nicht das Alterstarrte ... / Ge-
schichte! ja, du Element des Lebens!/ ... Geschichte heißt das Stürmen der Bastillen/
Und der Debatte Stürmen im Konvente ... 594
Je nach politischer Intention ließ sich das Bedeutungsfeld des elastischen Allge-
meinbegriffs verschieben, und darin lag gerade die Effizienz seiner Verwendung
beschlossen. Denn jedermann war potentiell davon betroffen, und es ging dabei
nicht um eine Erkenntnis der Vergangenheit, sondern, in NIETZSCHES Worten, um
die prinzipielle Fälschung der Geschichte; damit sie den Beweis für die moralische
Wertung abgibt 595 . Je funktionaler zu politischen Interessen die 'Geschichte' gehand-
habt wurde, desto mehr verfiel sie einer grundsätzlichen - nicht nur gewollten -
Fälschung, cincr Ideologiej der sie schon am1 Gründen der moralischen Selbsterhal
tung der Wortverwender nicht mehr entraten zu können schien.
Wie sehr 'Geschichte' funktional zum Handeln begriffen wurde - ohne freilich
darin aufgehen zu müssen-, das zeigt der Einsatz des Begriffs, um die Unterschich-
ten, besonders die neu entstehende Fabrikarbeiterklasse, zu erreichen und zu inte-
grieren. 1843 meinte WILHELM SCHULZ, die Völker fangen <Jerade erst an, zum Gefühl
ihrer Bedeutung zu. kommen. Darum haben sie noch wenig Sinn fur ihre Geschichte
nnd 'lli1~·rd11n 'l71m, n·1:nht ,,,11,,,,.,. hahlln, h·1:11 11·ifl t1l'llh11t d·1:,,, (t,,,.~n1111:nhtll mAml,,,1n, 7n:.~ 11·1:,, m,ll'11r 11,l,;
ein toter Stoff sind, aus dem sie von einigen privilegierten Classen gemacht wird 596 .
Und Schulz' ganzes literarisches Engagement zielte darauf, dieses Volk durch Auf-
klärung über seine geschichtliche Potenz in Bewegung zu seizen. - Daß d·ie welt-
geschichtliche Bedeittung der Maschinen das Kraftbewußtsein besonders der Fabrik-
arbeiter steigert, war HILDEBRANDS Diagnose. Zunehmend fühle der Arbeiter der
Gegenwart, der im Verkehr mit den Maschinen aufgewachsen ist, daß er mit den Fähig-
keiten seines Kopfes und seines Armes auch an dem großen Baue der Geschichte mit-
arbeitet597.
'Geschichte' diente so gut als Kampfparole wie sie gesellschaftlich integrierend ein-
gesetzt werden konnte. Schließlich wurde der Begriff - in analogem Kontext -
dämpfend und beschwichtigend verwendet. Der Fabrikarbeiter sei familien- und
heimatlos, wie RIEHL kurz darauf sagte, er suche seine Genossenschaft nicht in der
Vergangenheit oder Gegenwart, sondern in den unbegrenzten Weiten der Zukunft . . . Er
hat kp,1:np, (J-p,.~ch1:ch.te; das ganze Wp,,~p,n dp,r d11,rch.ai1,.~ modp,rnp,n Masch.inp,n1>ndu.~trw
lenkt seinen Sinn vom Historischen ab. So wurde der gleiche Befund mit denselben
Begriffen fast diametral entgegengesetzt diagnostiziert. Und .H.iehl folgerte, nach-
dem er seine Ideologiekritik aus dem Blickwinkel der Vergangenheit geliefert hatte,

5 "" FRIEDRICH v. SALLET, Geschichtliche Entwicklung, Ausg. Gedichte, hg. v. Max

Hf1nnine (Fmnkfnrt. mm), 190 f.


595 NIETZSCHE, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke, Bd. 3 (1956), 518.

• 90 W1Lli.l!JLM SuHuLz, Die Bewegung der Productlon. Eine geschichtlich-statistische Ab-


handlung zur Grundlegung einer neuen Wissenschaft des Staats und der Gesellschaft
(Zürich, Winterthur 1843), 155 f.
597 BRUNO HILDEBRAND, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848), hg.

v. H. Gehring (Jena 1922), 185 f.

709
Geschichte VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik

ein Programm, das Schulz zuvor aus umgekehrter Blickrichtung entlarvt hatte.
E.~ g!:lt alw. folgerte Riehl, dem Fabrikarbeiter allmähüch eine Ge.schichte z11. .~chaffwn,
eine Heimat, eine sociale Schranke, die er zunächst in einer Familie finden müsse 598 •
In· dieser Lage entgegen- und auseinanderlaufender Begriffsverwendungen lieferte
MARX eine Ideologiekritik, die den herrschenden Sprachgebrauch insgesamt von
einer eigenen Geschichtstheorie her aufschlüsselte. Marx verspottete Bruno Bauer,
wieso ihm die Geschichte dazu da sei, um zum Konsumtionsakt des theoretischen Es-
sens, des Beweisens zu dienen. Und er fragt suggestiv, was das für eine Geschichte
sei, damit die Wahrheit zum Selbstbewußtsein komme. Die Geschichte wird dahe1', wie
die Wahrheit, zu einer aparten Person, einem metaphysischen Subjekt, dessen bloße
Träger die wirklichen menschlichen Individuen sind. Und Marx zeigt das an einer
Serie von Phrasen: „Die Geschichte läßt ihrer nicht spotten, die Geschichte hat ihre
größten Anstrengungen darauf verwandt, die Geschichte ist bescliä/t·iyt worden, wozu
wäre die Geschichte da?" usf. 5 99
Die längsten geschichtstheoretischen Beweisgänge der Marxschen Ideologiekritik
sind wege:r:i der posthumen Veröffentlichung der „Deutschen Ideologie" erst in un-
serer Zeit wirksam geworden. In deren Anfangspassagen liefern Marx und ENGELS
ein forma.leg Kategoriennetz allei' 111ügliuhu11 Glll:mltiehLe, uu~ VUll vornherein auf eine
Bewegung hin angelegt ist, die Widersprüche und jeweils neue Losw1gen hervor-
treibt. Der Mensch wird als ein sich selbst produzierendes, gesellschaftliches Wesen
von seinen Bedürfnissen her definiert und von der Arbeit, die seine Bedürfnisse
befriedigim und Rteier.rn. Tn niflAfll' ant,iirlr.aliAtiAch1m Rich.t, wird das Bewußtsein nur
funktional zum tätigen Lebensprozeß verstanden. Ideologie ?J.nd ... Bewußtseins-
formen haben,· für sich betrachtet, keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung.
Das Bewußtsein ist vielmehr von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt,
weshalb es eine Illusion der Ideologen, dieser Fabrikanten der- Geschichte, sei, die
Geschichte nach leitenden Ideen oder herrschenden Begriffen zu schreiben. Herr-
schende Begriffe indizieren herrschende Klassen.
Marx' Kritik, die sich gegen die ganze bisherige Geschichtsauffassung richtete, setzt
also tiefer an. Sie kritisierte nicht nur den Begriff der Geschichte, sondern jede
Geschichte der Begriffe. Unbeschadet dessen, daß sich diese Kritik methodisch auch
auf seine eigenen Begriffe anwenden läßt, und das um so mehr, als er massiv uto-
pische Ziele seinen Kategorien imputierte, hat Marx einen entschiedenen Vorzug.
Seine Ideologiekritik setzt theoretisch einen prozessualen Geschichtsbegriff voraus,
der immer seine empirische Ausfüllung fordert, indem Produktionskräfte, gesell-
schaftliche Beziehungen und Bewußtsein miteinander in - wechselnde - Bezie-
hung gesetzt werden müssen 60 o. Damit hat Marx jene beiden Pole zusammenge-
dacht, die im üblichen Sprachgebrauch immer wieder ideologisch vereinseitigt und
strapaziert wurden: die Machbarkeit der Geschichte und deren Übermacht über

bY 8WILH. HEINRICH RrnHL, Die bürgerliche-Gesellschaft (Stuttgart, Tübingen 1851), 345f.


699 MARx/ENGELS, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1843), MEW
Bd. 2 (1957), 83 f. Vgl. auch MARx, Zur Judenfrage (1844), MEW Bd. 1, 372, wo er ver-
sucht, die theologische FaBBung der B11ucrschcn Fragen zu bre,chen.
&oo MARx/ENGELS, Dt. Ideologie, 23. 27. 47 f. 36.

710
VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik Geschichte

die Menschen. Marx brachte beides in Verbindung: Die Menschen machen ihre eigene
Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen 601 •
Im Unterschied zu dieser theoretischen Prämisse bewegte sich der alltägliche Sprach-
gebrauch gerne auf einer dieser Ebenen, sich damit jederzeit Blößen gebend, die
ideologiekritisch aufweisbar sind. Geschichte wird entweder zum bloßen Produkt
menschlicher Tat herabgestimmt - oder sie gewinnt, substantialisiert, einen über-
menschlichen Anspruch.
Nachdem erst einmal 'die Geschichte' zum Kollektivsingular geronnen war, wurde
es möglich, sie auch als Subjekt ihrer selbst anzusprechen. Damit wurde - rein
sprachlich - der Ausdru~k schlagwortfähig. Und tatsächlich wurde bald nach
lileiner Prägung de.r t.heoretisc.h an11pruc.h1ivolle Leitbegriff ausgemünzt zu einem
naiv oder pathetisch verwendbaren Schlagwort. CLAUSEWITZ legte seine kühle Be~
kenntnisschrift als Widerstandsmann 1812. auf dem heiligen Altare der Geschichte
nieder 602 . Drei Jahre später konnte DAHLMANN die Heiligke~t der Geschichte apostro-
phieren603, und 1845 besang WEERTH die Industriearbeit, die den Menschen zu sich
selbst befreit: Dann ist's vollbracht! Und in das große Buch,/ Das tönend der Ge-
schichte Wunder kündet, werde die Botschaft eingetragen604 . So versammelte, durch
die L11ger hindurch, die 'Geßchiohtc' ehedem göttliche Epitheta 11uf ßioh. Sie wurde
allmächtig, allgerecht, allweise, schließlich wurde man vor ihr verantwortlich.
Quasi ein Säkularisat, wurden der Geschichte religiöse Bedeutungen zugemutet, die
aus dem Begriff selber kaum ableitbar waren.
Es kennzeichnet den schlagwortartigen Ge_brauch, daß er die Unterscheidbarkeit
zwii;eheu tler erzäh1Le11 WlU tlei· i;ellmL i;eha1fe11tle11 Gei;ehiehLe verwii;ehL WlU zu-
gunsten der Ideologie wohl auch verwischen muß. Das erweist sich dort, wo der
Ausdruck zur Substanz gerinnt. Der Jesuitenorden muß sich 1831 sagen lassen, daß
er es sei, welchen die Geschichte geächtet 605 • - Ohne Revolution fängt sich keine neue
Geschichte an, versicherte MosEs HEss 606 . - Das Judentum kollidiere mit den In-
teressen der Geschichte, weiß BRUNO BAUER 607 . - ERNST MoRITZ ARNDT beschwört
1848 die Ehre der deutschen Geschichte 608 , und TREITSCHKE warnt 1880 vor dem Ju-
denfreund, der sich an der Herrlichkeit der deutschen Geschichte ... versündigt 609

601 MARX, Der achtzehnte Brumaire, MEW Bd. 8, 115.


602 CARL v. CLAUSEWITZ, Bekenntnisschrift (1812), Polit. Sehr. u. Briefe, hg. v. Hans
Rothfels (München 1922), 86.
603 F. CHR. DAHLMANN, Ein Wort über Verfassung (1815;.Ausg. Leipzig 1919), 17.
604 GEORG WEERTH, Die Industrie (1845), in: Die Achtundvierziger, hg. v. BRUNO KAISER

(Weimar 1960), 285.


600 J. H. D. KuN1URDT, Der Proceß der letzten Minister Carl'lii X. (Lübeck 1831), 8.
606 MosEs HEss, Philosophie der Tat (1843), Philos. u. sozialistische Sehr. (s. Anm. 477),

221.
607 BAUER, Judenfrage, Dt. Jbb„ Nr. 275 (1842), 1097.
608 Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 2 (1848), 1292.
009 H. v. TREITSCHKE, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, in: Der Berliner Anti-

semitismusstreit, hg. v. WALTER BöHLICH (Frankfurt 1965), 86.

711
Geschichte VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik

eine nationale Substanz theologisch deutend. Geschichte müssen wir malen, Ge-
schichte ist die Religion unserer Zeit, Geschichte allein ist zeitgemäß, hieß es fast un-
überbietbar 1876 610 • Aber die Geschichte kann ja auch das Neue, Erstmalige schaUen;
versicherte sich JuLIUS LEBER 1933, um den Zweifel zu zerstreuen, den die Ver-
gangenheit in uns legen könnte 611 •
Genug der Beispiele, die Macht der Geschichte, von der DROYSEN einst sprach 612 ,
um ihre überindividuelle, sittliche Kraft zu umreißen, wurde als Begriff gedehnt
oder gewendet, weil er offenbar unersetzbar blieb. Gerade das Schlagwort evozierte
Erwartungen und ordnete Erfahrungen, deren über- oder zwischenmenschlichen
Gemeinsamkeiten nicht anders bezeichnet werden mochten. 'Geschichte' wurde zu
einem Sammelbecken aller nur denkbaren Ideologien. Das erweist sich noch mehr,
wenn die andere Argumentationsebene gezeigt wird, die Machbarkeit der Ge·
schichte.
Derselbe Ausdruck 'Geschichte' konnte einen Objektbereich selbstsicherer mensch-
licher Tat bezeichnen. Eine Zwischenlage indiziert Droysens Wortgebrauch in
einem Brief an Gustav Freytag 613 • Der preußische Adel habe einst unsre Geschichte,
aus ihrer Bahn geworfen und für ein paar Jahrhunderte ruiniert, - womit die wirk
liehe Ge1mhid1te 11,ls Opfer von Gewalt hingestellt und eine Wünschbare als die wahre
Geschichte avisiert wird. Derartige Mehrdeutigkeiten in einem fäierifT 11.11f Hinl1
beruhen lassen, heißt ideologisch anfällig argumentieren, es sei denn, man billigt
einem Schlagwort rechtmäßig zu, Gemütslagen und Wunschhiloer ineinander-
zublenden.
Die 'Geschichte als Tat' ist, nun eine Wendung, die älteren Wortbedeutungen, so-
weit sie aueh 'Schickung' mit meinten, strikt zuwiderläuft. Auch diese Wendung
wurde erst sagbar, nachdem der Ausdruck zum objektlosen Kollektivsingular
geronnen war. Seitdem konnte 'Geschichte' auch machbar werden - und zwar nicht
im Sii:ine ihrer Erzählung - wie EmHENDORFF den neuen mit dem alten Sinn kon-
frontierte: Der eine macht Geschichte, der andere schreibt sie auf 614 •
Die Geschichte, die sich früher 'ereignete' und in gewisser Weise mit den Menschen
geschah, konnte erst als Handlungsfeld, als machbar und als produzierbar erachtet
werden, nachdem sie im deutschen Idealismus als Prozeß menschlicher Selbstver-
wirklichung entworfen worden war. Fichte und zunächst der junge Schelling haben
sicher den politischen Sprachgebrauch von 'Geschichte' beeinflußt. 80 wanote sich
SCHELJ,ING 1789 gegen den kantischen Entwurf einer Weltgeschichte a priori.
Wovon eine Theorie a priori möglich ist, davon ist keine Geschichte möglich, und um-

610 Zs. f. bildende Kunst (1876), 264, zit. RGG 3. Aufl., Bd. 4 (1960), 687.
611 .Jm,rns Lw.BEB„ Gedanken zum Verbot der deutschen Sozialdemokratie (geRchr. ,Juni
1933), in: Julius Leber. Ein Mann geht seinen Weg. Schriften, Reden und Briefe (Berlin,
Frankfurt 1952), 245.
612 DROYSEN, Historik (s. Anm. 236), 612.
613 Ders., Brief an Gustav Freytag v. 14. 12. 1853, Briefwechsel (s. Anm. 408), Bd. 2, 205.
614 Zit. GERHARD BAUER, „Geschichtlichkeit". Wege und Irrwege eines Begriffs (Berlin

1963), 2.

712
VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ideologie und Ideologiekritik Geschichte

gekehrt, nur was keine Theorie a priori hat, hat Geschichte. Der Mensch habe daher
Geschichte, weil er seine Geschichte nicht mit- sondern selbst erst hervorbringt 615 .
Für ScHEIDLER, der das Erbe des Idealismus dem deutschen Bürgertum vermit-
tAlt,e, bestand rlaran hin ZwAifol. T>amm hat df'.r Mwnsch alle1>n eine Gesch1:chte 1:m
eigentlichen Sinn; denn seine Handlungen sind nicht in einen bestimmten Kreislauf
eingeschlossen wie die des Tieres. Nur der Mensch kann seinem Leben Richtung
geben, seine Geschichte selbst machen6 16.
Geschichte, im Deutschen weiterhin von einem Hauch göttlicher Vorsehung durch-
zogen, war nicht widerstandslos in den Bereich der Machbarkeit zu transponieren.
PERTHES, Jahrgang 1772, zögerte 1822, das Verb zu verwenden. Er wolle seine
historischen Publikationen für die Praktiker edieren, für die Geschäftsmänner; und
dennoch .~ind .~ie es, und nicht die Gelehrten, welche fr1, d?:e Verh,ältm:8.~e ei:ngrei:/en u,nd
die Geschichte, so zu sagen, machen&11.
Bald darauf plädierte er für einen selbstbewußten Mittelstand, der leistungsorien-
tiert auf Lehren aus der Vergangenheit, auf die alte historia magistra vitae, ver-
zir,hten müsse: Wenn jede Parf,ei; ei:nmal der Rf'.1;hf'. nach z1t rngü~ren 11,nd lnstit11,tionen
anzuordnen hätte, so würden durch selbstgemachte Geschichte alle Parteien billiger und
klüger w~rden. Von anderen gemaclite Geschichte ·ve'l'scliafjt, so ·v·iel s·ie a·uch geschrieben
und stiidiert wird, selten politische Billigkeit und Weisheit; das lehrt die Erfahrung 618 .
Der Kollektivsingular 'Geschichte' war als transzendentale Kategorie immer auch
handlungsbezogen. Nicht nur die Entdeckung der 'Geschichte', besonders die Frei-
legung einer rnaehharen Gesehiehte gehört zur Signatur der aufbrechenden bürger-
liehen Welt.
Damit war aber auch die Reaction ... zu einei· geschichtlichen Macht geworden, die
sich in den Worten STIRNERS 1852 anschickt, Geschichte zu machen 619 . - BISMARCK
hat sich freilich immer dagegen verwahrt, Geschichte machen zu können. Ein will-
kürliches, nur nach subjektiven Gründen. bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung
der Geschichte hat immer nur das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt ...
Wir können die Uhren vorstellen, die Zeit geht aber deshalb nicht rascher 620 , schrieb er
1869 in einem Erlaß, und er fand sich im Alter bestätigt: Man kann Geschichte über-
haupt nicht machen, aber man kann immer aus ihr lernen, wie man das politische
Leben eines großen Volkes seiner Entwicklung und seiner historischen Bestimmung
entsprechend zu leiten hat 621 • Der Verzicht auf die Planbarkeit geschichtlicher Ab-

615 [F. W. G. ScHELLING], Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur,

Philos. Journal 8 (1798), 145.


616 HERMANN ScHEIDLER, Art. Emanzipation, ERSCH/GRUBER 1. Sect„ Bd. 34 (1840), 5.

Zur theoretischen Vorgeschichte dieser Sprachpraxis s. KARL LÖWITH, Vicos Grundsatz:


verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konse-
quenzen, Akad.-Abh. Heidelberg (Heidelberg 1968).
617 PERTHES, Leben (s. Anm. 559), Bd. 3, 23.
618 Ebd„ 271 f.
619 MAx STIRNER, Geschichte der Reaction, 2. Abt.: Die moderne Reaction (Ilerlin 1852), V.
620 BISMARCK; Erlaß an den Gesandten in München ]'rh. v. Werthern, 26. 2. 1869, FA

Bd. 6 b (1931), 2.
621 Ders„ Ansprache an die Abordnung der Universität Jena, 30. 7. 1892, FA Bd. 13 (o.J.),

468f.

713
Geschichte VI. 4. 'Geschichte' zwischen Ide0logie und Ideologiekritik

läufe kehrt sofort die andere Sinnzone langfristiger Entwicklung im Begriff der
Geschichte hervor. So mag die Wortverwendung, speziell die Zuordnung d!lr polaren
Bedeutungsmöglichkeiten, einen Utopietest darstellen.
CoNSTANTIN FRANTZ, Bismarcks intellektueller Kontrahent und Verehrer Schel-
lings, erblickte 1879 in der Geschichte ein besonderes Reich ... , welches nicht von Gott
herrührt, sondern welches die Menschen schufen und fortwährend schaffen 622 .
Die politischen Lager decken sich keineswegs zur Gänze mit den Frontlinien, die
sich aus der politischen Semantik ergeben. Es gibt begriffliche Strukturen, die eigene
Zuordnungen aufweisen. LORENZ VON STEIN sah mit aufkommender Weltgeschichte
den Freiheitsspielraum schrumpfen: Je größer die Weltgeschichte, desto geringer ist
das, was nicht bloß der einzelne, sondern was am Ende alle einzelnen in ihr vermö-
gen623. Den gegenteiligen Schluß zog ENGELS, als er die planmäßige bewußte Organi-
sation der Zukunft ankündigte. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Ge-
schichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an
werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen ... Es ist
der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der.Notwendigkeit in das Reich der Frei-
heit624. Engels' größere Nähe zu den gemeinsamen idealistischen Ursprüngen indi-
ziert hiAr einen höheren Gmd utopiochcr Erwa,rtung. Im Hinblick auf die kommende
Beherrschbarkeit der Oe11chichte rückt damit seine Vit:1iou uu ucu WurLgeu1·aueh
der Alldeutschen heran, die 1898 mit bezeichnender Verschiebung dem deutschen
Herrenvolk bescheinigten, an der Leit1.1iflf/ der Ge.~chicke der ganzen Welt teilzu-
nehmen ... bereclitigt und verpff:ichtet zu seiu 625 .
HITJ,F.R Rchließlich und sein Gefolge schwelgten in der Verwendung des Wortes
'Geschichte', die so sehr als Schicksal beschworen wie als machbar gehandhabt
wurde: aber die Inkonsistenz der propagandistischen Wendungen enthüllt von sel-
ber - darauf hin befragt _:_ deren ideologischen Gehalt. Die Ewigkeitswerte eines
Volkes werden nur unter dem Schmiedehammer der Weltgeschichte zu jenem Stahl und
Eisen, mit dem man dann Geschichte macht, so Hitler in seinem Buch aus dem Jahre
1928 626 • Und eine Redewendung aus dem lippischen Wahlkampf vor derp. 30. Januar
1933 zeigt, daß selbst ideologische Zwangsvorstellungen ihren prognostischen Sinn
haben: Es ist letzten Endes gleichgültig, wieviele Prozent des deutschen Volkes Ge-
schichte machen. Wesentlich ist nur, daß die letzten, die in Deutschland Geschichte
machen, wir sind 627 • Besser konnten die Selhst,uHima.l;en nicht formuliert werden,

622 CoNSTANTIN FRANTZ, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die sociale, staat-

liche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland,


critisch nachgewiesen und constructiv dargestellt (Mainz 1879; Ndr. Aalen 1962), 441.
623 L. v. STEIN, Zur preußischen Verfassungsfrage (1852; Ndr. Darmstadt 1961), 1.

6 2 4 ENGELS, Herrn Eugen Dühringe Umwälzung der WfoAonaohaft, (1878), MEW Bd. 20
(1962), 264.
625 Beitrittsl'l,ufruf zum Alldeutschen Verband, zit. HUGO GRELL, Der Alldeutsche Ver-

band, seine Geschichte, seine Bestrebungen und Erfolge (München 1898), 7.


626 Hitlers zweites Buch, hg. v. GERHARD L. WEINBERG (Stuttgart 1961), 138.
627 HITLER, Rede v. 4. 1. 1933 in Detmold, Reden und Proklamationen 1942 bis 1945,

hg. v. Max Domarus, 2. Aufl.„ Bd. 1/1 (München 1965), 176.

714
Vll. Ausblick Geschichte

unter deren Zwängen Hitler seine Politik machte und dabei Geschichte zu machen
glaubte. Er hat auch Geschichte gemacht - aber anders als gedacht.
So öffnet die Mehrdeutigkeit des modernen Geschichtsbegriffs, zwischen Machbar-
keit und Übermacht hin- und herpendeln zu können, einen Einstieg für dessen
ideologische Verwendung. Aber im gleichen sprachlichen Befund sind Kriterien
enthalten, den ideologischen Charakter dieser Verwendung zu entlarven.

VII. Ausblick

Die grundsätzliche Zweideutigkeit des Geschichtsbegriffs hat seit seiner Entstehung


tief in die Alltagssprache der Politik eingewirkt. Seine Anfälligkeit, emphatisch
überzogen und ideologisch verwendet zu werden, gründet in der Wortbildung des
Kollektivsingulars. Als· transzendentale Kategorie umfaßt sie Historie und Ge-
schichten zugleich, der Begriff 'Geschichte' indiziert eine schillernde Skala möglicher
Erfahrungen: Handlungsspielraum und Prozeß, Fortschritt und Entwicklung,
Sinnstiftung und Schicksal, Ereignis und Tat. Es scheint, als sei die alte Bedeutung
dor Erzahlung dariibor in don Hintorgrund godrängt. ·
Am~ dr.r Fiillr, der imhlagwortartig abrufbaren Bedeutungen.sind nun einzelne theo-
retische Positionen entwickelt worden, die ihrerseits auf die gesellschaftlichen und
politischen Lagen einwirken, die sie diagnostizieren. Mit seiner unzeitgemäßen
Betrachtung „Vom Nutr.r.n und Nachtr.il der HiRtmie für daR Leben" hat NrnTz-
SCHE 187 4 eine rasante Ideologiekritik geliefert. Indem er innere Kriterien des Wis-
senschaftsbetriebs und dessen Wirkungen nach außen ineinanderblendete, stieß
Nietzsche auf die drei Typen der antiquarischen, der monumentalischen und der
kritischen Historie. Funktional zu dem betrachtet, was er Leben nannte, erwies sich
die Historie insgesamt als Symptom der Vergreisung, als lebenshemmend. Deshalb
forderte Nietzsche, und das nicht ohne Folgen, von der Jugend den Mut für da&
Unhistorische und.das Überhistorische 628 • .
Seitdem werden Ausweichpositionen angeboten, der Typologisierung, aus der Natur
oder Anthropologie, ohne daß eine Enthistorisierung des allgemeinen Bewußt-
seins oder gar der Wissenschaften bisher wirklich durchgreifenden Erfolg gehabt
hätte 629 •
Diltheys facettenreicher Entwurf einer Kritik der historischen Vernunft reicht noch
weit in die Sozial- und Geisteswissenschaften hinein, weiter vermutlich als der er-
kenntnistheoretische Ansatz der Neukantianer, der Geschichtswissenschaft neben
den Naturwissenschaften ti_inen genuinen Erkenntnisbereich abzusichern.
Mit der 'Geschichtlichkeit' haben Existenzphilosophie und Hermeneutik eine Kate-
gorie aufgegriffen, die geeignet ist, die stets sich überholende Relativität alles Ge-
schichtlichen gleichsam metahistorisch zu begründen und so ihrer Ärgerlichkeit zu

&2s NIETZSCHE, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Werke, Bd. 1
(1954), 281.
s2 9 Vgl. K~m. Hli1USSI, Die KriRis d11s HiRfa:iriRmllR (Tiihing11n l!l!l2); Ono MARQUARD,
Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (Frankfurt 1973).

715
Geschichte VII. Ausblick

berauben630 • Die 'Geschichtlichkeit' drückt in gewisser Weise das aus, was im


18. Jahrhundert mit der 'Geschichte überhaupt' - als Bedingung möglicher Ge-
schichten - intendiert worden war.
Andere Akzente des transzendentalen Ansatzes von ehedem sind einseitig verstärkt
worden. So hat THEODOR LESSING mit seiner „Geschichte als Sinngebung des Sinn-
losen" die subjektivistischen Voraussetzungen rigoros beim Wort genommen 6 3 1 •
Umgekehrt kann - so im marxistischen Lager- behauptet werden: Die Wirklich-
keit selbst ist parteilich! Parteilich für das Neue gegenüber dem Alten, parteilich für
das Höhere gegenüber dem Niederen63 2 •
Den bisher schärfsten Angriff auf den Begriff 'Geschichte' hat wohl MAUTHNER
formuliert, der davon ausging, daß der Historismus wie der Ausdruck 'Geschichte'
P.l'Rt RP.it K11.nt möglich, aber mit Ka!!-t a\1c.h sc.hon überholt worden sei. Vergeblich
habe man sich auf die Suche nach geschichtlichen Gesetzen begeben. Aber die Be-
griffe pflegten die von ihnen gemeinten Sachverhalte als Gespenster zu überleben:
Da darf man sich nicht wundern, wenn der kleine Begriff Geschichte so kurz nach sei-
nem Absterben noch für lebendig gehalten wird 633 • Eine stringentere Fortsetzung die-
ser semantischen Kritik ist in Poppers Analyse des 'Historizismus' zu finden.
Aueh auf uer ELe11e ewvirüfüher Fufäehu11g wird gelegentlilll1 1fas „Ende der Ge-
Bohiohto" avifJiort, damit die theologische Eschatologie weltlich auslegend. Gemeint
wird, was Cournot im vorigen Jahrhundert voraussagte, ein neuer .Zustand relativer
Stabilität, der sich nach der Modernisierung ohne Wachstumszwänge und -störun-
gcn einspiele. Mit derartigen Formeln wird zumindest deutlich, wie sehr der Aus-
druck 'die Geschichte' den Beginn der Neuzeit ankündigte, mit deren Ende also
auch versehwi11ue11 kü1111e. Gleichwuhl wird~ t;rutz und wegen seiner Vieldeutig-
keit - nirgendwo ernsthaft auf den Begriff verzichtet. Wendungen wie „der Ver-
lust" oder „die Verdrängung der Geschichte" zielen meistens auf deren Erhaltung.
Schließlich darf daran erinnert werden, daß wir seit dem Zweiten Weltkrieg erst-
mals in die Etappe der runden Weltgeschichte eingetreten sind, deren Aktionszen-
tren sich von Europa aus pluralistisch auf den Globus verteilt haben. Daß sich damit
wiederum neue Geschichten abzeichnen, die aber einen gemeinsamen Erfahrungs-
raum stiften, ist offenkundig. Damit dürfte innerhalb der historischen Wissen-
schaften auch der alten Ereignisgeschichte ihre Aufgabe unbestritten bleiben, neben
der sich, um die längerfristigen Wandlungen und dauerhaften Strukturen auf diesem
Globus zu untersuchen, die Sozialgeschichte als eigener Forschungszweig etabliert
hat. Sicher ist, daß der Begriff der Geschichte das sogenannte Rätsel der Geschichte
zu lösen nicht imstande sein wird.

830 HANS GEORG GADAMER, Art. „Geschichtlichkeit", RGG 3. Aufl„ Bd. 2 (1958), 1496 ff.;

BAUER, „Geschichtlichkeit", paRRim ; TiF.ONR AR.n v. R.lilN'l'HE-FlNK, Geschichtlichkeit.


Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck,
2. Aufl.. (GüLLingen 1968).
631 LESSING, Geschichte (s. Anm. 529).
632 JÜRGEN KuczYNSKI, Parteilichkeit und Objektivität in Geschichte und Geschichts-
sr.hreibung, 7.R. f. f'TP.Rr.hir.ht;iwiAR. 4 (1956), 875.
e3a MAUTHNER 2. Aufl„ Bd. 1 (1923), 608.

716
VII. Ausblick Geschichte

Literatur

GRIMM Bd. 4/1, 2 (1897), 3857 ff.; PAUL E. GEIGER, Das Wort „Geschichte" und seine Zu-
sammensetzungen (phil. Diss. Freiburg 1908); EBERHARD ZWIRNER, Zum Begriff der Ge-
schichte. Eine Untersuchung über die Beziehungen der theoretischen und praktischen
Philosophie (phil. Diss. Breslau 1926); KARL KEUCK, Historia. Geschichte des Wortes und
seiner Bedeutungen in der Antike und in den romanischen Sprachen (phil. Diss. Münster
1934); JOHANNES HENNIG, Die Geschichte des Wortes „Geschichte", Dt. Vjschr. f. Litera-
turwiss. u. Geistesgesch. 16 (1938), 511 ff.; HEINZ RuPP/ÜSKAR KÖHLER, Historia - Ge-
schichte, Saeculum 2 (1951), 627 ff.; GERHARD BAUER, „Geschichtlichkeit". Wege und
Irrwege eines Begriffs (Berlin 1963); LEONHARD v. RENTHE-FINK, Geschichtlichkeit. Ihr
terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck, 2. Aufl.
(Göttingen 1968); REINHART KosELLECK, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des
Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Natur und Geschichte, Fschr.
Ifad Lüwith, hg. v. HERMANN IlRAUN u. MANFRED RrnDEL (Stuttgart, Berlin 1067),
l!l6 ff.; ders., Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: Geschichte -
Ereignis und Erzählung, hg. v. R. KosELLECK u. WOLF-DIETER STEMPEL (München 1973),
211 :lf.; GuNTER 8CHOLTZ, Art. Geschichte, Historie, Rist. Wb. d. Phil., Bd. 3 (1974),
:l44 ff.; GirnNOT BÖHME, Art. Geschichte der Natur, ebd., 399 ff.; L. v. RENTHE-FINK,
Art. Ceschichtlichkcit, cbd., 404 ff.; HELMUT REICHELT, Geschichtsauffassung, materia-
lii;t.ii;ehe, el.ul, 408 ff.; TT1.11.11111 D111111.N111/l1. Rnnnrrri, Arl .. l1Hr1ul1iulil.Hf1liilr1Hn11hil'l, l'lhrl.,
461 ff.; TRUTZ RENDTORFF, Art. Geschichtstheologie, ebd. 439 :lf.

REINHART KosELLECK

717
Gesellschaft, hürge.-liche

1. Einleitung. II. Klassisch-griechische Philosophie. III. Lateinische Begriffstradition.


1. Spätantiire und frühes Christentum. 2. Die Übersetzung ins Lateinische. 3. Begriffs-
verständnis in der Hochscholastili:. IV. Civitas und societas civilis im neuzeitlichen Natur-
recht. 1. Reformation: Luther, Melanchthon, Calvin. 2. Neuzeitliche Philosophie und
Politili:: Bacon, Hobbes, Bodin. 3. Die Aporie der naturrechtlichen Vertragskonstruktion ..
V. Erstarrung und Auflösung der Begriffstradition in der Aufklärung. 1. Sozialmodell und
Wortfeld im 17./18. Jahrhundert. 2. Dogmatisierung im Römischen Recht: Johann Gott-
lieb Heineccius. 3. Herrschaft und Gesellschaft: Christian Wol:ff. 4. 'Civilstaat' und 'Civili-
sierung': die Differenzierung von „politischer" und „bürgerlicher" Verfassung. 5. Der
l<Jinflu ß d11r 11ngliHr,h-französiachen Wirtaohafü1t,h11ori11: di11 Popularphiloaophie. 6. 'Bürg11r-
liche Gesellschaft' als Negativbegriff: Lessing, Herder, Goethe, Jacobi, Möser. 7. Die
Dissozilerung der bürgerlichen Glll!ellHchaft zur „StaatHgeHellHchaft": Jung-Stilling,
Schlözer, Rufeland u. a. VI. Deutscher Idealismus und Französische Revolution: Kant,
Fichte. 1. Die Aporie des liberalen Vernunftrechts: Kant. 2. Die AufheQung der alten
bll!·gediulieu Gel:llllll:lchafL iw Gegt111l:laL:t. vuu Geselll:lchafL uuu BLaaL: FichLe urnl ilie Fmu-
zölliliiche Revolution. 3. Staat und bürgerliche Geselliichaft in der natur- und staatsrecht-
lichen Literatur 1790-1820. VII. Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert: bürgerliche
Gesellschaft zwischen Restauration und Revolution. 1. Begrillsgeschiohtliche Synopsis.
2. Die Ablösung des Begriffs von seiner Geschichtsgebundenheit. 3. Strukturwandel der
bürgerlichen Gesellschaft: Hegel und die Hegelsche Schule. 4. Soziale Bewegung und
Sozialismus-Kommunismus: Marx, Engels, Lorenz von Stein. VIII. Positionen und Be-
griffe nach U!lr Revolution von 1848. 1. Die Hoziale Krfae der bürgerlichen GeHellHchaft:
Bluntsohli, Roessler, Mohl. 2. Diagnose der konservativen Riohtungen; Riehl, Const:mtin
Frantz. 3. Der Übergang vom Liberalismus zum Nationalliberalismus: Heinrich von
Treitschke. IX. Ausblick.

1. Einleitung
'Bürgerliche Gesellschaft', ein Terminus der europäischen politischen Philosophie,
heißt in der älteren, seit Aristoteles überlieferten und bis etwa zur Mitte des
18. Jahrhunderts in Geltung gebliebenen Sprachtradition soviel wie „Bürger-
vereinigung" oder „Bürgergemeinde". Darunter versteht man eine Gesellschaft bzw.
Gemeinschaft von Bürgern, die als Freie und Gleiche miteinander verbunden und
einer (in der Regel von ihnen selber getragenen) politischen Herrschaftsform (z.B.
der Politie und Aristokratie, aber auch der Monarchie) unterworfen sind. Seiner
geschichtlichen Herkunft nach ist 'bürgerliche Gesellschaft' die wörtliche Über-
setzung von griech. noÄn:tuT} uowwvla, lat. societas civilis, - ein zwar anders-
lautender, aber mit diesen Ausdrücken gleichbedeutender Terminus. Nach dem
jüngeren, auf das frühe 19. Jahrhundert zurückgehenden Sprachgebrauch be-
zeichnet 'bürgerliche Gesellschaft' die mit der Emanzipation des neuzeitlichen
Bürgertums von den politischen Ilerrschaftsformen der mittelalterlichen Feudal-
gesellschaft (wozu jetzt die genannten drei klassischen „Regierungen" der alten
bürgerlichen Gesellschaft rechnen) heraufkommende Gesellschaft bürgerlicher
Privatleute, die nach den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit als Personen und
Eigentümer voneinander getrennt und - nach dem theoretischen Muster des früh-
bürgerlichen Liberalismus - keiner Herrschaft von Menschen über Menschen unter-

719
Gesellschaft, bürgerliche J, Einleitung

worfen sind. In der älteren, durch die graeco-lateinische Sprachtradition geprägten


Verwendung wird unter einer 'bürgerlichen' immer die „politische" Gesellschaft
verstanden, so daß hier die Wortbedeutung den Herrschaftsverband der Bürger-
gemeinde (n6Ät,, civitas) und seine öffentlich-politische Verfassung, das „gemeine
Wesen" ("otv6v, res publica) mit umfaßt. Auf eine Formel gebracht: die bürgerliche
Gesellschaft ist mit der politischen Herrschaftsform, dem „Staat", gleichbedeutend
oder synonym, beide Termini stellen denselben Begriff dar. Nach dem jüngeren
Sprachgebrauch werden 'bürgerliche Gesellschaft' und 'Staat' gerade einander ent-
gegengesetzt. Die Verwendung des Terminus ist durch die Abwesenheit bzw.
Negation der Herrschafts- und Verfassungsform definiert. 'Bürgerliche Gesellschaft'
bezeichnet jetzt den staatsfreien und politikfernen Raum jener Gesellschaft bürger-
licher Privateigentümer, in der Bto.tt politischer Horrooho.ft von Menschen über
Menschen nur noch die ökonomische über Sachen (nach dem Prinzip der Freiheit
von Person und Eigentum) zulässig ist.
Damit entsteht für die politische Philosophie das Problem der· Homonymität des
Terminus 'bürgerliche Gesellschaft', seine verschiedenartige und im sozialen Zu-
sammenhang der modernen Welt mehrdeutig gewordene Verwendung. Der Tat-
bestand, daß die gleiche Lautgestalt bzw. derselbe Name verschieden verwendet
wird und 1minfl TI!lrfantnne 11icM. n1t1l1r nh; wil.- 111111 Hil.uHl.ii.1u~invariant gelten kann,
liegt am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert überall offen zutage. Mit beson-
derer Eindringlichkeit ii:1t er von ·KARL MARX in der Einleitung zur „Deutschen
Ideologie" (1845) notiert worden. Das Wort bürgerliche Gesellschaft, heißt eR hiAr
unter (z. T. historisch irreführender) Anspielung auf die Genese deB jüngoron Sprach
gebrauchs, kam auf im achtzehnten Jahrhundert, als die Eigentumsverhältnisse bereits
aus dem antiken und mittelalterlichen Gemeinwesen sich herausgearbeitet hatten. Die
bürgerliche Gesellschaft als solche entwickelt sich erst mit der Bourgeoisie; die unmittelbar
aus der Produktion und dem Verkehr sich entwickelnde gesellschaftliche Organisation,
die zu allen Zeiten die Basis des Staats und der sonstigen idealistischen Superstruktur
bildet, ist indes fortwährend mit demselben Namen bezeichnet worden 1 . Bei Marx und
Engels wird die bürgerliche Gesellschaft bereits nicht mehr nach dem liberalen Mo-
dell eines Personenverbandes freier Eigentümer gedacht, da beide - in diesem Punkt
die frühsozialistische Kritik am Liberalismus fortsetzend - auf die politischen und
sozialen Folgen hinwAisen, die mit der intendierten Herrschaft der Person über die
Sache verknüpft sind: die Herrschaft der Eigentümer über Menschen, die nicht im
Besitz der Sachen, sondern nur ihrer eigenen Arbeitskraft sind. Damit ändert sich
das sprachliche Bezugssystem der bürgerlichen Gesellschaft noch einmal. Das Wort
bezeichnet jetzt statt jenes aller Herrschaft ledigen Verbandes der als frei und gleich
anerkannten Personen und Eigentümer, die lediglich von den Gesetzen des Marktes
beherrscht sind, die besit~ende Klasse der „Bürger" im Unterschied zu der ihr
unterworfenen Klasse der besitzlosen „Proletarier", die bürgerliche Gesellschaft im
Sinne der auf dem Gegensatz von Kapital und Arbeit basierenden „Bourgeois-
gesellschaft" de1:1 19. Jahrhunderts.
Auf diesem hier nur im Grnnilriß 11.hgP.11tenkt.en Hintergrund werden die zahlreichen
Aporien verständlich, die den Terminus 'bürgerliche Gesellschaft' und seine Ver-
wendung insbesondere in der deutschen Begriffstradition bis hin zur Gegenwart

1 MA.Rx/ENGELS, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3 (1958), 36.

720
Il. Klassisch-griechische Philosophie Gesellschaft, bürgerliche

begleiten. In den westeuropäischen Ländern wie England und Frankreich ist seine
Geschichte offensichtlich weniger wechselvoll, - nicht iuletzt deshalb, weil hier die
aus älteren (vorideologisch-philosophischen) Quellen gespeiste Emanzipationsbewe-
gung des Liberalismus politisch erfolgreich war und in Theorie und Praxi;; ilie tradi-
tionelle Identifikation der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staat in verwandelter
Form wiederholte. Engl. 'civil society' und franz. 'societe civile' sind noch lange mit
der politischen Gesellschaft synonym, während in dem von liberalen Traditionen
weniger berührten Deutschland der Gegensatz von bürgerlicher Gesellschaft und
Staat die Wort- und Begriffsgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert für dauernd
bestimmt hat. ·
Wenn man das Wort 'bürgerliche Gesellschaft' in das zu ihm gehörige historisch-
philologi0chc Spannungsfeld von Synonymität und Ilomonymität hineinstellL uml
seine Geschichte im ganzen überblickt, so lassen sich deutlich mehrere sprachliche
Bezugssysteme voneinander abgrenzen: 1) Das graeco-lateinische Bezugssystem,
das von der klassisch-griechischen Politik über Römisches Recht und biblisches
Christentum bis hin r.ur AriRtotr.lr.RrAr.Aption flp,r H oi1hR11holaRtik nnfl 11um frühneu-
zeitlichen Naturrecht reicht. 2) Das bürgerlich-liberale Bezugssystem, das sich im
18./lY. Jahrhundert aus dem .Naturrecht entwickelt. 3) Das sozialistisch-revolutio-
näre Bezugssystem, das Impulse des Naturrechts aufnimmt, um sich dann von fJOinor
„liberalen" und „traditionalen" Vorstellungswelt abzuwenden, und 4) das nach-
bürgerliche Bezugssystem der bürgerlichen Gesellschaft. Ihnen entsprechen jeweils
verschieden aufgebaute und Rtruktnrir.rtA RprAchwAiRAn unfl RpA:r.ifiR11he Theoriefor-
men, die einzelnen Phasen gemeinsam sein können und sich etwa wie folgt klassifi-
zieren lassen: Die Sprechweise des ersten ~ystems ist durch die klassisch-griechi-
sche Politik (Aristoteles) geprägt worden, die des zweiten Systems durch das moder-
ne Naturrecht (Hobbes, Kant) und die Anfänge einer rationalen, geschichtsphiloso-
phisch begründeten Gesellschaftstheorie (Soziologie); und die Sprechweise des vier-
ten sprachlichen Systems schließlich durch Immunisierungsstrategien der politischen
Parteien des europäischen Klassen- und Bürgerkonflikts in „konservativer" oder
„revolutionärer" Absicht. Da die Sprechweisen und Theorien oft ineinander über-
gehen, ist eine genaue Abgrenzung der einzelnen Phasen und Systeme untereinander
nicht möglich. So wirkt das dem ersten sprachlichen System zugeordnete Polismo-
dell der bürgerlichen Gesellschaft noch in der zweiten Bezug:;ebene, im Vertrag:;-
modell des modernen Naturrechts, nach und erst in der dritten Phase werden seine
tradierten Muster endgültig aufgelöst. Hier stellt sich dann das Problem der Ideolo-
gisierung des Begriffs, seiner Mehr- und Vieldeutigkeit, die genau zu jenem Zeit-
punkt beginnt, an dem die Normierung seines Gebrauchs durch die politischcnatur-
rechtliche Tradition abbricht und die moderne sozialrevolutionäre Bewegung Ver-
wendungsmöglichkeiten freigibt, deren normierende Kraft auf die politischen Grup-
pierungen der Gesellschaft beschränkt bleibt und ein allgemeines Einverständnis
über die Grundtermini der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt nicht nur nicht zu-
läßt, sondern aus sprach- und revolutionsstrategischen Gründen überflüssig macht.

II. Klassisch-griechische Philosophie


DiA Einführung d1iR W ortAR 'hiirgArliche Gesellschaft.' in die Sprache der politischen
Philosophie geht auf ARISTOTELES zurück. Obwohl es bei Platon einige Wendungen

46-90386/1 721
Gesellschaft, bürgerliche Ji:. Kla.uisch-grieehische Philosophie

gibt, die der Aristotelischen Wortbildung noJ.n:iun uowwvla nahekommen 2 , ist vor
Arif1toteles eine terminologische Fixierung des Ausdrucks nirgends nachweisbar. Ari-
stoteles scheint aber damit auf eine Redeweise zurückgegriffen zu haben, die in der
Umgangssprache als gelegentliche Bezeichnung für die Polis bereits vorhanden war
und in der von ihm ausgebildeten Sprache der politischen Philosophie wissenschaft-
lich „normiert" wird. Aristoteles führt das Wort am Anfang seiner „Politik" mit der
Bemerkung ein, daß es unter Menschen vielfältige Gesellungsformen (uowwvlai) gäbe
und eine davon die wahrhaft unabhängige und die anderen alle beherrschende sei -
die sogenannte Polis als „bürgerliche" bzw. „politische" Gesellschaft: afhri i'l'ecrclv 'lj
uaJ.ovµivri n6J.ii; ual 1] uowwvla 1] noJ.tnu1) 3 • Dieser Anfangssatz der Aristoteli-
schen „Politik" ist für die politische Philosophie und ihr bis zum 18. Jahrhundert
gemeineuropäisch gebliebenes Sprachbewußtsein von entscheidender Bedeutung ge-
worden. Indem Aristoteles geläufige Worte der griechischen TTmg11.ngRsprache wie
'polis' und 'koinonia' im Terminus noJ.n:iun uowwvla zusammenfaßt und diesen
am geschichtlichen Beispiel der Polis entwickelt, stellt er jenen Begriff der bürgerli-
chen Gesellschaft bereit, der infolge seiner Allgemeinheit von der griechischen Stadt-
gemeinde abgelöst und auf die römische Republik sowie später auch auf die Städte-
und Staatenwelt des neueren Europa übertragen werden konnte. Die bürgerliche
Gesellschaft des Aristoteles, die exemplariRch erklii.rt, waR ilie 'Polis ihrem „Wesen"
nach ist - eine Gemeinschaft von Bürgern (uowwvta noJ.i•äi'P), die r.nm Zwecke des
„guten", d. h. tugendhaften und glücklichen Lebens (ev 1;;ijv) miteinander vereinigt
01ind, - gilt als Muster einer politiBohon Bogriffobildung, die an Allgemeinheit nicht
mehr übertroffen oder du.reh amlere Termini efäeLzL werden lmnn.
Die von Aristoteles normierte Lautgestalt des Begriffs und die Normierung seines
wissenschaftlichen Gebrauchs beruht auf einer Reihe von Unterscheidungen, die
angeben, was 'bürgerliche Gesellschaft' im Kontext einer Philosophie des Politischen
bedeutet und welcher Stellenwert dem Terminus im Aufbau ihrer Sprache zukommt.
Im wesentlichen sind es drei Unterscheidungen, die seine Verwendungsmöglichkeit
bestimmen. Die erste ist die von „Haus" (oluoi;) und „Stadt" (n6J.ii;), von „häus-
licher" und „ bürgerlicher" Gesellschaft. Die Polis ist nach Aristotelischem Ver-
ständnis eine Verbindung vieler „Häuser", sie setzt sich aus „Häusern und Ge-
schlechtern", d. h. den Stamm- und Familienverbänden der griechischen Freien
zusammen 4 • Die Zusammensetzung ist jedoch an den ursprünglichen Gegensatz
des Politischen zur Sphäre des Ökonomischen gebunden, der Polis und Oikos von-
einander trennt. Er erklärt sich aus der zweiten Unterscheidung, mit der Aristoteles
den Terminus 'bürgerliche Gesellschaft' normiert: der Klassifizierung der Polis-
bewohner nach dem Status von Freien („Bürger") und Unfreien (Nicht-Bürger,
Knechte, Beisassen, Fremde usf.). Die Genese der bürgerlichen Gesellschaft, der
Übergang von „vorbürgerlichen" Gesellungsformen zur Polis,. setzt voraus, daß
die bloße Erhaltung ·der Individuen, die Befriedigung der Bedürfnisse und Not-
wendigkeiten ihres Lebens bereits gesichert ist. lm Unterschied zur modernen Auf-
fassung obliegt sie für Aristoteles der „häuslichen" und nicht der bürgerlichen Ge-
sellschaft. Die Ökonomik als Lehre von dieser GesellschafL berUhrL sich mit der

2 PLATON,Ep. 316d. 318d.


3 ARISTOTELES,Pol. 12fl2a 6 f. (Oxford).
'Ebd. 1253b 2 f. 1260b 13 f. 1280b 34.

722
II. Klassisch-griechische Philosophie Gesellschaft, bürgerliche

Politik - der Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Verfas-
sung - nur insoweit, als der Bürger zugleich Hausherr (oiuo<5eanor11r;) ist. In dieser
Doppelfunktion erscheint der Oikos als der Bereich des „Privaten" (i&ov), der
von dem, was allen Bürgern gemeinsam ist, dem uoivov der Polis oder der noAinuT]
uoivwvla ausgeschlossen bleibt. Als Glied der mit dem „Staat" identischen bürger-
lichen Gesellschaft gehört der Bürger nicht der Privatsphäre des „Hauses" an,
sondern er kann umgekehrt nur deshalb „Bürger" sein, weil er, das „Private'' be-
herrschend, als Oikodespot der Sphäre der Arbeit und der ökonomischen Produktion
enthoben ist. Daraus folgt eine dritte Unterscheidung, mit der Aristoteles den eigent-
lich politischen Sinn des Begriffs normiert. Für Aristoteles gibt es noch keine
„Wissenschaft" der Nationalökonomie, da alles „ökonomische" Wissen in dem
Maße „zufällig" und ohne Wert ist, als es an die Notwendigkeiten der Lebens-
erhaltung gebunden bleibt.Um die zum Leben notwendigen Mittel zu „ beherrschen'',
bedarf es keines spezifischen Wissens, sondern nur der „ökonomischen" Herrschaft,
- im Gegensatz zur Teilhabe an der „politischen" (= bürgerlichen) Herrschaft,
die der Bürger immer schon „verstehen" muß 5 • Während sich die „ökonomische"
Herrschaft auf Unfreie (Knechte}, Noch-nicht-Freie (Kinder) und Freie minderen
Rechts (Frauen) erstreckt und lediglich auf Gewalt (fJla} beruht, ist die bürgerlich-
politische Herrschaft eine Herrschaft der Freien über Freie, die nicht nur eine Zu-
stimmung der Beherrschten, sondern auch das Recht (<5tun) voraussetzt, das nach
Aristoteles die Ordnung (rd~tr;} der bürgerlichen Gesellschaft ist&.
Tn oiP.RP.ffi Zm1ammP.n 1111.ng gP.winnt OP.f AriRtot.P.liRr.hP. 'f'p,rminnR RP.inP.n philoRo-
phisch-prinzipiellen Sinn und eine über das zeit- und geschichtsgebundene Selbst-
verständnis des griechischen Stadtstaates hinausweisende normative Bedeutung. Vie
Polis heißt noAtnuT] uoivwvla, 'bürgerliche Gesellschaft' als eine Vergemeinschaf-
tung von Freien und Gleichen (uoivwvla rt:iiv ekvf}eewv ual 6µolwv)7, die nicht. auf
Gewalt und Unterdrückung, sondern auf Prinzipien des Rechts beruht. Indem
Aristoteles den politischen Sprachgebrauch seiner Zeit normiert, erhält der Ter-
minus selbst eine die menschlichen Gesellschafts- und Herrschaftsformen normie-
rende Funktion: er dient dazu, die bürgerliche Gesellschaft von allen anderen Ge-
sellschaften zu unterscheiden, d. h. als jene zuerst mit der Polis in die Geschichte
getretene „Gesellschaft" zu bestimmen, die den Menschen als einen Freien zum
Prinzip und die Bürger als Gleiche zu Subjekten der Herrschaft hat. Aristoteles
drückt das in den beiden bekannten, aber gewöhnlich nicht recht verstandenen
Grundsätzen der „Politik" so aus, daß der Mensch von Natur ein „politisches Lebe-
wesen" (6 lJ.vf}ewnor; qn)aet noAmuov C<jiov) und die Polis als noAmuT] uoivwvlrx das
Ziel (d).or;), d. h. die „Norm" der menschlichen Gesellschaftsentwicklung sei 8 •
Hier liegt nun freilich auch die Grenze der Aristotelischen Begriffsbildung. Das Ver-
hältnis der „Natur" des Menschen zu seinem gesellschaftlich-geschichtlichen Dasein
in der bürgerlichen Gesellschaft der Polis bleibt ungeklärt, weil Aristoteles diese
Natur immer schon geschichtlich deutet. Es gibt (faktisch) zweierlei Gesellschafts-
und Herrsqhaftsformen, die in einem gänzlich unbestimmten Sinne „natürlich" sind:

6 Ebd. 1255b 31 ff.


6 Ebd. 1253 a 37 f.
7 Ebd. 1279a. 21. 1328a. 35 ff.
8 Ebd. 1252b 27 ff.

723
Gesellschaft, bürgerliche m. 1. Spätantike und frühes Christentum
die Herr-Knecht-Beziehung und die Beziehungen der Biirger untereinander, d. h.
die bürgerliche Gesellschaft selber. So scheitert schließlich auch der Aristotelische
Versuch einer Normierung der Genese der Polis an der Zwielichtigkeit seines Natur-
begriffs. Zwar ist die Institution der Polis Realisierung menschlicher Gesell-
schaft und als solche ein Maßstab für die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit von
Gesellschaft und Herrschaft: als „gerecht" erscheint eben jene Gesellschaft, die
d_em Telos der Polis entspricht. Aber daß die auf dem „Recht" (der Freien und Glei-
chen) begründete bürgerliche Gesellschaft selber noch auf „ungerechter" Herrschaft
basiert, enthält für Aristoteles überhaupt kein Problem, da er nach einer Normierung
des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft nicht fragt und infolge der
Prämissen seiner Theorie der Politik und Ökonomie auch gar nicht fragen kann.

III. Lateinische Begriffstradition

l. Spätantike und frühes Christentum

Diese Lücke in der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft belegt die Wirkungs-
geschiuhte des Aristotelischen Terminus im Sprachgebrauch der europäischen poli-
tischen Philosophio mit einer Hypothek, die nur unter schweren Belastungen und
nach einem langen Prozeß kritischer Auseinandersetzung abgetragen werden kann.
Gleiohwohl ist es immer derselbe Begriff gewesen, um den sich die Kritik bewegt,
und in gewisser Weise kann man sagen, daß er auch die Mittel zu erweiterten Ver-
wendungsmöglichkeiten an die lland gibt oder doch zumindest suluhe MügliuhkeiLeu
nicht versperrt. Es ist das Konzept einer adligherrschaftlichen, auf begrenzten
Freiheitsrechten basierenden Lebensform, das Aristoteles beschrieben und in dem
sich nicht nur die ältere römische civitas (in der vor-imperialen Zeit), sondern auch
die Adels- und Städtewelt des mittelalterlichen Europa, ja noch die frühneuzeitliche
Ständegesellschaft wiedererkannt hat.
Mit dem Untergang des griechischen Stadtstaates in den neuen Großreichen des
Hellenismus scheint freilich die Grundlage für ein weiteres Fortleben des Aristote-
lischen Begriffs vorerst verlorengegangen zu sein. Soweit sich an den überlieferten
Quellen übersehen läßt, wird er tatsächlich nur in der peripatetischen Schule aufge-
nommen und doxographisch weiter tradiert9 • Dagegen leitet das kosmopolitische
Ethos der Stoa auf der einen, das privatisierende der epikureischen un<l skeptischen
Philosophie auf der anderen Seite und schließlich der Aufstieg des Christentums
in der Spätantike eine Begriffsentwicklung ein, welche die von Aristoteles normier-
ten Verwendungsmöglichkeiten sprengt. Während die klassisch-griechische Philo-
sophie die Ordnung des Kosmos in die Polis scheinen läßt, erhebt das hellenistische
Denken den Kosmos selber zu der „einen" Polis, die von einem den Göttern und
Menschen gemeinsamen, von ,,Natur" aus bestehenden Recht bzw. Gesetz (uotvo!;'
voµo!;' bzw. rpV<JEt ßluatov) regiert wird10• Dieses „Naturrecht" der Stoa unter-

9 Vgl. den Abriß über Ökonomik und Politik bei STOBAEUS, Eclogarum physicarum et
ethicarum libri duo, hg, v. Curtius Wachsmuth, Bd. 2 (Bfirlin 1884), 147, 2ßff.; lll2, 2fl;
ALEXANDER VON .Al>HRODISIAS, Scripta minora, ed. Ivo Bruns (Berlin 1892), 147 f.
l.O ZENON nach DIOGENES LAERTIUS 7, 88 u. CHJ:t:i'.8il'1' nach PLUTARCH, De stoicorum

repugnantiis 9, 4u. MARcIAN, Dig.1,3,2. Vgl.CICERO, Fin. 3, 19, 64;Leg. 1, 7, 23;SENECA,

721
m. 1. Splitantike und frühes Christentum Gesellschaft, bürgerliche

scheidet sich von dem „Recht" jener Freien und Gleichen, die „von Natur" zur Polis
als noÄm"1} "owwvla vereinigt sind. Der Naturbegriff, der bei Aristoteles die Herr-
schaft des Herrn über den Knecht zugleich mit der Herrschaftsordnung der bürger-
lichen Gesellschaft legitimiert, dient jetzt umgekehrt dazu, die Scheidung zwischen
Herren und Knechten, Bürgern und Fremden, Griechen und Barbaren aufzuheben11•
Dem entspricht, daß die Stoiker den Menschen nicht mehr als „politisches" ( = bür-
gerliches), sondern als „geselliges" Lebewesen (Cqfov "owwvt"6v) bezeichnen und
Epikur das auf das Gemeinwesen ("otv6v) bezogene Recht als Voraussetzung einer
nicht näher spezifizierten wechselseitigen „Gesellschaft" zwischen Individuen
interpretiert12 . Das setzt sich in der Sprache des Römischen Rechts fort, das diese
Terminologie vielfach übernommen hat. Während die klassisch-griechische Polis-
theorie die nicht nach dem Muiiter einer bürgerlichen Gesellschaft organisierten
Stämme, Völkerschaften und Großreiche von ihrer Begrifflichkeit ausschließt, bildet
sich bei den Römern ein Recht für „Fremde", die Institution des lus gentium aus.
Hier entwickelt sich die stoische Idee der Welt-Bürgerschaft zu einem vom rö-
mischen Imperium umfaßten Verband von nationes und gentes, der sich potentiell
auf „alle Menschen" (soweit sie Freie und nicht Knechte sind!) erstreckt - „sive
cives Romanos, sive peregrinos"lD.
Auf diesem Boden hat sich der Einbruch des Christentums in die antike Welt voll-
zogen. Der entscheidende Wandel, den die .Botschaft des Neuen Testaments in der
Sphäre des Politischen zur Folge hat, ist wohl darin zu suchen, daß sie die für die
ganze heidnische Städtewelt charakteristische Einheit von Bürger- und Kultur-
gemeinde auflöst. Die Gemeinsamkeit der Opfer und Feste, die Verehrung der „stadt-
hütenden Götter", die noch bei Aristoteles zum Begriffssinn von noÄtTt"fJ K.owwvla
gehören14, geht zwar schon weitaus früher verloren, aber erst mit der Ausbreitung
des Christentums und seiner Konstituierung zur „Kirche" treten Polis bzw. civitas
und ecclesia einander gegenüber. Daran knüpft sich die Idee einer doppelten Bürger-
schaft des Menschen, die Augustin am Ausgang der Antike zur Geschichtstheologie
der civitas Dei und ihres Gegensatzes zur civitas terrena zusammenfaßt. Sie drängt
während der ersten nachchristlichen Jahrhunderte die klassische Politik und das ihr
zugrunde liegende sprachliche Bezugssystem fast ganz in Vergessenheit.
Bei AUGUSTIN ist der Terminus 'bürgerliche Gesellschaft' (in der latinisierten Form:

BpiRt. 9n, fll ff.; DA otio 31, 32; MARC Aumu. 9, 9. Vgl. dazu KARL REINHARDT, Kosmos
und Sympathie (München 1926), 178 ff.
11 Stoicorum veterum fragmenta, hg. v. HANS v. ARNIM, Bd. 3 (Leipzig 1903), Nr. 343.

349. 352. 353. 355; DIOGENES LAERTIUS 6, 63. 72. 98; PLUTARCH, De Alexandri Magni
fortuna aut virtute 1, 6; SENECA, Benef. 3,29; Epist. 47; EPIKTET, Dissertationes 1, 13, 3.
12 Vgl. Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 3, Nr. 346. 686. EPIKTET, Dissert. 3, 13, 5;

SENECA, Clem. 1, 3, 2; DIOGENES LAERTIUS 10, 151 f. (zu Epikur).


13 Institutiones 3, U3, zit. MoRITZ VomT, Das jus naturale, aequum et bonum und jus

gAnt.inm rlAr R.ömAr, TM. l (T.11ip7.ig lRflß), 403; w11it.11r11 "R11l11e11 11hrl., 399 ff. T.Tnt.11r rl11n
„homines" des jus gentium sind die Sklaven nicht inbegriffen, im Gegenteil wird das
Institut der Sklaverei gerade nach seinen Grundsätzen interpretiert (Inst. 1, 2, 2). Nur
auf Grund des Naturrechts (jus naturale) sind alle Menschen frei, während das Völker-
recht die Unterscheidung von Knechten und Freien herbeiführt (Dig. 1, 1, 4) und insofern
dem R.ee.ht der bürgerlic.hen Gesellschaft (jus civile) nähersteht a.Is dem Naturrecht.
14 ARISTOTELES, Pol. 1322b 18 ff. 1328b 11 ff.

725
Gesellschaft,hürgerliche m. 2. Übersetzung ins Lateinische
'societas civilis') nur an einer Stelle15 nachweisbar, die den genannten Zusammenhang
von Bürger- und Kultgemeinde in der vorchristlichen Antike thematisieTt. Dem
kommt entgegen, daß die meisten der im Neuen Testament verwendeten antiken
politischen Termini·nicht mehr die ihnen ursprünglich zukommende, sondern eine
allegorisch-mystische Bedeutung angenommen haben. Vielleicht wird daran der
schon in den hellenistischen Philosophenschulen begonnene Prozeß ihrer Entleerung
am deutlichsten, der sich in der frühchristlichen Väterliteratur fortsetzt 16. Die Ge-
genbewegung beginnt jedoch schon im 4. und 5. Jahrhundert, mit Laktanz, Am-
brosius und nicht zuletzt mit Augustin, die in stärkerem Maße auf die spätantike
Bildungstradition zurückgreifen und sie mit der biblisch-christlichen Vorstellungs-
welt verbinden. Dies gilt im übrigen auch für den systematischen Aufbau des
Römischen Rechts, über dessen spätere terminologische Verschränkung mit dem
Aristotelismus nooh zu berichten soin wird. Die am Ausgang der Antike wieder
„öffentlich" gewordene Stellung der Ecclesia hat jedenfalls zur Folge, daß sich die
christliche Lehrtradition stärker an die überlieferte politische Vorstellungswelt und
ihre sprachlichen Grundfiguren anschließt. Soweit es die Entweltlichung und re-
ligiöse Umdeutung der politischen Begriffe im frühen Christentum zuläßt, erneuern
"die Lehrer der Kirche die antiken Orundlagen der Koinoniatheorie, woraug wir fol-
gern können, daß uuuh Jiti BuLtiuhufL Jrn; Nuucu Tm.1Lulll1mLl:! Ull.M kl1t1:1Misch-politische
Traditionsverständnis der „bürgerlichen Gesellschaft" nicht für immer zu sprengen
veTmor,hte.

2. Die Vbersetzung ins Lateinische

Daß der Begriff von der politischen Philosophie wieder aufgenommen wird, geht
im wesentlichen auf die mittelalterliche Aristotelesrezeption zurück. Mit ihr -
und nicht mit dem Naturrecht des 17. Jahrhunderts - beginnt die neuere Begriffs-
geschichte von 'bürgerlicher Gesellschaft'. Zwar kennt die europäische Bildungs-
sprache seit Cicero die latinisierten Formen der noÄ.tnu~ uowwvta, aber diese
haben in größerem Uinfang doch erst mit den Übersetzungen der Aristotelischen
„Politik" und „Nikomachischen Ethik" während des 13. und 14. Jahrhunderts und
der auf sie folgenden scholastischen Kommentierung dieser Schriften Eingang in
die Sprach- und Begriffswelt der gemanisch-romanischen Völker gefunden. Bei
CICERO wird das Wort mit 'societas civilis' oder auch 'communitas civilis' wieder-
gegeben17. Wenn man sich zunächst an den Tatsachen der Übersetzung aus dem
Griechischen ins Lateinische orientiert, so fällt auf, daß uoivwvta sowohl mit 'so-
cietas' als auch mit 'communitas', 'communicatio', 'communio' und 'coetus' wieder-
gegeben werden kann. WILHELM VON MoERBEKE, der erste mittelalterliche Über-

15 AUGUSTIN, De civitate Dei 4, 32. Zur originär-bürgerschaftlichen Sprache von Augustin

vgl. Wll.JllilLM KAMLAH, Chri:i!tentum und Geschiohtlichlrnit, 2. Aufl. (Stnttgart, Köln


1951), 155 :ff.
18 Eine Übersicht uber den Bedeutungswandel politischer Termini im Übergang vom

Griechentum zum Christentum geben die Artikel bei KITTEL, vor allem s. v. uowoi;, Bd. 3
(1967), 789 ff., s. v. oluo~, Bd. 5 (1966), 122 :ff. u. s. v. n6Äti;, 'Bd. 6 (1965), 516 :ff. Für
diesen Zusammenhang lehrreich auch die Behandlung politischer Termini boi Du CANOE.
17 Vgl. CICERO, Rep. l, 49; Fin. 3, 66; Nat. deor. 2, 78; De orat. 2, 68; Leg. 1, 62.

726
ID. 3. Hochscholastik Gesellschaft, bürgerliche

setzer der „Politik" (1261), verwendet durchweg 'communit.as' bzw. 'communicatio


civilis', woraus sich die Bevorzugung dieser Begriffe in de:Q. Kommentaren von
Albertus Magnus und Thomas von Aquin erklären dürfte, denen der lateinische Text
des Wilhelm von Moerbeke zugrunde liegt. Daneben kennt Thomas die Wendungen
'societas politica', 'societas publica' und gelegentlich 'societas civilis': Diese zuerst
von Cicero benutzte Wiedergabe des griechischen Wortes scheint sich mit den
Übersetzungen der Humanisten während des 15. und 16. Jahrhunderts durchgesetzt
zu haben. Voran geht hier die vielgelesene lateinische Ausgabe der „Politik" von
LEONARDO BRUNI (1438), der die Wendungen Moerbekes als „absurd" und bar-
barisch empfindet 18 . Im 17. Jahrhundert ist 'societas civilis', 'civil society', 'societe
civile', 'societa civile' bei Aristotelikern wie Antiaristotelikern gleichermaßen ver-
breitet, was darauf schließen läßt, daß die jüngere Übersetzung die neben ihr
stehenden als „ältere" allmählich verdrängt.
Im Zusammenhang dieser Übersetzungsprobleme ist für uns die doppelte Synonymi-
tät von 'civilis' und 'politicus' auf der einen, von 'societas' und 'communitas' auf
der anderen Seite von Wichtigkeit, der als drittes Begriffsmoment die Fortschrei-
bung der Aristotelischen Identitätsformel von noÄi~ und noÄn:oeiJ ieowwvta folgt.
So ßohrcibt zu Hcginn dca 11. J11hrhundcrta JAKOD VON VITEIRDO: Harum autcni
c-0mm1tn#a.tmn seu. soc1:eta.t11.m instü11#0 ex 1:psa. hom1:r1.11.m na.tu.ra.li'. 1:ncl1>na.t1:one processit
'Ut Philosoplm:s oslerul-it I. Pol-itü:orurn 19 • Dieser Gleichsetzung entspricht das syno-

nyme Verhältnis von 'civilis' und 'politicus', das bereits.bei ALBERTUS MAGNUS auf
die Identitätsformel hinweist: De numero eorum, heißt es im Kommentar zur Aristo-
telischen „Politik", quae sunt naturalia homini, civitas est, et communicatio civilis,
sive politica 20 • Die Synonymität von 'civilis' und 'politicus' geht auf die Übernahme
griechischer Termini in das Lateinische zurück. CICERO spricht als erster von jenem
locum in philosophia, quem civilem recte appellaturi videmur, Graeci noÄmie6v 21 .
'Civilis' ist auch für den Römer das, was den 'civis', den Bürger, als Glied der civitas
Romana betrifft, philosophia civilis also die Politik als Bestandteil der klassisch-
griechischen Philosophie. Diese sprachlichen Tatsachen der Übersetzung sind in das
ältere Begriffsverständnis von 'bürgerlicher Gesellschaft' mit einzubeziehen. über-
blickt man die Geschichte dieses Begriffs in der Neuzeit, so läßt sich sagen, daß ihm
nicht nur die moderne, am Ende des 18. Jahrhunderts aufbrechende Differenz von
„Staat" (civitas, res publica) und Gesellschaft (societas, societas civilis, populus),
sondern auch der wenig später postulierte Gegensatz zwischen Gesellschaft (socie-
tas) und Gemeinschaft (communitas) bzw. „Genossenschaft" unbekannt ist'.

3. Begrilfsverständnis in der Hochscholastik

Darüber gibt die Rezeption der Aristotelischen Terminologie in der Scholastik des
13./14. Jahrhunderts weiteren Aufschluß. Albertus Magnus und THOMAS VON AQUIN

18 LEONARDO BRUNI, De interpretatione recta II. Vgl. auch Aristotelis in libros Politico-

.cum prooemium, ARISTOTELES, Opera, t. 3, ed. Jakob Mantinus (Venedig 1562), 225 f.
1t JAKOB VON V1TERBO, De regimine ohristiano (1301/02), hg. v. Henri Xavier Arguilliere
(Paris 1926), 91.
20 .ALBERTUS MAGNUS, Commentarii in octo libros Politicorum Aristotelis l, 1. Opera,

t. 8 (Paris 1891), 6.
2 1 CICERO, Fin. 4, 5. Vgl. auch 5, 66 u. ders., Epist. ad Atticum 6, 1.

727
Gesellschaft, bürgerliche W. 3. Hochscholastik

verschränken den von Aristoteles ausgebildeten Begriff einerseits mit biblisch-


christlichen Inhalten, andererseits mit bestimmten juristisch-politischen Elementen
des mittelalterlichen Stadtlebens. Der geschichtstheologischen Unterscheidung
zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz entsprechend, bewegt sich jetzt der
Aufbau der politischen Philosophie um zwei Pole: die als „weltlich" verstandene
bürgerliche Gesellschaft (communitas civilis) und die überweltliche, alle mensch-
lichen Satzungen transzendierende Gemeinschaft in Gott (communitas divina), die
Thomas ihrerseits nach der gegenwärtigen und künftigen Gestalt unterscheidet:
Est autem alius modus communitatis ad quam ordinatur lex humana, et ad quam
ordinatur lex divina. Lex enim humana ordinatur ad communitatem civilem, quae est
hominum ad invicem . . . Sed communitas ad quam ordinat lex divina, est hominum
ad Deum vel in praesenti, vel in futura vita 22 • Obwohl also die klassische Bürgerge-
meinde durch das Christentum den geschichtlichen Situationsbezug verloren hat, er-
scheint sie bei Thomas wieder als der systematische Bezugspunkt zur Bürgerschaft
der Gottgläubigen (civitas Dei, res publica sub Deo). Zwar überwölbt deren Transzen-
denz die Bürgergemeinde des Aristoteles (als ecclesia visibilis und invisibilis), aber
ohne ihre geschichtliche Immanenz gebrochen zu haben. Hinfort steht sie im Tho-
uu;i1:1i1imh1:u SLufonuau uer Gm1efämhaftsform1m o,n einor beotimmtcn Stelle, nach un·
tcn, wie bei AritJtotclcs, unterschieden von der „häuslichen", nach oben hin, in EnL-
sprechung zur „civitas Dei" Augustins, von der „göttlichen" Gemeinschaft. So be-
handelt Thomas im Sentenzen-Kommentar die Koinoniaformen deR Aristoteles als
„diversas communicationes", wobei der communicatio politica die „natürliche" und
„häusliche" vorhergeht und sie selber von der „göttlichen" transzendiert wird, die
l:liuh iLrerl:leiLl:l in uer eeulei,;ia verkllrpert: Est enim communicatio alia quidem natura-
lis, secundum quod in naturali origine aliqui communicant; et in ista communicatione
fundatur amicitia patris et filii et aliorum consanguineorum. Alia vero communicatio
est oeconomica, secundum quam homines sibi in domesticis officiis communicant. Alia
vero communicatio est politica, secundum quam homines ad concives suos communicant.
Quarta communicatio est divina, secundum quam omnes homines communcicant in uno
corpore Ecclesiae vel actu vel potentia23 •
Dem entspricht eine weitere, über Aristoteles' Begriffsnormierung hinausgehende
Unterscheidung, die Thomas in diesem Zusammenhang vornimmt: die Unter-
scheidung des gesellschaftlichen Lebens der MenRchen nach den Momenten des
Immerwährenden und Zeitlichen (in perpetuum et temporale). Als „immerwährende
Gesellschaft" (societas perpetua) bezieht Thomas die bürgerliche Gesellschaft auf
das zeitliche Leben des Menschen im Ganzen (ad totum tempus vitae hominis), und
das heißt für ihn: auf seinen „Aufenthalt" in der „Stadt" (mansio civitatis). Die
ethisch-politische Lebensform der Stadt wird nicht mehr ausschließlich teleologisch-
naturhaft, d. h. als zur Vollendung des menschlichen Daseins gehörig betrachtet,
sondern mit der Endlichkeit des bürgerlichen und seiner Unverhältnismäßigkeit
zum göttlichen Leben zusammengedacht. Aristoteles wird durch Augustin, die
Polisidee der „Politik" durch den Gegensatz von civitas Dei und civ1tas terrena
relativiert. So stellt sich für Thoma.s in cfor li:ingmm:nng des von der Zeit. nicht be-

22 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica I, 2, qu. 100, art. 2c. Vgl. auch qu. 100, art. 5
(republimi. Rnb fäio).
23 Ders., Super libros sententiarum 3, 29, 6.

728
IV. 1. Reformation Gesellschaft, bürgerliche

rührten Seins der antiken Stadt auf das zeitliche Dasein der christlich-mittelalter-
lichen Stadtbewohner die „bürgerliche Gesellschaft" des Aristoteles dar; die „socie-
tas publica sive perpetua" erscheint unter dem Begriff der societas politica: Illud
enim, a<l quod aliqua multitudo, vel et iam duo, vel tres obligantur, quandoque est perpe-
tuum, sicut illi qui efficiuntur alicujus civitatis cives perpetuam societatem ineunt: quia
mansio civitatis eligitur a<l totum tempus vitae hominis, et haec est societas politica 24•

IV. Civitas und societas civilis im neuzeitlichen Naturrecht

Der Schulbegriff der bürgerlichen Gesellschaft ist in der von Albertus Magnus und
Thomas von Aquin rekonstruierten Form bis zum 18. Jahrhundert in Geltung ge-
blieben. Die lange Dauer seiner Geltung hängt natürlich damit zusammen, daß wir
es hier mit der Bildungssprache der europäischen Schulphilosophie zu tun haben,
die an bestimmte äußere Tradierungsformcn gebunden ist. Aber diese Sprache ist
mehr als die Terminologie eines in sich verfestigten Schul- und Bildungswissens;
als Bestandteil der von Aristoteles begründeten Tradition gehört sie geschichtlich
zur alteuropäischen Gesellschaft, deren herrschaftliche und politische Verfassung sie
mit den ihr eigenen begrifflichen Mitteln zum Ausdruck bringt. Die aristotelisch-
scholastische Sprechweise kennt keine Rela Li Vieru11g ihrer Tcrrni11i uurch Gei;chichts-
philosophie oder Gesellschaftstheorie, wie auch eine Normierung der politischen
Sprache durch die auf apriorifmhen Prim;ipien beruhende Naturrechtslehre gänzlich
außerhalb ihres Gesichtskreises liegt. Hier bleibt die politische Philosophie in der bei
Aristoteles begründeten Gestalt jahrhundertelang die Theorie der gesellschaftlich-
geschichtlichen Welt, in der Natur und Geschichte des Menschen im Horizont einer
prinzipiell als unwandelbar gedachten bürgerlichen Gesellschaft eine Einheit bilden.

1. Reformation: Luther, Melanchthon, Calvin

Der Charakter der Unwandelbarkeit der Gesellschaftsstruktur und ihrer Terminolo-


gie wird trotz der Kritik am scholastischen Aristotelismus auch von den Reforma-
toren nicht in Frage gestellt. Er ist vielmehr durch einige Grundvorstellungen, die
mit dem Aristotelismus leicht in Einklang zu bringen waren, noch begünstigt
worrlen. DaR trifft besonders auf Luthers und Melanchthons Lehre von den drei
Ständen und ihre N ormierungsfunktion im Zusammenhang von Gesellschaft, Recht
und Herrschaft zu. 'Recht' meint bei LUTHER ganz allgemein das „weltliche Regi-
ment", 'Politia', Herrschaft in Land und Stadt, verstanden als Regierung von Men-
schen im status politicus von „Obrigkeiten" über Untertanen 25 • Die Menschen all-
gemein haben ihren Ursprung im „Hause", in der Oeconomia, dem nach dem „Haus-
recht" geordneten Herrschaftsverhältnis zwischen Eltern, Kindern und Gesinde. Und

24 Ders„ Contra. impugna.ntes Dei cultum fit, rflligionem a.


26 LUTHER, Predigten über das 5. Buch Mose, WA Bd. 28 (1903), 543: 'Recht' ist das Welt-
Uclte Reyiment, du1J Lundrecht, Studrecht, durnuch die B11rgermeister und Fürsten sollen
regieren in Eusserlichen dingen. Die „Eusserlichen dinge" beziehen sich auf den für die
Drei-Stände-Lehre grundlegenden Rechtsbegriff, die Mannigfaltigkeit der weltlichen
Rechtsvflrhält,niRRfl. Vgl. HF.R.MANN WOJ,Ji'GANG REYER, Luther und das Recht (München
1935).

729
Gesellschaft, Lürgerlichc IV.1. Reformation

über beiden „weltlichen" Regimenten erhebt sich das „geistliche", die Kirche oder
Ecclesia, die vom Haus, wie Luther sagt, 'Personen', von der Stadt, d. i. der 'Politie',
Schutz und Schirm erhält: Also sagt Psal'm 127, das auff erden allein zwey leiblich
regiment sind, Stad und Haus: 'Wo der Herr das Haus nicht bauet'. Item: 'Wo der
Herr die Stad nicht behütet'. Das erst ist Haushalten, daraus komen Leute. Das ander
ist Stad regirn, das ist Land, leute, Fürsten und Herrn (das wir die weltliche Oberkeit
heissen). Das ist alles geben, kind, gut, ge'ld, thier etc. . . . Darnach kömpt das dritte,
Gottes eigen Haus und Stad, das ist die Kirche, die mus aus dem Hause Personen,
aus der Stad schutz und Schirm haben 26 • Die Genesis-Vorlesung von 1534/35, in der
Luther die Drei-Stände-Lehre vornehmlich entwickelt hat, läßt darauf schließen,
daß es sich dabei um eine bestimmte, mit der Schultradition eng verbundene, ge-
lehrte Topologie handelt, die älter ist als ihre Systematisierung im reformatori-
schen Denken 27 •
~ntscheidend für das. lutherische Verständnis ist jedoch seine Theologie und nicht
die traditionelle, naturrechtlich unterbaute Moralphilosophie. Im Gegensatz zum
antiken Ursprungsproblem von Gesellschaft und Herrschaft, wie es vom 1. Buch
der Aristotelischen Politik oder in den sophistischen und stoischen Reflexionen über
OP.TI 111P.TI~r.hlfohe.n Urzustand gestellt wird, ist bei Luth~r u~r „Aufang" aller welt-
lichen Ordnung, der hii11Aliohen, politifiohcm und kirohliohon, im Genesis-Bericht,
und das heißt: unmittelbar von Gott gesetzt. Deshalb fällt aus der Drei-Stände-
Lehre sowohl die Aristotelische Koinoniatheorie als auch der scholastische Perfectio-
Gedanke aus, so daß der von Luther in diesen Vorlesungen verwendete Begriff der
bürgerlichen Gesellschaft zwar das Bürgersein des Menschen meint, aber nicht als
zur „natürlichen" Vollkommenheit ue:> 111tm1:1ehliehe11 Da1:1ei111:1 gehörig, :>oudern durch
den Willen Gottes gesetzt und geschaffen: Antea dictum est in omni gubernatione
respiciendum esse ad. ordinatione'fl'!, et voluntatem Dei, et eadem doctrina nobis hoc in
loco proponitur et commendatur, quod singulari consilio voluerit Deus esse in hac vita
istas larvas sive personas, hoc est, ordines et gradus civilis societatis 28 • Im Hintergrund
steht die reformatorische, am klarsten in den frühen Schriften formulierte Lehre
von den zwei Reichen, dem geistlichen und dem weltlichen 29 • Daher hat der aus dem
28 LUTHER, Von den Konziliis und Kirchen, WA Bd. 50 (1914), 652. Luther nennt sie auch

die drey Jerarchien, von Gott geordent, wobei er hier hinzufügt: und dürffen keiner mehr,
haben aucli gnug und uber gn'ug z·u thwn, du11 wir in diesen dreien recht leben wider den
Teuffel (ebd.). Von ihnen als Herrschaftsständen unterschieden sind die Berufsstände,·
status oder ordines im engeren Sinne. Interessant ist das hier verwendete Wort 'stad', das
gleichsam zwischen 'Staat', 'Stand', 'Stadt' steht und civitas, politia, status und ordo
politicus (Weltlich Regiment) in einem bedeutet. Zur Drei-Stände-Lehre vgl. WERNER
ELERT, Morphologie ,des Luthertums, Bd. 2 (München 1932), 49 ff.
2 7 Vgl. ELERT, Morphologie, Bd. 2, 52 ff. Nach ERNST TROELTSCH, Die Soziallehren der
(Jhristlichen Kirchen und Gruppen (Tübingen 1912), 522 ff. setzt Luther damit die auf
Plato zurückgehende mittelalterliche Gliederung des populus christianus in status
~cclesiasticus, po1iticus und oeconomicm1 fort, womit frnilir.h <liA lnt,hm-iimhA 0Ar.onomiß.,
die traditionell-aristotelisch ist, nicht übereinstimmt.
28 LUTHER, Vude1'!u11g1m libei· 1. Mu!!e (löM-40), WA Bd. 44 (1910), 440.
29 Ders., An den christlichen Adel deutscher Nation (1520); ders., Von weltlicher Obrigkeit

(1523). Vgl. dazu GusTAF TöRNVALL, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther
(München 1947) u. HEINRICH BoRNKAMM, Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zu-
sammenhang seiner Theologie (Gütersloh 1958).

730
IV. 1. Reformation Gesellschaft, bürgerliche

gelehrten Sprachgebrauch übernommene Begriff der societas civilis mehr den Cha-
rakter einer politischen Metapher, mit der Luther das als leiblich-körperlich, d. h.
geschichtstheologisch und nicht moralphilosophisch oder naturrechtlich aufgefaßte
„weltliche" Dasein des Menschen umschreibt.
Im Unterschied zu Luther erhält bei MELANCHTHON der Begriff sein moralphiloso-
phisches Fundament und den traditionell-politischen Stellenwert zurück, beides Mo-
mente, die sich aus der erneuten Hinwendung der Reformatoren zu Aristoteles erge-
ben. Dafür aufschlußreich ist der Politik-Kommentar, den Melanchthon mit der tra-
ditionellen Abgrenzung zwischen Politik und Ethik beginnt. Während diese die „pri-
vaten" Sitten erörtere ( sicut Ethica de privatis moribus disputant), ist der Gegenstand
der Politik die bürgerliche Gesellschaft, die Pflichten der Menschen ihr gegenüber
nnil flp,r m1.t.iirli11hfl F.nfa;t,P.h1rneR1.Vllnn fliP.Rr.r <iARAllRdrnft, ( itrJ, politfr,a diRp?tf,anf, dr.
societate civili, et offici1:s ad socie.ta.tem pertinwnt?:bus, et cai1n~as .~ocietatis ex natura
ducitp 0 • llier lehrt vor allem die .l!;xposition zum l. Huch der Aristotelischen
„Politik", in welchem Maße die bei Melanchthon vorherrschende Sozietätstheorie von
Aristoteles und der stoisch-humanistischcnTradition beeinflußt und der Begriff der
bürgerlichen Gesellschaft von herkömmlichen Sprechweisen abhängig iRt, 31 . Uni!
schließlich erwächst aus den Kommentareu zur „Nikumauhilluhen ELhik11 Melan-
chthons „Philosophia moralis", die schon dem Titel nar.h an die alte moralphilosophi-
sche Tradition anknüpft und auf die protestantischen Universitäten und Schulen von
großem Einfluß werden sollte. Hier finden sich, eingefügt in die mannigfachen Rück-
griffe auf Aristoteles und Cicero, Ansätze zu einer naturrechtlichen Begründung des
Gesellschaftsbegriffs ( causa efficiens est declinatio, seu iudicium naturae hu?nanae ad
collendam societatem), die der theologischen (vult Deus esse consociationem) unver-
mittelt gegenüberstehen 32 • Gegen die aristotelisch-scholastische, auf dem Natur-
gesetz (lex naturae) und der menschlichen Vernunft (ratio) aufbauende Argumenta-
tion sich wendend, erklärt Melanchthon in den „Locis theologicis", daß Gott die
wahre Ursache der bürgerlichen Gesellschaft sei: Etsi vera est haec sententia, tamen
nondum satis de causa civilis societatis seu imperiorum dixit. · N am solis hu?nanis
consiliis et viribus nequaquam retineri honestae leges et civilis societas possunt.
Sciamus ergo voce Dei institutum esse hunc ordinem et comprobatum et vere ab eo
iuvari 33• Das „Naturgesetz" ist noch nicht jenes der profanen naturrechtlichen
Vernunft, sondern beruht auf dem mosaischen Gesetz, das, obwohl von Gott
nur einem Volk gegeben, das Zeugnis seines Willens für das politische Leben
schlechthin darstellt. Und wie menschliche Vernunft und göttlicher Wille aufeinan-
der bezogen sind, so bilden, der christlichen moraltheologischen Tradition entspre-
chend, mosaisches Gesetz und „Natur" - als Moralgesetz verstanden - eine Ein-

30 PHILIPP MELANCHTHON, Comentarii in Politica Aristotelis, CR Bd. 16 (1850), 421 ff.


31 Ebd., 423 f. 435. Gleichzeitig werden civitas und societas civium auf den ihnen gemein-
samen Status bezogen - Finis omnium civium est puhlica utilitas seu, ut dicarn clari·us,
tranquillitas vel incolumitas publici status (ebd., 435) - , der hier 'status publicus', an an-
deren Stellen (CR Bd. 21, 1854, 549. 992 ff. 1009) 'status civilis' bzw. 'politicus' heißt.
Vgl. a.uch die Wendungen 'socieLa.s civilis seu imperium' (ebd., 991) und '11tatu11 civili11 seu
imperium' (ebd., 992).
32 Ders., Philosophiae moralis epitome, UR Bd. 16, 159 :lf. u. ders., Grammatica Graeca,

CR Bd. 20 (1854), 152. Vgl. die Interpretation bei ELERT, Morphologie, Bd. 2, 29 ff. 308ff.
33 MELANCHTHON, Loci theologici, CR Bd. 21, 991.

731
Gesellschaft, bürgerliche IV. 2. Neuzeitliche Philosophie und Politik

heit, die nach Melanchthon der bürgerlichen Gesellschaft als ihre „Ordnung" zugrun-
de liegt: De hac voce manifestum testimonium est tota lex Moysi, quae etsi uni populo
proposita est, tamen testimonium est voluntatis Dei de hac vita politica. Est autem Lex
moralis, ille ipse ordo societatis civilis, si dextre intelligatur 34• Es ist die zweite Tafel
des Dekalogs, die für Melanchthon und die altprotestantische Ethik zu den Ge-
setzen und Lebensformen innerhalb der Politica in Beziehung steht, während die
erste die geistliche Sphäre der Ecclesia betrifft. Über diese in ähnlicher Weise auch
bei Calvin, Zwingli und Bucer anzutreffende Scheidung zwischen geistlicher und
weltlicher „Ordnung" (ordo ecclesiasticus - ordo civilis sive politicus) 3 5 geht
Melanchthon aber insofern hinaus, als er, von der humanistischen Bildung des
16. Jahrhunderts getragen, den philosophischen Morallehren der Antike, der Ethik
und Politik ein größeres Gewicht zu geben geneigt ist als die übrigen Reformatoren.
Das theologische Fundament schließt für ihn die moralphilosophische Rechtferti-
gung des ordo politicus in sich ein, und diese begründet ihrerseits den ethisch-
politischen Rang und die säkulare Stellung, die der Begriff der societas civilis damit
zu erhalten beginnt - societas civilis est colenda: societas civilis non potest sine
imperio retineri, wie es bei Melanchthon in einem Satze heißen kann 36 •

2. Neuzeitliche Philosophie und Politik: Bacon, Hobbes, Bodin

Diesen Charakter der Unwandelbarkeit, (Jp,r mit dem Aristotelischen Begriff und sei-
ner sprachlichen Rezeptionsgeschichte auf das engste verknüpft ist, bewahrt der
Terminus auch in jenen politisch-philosophischen Richtungen der Neuzeit, die sich

34 Ebd.
36 Vgl. u. a. CALVIN, Institution de la religion chretienne 3, 19, 15. Opera, hg. v. Wilhelm
Baum u. a., CR Bd. 31 (1865), 358 (regnum spirituale - regnum politicum);
ULRICH ZWINGLI, De vera et falsa religione commentarius, CR Bd. 90 (1914), 867 (civitas -
ecclesia, vita civitatis - vita ecclesiae Christianae) ; MARTIN BucER, Das Ym Selbs niemant
sonder anderen leben soll, und wie der mensch dahyn kommen mög, Opera, Ser. l, Dt.
Sehr„ Bd. 1 (Gütersloh 1961), 57 f. (göttliche 'ordnung' - menschliche 'polizey'). Siehe
dazu JOSEPH BoHATEC, Calvins Lehre von Staat und Kirche (Breslau 1937); ALFRED
FARNER, Die Lehre von Staat und Kirche bei Zwingli (Tübingen 1930). Zu Bueer, der
neben Melanchthon am stärksten vom Humanismus geprägt ist, jetzt KARL KOCH,
Studium Pietatis. Martin Bucer als Ethiker (Neukirchen 1962). 'Societas civilis' begegnet
in diesem Zusammenhang nur bei CALVIN: Neque ... tantum civilis societas sumus, sed
insiti in Christi corpus, alii sumus vere aliorum membra, Auslegung von 1. Cor. 12, 26.
Opera, CR Bd. 77 (1892), 501; BOHATEC, Calvin, 628 f.
36 MELANCHTHON, Commentarii, CR Bd. 16, 424. Zur Einheit von theologischer und moral-

philosophischer Begründung vgl. CR Bd. 21, 999: Postquam igitur satis ostensum est po-
liticum ordinem esse rem bonam et Deo p'lacentem, adiiciam aliquod regu'las utiles ad pacem
et ad allendam revere'ntiam in bonis mentibus erga magistratus et universum ordinem civilis
.w1r:il'.f11,ti8, qun,e. certe di'.gna. est bonis ingeniis et r:11,m rP.fßrt1tr ad gloriam Dei, cultuo cot gratiio
Deo. Vgl. ebd., 984 das Ineinanderübergehen von ecclesia, oeconomia und politia, deren
Distinktion für Melanchthon, im Gegensatz zu Luther, eine untergeordnete Rolle spielt:
Hactenus Ecclesiam descripsi ac recitavi ... Nunc quia necesse est eam inter homines vivere
in oeconomiis, politiis, imperiis, ubi vult Deus audiri confessionem verae doctrinae imo ubi
colligit sibi Ecclesiam, collocanda est in oeconomiis et societate civili, et docenda, quid de
coniugio et de imperiis sentiendum sit.

732
IV. 2, Neuzeitliche Philosophie und Politik Gesellschaft, bürgerliche

von der scholastischen Philosophie in zunehmendem Maße emanzipieren. Das gilt


z. B. für FRANCIS BACON, der neben der Aristotelischen Logik auch die Politik im
reformieren sucht, indem er sie durch eine der traditionell-aristotelischen Konzep-
tion unbekannte Lehre vom Umgang (de conversatione) und von den Geschäften
(de negotiis) ergänzt. Gleichwohl bleibt ihr Subjekt dasselbe - die bürgerliche Ge-
sellschaft, der die Menschen die in diesen Lehren behandelten „Güter" verdanken
(bona quae ex societate civili Jwmines sibi parare expetunt) 37 • Unter den Disziplinen,
welche die Politik im engeren Sinne zu ergänzen befähigt wären, nennt Bacqn da-
neben noch die Lehre von der Erweiterung der Grenzen des Reichs (de proferendis
finibus imperii) und von der allgemeinen Gerechtigkeit oder den Quellen des Rechts
(de justitia universali, sive de fontibus juris). Die Einführung der ersten Disziplin
bezieht sich auf jenen spezifisch modernen Begriff von Politik, der sich seit Machia-
velli und seiner Schule mit dem Titel der „Staatsraison" (ragione di stato) verbindet,
- auf die Technik des politischen Machterwerbs, die Erhaltung, Steigerung und
Ausdehnung der „Kraft" des absolutistischen Staates. Diesem Politikbegriff setzt
Rar.on ifüi T.AhrA von Ollf ap,mr,htiglrnit. 1mtgegen, die nicht die „Kraft", sondern das
„Gesetz" zur Richtschnur hat. Hier deutet sich de1· für die weitere Begriffsentwick-
lung höchst folgenreiche ll-egensatz von .Politik (im oben genannten Sinne des
Wortes) und Naturrecht an. In societate civili, heißt es bei Bacon, wut low aut vis
valet, in der bürgerlichen Gesellschaft gilt entweder Gesetz oder Gewalt 38 • Der Satz
läuft der klassischen Begriffstheorie genau zuwider, nach welcher die bürgerliche
Gesellschaft dadurch definiert ist, daß in ihr sowohl die Gewalt als auch das Gesetz
herrscht. Das Gesetz bildet insofern mit der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft
eine Einheit, als die letztere selbst durch ein „natürliches" (nach scholastischer An-
sicht: göttliches) Gesetz bzw. Recht legitimiert ist, auf dessen Einhaltung Herrscher
und Volk in ihrem Handeln verpflichtet sind.
Obwohl die mittelalterliche Schulphilosophie durch die Rechtfertigung der politi-
schen Grundbegriffe aus der lex naturalis und ihrem Teilhabeverhältnis zur lex
aeterna der juristischen Akzentuierung der bürgerlichen Gesellschaft den Weg be-
reitet, gehen hier Politik und Naturrecht noch ständig ineinander über. Erst im
17. Jahrhundert, nachdem mit der Entstehung eines neuen Konzepts der politischen
Philosophie und der Konstituierung eines nicht-teleologischen Begriffs von Natur
in der Galileischen Physik die Grundlagen dieser Lehre unglaubwürdig wurden,
bricht die vormals einheitliche Theorie der Politik in zwei Teile auseinander, deren
einer vorzugsweise die Lehre von der höchsten Gewalt oder „Souveränität" ist,
während der andere die politischen Begriffe aus den Grundsätzen des Naturrechts
ableitet.
Das ist die Situation, vor die sich die politische Philosophie seit Machiavelli, Bodin
und Hobbes gestellt sieht. MACHIAVELLI verwendet statt des Terminus 'bürgerliche
Gesellschaft' die weniger klar definierte Wendung des 'hiirgerlichen Lebens' (viverfl
civile, politico)39, während Bonrn ~n ihm festhält. Bodin geht davon aus, daß eine
bürgerliche Gesellschaft (civitas, societas civilis) erst durch das Merkmal der höch-
sten Gewalt (summa potestas, maiestas oder puiss11noo souvcmino) oinc politifloho

37 FRANCIS BACON, De dignitate et augmentis scientiarum 8, 1.


38 Ebd. 8, 3 (Tractatus de justitia universali sive de fontibus juris, AphOl'ismos 1).
39 MACHIAVELLI, Discorsi 1, 3. 6. 18. 49 u. ö.

733
Gesellschaft, bürgerliche IV. 2. Neuzeitliche Philo&0phie und Politik

Organisationsform (respublica, republique) erhält. Mit der Einführung dieser Kate-


eorir. in ilir. nr.m:r.itlinhr. politisc.be Philosophie wird das Verhältnis von bürgerlicher
Gesellschaft und politischer Herrschaftsgewalt von Grund auf verändert. Im Zen-
trum ihres Begriffsverständnisses steht statt jener auf der Idee der Gleichheit der
Herrschenden und Beherrschten als „Bürger" beruhenden bürgerlichen Gesellschaft
die aus der „puissance souveraine" folgende Wirksamkeit der „Regierung", die sich
jetzt allmählich zur Sphäre des „Staats" zu verselbständigen beginnt. Durch das Prä-
dikat der „puissance souveraine" juristisch wie politisch von Berufsverbänden, Kör-
perschaften und Gemeinden abgehoben, bildet der „Staat" nicht mehr eine „bürger-
liche", sondern eine „regierte" Gesellschaft, die von jenen im engeren Sinne „bür-
gerlichen" Gesellschaften terminologisch unterschieden wird: La famille est une
communite naturelle, le College est une communite civile, la Republique a cela d' avantage,
q'ue c'est une communite gouvernee par puissance souveraine 40 ,
Damit hatte Bodin diejenigen Elemente artikuliert, auf deren Wechselwirkung sich
fortan die Geschichte des Begriffs sowohl für die profan-naturrechtlichen wie die
absolutüitisch-politischen Theorien des 17. JahrhundortB aufbauon ßolltc. Es sei
jedoch hervorgehoben, daß die genanntr.n 8t,rnktmvr.rRnhir.hnngen zunächst an
peripheren Punkten einsetzen und das innere Gefüge des Begriffs nonh nicht er-
fassen. Beharrung und Bewegu~ in seinen Grundlagen gehen ineinander über, was
nicht zuletzt der politischen Lage des Zeitalters entspricht, in dem die Emanzipation
vom Aristotelismus sich nur allmählich durchsetzt, weil sie von der sich im 16. Jahr-
hundert erneut konsolidierenden Schulphilosophie vielfach gehemmt wird. So ge-
sehen ist es kein Zufall, daß sich für Bodin die Trennung von „bürgerlicher" und
„regierter" Gesellschaft nicht in der von „Staat" und „Gesellschaft" fortsetzt. Hier
spricht er vielmehr weiterhin die Sprache der traditionell-politisQhen Philosophie.
Est enim, sagt Bodin in der lateinischen Fassung seines politischen Hauptwerks von
dem noch immer als „Gemeinwesen" verstandenen „Staat", res publica civilis societas,
quae sine collegiis, et corporibus stare per se potest, sine familia non potest 41 •
Während die Relativierung des Aristotelischen Begriffs bei Bodin sich nur unklar
und widerspruchsvoll artikuliert, bricht HoBBES mit der mehr oder weniger tradi-
tionellen Voraussetzung, daß noch die „souveräne" Herrschaftsgewalt, die sich im
„Staat" zusammenfaßt, zur Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in einem unmittel-
bar politischen Verhältnis stehe. Dabei hatte auch Ilobbes zunächst über die Trag-
weite der neuen Souveränitätsdoktrin keine genauere Vorstellung, weshalb er in
seiner ersten politischen Schrift, den „Elements of Law" (1640), die traditionelle
Auslegung der civitas als societas civilis einfach von seinen Vorgängern übernimmt.
Hier tritt die 'bürgerliche Gesellschaft' als ein in der Umgangs- und Bildungssprache
der Zeit bekannter Terminus auf, dessen Herkunft aus der klassisch-politischen
Philosophie noch gar kein Problem bildet und mit der von Hobbes bevorzugten
Vertragskonstruktion ohne Schwierigkeiten identifiziert werden kann: This union
so made, is that which men call now-a-days a BfJdy Politic or civil society; and the
Greeks calt it n61.i, that is to say, a city, which may be de-(ined tobe a multitude of men,
unitod as ono pcrson by a cominon power, for their comnwn peace, defence and bene-(it' 2 •

40 BODIN, Les six livres de la republique 3, 7 (Paris 1583), 474.


41 Ders., De republica libri sex (Frankfurt 1597), 521.
42 HoBBES, Elements of Law 1, 19, 8.

734
IV. 2. Neuzeitliche Philosophie und Politik G.-.sellschaft, bürgerliche

Die Idee der Einigung, auf welcher das Gewicht der Definition des souverä,nen po-
litischen Körpers liegt, wird noch nicht „:fiktiv", sondern, wie überall im neueren
Naturrecht, anschaulich-real (mit der „Menge von Menschen" als Subjekt des
Staatskörpers) gedacht. Nicht ohne Grund beruft sich Hobbes auf den zeitgenössi-
schen. Sprachgebrauch und, ohne die leiseste Spur einer Polemik, auf den Polis-
Begriff der griechischen Philosophie.
Das Modell der Vertragskonstruktion wird nun in „De cive" (1642) dadurch grund-
sätzlich verschoben, daß Hobbes die Idee der Einigung selbst fiktiv faßt 43 • Der
Staat (civitas) ist nicht eine ,,Menge von Menschen", die durch eine gemeinsame
Zwangsgewalt zu einer Person vereinigt wird, sondern die Person repräsentiert als
Inhaber der höchsten Gewalt (summum imperium, summa potestas) die Ver-
einigung selbst. Unio autem sie /acta, appellatur civitas sive societas civilis, atque
etiam persona civilis 44 • Die festp;ehaltene Identitätsformel erweis.t sich bei näherer
Betrachtung als ebenso fiktiv wie die Idee der Einheit des Willens, auf der sie beruht.
Die societas civilis ist persona civilis, weil sie an ihr selbst keine Einheit hat. Infolge
il11s n11.t,iirlir.h11n R.11r.htA d11s Einzelwillens auf sich selbst ist nach den Prämii!sen der
Vertragskonstruktion der Wille aller von jener durch die· bürgerliche Gesellschaft
verkörperten .fj;inheit des Willens getrennt, weshalb es hier einer höchsten, zu dieser
Einheit zwingenden Gewalt notwendig bedarf. Dimio Gow11lt vormihufft der fiktiven,
die Einheit der civitas repräsentierenden Person diejenige Realität, die ·bis dahin
die societas civilis im Sinne der noch von Bodin vorausgesetzten hcrrschaftlich-
korporativen Einigung freier Hausväter verbürgt hatte. Es ist nur eine Konsequenz
dieses Ansatzes, wenn Hobbes im „T,eviathan" den Begriff der societas civilis
schließlich ganz aus der Definition der civitas herausnim~t. Die Identitätsformel
bleibt unerwähnt, weil die „persona" die Einheit der civitas nicht nur weit schärfer
zum Ausdruck bringt, sondern weil sie sich dlirch die .Beziehung auf die summa
potestas ganz in jene Sphäre verlegt, welche die politische Verfassung der bürger-
lichen Gesellschaft zum modernen „Staat" institutionalisiert. Die Souveränität, die
noch von Bodin im wesentlichen als Herrschersouveränität begriffen wurde, ent-
wickelt sich zur Souveränität des „Staats", die „bürgerliche" zur „Staatsperson".
Die civitas, sagt Hobbes, ist weder irgendein Bürger, noch alle Bürger zusammen 45 •
Dem Inhaber der höchsten Gewalt, ohne die sie nur ein leeres Wort wäre (civitatem,
s·ine s·urnma potestate unius hominis vel coetus, vocabulum inane esse~ 6 ), stehen die
Bürger prinzipiell als Untertanen gegenüber. Für Hobbes hat sowohl die Vorstel-
lung des Bürgers als eines Menschen, det sein eigener Herr (sui juris) ist, wie der
einer natürlichen Stufenfolge von „Gesellschaften", die in der „bürgerlichen" gip-
felt, keine Bedeutung mehr. Nicht ohne Grund legt Hobbes besonderen Wert auf die
Feststellung, daß alle Gesellschaften nicht „von Natur", sondern nur zufälliger-

43 Ders., De cive 5, 9. Das fiktive Moment umschreibt in „Elements of Law" 1, 19, 10

lediglich dio Übertragung der „Macht und Stärke" jedes einzelnen auf den Souverän.
Vgl. dazu den wertvollen Aufsatz von FERDINAND TöNNIES, Die Lehre von der Volks-
versammlung und die Urversammlung in Hobbes' Leviathan, Zs. f. d. gesamte Staatswiss.
89 (1930), 17.
44 HoBBES, De oive 5, 9.
45 Ebd.

46 Ders„ Leviathan 2, 31.

735
Gesellschaft, bürgerliche IV. 3. Aporie der naturrechtlichen Vertragskonstruktion

weise (quod aliter fieri natura non possit, sed ex accidente) entstehen. Wenn Men-
schen zusammenkommen und sich wechselseitiger Gesellschaft erfremm (.~nm:P.t.nte.
mutua gautlent), so geschieht das nach Hobbes, um Ehre (honor) und Vorteil (utili-
tas) zu erlangen; ilie1:1e begehren 1:1ie zuer1:1t, jene an zweiter Stelle, als ihre Folge4 7 •
Das hier zitierte Beispiel der Handelsgesellschaft hat Gültigkeit für alle mensch-
lichen Vereinigungen: unusquisque non socium, sed rem suam colit. Der einzelne,
dem die Natur ein ursprüngliches und erstes Recht auf Selbsterhaltung gibt, ist
nicht mehr Teil eines Ganzen, das über ihn verfügte. und die Mittel seines Han-
delns und das Handeln selber nach gegebenen Zwecken disponierte, sondern
aus ihm entlassen. Insofern formuliert Hobbes' Naturrecht die Prinzipien der bür-
gerlichen Emanzipation, die Priorität des einzelnen, der in der Verfolgung seiner
natürlichen Zwecke die „Gesellschaft" erst schafft.

3. Die Aporie der naturrechtlichen Vertragskonstruktion

VArglAicht ma.n diese ve.rschiedenen Differenzierungen in den Begrifüformen der


bürgerlichen Gesellscl1af(; mit; den gleicl1ieitigen Hauptrichtungen des Naturrechfai,
so bietet sich ein von den bisherigen Ergebnissen recht abweichendes Bild. Denn im
Mittelpunkt des Naturrechts steht gorndo jono traditionell politische Identitäts-
formel von civitas und societas civilis, welche die Souveränitätsdoktrin aufzulösen
beginnt. Daß diesem Auflösungsprozeß bestimmte Grenzen gesetzt sind, wird frei~
lieh g1m1.rle an Hobbes sichtbar, der im 17. Jahrhundert zu den scharfsinnigsten und
radikalsten Kritikern rler Schu lt.radition zählt. Denn auch bei ihm fehlt, um mit
l!'erdinand 'l'önnies zu reden, der „Schlußstein der Theorie": die deutliche und voll-
kommene Unterscheidung der civitas nicht nur von irgendwelcher Gesellschaft und
Geselligkeit, sondern auch von den großen und dauerhaften Gesellschaften, von allen
sozialen Zuständen, die auch im status naturalis möglich sind48 . Daß dieser Schluß-
stein im Gebäude des neueren Naturrechts fehlt, liegt vor allem daran, daß die Theo-
rie primär an einem Begriff von bürgerlicher Gesellschaft interessiert ist, in dem die
sprachlichen Fundamente des traditionell-aristotelischen Bezugssystems in mannig-
fachen theoretischen Brechungen und begrifflichen Abblendungen bis hin zu Kant
deutlich zu erkennen ~ind. Das Naturrecht, das im Gegensatz zur klassischen Politik
vom Sein des einzelnen ausgeht, überträgt die socictas civilis der Aristotelestradi-
tion aufdie eigene Problematik. In den Systemen des 17. Jahrhunderts kommt der
einzelne, das Individuum, vor dem gesellschaftlichen Ganzen. Die bürgerliche Ge-
sellschaft hat hier kein ursprüngliches („natürliches"), sondern ein abgeleitetes Da-
sein; sie ist ein posterius und nicht ein prius, das Resultat eines Prozesses, der beim
einzelnen Individuum beginnt. Die Lehre vom Naturzustand des Menschen, das
Kernstück des neueren Naturrechts, bezeichnet den Bruch mit dem Naturhorizont
der klassischen Begriffstheorie. Unter dem Titel: De statu hominu,m extra .~ocüiw.tP.m
civilem 49 formuliert Hob bes den entscheidenden Grundsatz, der den Gattungsbegriff
der klassischen Politik aus der ihm eigenen Geschichtslosigkeit herausholt: daß die
Natur der Dinge und des Menschen kein mögliches Prinzip der Vereinigung zur socic ·

47 Ders., De cive 1, 2; vgl. Leviathan 2, 17.


48 FERDINAND TöNNIES, Hobbes und das Zoon Politikon, Zs. f. Völkerrecht 12 (1922), 477f.
49 HoBBES, De cive 1, 1.

736
IV. 3. Aporie der naturrechtliehen Vertragskonstruktion Gesellschaft, bürgerliche

tas civilii; isi. Natur und Geschichte des Menschen, die in der klmisischen Tradition
der Politik eine Einheit bilden, treten jetzt auseinander. Der status civilis, gleichgül-
tig ob vom Instinkt oder vernünftiger Erwägung (recta ratio) hervorgebracht, steht
nur noch insofern unter Bedingungen der Natur, als der „Stand" der Natur die Be-
dingungen angibt, die es notwendig machen, ihn zu verlassen. Bei LocKE ergibt sich
diese Notwendigkeit daraus, daß der einzelne im Naturzustand durch seiner Hände
Arbeit die Dinge der ihnen von Natur zugewiesenen Ordnung entrückt. Indem die
Bestimmung der Natur darin liegt, vom Menschen angeeignet zu werden, ist nicht
die von der Arbeit unberührte Natur der Dinge, sondern das Eigentum der Grund
der civil societyso.
Der Ausgang vom Sein des einzelnen löst die Identität von civitas und societas
civilis auf, die im Naturrecht der Schulphilosophie durch die Teleologie des Natur-
gesetzes (lex naturalis) legitimiert ist, welche die natürlichen Zwecke (Triebe, Be-
dürfnisse usw.) des einzelnen mit den sittlichen Zwecken des Ganzen koinzidieren
läßt. Dieser Bruch mit der Tradition bedeutet jedoch keine Abkehr von der Be-
griffstheorie der societas civilis. Die Differenzierung in den naturrechtlichen Prin-
zipien des Naturrechts setzt sich nicht in den Folgesätzen fort, die das Verhältnis
von uÜJ'gerlicher Gesell1:1ch!tfL und politischer Verfassung be11timmen. Denn das
N uturrccht hiilt mit der Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts an der klassi!ich-
politischen Synonymitätsformel fest; der Sinn von 'bürgerliche Gesellschaft' ist der
traditionell-politische, die Identität mit dem 'Staat'. In ihrer Artikulierung sind
die Wendungen: 'civitas', 'societas' bzw. 'societas civilis', 'populus' und 'res publica'
austauschbar. Duplex communitas seu societa.~ hu,mana, heißt es bei dem Spät-
scholastiker FRANCISCO SuAREZ, dist'ing'uenda est. Una dicitur domestica, seu familiae,
alia civilis seu populi aut civitatis 51 • Diese Wendungen begegnen im 16. und 17. Jahr-
hundert immer wieder, und zwar sowohl innerhalb wie außerhalb der Schulphiloso-
phie, so bei MELANCHTHON (societas civilis seu imperium), CovARRUVIAS (civitas
id est civilis societas), H. CoNRING (civitas sive civilis societas), FRANCIS BACON
(civitas sive societas), HuGO GROTIUS (civitas ac populus sive coetus) und SPINOZA
(civitas sive societas) 52 • Im Unterschied zu den theoretischen Ansätzen von Bodin
und Hobbes tritt hier der „Staat" noch gar nicht für sich selbst in Erscheinung,
sondern wird als das personale Gefüge der „Bürger", d. h. der freien, politisch han-
delnden Männer gedacht. Darin stimmen die sonst einander völlig entgegengesetz-
ten Richtungen der politischen Philosophie der Neuzeit überein. So sagt MELAN-
CHTHONinseinemKommentar zur Aristotelischen„Politik": Civita.~ est societas civium
iure constituta, propter mutuam utilitatem, ac maxime propter defensionem. Cives sunt,
qui in eadem societate magistratus aut fudicandi potestatem consequi possunt 53 • Ähn-
lich definiert SPINOZA: H aec autem societas legibus et potestate sese conservandi

50 LOCKE, The Second Treatise of Civil Government 5, 27 ff.; U, 123 f.; 11, 134.
61 FRANClscus SuAREZ, De op1m1 Rllx diP.mm 5, 7, l. Opera, ed. M. Andre, t. 3 (Paris
1856), 413.
62 Vgl. MELANCH'l'HU~, CR Bd. 21, 991; DIDACI CovARRUVIAS, Practicae quaestiones 1, 2

(1556; Ausg. Leiden 1558), 3; HERMANN CONRING, De civili prudentia .5(Helmstedt1662),


64; BACON, De augment. scient. 3, 2; HUGO GROTIUS, De iure belli ac pacis (Paris 1625),
2, 5, 23; 1, 3, 6, 1 ff.; RPTNO?:A, F.thica 4, propositio 37, scholium 2.
63 MEI,ANCHTHON, Commentarii (1530), CR Bd. 16, 435.

47-90386/1 737
Gesellschaft, bürgerliche V. l. So~odell und Wortfeld im 17./18. Jahrhundert

firmata civitas appellatur, et qui ipsius iure defenduntur cives 64 • Schließlich sei in
diesem Zusammenhang noch auf Lockes „Second Treatise of Civil Government"
(1689) und Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" (1797) hinge-
wiesen. Locke überschreibt das 7. Kapitel seines Buches: „Of Political or "Civil
Society", und Kant erläutert in § 45 der Rechtslehre das Verhältnis von „Staat"
und „bürgerlicher Gesellschaft" mit der Identitätsformel „civitas sive societas
civilis".
Die durchgängige Orientierung an dieser Formel hat zur Folge, daß sich damit dem
neuzeitlichen Naturrecht die eigene Problematik verdeckt. Damit nicht genug, daß
die Differenzierung zwischen dem Einzel- und Allgemeinwillen in der Begriffsform
der bürgerlichen Gesellschaft bis hin zu Kant keinen Niederschlag findet, verab-
säumt das Naturrecht eine Klärung der Voraussetzungen und Fundamente dieser
Formel. Sie werden denn auch weitgehend übernommen, und zwar nicht zuletzt in
der naturrechtlichen Vertragslehre, die man in der Regel als Diskrimen des Ab-
standes zwischen klassischer Politik und modernem Naturrecht betrachtet. Daß
ilie Auflösung des gesellschaftlichen Ganzen in ilie einzelnen als seine Bestandteile
und der Ausgang vom Sein des einzelnen nicht zur dauernden Differenz, sondern zur
Konstruktion ihrer Überwindung führt, liegt, paradoxerweise, an der naturrecht-
lichen Vertragslehre, die der Ausdruck der Differenz und.zugluiuh da1:1 Mittel ihrer
Überwindung ist. Ausdruck der Differenz ist sie insofern, als der Vertrag die ad-
äquate OrganiRationRform der vereinzelten einzeln1m ist, Mittel zu ihrer Überwindung,
ah1 sich in ihm ilie Gesellschaft wieder polifa1ch, als „bürgerliche Gesellschaft'~ kon-
stituiert. Denn Kontrahent des Vertrags zur bürgerlichen Gesellschaft - das darf
bei der Beurteilung des sogenannten „Individualismus" des modernen Naturrechts
nicht außer acht gelassen werden - ist nicht der e:inzelne als solcher, sondern immer
der Freie, der für sich selbst zu bestehen vermag und kraft eigenen Rechts (sui iuris)
sein Dasein hat 55 . Die damit gesetzten Ausschließungen des „Abhängigen" (alieni
iuris) vom Vertrag wird im Naturrecht des 17. Jahrhunderts nicht zum Problem.

V. Erstarrung und Auflösung der Begriffstradition in der Aufklärung

1. Soziahnodell und Wortfeld im 17./18. Jahrhundert

Der N aturrechtRbegriff der RocietaR civilis wird am Ende des 17. und zu Anfang des
18. Jahrhunderts im deutschen Sprachbereich mit 'Buergerliche Gemeinschaft' oder
'Bürgerliche Gesellschaft' 56 wiedergegeben, wobei die letztere Bezeichnung allge-
mein überwiegt. Seine Verbreitung im 18. Jahrhundert geht also auf eine wörtliche
Übersetzung aus dem Lateinischen zurück und ist keineswegs unter dem Einfluß
der englischen (civil society) und französischen (societe civile) Aufklärung in den
deutschen Sprachraum eingedrungen 57 • Die latinisierten Vorformen heißen im

54 SPINOZA, Ethica 4, propositio 37, scholium 2.


""Vgl. ders., Tractatus politicus 11, 3; GROTIUS, De iure belli ac pacis 2, 5, 23; LOCKE,
Second Treatise 6; 7, 77 ff.
56 GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ, Textes inedits, hg. v. Gaston Grua, t. 2 (Paris 1948),

602; RÄDLEIN Bd. 1 (1711), 369.


57 So zuletzt noch im Hwb. d. SozWiss., Bd. 4 (1964), 427 ff.
V. 1. Sozialmodell und Wortfeld im 17.Jl8. Jahrhunderi Geeelleehaft, bürgerliche

17. Jahrhundert 'Civil societät' oder 'Civil Gemeind' 68 , außerdem 'Bürgerliche


Societät' 69 , woran noch eine gewisse Unsicherheit in der deutschen Wiedergabe fest-
zustellen ist. Das betrifft auch die Einführung des Wortes 'bürgerliche Gesellschaft',
das als Übersetzung eines Schulbegriffs dem damaligen Sprachgebrauch ungewohnt
gewesen zu sein scheint. Darauf deutet jedenfalls eine Bemerkung des Übersetzers
von PuFENDORFS „De jure naturae et gentium" hin: Mit solchem Namen hat man
das vom Autor gefYfauchte lateinische Wort Oivitas ausdrücken/ und dieses hier einmal
für allemal melden sollen / damit der geehrte Leser wüßte / daß mit dem öfters vorkom-
menden Worte Bürgerliche Gesellschaft nicht anders zu verstehen gegeben und gemeinet
seie /als die zusammen verbundene OfYfigkeiten und Untertanen/ welche ein gewisses
Reich Republic u. dgl. ausmachen 60 •
Die Bemerkung des Pufendorf-lJbersetzers trifft noch ziemlich genau den älteren
Sinn des Begriffs. Die bürgerliche Gesellschaft ist, in der klassischen Politik ebenso
wie im modernen Naturrecht, ein Personenverband, die politische Gemeinschaft der
freien, verantwortlichen Männer (Hausherren oder Bürger) des Landes oder einer
Stadt. Eine Scheidung zwischen dem „Staat" als Institution (rationale Herrschafts-
und Verwaltungsorganisation, mit einer ihr anhängenden Beamtenschaft) und der
„Uesellsi;ihaft" als Untertanenvcrband findet nicht statt. Soweit sie sich an der an-
gegebenen Stelle abzeichnet, wird sie vom Begri:IT gleiohsu.m uufgefongun: iliu Ourig
keiten (die personal verfaßte Herrschaftsinstitution) und ilie Untertanen sind in
ihm ,;zusammen :verbunden". Bürgerliche Gesellschaft und politische Organisations-
form sind noch einander angeglichen: ihre „verbundenen" Glieder machen „zu-
sammen" ein Reich oder eine Republik auA. Dabei meint das Wort 'civitas', das
hier mit 'Bürgerliche Gesellschaft' übersetzt worden ist, keineswegs den „Staat"
oder gar die „Stadt" allein, sondern kann auf alle „politischen" Verbände ange-
wandt werden, d. h. auch auf die verschiedenen Herrschaftsgebilde des Landes, -
sive sit dynastia, sive baronia, sive comitatus, sive principatus61 .
Dieser Sprachgebrauch ist vor allem bei LEIBNIZ paradigmatisch ausgebildet. Für
ihn ist die bürgerliche Gesellschaft eine natuerliche gemeinschafft, deren Glieder
bisweilen beysammen wohnen in einer Stadt, bisweilen im Land ausgebreitet; ihr Ab-
sehen ist zeitliche (Glueckseligkeit) wohlfahrt 62 • Das Begriffsverständnis der bürger-
lichen Gesellschaft hängt weder von der Trennu.ng zwischen Stadt und Land noch
vom größeren oder kleineren Umfang ihres Herrschaftsgebiets ab. Ist sie klein,
heißt es von ihr bei Leibniz, so wirds eine Stadt genennet, aber eine Landsehaffe ist
eine gemeinschafft unterschiedlicher Staedte, und ein Köm:greich oder große Herrschaft
ist eine gemeinschafft unterschiedener landschaffeen 63 • Was die Rechts- und Staats-
philosophie des 19. Jahrhunderts als typische Erscheinungsform der „Feudal-
gesellschaft" hervorheben wird- die Herrschaftsschichtung des vom Adel regierten

58 JoH. JOACHIM BECHER, Politischer Discours von den eigentlichen Ursachen des Auf.

und Abnehmens der Städte, Länder und Republicken, 2. Aufl. (Frankfurt 1673), 2. 5.
69 SAMUEL PUFENDORF, Einleitung zur Sitten- und Staatslehre, übers. v. J. Weber (Leipzig

1691), 444; ZEDLER Bd. 38 (1743), 174.


80 PUFENDORF, De jure naturae et gentium (1672), dt. Übers., Bd. 2 (Frankfurt 1711), 420.

81 Vgl. ALSTED Bd. 3 (1644), 167.


82 LEIBNIZ, Textes inMits, t. 2, 602.
ea Ebd., 602 f.

739
Gesellschaft, bürgerliche V. I. Snzialmnd11ll und Wortfeld im 17./18. Jahrhundert

Landes und das ihr zugrunde liegende Gefüge personaler Abhängigkeiten -, ist
in diesen Begriff 'bürgerliche Gesellschaft' mit einbezogen. So erklärt sich, daß
'societas civilis' der eigentliche Titel der feudalständischen Gesellschaft ist, der in
der politischen Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts.immer wieder entgegentritt64.
Die Stadtgemeinde bildet nur einen Bestandteil dieser herrschaftlich verfaßten
Gesellschaft. Jeder mit eigenen Rechten (Privilegien) und Gesetzen ausgestattete
Herrschaftsverband kann so benannt werden: Städte, Länder, Königreiche, Fürsten-
tümer, Grafschaften, „kleine" oder „große Herrschafft", wie es bei Leibniz heißt 65.
Die Struktur des Begriffs ergibt sich aus der engen Zusammengehörigkeit von Ge-
sellschaft und Herrschaft. Basis der Herrschaft ist immer die über ein Haus, gleich-
gültig, ob es sich dabei um die an der Herrschaft partizipierenden „Häuser" (Ge-
schlechter) oder um die Grundherrschaften eines Landes handelt, deren Gesamtheit
(die „meliores et majores terrae") die „Landschaft" (im politischen Sinne) vorstellt.
Der Grund- oder Hausherr ist, bis herunter zum Stand eines großen Hofbauern oder
eines Handwerks- und Zunftmeisters, Träger einer politischen Teilgewalt, aus der
sich die der bürgerlichen Gesellschaft eigene Herrschaftsgewalt zusammensetzt.
Sie umfaßt daher in der Regel nur eine Minderheit der „Gesellschaft" ( = der Menge
von Menschen, die ein Land oder Gebiet bewohnen); personell a.m;g11nriickt: die
durch Abstammung, Hesitz, Stand und Herkommen herausgehobenen freien Män-
ner66. Das heißt auf der anderen Seite, daß die Glieder des Hauses (Frauen, Knechte;
Dienerschaft) ebensowenig zur bürgerlichen GeMellMchaft gehören wie die mehr oder
weniger breite Schicht der unfreien („hörigen") oder in sonstigen Abhängigkeiten
befindlichen, von niederer Arbeit (oder Almosen) lebenden Menschen. Die Grenzen
können verschieden gesetzt sein, das Prinzip der Herrschaft aber, das den einzelnen
von dem Recht der bürgerlichen Gesellschaft trennt und ausschließt, ist überall
dasselbe. Die Anerkennung ihrer „ökonomischen" Basis, des Hauses, schließt not-
wendig die Herrschaft von Menschen über Menschen in sich ein. Wie der antike
Bürger sich vom Anhang des Hauses abhebt, so der Monarch vom Gefolge seines

84 Vgl. JACOBUS THOMASIUS, De societatis civilis statu naturali ac legali (Leipzig 1675);

JoH. BARTHOLOMÄUS NIEMEYER, De so.cietatibus tarn primis et minoribus, quam civilibus,


illarumque cum his convenientia et analogia (Helmstedt 1684); JoH. GOTTHARD BoECKE-
LEN, Societatis civilis prima elementa (Helmstedt 1683); JoANNES GRYPillANDER, De civili
societatA; .TAOffR FRTF.DRTOlf nF. BIELFELD, Institutions politiques, ouvrage ou l'on traite
de la societe civile (Paris 1761); LEOPOLD FRIEDRICH FREDERSDORF, System des Rechts
der Natur, auf bürgerliche Gesellschaften, Gesetzgebung und Völkerrecht angewandt
(Braunschweig 1790). Auch die französischen Übersetzungen der Hauptwerke von Hobbes
und Locke tragen 'societe civile' bzw. 'politique' im Titel. Vgl. LOCKE, Du gouverne-
ment civil, ou l'on traite de I'origine, des fondemens, de la nature, du pouvoir et des fins
des societes politiques (Amsterdam 1691); HoBBES, Elemens philosophiques de citoyen
traite politique, ou les fondemens de la societe civile sont decouverts (Amsterdam 1649).
66 LEIBNIZ, Textes inedits, t. 2, 602 f.

66 Vgl. hierzu die Untersuchungen von ÜTTO BRUNNER, Das Problem einer europäischen

Sozialgeschichte, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl,
(Göttingen 1968), 80 ff.; ders., Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik".
ebd., 103 ff.; ders., „Feudalismus". Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, ebd., 128ff. u.
WERNER CoNzE, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche DeuLschlands,
Hist. Zs. 186 (1958), 1 ff.; ders.: Art. Sozialgeschichte, RGG 3. Aufl., Bd. 6 (1962), 170 ff.

740
V. 1. Sozialmodell und Wortfeld im 17./18. Jahrhundert Gesellschaft, bürgerliche

Hofes, der Fürst von seiner Dienerschaft, der adlige Grundherr von Leibeigenen und
Beisassen, der Handwerksmeister von seinen Gesellen.
Diese Basis wird, wie bereits angedeutet wurde, selbst bei den Vertretern des neueren
Naturrechts nicht angetastet. Der Mensch als solcher, von dem sie ausgehen, ist
immer der Bürger, der pater familias; seine „ökonomische" Selbständigkeit ist es,
die ihn zum Kontrahenten der bürgerlichen Gesellschaft qualifiziert. Die Rechts-
konstrUktion der bürgerlichen Gesellschaft, die während des 17. und 18. Jahrhun-
derts ausgebildet wird, bleibt von einem Vertragsbegriff abhängig, der das „Eigen-
tum" (dominium) zur Voraussetzung hat. Das Ehe- und Familienrecht ist Eigen-
tumsrecht des pater familias an Frau und Kindern, das Vertragsrecht Eigentums-
recht des Menschen an seinen Handlungen, die Freiheit ein Eigentum, das veräußert,
verloren und wieder erworben werden kann. Die R.er.ht.<1fähigkeit deA MP.nAr.hp,n folgt
nicht daraus, daß er Mensch, sondern daß er Rigentiimer (an Rechten, Handlungen,
Dingen) ist. Dem entspricht, daJJ sowohl die Knechtschaft, die radikalste .!form der
Veräußerung von Rechten, wie die verschiedensten Formen der Herrschaft und
Abhängigkeit unter Menschen als prinzipiell erlaubt gelten, ja mittels des Vertrags-
begriffs gerechtfertigt werden. Nicht nur, daß sich die bürgerliche Gesellschaft durch
Jeu VerL,rag (der „Häuser") kunsLiLuierL, auch innerhalb ihrer selbst sind es Ver-
träge, wodurch sich eigene Ordnungen („b1isondere Gesellschaften", Stände, Herr-
schaften und Gemeinden) konstituieren, die das Verhältnis des einzelnen zum Gan-
zen der bürgerlichen Gesellschaft als das von 'l'eilnahme und Ausschließung an ihren
Rechten erscheinen lassen (Christian Wolff). Das Vorrecht (Privileg) erweist sich als
die zentrale Kategorie dieser Gesellschaft; es bestimmt die rechtlich-politische Stel-
lung des einzelnen, seine Zugehörigkeit zu einem der „Stände" und „Herrschaften",
aus denen sich die bürgerliche Gesellschaft zusammensetzt 67 • Denn sie ist zugleich
und in einem „politische" Gesellschaft. Die Teilhabe an der Herrschaftsordnung
erhebt die Elemente des bürgerlichen (Besitz, Familie, Art und Weise der Arbeit)
zu Elementen des politischen Lebens (Grund- und Stadtherrschaft, Stand, Korpo-
ration).
Darin liegt der Grund für die fortdauernde Nicht-Unterscheidung von bürgerlicher
und politischer Gesellschaft (societas civilis sive politica); der Begriff 'politische
Societät' wird mit dem Hinweis auf die bürgerliche Societät oder Gesellschaft erklärt 68 •
Das Adjektiv 'bürgerlich' bezieht sich also zunächst immer nur auf die politische
Gliederung dieser Gesellschaft, d. h. die bürgerlich bevorrechteten, an der Herr-
schaft teilhabenden Personen und Stände. Die Synonymität von 'civilis' /'politicus'
ist nicht nur sprachlich begründet; in ihr drückt sich das in sich homogene Herr-

67 Im engeren Sinne (auf das Reich bezogen) gehören dazu Kurfürsten (electores}, Fürsten,

geistliche und weltliche (principes) und freie Reichsstädte (civitates liberae) - vgl. PmLIPP
REINHARD VITRIARIUS, Corpus juris publici l, 12, 1, ed. Joh. Friedrich Pfeffinger, t. 1
(Gotha 1739), 997 - , im weiteren Sinne (auf die Stände bezogen) alle politischen
Lokalgewalten, in. der Sprache der Reichsabschiede: Fürstentume, Grafschaften, Herr-
schaften, Obrigkeiten urul Gebiete ... Städte, Märkte, Flecken, Dörfer urul Gerichte, JoH.
JACOB ScHM.A.uss, Corpus juris publici academicum (Leipzig 1745), § 15; ferner§§ 24. 30.
35. 38. 54. 82. SEVERINUS DE MoNZ.AMBANO [d. i. SAMUEL PUFENDORF], De statu imperii
Germanici 6, 3 (Genf 1667), 142 bestreitet die ,;bürgerschaftliche" Stellung der Stände
des Reichs.
68 Vgl. ZEDLER Bd. 38, 180.

741
Gesellschaft, bürgerliche V. 2. Dogmatisierung im Römischen Recht

schaftsgefüge der alten bürgerlichen Gesellschaft aus, das auf unmittelbaren (Hörig-
keit, Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit) oder vermittelten (Dienst- und Lohn-
wesen) Abhängigkeitsverhältnissen beruht und von ihnen sich abhebt. Seine Be-
zugspunkte sind nicht „Staat" und „Gesellschaft", auch nicht eine von beiden
unterschiedene, autonomen Gesetzen folgende Sphäre der Wirtschaft („Erwerbs-
gesellschaft"), sondern Bürger und „bürgerlicher" Stand (status civilis sive politicus)
auf der einen, die Herrschaft über ein Haus und der daraus abgeleitete Anspruch auf
persönliche Selbständigkeit oder Unabhängigkeit auf der anderen Seite. Für das
sprachliche Bezugssystem dieser Gesellschaft ist das ältere Wort 'gemeines Wesen'
(res publica) die eigentlich zutreffende Bezeichnung; die bürgerliche Gesellschaft
wird von ihr immer mit umfaßt: Res publica latissime sumitur hoc in loco politicä
sive societate civili69 •

2. Dogmatisierung im Römischen Recht: Johann Gottlieb Heineccius

Um das Konzept der societas civilis etwas näher ins Auge fassen zu können, muß
man einige wesentliche Grundzüge der zeitgenössischen Rechtsdogmatik berück-
sichtigen. Denn neben der Aristotelestradition ist es das Römische Recht, das die
Struktur des Begriffs weitgehend bestimmt, wobei die beiden Traditionsstränge oft
ineinander übergehen. Das kann man im einzelnen an dem im 18. Jahrhundert weit
verbreiteten Lehrbuch von JOHANN GOTTLIEB HEINECCIUs iiher diA „F.lemente des
Natur- und Völkerrechts" (1738) beobachten. Der Begriff der bürgerlichen Gesell-
schaft wird im 6. Kapitel des 2. Buches unter dem Titel: „De societatis civilis
origine, forma et adfectionibus" eingeführt; ihm voraus geht im Kapitel 1 die all-
gemeine Lehre von Stand und Gesellschaft des Menschen („De statu hominis natura-
lis et socialis") und im Kapitel 2-5 das nach traditionell-aristotelischem Muster
abgehandelte Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnis des Hauses („De societate
composita, quam familiam vocamus, officiisque in illa observandis"). Die Einleitung
deutet schon darauf hin, daß auch für Heineccius 'societas civilis' nichts anderes als
ein Verband von patres familias unter einer gemeinsamen Herrschaft (communi
imperio) bedeutet 70 • Die Struktur dieses Personenverbands läßt sich am besten an
Heineccius „Elementa juris civilis" (1727) ablesen. Entscheidend ist hier die Diffe-
rernr. von „Mensch" und „Person". Das Recht, eine Person zu sein, ist kein Mensclrnn-
recht, sondern was eine Person ist, ergibt sich aus dem Verhältnis des Menschen zum
status civilis: Persona est komo statu civili prae<litus 71 • Jede Person ist ein Mensch,
aber nicht jeder Mensch eine Person. Der moderne Begriff der Rechtspersönlichkeit
des Menschen ist diesem Denken fremd; nur kraft der Zugehörigkeit zu einem status

69 .ALSTED Bd. 3, 164.


70 JoH. GoTTLIEB HEINEccrns, Elementa juris naturae et gentium 2, 6, 105 (Halle 1738),
445: ... ut et pobos et iustos patres familias, impoborum metu, vires iungere; et sub oom-
muni imperio certis legibus consociari, adeoque in societatem civilem, vel rempublicam coales-
cere oportuerit. Grundlage dieser Vereinigung ist der Vertrag (pactum); vgl. ebd., §§ llO ff.
71 Ders., Elementa juris civilis, § 70 (Marburg 1727). Daß der moderne Begriff der Rechts-

persönlichkeit den römischen Rechtsquellen unbekannt ist, hat SrnGMUND ScHLOSSMANN,


Persona und ne6C1omov im Recht und im christlichen Dogma (Kiel 1906) nachgewiesen.
Vgl. hierzu auch die wicht,ige Arbeit von HELMUT CornG, Der Rechtsbegriff der mensch-
lichen Person und die Theorien der Menschenrechte (Berlin, Tübingen 1950), 195 f.

742
V. 2. Dogmatisierung im Römischen Recht Gesellschaft, bürgerliche

ist man Person. Hier nimmt Heineccius die Lehre des Römischen Rechts von den
drei status.hominum aufund setzt sie, nach dem Beispiel der systematischen Juris-
prudenz des 16. Jahrhunderts (Donellus), zum Begriff der Person in Beziehung.
Der Status des Menschen ist entweder der der Freiheit, des Bürgerrechts oder der
Familie (status libertatis, civitatis, familiae). Nach dem ersten sind die Menschen
entweder Freie oder Knechte, nach dem zweiten entweder Bürger oder Nichtbürger
und nach dem dritten entweder Menschen eigenen oder fremden Rechts (sui juris -
alieni juris). Daraus ergeben sich die verschiedenen Rechtsabstufungen innerhalb
der societas civilis; der Freie hat andere Rechte als der Knecht, der keine bürger-
lichen Rechte hat; der Bürger andere als der Fremde, Beisasse, Untertan; der filius
familias andere als der pater familias. Dabei bezieht sich das erste Glied des Gegen-
satzes immer auf die Grundstellung der societas civilis: der Freie ist zugleich Bürger
und als pater familias sein eigener Herr; hingegen kann der Beisasse oder Fremde
zwar ein Freier, aber keiri Bürger, und der filius familias zwar Bürger, aber' nicht
sui juris sein. Im allgemeinen gilt der Satz: Wer keinen bürgerlichen Zustand hat,
ist keine,Person, sondern wird für eine Sache (nach Römischem Recht: die servi)
oder für einen Menschen minderen Rechts gehalten 72 •
Die Statuslehre des Römischen Rechts ist noch unter einem zweiten Aspekt wichtig.
Denn sie bezieht sich nicht nur -wie in der Jurisprudenz allerdings üblich - auf
den Stand der Person, sondern in dieser Beziehung auf den Personenverband, die
der Stand fixiert. Die Abhängigkeit der Rechtsstellung vom status personarum
schließt die Zugehörigkeit des Menschen zu einer „Gesellschaft" in sich, in der er
sich immer schon befindet. Nach diesem Schema bestimmt z. B. LEIBNIZ die Grund-
arten von Gesellschaft (societates naturales): Libertate aliquis partem societatis
hominum universalis, civitate societatis alicuius populi, ut Romani; familia societatis
naturalis intestina, nempe domesticae 73 • Das Eigentümliche dieses Statusbegriffs ist,
daß er weder dem einze.lnen noch der Gesellschaft äußerlich gegenübersteht, sondern,
indem er die Rechtsstellung des Menschen festlegt, die Art der Gesellschaft be-
stimmt, der er angehört. Der Gesellschaftsbegriff geht in dem jeweiligen Begriff des
Status auf, der die zwischen den einzelnen bestehenden Rechtsunterschiede fixiert.
So bestimmt sich das Verhältnis des einzelnen zilr societas civitatis (= civilis) aus
dem Verhältnis zu den (je verschiedenen) Rechten, die er aufgrund seines Status
genießt;. nio Roohtsstellung hängt von der Positivität der bürgerlichen Gesellschaft
ab, deren ständischer Ordnung sich die Statuslehre anpaßt 74 . Dabei ergibt sich der
begriffliche Aufbau der societas civilis selbst aus der Verschiedenheit der „Stände",

72 HEINECCIUS, Elementa juris civilis, § 76, S. 44: Quicumque nullo horum trium statuum

gaudet, iure RO'Tliano non persona, sed res oobetur.


73 LEIBNIZ, Textes inedits, t. 2, 841.
7 4 Vgl. ZEiDLER Bd. 39 (1744), 1100 ff., Art. Stand. Diese Lehre, die auf das Naturrecht
einen erheblichen Einfluß ausübte, verhindert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. die Aus-
bildung eines allgemeinen Begriffs der Rechtsfähigkeit ( = Rechtsperson, im Gegensatz zu
dem status personarum) des Menschen; vgl. HERMANN CoNRAD, Individuum und Gemein-
schaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (Karlsruhe
1956), 8 ff. Noch bei Christian Wolff macht die Positivität des status der societas civilis
eine Vermittlung zwischen den na.tiirlichen RAchtAn des Menschen und dem Recht der
bürgerlichen Gesellschaft unmöglich.

743
Gesellschaft, bürgerliche V. 3. Herrschaft und Gesellschaft

die der societas humana ihr Gepräge geben, gleichgültig, ob es sich hier um das
Wechselverhältnis von status civilis-naturalis, status civilis-domesticus oder status
publicus-privatus handelt 75 •

3. Herrschaft und Gesellschaft: Christian W olff

Die Geschichte des Schulbegriffs der bürgerlichen Gesellschaft geht mit CHRISTIAN
WOLFF zu Ende. Die Wirkung nicht nur auf Deutschland, sondern auf ganz Europa,
die seinem System bis unmittelbar an die Schwelle zum Zeitalter der Französischen
Revolution beschieden war, resultiert im wesentlichen aus der Kompromißbereit-
schaft der Wolffschen Philosophie, den traditionellen Aristotelismus mit den natur-
rechtlichen Anforderungen des modernen Denkens zu vermitteln. Dem entspricht,
daß der Begriff sowohl unter dem Titel der „Politik" wie des „Naturrechts" abge-
hamlelL wird, ohne dadurch eine Änderung zu erfahren. Sein erster systematischer
Ort ist die Politik, die Wolff als Lehre vom gesellschafftlichen Leben der Menschen,
insonderheit dem gemeinen Wesen begreift. Das „gemeine Wesen" ist dabei weder
die spätere „Gesellschaft", die aus der Privatisierung des a.rllig-bi.irgerlichen „Hau-
s0s" hervorgoht, nooh der „Staat", der alle gese1lscha1'Lliu1eu He1·r1:1chaf'tsgewalten
(Häuser, Stände, Gemeinrl1m 11Rw.) in sic.h absorbiert, sondarn innerhalb der allge-
meinen „Gesellschaften der Menschen" eine „Art" neben anderen Arten von Gesell-
schaft, eben die „bürgerliche" im Unterschied zur häuslichen, herrschaftlichen, ehe-
lichen und väterlichen Gesellschaft 76 •
Der zweite systematische Bezugsrahmen des .Begriffs ist bei Wolff das Naturrecht.
Die Doppelstellung des Begriffs ergibt sich daraus, daß wir es hier mit dem alten, nur
unwesentlich modifizierten Traditionsbegriff zu tun haben, der nicht, wie sein moder-
ner Gegenbegriff, Naturrecht und „Staatswissenschaft" (Politik) trennt (Hegel),
sondern verbindet. In Übereinstimmung mit der neueren Naturrechtstheorie be-
gründet Wolff die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und die mit ihr gegebene
Herrschaft von Menschen über Menschen auf einen Vertrag. Das Recht der öffent-
lichen Gewalt (imperium publicum) empfängt seine Legitimation nicht durch das
„natürliche" Recht, sondern, wie alle Herrschaftsgewalt unter Menschen, aus dem
Vertrag, und das heißt für W olff: derjenigen Gesellschaft, welcher das imperium publi-
cum immer schon inhäriert. Diese Gesellsch a.ft ist die mit der civitas identische societas
civilis, die von W olff als Faktum vorausgesetzt wird. Mit Rousseau scheint W olff darin
übereinzustimmen, daß ihm der Ge1:1elfachaftsvertrag als Herrschaftsvertrag gilt.
Durch den Vertrag veräußern die Individuen das natürliche Recht, die Herrschaft

76 Vgl. JoH. ANGELIUS WERDENHAGEN, Introductio universalis in omnes respublicas sive

politica generalis 2, 13, 3 (Amsterdam 1632), 200.


76 Neben dem 'gemeinen Wesen' begegnet in der „Politik" gelegentlich das Wort 'Staat' -

vgl. CHRISTIAN WoLFF, Vernünfftige Gedanken von dem Gesellschafftlichen Leben der
Menschen (Halle 1721); vgl. ebd., Vorrede; 2, 3, § 274 - , cfa.R nn11h keine syst.ematii1che
oder festere terminologische Prägung besitzt. Vgl. dazu die Anmerkung des Übersetzers
von WoLFF, Kleine philosophisdie BuhdfLeu, hg. v. Gottlieb Friedrich Hagen, Bd. 3
(Halle 1737), 575, worin es heißt, der Herr Verfasser richte sich hierbei nach der Gewohnheit,
obzwar res publica neuerdings durch den Ausdruck Staat sich weit besser. übersetzen lasse.
Tatsächlich hat Wol:ff in seinen späteren, nach 1740 Ar~ohienenen Schriften zu Politik und
Naturrecht den Staatsbegriff in diesem geläufiger erscheinenden Sinne übernommen.

744
V. 3. Herrschaft und Ge&ellschaft Gesellschaft, bürgerliche

über sich selbst, an die Gesellschaft als Ganzes, die so die Berechtigung der Herr-
schaft erwirbt: Quamprimum in societatem coitur, seu pacto civitas constituitur; ex
ipso hoc pacto universis nascitur jus in singulos 77 . Aber der Herrschaftsvertrag ist ein
einseitiger; die Individuen veräußern ihre Rechte an die Gesellschaft, empfangen
aber nicht das Recht zurück, das deren Herrschaftsgewalt zu einer allgemeinen und
gesetzlich notwendigen machte. Dafür fehlt der Wolffschen Deduktion das Prinzip,
das bei Rousseau und Kant den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft auf eine neue
Stufe heben wird. Denn das Recht der öffentlichen Gewalt wird noch immer nach
dem Gesetz bemessen, wonach die Individuen durch die Zwecke ihres Lebens (vitae
necessitas, commoditas ac jucunditas, immo felicitas) miteinandcrverbundensind 78 •
Das Naturgesetz der Zwecke ist das Wolffsche Prinzip des Vertrags, nicht nur des
Vertrags zur bürgerlichen Gesellsohnft, sondern der Ge11till11chaft iiberhaupt. Des-
wegen bleibt der Versuch seines Naturrechts, die Herrschaft von Menschen über
Menschen durch den Vertrag zu legitimieren, im ]'aktum der „Gesellschaft"
stecken. Die bürgerliche Gesellschaft ist zwar nicht mehr ein Analogon der Natur,
sondern entsteht, wie schon im Naturrecht des 17. Jahrhunderts (Grotius, Locke,
Pufendorf), durch Vertrag; aber der Vertrag ruht seinerseits auf dem Fundament
des Naturgesetzes, das die Individuen in ihren ursprünglichen, als „Rechte" be-
griffenen Zwecken verbindet. Die Onto-Teleologie der lex naturae, der das bisherige
Naturrecht ein universelles, Herrschaft und Gesellschaft vermittelndes Prinzip des
Rechts vergeblich zu entlocken suchte, bewirkt, daß die societas civilis unverändert
als mit der Natur übereinstimmend vorausgesetzt wird: legi naturae convenienter
contractae sunt societates civiles, et sie ex subjectione natum est Imperium civile, sive
publicum7 9 • Hier sind noch einmal die verschiedenen Momente gegeben, die in der
Politik- und Naturrechtstradition der Neuzeit die Identität von „Staat", „Volk"
und „ bürgerliche Gesellschaft" bedingen. Die öffentliche Gewalt (imperium publi-
cum) geht aus einem Vertrag hervor, der zugleich und in einem die bürgerliche Ge-
sellschaft konstituiert; die Kontrahenten des Vertrags sind die „Häuser", sein Motiv
deren Mangel an gesellschaftlicher Selbständigkeitso. Die bürgerliche Gesellschaft
ist auf der einen Seite synonym mit dem „Volk" (populus) als der Menge von Men-
schen, die sich zum Zwecke des „guten" Lebens vereinigt habenB 1 , auf der anderen

77 CHRISTIAN WoLFF, Jus naturae (1740-49), 8, § 29; vgl.§§ 31 f. Die im Naturrecht des

17. Jahrhunderts (R. Hooker, Locke, Pufendorf) anzutreffende Unterscheidung zwischen


Gesellschafts- und Unterwerfungsvertrag, der sich Wolff anschließt - vgl. WERNER
FRAUENDIENST, Christian Wolff als Staatsdenker (Berlin 1927), 99 ff.-, berührt die von
uns hervorgehobene prinzipielle Identität des Gesellschafts- und Herrschaftsbegriffs nicht.
Sie liegt auf ausschließlich „staatsrechtlichem" Felde. Vgl. Jus naturae 8, § 16.
78 Vgl. WoLFF, Jus naturae 8, § 30: Jus universorum in civitate in singulos ex fine civitatis

metiendum. Vgl. dazu ebd. 8, §§ 1 ff. 9 ff.


79 Vgl. ders., Institutiones juris natumc et gentium, Praefatio (12); Jus naturae 8, Prne-

fatio; ebd., §§ 26 ff.§§ 965 ff.


80 Vgl. ders., Jus naturae 8, §§ 1 ff.
81 Ebd., § 5: Multitudo hominum in civitatem consociatorum dicitur populus, sive gens,

idiomate patrio ein Volck. Quam ob rem cum civitas, tanquam societas (§ 4) fine difjerat ab
ali:i11 societ,atib1ui (Ju~ naturae, § 3~ part. 7), multitudo hominum alio fine consociatorum,
q·uarn q·ui civitas est, populus, sive gens non est; § 6: Membra civitatis, seu singuli, qui societa-
tem civilem ineunt, dicuntur cives. Vgl. Inst. jur. nat. et gent., § 974.

745
Gesellschaft, bürgerliche V. 4. 'Civilstaat' und 'Civilisiernng'

mit dem „Staat" als der Herrschaftsgewalt, die dadurch legitimiert ist, daß sie ihn
sichert nnrl befördert82 • Die durchgängige Übereinstimmung in den Begriffen ist das
Resultat derjenigen Übereinstimmung, die bei Wolff, infolge der Ableitung von
Ursprung und Ziel der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Gesetz der Natur, zwischen
den Zwecken ihrer Teile und dem Ganzen besteht: N emo non concedit, sagt Wol:ff in
Erinnerung an die traditionsgebundenen Auffassungen des europäischen Natur-
rechts, non alio fine coivisse homines in societatem civilem, quam ut confunctio viribus
commune bonum promoverant ... beatitudo Reip. quae hominum quaedam multitudo
est, confunctis viribus bonum commune promoventium in eo consistere debet, ut finem,
cufus gratia in societatem coiverant, consequi non impediantur83 •

4. 'Civilstaat' und 'Civilisierung': die Differenzierung von „politischer"


und „bürgerlicher" Verfassung

Nur allmählich zeichnet sich hinter den Umrissen dieser älteren Begriffsstrukturen
ein erster Wandel in der Grundstellung der bürgerlichen Gesellschaft ab. Er beginnt
mit einer Dichotomie, welche für die künftige Geschichte des Begriffs bestimmend
sein wird: der zwischen civilis, 'bürgerlich', und politicus, 'politisch'(= staatlich).
Sie ist zuerst bei dem Italiener Gravina (1664-1718) nachweisbar, verdankt aber
ihre Verbreitung während des 18. Jahrhunderts dem Einfluß MoNTESQUIEUS: Une
societe ne saurait sub~ster sans un gouvernement. La reunion des toutes les forces
particulieres, dit tres bien Gravina, forme ce qu' on appelle l' Etat Politique . . . La
reunion de ces volontes, dit encore tres bien Gravina, est c.e qu'on appelle l'Etat OfoilB4.
Dabei tat Montesquieu (bzw. der Italiener Gravina, auf den er sich beruft) nichts
anderes, als daß er der naturrechtlichen Theorie eines zweifachen Gesellschafts-
vertrags (pactum unionis - pactum subjectionis) nun auch einen zweifachen Namen
gibt; der bürgerliche Status der Gesellschaft (die bloße Willensvereinigung der In-
dividuen) wird von ihrem politischen (der Übertragung ihrer „Macht" auf eine
Regierungsgewalt) unterschieden.
Mit dieser Unterscheidung kommen die Strukturen der alten bürgerlichen Gesell-
schaft nun auch begriffsgeschichtlich in Bewegung. Die Dichotomie von 'politisch'
und 'civil' = 'bürgerlich', bringt sprachlich zum Ausdruck, was geschichtlich Folge
der Entstehung des modernen Staates ist: die Konzentration der politischen
Herrschaftsgewalten in der Hand des absolutistischen Herrschers und seiner Büro-
kratie. Die ursprünglich „bürgerliche", d. h. selber politisch verfaßte Gesellschaft,
wird zur „zivilen" Gesellschaft, der status civilis sive politicus zum „ Civilstaat".

82 · WoLFF, Jus naturae 8, § 4: Societas inter plures domus contracta eo fine, ut conjunctim

sibi parent ad vitae necessitatem, commoditatem ac jucunditatem, ... civitas dicitur, idiomate
patrio ein Staat. Vgl. dazu§§ 9 ff. u. Inst. jur. nat. et gent., §§ 975 ff. .
83 Ders., Horae subsecivae, t. 2 (Frankfurt 1731), 565. Vgl. Jus naturae 8, § 393: Dum

soc·ietas civ·iUs initur, seu civitas constituitur, homines inter se conveniunt, quod conjunctim
sibi parare velint ea, quae ad vitae necessitatem„ commoditatem ac jucunditatem, immo
felicitatem requiruntur.
84 Vgl. GIOVANNI VINCENZO GRAVINA, De iure naturali gentium 17 (Ausg. Leipzig 1708),

256 ff.; MoNTESQUIEU, De l'csprit des lois (1748), l, 3; vgl. PUFENDORF, De iure naturae
et gentium 2, 6, 5 (l!'rankfurt 1694), der den zweifachen Vertragsschluß ebenso klar, doch
ohne begriffliche Differenzierung formuliert.

746
V. 4. 'f.ivil•taat' und 'f.iviliaierung' Ge•eU.chaft, hiirserliohe

'Oivllis' steht hier zu 'militaris' im Gegensatz. Die Ausgrenzung des Kriegerischen


aus dem Bereich der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht sich freilich schon im
17. Jahrhundert - seit dem Zeitpunkt, als der „Staat" das militärische Gewalt-
lllonopol an sieh zu ziehen beginnt. Damit wird die politische Verfassung, der status
civilis im engeren Sinne, zur Zivilsphäre herabgesetzt: Bürgerlicher oder Civilstaat,
sf,atus civilis, smtus politicus . . . ist eigentlich die Verfassung eines Staates oder
Republik, insofern dieselbe dem Kriegsstaat entgegensteht; und begreift überhaupt alle
sogenannten Zivilbediente unter sich8 5 •
Überhaupt gewinnt nun die sich verselbständigende Sphäre des „Zivilen" mehr und
mehr an .Bedeutung. Innerhalb der Naturrechtstheorie gerät der Begriff der societas
civilis zwischen die Fronten der miteinander konkurrierenden Naturstandsauffas-
MWlge11. Für i;ie i>LehL uiehL 8U i>ehr uer (klatitiitmh-politfaehe) Gegensatz nach innen,
zwischen civilis-oeconomicus bzw. domesticus, als der nach außen hin, zwischen
ei viliti-naturafü! im Vordergrund. Die bürgerliche Gesellschaft, für deren Theorie der
status naturalis ohne Ordnungsgarantien ist, erscheint nicht mehr im Horizont der
Natur, sondern die Natur in dem der bürgerlichen Gesellschaft. Damit stellt sich
ilie Aufgabe, uie Schranken der Natur (nach innen wie außen) zu überwinden; d. h.
Mensch und Gesellschaft zu „zivilisieren". An die Stelle der Statusordnung der
f!ooictao oivilio tritt der Prozeß der „Civilisierung" oder - eine nach der Mitte des
18. Jahrhunderts aus dem Französischen übernommene Wortbildung - 'Civilisa-
tion'. Er sprengt die Grenzen, welche die Theorie der alten, politisch verfaßten bür-
gerlichen Gesellschaft aller „Verfeinerung" (Kultur) der Sitten und Künste ge-
setzt hatte 85a:
Dabei geht die „Zivilsphäre" noch häufig in Kategorien moralphilosophischen Ur-
sprungs auf. Denn primär reflektieren selbst diese Begriffsbildungen nicht den ge-
steigerten Warenaustausch und die veränderte Produktionsstruktur der früh-
kapitalistischen Verkehrswirtschaft (die Kultur der „Künste" und des Handels
durch Manufaktur- und Kommerzienwesen), die ihre sozialgeschichtlichen Voraus-
setzungen sind, sondern die Kultur des Umgangs, der Sitten und des Geschmacks.
Die Sphäre des Öffentlichen, die „öffentliche Gesellschaft" (societas publica), bleibt
das eigentliche Kriterium dieser Zivilsphäre. Seine Maßstäbe sind zwar apolitisch,
aber keineswegs „privat". Denn die „Welt" oder „Gesellschaft", in der sich die
Kultur des Umgangs und Geschmacks ausbildet, fordert das Freisein von allen dem
Menschen als bürgerliche (=politische) wie als Privatper1mn anha.ftend1m B11-
schränkungen (Geburt, Stand, Beruf, Geschäft) 8 6. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts

86 Vgl. ZEDLER Bd. 39 (1744), 640. Vgl. dazu EuGEN RoSENSTOCK-HUESSY, Die euro-

päischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, 3. Aufl. (Stuttgart 1961), 241. 245.
ssa Vgl. dazu die Untersuchungen von NORBERT ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation.
Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2. Aufl., Bd. 1 u. 2 (Bern, München
1969) sowie meinen Artikel-+ Kultur, Zivilisation. Die Genese des Terminus, der seine dem
französischen Wort nachgebildete Lautgestalt erst um 17GO ed1älL, begi..unL rni.L der eth.uo-
.graphischen Literatur des 16. Jahrhunderts, die im Vergleich von „alter" und „neuer"
Welt (Amerika) die an der Antike orientierte politische Begriffsbildung zu Korrekturen
zwingt. Vgl. JOHN HUXTABLE ELLIOTT, The Old World and the New 1492-1650 (Cam-
bridge 1972), 44 ff. ; CoRRADO VIVANTI, Alle origini dell' idea di civilta. Le scoperte geografiche
e gli scritti di Henri de la l'opeliniere, füvista 8torica Italiana 74 (1962), 225ff.
86 Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. (Tübingen 1965), 32 f.

747
Ge1eU.chaEt, bürgerliche

definiert FuRETIERE: Socie'te, signifie, encore, le commerce civil du monde . . . Le


11/.ri:tnhlP. P.wprit du, m,nndP. a trm.rni l' art d' introduire une certaine m11il1:ti famili:(wp,,
qui rend la societe commode et agreable 87 • Hier wird die Zivilsphäre noch deutlich
auf die „Gesellschaft" im Sinne der höfisch-humanistischen „Bildungsgesellschaft"
bezogen, die der adligen Herrschaftswelt seit Renaissance und Humanismus gegen-
übersteht. Im deutschen Sprachbereich konstituiert sich diese Sphäre zu Be-
ginn der Aufklärung bezeichnenderweise zunächst nicht durch die freie „Gesellig-
keit" von Individuen, die sich in und an der Gesellschaft bilden, sondern in einer als
natur- und gottgewollt begriffenen, mit „Polizey'' und „Statuten" der bürgerlichen
Gesellschaft übereinstimmenden Ordnung: Societät (öffentliche) oder gemeine Societät
(societas publica) - heißt insgemein der allgemeine Umgang aller Menschen mit und
'Unl13rl'Jinundl'Jr, 'W13lclwn Gull wnd d•i13 Nulwr ywrdn13l 88 •

5. Der Einfluß der englisch-französischen Wirtschaftstheorie:


die Popularphilosophie

Im westeuropäischen Denken ist diese Sphäre des Umgangs, die hier als ·eine prin-
zipiell unveränderliche Bewegungsordnung begriffen und der bürgerlichen Gesell-
ßoho.ft o.n die Seite geßtcllt wird, cingcl11mmn in die m11tcricllc Sphürc von Ho.ndel
und Manufaktur, in das Beziehungsgeflecht bürgerlicher Privatleute, die nicht dureh
das Interesse der Bildung, sondern des Besitzes und Eigentums in ihrem Handeln
verbunden sind. Sie reflektiert sich jetzt in jenen Begriffsformen der bürgerlichen
Gesellschaft, die in der schottischen Moralphilosophie, bei Ferguson, Hume und
Smith, bei Gilbert Stuart und John Miliar, aber auch bei den französischen Physio-
kraten (Quesnay, Mirabeau d. Ä., Turgot) entgegentreten. Der ökonomische und
industrielle Aufschwung, den die englische Mittelklasse nach den politischen Revo-
lutionen des 17. Jahrhunderts nimmt, die „Verfeinerung" der Künste und Sitten,
die „Verbesserung" der Gesetze und Institutionen werden hier überall als gegeben
vorausgesetzt. Die statische Naturrechtstheorie der bürgerlichen Gesellschaft er-
hält eine evolutive, naturgeschichtliche Form, in der die Schottische Moralphilo-
sophie die allmähliche Freisetzung der ökonomischen und politischen Lebens-
elemente der modernen bürgerlichen Gesellschaft geschichtsphilosophisch legitimiert.
Gegenstand ihrer Geschichte, der „history of civil society" (lferguson) ist der natür-
liche Fortschritt (natural progress) in der Zivilisierung der menschlichen Gesell-
schaft89. Sie untersucht den mit den herkömmlichen Kategorien des Naturrechts

87 FURETIERE t. 4(Ausg.1721),1768 ff.; vgl. FRANC}OIS LAROCHEFOUCAULD, Reflexions

diverses, Oeuvres compl„ ed. Louis Martin-Chauffier (Paris 1950), 758 f.


88 ZEDLER Bd. 38, 180.'
89 Vgl. ADAM FERGUSON, An Essay on the History of Civil Society (1759); GILBERT

STUART, A View of Society in Europe, in its Progress from Rudeness to Refinement


(Edinburgh 1778), Advertisement, V, der von den periods of society which pass from
rudeness to civility spricht~ Ähnlich JOHN MILLAR, Observations Concerning the Distinctions
ofRanksfo Society (Basil 1798), Introduction: There is sure, in human society, a natural
progress ... from rude to civilized manners. Vgl. dazu jetzt den historisch und systematisch
weiterführenden Beitrag von HANS MEDICK, Naturzustand und Naturgeschichte der bür-
gerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie bei Samuel Pufendorf,
John Locke und Adam Smith (Göttingen 1972).

748
V. 5. Einßuß der englisch-französischen Wirtschaftstheorie Gesellschaft, bürgerliche

nicht mehr darstellbaren Strukturwandel, der seit dem 17. Jahrhundert die äußeren
(ökonomischen, militärischen, rechtlichen, technischen) Bedingungen der alt-
europäischen Gesellschaft erfaßt, ihre Evolution zu einer liberal-bürgerlichen Ge-
selhmhafL illl politisch-rechtlichen und ökonomischen Sinne.
Das zentrale Dogma des traditionell-aristotelischen Begriffs, daß die Ökonomik
auf das „private" Fundament des „Hauses" zu begrenzen sei und zur öffentlich-
politischen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft keine Beziehung haben dürfe -
nullo habito respectu ad societatem civilem90 - , erfährt erst jetzt seine Auflösung.
An seine Stelle tritt das neue Dogma der bürgerlichen Gesellschaft als Wirtschafts-
und Eigentumsordnung, die nun umgekehrt den privaten Umgang der Individuen
bestimmt. For enjoyments are given u.s from the opp,n and l?:bP-ral hand of nat11,re,
schreibt D.A.vrn IIUME, but by art, labom· and industry, we can extract th.ein in great
abundance. Hence th.e ideas of property become necessary in all civil society91 • Die Not-
wendigkeit des Eigentums für das gesellschaftliche Leben wird zwar bald bestritten,
aber unbestreitbar bleibt hinfort der Satz, daß die Entstehung der bürgerlichen
Gesellschaft das Faktum des Eigentums voraussetzt. Le premier, heißt es in Rous-
SEAUS „Discours über den Ursprung der Ungleichheit ~ter den Menschen", qui
a
wgwnt vnvlus ·um terrwin s'wv·isa de dü·e: Ceo·i est mai, et trowva des gens assez s·imples
pour le croire, fut le vrai f ondateur de la societe civile92 •
Diese neuen, die Grundlagen der traditionell-politischen Philosophie umwälzenden
Gedanken werden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von der deutschen
Popularphllosophle aufgegriffen. Als einer der ersten weist ISAAK JAKOB ISELIN
in der Vorrede zu seinem „Versuch über die gesellige Ordnung" (1772) darauf hin,
daß er unter dem Eindruck der physiokratischen Wirtschaftslehre die Anfangs-
gründe der „bürgerlichen Weltweisheit"(= 'philosophia civilis' im Sinne von „Poli-
tik") ganz „umgegossen" habe93• Der Stellung gemäß, welche die Ökonomie bei den
Physiokraten zu erhalten beginnt, handelt Iselin 1) „Dber die wirtschaftliche Ord-
nung", 2) „Dber die sittliche Ordnung" (=Ethik) und 3) „Dber die bürgerliche
Ordnung" (= Politik). Die Funktion des Ordnungsbegriffs besteht dabei dariu, die
Eigenge·setzlichkeit der drei behandelten Gebiete herauszuarbeiten. Ihre Grundzüge
sind dem „Tableau economique" (1758) von Quesnay entnommen. Im Zentrum
steht der Kreislauf der geselligen Dienste und Arbeiten94 , den Quesnay entdeckt
hatte. Das Gesetz des Wirtschaftskreislaufes ist es, das die ludividuen aus der Zu-
gehörigkeit zu bestimmten Ständen und Gesellschaften herauslöst. Sie werden der
Bewegung eines sich selbst regulierenden gesellschaftlichen Ganzen eingeordnet,
das sich mit den herkömmlichen Kategorien der Politik nicht mehr angemessen
begreifen läßt: Die ganze Gesellschaft, im wirtschaftlichen Gesichtspunkt betrachtet,

90 Vgl. CHRISTIAN WoLFF, Oeconomica, Prolegomena,§ 1, hg. v. Michael Christoph Hanov,

Tl. l (Halle, Magdeburg 1754), 1.


91 DAVID HuME, An Inquiry Concerning the Principles of Morals 3, 1. Works, vol. 4

(Ndr. 1964), 183.


92 RoussEAU, Discours sur l'origine de l'inegalite parmi les hommes (1754), Oeuvres compl.,

t. 3 (1964), 164.
93IsAAK JAKOB IsELIN, Versuch über die gesellige Ordnung (Basel 1772), Vorrede, VII.
94Vgl. ebd., 56. Der Hinweis auf die „wirtschaftliche Tafel" Quesnays findet sich in der
Vorrede, V f.

749
Gesellschaft, bürgerliche V. S. Einßuß der englisch-französischen Wirtschaftstheorie

besteht n'ur aus Käufern und Verkäufern, aus Verbrauchern oder Verzehrern und Her-
vorbringern oder Arbeitern95 • Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft kommt bei
Iselin gelegentlich vor96 , aber er wird bereits durch Wendungen wie die 'ganze Ge-
sellschaft' zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt. Wenn er gleichwohl weiterhin bei-
behalten wird, bezieht er sich nicht mehr in erster Linie auf eine dem gesellschaft-
lichen Leben zugrunde liegende Tugend- und Rechtsordnung, sondern auf „Cultur"
und „Wohlstand" als die beiden anzustrebenden Zwecke der freigelassenen Wirt-
schaftsordnung.
Das wäre an sich keineswegs so umwälzend, wenn sie nicht zugleich als Zweck der
bürgerlichen Gesellschaft definiert und diese einer beständig fortschreitenden Vervoll-
kommnung für ebenso fähig wie bediirftig gehalten würde. Damit mußte aber die
Idee der gesellschaftlichen Evolution in da11 Zentrum der Degriffsku11zevLiu11 Ll'eL1m.
Die deutsche Popularphilosophie übernimmt sie ebenfalls von der englisch-schotti-
schen Moralphilosophie. Natur und Geschichte des Menschen werden nicht mehr als
durch die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft begrenzt vorgestellt, weil inzwi-
schen erkannt worden ist, daß sie selbst eine Geschichte hat. Im Bunde mit der
physiokratischen Theorie befreit die evolutionistisch orientiel'te Moralphilosophie
den Begriff von der eigentümlich geschichtslosen Statik, die sei11er Konstruktion
nach dem Muster der naturrechtlichen Vertragslehre innewohnte. Begriffs- und
wortgeschichtlich drückt sich das darin aus, daß die 'civil society' bei den Eng-
ländern zur 'civilized society', die 'societe civile' bei den Franzosen zur 'l:!ocictc
civilisee' umgeformt wird97 • Die Umformung verdeutlicht, daß die moralphiloso-
phisch-ökonomischen Theoreme des 18. Jahrhunderts nicht mehr den status civilis
der societas civilis mit seinem Kernstück, der Lehre von der politischen Vflrfassung,
sondern den „zivilisierten" Zustand der „Gesellschaft" zum Gegenstand haben.
Obwohl die Idee eines apolitischen, weil evolutionistischen Gesellschaftsbegriffs in
der deutschen Aufklärung keineswegs so klar hervortritt wie im westeuropäischen
Denken, lassen sich doch einige Ansätze dazu nachweisen. So identifiziert vor allem
WIELAND in seinen Beiträgen zum „ Teutschen Merkur" den „Stand der bürgerlichen
Gesellschaft" mit dem Stand der policierten Gesellschaft98 • Der Übergang zwischen
status naturalis und status civilis ist nach Wieland kein Sprung, eher ein bloßer
Fortgang in dem nämlichen Stande 99 , der auf der allmählichen Entfaltung der „Ge-

95 Ebd„ 63. Vgl. auch ebd„ 68 übu1· die Notwendigkeit einer giinzlich freien Konkurrenz

der Individuen als naturgesetzliche Be<iingnis, unter welcher allein die menschliche Gesell-
schaft überhaupt und jede kleinere Gesellschaft insbesondere zu einer wahren und sicheren
Blüte gelangen können.
98 Vgl. ebd„ 104. 108, ferner ders„ Über die Geschichte der Menschheit 5, 8, 2. Aufl.„ Bd. 2

(Zürich 1768), 33: Entstehungsarten der bürgerlichen Gesellschaften.


97 Vgl. An.AM SMITH, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations,

1, 2. 3, 1(London1776), 17. 459. DAVID HUME, Ofthe Original Contract, Essays, vol. l
(1898), 456; PAUL TmRY HoLBAOH, Systeme oooio,l (London 1773), 202 ff.
98 Vgl. Wrnr,ANn, f'Tf\Rprii.11he nnt.er vier Augen, Gespr. 5: Entimheidung des Rechtshandels

zwischen Demokratie und Monarchie, 8W Bd. 32 (1857), 131; ders„ Betrachtungen über
J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, AA 1. Abt., Bd. 7 (1911), 376;
ders„ Betra11htungen über des Hrn. Condorcet Erklärung, was ein Bauer und ein Handar-
beile1· in Frankreich sey, AA 1. Abt„ Bd. 15 (1930), 754.
99 Ders., Betrachtungen, AA 1. Abt„ Bd. 7, 379.

750
V. 6. 'Bürgerliche Gesellschaft' als Negativhegriff Gesellschaft, hürgerliche

tielligkeiL" LeruhL. Die pupularpbilosuphische Geselligkeitstheorie ist für die Ilerauti-


bildung eines spezifisch popular-philosophischen Gesellschaftsbegriffs charakteri-
stisch. Nach der Wielandschen Fassung läßt sie sich etwa so beschreiben: Gesellig-
keit ist eine Sache der Bildung des Menschen, Bildung aber an Vermehrung und Ver-
feinerung der Bedürfnisse und Talente gebunden; diese setzen ihrerseits das Be-
stehen von großen oder wenigstens emporstrebenden Gesellschaften voraus, um sich in
wechselseitiger Wirkung ineinander fortwährend erzeugen und fortschreitend diffe-
renzieren zu können 100• Die Gesellschaft ist ein Produkt der menschlichen Gesellig-
keit, und umgekehrt die Geselligkeit ein Produkt der Gesellschaft. Beide haben ein
gemeinsames Gravitationszentrum, den Menschen, der seine Geselligkeit in und an
der Gesellschaft bildet. .
Nach l\'.IOBl!lB MlllNDl!lLBßOIIN Bind BiUung, Oultur und Auflolämng ... Modifiloationcn
des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen,
ihren geselligen Zustand zu verbessern 101 • 'Cultur' bezeichnet die Bildung des
Menschen als Bürger, 'Aufklärung' die des Menschen als Menschen. Die Bildung des
Menschen als Bürger ist aber nicht seine Bildung zur bürgerlichen Gesellschaft,
sondern zu einer gesellschaftlichen Lebensform, die sich in „Geselligkeit", „Cultur"
und „l:'olitur" manifestiertrn~. Wie in ..li:ngland und J!'rankreich tritt nun auch in
Deutsc.hland ne.ben die. „bürgerliche" (politisc.he) die „civilisierte" und „policierte"
Gesellschaft1 0 3 • Der Politik im herkömmlichen Sinne geht jetzt im systematischen
Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Disziplin, die „Metapolitik" (AU-
GUST Lunwm ScHLÖZER) vorher, die bei Voraussetzung der unbegrenzten Perfektibili-
tät des Menschen den t!bergang desselben aus den häuslichen Gesellschaften in die
bürgerliche, oder, welches fast auf eins hinausläuft, von der Wildheit zur Cultur,
beschreibt104 •

6. 'Bürgerliche Gesellschaft' als Negativhegrift":


Lessing, Herder, Goethe, Jacobi, Möser

Während hier die bürgerliche Gesellschaft in ihrer modifizierten Form durchaus


positiv gewertet und als init der auf Perfektibilität angelegten Natur des Menschen
lOO Vgl. ders., Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen

Gattung nac}ltheilig sey, AA 1. Abt., Bd. 7, 436; HERDER, Kalligone (1800), SW Bd. 22
(1880), 242 ff.
10_1 MOSES MENDELSSOHN, Ueber die Frage:was heißt aufklären?, Ges. Sehr., Bd. 3 (1843),

399f.
102 Ebd., 400; vgl. ders., Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig, Nach-

schrift (1756), ebd., Bd. 1, 390. 392 f. Wieweit e~ sich bei diesen Begriffen um Gemein-
gut der Aufklärung handelt, lehrt ihre Zusammenstellung bei JoH. EHRENFRIED
MAYER, Philosophisches Gespräch über den Ursprung der Gesellschaft, Kultur und
Politur (Wien 1781). Näheres-->- Kultur, Zivilisation.
103 Wmr.ANn, HARprii.r.hA, HW Hri. B2, l:{l; riArR., Plan AinAr AkariAmiA 7.llr Hilri11ng dAR

Verstandes und Herzens junger Leute, AA 1. Abt., Bd. 4 (1916), 186 f.; THOMAS ABBT,
Vom Verdienste im Privatleben, Vermischte Werke, Bd. 1 (Frankfurt, Leipzig 1783),
299 f.; FRIEDRICH GENTZ, Ueber den jetzigen Zustand der Finanz-Administrazion und des
Nazional-Reichthums von Großbrittannien, Rist. Journal 3 (1799), 23.
104 AUGUST LUDWIG ScHLÖZER, Weltgeschichte nach ihren IIaupttheilen, im Auszug und

Zusammenhang, Tl. 1 (Göttingen 1792), 58 (§ 26).

751
Gesellschaft, b.ürgerliche V. 6. 'Bürgerliche Gesellschaft' als Negativbegriff

übereinstimmend begri.ITeu wiru, 1Wueu ilich zu ilie1:1er ZeiL auch Stimmen, die einen
anderen Ton anschlagen. Sie sind mehr oder weniger von dem Anstoß abhängig, den
Rousseaus Kritik an den Paradoxien der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung
im neueren Europa gegeben hatte. Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
führen sie zu der Ansicht von einer unmittelbar bevorstehenden Krise der herr-
schenden sozialen Zustände. In diesem Zusammenhang wird der Ausdruck 'bürger-
liche Gesellschaft' selber zu einem Krisenbegriff. Nicht ohne Grund hatte der Göt-
tinger Historiker und Philosoph CHRISTOPH MEINERS erklärt, Rousseau kündige
nicht bloß den aufgeklärten oder verdorbenen Völkern der alten und neuen Zeit, sondern
aller bürgerliclien Gesellschaft den Krieg an 105 .
Voraussetzung für die sich nun abzeichnende Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
ist die liboml bürgorliohc oder auch aufgeklärt-absolutistische Selbstdarstellung, ilie
sie mit der Reduktion auf die Interessenbasis des dritten Standes oder der rationalen
Verwaltungspraxis der aufgeklärten Herrscher erfährt. JOHANN AUGUST ScHLETT-
WEIN nennt die Policey die erste Wohltäterin der bürgerlichen Gesellschaft, weil sie die
ungehinderte Ausübung des Personal-Eigentums ermögliche 106 ; AUGUST LUDWIG
ScrrLÖZER spricht von bürgerlicher Gesellschaft und 'Stat' als einer „Ma1:1chine"
und „Erfindung" : Menschen erfanden sie zu ihrem Wohl, wie sie Brandkassen etc. er-
fn,n,i/,p1n107; nnil .Tnwrus MösER sc.hließlich - von einem Krisenbewußtsein selber
noch entfernt - kleidet die ihm wohl vertrauten Bauelemente der alten bürgerlichen
Gonollooha,ft in die nüchterne Terminologie des aufgeklärten IlürgerLuuu; eiu: e.r
schildert sie als eine „Compagnie", eine „Aktien-Gesellschaft", in der jeder Biirger
... den Besitzer einer gewissen Aktie vorstellt, - im Gegensatz zum Nicht-Bürger
(den Beisassen oder Knecht), der nach Möser ein Mensch im Staate ohne Aktie ist 108 •
Gerade hier liegt nun freilich die Problematik des Begriffs: die Ausschließung der
nichtprivilegierten Schichten von den bürgerlichen Rechten (und Vorrechten). Sie
wird zunächst nur von wenigen wahrgenommen, wie etwa von CHRISTIAN WILHELM
DoHM, der 1786 die bürgerliche Verbesserung der Juden fordert (In keinem Winkel
von Europa genießt . . . noch bis itzt diese unglückliche Nation der vollkommenen
Rechte der Menschheit und der bürgerlichen Gesellschaft) 109 , oder von FRIEDRICH
HEINRICH JACOB!, der 1775 den von der liberalen „Wirtschaftsordnung" erzwunge-
nen „Umgang" der Individuen als 'Commerz' bezeichnet und dazu notiert: Man
muß ausgeben und erwerben, man muß ·in das allyerneine Oommerz verwickelt sein,
um nicht in der bürgerlichen Gesellschaft noch weniger als ein Tier zu gelten; also ist
das Oommerz ebenso gewiß das eigentliche wahre Band der Gesellschaft, als die Fest-
setzung des Eigentums ihr erstes notwendigstes Bedingnis war 110• .

105 CHRISTOPH MEINERS, Historische Vergleichung der Sitten,Verfassungen, der Gesetze und

Gewerbe etc. des Mittelalters mit denen unsres Jahrhunderts, Bd. l (Hannover 1793), 6 f.
106 JoH. AUGUST ScHLETTWEIN, Grundfeste der Staaten, § 197 (Gießen 1779), 504 f.
107 AUGUST LUDWIG ScHLÖZER, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungslehre

(Göttingen 1793), 3.
108 JusTus MösER, Patriotische Phantasien: Der Bauernhof als eine Aktie betrachtet,

SW Bd. 6 (1954), 255 f.


109 CHRISTIAN WILHELM DoHM, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, 2. Aufl..,

Bd. 1 (Berlin, Stettin l 78:l), 91.


11 ° FRIEDRICH HEINRlOH JAUOBl, Eine politische Rhapsodie, Werke, Bd. 6 (Leipzig

1825), 351.

752
Geaellsohaft, bürgorliehc

Die Positivität der bürgerlichen Gesellschaft und ihre durch Privilegien normierte
Beschränkung wurde in der Aufklärung in den Frnim11mArlogAn und Orden vielfach
bedacht allen voran in dem Illuminatenorden. Von ihm hat ERNST BRANDES 1808
rückblickend gesagt, daß er exemplarisch dargetan habe, wie der durch den Mecha-
nism despotischer Einrichtungen in der bürgerlichen Gesellschaft fest gebundene Mensch
Auswege zu einer freien Regsamkeit sucht111 . Das war in der Tat das Problem, welches
die Ordens- und Freimaurerbewegung der Aufklärung zu lösen versuchte. Es erkannt
und in vorbildlicher Klarheit formUliert zu haben, ist das Verdienst von LESSING.
Die Vorliebe der Zeit für Geheimgesellschaften ist nach Lessing „ontologisch" be-
gründet, - nämlich in dem „Unheil", das die bürgerliche Gesellschaft, ganz ihrer
Absicht entgegen, für das Verhältnis der Individuen verursacht: Sie lcann die
Jl!tJnsclun nicht ·vere·in·igen, ohne s·ie :cu trennen; ·mieltt trennen, ohne Klllfte zwischen
ihnen zu befestigen 112 • Der äußeren Trennung in Völker und Religionen entspricht
die innere nach Ständen und Klassen, nach Armen und Reichen. Die Geheimgesell-
schaften sind für Lessing ein Versuch, an die „Übel" der bürgerlichen Gesellschaft
„Hand" anzUlegen und in ihr „Vernunft" anzubauen, d. h. aus der „bürgerlichen"
eine „menschliche Gesellschaft" zu bilden - die „ideale Gesellschaft" der „denken-
den Menschen in allen Weltteilen", wie sie auch HERDER als jene unsichtbar-siclttbare
Gesellschaft postUliert, die Elieh über die Trennung de.1· bürgerlichen Gesellscha/t
erhebt 113•

7. Die Dissoziierung der biirgerlichen Gesellschaft zur „Staatsgesellschaft":


Jung-Stilling, Scblözer, Hofeland u. a.

Das folgenreichste begri:ffsgeschichtliche Datum und zugleich das wichtigste Re-


sUltat jener Krise, die nach der Mitte des 18. Jahrhunderts den alten Traditions-
begri:ff der bürgerlichen Gesellschaft erfaßt, ist die nun überall nachweisbare Auf-
lösung der jahrhundertelang in Geltung gewesenen Synonymität von 'Staat'
(civitas, res publica) und 'bürgerliche Gesellschaft' (societas civilis). Es handelt sich
um einen relativ kontinuierlich verlaufenden Prozeß, der in seiner ersten Phase noch
vielfach mit den Traditionsbegri:ffen verbunden ist, die er auflöst.
Zunächst haben wir es mit der Dissoziierung einer Reihe von Begriffen zu tun,
die sich selber vom Hintergrund der Tradition nur undeutlich abheben. Dabei
können die nun auftretenden Neologismen den Dissoziierungsprozcß weitgehend
beschleunigen. Beide Momente lassen sich am besten an der neuen Einteilung des
„gesellschaftlichen Lebens" ablesen, die sich bei HEINRICH JuNG-STILLING findet:
Das gesellschaftliche Leben ist dreifach: 1) bezieht es sich auf die Familie oder auf das
häusliche Verhältnis, 2) auf das Zusammenwohnen der Hausväter oder auf die bürger-
liche Gesellschaft, und 3) auf das Verhältnis gegen die regierende Gewalt und ihre Ge-
setze, das ist: auf die Staatsgesellschaft 114 • Die Einteilung ist an dem Wol:ffschen

111 ERNST BRANDES, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten

Decennien des vorigen Jahrhunderts (Hannover 1808), 90 f.


112 LESSING, Ernst und Falk, Sämtl. Sehr., Bd. 13 (1897), 352.
113 HERDER, Gespräch über eine unsiohtbo.r-sichtb11re Cesellsohaft, SW Bd. 17 (1881),

123 ff.
114 HEINRICH JuNG-STILLING, Die Grundlehre der Sta.atswirthschaft (Marburg 1792), 680.

48-90386/l 753
Gesellschaft, bürgerliche V. 7. Dissoziierung zur „Staatsgesellschaft"

Umriß des „gesellschaftlichen Lebens der Menschen" orientiert; aber im Gegensatz


zu Wolff, für den 'societas civilis' und 'civitas' nicht voneinander getrennt11 R11griffe
sind, macht Jung-Stilling zwischen 'bürgerlicher' und 'Staatsgesellschaft' einen
Unterschied. Ähnlich unterscheidet wenig später HEINRICH BENSEN, der im Gegen-
satz zu Heinrich Jung-Stilling von einer genetisch-historischen Konzeption ausgeht:
Unsere Staaten und ihre Bewohner haben nur allmählich ihre jetzige Form erhalten.
Von der häuslichen Gesellschaft rückte nämlich das Menschengeschlecht zur bürgerlichen
und von dieser zur Staatsgesellschaft fort 115. Dieses Wort 'Staatsgesellschaft' ist ein
Neologismus, der noch beides deutlich macht: die sich ankündigende Differenz
zwischen Staat und Gesellschaft und zugleich deren Verwischung 116 • Dab~i kann
das Wort auch in Verbindung mit anderen Bezeichnungen (z. B. 'Staatsgesellschaft-
Ge11ul:!l:!e' fUr 'Bilrger' uml 'SLaaLi:!gel:!elll:!chafL-Pulizei' filr 'Verwaltung') oder ad-
jektivisch auftreten. So sprieht JOHANN CHRISTIAN MAJER von der 'Kultur der
staatsgesellschaftlichen Verbindung' und vom 'staatsgesellschaftlichen Leben' 11 7 -
beides Ersatzbildungen für das Adjektiv 'bürgerlich', dessen eingeschränktere Be-
deutung jetzt nicht mehr die politische und gesellschaftliche Sphäre gleichermaßen
abzudecken vermag. Zweifellos trägt hier wieder die von der Schulphilosophie her
nachwirkende Begriffstradition dazu bei, daß die Differenzierung (wie z. B. bei
Jung Stilling) mit Termini iiltcrcn U:roprung13 umßohricbcn wird. Der 'Staats-
gel:!elli:!chafL' auf der eille11 Seite, deren Begriffsbildung die im „Staat" konzentrierte
politische Gewalt im Sinne der alten societas civilis relativiert, entspricht auf der
anderen die Abhebung von einer 'bürgerlichen Gesellschaft', deren Definition an der
traditionell-aristotelischen Vorstellung der unabhängigen Hausherrschaft als ihrer
Basis festhält.
Die gleichen Kategorien kehren dort wieder, wo im deutschen Sprachbereich zum
ersten Mal auf einen Unterschied zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat auf-
merksam gemacht wird, in AUGUST LUDWIG ScHLÖZERS „StatsAnzeigen" (1792) 118
und in .seinem „Allgemeinen StatsRecht"' (1793). Auch bei Schlözer, einem der
Wortführer der norddeutschen Aufklärung (Göttingen), stehen häusliche, bürger-
liche und „Staatsgesellschaft" einander gegenüber: Alle bisher bekannt gewordene
Menschenhaufen alter, mittler und neuer Zeiten, leben in den 3 Arten häuslicher
Gesellschaft. Alle ohne .Ausnahme leben in bürgerlicher Gesellschaft. Und bei weitem
die allermeisten, wenngleich nicht alle, leben in Staats-Gesellschaft, oder unter Obrig-
keit119. Zur Interpretation des „Unterschieds" zieht Schlözer den alten Begriff der
societas civilis heran, mit dem Zusatz, die 'StatsGesellschaft' sei societas civilis cum

116 HEINRICH BENSEN, System der reinen und angewandten Staatslehre, Bd. 1 (Erlangen
1804), 265.
116 Erster Nachweis von 'Staatsgesellschaft' bei FRIEDRICH v. SCHUTZMANN, Von dem

Entstehungsgrund der Gesellschaft, Berlinische Monatsschr. 1 (1783), 445. Vgl. CHRISTIAN


J.A.COB .KR.A.us, f:ltaat.swirt.hschaft, hg. v. Hans v.Auer11wald,Bd. l (König11berg 1808),26;
Bd. 2 .(1808), 257.
117 Jo:e:. CHRISTIAN MAJER, Theorie der Staatskonstitution (Hamburg, Kiel 179!:1), ll8 f.

Die Wortverbindungen bei THEODOR SCHMALZ, Handbuch der Staatswirthschaft (Berlin


1808), 481. 487 f. .
118 ScHLÖZER, Stats.Anzeigen 17 (1792), 354.
119 Vgl. ders., StatsRecht, 4; ders., Theorie der Statistik, H.1 (Göttingen 1804), 27 f. (§ 11).

754
V. 7. DisBOziierung zur „Staatsgesellschaft" Gesellschaft, bürgerliche

imperio oder Imperium, die bürgerliche societas civilis oder civitas 120• Die Unter-
Rcheidung zwischen bürgerlicher und 'Stat!:!-G1i1:11ill1:1chaft' wird so bei Schlözer an
die alte societas civilis sprachlich zurückgebunden. Dabei sieht er nicht, daß seine
Erklärung der bürgerlichen Gesellschaft genau die gleiche Formel verwendet, die
nach traditioneller Ansicht den unmittelbar politischen Charakter 'dieses Begriffs
beinhaltete.
Die Umdeutung der Formel ergibt sich daraus, daß der „Stat" die herrschaftlich-
politischen Strukturformen der bürgerlichen Gesellschaft auflöst. Der systematische
Ort der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht mehr die Politik (das „StatsRecht"),
sondern eine neue Disziplin, die Schlözer 'Metapolitik' nennt. Sie geht der „Stats-
Gesellschaft", der Sphäre von Herrschaft und Unterwerfung (pactum subjectionis
voluntatum) voraus. Die Metapolitik verändert die alte bürgerliche Gesellschaft zur
eocict1111 oivilio oino impcrio, einem „ Verein der Kräfte" (pa.ctum uniu.u.is viriurn), der
gelegentlich schon mit den Wendungen der englischen Moralphilosophie und Ökono-
mie gefaßt wird 121. Doch liegt Schlözer diese Entwicklungsrichtung· des Begriffs
noch fern; von einer Erkenntnis der spezifischen Erscheinungsformen der modernen
„bürgerlichen GeRellRr.haft," k1mn jedenfall~ keine Rede sei 122. Schlöz0r schlägt
z.B. vor, diesen Ausdruck, da er „schleppend" sei, übei·haupt preiszugeben und
an seine Stelle das Wort 'Gemeinde' zu setzen123 - womit ilie Problematik des
Unterschieds von 'bürgerlicher' und 'StatsGesellschaft' eine sehr einfache, der Re-
flexion nicht weiter bedürftige Lösung fände.
Und doch kommt die Unterscheidung einem bei den Zeitgenossen offenbar weit
verbreiteten Bewußtsein entgegen, daß die politischen Termini und deren sprach-
liche Bezugssysteme problematisch geworden sind. Noch ehe Schlözer seine Idee
der „Metapolitik" dem gelehrten Publikum mitzuteilen gewagt hatte, war diese,
wahrscheinlich durch mündliche Unterredung oder Mitteilung Dritter veranlaßt,
in GoTTLIEB HuFELANDS „Naturrecht" (1790) aufgegriffen und als Unterschied
der bürgerlichen Gesellschaften vom Staat in der Form eines Lehrsatzes fixiert wor-
den124. Er begründet ihn mit dem Hinweis auf die Privatisierung des bürgerlichen
Lebens durch die absolutistische Staatsgewalt, womit die bisher etwas vage Unter-
scheidung auf die gesellschaftlich-geschichtliche Konstellation des ausgehenden
18. Jahrhunderts anwendbar wird. Sie tritt allmählich am; <lem ahistorischen
Rahmen des Naturrechts heraus, der sie bei Schlözer an eine Art Grenzzone
zwischen Natur- und bürgerlichem Zustand bannte, die mit den Grenzen der mo-
dernen europäischen Welt zusammenfiel1 25 .

120 Vgl. ebd. u. ders„ StatsAnzeigen· 17 (1792), 354 unter Berufung auf eine Stelle aus

· CXsAR, Bell. Gall. 7, 4, 1.


121 Vgl. ders„ StatsRecht, 17 ff. 64 f. (Metapolitik).

12 2 Das wird schon dadurch verhindert, daß Schlözer den naturrechtlichen Willensbegriff
(Roi1sseau 1) nicht als Formalgrund o.llor 'GotJcllschaft/ gelten läßt, 11011dern hier wieder
auf die noA.t, des Aristoteles rekurriert (vgl. ebd., 75 ff. 64 ff.).
ua Scm.özER, StatsHecht„ 78.
124 GoTTLIEB HuFELAND, Lehrsätze dos Naturrechts, § 21, Anm. (Jena 1790), 10.
12 5 SCHLÖZER, StatsRecht, 31 ff.; ebd., 64: So (in einer societas civilis Imperio) lebten

noch in neueren Zeiten Kamtschadalen, TschuktBchen und Grön/,ändr.r hi.~ z1,,r An.k1tnft der
Russen und Dänen vereint und doch ohne Herrscher. So die alten Deutschen und noch jetzo
viele Wilde in Amerika; vgl. ebd., 64 ff.

755
Gesellschaft, bürgerliche VI. 1. Aporie des liberalen Vernunftreehts

Wie immer man diesen Konkretisierungsvorgang beurteilen mag: die Problematik


des alten 'l'raditionsbegriffs ist mit der Dissozüerung zur „Staatsgesellschaft'' auch
dort unverkennbar, wo man weiterhin an ihm festzuhalten sucht. Die politische
Bedeutung der bürgerlichen Gesellschaft muß jetzt, nach ihrer beginnenden Ent-
politisierung, terminologisch erst wieder vereinbart und festgelegt werden. Ein
Sicherheitsbund ohne Einschränkung auf Zeit und zur. Sicherung aller Rechte kann
eine politische Gesellschaft ( societas politica) genennet werden, schreibt THEODOR
SCHMALZ, und er merkt dazu an: Um Zweideutigkeiten zu vermeiden, wähle ich lieber
den Ausdruck politische Gesellschaft, als den: bürgerlich,e126 • Auf dieselbe Zwei-
deutigkeit war offenbar die Polemik gemünzt, die WIELAND im Jahrgang 1792 des
„Neuen Teutschen Merkur" gegen die Unterscheidung der 'bürgerlichen' von einer
'politischen Gesellschaft' anstrengte. In Abgrenzung von den Tendenzen, den Be-
griff von einer 'Staatsgesellschaft' zu WlLtlr!:!cheiueu WlU !:leinen GeLraueh auf die
Beziehungen „bürgerlicher" Privatleute einzuschränken, beruft sich Wieland auf
ihren alten politischen Charakter: Bürgerliche Gesellschaft heißt (mit Erlaubnis
einiger Herren und Damen, die das Wort bürgerlich hier irre machen könnte) nicht
eine Gescil1whaft von roturioro, oondorn bodoutst iust so t•iel als politische Gesellschaft
oder Staat, und der Name Bürger k<>mmt in dieser Bedeutung jedem Gliede der pol-il'i-
schen Gesellschaft, 'Von welcher Klasse es übrigens sei, in gleichem, Maße Z'u127 •

VI. Deutscher Idealismus und Französische Revolution: Kant, Fichte

1. Die Aporie des liberalen Vernunftrechts: Kant

Im Gegensatz zur Philosophie der Aufklärung, die den Faden des Problems mehr
und mehr aus der Hand gibt und sich in leeren Distinktionen verliert, entwickelt
sich die KANTsche Theorie der bürgerlichen Gesellschaft von vornherein, auf der
Basis der Auseinandersetzung mit dem überlieferten Schulbegriff. Das ist in einem
zweifachen Sinne zu verstehen. Einerseits bleibt Kant, obwohl er sich nur mit dessen
naturrechtlicher Spätphase (Anhenwall) auseinandersetzt, in wesentlichen Punkten
von der Tradition abhängig, die er der Kritik unterzieht; zum anderen aber über-
windet die Kantsche Kritik die Schrankennichtnurdcsscholastisch-aristotelischen,
sondern auch des modernen Naturrechts, die einer neuen, der veränderten gesell-
schaftlich-geschichtlichen Lage entsprechenden Normierung des Begriffs im Wege
stande:t;l.
Zunächst scheint Kant freilich ganz die Sprache der neueren Naturrechtstheorie zu
übernehmen. Die Einführung des Begriffs in die Rechtslehre bedient sich der metho-
dischen Fiktion des Naturzustandes und der Notwendigkeit seiner Überwindung
durch den „bürgerlichen". Der bürgerliche Zustand vereinigt die voneinander iso-
lierten und rechtlich ungesicherten Individuen unter eine Rechtsordnung und gibt
der bloßen „Menge von Menl:!ehen" eine poliLi!:!che Verfal:!l:!Wlg. Dieser Z·ustand der
einzelnen im Volke •in Verltiiltn·is wnlereinandet lte,ißt de1· bürgerliche (status civilis)
und das Ganze derselben in Beziehung auf seine eigene Glieder der Staat ( civita8),

126 THEODOR SCHMALZ, Das natürliche Staatsrecht, 2. Aufl. (KönigsbArg l 804), 6.


127 WIELAND,Anmerkungen . . . zu Einige Bemerkungen über das Sendschreiben des
Herausgebers des teutschen Merkurs an Hrn. Prof. Ehlers, AA 1. Abt., Bd. 15, 470, Anm.

756
VI. 1. Aporie des liberalen Vernnnftrechts Gesellschaf~ bürgerliche

weloher seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im
rechtlichen Zustande zu sein, das gemeine Wesen (res publica latius sie dicta) genannt
wird 128 • Wie der Staat noch immer als 'civitas' und 'res publica' bezeichnet werden
kann, so erscheint auch die bürgerliche Gesellschaft als societas civilis. Gleichwohl
hat das Wort hier eine andere Semantik als in der klassisch-politischen Philosophie
und im modernen Naturrecht. Im Unterschied zu seinen Vorgängern stellt sich Kant
die Frage, ob die bürgerliche Gesellschaft jenes status civilis überhaupt noch eine
„Gesellschaft" sei, da die „Mitgenossenschaft" und die „Beiordnung" der „Ge-
sellen" in der politischen Theorie und Praxis der „Unterordnung" unter den Willen
des Souveräns bzw. den „allgemeinen W~llen" habe weichen müssen: Selbst der
bürgerliche Verein ( unio civilis) kann nicht wohl eine Gesellschaft genannt werden;
den.n zwi'.schen dem Be.fe.hlsh.a.be.r ( impe.ra.ns) nnd de.m Unte.rtan ( su.bditns) 1'.st ke.i'.ne
Mitgenossenschaft; sie sind nicht Gesellen, sondern einander untergeordnet, nicht bei-
geordnet, und die sich einander beiordnen, müssen sich eben deshalb untereinander als
gleich ansehen, sofern sie unter gemeinsamen Gesetzen stehen. Jener Verein ist also
nicht sowohl als macht vielmehr eine Gesellschaft 129 •
In der zeitgenössischen Naturrechtstheorie ist diese Unterscheidung vielfach auf
Ablehnung und Unverständnis gestoßen. Man hielt sie für 'llbertriebene Sp'itzfindig-
keit, da man allgemein davon ausging, daß Oberherrschaft und Unterwürfigkeit ...
das gesellschaftliche Verhältnis hier so wenig als in andern ungleichen Gesellschaften
aufhebe 130 • Genau dies war aber Kants Meinung. Dabei sollte die Unterscheidung
nicht nur das Verhältnis von Herrscher und Untertan neu bestimmen, sondern die
herkömmliche Deutung der bürgerlichen Gesellschaft als naturwüchsiger Herr-
schaftsgesellschaft ('ungleiche Gesellschaft') und ihre Projektion auf die geschicht-
lichen Zustände der spätfeudalen Adelswelt unmöglich machen. Zu diesem Zwecke
führt Kant eine von dem bisherigen Sprachgebrauch abweichende Norinierung des
Terininus 'bürgerliche Gesellschaft' und seines sprachlichen Bezugssystems durch.
Sie schließt die Ableitung aus dem Stufengang der „Gesellschaften" des Naturzu-
standes ebenso aus wie die unkritische Anwendung des Begriffs auf das Verhältnis der
„ 0 berherrschaft und Unterwürfigkeit". Denn diesesVerhältnis, das Kant in Überein-
stimmung init seinen Vorgängern als Vertragsverhältnis interpretiert, basiert auf
einem Rechtsprinzip, aus dem die Notwendigkeit des Vertrags, die Verknüpfung von
Freiheit und Zwang („Herrschaft'.') erst verständlich gemacht werden kann: dem
, ,Recht der Menschheit". Jeder Mensch hat das Recht, die Freiheit eines jeden auf die
Bedingungen einzuschränken, die init der Möglichkeit der Freiheit selbst, ihrem „ Ge-
setz", unlösbar verbunden sind. Bei Kant werden Freiheit und Zwang weder ein-
ander entgegengesetzt (modernes Naturrecht) noch aus der mit der bürgerlichen
Gesellschaft gegebenen Unterscheidung zur Knechtschaft gerechtfertigt (klassische
Politik), sondern im Begriff einer rechtmäßigen (die Freiheit eines jeden ermögli-
chenden), Zwangsgewalt verknüpft, die dem apriori vereinigten Willen aller (Rous-
seaus volonte generale), d. h. einer Normensetzung der praktischen Vernunft selber
entspringt. Diese Norm ist nach Kant an alle gesellschaftlichen Verhältnisse als

128 KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 43 (1797). AA Bd. 6 (1907), 311.
i29 Ebd., § 41. AA Bd. 6, 306 f.
ia~ JoH. ÜirnISTIAN CmtISTOPH RÜDIGER, Lehrbegriff des Vernunftreehts und der Gesetz-
gebung, § 198 (Halle 1798), 173.

757
Gesellschaft, bürgerliche VI. 1. Aporie des liberalen Vernunftrechts

Maßstab ihrer Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit anzulegen. Von einer bür-


gerlichen Gesellschaft kann nur dann gesprochen werden, wenn eine geschichtlich
gegebene Verfassung jenem normativen Maßstab des universellen Menschenrechts
entspricht, oder, wie Kant sagt, den allgemeinen Willen „aktuiert": Nach der Regel
des Rechts .muß eines jeden Willen mit sich selbst nach allgemeiner und äußerlicher
Regel übereinstimmen; fol,glich muß er gleichsam ein Wille des Ganzen sein, und die
actuation des gemeinschaftlichen Willens ist die bürgerliche Gesellschaft 131 •
Indem so der „allgemeine Wille" zur Norm der bürgerlichen Gesellschaft wird, ge-
winnt der Begriff eine systematisch veränderte Funktion. In ihm drückt sich nicht
mehr die Positivität des geschichtlichen Rechts, sondern jener Prozeß der Positivie-
rung des Naturrechts aus, der mit der nordamerikanischen und der Französischen
Revolution anhebt. Die bürgerliche Gesellschaft, verstanden als ~rscheinung des
a priori vereinigten Willens aller, der die Vernunftidee des klassischen bürgerlichen
Liberalismus ist, wird aus einer „Ursache" der politischen Verfassung zu deren
Wirkung: Die bürgerliche Verfassung ist nicht willkürlich, sondern nach Gründen des
Rechts um der Sicherheit der andern notwendig. Die Gesellschaft ist auch nicht die
Ursache dieses Zustandes, sondern die Wirkung. Der pralctische souveräne Grund des
Rechts macht die Gesellschaft 182 •
Die Deduktion aus dem a priori vereinigten, gesetzgebenden Willen verleiht der
bürgerlichen Gesellschaft einen apriorisch-rechtlichen Sinn, der das Verhältnis des
Begriffs sowohl zur geschichtlich-gesellschaftlichen Welt, wie zu seiner eigenen Ge-
schichte von Grund auf verändert. Die erlangte Universalität des sprachlichen und
politischen Bezugssystems bedeutet nichts weniger als einen Bruch mit allen parti-
kularen Rechts- und Herrschaftsordnungen, die den älteren Gebrauch des Begriffs
bestimmten. So rechnet Kant die traditionell-politischen Herrschaftsformen (Mon-
archie, Aristokratie, Politie bzw. Demokratie) der alten bürgerlichen Gesellschaft
nur zum „Maschinenwesen" einer Verfassung, das, „statuarisch" geworden, ledig-
lich durch Gewohnheit noch Bestand hat und für den rechtlichen (bürgerlichen oder
nicht bürgerlichen) Charakter der Gesellschaft ohne Belang ist. Ja, noch mehr:
Kant behauptet, daß, solange jene Formen dem Buchstaben nach eben so viel ver-
schiedene. mit· der obersten Gewalt bekleidete moralische Personen vorstellen sollen, nur
ein provisorisches inneres Recht und kein absolut-rechtlicher Zustand der bürgerlichen
Gesellschaft zugestanden werden kann 133 • Daraus erklärt sich, weshalb der Ilegri:ff in
seiner normativen Geltungsfunktion in ein Spannungsverhältnis zur geschicht-
lichen Gegenwart tritt. Indem Kant die bürgerliche Gesellschaft auf der einen Seite
als Fundamentaldogma der Politik, das sie ursprünglich gewesen und auch im neu-
zeitliphen Naturrecht geblieben ~ar, ganz aufgibt, erhebt er sie auf der anderen zum
Rechtssubjekt der Geschichte: Das größte Problem für die Menschengattung, lautet
der 5. Satz von Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht" (1784), zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer
allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft 134 •

131 KANT,Reflexion7682(uml 772-75),,AA.Bd.19(1934),489; vgl.Reflexion 7665,ebd.,482.


132 Ders., Reflexion 7847 (um 1775-77), ebd., 533.
133 Ders., Metaphysik der Sitten, Rechtslehre,§ 52. AA Bd. 6, :J4l; Stmit, der Fakultäten,

AA Bd. 7 (1907), 87 f.; Zum ewigen Frieden, AA Bu. 8 (1912), 349 ff.
134 Ders„ Idee zu einer allgemeinen Gescpichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. 8, 22.

758
VI• 1, Aporie des liberalen Vernuuftrechts Gesellschaft, bürgerliche

Die Realisierung einer solchen Gesellschaft, d. h. die Positivierung der bürgerlichen


Grundrechte und -freiheiten in allen Verfassungen, führt notwendig zur Erreichung
des allgemeinen· Friedenszustandes zwischen den Völkern und Staaten. Er läßt sich
nicht anders als nach der Analogie einer so normierten bürgerlichen Gesellschaft
denken, womit der Begriffnoch einmal erweitert wird. In bezug auf das Völkerrecht
spricht Kant von der „staatsbürgerlichen Gesellschaft" (d. h. hier: der bürgerlichen
Gesellschaft zWischen den Staaten), welche die Idee eines zu errichtenden öffent-
lichen Rechts der „ Völker" realisieren soll; auf das· Weltbürgerrecht bezogen, das
die mögliche Vereinigung aller Völker nach allgemeinen Gesetzen ihres Verkehrs
(commercium) in einer Vernunftidee vorstellt, ist von der „Weltbürgergesellschaft"
die Rede135•
Die universelle Stellung, die die Kantsche Rechtslehre dem Begriff einräumt, ent·
spricht der Universalität des Rechts der Menschheit, das ihre Basis ist. Mit ihm hat
die liberale Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft die Schranken der traditionell-
politischen Philosophie durchbrochen und die Freiheit als unveräußerliches Recht
aller Menschen anerkannt und in sich aufgenommen136 . Das Wesen des Menschen,
Rechtssubjekt, „Person" zu sein, bestimmt jetzt die bürgerliche Gesellschaft und
nicht umgekehrt die Hechte in dieser seine „1:'erson"Ia 7• Damit entfällt die rechtliche
Möglichkeit der „feudalen" Privilegien- und Ständeordnung, des Gefüges der „un-
gleichen Gesellschaften" und „Herrschaften" in ihrem Innern. Zu deren Recht-
fertigung durch W ol:ff und die Wolffsche Schule heißt es schon beim frühen Kant:
Alle societas ist aequalis. Denn alle Teile eines Ganzen sind einander koordiniert (das
ist reciproce actio). Zu der unione voluntatum wird erfordert, daß ein jeder Wille ein
Teil vom gesamten Willen sei und also ein jeder durch den ganzen Willen nur regiert
wird, sofern er seinen eignen Willen mit der anderen ihrem verbunden hat 138 • Und:

136 Vgl ..ders., Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, §§ 53 ff. AA Bd. 6, 343 ff.; ders., Über den

Gemeinspruch III: Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht, AA Bd. 8,
307 ff.; ders., Zum ewigen Frieden, 2. Abschn. AA Bd. 8, 348 ff. Der Begriff 'staatsbürger-
liche Gesellschaft' bedeutet bei Kant lediglich: die zwischen den Staaten bestehende oder
anzustrebende bürgerliche Gesellschaft, was nicht heißt, in ein „pactum societatis civilis"
1r.u t.mt.en; vgl. clerH., Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA Bd. 23 (1955), 352 u. ders., Vorarbei-
ten zum ewigen Frieden, ebd., 171.
136 VgL ders., Über den Gemeinspruch II: Dieses Recht der Freiheit kommt ihm, dem Gliede

des gemeinen Wesens, als Mensch zu, sofern dieser nämlich ein Wesen ist, das überhaupt
der Rechte fähig ist, AA Bd. 8, 291.
137 Vgl. ders., Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung, IV. AA Bd. 6, 221 ff.; Über

den Gemeinspruch II. AA Bd. 8, 289 ff. mit. der umgekehrten, die ständisch-herrschaftliche
Gesellschaftsverfassung konservierenden Bestimmung desALR, Tl. 1, Tit. l, § 1: Der Mensch
wird, insofern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt.
138 KANT, Reflexion 7548 (um 1769-70 oder 1773-75), AA Bd. 19, 452. Die Reflexion

gehört.in den Umkrei11 jener Vereuche, den Geisellischaftebegriff überhaupt (seine „Form")
auf der Basis des vereinigten Willens aller und der aus ilim sich ergebenden „Regel des
Rechts" neu zu definieren, die Kant zu dieser Zeit unternimmt. Vgl. Reflexion 7524 (um
1766-68): Societas est totum personarum, quatenus obligatae sunt ad agendum secundum
voluntatem communem (ebd., 446); Reflexion 7528 (um 1766-69): Societas vel denotat
totum sociarum ratione communi iunctorum quae est finis, vel formam coniunctionis. Forma
societatis constat in subiectione voluntatum sub voluntate communi (ebd., 44 7) ; Reflexion

. 759
Gesellschaft, hürgerliche VI. 1. Aporie des liheralen Vernonftrechts

Alles pactum, welches der Menschheit widerstreitet, ist a natura r1,11,ll und nichtig1a9 _
So wendet sich Kant gegen Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit, die beide dem
Wesen des Menschen, seiner Rechtsfähigkeit, am auffälligsten widersprechenI40.
Die Untertänigkeit (im Staate), lautet eine darauf bezügliche Reflexion. der sechziger
bzw. siebziger Jahre, ist eine Herrschaft unter einer Herrschaft, welche ein pactum der
Regenten ist, aber nicht ein Verhältnis der Untertanen im Staate gegeneinander 141 .
Der durchgängig wechselseitige und gleiche Zwang, welchen der Rechtsbegriff
fordert, macht Herrschaftsschichtungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft
unmöglich. Kant bejaht daher jenen großen Enteignungsprozeß aller korporativen
und ständisch-öffentlichen Gewalten, den der absolutistische Staat einleitet und der
in den Dekreten der Französischen Revolution seinen Abschluß findet. Zu den wich-
tigsten „rechtlichen Wirkungen", die sich aus der Idee des a. priori vereinigten
Willens notwendig ergeben, gehören die Aufhebung der von Korporationen, Stänilen
und Orden beanspruchten Realrechte (Landeigentum) und die Abschaffung persön-
licher Rechte (Privilegien) und Würden (Prärogative) des Adelsstandes durch den
„Staat" 142 • .

Die Grundlinien der klassisch-liberalen Begriffskonzeption hat Kant in der zu Beginn


der neunziger Jahre erschienenen Abhandlung: „ Über den GemeinRpruch: Das mag
in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxi11" (1793) entwickelt und
unverändert in den 2. Teil der „Rechtslehre" (1797) übernommen. Sie basiert auf

7550 (um 1769-70 oder 1773-75): Sociewtis aeq·uaUs est, q·wu, rwr~ntum oritur ex arbitrio
communi; vgl. ferner Reflexionen 7553. 7682. 7841. Übrigens hat Kant diese Konzeption
später auch auf die „häusliche Gemeinschaft" übertragen; vgl. ders., Bemerkungen zur
Rechtslehre, AA Bd. 20 (1942), 467: Das Wort Gesinde, für die häusliche Dienerschaft ge-
braucht, ist dem Begriffe der häuslichen Gesellschaft und des Rechts der Glieder derselben
gegen einander nicht wohl angemessen: Denn Gesellschaft kann nur unter Gleichen gedacht
werden, und der Ausdruck societas inaequalis enthält einen Widerspruch.
139 Ders., Reflexion 7576 (um 1769-70 oder 1773-75), AA Bd. 19, 459; vgl. Reflexion

7564: Eine Societät ist legitima, wenn sie keines Recht widerstreitet (ebd., 455), ferner
Reflexionen 7572. 7630. 7633. 7635.
140 Vgl. ders., Reflexion 7400 (um 1773-75 oder 1776-78): Es widerspricht sich für ein

l'fabiekt, s1d juris z1i sein iind doch einem andern ein Recht in sich z11, kcm„~t1:t11.iP,re.n 1:n den
völlig unbestimmten usum virium suarum. Er ist alsdenn bloß Werkzeug und nicht Person.
Ein solches pactmn ·ist null ·urul wichtig (ebd., 357). Vgl. Reflexion 68!H (1776-78) gegen
die erbliche Untertänigkeit: Es ist auch lächerlich, daß man über die Unfähigkeit solcher
Personen spottet, sich selbst zu regieren, da sie doch nur durch diesen Zuswnd in der Un-
fähigkeit sein (ebd., 195).
141 Ders., Reflexion 7641(um1769 oder 1773-75), ebd., 475.
142 Vgl. ders., Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Allg. Anm. B nach§ 49. AA Bd. 6, 324:

Hieraus folgt: daß es auch keine Oorporation im SWat, keinen Swnd und Orden geben könne,
der als Eigentümer den Boden zur alleinigen Benutzung den folgenden Generationen (ins Un-
endliche) nach gewissen Swtuten überliefern könne. Der Stuat kunn l!'ie z1u uller Zwit wu/lwben.
Zur Abschaffung der Standesrechte vgl. ebd., 328 ff., 369 f.; ders., Über den Gemeinspruch
II. AA Bd. 8, 292 f.; Vorarbeiten zum Gemeinspruch II. AA Bd. 23 (1922), 136 f.; Vorarbei-
ten zum Streit der Fakultäten, ebd., 462. Vgl. ferner ders., Reflexion 1235, AA Bd. 15 (1913),
544 f.; ders., Reflexion 7974, AA Bd. 19, 568. Über Kants Einfluß auf das preußische Re-
formwerk nach 1806 vgl. JOHANNES MÜLLER, Kantisches Staatsdenken und der Preußische
Staat (Kitzingen 1954), 48 ff.

760
VI. 1. Aporie des liberalen Vernunftrechts Gesellschaft, bürgerliche

drei „Prinzipien a priori", die für sich beanspruchen, die reinen Vcrnunftprinzipien
des äußeren Menschenrechts überhaupt vorzustellen: 1. Die Freiheit jedes Gliedes
der Societät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Unter-
tan. 3. Die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürgers 143 •
Das 1. und 2. „Prinzip" sind, nicht anders als die Grundsätze der „Declaration",
dem Rechtsprinzip der alten bürgerlichen, d. h. herrschaftlich gegliederten und an
ihr selbst politisch verfaßten Gesellschaft genau entgegengesetzt. Das Recht der
Freiheit, das jedem Glied der „Societät" zukommt, negiert die Rechte und Frei-
heiten der Korporationen, der Stadt- und Landgemeinden, Grundherrschaften
('Societäten') und Stände. Es ist das Recht des von den Herrschaftsrechten der
alten bürgerlichen Gesellschaft freien, emanzipierten Menschen, das sich auf ihn
selb~t, sein Privatinteresse (Glückseligkeit) und seine Privatwillkür bezieht. Kant
drückt es in der „Formel" aus, daß jeder seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen
darf, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit ande~er, einem ähnlichen
Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen all-
gemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ( d. i. diesem Rechte des andern) nicht Ab-
bruch tut. Das Recht der Freiheit schließt Rechtsgleichheit in sich, die Gleichheit
des Menschen als „Untertan". Sie ist die durchgängige Gleichheit der Menschen in
p,fru~m St,1u1,tp, - Rer.ht11gleir,hheit aller in An11eh11ng gleir.her Unterwerfune unter rlaR
Gesetz, das der „Staat" gibt144.
In diesem Zusammenhang erhält nun das Wort 'Staat' bei Kant einen Bedeutungs-
gehalt, der sich weder in der älteren Literatur des Naturrechts noch in zeitgenössi-
schen Schriften vergleichbaren Inhalts findet. Der vom Rechtsbegriff a priori gefor-
derte, durchgängig wechselseitige und gleiche Zwang ist, in seiner Darstellung nach
außen, das Prinzip jenes universellen Rechtszwanges, der sich mit dem Namen des
Staates verbindet: Es ist aber alles, was unter Gesetzen steht, in einem Staate Untertan,
mithin dem Zwangsrechte gleich allen andern Mitgliedern des gemeinen Wesens unter-
worfen; einen einzigen (physische oder moralische Person), das Staatsoberhaupt, durch
das aller rechtliche Zwang allein ausgeübt werden kann, ausgenommen 145 • Wenn über-
haupt, dann wird hier der Begriff 'Staat' zuerst in einem spezifisch modernen Sinne
gebraucht: einzig legitime und universelle Zwangsgewalt zu sein. Die „Inhärenz

143 KANT, Über den Gemeinspruch II. AA Bd. 8, 290; ders., Rechtslehre,§ 46. AA Bd. 6,

314. Vgl. Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA Bd. 23, 202 (3 Prinzipien des allgemeinen Me.n-
schenrechts); Vorarbeiten zum Gemeinspruch II. AA Bd. 23, 136. ·
1 44 Ders., Über den Gemeinspruch II. AA Bd. 8, 290 f. In den Vorarbeiten zum Gemein-

spruch II. AA Bd. 23, 136, ist der in diesem Prinzip gelegene Emanzipationscharakter
noch entschiedener festgehalten: Ein jedes Glied eines Volks in Verhältnis zur Regierung
hat eine drei/ ache Qualität: 1. der Freiheit als Mensch nach dem angebornen Recht nicht der
Willkür anderer bloß als Mittel unterworfen zu sein, sondern muß angenommen werden, daß
er befugt sei so zu handeln, als ob er alles zu seinem Vorteil tue und nur mittelbar zum Vorteil
anderer se/.bst der Reg1'.ernng. Der gesperrte, in den Druck nicht. übernommene l::l11hh1UA11,far,
lautet: Wider die Erbuntertänigkeit. Die Freiheitsdefinition der Declaration (Art. 4) hat
Kant als unzulänglich abgelehnt, obwohl sie der Sache nach mit der seinen konvergiert;
vgl. ders., Reflexion 8078, AA Bd. 19, 612.
145 Ders., Über den Gemeinspruch II. AA Bd. 8, 291; der entsprechende Schlußsatz in den
Vorarbeiten, AA Ild. 23, 136: Wider d-ie I'r·ivilegierten in Ansehung des Standes als Unter-
tanen; vgl. ders., Vorarbeiten zur Rechtslehre, ebd., 292.

761
Gesellschaft, hürgerliehe VI. 1. Aporie des liberalen Vernunftrechts

von Staat und Recht" (K. Ilorries) steht mit der apriorisch-rechtlichen Normierung
des Terminus 'bürgerliche Gesellschaft' in einem direkten Zusammenhang. Der
Staat, der die Gleichheit der Menschen als Untertanen garantieren soll, kann die der
alten societas civilis immanenten Zwangsrechte nicht anders beseitigen, als daß er
ein einziges, ihn selbst und die Gesellschaft konstituierendes Zwangsrecht an ihre
Stelle setzt.
Das heißt jedoch nicht, daß Kant nun auch den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft
in diesem Sinne interpretiert hätte. Man kann eher sagen, daß der „Rechtslehre"
hier eine inhaltliche Neuinterpretation mißlingt. Unter den Gesichtspunkten des
ersten und zweiten Prinzips wäre die logische Konsequenz, daß Kant, der Ausdeh-
nung des „Bürgers" auf „jeden Menschen im Staat" folgend, den Begriff der bür-
gerliohon Gooollooho,ft im Sinne der „staatsbürgerlichen GesellschafL", u. h. uer
Gesamtheit der vor dem Gesetz Freien und Gleichen gebraucht hätte. Das. wird
durch die eigentümliche Fassung des ·dritten Prinzips, der Selbstäruligkeit jedes
Gliedes eines gemeinsamen Wesens, als Bürgers, verhindert. Mit der Formulierung
dieses Prinzips wechselt die transzendentale Methode auf das empirisch-gesellschaft-
liche Gebiet über, mit dem Ergebnis, daß sich die apriorische Rechtskonstruktion
der bürgerlichen Gesellschaft im Medium der naturrechtlichen societas civilis bricht.
nie Aporie von Norm und Faktum, die jetzt in diesem Begriff wiedor hervortritt,
wird im wesentlichen durch das von Kant herangezogene Prädikat der Selbstän-
digkeit (sibisufficientia) verursacht. Seine Einführung nötigt Kant, den Begriff der
bürgerlichen Gesellschaft wieder konventionell zu verwenden. Denn der systemati-
sche Ort des Prinzips ist das „Recht der Häuslichen Gesellschaft", das Kant unter
dem Titel eines „auf dingliche Art persönlichen Rechts" abhandeltl 46.
Die „Beispiele", an denen Kant die Normierung des schwankenden Sprachge-
brauchs in der politischen Terminologie seiner Zeit (vor allem bezüglich des Bürger-
begriffs) vornimmt, gehören in den Umkreis jener Auffassung vom 'Haus' als der
herrschaftlich-ökonomischen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, dessen Glieder,
abhängig von der Verfügungsgewalt des Hausherrn über Ort, Werkzeug und Stoff
der Produktion, von 'ihr ausgeschlossen sind: Der Geselle bei einem Kaufmann oder
bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staats steht); ... alles
Fraue,nzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach. eigenem Betrieb, sondern
nach der Verfügung anderer (außer der des Staats) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung
urul Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, imd seine Existenz
ist gleichsam nur Inhärenz. Und das zweite Beispiel: Der Hausbediente, der Laden-
diener, der Taglöhner, selbst der Friseur sirul bloß operarii, nicht artifices (in weiterer
Bedeutung des Worts) und nicht Staatsglieder, mithin auch nicht Bürger zu sein quali-
fiziert14 7 •
Es ist das klassisch-liberale Konzept der modernen bürgerlichen Gesellschaft, das
uns hier in seiner ganzen geschichtlichen Bedingtheit entgegentritt. Mit dem
traditionell-politischen Konzept cfor alten („feudalen") bürgerlichen Gesellschaft
steht es in einem doppelten iusammenhang. Auf der einen Seite läßt es die Grenzen
ilflf1 älteren Sprachgebrauchs hinter sich, indem es in der Aufnahme des von Ariflto-
teles normierten „Rechts" der bürgerlichen Gesellschaft dem Verhältnis von Frei-

116 Deni., Metaphysik der Sitten, Rechtslehre 1, §§ 22 ff„ .Anh. 1 ff. AA Bd. 6, 276 ff. 357 ff.
147 Ebd., § 46, S. 314; ders., Über den Gemeinspruch II. AA Bd. 8, 295, Anm.

762
VI. 2. Aufhebung der alten bürgerlichen Gesellschaft Gesellschaft, bürgerliche

heit und Ilerr!j(lhaft dadurch eine neue Wendung gibt, daß es die Freiheit selber als
universelles Menschenrecht in sie einführt und damit die politische Emanzipation
des europäischen Bürgertums aus der Kontinuität europäischer Geschichte und
Philosophie rechtfertigt. Auf der anderen Seite erliegt es den retardierenden Mo-
menten eben dieser Kontinuität, weil die politische Emanzipation partikular oder
die Freiheit an Herrschaft gebunden, d. h. durch ökonomische Voraussetzungen ge-
hemmt bleibt. An diesem Widerspruch, der weder von Kant noch von der ihm fol-
genden liberalen Theorie reflektiert worden ist, entzündet sich die „soziale Frage"
des 19. Jahrhunderts, der Funken der Emanzipationsgeschichte der europäischen
Gesellschaft in jenen Schichten und Klassen, denen der ältere Liberalismus die Teil-
habe am Leben der bürgerlichen Gesellschaft, die „bürgerliche Persönlichkeit" ab-
außproohon vorouohto.

2. Die Aufhebung der alten bürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz von Gesell-


schaft und Staat: Fichte und die Französische Revolution

Dieser Widerspruch entwickelt sich in einer ersten Phase, die der Französischen
Revolution unmittelbar folgt und bis etwa 1820 reieltt, au de1· 1::1praeltpuliLitmlte11
Vnterscheidung zwischen 'Staat' und 'Gesellschaft', womit sich die Verschränkung
beider Begriffe im Traditionsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft a11flfü1t.Wa11 bereitR
die Enzyklopädisten dem Verständnis der societe civile ou politique in der Theorie
unterlegen - ihre Erweiterung zur societe qui embrasse tous les hommes 148 - , findet in
der gesellschaftlichen Umwälzung des Jahres 1789 seine Verwirklichung. Unter Beru-
fung auf die droits de l'homme vernichtet die Revolution die partikulare~ politischen
Lebensformen, welche die alte bürgerliche Gesellschaft in den Rechten und Frei-
heiten der Provinzen, der Städte und Gemeinden, der Stände und Korporationen
besaß. Während der Nacht zum 4. August 1789 verlieren die beiden oberen Stände
ihre Herrschafts-, die Provinzen, Gemeinden und Korporationen ihre Sonderrechte
und die unterprivilegierten Schichten ihre Rechtlosigkeit. Damit wird die ganze
Gesellschaft „bürgerlich" in dem Sinne, daß sie nun nicht mehr aus den politisch
berechtigten freien Männern, den „Ständen" und „Korporationen" besteht, son-
dern die Gesamtheit der freien und gleichen, unter einer „souveränen" Gewalt ver-
einigten Individuen umfaßt149.
Das Recht des Menschen, das die Declaration von 1789 der Bestimmung der Rechte
des Bürgers vorausschickt, .sprengt die Herrschaftsordnung der alten bürgerlichen
Gesellschaft, und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits intendiert es ein bestimm-

14 s Vgl. Encyclopedie, t. 31 (1781), Art. Societe, Morale u. Art. Societe, Jurisprud„ ebd„

217. 219. Unter dem Stichwort „societe qui embrasse tous les hommes" wird auf den Art.
Humanite verwiesen; von ihr heißt es, daß sie die ganze Welt durcheilen möchte, um die
Sklaverei, den Aberglauben, das Laster und das Unglück abzuschaffen.
149 Declaration des droits de l'homme et. du cit.oy1m (178\l), a.rt.. 1. a. 6; vgl. Corn;t,it.ntion

fran9aise (1791), deren Eingang die Aufhebung der alten Gesellschaft noch einmal be-
stätigt: Il n'y a plus ni noblesse, ni pairie, ni distinctions Mreditaires, ni distinctions d'ordres,
ni r4fime feodal, ni justices patriomoniales ... Il n'y a plus, pour aucune partie de /,a Nation,
ni pour aucun individu, aucun privilege, ni exception au droit commun de tous les Franyais.
Il n'y a pl'Us wi f'urandes, wi corporatüms de professions, arts et metiers. Vgl. ferner tit. 1,
art. 1 ff. ; tit. 3, art. 1.

763
Gesellschaft, bürgerliche VI. 2. Aufhebung der alten bürgerlichen Gesellschaft

tes, dem Naturrecht so nicht bekanntes Gesellschaftsrecht, - eben das der societe
universelle, welches die Enzyklopädisten mit der societe civile in Beziehung setzten.
Der revolutionäre Prozeß der Jahre 1789-1795 besteht im wesentlichen darin,
beide zur Deckung zu bringen. Die „Gesellschaft", die in Art. 5, 15 und 16 nament-
lich auftritt, konstituiert sich wieder als „politische Gesellschaft" (association
politique, nicht societe civile ou politique )150, aber jetzt auf der Basis des souveränen
und allgemeinen Willens gleichberechtigter Bürger (citoyens). Sie verwandelt die
.alte „bürgerliche" zur ;,staatsbürgerlichen" Gesellschaft, die sich als die vollzogene
Negation des bisherigen Verständnisses des Begriffs erweist. Denn die Ausdehnung
des Bürgerrechts und -begl"ilfs auf prinzipiell alle Menschen einer Gesellschaft hatte
es in dieser Form noch nirgends geschichtlich gegeben, nicht zuletzt deshalb, weil sie
mit einigen der elementim1ten Voraus11etzungen der politischen und naturroohtliohon
Denkweise schlechthin unverträglich gewesen war. Das bleibt dem Bewußtsein der
französischen Revolutionäre, die mit der Emanzipation der modernen bürgerlichen
Gesellschaft die Tugendordnung der antiken Republiken zu realisieren meinten,
weithin verborgen. Das Recht des Menschen, das als Gesellschaftsrecht (Recht der
Menschheit) die traditionell-geschichtliche Herrschaftsordnung überwindet, in-
tendiert .zugleich Individualrecht; die „politische Gesellschaft" hat die Erhaltung
der droits naturels de l'homme: der .lfreiheit (liberte), des Eigent11mR (prnpriP.M)
und der Sicherheit (sftrete) zum Zweck151 • In dieser doppelten Fassung der droits
de l'homme ist der Widerspruch angelegt, der nach dem Ende der revolutionären
Epoche zwischen staatsbürgerlicher ( = politischer) und „ bürgerlicher" Gesellschaft
(im modernen Begriffssinn) aufbrechen wird. Für die Zeitgenossen stand zunächst
nur die politische Emanzipation der „Gesellschaft" vom „Staat" der alten bürger-
lichen Gesellschaft im Mittelpunkt des Interesses, zu deren scharfsinnigsten Inter-
preten im deutschen Sprachbereich FICHTE gehört.
Im Unterschied zur politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts zieht Fichte nicht
nur zwischen Gesellschaft und Staat eine klare Trennungslinie, sondern erkennt
auch den Grund der gewöhnlichen Verschränkung beider Bereiche.Nach Fichtes Auf-
fassung, wie sie in den „Beiträgen zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über
die Französische Revolution" (1793) zuerst skizziert wird, liegt er in der bisherigen
Behandlungsweise des Gesellschaftsbegriffs, genauer: der naturrechtlichen Vertrags-
konstruktion, die ihn teils im Vertrag überhaupt, teils im „Bürgervertrag", d. h.
dem Zusammenschluß der Gesamtgesellschaft zur „bürgerlichen" des „Staats"
(civitas) aufgehen ließ. Aus dieser Konfundierung von civitas und societas civilis
folgt für Fichte eine Verwirrung der Begriffe, die, soviel ich weiß, bis auf diesen Tag
allgemein geherrscht. Sie hat sich so sehr mit der politisch-naturrechtlichen Sprache
verwebt, daß es schwerfalle, ein Wort zu finden, um ihr ein Ende zu machen. Das-

150 Declaration (1789), art. 2: Le but de taute association politique est la conservation des droits
naturels et imprescriptiblP-~ dp, l'hom.m.P.. In rlAr ja.knhiniFmhen Verfassung von 179::1 ent.fä.llt,
auch dieser Begriff; art. 1 unterscheidet zwischen 'societe' und 'gouvernement' als deren
ImiLiLuLion: Le but de la socUte est le bonheur commun. Le gouvernement est institue pour
garantir a l'hom.me 'la jouissance de ses droits naturels et imprescriptibles (art. 1). 'Societe'
und 'social' ('corps social', 'garantie sociale') treten hier weit häufiger auf: art. 4. 8. 15. 21.
22. 23.
151 Vgl. Declaration (1789), art. 2.

764
VI. 2. Aufhebung der alten bürgerlichen Gesellschaft Gesellschaft, bürgerliche

selbe Wort 'Gesellschaft', dessen .l!}xposition dazu geeignet wäre, ist nämlich· zu -
gloioh diß Quelle des leidigen Mißiierständm:sse.s, d. h. ilAr V11rw11r.hf1hmg von Staat
und Gesellschaft. Dagegen versucht Fichte, einen Begriff von 'Gesellschaft' zur
Geltung zu bringen, der nicht wieder mit der Vertragskonstruktion der societas
civilis zusammenfällt, die noch Kant, im unklaren über den Gehalt und die Trag-
weite des Freiheitsprinzips, der Rechtslehre untergelegt hatte. Wie die Schule des
neueren Naturrechts, die alle Rechte und Pflichten des Menschen durch Verträge
bestimmt sein ließ, so „vergaß" auch Kant über der vertraglich determinierten die
ursprüngliche Bedeutung von 'Gesellschaft', worunter nicht etwa bloß der Staat,
sondern überhaupt jede Aggregation vernünftiger Wesen zu verstehen ist, die im
Raume beieinander leben und dadurch in gegenseitige Beziehungen versetzt
werdenrn 2 • Diesen Unterschied zwischen Gesellschaft und Staat beiiehL 11u11 FichLe
auf die r.u füiginn il11r nmmr.iger ,Jahre heftig umstrittene Frage nach dem Recht des
französischen Volkes, den „Bürgervertrag" zu verändern.
Seine Deutung der Revolution erweist sich allen anderen im Umlauf befindlichen
Theorien dadurch überlegen, daß er sie als Überwindung des Staates durch die Ge-
sellschaft begreift. Das Recht zur Veränderung des Bürgervertrags, das Fichte
gegen August Wilhelm R.11hherg (und Kant, auf den sich Rehberg u. a. beruft) ver-
teidigt, ergibL i:üch au1:1 dtir - z. D. durch Entwicklung der „Kultur" dcß Mcnochon
eintretenden - Differenz zwischen Gesellschaft und Staat, die Fichte der abstrakt-
naturrechtlichen von Natur- und bürgerlichem Zustand an die Seite stellt. Das
Naturrecht (droits de l'homme) ist Gesellschaftsrecht des Staates insofern, als der
„Naturzustand des Menschen" nicht, wie die Gegner der Französischen Revolution
übereinstimmend meinen, im Bürgervertrag aufgehoben ist; er läuft vielmehr un-
unterbrochen mit durch den Staat hindurch. Der Mensch, dem kraft seiner Menschheit
kein Gesetz gegeben werden kann, es sei denn von ihm selbst, hat jederzeit das voll-
kommene Recht, den Staat zu verlassen, und die Gesellschaft das Recht, den be-
stehenden Bürgervertrag aufzuheben und einen neuen zu schließen153•
Mit der Ableitung des Rechts auf Revolution aus dem „Unterschied zwischen Ge-
sellschaft und Staat" hat Fichte den traditionell-geschichtlichen Begriff der bürger-
lichen Gesellschaft (societas civilis), dem zu dieser Zeit noch EDMUND BuRKE und
REHBERG anhängen 154, hinter sich gelassen. Das Wort 'bürgerliche Gesellschaft' tritt

152 FICHTE, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die Französische

Revolution, 1. Tl. AA 1. Abt., Bd. 1 (1964), 276. 284. In den „Vorlesungen über die Be-
stimmung des Gelehrten" spricht Fichte. nicht nur von einem „Unterschied", sondern
postuliert die Auflösung des Staats in „Gesellschaft". Vgl. AA 1. Abt., Bd. 3 (1966), 37:
die Gesellschaft, deren positiver Charakter in der wechselseitigen Freilieit besteht, ist
überhaupt nicht mit der besondern empirisch bedingten Art von Gesellschaft, die man den
Staat nennt, zu verwechseln. Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des
Menschen ... ; sondern es ist ein nur unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel zur
Gründung einer vollkommenen Gesellschaft. Vgl. auch SoHELLING/HEGEL, Erstes System-
programm des Deutschen Idealismus (1796),. abgedr. in: Dokumente zu Hegels Entwick-
lung, hg. v. JOHANNES HoFFMEISTER (Stuttgart 1936), 219 f.
1 6 3 Vgl. FICHTE, Beiträge zur Berichtigung, AA 1. Abt., Bd. 1, 277 f.
164 Dei· eigentliche Gegenspieler Fichtes ist EDMUND BURKE, der gcgon die von ihm klar

erkannte Auflösung der „civil society" die traditionell-aristokratischen :Fundamente zu


aktualisieren sucht,. Fiir ihn gp,ht der Naturzustand (die „Gesellschaft") schon deshalb

765
Gesellschaft, bürgerliche VI. 2. Aufhebung der alten bürgerlichen Gesellschaft

bei ihm nur gelegentlich auf, und auch dann umschreibt es die .l!'undamente der mit
der Französischen Revolution frAigesetzten „staatsbürgerlichen" Gesellschaft, z.B.
wenn es heißt, sie gründe sich auf einen Vertrag aller Mitglieder mit einem oder eines
mit allen, und kann sich auf nichts anderes gründen, da es schlechterdings unrecht-
mäßig ist, sich durch einen anderen Gesetze geben zu lassen als durch sich selbst 155.
Da die Unveränderlichkeit des Bürgervertrags der Bestimmung der Menschheit
widerstreitet156 , kann ihn der Bürger, sobald er Einsicht in seine Unrechtmäßigkeit
gewinnt, wieder aufheben. Fichte geht aus vom allgemeinen und gleichen Staats-
bürgerrecht der Französischen Revolution, das an die Stelle des Herrschaftsrechts
der alten bürgerlichen Gesellschaft getreten ist. Er bricht mit der zweideutigen
Unterscheidung, die noch Kant, trotz der Aufnahme des französischen Staatsbürger-
btlgri.11'1:1 (ciLuytll1) lli ilie Recht~lehre, zwischen den Bürgern als „Gliedern'' und den
„Schutzverwandten" als „Teilen" des gemeinen Wesens getroffen hattP.. naR hängt
nicht zuletzt damit zusammen, daß Fichte, im Gegensatz zu Kant, die Vorstellung
des „Hauses" als einer eigenständigen Rechtssphäre, die zur Teilhabe am Recht der
bürgerlichen Gesellschaft qualifiziert, unbekannt ist. Zwischen „Staat" und Bürger
vermitteln nicht mehr die relativ selbständigen Herrschaftsgewalten, zu denen die
„Häuser" (Grund- und Stadtherrschaften) rechneten, sondern unmittelbar unter
dom Staat steht der einzelne „Staatsbürger" und !!eine „Familie". Da1:1 „ganze Haus"
bildet sich zum bloßen „Surrogat des Leibes", zum „Gehäuse" zurück, in dem der
Bürge1·, glcichgUltig ob Hausherr oder „Mieter", sein „Eigentum" hat, das von
anderen „privaten" Eigentumsformen nicht grundsätzlich unterschieden ist 157 •

nicht durch den „Staat" hindurch, weil „Gesellschaft" immer schon „bürgerlich" verfaßt
und der Mensch seiner Natur nach auf sie angewiesen ist: The state of civil society ... is a
state of nature, Appeal from the New to the Old Whigs, Works, vol. 6 (Ausg. London 1815),
218. Burke wendet sich vor allem gegen die Trennung von , ,Gesellschaft" und „bürgerliche
Gesellschaft" (=Staat), die in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte voraus-.
gesetzt ist: l must deny tobe amongst the direct original rights of man in civil society: for l
have in my contemplation the civil social man, and no other, Reflexions on the Revolution in
France (1790), Works, vol. 5, 121. Die Forderungen der Menschenrechte hält Burke -
bei seiner Auffassung ganz konsequent - für schlechthin unverträglich mit dem „Dasein"
(presenoe) der civil society: The pretended rights of man ••. cannot be the rights of the people.
For to be a pt1.ople, and to have these rights, are things incompatible. The one supposes the
presence, the other the absence of civil society, Works, vol. 6, 234. Auf Burkes Schriften weist
AUGUST WILHELM REHBERG, Untersuchungen über die Französische Revolution, Bd. 2
(Hannover 1793), 369 ff. hin. Sein Begriff der bi;rgerlichen Gesellschaft ist von Burke un-
mittelbar beeinflußt; vgl. ebd., Bd. 1, 50 f. Zweifellos hängt Kants partielle Ablehnung
eines Rechtes auf Revolution (Widerstandsrecht) auch damit zusammen, daß er mit der
bürgerlichen Gesellschaft (societas civilis) notwendig die geschichtlichen Implikationen
übernimmt (Idee der Unauflöslichkeit der Verfassung), die dem Begriff von altersher
eigentümlich sind.
166 FICHTE, Das System der Sittenlehre, SW Bd. 4 (1845), 13.
166 Das ergibt sich aus dem Inh111t des Sittengesetzes, der Kultur zur Freiheit, die in der

völligen Unabhängigkeit von dem besteht, was nicht wir selbst, unser reines Selbst ist (86 ff.).
Nach Fichte liegt darin der einzig mögliche Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft (106),
dem es sich bis ins Unendliche 11nzunähern gilt.
m Vgl. FICHTE, Grundlagen des .Naturrechts (1796), AA 1. Abt„ Bd. 4 (1970), 45: Es muß
... ein Surrogat des Leibes geben, durch welches das, was damit verknüpft i8t, ab80T111,t drulmrch,

766
VI. 3. Natur• und 1ta11t11rtthtlfohe I.ittt11tnr 1790-1820

Der Privatisierung des „Hauses" entspricht die abstrakt-öffentliche Bedeutung des


Staatsbürgerbegriffs. Obwohl Fichte mit den „Grundlagen des Naturrechts" (1796)
den Begriff der Gesellschaft wieder in der Vertragskonstruktion aufgehen läßt; hält
er an der in der Auseinandersetzung mit der Fra11zösitiche11 RevuluLiu11 gewunne11en
Idee der „staatsbürgerlichen" Gesellschaft fest 158, wonach „alle" Menschen als
Bürger gleiche Rechte und Pflichten haben. Der „Staatsbürgervertrag", der ihre
Basis ist, setzt nicht das von präpolitischen (= „ökonomischen") Bedingungen ab-
hängige Vermögen des Menschen voraus, sein eigener Herr (sui juris) oder „selb-
ständig" (sibisufficiens) zu sein, sondern lediglich ein „Eigentum" im Sinne der Ver-
fügung über Rechte auf freie Handlungen in der Sinnenwelt überhaupt159• An die Stelle.
des Zusammenhangs von Herrschaft und „bürgerlicher Gesellschaft", der für die
Vertragsko11strukLiu11 deti NaLurrechLti uiti zu Ka11L kum1LiLuLiv gewe~eu war, LriLL
bei Fichte der von „Person" und „Eigentum", wobei auch die bloße Arbeitskraft
als Eigentum gelten kann. Freilich sieht Fichte nicht, daß mit der freie11 Verfügu11g
über Person und Eigentum unterhalb des Staatsbürgervertrags eine im engeren Sinne
„bürgerliche" Sphäre des Arbeits-, Eigentums- und Warenverkehrs entsteht, die
einen neuen, bestimmten Gesetzen (und nicht allein „Verträgen") gehurchende11
Begriff vön 'Gesellschaft' ausbildet. Hier macht er das von ihm zuerst entdeckte
Moment der gesellschaftlichen Spontanoitii.t nicht fruchtbar, oondorn ouboumiort
diese ganze Sphäre wiederum dem naturrechtlichen Vertragsbegriff.

3. Staat und bürgerliche Gesellschaft in der natur• und staatsrechtlichen


Literatur 1790-1820

Von dieser mehr oder weniger spekulativen Fassung des Gegensatzproblems unter-
scheidet sich die der sozialgeschichtlichen Wirklichkeit näherstehende zeitgenössi-
sche Literatur der Staats- und Rechtswissenschaften, einschließlich der National-
ökonomie. In ihr kann - zumindest was das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert
anbelangt - von einer klaren Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft keine
Rede sein. Das ist nicht verwunderlich, wenn man die strukturell gleiche Basis be-
rücksichtigt, auf der die verschiedenen miteinander konkurrierenden Staatskonzep-
tionen der damaligen Zeit beruhen. Im allgemeinen kann man zwei Modelle mit ver-
schiedener theoretischer Begrifflichkeit und globaler Zuordnung auf spezifische
Staatszwecke voneinander abheben: das Modell des „Polizei-" und das des „Rechts-
bzw. Verfassungsstaats". Das polizeistaatliche Modell konzentriert die politischen
Funktionen auf das I!J.teresse der Gesellschaft (ihre „Wohlfahrt"), das rechtsstaat-
liche lenkt umgekehrt das Interesse der Gesellschaft auf deren Organisation, d. h.

daß es damit verknüpft ist, als mein Eigentum bezeichnet werde. So etwas nennen wir das Haus
(Gehäuse im weitesten Sinne des Wortes), das Zimmer, das jemand gemietet hat, die Lade der
Dienstmagd, der Koffer, der auf die Post gegeben wird u. dgl. Vgl. auch ebd.: Wenn ich
absoluter Herr u1ul Besitztümer bin in meinem Hause, in der bestimmtesten Bedeutung des
Wortes, d. i. in meinem Zimmer, wenn ich kein eignes Haus habe, so steht alles, was hinein-
kommt, unter meiner Herrschaft und unter meinem Schutze.
108 Vgl. dera., Beiträge zur Berichtigung, 1. Tl. AA 1. Abt„ Bd. 1, 256. 265; 2. Tl., ebd.,

ä02 f. 317 ff. 263.


1 6 9 Dera., Grundlagen des Naturrechts, AA 1. Abt., Bd. 4, 8.

767
Gesellschaft, bürgerliche VI. 3, Natur• und staatsrechtliche Literatur 1790-1820

die Verfassung („Constitution"). Obwohl beide Modelle an der Staatsbezogenheit


der bürgerlichen Gesellschaft festhalten und eine Trennung zumeist noch unreflek-
tiert bleibt, bringen die rechts- und polizeistaatliche Konzeption in ihrer Gegensätz-
lichkeit die faktisch vollzogene Emanzipation der Gesellschaft vom Staat zum Aus-
druck. Was die Wohlfahrtspflege der einen Richtung praktisch befördert, rückt die
Verfassungsforderung der anderen in den Mittelpunkt der theoretischen Kon-
zeption.
Das läßt sich im einzelnen an den in diesen Modellen bevorzugten sprachlichen Aus-
drücken und Redewendungen verfolgen, die freilich begrifflich nicht streng :fixiert
sind. Nach dem Modell des Polizeistaats sind bürgerliche Wohlfahrt und „Glück-
seligkeit''- der „Endzweck" des Staates, der seinerseits als „allgemeine Gesell-
schaft" verstanuen wird 160 . Neben der untrennbaren Bezogenheit beider Sphären
nimmt man ein Nebeneinander deutlich wahr. Die ge.~am!.e bürgerliche oder Staats-
gesellschaft, heißt es bei HEINRICH JuNG-STILLING, besteht nicht allein aus den
Untertanen, sondern aus diesen und dem ganzen Personale der regierenden Gewalt,
dem Regenten und seiner Dienerschaft, wozu auch das Militäre gehört, zusammen-
genommen161.
Indessen sind, wie J ung-Stilling feststellt, die Wirkungskreise dieser beiden „Klassen
von Bürgern" sehr verschieden. Die Untertanen, die sich mit der Arbeit der Ge-
werbe, mit Handel unu Industrie beschäftigen, bilden eine Gesellschaft für sich, die
nicht mehr als 'Staatsgesellschaft' bezeichnet werden kann, weil sie eine „Gesell-
schaft im Staat" oder, wie die hier eigentlich zutreffende Kennzeichnung lautet, eine
„Privatgesellschaft" ist: Dieselbe Anzahl von Menschen, welche zum Staatszweck ver-
einigt sind, kann auch noch als zu andern gemeinschaftlichen Zwecken vereinigt gedacht
werden und macht in dieser Rücksicht nicht den Staat ... , sondern die Gesellschaft im
Staat aus, welche letztere immer als Privatgesellschaft zu betrachten ist, obgleich sie alle
Bürger umfaßt 162 • Am offensten tritt diese Scheidung in der Lehre von der Staats-
verwaltung zutage, die sich aus der Polizeiwissenschaft entwickelt. Nach HEINRICH
BENSEN beschäftigt sie sich damit, daß sie a) die Socialverhältnisse der Bürger unter
sich festsetzt und angibt, was in denselben Rechtens sein soll. Ein gleiches tut sie zu
b) in Ansehung ihrer Verhältnisse zum Staat 163. Die „Socialverhältnisse" werden
insbesondere in jenem Teil der Polizeiwissenschaft reflektiert, der sich zu dieser
Zeit im Gefolge der Adam-Smith-Rezeption als „Staatswirtschaft" ausbildet. Sie
untersucht die mannigfaltigen Beziehungen der Menschen unter sich, so wie manche
ihrer Beziehungen gegen die äußere Natur ... , so wie alles dies ohne Einfiuß der völlig
organisierten Gesellschaft oder einer gesetzgebenden Gewalt gedac~ werden kann 164.
Obwohl die Möglichkeit einer Trennung zwischen ökonomisch „privatisierter" und
politisch „organisierter" Gesellschaft nirgends ernsthaft in Erwägung gezogen wird,

uo JOSEPH v. SoNNENFELS, Handbuch der innern Staatsverwaltung,§ 2 (Wien 1798), 4;


ders., Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft, 5. Aufl., hg. v. Franz
Xavier Moshamm (München 1787), 13.
16 1 JuNG-STILLING, Staatswirthschaft (1792), 77 (s. Anm. 114).
162 KARL HEINR .. GRos, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft, 2. Aufl.

(Tübingen 1805), 168.


108 BENSEN, Staatslehre, .Hd. 1, 312 f. (s. Anm. 115).
1 6 4 CHRISTIAN ScHLÖZER, Anfangsgründe der StaatRwirthschaft, Bd. l (Riga 1804), 11 f.

768
VI. 3. Natur• und staatsrechtliche Literatur 1790-1820 Gesellschaft, bürgerliche

ist man sich doch des tiefen Einschnitts bewußt, den Smiths Werk für die politische
Philosophie bedeutet. Vor Smith, schreibt LUDWIG HEINRICH JAKOB, habe man
nicht daran gedacht, die Lehre von den Ursachen der bürgerlichen Wohlfahrt von der
Regierungswissenschaft (Politik) abgesondert vorzutragen 166 • Es gehört zu den Be-
sonderheiten der deutschen Adam-Smith-Rezeption, daß sie sich im Rahmen des
polizei- und obrigkeitsstaatlichen Denkens vollzieht; der Staat emanzipiert die Ge-
sellschaft, die Wirtschaft ist „Staatswirtschaft". Insofern fehlt die Voraussetzung
für eine klare Erfahrung dessen, was als eigentümlich 'gesellschaftlich' zu bezeichnen
sei. Die Differenzierung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft geht daher
in der Regel vom Staatsbegriff aus: Staat hat allerdings eine doppelte Bedeutung:
1) d·ie bürgerliche Gesellschaft als Nation und 2) als öffentliche Regierung oder sou-
veräne Gewalt betrachtet!&&.
Diese Regel bes~ätigt sich, wenn man die Stellung der bürgerlichen Gesellschaft im
Modell des Rechts- oder Verfassungsstaates näher betrachtet. Auch hier ist es der
„Staat", der sich institutionell und terminologisch verselbständigt. Nach GoTTLIEB
H UFELANDS „Lehrsätzen des Naturrechts" (1790) ist ein 'Staat' die Einrichtung einer
größern Gesellschaft, wodurch es möglich gemacht wird, die vereinigten Kräfte desselben
jedesmal zum vorgesetzten Endzweck zu gebrauchen. Unterschied der bürgerlichen Ge-
sellschaft vom Staat 167 • Worin dieser Unterschied besteht, wird von KARL HEINRICH
GROS angegeben: Eine Gesellschaft von Menschen, welche sich zum wechselseitigen
Schutz ihrer Rechte vereinigt haben, heißt eine bürgerliche Gesellschaft. Eine Gesellschaft,
welche zur Sicherung aller Rechte ihrer Mitglieder unter der Leitung einer öffentlichen,
d. h. jede Privatgewalt überwiegenden Gewalt vereinigt ist, heißt ein Staat ( civitas, res
publica)1 68 : Es ist die Vorstellungswelt des späten Naturrechts, die hier die Unter-
scheidung motiviert. Die Genese der bürgerlichen Gesellschaft als 'Rechtsgesell-
schaft' - ein Begriff, der gelegentlich synonym für 'bürgerliche· Gesellschaft' ge-
braucht werden kann 169 , -läßt mehrere Grade und Abstufungen zu, die jene Unter-
scheidung rechtfertigen, ohne daß sie zu einem eigentlichen „Unterschied", d. h.
einer spezifischen Differenz in der Begriffsbildung weiterführen. Wenn die Menschen,
heißt es diesbezüglich bei KARL HEINRICH HEYDENREICH, ihren Entschluß, aus dem
Naturstande zu treten, so realisieren, daß sie es sich zum gemeinschaftlichen Zwecke
machen, eine Verbindung zu stiften, in welcher die Unterlassung alles Unrechts durch
alle notwendige und allgemein beliebte Mittel erzwungen werden soll, so entsteht bürger-
liche Gesellschaft; wenn sie über die Form unter sich einig werden, in welcher der
Zweck dieser Gesellschaft realisiert werden soll, so entsteht Staat 170 •
Im Hintergrund steht die naturrechtliche Lehre vom Vereinigungs- und Unter-
werfungsvertrag, die man jetzt durch den Terminus 'Staat' - ebenfalls ein Neologis-
mus des 18. Jahrhunderts 171 - begrifflich näher erläutern und differenzieren kann

166 LUDWIG HEINR. v. JAKOB, Grundsätze der National-Ökonomie (Halle 1805), 10.
166 Ebd.
16 7 HuFELAND, Lehrsätze des Naturrechts, 171 (s. Anm. 124).

168 GROS, Lehrbuch, 168.


1 6 9 Vgl. KARL HEINR. LUDWIG PöLITZ, Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit,

Bd. 1/2 (Leipzig 1823), 141 f.


110 KARL HEINR. HEYDENREICH, System des Na.turrechtH (Leipzig 1795), 205.
171 Vgl. GOTTFRIED DANIEL HOFFMANN, Von dem wahren Begriff des Worts Stat (Tübingen

1767), 12 f.

49-90386/1 769
Gesellsehaft., bürgerliche VI. 3. Natur• und staaterechdiche Literatur 1790-1820

Der Konstituierung des Staats durch eine politische Herrschaftsgewalt geht voraus
die Bildung der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn eine Gruppe von Menschen die
gemeinschaftliche Verteidigung ihrer äußeren und inneren Sicherheit zum Zweck ihrer
Verbindung gemacht hat, so heißt ein solches Volk eine bürgerliche Gesellschaft. Hat die
Gesellschaft den Gebrauch ihrer vereinigten Kräfte zur Erreichung des gemeinschaft-
lichen Zwecks einer Obergewalt oder einem Regenten übertragen, so wird sie ein Staat
genannt 172 • Eine ähnliche Abgrenzung kennt auch FEUERBACH, der die bürgerliche
Gesellschaft als Anstalt zur möglichen Sicherheit vom Staat unterscheidet. Erst durch
den Vertrag der Unterwerfung und Verfassung wird nach Feuerbach die bürgerliche
Gesellschaft zum Staat, d. h. zu einer organisierten bürgerlichen Gesellschaft, mithin
zu einer Anstalt, in welcl1RJr der yeS'ucltte rechtliche Zustand, die vollkommene Sicherung
weehselseitiger .l!'reiheit vorhanden ist 1 73.
Das Unbefriedigende an diesen Unterscheidungen besteht vor allem darin, daß der
Staat im Grunde nur als eine zur bürgerlichen Gesellschaft hinzutretende politische
Verfassungsform begriffen wird. Die naturrechtliche Vorstellungswelt, die sich im
älteren Konstitutionalismus mehr oder weniger deutlich ausprägt, beruht auf der
doppelten Annahme, daß kein Staat ohne bürgerliche Gesellschaft sei imrl rlim1e
bereits eine rler politisr.hen Verfassung nicht ganz unähnliche Anordnung ihrer Ver-
hältnisse zeige. So entsteht leicht wieder der Schein, als ob beide doch miteinander
identisch seien, zumal ja die Feststellung der „Staatsform" als ejne Angelegenheit
der bürgerlichen Gesellschaft angesehen wird174. An diesem für die Definition des
Staatsbegriffs höchst wichtigen Punkt ist die konstitutionell-rechtsstaatliche
Theorie zu keiner Klarheit gelangt, und nicht ohne Grund hat man gesagt, daß die
eigentliche Quelle der Unsicherheit in der Terminologie des Staatsrechts in jener
mangelhaften Unterscheidung von 'Staat' und 'bürgerlicher Gesellschaft' zu
suchen sei175.
Die Unsicherheit setzt sich fort im jüngeren Konstitutionalismus (der zwanziger und
dreißiger Jahre). Obwohl er sich allmählich von der naturrechtlichen Dogmatik be-
freit und die bürgerliche Gesellschaft in der Annäherung an Hegel und die ökonomi-
schen Realitäten der beginnenden Industrialisierung in ihrer Eigengesetzlichkeit er-
kennt176, wird die Problematik der Differenz immer wieder, überspielt, weil statt der
„sozialen" Komponenten die politische Bauform der bürgerlichen Gesellschaft, ihre
Erhebung zum Staat im Mittelpunkt des theoretischen Interesses des liberalen

172 ÜARL GOTTLIEB SvAREZ, Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Hermann Conra.d u.

Gerd Kleinheyer (Köln, Opladen 1960), 141.


173 PAUL JoH. ANSELM FEUERBACH, Anti-Hobbes (Erfurt, Jena 1798), 25. 34 f.
174 Vgl. PöLITZ, Staatswissenschaften, Bd. l, 143.
175 Vgl. LUDWIG TmLO, Der Staat (Breslau 1827), 122 mit der Anmerkung: Die Begriffe

waren so durchaus gleichbedeutend und daher ihre Verwechslung so unwillkürlich geworden,


daß man die Lehre vom Staat zu überschreiben pfiegte: Von der bürgerlichen Gesellschaft oder
vom Staate. ·
176 Vgl. FRIEDRICH ScHMITTHENNER, Über den Charakter und die Aufgaben unserer Zeit

in Beziehung auf Staat und Staatswissenschaft (Gießen 1832), 2 f. 4; KARL SALOMO


ZACHARIÄ, Vierzig Bücher vom Staate, 2. Aufl., Bd. 1 (Heidelberg 1839), 56: Die Gemein-
schaft, welche unter den Mitgliedern eines und desselben Staatenvereines in Beziehung auf
ihre Interessen und die Verfolgung derselben nach Naturgesetzen, d. i. ohne Zutun des Staats
eintritt, wird die bürgerliche Gesellschaft genannt.

770
VII. 1. Begrift'sgescbichtliche Synopsis Gesellschaft, bürgerliche

Bürgertums steht - eine Erhebung, die nun allerdings stets im Begriffe ist, den
Staat zu idealisieren. Die Unabhängigkeit <Zer bürgerlichen Gesellschaft vom Staat, heißt
es bei KARL SALOMO ZACHARIÄ, ist nicht so zu deuten, als ob der Staat und die
bürgerliche Gesellschaft nicht auch in einem ursächlichen oder Kausalverhältnisse zu-
einander stünden. V iel~hr führt diese Gesellschaft eben deswegen den Namen der
bürgerlichen, weil der Staat die Bande der menschlichen Gesellschaft in Beziehung auf
seine Mitglieder vervielfältigt, anzieht, verstärkt, unter seinen Schutz nimmt. - Nach
dem V ernunftrecht soll es im Staate eine bürgerliche Gesellschaft, einen vom Staate un-
abhängigen Verein geben, soll sich der Staat zu der bürgerlichen Gesellschaft wie das
Mittel zum Zwecke, wie das Staatsrecht zum Naturrechte verhalten1 77 •

VII. Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert: bürgerliche Gesellschaft


zwischen Restauration und Revolution

1. Begrüfsgeschichtliche Synopsis
Die Geschichte des Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft wird im 19. Jahrhundert
von zwei Entwicklungslinien bestimmt. Auf der einen Seite wirkt die der Tradition
verhaftete Normierung von Kant im klassümh-bürgerlichen Liberalismus weiter,
der nun freilich durch die weitertreibende Revoh1tion zur Verteidigung der besitz-
privilegierten Klassen gezwungen wird und daher nicht mehr ungebrochen in der
alten Vorstellungswelt steht, und auf der anderen Seite führt die von Fichte bezo-
gene neue Position der „Gesellschaft" zur Preisgabe des älteren Wortgebrauchs und
zu den mannigfachen „sozialen" Theorien der Zeit nach 1800, zur Wissenschaft von
der Gesellschaft (Soziologie) 178, die jetzt die herkömmlichen Theorien der Politik
und des Naturrechts zu verdrängen beginnt. Zwischen beiden Linien verläuft eine
dritte, in der der Terininus zwar weiterhin in Gebrauch bleibt, aber einen prinzipiell
veränderten (nämlich ebenfalls „sozialen") Inhalt erhält. Sie beginnt init Hegel,
endet aber bald in den beiden großen Parallelen in der politisch-sozialen Geschichte
des 19. Jahrhunderts, zu welchen die altliberale Linie der bürgerlichen Gesellschaft
und die radikal-demokratische der „Gesellschaft" auseinandertreten: in der vom
Bürgertum beherrschten Gesellschaft, der „Bourgeoisgesellschaft" einerseits und in
der Gesellschaftskonzeption des Proletariats, der „sozialistischen" bzw. „kommu-
nistischen" Gesellschaft andererseits.
Der Funktionswandel des Begriffs wird schon im Frühliberalismus deutlich, wo
'bürgerliche Gesellschaft' zwar ebenfalls eine init der Tradition verbundene poli-
tische Wendung ist, in deren Umkreis aber schon die Auseinandersetzung init dem
durch die Revolution aufgeworfenen Problem der Gleichheit steht. Ein neuer, vor
der Epochenscheide von 1800 unbekannter Ton schwingt nunmehr in der Rede von
der bürgerlichen Gesellschaft init. So heißt es etwa bei dem Kantianer WILHELM
TRAUGOTT KRUG: Wenn von bürgerlicher Gleichheit die Rede ist, so kann darunter
vernünftigerweise nichts anderes verstanden werden als die Gleichheit vor dem Gesetze,
d. h. der gleiche Anspruch, den alle Glieder der bürgerlichen Gesellschaft auf den Schutz

177 ZACHARIÄ, Bücher vom Staate, Bd. l, 56.


178 Diese Wendung schon bei SCHLEGEL, Transzendentalphilosophie (1800-1801), SW
2. Abt., Bd. 12 (1964), 84; ferner bei FRIEDRICH BUCHHOLZ, Hermes oder über die Natur
d11r Gesellschaft (Tübingen 1810), lß ff.

771
Gesellschaft, bürgerliche VII. 1. Begrift'sgeschichtliche Synopsis

des Gesetzes und der dasselbe mit Gerechtigkeit handhabenden Staatsgewalt haben1 79,
Wohl bestimmt Krug den Staat noch als bürgerliche Gesellschaft, aber er kennt die
sozialen und politischen Differenzierungen innerhalb dieser neuen „staatsbürger-
lichen" Gesellschaft und die Bedeutung ihres Trägers, des „Staatsbürgers", von
dem es heißt: In der weiteren Bedeutung können alle Glieder einer bürgerlichen Gesell-
schaft auf diesen Titel Anspruch machen, in der engeren aber nur diejenigen, welche als
ursprüngliche Konstituenten einer bürgerlichen Gesellschaft gedacht werden können ...
Wer also den vollen Gebrauch seiner Vernunft und Freiheit hat oder, was ebensoviel
heißt, mündig und äußerlich unabhängig ist, der ist Staatsbürger in der engeren Be-
deutung, die übrigen Glieder der bürgerlichen Gesellschaft aber sind nur in der weiteren.
Man könnte jene auch aktive, diese pass,ive Staatsbürger oder bloße Staatsgenossen
nennen180 • Zu den letzteren rechnet Krug u. a. alle Weiber und alle Herrendiener oder
KnP.r:htP. sowie aUe Arme, d. h. alle, die sich nicht durch ihrer Hände Arbeit nähren
können oder wollen, sondern von Almosen leben, weil ihr Dasein von fremder Güte ab-
hängt. Hier wirkt die Kantsche Unterscheidung von 'Bürgern' und 'Schutz-
verwandten' nach, die aber nun einen deutlich klassenpolitischen Akzent erhält.
Dazu vergleiche man die Abgrenzung, die der Göttinger Historiker HEEE.EN gegen-
über der „sozialen" Entwicklungslinie, <l. h. der seit der Französischen Revolution
wirhamen Tendenz zur Gleichheit bzw. zum Ausgleich zwischen Bürgern und Nicht-
Bürgern vornimmt. Heeren kritisiert an Rousseaus contrat social, daß er die Mit-
gl,ieder der bürgerlichen Gesellschaft nur als Menschen, aber gar nicht als Eigentümer
betrachtet. Gleichwohl ist doch Sicherung des Eigentums der Hauptzweck d?:eser Gesell-
schaft ... Ist aber der Begriff des Eigentümers von dem des Staatsbürgers wnzertrenn-
lich, so fällt auch der Grundsatz der politischen Gleichheit über den Haufen; denn es ver-
steht sich alsdann von selbst, daß der größere Eigentümer auch eines größeren Anteils
an der Gesetzgebung genießen muß als derjenige, der weniger oder nichts hat 181 •
Der unterschiedliche Anteil der Bürger an der Gesetzgebung des Staates verstand
sich zwar für den älteren Liberalismus von selbst, nicht jedoch der Begriff der bür-
gerlichen Gesellschaft, der sich mehr und mehr von der Tradition ablöst und in
seiner Bedeutung fließend und unbestimmt wird. Außer den bereits genannten
Neologismen der Staats- und Rechtsgesellschaft lassen sich eine ganze Reihe weiterer
Ersatzbildungen nachweisen, welche die Unsicherheit in der Anwendung des Be-
griffs noch verstärken, wie 'Staatsbürgergesellschaft' 182 , 'Bürgergesellschaft' 183,
'Staatsgemeinschaft' 184, 'Civilisierte Staatsgesellschaft' 185 . Das zentrale Problem

1 79 WILHELM TRAUGOTT KRuG, System der praktischen Philosophie, Bd. 1 (Wien 1818), 275.
180 Ebd., 245.
1 8 1 ARNOLD HERMANN LUDWIG HEEREN, Ueber die Entstehung, die Ausbildung und den

practischen Einfluß der politischen Ideen in dem neueren Europa, Kleine hist. Sehr., Bd. 1
(Wien 1817), 348 f.
182 WILHELM JosEPH BEHR, Neuer Abriß der Staatswissenschaftslehre (Bamberg, Würz-

burg 1816), 305.


18 3 CoNRAD FRIEDRICH v. ScHMIDT-PmsELDEcK, Das Menschengeschlecht auf seinem

gegenwärtigen Standpunkte (Kopenhagen 1827), 207; KRuG, Praktische Philosophie, Bd. l,


356; Bd. 2 (Königsberg 1818), 222 ff.
184 HUMBOLDT, Denkschrift über Preußens ständische Verfassung (1819), AA Bd. 12/1

(1904), 231.
1 85 KRAUS, St,a.a.tswirthschaft, Bd. 2, 257 (s. Anm. 116).

772
VII. 1. Begriifsgeschiehtliche Synopsis Gesellschaft, bürgerliche

ist aber nicht mehr die Umschreibung des Begriffs durch Neologismen, sondern die
Auflösung seiner Fundamente, die in den Umschreibungen immer noch sichtbar sind.
Das ändert sich mit der Reduktion der bürgerlichen Gesellschaft auf die Bauele-
mente des Eigentums und Erwerbs. Indem die „soziale" Schichtung der Individuen
nach dem Eigentumsprinzip aus dem „Menschen" den „Staatsbürger" werden läßt
und damit zur politischen Gliederung der neuen „staatsbürgerlichen" Gesellschaft
dient, gerät der Begriff selber in die soziale Bewegung der Revolution, wird um-
interpretiert oder heftig abgelehnt und benutzt zur Parteibezeichnung im dis-
kreditierenden oder apologetischen Sinne.
Charakteristisch an diesem Vorgang ii;;t, daß sowohl die Beharrungs- als auch die Be-
wegungsparteien _vor dem Bruch mit dem politischen Normensystem der alteuro-
päischen Gesellschaft und der ihm zugehörigen Sprechweisen stehen oder ihn mehr
oder weniger unbewußt nachvollziehen. So versteht z.B. ÜARL LUDWIG VON HALLER,
der für die Zeit zwischen 1815 und 1830 repräsentative Theoretiker der europäischen
„Gegenrevolution", nicht mehr den überlieferten Inhalt und die ursprüngliche Ge-
schichte des Begriffs. Dem Verfasser der „Restauration der Staatswissenschaft"
(1816-1820) ist 'societas civilis' nichts als ein römisch-republikanischer Terminus,
den die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zum ~wecke ihrer Revolution gegen das
Bestehende erfunden hätte. In der programmatischen Vorrede verkündet Haller,
Mutter und Wurzel alles Irrtums der Revolutionszeit sei allein die unselige Idee einer
Römischen societas civilis, die man in alle anderen geselligen Verhältnisse übertrug.
Der Ursprung der Revolution sei nicht zuletzt im Gebrauch der lateinischen Sprache
bei den Gelehrten des neueren Europa zu suchen, da erst diese sie zu der Unter-
scheidung der natürlichen Gesellschaften von den „bürgerlichen" geführt habe:
Denn da die lateinische Sprache beinahe nur republikanische Redensarten und Be-
nennungen hat oder wenigstens, wenn von den Staaten die Rede ist, am häufigsten ge-
braucht: so wurden die nämlichen Ausdrücke auch auf ganz andere Dinge und Verhält-
nisse angewendet. Gleichwie demnach die Bürger von Rom untereinander eine Ge-
meinde, eine Bürgerschaft, eine wahre societas civilis ausmachten: so mußten alle
übrigen menschlichen Verknüpfungen und Verhältnisse ebenfalls societates civiles oder
bürgerliche Vereinigungen heißen 186 • Es ist daher nur folgerichtig, wenn Haller in
seiner Beschreibung der natürlich-geselligen Zustände - mit der er in Wahrheit die
Verhältnisse der feudalen Gesellschaft wieder zu restaurieren sucht - den Ausdruck
'bürgerliche Gesellschaft' streng vermeidet.
Hier trifft er sich mit dem politischen Denken der deutschen Romantik, das sich
bereits vor Erscheinen seines Werkes den bislang in ganz Europa verständlichen und
durch eine lange Tradition eingeübten Normierungen der politischen Sprache ent-
zogen hatte. Dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft und der mit ihm verbunde-
nen, an der städtisch-staatlichen bzw. zivilisatorisch-kulturellen Lebensweise
orientierten Terminologie kommt hier jedenfalls so gut wie keine Bedeutung zu.
Nur ADAM MüLLER (1809) verwendet ihn häufiger, ohne aber damit einen präzise
angehbaren Sinn zu verbinden187 . Im ganzen gesehen erwächst die politische Sprache

188 CARL LUDWIG v. HALLER, Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 1 (Winterthur


1816), XXVI. 85 f.
187 Vgl. ADAM MüLLJ.at, Elemente der Staatskunst, hg. v. Jakob Baxa, Bd. 1 (Jena 1922),
54 .. 176. 179 f. 187 f. u. ö.

773
Gesellschaft, bürgerliche VII. 1. Begrift'sgescbichtliche Synopsis

der Romantik aus Voraussetzungen, die nicht die der gemeineuropäischen Begriffs-
kultur sind.
Dagegen ist die Vorstellungswelt der handelnden Politiker dieser Zeit noch vielfach
an sie gebunden. So gebraucht der FREIHERR VOM STEIN in seinen Denkschriften
und Briefen das Wort 'bürgerliche Gesellschaft' in seinem ursprünglichen Sinne,
d. h. als einen Begriff, der die auf Gesetz und Sitte gegründeten Handlungs- und Le-
bensnormen einer sozialen Gruppe zum Ausdruck bringt 188 • Unter dem Eindruck der
sozialrevolutionären Bewegung im Inneren der europäischen Gesellschaft weist Stein
seit der Mitte der zwanziger Jahre immer wieder auf ihre Gefährdung hin, etwa
wenn er sich gegen die Zersplitterung des Grundeigentums in „Atome" und gegen
seine Anhäufung zu von einigen wenigen Reichen besessene „Massen" wende~:
Beides erschüUert die bürgerliche Gesellschaft in ihren Fundamenten und hat gleich
verderbliche Folgen, Übervölkerung, Vervielfältigung der ProlPJ,arÜ',r 11.nd Zu.nakrrn: der
Verbrechen 189 . Bereits 1826 wandte Stein sich gegen die Tendenzen zur Desorgani-
sation und Dekomposition der bürgerlichen Gesellschaft durch das Bestreben des
Bürgertums, die „Industrie" zu ihrem Zwecke zu erheben: Nicht möglichste Pro-
duktion von Lebensmitteln und Fabrik-Materialien ist der Zweck der bürgerlichen
Gcscllsvlm/t, sundern rel-igiös sittlioho und geistige Ver<-Allu.ng <les Aiensclwnw 0 •
Quietistische Züge und politisch-vermittelnde Ah11ir.htfm iihArwiegen bei FRIEDRHJH
GENTZ, beispielsweise wenn er von den nach Art. 13 der Bundesakte vorgesehenen
„landständischen Verfüssungen" angibt, sie sollten ruhen auf der natürlichen Grund-
lage einer wohlgeordneten bürgerlichen Ge.~ellschaft, in welcher ständische Rechte ...
ohne VerkürzMng der wesentlichen landesherrlichen Rechte bestehen191. Hingegen scheint
METTERNICH den Termini.is 'bürgerliche Gesellschaft' nur höchst selten ~erwendet
zu haben. In den „Denkwürdigkeiten" tritt er gelegentlich auf, wobei sich mit
-seinem stets vag und unbestimmt bleibenden terminologischen Status das Bewußt-
sein einer tiefgreifenden Krise verbindet, die die - nicht näher bezeichnete - bür-
gerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert erfaßt, etwa wenn es bei Metternich heißt:
Die gesamte bürgerliche Gesellschaft hat wohl zu keiner Zeit das zu bestehen gehabt,
womit sie dermalen im Kampfe liegt1 92 .
Aus der fortschreitenden Bedeutungsentleerung des älteren Traditionsbegriffs und
dem Wandel der europäischen Gesellschaft seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
hat zuerst HEGEL für die Sprache der politischen Philosophie die terininologischen
Konsequenzen gezogen.Nach Hegel ist es ein fundamentaler Mangel im methodischen
Aufbau des naturrechtlichen Begriffssystems und seiner Orientierung an dem sprach-
lichen Bezugsrahmen der klassischen Politik, daß es 'Staat' immer als Personenver-

188 STEIN, Nassauer Denkschrift (1807), Br.u.amtl.Schr„ Bd.2/1 (1959), 395. 398; Stein

an Schlosser (17. 12. 1817), ebd„ Bd. 5 (1964), 680.


189 Ders„ Denkschrift „Über die Vererbung und die Zersplitterung der Bauernhöfe in

Westfalen" (1830), ebd„ Bd. 7 (1969), 997.


190 Ders„ Denkschrift „Über Entwerfung eines zweckmäßigen Gewerbe-Polizei-Gesetzes",

ebd„ Bd. 6 (1965), 929 f.


191 FRIEDRICH GENTZ, Über den Unterschied zwischen den landständischen und Re-

präsentativ-Verfassungen, in: Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation,


- hg. v. JoH. LUDWIG KLüBER u. CARL WELCKER (Mannheim 1844), 220 ff.
192 METTERNICH, Denkwürdigkeiten, hg. v. Otto H. Brandt, Rd. 2 (Miinchen 1921), 342.

774
VIl. 2. Ablösung des Begriffs von seiner Geschichtsgebundenheit Gesellschaft, bürgerliche

band, als „Einheit verschiedener Personen" und als „Gemeinsamkeit" des Mit- und
Nebeneinanderlebens von Individuen definiert habe. Weil das Prädikat der „Gemein-
samkeit" „nur" auf die bürgerliche Gesellschaft als Subjekt angewandt werden könne,
sei in der neuzeitlichen Naturrechts- und Staatstheorie die bürgerliche Gesellschaft
mit dem Staat gleichgesetzt und das Verhältnis beider nicht „ wahrhaft", d. h. ihrem
„Begriff" gemäß bestimmt worden: Wenn der Staat vorgestellt wird als eine Einheit ver-
schiedener Personen, als eine Einheit, die nur Gemeinsamkeit ist, so ist damit nur die
Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft gemeint. Viele der neueren Staatsrechts-
khrer haben es zu keiner anderen Ansicht vom Staate bringen können 193. Um dieser
„Ansicht" - einer bloßen Meinung über den modernen Staat, die sich von seinem
Begriff weit entfernt hat - zu entgehen, schlägt Hegel eine neue Normierung des
politischen Sprachgebrauchs vor, die von der bisherigen vor allem darin ahwP.inht,
daß anstelle der „Gemeinsamkeit", d. h. der Einheit von Staat und bürgerlicher
Gesellschaft, ihre Differenz als terminologisches Unterscheidungsmerkmal auftritt.
Damit schreibt Hegel gegen die Identitätsformel von Staat und Gesellschaft in der
traditionell-politischen Philosophie eine neue Formulierung vor, die der veränderten
Stellung der bürgerlichen Gesellschaft in der modernen Welt, ihrer Emanzipation
von den Herrschaftsträgern der vorrevolutionären Gesellschaft besser entspricht:
T>i:e hiirgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den
Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staa,tes erfol,gt; <fonn
al,~ die Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben
m'uß, um zu bestelien 19'. Hegel bezieht die Einführung der „Differenz" historisch auf
den neuzeitlichen Verfassungs- und Verwaltungsstaat, den Staat der „modernen"
bürgerlichen Gesellschaft. Seine selbständige, d. i. „absolut" gewordene Institution
seit dem 17. und 18. Jahrhundert produziert das selbständige, d. i. „substanziell"
werdende Bestehen der Gesellschaft, die als „bürgerliche" einen nur ihr eigenen,
vom „Staate" sich abscheidenden „sozialen" Handlungs- und Lebenszusammen-
hang zwischen den Individuen aufbaut. Es ist klar, daß Hegel von hier aus den
herkömmlichen Gesellschaftsbegriff und seine politisch-naturrechtliche Normierung
nicht mehr „verstehen" konnte und die Nicht-Unterscheidung von Staat und bür-
gerliche Gesellschaft kritisch auflösen mußte. Sein Einwand gegen die neuere Staats-
lehre ist geschichtlich begründet in dem gebrochenen Verhältnis zwischen den
Termini der europäischen Bildungstradition und ihrer inhaltlichen Verschiebung
am Übergang zur modernen Welt, die mit der industriell-technischen Revolution
und der von Frankreich ausgehenden sozialen Emanzipationsbewegung die Sprache
der politischen Philosophie vor die Situation der Krise bringt.

2. Die Ablösung des Begriffi; von seiner Geschichtsgebundenheit

Dieser für die Geschichte der modernen politischen Begriffe überhaupt kennzeich-
nende Vorgang eines weitreichenden inneren Strukturwandels zeigt sich wohl kaum
deutlicher als an der radikalen Umdeutung des Terminus 'bürgerliche Gesellschaft'
in der sozialrevolutionären Epoche zwischen 1830 und 1860, von der unser heutiges
politisches Sprachbewußtsein noch immer weithin bestimmt wird. War bei Hegel

193 HEGEL, Rechtsphilosophie (1821), § 182, Zusatz. SW Bd. 7 (1928), 262 f.


194 Ebd.

775
Gesellschaft, bürgerliche VJI. 2. Ablösung des Begriß"s von seiner Geschichtsgebundenheit

und Haller neben den neuen Bedeutungsrichtungen der ältere Wortsinn zumindest
noch gegenwärtig, so verblaßt dieser nunmehr ganz, und zwar gleichzeitig mit der
Neubestimmung des Begriffs. Erst jetzt kommt es zu jener eigentümlichen verkürz-
ten historischen Perspektive, in welche die aus der überlieferten Umgangs- und
Bildungssprache herausgetretenen alten politischen Begriffe gleichsam zurück-
gebogen werden und ihre geschichtliche Eigengesetzlichkeit in einer zunehmend
von Klassen- und Gruppenideologien beherrschten Gesellschaft zu entfalten be-
ginnen.
Bei den Vertretern der liberal-konstitutionellen Richtungen wird der Terminus
'bürgerliche Gesellschaft' in der Regel im Rahmen der Staatstheorie behandelt, tritt
aber jetzt nur noch unter dem Titel „Verwandte Begriffe" (seil. zum „Staat") auf:
D(/,hin werden gezählt: 1) Die sogenannte bürgerliche Gesellschaft (politische Gesell-
schaft, societas politica, corps politique). Diese ist der Staat ohne alle höhere Gewalt,
d. h. ein Verein von Menschen, welcher alle Requisite des Staats hat (Verfassung, Land-
gebiet und Staatszweck), ausgenommen die Staatsgewalt. Sie wird gewöhnlich als der
Anfang des Staats, als der vorstaatliche Zustand gesetzt 195 • Eine zweite Interpreta-
tionsansicht verlegt die bürgerliche Gesellschaft - mit Hegel · in den geschicht-
lichen Staat und unterscheidet beide - von Hegel abweichend- von der „mensch-
lichen Gesellschaft" als einer Verbinduny, welche 't.l!nter dP-n MM'/.~r:hP.n t(.m. deswillen·
besteht, weil einer des andern bedarf . . . Die bürgerliche Gesellschaft ist dieselbe V er-
bi:ndung, inwiefern sie unter den Mitgliedern eines und desselben Staats besteht. Wenn
ein Staat d·ie gesarnle Menschheit um/aßte, so würde die 'tnenscltl,iche Gesellschaft nicht
von der bürgerlichen unterschieden werden können 196 • Die Herkunn dieses mit dem
Staat „verwandten" Begriffs wird hier - z. B. bei Romeo Maurenbrecher und Hein-
rich Zöpfel197 - nicht weiter als bis zum späten 18. Jahrhundert (August Ludwig
Schlözer!) zurückdatiert.
Von ähnlichen Gedanken lassen sich auch Verfechter einer konservativen Gesell-
schaftsauffassung wie Carl Friedrich Vollgraff und Friedrich Schmitthenner leiten,
wobei sie sich freilich von dem Begriff eine anschaulichere Vorstellung zu verschaffen
suchen. So rücken bei SCHMITTHENNER die „ökonomische Gliederung oder die bürger-
liche Gesellschaft" auf einer Stufe zusammen, die im Aufbau der Staatstheorie
zwischen der „natürlichen" und der „politischen Gliederung des Volkes" steht und
in einer an Hegel orientierten Sprache als „SysLem" der Bedürfnisse, der Arbeit
und des Austauschs dargestellt wird198 • VoLLGRAFF trennt die „bürgerliche" von
der politischen Gesellschaft und begreift unter dieser die alte bürgerliche Gesell-
schaft, während jene als neuer Typ der „staatsbürgerlichen" Gesellschaft in Er-
scheinung tritt: Zu dieser gehören nur die selbständigen, über ihr Besitztum frei ver-

196 ROMEO MAURENBRECHER, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 2. Aufl.

(Frankfurt 1843), 22; ZACHARIÄ, Bücher vom Staate, Bd. 1 (Stuttgart, Tübingen 1820), 38.
l96 ZACHARIÄ, Bücher vom Staate, Bd. 1 (1820), 99.
197 Vgl. MAURENBRECHER, Staatsrecht, 22, Anm.: Seit Schlözer (allg. Staatsr.) hat der Be-

griff der bürgerlichen Gesellschaft fast auf alle Staatstheorien sich vererbt; HEINRICH ZöPFL,
Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts (Heidel-
berg 1841), 5.
·198 FRIEDRICH SoIDnTTIIENNEn, Zwölf Bücher vom Staate, Ild. 1 (Gießen 1839),
213 ff. (§§ 125 ff.).

776
VII. 2. Ahlösung des BegriJfs von seiner Geschichtsgebundenheit Gesellschaft, bürgerliche

fügenden Familienväter etc.; zur bürgerlichen Gesellschaft aber auch alle, welche von
diesen Familienvätern dependieren; diese ist also stets zahlreicher als die eigentlich
politische Gesellschaft, letztere hat aber allein eine Meinung und Entscheidung, bildet
gewissermaßen die Aristokratie der bürgerlichen Gesellschaft 199 • Für Voll_graff besteht
das Problem der durch die Ausdehnung der Bürgerrechte in der Französischen Re-
volution konstituierten „Staatsbürgergesellschaft" gerade darin, daß sie diese
„Aristokratie" institutionell unmöglich macht, indem sie der naturwüchsigen Au-
torität des einstigen Vollbürgers den Knecht, den Familien- und Besitzlosen an die
Seite stellt und damit den Pöbel und die Kopfzahl zur Herrschaft aufruft 200.
Es handelt sich hier um dasselbe Problem, das nach 1830 die konstitutionell-liberale
Theorie zur Abschließung der bürgerlichen Gesellschaft gegen den „Pöbel", die
besitz- und bildungslose „Masse" des „vierten Standa" nötigt und zugleich jene
sozialrevolutionäre Bewegung hervorruft, die sich gegen ein Stillstellen der Eman-
zipation bei den Forderungen des „dritten Standes" wendet und seine Profilierurig
zur neuen „Aristokratie", d. h. zur Klassen"!terrschaft der bürgerlichen Gesellschaft
diagnostiziert. Auch die Theoretiker dieser Bewegung wie z. B. MARX und ENGELS
führen die Entstehung des Terminus auf das 18. Jahrhundert zurück, wobei sie als
Schüler Hegels freilich nicht den in diesem Zusammenhang relativ unbedeutenden
Augm1t J,udwig 8r,hlöirnr, sondern die englischen Nationalökonomen und französi-
schen Geschichtsschreiber als Autoren namhaft machen. Dabei ist den Verfassern
der „Deutimhen Ideologie" durchaus bewußt, daß trotz der von ihnen vollzogenen
Gleichsetzung der „bürgerlichen" mit der vom „Bürgertum" beherrschten modernen
Gesellschaft der Terminus 'bürgerliche Gesellsr,haft' „fortwährend", d. h. auch vor
dem 18. Jahrhundert zur Bezeichnung der „antiken" oder „feudalen" Gesellschafts-
formen verwendet wurde201.
Das Verständnis für die eigentümliche Problematik des Wortes, das sich bei Marx
und Engels als eine Art historisches Paradoxon immerhin noch artikuliert, schwin-
det nach 1840 fast ganz aus dem politischen Bewußtsein. Es findet sich schon nicht
mehr bei WILHELM HEINRICH RIEHL, der im Unterschied zur Partei von Marx und
Engels die bewegenden Tendenzen der Zeit an die Mächte der „Beharrung" zurück-
zubinden versucht. Aus dieser Sicht entwirft Riehl für das seit der Revolution von
1848 in Besitz und Bildung sich bedroht wissende Bürgertum unter dem Titel „Die
bürgerliche Gesellschaft" (1851) das Bild einer inmitten der sozialen Bewegung des
19. Jahrhunderts ständisch ruhenden und gebundenen Gesellschaft. Dabei fungiert
dieser Titel, den Riehl zu den „Zeichen der Zeit" rechnet, als ein spezifischer
Epochenbegriff: Jedes Zeitalter findet ein paar große Wahrheiten, ein paar allgemeine
Sätze, mit denen es sich seine eigene Welt erobert. Ein solcher Satz, neben anderen, ist
für unsere Epoche darin gefunden, daß die ,,bürgerliche Gesellschaft'' durchaus nicht
gleichbedeutend sei mit der „politischen Gesellschaft", daß der Begriff der „Gesellschaft"
im engeren Sinne, so oft er tatsächlich hinüberleiten mag zum Begriffe des Staates, doch
theoretisch von demselben zu trennen sei 202. Die „bürgerliche Gesellschaft" im Riehl-

199 Ü.ARL FRIEDRICH VoLLGRAF, Staats- und Rechtsphilosophie, Bd. 2 (Frankfurt 1864), 117 f.
200 Ebd., 948.
201 MARX/ENGELS, Deutsche Ideologie (1845/46), Einleitung. MEW Bd. 3 (1958), 36; die-
selben, Zur Kritik der PoliLisuheu Ökonomie (1859), Vorwort. MEW Bd. 13 (1961), 8.
20 2 WILHELM HEINR. RIEm., Die bürgerliche Gesellschaft, Bd. 2 (Stuttgart 1851), 4.

777
Gesellschaft, bürgerliche VII. 2. Ablösung des Begriffs von seiner Geschichtsgebundenheit

sehen Sinne.konstituiert sich vornehmlich in der Negation zur „politischen", d. h.


zum Staate, und diese Negation erscheint als die letzte Form des Verhältnisses zu
einer auch der konservativen. Partei nicht mehr gegenwärtigen Tradition, in der
Staat und Gesellschaft als die positiv gefaßte „bürgerliche", d. h. als „politische
Gesellschaft" begriffen wurden. '
In welcher Weise der Terminus im politischen Denken des 19. Jahrhunderts seinen
ursprünglichen Sinn verloren hatte und zur leeren Hülle geworden war, welche die
verschiedensten gesellschaftlichen Inhalte umkleiden konnte, zeigen nicht nur die
repräsentativen Geister der Zeit, sondern auch die Wörterbücher. CARL WELCKER
spricht im „Staatslexikon" (1843) schon bezeichnenderweise von der sogenannten
bürgerlichen Ge~~ellsch.aft und nennt sie den re{fierten Volkskörper, der aber in der
Regierung des Staates nicht gänzlich aufgehen dürfe. Dazu wird in einer Fußnote
angemerkt: Das, wa~ ich den regierten Volkskörper nenne, erkannten die Staatslehrer
an, wenn sie unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft" die durch gemeinsame Rechte
und Interessen verbundene Nation ohne Obergewalt so bezeichneten. Aber man dachte
nicht klar genug an die notwendige Organisation und die fortdauernde rechtliche Persön-
lichke·it auch gegenüber der Reg·ierung 203• Wie so oft im frühliberalen Denken, wird
auch hier nicht sogleich deutlich, inwieweit die Begriffe entweder Impulse der mo-
dernen Bewegung in sich aufgenommen haben oder umgekehrt ihren Gehalt aus der
vorrevolutionär1m Rponhe he:r,iehen. RinerReitR Rtellt Welr,ker <lie hiirgerlir.h11 <l11RP.ll-
schaft in den Dualismus von Staat und Gesellschaft hinein, wenn er ihre „not
wendige Organisation" und „rechtliche .Persönlichkeit" gegenüber der Regierung
betont, andererseits.aber ist sie für ihn der „regierte Volkskörper", so daß er gleich-
zeitig Regierung und bürgerliche Gesellschaft trennt und verbindet, den Gegensatz
von Staat und Gesellschaft also nicht zum Austrag kommen läßt. In diesem Zu-
sammenhang ist bezeichnend, daß die „notwendige Organisation" der bürgerlichen
Gesellschaft nicht dem Staat gegenüber betont, sondern dafür das ältere - und
daher nicht zufällig politisch-neutrale - Wort 'Regierung' verwendet wird.
Die Verfasser des „Staats- und Gesellschaftslexikons" beziehen sich mit dem für die
konservative Partei im 19. Jahrhundert charakteristischen scharfen Blick für die
veränderten sozialen, Verhältnisse allein noch auf die Emanzipation des Bürgertums
und ihre Bedeutung für die Verfassung der modernen Gesellschaft. Hier wird der
Begriff mit dem Emporwachsen der Städte verbunden, in denen sich im Kleinen
das Bild de.~ neuen V olk.~t11,m„~ m1:t Ständen ( entwfokelte), die si:ch d11,rch IJP1Jen.~eitige
Anerkennung stützten, durch leise Übergänge sich allmählich vermittelten und durch
wachsende Teilung der Arbeit die Darstellung einer wirklichen bürgerlichen Gesellschaft
begannen 204 • Als „Ursprung und Fruchtboden" des Begriffs und seiner Geschichte
im neueren Europa erscheint ihnen der „dritte Stand" und die mit seiner Emanzi-
pation verbundene bürgerlich-städtische Prägung der modernen Gesellschaft: Und
eben darum, weil aus der Burg und von den Burgenses diese Darstellung ausging,
darum blieb auch dem Ganzen der eben genannte Beiname, der nicht sowohl in der Form
des pars pro toto gebraucht ist, sondern auf den Ursprung und Fruchtboden des Be
zeichneten hinweist2os.

203 ÜARL WELCKER, Art. Staatsverfassung, RoTTECK/WELCKER Bd. 15 (1843-), 59 f.


204 WAGENER Bd. 4 (1860), 674, Art. Bürger, Bürgerstand, Bürgertum.
2os Ebd.

778
Vß. 3. Strukturwandel der bürgerlichen Gesellschaft Gesellschaft, bürgerliche

Wie diese wenigen Beispiele zeigen sollten - und sie ließen sich gerade für die Zeit
zwischen 1840 und 1860 beliebig vermehren-, stellt der hier wohl endgültig voll-
zogene Bruch mit der älteren politisch-naturrechtlichen Vorstellungswelt die Ge-
schichte des Terminus im 19. Jahrhundert auf sozialgeschichtliche Voraussetzungen
und Fundamente um, die nicht mehr in der klassischen Politik und der ihr zugeord-
neten Philosophie begründet sind. Sein Resultat- daß im Deutschland des 19. Jahr-
hunderts Restauration wie Revolution die Sprache der europäischen Tradition nicht
nur nicht mehr verstehen und sprechen können, sondern sie aus der Diagnose der
eigenen Situation heraus destruieren müssen - bildet nun das spezifisch begriffs-
geschichtliche Problem. Wie die eingetretene Dissoziierung im System der politischen
Begriffe und ihres Gebrauchs in einem Wirkungszusammenhang steht sowohl mit
der VerämlerWlg der ihnen wgrunde liegenden <iuzialen SLrukLure11 al<i auch mit
dem Wandel der Lehren von Recht, Staat und Politik, so gibt andererseits die Ab-
lösung des Begriffs von seiner sprachlichen Gebundenheit neue Verwendungsmög-
lichkeiten frei, deren verwirrende sprachliche Vielfalt ein Bestandteil und Ausdruck
der gesellschaftlichen Krise der modernen Welt und des ihr zugehörigen geschicht-
lichen Bewußtseins ist. Nicht mehr Elementarbegriff der Politik als Theorie des
„ganzen Staats", aber auch nicht mehr ein Element und Baustein der Vertrags-
konstruktion dcfl Naturrechts, bezeichnet der Terminus 'bürgerliche Gesellschaft'
jetzt die Verfassung der modernen Arbeits- und TauschgesellschafL, die sich dem
Zugriff der Sprache in einer ersten Anstrengung als Begriff zu enthüllen beginnt.

3. Strukturwandel der bürgerlichen Gesellschaft: Hegel und die


Hegelsche Schule

Der große geschichtliche und systematische Einschnitt in der politischen Begriffs-


bildung erfolgt mit HEGELS „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821).
Während nach dem Sprachgebrauch de~ politischen Tradition von Aristoteles
bjs zu Kant der Staat zwanglos als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet werden
kann, weil diese Gesellschaft an sich selber schon politisch - in der Rechtsfähigkeit
der Vollbürger (cives) und ihrer Zusammenfassung zur regierenden Herrschafts-
gewalt - gegliedert ist, unterscheidet Hegel die „politische" Sphäre des Staats
von dem nunmehr „bürgerlich" gewordenen Bereich der Gesellschaft. Dabei erhält
das Adjektiv 'bürgerlich', entgegen seiner ursprünglichen Bedeutung, einen vor-
wiegend „sozialen" Verwendungssinn und wird nicht mehr als gleichbedeutend mit
'politisch' gebraucht: es bezeichnet die gesellschaftliche Stellung des im absoluten
Staate zum bourgeois (§ 190, Zusatz) privatisierten Bürgers 206 • Der von seiner po-
litisch-rechtlichen Bedeutung emanzipierte Bürgerbegriff verbindet sich mit der
gleichermaßen emanzipierten Gesellschaft, so daß Hegel 'bürgerlich' und 'Gesell-
schaft' zu einem Begriff zusammenfaßt, der zwar dem Buchstaben nach mit
Aristoteles', Ciceros und Wolffs 'bürgerlicher Gesellschaft' übereinstimmt, aber zu
seiner Entstehung gerade die Auflösung des mit ihnen verknüpften terminologischen
Verständnisses voraussetzt.
Der Staat wird zum„politischen Staat" und die von ihm abgehobene bürgerliche
Gesellschaft. zur Sphäre bürgerlicher Privatleute, die sich als „Personen" und

206 HEGEL, Re'chtsphilosophie, § 190, Zusatz. SW Bd. 7, 272 f.

779
Gesellsehaft,bürgerliche VII. 3. Strukturwandel der bürgerlichen Gesellschaft

„Eigentümer" gegenüberstehen und durch ihre - ökonomisch vermittelte - „Be-


sonderheit" (Bedürfnis, Arbeit und Austausch) miteinander verbunden sind. Der
Grundsatz, mit dem Hegel seine Normierung des Terminus einleitet, formuliert die
Prinzipien der bürgerlich-liberalen Emanzipation von der Sache her, dem vereinzel-
ten einzelnen, dem Privat-Bürger der ihrer politischen Verfassung ledigen Wirt-
schaftsgesellschaft, die so zu einer „bürgerlichen" in dem angegebenen Sinne wird:
Die konkrete Person, welche sich als Besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürf-
nissen und einer Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das eine
Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, - aber die besondere Person als wesentlich in
Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede durch die andere und zugleich
schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, ver-
·1willell :,;•ich yellend mucltl wnd befr·iediyt 207 • Ihre innere Gliederung nach dem ökono-
mischen „System der Bedürfnisse"(§§ 189ff.), der privatrechtlichen „Rechtspflege"
(§§ 209ff.) und der politisch-sittlichen Integration in den Staat durch „Polizei und
Korporation'' (§§ 230 ff.) hat Hegel im Ausgang von den mehr oder weniger klar aus-
geprägten Vorstellungen in der Umgangs- und Fachsprache seiner Zeit (National-
ökonomie, Rechts- und Staatswissenschaft) und in der Absicht entwickelt, die
durch die politische und industrielle Revolution entstandene Lage der europäischen
Gesellseho.ften und Völker zu begreifen.
Dabei erhält der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft einen terminologisch mehr-
fach abgestuften Sinn. Auf einer ersten Stufe bezeichnet er diejenige Gesellschaft,
die - in der Emanzipation aus allen überkommenen politisch-sittlichen Lebens-
ordnungen - allein die Bedürfnisnatur des Menschen als des einzelnen und ihre Be-
friedigung in der Form der abstrakten Arbeit und Arbeitsteilung zum Inhalt hat 208 •
Die bürgerliche Gesellschaft erscheint hier als die industrielle, über die Erde sich
ausbreitende Arbeitsgesellschaft. Die Arbeit ist aber weder nur ein Mittel jener
Bedürfnisbefriedung noch der Zweck dieser Gesellschaft, sondern ein Moment der
Bildung zur (formellen) Allgemeinheit der Individuen, die durch sie und auf ihrem
Boden den Schritt von der Natur und der Befangenheit in die natürliche Willkijr
zur Kultur und Freiheit vollziehen: Diese Form der Allgemeinheit kommt durch die
bürgerliche Gesellschaft zustande, und sie ist deshalb, daß der Geist als freier existiere,
schlechthin notwendig 209 • Unter diesem kulturell-zivilisatorischen Gesichtspunkt
rechtfertigt Hegel die .Kristenz der bürgerlichen Gesellschaft als Bildungsgesell-
schaft, die zwischen den beiden Extremen einer blinden Kulturverneinung (Rousseau)
und einer ebenso blinden Apologie (z.B. in der modernen Nationalökonomie
Adam Smith' und der liberalen Schule des Industriesystems) die Mitte hält. Auf
einer dritten Stufe normiert der Terminus den historisch-politischen Prozeß der
Positivierung des Naturrechts, die Anerkennung der Grundrechte des Menschen und
Bürgers in den Verfassungsurkunden der europäischen Staaten seit der Französi-
schen Revolution. Hier ist die bürgerliche Gesellschaft Rechtsgesellschaft, d. h. die-
jenige Gesellschaft, die in ihrem geschichtlich gewordenen und durch Arbeit und

201 Ebd., § 182, S. 262 f.


208 Vgl. JOACHIM RITTER, Hegel und die Französische Revolution (1957; 2. Aufl. Frank-
furt 1965), 53.
209 HEGEL, Vorlesungen über die .Philosophie des Rechts (1824/25), Nachschrift von Gries-
heim, Bd. 2, 91 f. (ungedruckt).

780
VII. 3. Strukturwandel der bürgerlichen Gesellschaft Gesellschaft, bürgerliche

Bildung vermittelten Stande dem Recht von „Person" und „Eigentum" Dasein
und damit der Freiheit die universelle Anerkennung gibt. In ihr gilt der Mensch ... ,
weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf.
ist 210 • Auf der vierten Stufe schließlich ist die bürgerliche Gesellschaft diejenige
Gesellschaft, die bei dem Übermaße des Reichtums ... nicht reich genug ist, d. h. an
dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und
der Erzeugung des Pöbels zu steuern 211 • Hier erhält die bürgerliche Gesellschaft ten-
denziell den Charakter der Klassengesellschaft, die in der Dialektik von Armut und
Reichtum das in ihr realisierte Normensystem des Rechts und der Freiheit wieder
aufzulösen droht. Um diese Auflösung zu vermeiden, muß durch „Po~izei" (Ver-
waltung) und „Korporation" (Assoziation der Produzenten!) die „ungehinderte
Wirksamkeit" der bürgerlichen Gesellschaft in Schranken gehalten und ihre „Auf-
hebung" in den Staat als der „wahren" (politischen) Realisierung der Rechts- und
Freiheitsnorm vollzogen werden. Der „Staat" als „bürgerliche Gesellschaft" wird·
zum „politischen Staat", zur Wirklichkeit der konkreten Freiheit, in der die Eman-
zipationsgeschichte des Menschen - von der Bürgergesellschaft der griechischen
nolic; und römischen civitas, in der nur einige als frei gelten, bis hin zur bürgerlichen
GeRlllhmhaft. des mocfarnp,n R,p,r,ht,s- und Verfass1mgRst.aat.lls, dllr dill Freihllit. 11.Uer
garanLierL, - zum Stillstand kommt212.
Durch den Einfluß der Regelsehen Schule findet diese Normierung des Terminus
nach 1830 Aufnahme und Verbreitung in der Sprache der Zeit. Obwohl Hegel damit
dem Bedürfnis nach Klärung und Ersetzung des älteren, inzwischen vage und be-
deutungslos gewordenen Begriffs entgegenkam, ist sie nicht unwidersprochen ge-
blieben. Mir will es anmaßend scheinen, so schreibt noch 1856 FRIEDRICH BüLAU,
Professor für praktische Philosophie und Politik in Leipzig, wenn eine philosophische
Schule zu ihren Kunstausdrücken - denn um etwas anderes handelt es sich hier nicht
- Worte wählt, die dem gemeinen Sprachgebrauch angehören 213 • Ähnliche Vorbehalte
sind auch von anderer Seite angemeldet worden 214 • Sie hatten jedoch nicht ver-
hindert, daß sich der „gemeine Sprachgebrauch" die von Hegel vorgenommene
Normierung relativ rasch zu eigen machte. Dabei zeigt sich, daß vor allem die Ver-
lagerung des sprachlichen und systematischen Bezugssystems des Begriffs auf die
Nationalökonomie und Geschichtsphilosophie Interesse und Verständnis findet und
zur Aktualisierung entscheidend beiträgt. Das Dasein des subjektiven Willens, des
Egoismus in seiner Gesamtheit hat man die bürgerliche Gesellschaft genannt, notiert

210 Ders., Rechtsphilosophie,§ 209, Anm. SW Bd. 7, 286.


211 Vgl. ebd., § 245, S. 319.
212 Vgl. ebd„ § 260, S. 337 f.
213 BüLAU 2. Aufl. (1856), 21. Büla.u vermerkt, daß bei der Hegelschen Genese des Staats

aus der bürgerlichen Gesellschaft ein dialektisches Motiv die entscheidende Rolle gespielt
habe. Wenn man sich schon auf Hegels Terminologie einlasse, so habe die Genese vom
Staate aus zu der höheren Form der bürgerlichen Gesellschaft zu gehen ... , nicht umgekehrt
(ebd.).
214 Vgl. ÜARL v. RoTTECK, Rez. J. F. G. Eiselen, Handbuch des Systems der Staatswissen-

schaften (1828), Ges. u. nachgel. Sehr., hg. v. Hermann v. Rotteck, Bd. 2 (Pforzheim
1841), 149. 156; Huao EISENHART, Philosophie des Staats oder Allgemeine Socialtheorie
(Leipzig 1843), 26.

781
Gesellschaft, bürgerliche VII. :J. Sl.ruli.lw·waudtll dtlr hllrgerUchen Gesellschaft

1844 FALLATI215. Daß dieser ..4_spekt jetzt in den Vordergrund rückt, geht wesentlich
auf die Fortbildung Oflfl Regriffo in der Hcgclachcn Schule zurück. Das Bedür/~ii,s,
so BRUNO BAUER 1842, ist die mächtige Triebfeder, welche die bürgerliche Gesellschaft
in Bewegung setzt. Jeder benutzt den anderen, um seinem Bedürfnis Befriedigung zu
schaffen, und wird von diesem wieder zu demselben Zwecke benutzt 216 • Ähnlich schreibt
LUDWIG BUHL: Die bürgerliche Gesellschaft ist der Kampfplatz des sich gegenseitig
durchkreuzenden Privatinteresses und der Konfiikt des Vorteils der einzelnen mit den
höheren Gesichtspunkten des Staats 217 •
Mehr und mehr erweist sich dabei die bei Hegel noch unbestimmt gebliebene Stel-
lung des Menschen zur sozialen Wirldichkeit cjer bürgerlichen Gesellschaft, seine
individuelle und gesellschaftliche Lebenssituation als das zentrale Problem der Zeit.
Wir reden hier, heißt es bei KONRAD MoRITZ BESSER (1830), wo wir versuchen, den
RP.yriff if.p,r lriiryP.rl?:ch.P.n Gese.llscha.ft zit entwickeln, i1on ihr als einer wirklichen Gaoall
schaft ... Wir werden also die Mitglieder der Gesellschaft als wirkliche Menschen zu
betrachten haben 218• Die Wirklichkeit von Mensch und Gesellschaft besteht für
Besser in den Gesetzen der Nationalökonomie, deren Einwirkung auf die soziale
Lebenssituation der Individuen auch EDUARD GANS in seinen Berliner Vorlesungen
über Naturrecht und UniversalrechtRgeRCJhichte nachzugehen versucht. Bei ihm
akLuafüüert l:lieh die von Hegel erörterte Frage des außerhalb der bürgerlichen Ge-
sellschaft stehenden „Pöbels". Gans spricht von der durch den Mechanismus der
nationalökonomischen Gesetze notwendigen „Organisation der bürgerlichen Gesell-
schaft", die sich in Reiche, Begüterte oder solche, die zu leben, ·und solche die nicht zu
leben, und n·icltt da11 Bew·ußtsein einer gesicherten Existenz haben, te-ilt. D·ie letzteren
gehören zu dem Pöbel. Auf die Frage, ob der Pöbel zum Begriff der bürgerlichen
Gesellschaft gehöre und von ihr unabtrennbar sei, antwortete Gans, er sei ein
„Faktum", aber kein Recht, weshalb man zu den „Gründen des Faktums" kommen
und sie aufheben müsse21 9 •
Gans hattii damit jenes elementare Verfassungsproblem der bürgerlichen Gesell-
schaft angeschnitten, das seit den vierziger Jahren unter dem Titel der sozialen Frage
diskutiert wurde. Für die Hegelsche Linke liegt hier die Aufgabe der Zukunft, nach der
Organisation des Staats auch an eine bessere Organisation der Gesellschaft zu denken 220 •
Worin sie im einzelnen und ganzen bestehe, bleibt strittig. Nach ARNOLD RuGE
besteht sie in der Erhebung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer „freien Arbeiter-
genossenschaft", in der mit der vollkommenen Realisierung der Arbeit als ihres
Prinzips das Faktum des Pöbels von selber schwinden und der Arbeiter dem „Bür-
ger" gleich und ebenbürtig sein werde: Allerdings ist erst die bürgerliche Gesellschaft
die menschliche Gesellschaft, und in einer unmenschlichen Gesellschaft, welche ihre
Mitglieder, den Bürger oder den Arbeiter, dem Elende oder gar der Sklaverei preisgibt,
läßt sich keine Freiheit einführen 221 • Der Staat der Zukunft, sagt KARL NAUWERK,
215 F ALLATI, Die Genesis der Völkergesellschaft, Zs. f. d. gesammte Staatswiss. 1 (1844), 261.
216 BRUNO BAUER, Die Juden-Frage, Dt. Jbb. f. Wiss. u. Kunst 5 (1842), 1096.
217 LUDWIG BuHL, Hegels Lehre vom Staat (Berlin 1837), 22.
218 KONRAD MoRITZ BESSER, System des Naturrechts (Halle 1830), 177.
219 ·EDUARD GANS, Vorlesungen über Natill'recht und Universalrechtsgeschichte, WS

1832/33, 113 f. (ungedruckt).


220 L. BuHL, Die Weltstellung der Revolution, Athenäum 31 (1841), 480.
221 ARNOLD RuaE, Aus früherer Zeit, Bd. 4 (Berlin 1867), 360.

782
VII. 4. Soziale BeweSUD! und Sozial-Kommunümua Ge1ellaehaft, bürge~liehe

ist der wahrhaft gesellschaftliche, - nicht der „politische" der bürgerlichen Gesell-
schaft im Sinne Hegels, sondern der „soziale" Staat oder die menschliche Staats-
gesellschaft222. Dabei kann die Stufe der bürgerlichen Gesellschaft auch ganz aus-
fallen. Nach AUGUST CrnszKOWSKI folgen sich in der rechts- und sozialphilosophi-
schen Entwicklung nicht, wie bei Hegel, Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat,
sondern Familie, Staat und Menschheit 223 . An die Stelle der Hegelschen Vermittlung
tritt nun - in der revolutionären Krise des Vormärz - der Dualismus von Staat
und Gesellschaft, der Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, wie unter den
Junghegelianern MoRITZ VEIT am nachdrücklichsten propagiert, kritisch auflöst:
Die Gesellschaft (worunter ich nicht das verstehe, was Hegel die 'bürgerliche .Gesellschaft'
nennt) hat den Staat zu ihrer Voraussetzung; aber sie ist der gärende, keimende, trei-
bende Inhalt desselben, die lebendige Malerei, die ewig die Form aus sich gebiert 22 4.

4. Soziale Bewegung und Sozialismus·Kommunismus: Marx, Engels,


Lorenz von Stein

Mit dieser Terminologie konnte freilich die Hegelsche Begriffsbildung von den Jung-
hegelianern nicl1t wirklich aufgelfü1t und noch weniger wissemmhaftlieh weiter ent-
wickelt werden. Do.s geschieht erst bei Mo.rx und Engels, deren Kritik der bürger-
liohm;1 Goßolloohaft ganz auf dom von Hogol boroitoton Boden orwachaon iat.
In den Schriften von MARX wird das Wort zuerst 1842 in einem Artikel der „Rhei-
nischen Zeitung" mit Bezug auf das die Hegelsche Schule beunruhigende Problem
des Pöbels und der Armut verwendet. Das Dasein der armen Klasse nennt Marx
hier eine bloße Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft ... , die in dem Kreis der bewuß-
ten Staatsgliederung noch keine angemessene Stelle gefunden hat 225 . So hält sich auch
der Sprachgebrauch des jungen Marx zunächst von der im Frühsozialismus häufigen
polemischen Übertragung des Begriffs auf das Bürgertum bzw. die Bourgeoisie noch
fern. Ja, man kann sagen, daß ihm bis hin zur „Heiligen Familie" (1844) der ur-
sprünglich politische Sinn der bürgerlichen Gesellschaft weit deutlicher gegenwärtig
war als etwa Hegel. In seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts" (1843) entwickelt
Marx ein Konzept der mittelalterlichen „Feudalgesellschaft", das als Gegenbild
zur modernen Trennung von Gesellschaft und Staat gedacht ist und die verlorene
Identität der „bürgerlichen" mit der „politischen" Gesellschaft rekonstruiert:
Man lcann den Geist des Mittelalters so aussprechen: die Stände der bürgerlichen Ge-
sellschaft und die Stände in politischer Bedeutung waren identisch, weil die bürgerliche
Gesellschaft die politische Gesellschaft war: weil das organische Prinzip der bürger-
lichen Gesellschaft das Prinzip des Staats war . . . Ihr ganzes Dasein war politisch;
ihr Dasein war das Dasein des Staats. Ihre gesetzgebende Tätigkeit, ihre Steuer-

222 KARL NAUWERK, Vorlesungen über Geschichte der philosophischen Staatslehre,

Wigands Vjschr. 1 (1845), 73.


223 AUGUST CrnszKowsKI, Aus den Verhandlungen der Philosophischen Gesellschaft,

1843/44, zit. WALTER KÜHNE, Graf August Cieszkowski, ein Schüler Hegels und des
deutschen Geistes (Leipzig 1938), 160.
224 MoRITZ VEIT, Gesellschaft und Staat. Vortrag vor der Philosophischen Gesellschaft

1843, Der Gedanke 1 (1861), 58 ff.


225 MARX, Debatfon iiher daR Hoh>:diehRtahlRgARAtz (26.10.1842), MRW Bd. l (1955), 119.

783
Gesellschaft, bürgerliche VII. 4. Soziale Bewegung und Sozial.Kommunismus

bewilligung für das Reich war nur ein besonderer A usfiuß ihrer allgemeinen politischen
Bedeutung und Wirksamkeit. Ihr Stand war ihr Staat226,
Erst aus diesem Bewußtsein über die vorrevolutionäre Verfassung der europäischen
Gesellschaft und die Struktur ihrer Begriffe erklärt sich die Schärfe der Marxschen
Kritik an dem „Idealismus" des politischen Staats, der bei Hegel die Kehrseite des
„Materialismus" (= Egoismus) der bürgerlichen Gesellschaft sei. Hegel scheitert
an der Ineinssetzung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats und bringt -
darin stimmt Marx mit Ruge überein - die Aufhebung des „N ot- und Verstandes-
staates" in den Staat der Freiheit, der bürgerlichen Gesellschaft als „Privatstand"
in den politischen Stand des Staats nicht zustande: Der Stand der bürgerlichen Ge-
sellschaft hat weder das Bedürfnis, also ein natürliches Moment, noch die Politik zu
seinem Prinzip. Es ist eine Teilung von Massen, die sich flüchtig bilden, deren Bildung
selbst eine willkifrlinlui 1m.d km:nr. nryam.1:sa.tion 1:st. Wie sich die bürgelfliche Gesell-
schaft . . . von der politischen, so hat sich die bürgerliche Gesellschaft innerhalb ihrer
selbst getrennt in den Stand und die soziale Stellung 227 , die bestimmte Lebenstätig-
keit und Lebenssituation des Individuums bzw. - wie Marx nach dem Pariser
Studium der Nationalökonomie (1843/44) ergänzt - die ökonomischen Klassen.
Die moclerne biirgerliche Gesellschaft wird zur „KlaRRengesellschaft" oder -- wie
es in der „Deutschen Ideologie" mit einer der frühsozialistischen Tagesliteratur
entlehnten Formel heißt - zur „Bourgeoisgesellschaft"22 8 •
In dieser polemischen Verwendung steht die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr
nur dem „Staat", sondern der „sozialistischen" und „kommunistischen" Gesell-
schaft einer staatsloscn, mit der Emanzipation der arbeitenden Klassen beginnen-
den Zukunft gegenüber. Hier wiederholt sich in gewisser Weise das junghegeliani-
sche Votum für die „menschliche" und gegen die „bürgerliche" Gesellschaft im
Sinne Hegels, mit dem Unterschieu freilich, daß Marx mit dem Übergang zum
„praktischen" (später „historischen") Materialismus in der Lage ist, seinen Futuris-
mus durch die methodischen Hilfsmittel einer Kritik der politischen Ökonomie
historisch zu konkretisieren: Der Standpunkt des alten Materialismus ist die 'bürger-
liche' Gesellschaft, der Standpunkt des neuen, die menschliche Gesellschaft; oder
die vergesellschaftete Menschheit 229 . Als Modell der „sozialistischen" bzw. „kommu-
nistischen" Gesellschaft, das die „bürgerliche" überwinden und in die Vorgeschichte
der Menschheit verweisen soll, dient das der Assoziation, wonach die freie Ent-
wicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ii:iL 230 - ein
Konzept, das dem bürgerlich-liberalen Koordinationsmodell des Vertrags diametral
entgegengesetzt ist .
. Von dieser ideologisch-politisch und geschichtsphilosophisch bestimmten Verwen-
dung des Begriffs unterscheidet sich der kritisch-wissenschaftliche Gebrauch, den
Marx von ihm macht. Danach handelt es sich um einen Epochenbegri:ff, der mit der
Emanzipation des europäischen Stadtbürgertums von den politischen und geist-

226 MARx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843), ebd., 275 f.


227 Ebd., 284. 285. Vgl. RUGE, Aus früherer Zeit, Bd. 4, 356.
22s MARx, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 194.
229 MARx, 10. These über Feuerbach, MEW Bd. 3, 535.

230 MARx/ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), II. MEW Bd. 4 (1959)

482.

784
VII. 4. Soziale Bewegung und Sozial-Kommunismus Gesellschaft, bürgerliche

liehen Herrschaftsgewalten des Mittelalters im 17. und 18. Jahrhundert gebildet


wird und jetzt, nach der Dissoziierung des ei:nheitlichen Staatsbürgertums in ver-
schiedene Klassen, die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhende
gesellschaftliche Organisations- und Verkehrsform bezeichnet. Die durch die auf
allen bisherigen geschichtlichen Stufen.vorhandenen Produktionskräfte bedingte und sie
wiederum bedingende Verkehrsform ist die bürgerliche Gesellschaft ... Sie um-
faßt das gesamte kommerzielle und industrielle Leben einer Stufe und geht insofern
über den Staat und die Nation hinaus, obwohl sie andrerseits wieder nach außen hin
als Nationalität sich geltend machen, nach innen als Staat sich gliedern muß 231 • Diese
hier noch relativ ungeschichtlich bleibende Definition des Begriffs hat Marx in
der Folge zeitlich eingegrenzt und seine Anwendung auf die moderne, vom Bürger-
tum beherrschte Gesellschaft des 18./19. Jahrhunderts beschränkt.
Entscheidend für seine weitere historische Situierung wird dabei insbesondere die mit
der Erfassung des Kapitalbegriffs aus der Nationalökonomie verbundene Klärung
der Funktion des Besitzes an Produktionsmitteln anstelle der bei Hegel und seinen
Schülern noch vorherrschenden vagen Rede von Reichtum und Besitz überhaupt 2 3 2•
Das Problem der bürgerlichen Gesellschaft ist nichL die Vermittlung mit dem Staat,
sondern ihre „Anatomie", die nach Marx in der politischen Ökonomie zu suchen
ist 233 • Erst damit, mit der methodischen Reduktion der Politik 11uf die „m11tcricllcn
Lebensverhältnisse" erhält der Begriff im Denken von Marx eine Schlüsselfullktion,
so daß er nun umgekehrt von der Gestalt der gegenwärtigen Gesellschaft „ab-
strahiert" und seine Terminologie (Produktionsmittel, Produktivkräfte usw.) auch
zur Aufschließung „vergangener Gesellsr,ha.ftRformat.ion." benutzt werden konnte:
Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organi-
sation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Ver-
ständnis ihrer Gliederung, gewährt daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die
Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, mit deren
Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundne Reste
sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen ent-
wickelt haben etc. Anatomie des l1lenschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen 234 •
Neben Marx' ökonomisch-politischer „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft"
steht der große Versuch von LORENZ VON STEIN, die „Geschichte der sozialen Be-
wegung von 1789 bis auf unsere Tage" im Ausgang vom modernen „Begriff der
Gesellschaft" zu schreiben. Der Gesellschaftsbegriff, wie bei Marx begründet auf das
Verhältnis von Arbeit und Kapitalbesitz, wird hier zum Instrument, das die ge-
schichtliche Vergangenheit Europas vergegenwärtigt und die Gegenwart in ihrer

231 MARX, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 36.


232 Vgl. BRUNNER, „Feudalismus", in: Neue Wege, 138 f. (s. Anm. 66).
233 Vgl. das Vorwort zur „Kritik der Politischen Ökonomie" (1859), wo MA.Ex das Resultat

seiner Hegel-Kritik kurz so angibt: Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß
Rechtsverhältnisse wie Staatsformen . . . in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln,
deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahr-
hunderts, unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft" zusammenfaßt, daß aber die Ana-
tomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei, MEW Bd. 13
(1961), 8.
234 Ebd., 636.

50-90386/1 785
Gesellschaft, bürgerliche VIII. 1. SoZiale Krise der bürgerlichen Gesellschaft

sozialen Struktur bloßlegt. Die Kontinuität der europäischeµ Gesellschaft und ll-e-
schichte und des zu ihr gehörigen. Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft ist in der
von Stein als historische Wende erfahrenen modernen Sozialbewegung zur Trias der
„feudalen Gesellschaft" des vorrevolutionären Europa, zur „staatsbürgerlichen
Gesellschaft" der Revolutionsepoche und zur „industriellen Gesellschaft" der Zeit
nach 1830 auseinandergebrochen 236 . Zwischen dem zweiten und dritten Gesell-
schaftstyp steht die „volkswirtschaftliche Gesellschaft", die sich aus der Aufhebung
der Rechtsunterschiede der alten bürgerlichen {„feudalen") Gesellschaft entwickelt
und die Einheit der vor dem Gesetz freien und gleichen Bürger durch die Unter-
scheidungen des Besitzes und Nichtbesitzes wieder zerreißt. Sie bildet die „staats-
bürgerliche" in die „industrielle" Gesellschaft um, die für Stein die bestimmende
Gesellscha:ftsfornmtion der Gegenwart ist und deren Begriff in der aus der volks-
wirtschaftlichen Gesellschaft allmählich, aber mit unabweisbarer Notwendigkeit hervor-
gehenden Herrschaft des Kapitalbesitzes über das ganze Güterleben und seine Be-
wegungen besteht236.
So ist bei Stein im „Begriff der Gesellschaft" 'bürgerliche Gesellschaft' als Ter-
minus verschwunden. Was Stein zu bewahren sucht, ist ihr Prinzip von Person und
Eigentum, die Freiheit des Individuums, deren Umkippen in den Kapitalbesitz
einer herrschenden Klasse von Eigentümern durch den Staat verhindert werden
muß. Statt der von Hegel gesuchten (und vom jungen Marx nicht gefundenen) Auf-
hebung der bürgerlichen Gesellschaft in den „politischen Staat" bedarf es nach
Stein nur eines (durch die politische Kunst der Zeit noch nirgendwo realisiert.en)
Ausgleichs zwischen Staat und Gesellschaft237. Die Gesellschaftsordnung des gegen-
seitigen Interesses, die Stein am Vorabend der Revolution von 1848 am Horizont der
Gegenwart als Hoffnung und Ausweg aus der sozialen Krise aufsteigen sieht, bedarf
nicht des „politischen", sondern des „sozialen" Staats - der sozialen Demokratie 238 •

VIII. Positionen und Begriffe nach der Revolution von 1848

1. Die soziale Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Bluntschli, Roessler, Mohl


Wenn es richtig ist, daß sich auch in der Sprache und ihren Bezugssystemen be-
stimmte Entwicklungen vollziehen und die geschichtlichen Situationen und Tenden-
zen einer jeweiligen Epoche zum Ausdruck kommen, wäre die Geschichte des Ter-
minus 'bürgerliche Gesellschaft' mit dem europäischen Entscheidungsjahr von 1848
an einem Endpilnkt angelangt. Zwar hatte die tendenzielle Umbildung der altstän-
dischen zur Klassengesellschaft, ihre mannigfachen Gegensätze - die äußeren zwi-
schen Restauration und Revolution, die inneren zwischen Kapital und Arbeit, Stadt
und Land usw. - und vor alleUJ. der Strukturwandel in ihren industriellen Daseins-

?.ao LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Ilewegung in Frankreich von 1789 bis auf
unsere Tage, Ndr. d. 3. Aufl„ hg. v. Gottfried Salomon, Bd. 1 (Münohon 11)21), 267 f. 273.
434. 447 f.; Bd. 2 (1921), 25 f~
236 Ebd., Bd. 2, 26.

237 Vgl. ders., Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaften Deutschlands

(Stuttgart 1876), 213.


288 Ders., Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 3 (1921), 408.

786
VIII. 1. Sollliole Krise der hürgerliehen Gcsellaehoft Geeclbcbaft, bürgerliche

bedingungen die Verwendungsmöglichkeiten des Begriffs seit der Aufklärung mehr


·1.1nd mehr verändert. Aber neben und in diesen Veränderungen blieben doch nooh
immer wesentliche Elemente der älteren Tradition erhalten, und gerade sie waren es
ja, welche Aufnahme und kontinuierlichen Fortbestand dieser Sprechweisen in der
„bürgerlichen" Vorstellungswelt des Frühliberalismus erlaubten. Es sei hier nur an
den alten Bürgerbegriff und seine klassisch-liberalen Prädikate, an das mit dem Mo-
dell der „ökonomischen" Autarkie des „Hauses" engverbundene Problem der „Selb-
ständigen" und „Unselbständigen" (Lohnabhängigen) und dessen Zusammenhang
mit Zensuswahlrecht und Klassenbildung erinnert. Zwar versuchten die führenden
Vertreter des deutschen LiberalismtJ..s in der Frankfurter Paulskirche das Mißtrauen
ganzer Classen der bürgerlichen Gesellschaft gegen andere Classen zu beseitigen 2 39,
aber ihr Bestreben ging doch vornehmlich dahin, der großen unselbständigen Masse.
keinen überwiegenden Einfluß auf das „Staatsleben" zu eflRtR.t.tfm 1rnil nur ?:n.re
Zustände zu regeln und ihnen den angemessenen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft
zu verschaffen240.
So ist es denn kein Zufall, daß parallel zur ersten größeren lndustrialisierungswelle
in Deutschland nach 1850 die in England und Frankreich längst als drohende Ge-
fahr empfundene „soziale Frage" verRtii.rkt auftritt und seitdem zum Grundproblem
für die Leben!- und Handlungsform der bürgediuhell Ge:sefümhafL :sell>er wil'u. Die
innere Einheit von sozialer und industrieller Bewegung, die frühsozialistische Kritik
an der „bürgerlichen" und die Konstruktion einer neuen („sozialistischen" bzw.
„kommunistischen") Gesellschaft im Vormärz, schließlich die Verbindung von
sozialer Bewegung und politischer Revolution in den Jahren 1848/49, - all wes
trägt bei zur Destruktion des Begriffs, zur Auflösung des sprachlichen Bezugs-
systems und zum Ausgang seiner Geschichte. Was nach 1848 von ihm weiter-
lebt, bedeutet nunmehr etwas grundsätzlich anderes als zuvor. Dies gilt auch
dann, wenn es sich um bloße Wiederholung von Positionen und Begriffen handelt,
die schon vor 1850 aktualisiert waren, wie im Falle des Gegensatzes der „proletari-
schen" Partei, der späteren „Social-Demokratie" zur „bürgerlichen" Gesellschaft
oder im Falle der neuen „Gesellschafts-Wissenschaft", deren Ursprung ebenfalls
vor 1848, in der beginnenden Umformung der staats- und geschichtsbezogenen
bürgerlichen Gesellschaft im Sinne Hegels zur staat- und geschichtslosen Gesell-
schaft einer abstrakten Zukunft liegt 241 •
Die innere Wandlung in den sprachpolitischcn und geschichtlichen Voraussetzungen
ist an einigen Zeugnissen der Reaktionsperiode nach 1849 nachweisbar, die 'bürger-
liche Gesellschaft' als Terminus nur beiläufig zu verwenden scheinen. So spricht
CoNSTANTIN FRANTZ in den fünfziger Jahren mehrfach von dem heutigen Zustand der
bürgerlichen Gesellschaft, die einerseits die alte Stabilität verloren und andererseits
keine neue Organisation gewonnen, sondern einen so lockeren· Zusammenhalt hat, daß
naturnotwendig die beweglichen Elemente zur Herrschaft gelangen müssen, folglich

2 39HEINRICH v. GAGERN, Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 7 (1849), 5303.


240 W AITZ, ebd„ 5224.
241 Der Ausdruck 'Soc~ldemokratie' tritt z. T. schon vor 1848 in Erscheinung und be-

zeichnet die verschiedensten radikal-demokratischen Strömungen im Bürgertum und in


der Handwerkerbewegung, die sich zur sozialen Reform bekennen. Vgl. FROLINDE BALSER,
Sozial-Demokratie 1848/49-1863 (Rtut.t.gart l!lß:'.l).

787
Gesellschaft, bürgerliche VIll. 1. Soziale Krise der bürgerlichen Gesellschaft

Intelligenz- und Kapitalkraft 242 • Etwa zur gleichen Zeit beschreibt der konservative
Hegelianer CoNSTANTIN RoESSLER die Veränderungen ihrer Gestalt durch Technik
und Industrie, wobei auch er das „unregelmäßige Bild" registrieren muß, das die
bürgerliche Gesellschaft nach der Jahrhundertmitte den Zeitgenossen bietet: Die
bürgerliche Gesellschaft in unserer Zeit gewährt darum ein so unregelmäßiges Bild,
weil sie in einer Revolution begriffen ist. Damit meinen wir nicht den Klassenkampf,
sondern die durch ihre Rapidität wie durch ihren Umfang gleich staunenswerte Um-
wandlung der Arbeit von innen heraus 243 •
Während für Roessler in erster Linie die industrielle Bewegung das Bild einer in
sich aufgelösen bürgerlichen Gesellschaft hervorruft, ist es für JOHANN CASPAR
BLUNTSCHLI gerade der bei Roessler nur beiläufig erwähnte politische Kampf der
Klassen, der ihre „ganze sociale Existenz" bedrohe. In Erinnerung an die Ursachen
der 48e.r Revolution weiRt. RhmtRnhli 11.11f fliA TI11Rore11.niim.tion flAr Rtii.nflA AinArRAifa;i
und die Atomisierung der Gesellschaft andererseits, vor allem im 4. Stande, hin.
Die unteren Schichten hätten in einer in den früheren Perioden der Weltgeschichte
unerhörten Weise in das Schicksal Europas eingegriffen: Sie haben im Februar 1848
zum Erstaunen von J!'rankreich und der Welt zu Paris den Julithron umgeworfen und
die Reptiblik eingeführt. Und wenige Monate nachher bedrohten sie die ganze sociale
Existenz der bargerlichen Ge8ell8clta/tB 44 • Dagegeu ueLrachLeL RIOHAJW WAG.NEH. uie
Physiognomie der bürgerlichen Gesellschaft unter dem Aspekt der gescheiterten
Revolution, d. h. ihres Unvermögens, sich von der Last der Vergangenheit zu be-
freien und nun auch in Deutschland den Staat von innen her umzugestalten:
Diese büryerlü;Jie Ge8ell8cha/l war aber ... nur ein Niederschlag .rler von oben herab
auf sie drückenden Geschichte, wenigstens ihrer äußeren Form nach. Seit der Konsoli-
dierung des modernen Staates beginnt allerdings die neue Lebensregung der Welt von
der bürgerlichen Gesellscltaft wusZ'Ugelien: d·ie lebendige Energie der geschichtlichen
Erscheinungen stumpft sich ganz in dem Grade ab, als die bürgerliche Gesellschaft im
Staate ihre Forderungen zur Geltung zu bringen sucht. Gerade durch ihre innere Teil-
nahmslosigkeit an den geschichtlichen Erscheinungen . . . offenbart sie uns aber den
Druck, mit dem sie auf ihr lasten und gegen den sie sich eben mit ergebenem Wider-
willen verhält 245 •
Wie diese wenigen Beispiele zeigen, scheint der beherrschende Eindruck der nach-
revolutionären bürgerlichen Gesellschaft auf Jahrzehnte hinaus bei ihren Betrach-
tern der ihrer inneren Gefährdung zu sein. Und nicht wenige unter ihnen wissen,
daß die Ursachen der Revolution zu einem wesentlichen Teil in ihrer historisch
überlief~rten Verfassung und deren Widerspruch zur gesellschaftlich-geschichtlichen
Gegenwart begründet sind. Zugleich wird mit der Revolution offenkundig, daß der
alte Begriff der bürgerlichen Gesellschaft seit kurzem von einem neuen verdrängt
zu werden beginnt, der nicht die geschichtliche Vergangenheit, sondern Gegenwart
und Zukunft in sich verkörpert: vom Begriff der Gesellschaft.
Die Wichtigkeit dieses Gesichtspunktes hat der Hegelianer KARL ROSENKRANZ

242 CoNSTANTIN FRANTZ, Der Militärstaat (Berlin 1859), 113 ff.


243 CoNSTANTIN RoESSLER, System der Staatslehre, Bd. 1 (Leipzig 1857), 165.
244 JoH. CASPAR BLUNTSCHLI, Allgemeines Sta,atsrecht, 2. Aufl., Bd. 1(München1857), 135.
245 RICHARD WAGNER, Oper und Drama (1851), Sämtl. Sehr. u. Dichtungen, hg. v. Richard

Sternfeld, Bd. 3 (Leipzig o. J.), 51.

788
VT1T, 2. Ilingnn1if'> dP.r lmn11P.rv11t.ivP.n Rir.ht.nngP.n f'n-Mllllmhaft, bürgerliche

nachdrücklich hervorgehoben: lJaß unsere Revolution vorz'ug:swe'i:se e'inen :soz'ialen


Charakter hat, liegt in ihrem Ursprung, der von der Selbstkritik der bürgerlichen Ge-
sellschaft seinen Ausgang genommen hat24-6 • ROBERT VON MoHL, der erste große
Rechtsstaatslehrer des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, hat den „so-
zialen Charakter" der Revolution von 1848/49 in dramatisch bewegten Sätzen zum
Ausdruck gebracht: Das Wort Gesellschaft hat ertönt. Es wird mit tiefer Besorgnis,
von anderen mit giftiger Drohung ausgesprochen; es dient zum Stichworte des Streites
auf der Rednerbühne und in der Schenke; es werden mächtige Parteien und Absichten,
ganze Lehrgebäude damit bezeichnet. In Leben und Wissenschaft drängt sich der Be-
gri'{f, das besondere Dasein, das Bedürfnis, die Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft
auf und bringt einen ganz neuen Gegenstand des Bewußtseins, des Wollens, des
Denkens 2 ~ 7 • So tritt zu dem bereits aufgebrochenen Duali11mu~ zum Staat der 11prach-
liche Gegensatz zwischen 'bürgerlicher Gesellschaft' und 'Gesellschaft' in dem hier
ue:;ehrieue11e11 Slliue hi11zu. DamiL 1:1LellL 1:1ieh für ilie weiLere Geschichte des Degriß's
die Alternative, ob er sich zur „Klassenordnung" verengen oder an. die Position
der „Gesellschaft" sich anschließen und mit ihr den Dualismus von Staat und Ge-
sellschaft ausgleichen sollte.

2. Diagnose der konservativen Richtungen: Riehl, Constantln Frantz

Trotz des entscheidenden „sozialen" Einschnitts der vierziger Jahre bleibt jedoch
der Terminus weiterhin im Gebrauch, ja mau kann sagen, daß er efl:!L nach der Revo-
lution „populär" geworden ist und in die Alltagssprache eindringt. WILHELM
HEINRICH RIEHL popularisierte ihn mit seinem ursprünglich gar nicht von ihm
beabsichtigten Buchtitel „Die bürgerliche Gesellschaft" (1851) 248 •
Obschon unter dem beschränkten Blickpunkt der „Vier Stände" (so der ursprüngli-
che Titel!) verfaßt, beschreibt Riehl dennoch ein umfassendes Zeitc und Gesellschafts-
bild, das für die nur berufsständisch gesehene Gesellschaft nach 1848 durchaus als
typisch angesehen werden darf. Im. Unterschied zur altständischen Gesellschaft
ruht die „bürgerliche" Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht mehr in sich
selber, sondern ist auseinandergetreten in die „Mächte des Beharrens" (Bauern und
Aristokratie) und die „Mächte der Bewegung" (Bürgertum und vierter Stand).
In diesen Mächten stellt sich nach Riehl die „historische Gesellschaft" dar, die er
in der „modernen" ständisch zu rehabilitieren sucht, indem er ihr den Namen
'bürgerliche Gesellschaft' gibt 249 • Daß dabei der Titelbegriff zunächst unscharf und
ohne feste Konturen bleiben mußte, ist Riehl nicht entgangen, weshalb er 1864 in

246 KARL ROSENKRANZ, Die Bedeutung der gegenwärtigen Revolution und die daraus ent-

springende Aufgabe der Abgeordneten, Polit. Br. u. Aufs., 1848-1856, hg. v. Paul Herre
(Leipzig 1919), 95 f.
247 ROBERT v. Mom., Gesellschafts-Wissenschaften und Staats-Wissenschaften, Zs. f. d.

gesammte Staatswiss. 7 (1851), 6; __,..Gesellschaft, Gemeinschaft.


248 Ich wollte letzterem ursprünglich den Titel „ Vier Stände" geben. Der Verleger widerriet

und mit .Recht. Die „ Vier Stände" würden es höchstens zu zwei Auflagen gebracht haben.
„Die bürgerliche Gesellschaft" hat doch die achte erreicht, W. H. RIEHL, Die bürgerliche
Gesellschaft, 8. Aufl. (Stuttgart 1885), VII.
249 Zum Ansatz in der „modernen Gesellschaft", welche nur an der Oberfläche zur „voll-

ständigen Nivellierung reif" sei, ebd., 34 ff. Zur Bezeichnung der ständisch gegliederten

789
Gesellschaft, bürgerliche VW. 2. Diagnose der konservativen Richtungen

einem Akademievortrag „Über den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft" einen


Definitionsversuch folgen läßt, der aber an der vagen Verbindung des romantisch-
. konservativen Volksbegriffs mit dem modernen, sozialrevolutionären Begriff der
Gesellschaft scheiterte. Er wird eingeleitet mit dem Satze: Wer von socialen und
politischen Fra,gen spricht, der redet als ein Mann des 19. Jahrhunderts, und nicht
leicht wird jemand in wenigen Worten seine <Jrundanschauung unseres gesamten
öffentlichen Lebens bestimmter andeuten können, als indem er uns seine Definition der
bürgerlichen Gesellschaft gibt 250 . Obwohl sich die „Naturgeschichte des Volkes" von
der Gesellschaftslehre als der Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft unterscheidet,
besteht ein kontinuierlicher Zusammenhang zwischen beiden. Arbeit, Besitz und
die daraus sich ergebende „Gesittung" verbinden das „Volk" zur bürgerlichen Ge-
sellsehaH. Reehtsbewußtsein und rechtliches „Gesittungsleben" konstituieren es als
„Staatsgesellschaft": Die bürgerliche Gesellschaft ist das Volk unter dem Gesichts-
punkt seines Gemeinlebens in Arbeit und Besitz und in der hieraus erwachsenden Ge-
sittung. Die Staatsgesellschaft dagegen ist das Volk unter dem Gesichtspunkte seines
Rechtsbewußtseins und Rechtswillens und des ganzen auf <Jrund dieser Rechtsgemein-
schaft entwickelten Gesittungslebens2s 1 •
Von hier aus bezieht sich Riehl noch einmal auf den „historischen Begriff" der Ge-
llollaohaft, indem er 'Staat' und 'bürgerliche Gesellschaft' terminologil!lch auf die
Epoche Jer Neuzeit einschränkt: Der Staat ist das organisierte Volk, oder auch:
die bürgerliche Gesellschaft ist das organisierte Volk; nicht aber: der Staat ist die
(rechtlich} organisierte bürgerliche Gesellschaft. Vom Staate de.~ M?:ttel,n}ür.~ könnten
wir allenfalls das letztere behaupten, aber doch nur aus dem paradoxen Grunde, weil
das Mittelalter den selbständigen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft noch gar nicht
besap2s2.
Daß der Staat die rechtlich organisierte Gesellschaft .sei, war der politische Grund-
satz der antiken Politik und des neuzeitlichen Naturrechts über das Verhältnis von
Staat und Gesellschaft. So kommt hier, bei der konservativen, der „historischen Ge-
sellschaft" zugeordneten Theorie von Riehl das gebrochene Verhältnis des 19. Jahr-
hunderts zur Sprache der geschichtlichen Tradition abschließend noch einmal zum
Ausdruck. Der Satz, daß allenfalls der „Staat des Mittelalters" mit der rechtlich
verfaßten Gesellschaft gleichgesetzt werden könnte, spricht selber eine Paradoxie
aus. Man kann diese historisch paradoxe These von der „fehlenden" bürgerlichen
Gesellschaft des Mittelalters wohl nur vergleichen mit dem Hegelschen Einwand
gegenüber dem neuen Naturrecht, das den Staat „nur" als bürgerliche Gesellschaft
habe begreifen können, und den ebenso aufschlußreich paradoxen Sätzen von Marx

Gesellschaft als 'historische Gesellschaft', deren Gegenbegriff die Sozialdemokratie bildet,


vgl. vor allem ebd., 184 f. 199. 282 ff. Daneben die Wendungen 'historischer Begriff der
Gesellschaft' (282) und 'historisch gegliederte Gesellschaft'.
250 Ders., Über den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. Vortrag in der öffentlichenSitzung

der kgl. Akademie d. Wiss. am 30. Mäi·z 1804 (München 1804).


261 Ebd., 3. Vgl. dort die Unterscheidung von Gesellschaftslehre und Volkskunde am Be-

griff der bürgerlichen Gesellschaft: Die bürgerliche Gesellschaft ist das ganze Volk; allein die
Staatsgesellschaft ist auch das ganze Volk, die Erwerbsgesellschaft nicht minder; folglich ist die
bürgerliche Gesellschaft nicht das Volk schlechthin, und Gesellschaftslehre und Volkskunde
sind zweierlei.
252 Ebd., 4.

790
VW. 2. Diagnose der konservativen Richtungen Gesellschaft, bürgerliche

und Engels, das Wort 'bürgerliche Gesellschaft' entstehe im 18. Jahrhundert mit
dem Aufkommen der Bourgeoisie, sei aber „indess" und „fortwährend" schon früher
verwendet worden.
Ein zweites bedeutendes Zeitdokument der fünfziger Jahre zum Begriff der bürger-
lichen Gesellschaft liegt in der 1857 erschienenen „Physiologie des Staates" von CoN-
STANTIN FRANTZ vor. Dieses Buch stellt insofern eine Parallele zu Riehls Programm
einer „Naturgeschichte des Volkes~' dar, als es gleichfalls die sozialen Veränderun-
gen des 19. Jahrhunderts in Naturanalogien einzufassen sucht. Freilich gehörte
Frantz - und darin unterscheidet er sich von Riehl - zu den schärfsten Kritikern
der Epoche zwischen 1848 und 1870. In seiner konservativen zeitkritischen Denkart
eher an Jacob Burckhardt gemahnend, registrierte er wie dieser mit seismographi-
scher Genauigkeit die große Revolution, die ßcit dem Ende dcß 18. Jahrhundcrtß
die alteuropäische Welt zunehmend verwandelt hatte.
Auch für Frantz bildet das Verhältnis von Staat und Gesellschaft den Ausgangs-
punkt seiner politischen Naturlehre. Obwohl Frantz mit Riehl den schillernden
Terminus 'Staatsgesellschaft', der seiner Entstehung und sprachlichen Unbestimmt-
heit nach in die Übergangszeit zwischen 1790 und 1820 fällt, noch verwendet," hat er
doch - im Unterschied zum .l!'rühliberalismus - 'Gesellschaft' als spezifisches
Phänomen der „Moderne" .zugeordnet und begriffen. Nach der für alle Parteien
negativen Bilanz von 1848/49 kommt es nach Frantz vor all~m darauf an, eine klare
Einsicht zu gewinnen in die Elemente der modernen Gesellschafe 253 • Diese Elemente
bestimmt das 1. Kapitel der „Physiologie des Staates", in dem es die moderne Ge-
sellschaft als eine spezifische „bürgerliche" begreift und, anders als das frühliberale
Vermittlungsdenken, die „Staatsgesellschaft" von ihr abgrenzt: Die bürgerliche
Gesellschaft besteht demnach aus den Beziehungen der einzelnen Individuen unter sich,
die Staatsgesellschafe hingegen aus den Wechselbeziehungen der einzelnen zu dem
Ganzen, oder deutlicher gesprochen, der Staatsbü~ger und den Staatsgewalten. Die erstere
erscheint als die vom Staate privatisierte, in der Konkurrenz der Individuen be-
ruhende Gesellschaft der Moderne, „bewirkt" durch technische Erfindungen und
Entdeckungen, die letztere manifestiert sich als „Staatsgewalt" und im Verhältnis
der „Staatsbürger" zu ihr: Die bürgerliche Gesellschafe, welche kurz gesagt das Privat-
leben umf<J.ßt, wird daher auch durch Privatkräfee entwickelt, und ihr FortschriU ist weit
weniger durch Akte der Staatsgewalt als vielmehr durch Erfindungen und Entdeckun-
uen und du,rch die allgemeine Attfklärung bewirkt 25 4.
Eine Erfindung am Nordpol reiche bis zum Südpol, der Ausfall der Baumwollernte
in den Vereinigten Staaten oder der Zuckerernte auf Kuba wirke selbst auf den
Zustand unserer W eberdistrikte zurück, kurzum: Welthandel und Weltmacht pro-
duzieren für Frantz im universellen Aust~usch der Waren die bürgerliche Gesell-
schaft als ein spezifisches Sozialgebilde der modernen Welt. Indem Warenproduktion
und -austausch über die ganze Erde hin ausgreifen, entsteht am Ende eine so weit-
re1:chende Verkettwng der fntp,re.~.~en und eine rwfohp, G1.eü:hart?:gke1:t der Lebens- und
Denkweise bei allen zivilisierten Völkern, daß die bürgerliche Gesetlschafe überall ein
gleiches Gepräge annimmt und in Eins ziisammenfiießt~ 55 •

253 CoNSTANTIN FRANTZ, Die Staatskran'kheit (Berlin 1852), 100.


2u Ders., Vorschule zur Physiologie der Staaten (Berlin 1857), 19 f.
255 Ebd., 20.

791
Gesellschaft, bürgerliche Vlß. 2. Diagnose der konservativen Richtungen

In ihrer Betitirnrnung weit über Hegel und Lorenz von Stein hina11Ref':h1mfl, nm-
schreibt Frantz die weltgeschichtliche Universalität der bürgerlfoh1m ctf':RP.llschaft
mit einer Metapher, in der zugleich der neue Begriff des 19. Jahrhunderts artikuliert
wird, wie ihn z. B. Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest" nachgezeich-
net hatten: Die bürgerliche Gesellschaft ist wie der Ozean, und die Staaten. sind die
Inseln, die sich daraus erheben, und während sich im Wasser alles neutralisiert, er-
halten sich die Unterschiede auf dem festen Lande 256 • Die weltgeschichtliche Signatur
der modernen bürgerlichen Gesellschaft schlägt hier in die Dimension des Mythos
um - des Mythos vom Leviathan, der jetzt vom Staat auf die Gesellschaft über-
tragen und von Konservativen wie Revolutionären gleichermaßen erzählt wird.
Daneb1m kennt Frantz freilich noch ein nichtmythisches Veranschaulichungsprinzip,
- die Figuren der Geometrie wie Ebene und Pyl'amide, ilie der Maßlosigkeit der
mythischen Größen Grenzen setzen und die Relation der bürgerlichen Gesellschaft
zum Staat wieder harmonisieren sollen. Die Ebene der bürgerlichen Gesellschaft „ ver-
läuft" sich insWeite, die Pyramide „konzentriert" sie in eine Spitze: Man kann sagen,
daß sich die bürgerliche Gesellschaft unter dem Bilde einer Ebene darstellt und der
Staat unter dem Bilde einer Pyramide; worwus hervorgeht, daß sich die bürgerliche
Gesellschaft ins Weite verläuft und die ihr nötige Konzentration nur durch den Staat
erhält 25 7. Und hier fällt nun das für einon Konoorv11tivcn cmtaunlich trockene Wort
vom Staat als einer Behörde für die bürgerliche Gesellschaft, ilie alle gesellschaft-
lichen Privatunternehmungen durch Gesetze reguliert und lediglich das allgemeine
Aufsichtsrecht ausübt 268 • Der enge Zusammenhang von pyramidaler Staatsspitim
und gesellschaftlicher Ebene bleibt da.bei trotz ihrer voneinander divergierenden
Richtungen bestehen; beruht er doch darin, daß die Ebene zugleich die Basis für
die Pyramide darstellt: Denn wenn der Staat zwar die Behörde der bürgerlichen Ge-
sellschaft ist, so zieht er andererseits seine Kräfte aus derselben, und will man sich den
Staat unter dem Bilde einer Pyramide vorstellen, so ist die Basis dieser Pyramide
nichts anderes als die bürgerliche Gesellschaft selbst 259 •
So wird die Untersuchung über das Verhältnis von Staat und bürgerliche Gesell-
schaft in der Tat für die politische Physiologie von der allerhöchsten Wichtigkeit 26 0.
Frantz wußte, welche entscheidende Rolle die Theorien der liberalen und sozialen
Revolution des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung zwischen Staat und
Gesellschaft spielten. Auch für ihn war der Antagonismus der modernen Revolution
mit der Problematik 1-for hiirgerlichen Gesellschaft und ihres Verhältnisses zum
„Staat" auf das Engste verbunden: Hier nur die Bemerkung, wie sich an diese Frage
der Streit zwischen Liberalismus und Kommunismus anschließt. Die liberale Partei
nämlich sucht die Tätigkeit der Staatsgewalt so viel als möglich einzuengen und die
Rechte der bürgerlichen Gesellschaft auszudehnen, während umgekehrt die Kommunisten
diese Kompetenz ins Grenzenlose erweitern wollen, so daß Ackerbau, Gewerbe und Han-
256 Ebd., 20 f.
257 Ebd., 21.
25 ~ Der Swat treibt weder Ackerbau rwch Handel, aber er gibt die Gesetze, welche Ackerbau

und Handel bedürfen, und er unterhält alle die Answlten, welche zum Schutz oder zur Unter-
stützung der Privattätigkeit dienen. Er übt zugleich ein allgemeines Aufsichtsrecht und kann
mit einem Wort als die Behörde der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet werden, ebd., 21.
m Ebd., 22 f.
260 Vgl. ebd., 23.

792
VIII. 3. Übergang vom Libel'alismus zum Nationalliheralismus Gesellschaft, bürgerliche

del wn Stuutsweyen betr·ieben, wnd allt I'r·i·vat·ind-ustri~ aufhören soll?.Rl. Im Interesse


einer vernünftigen Auflösung der so beschriebenen Antinomie komme es darauf an,
den Staat nicht in der bürgerlichen Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft nicht
im Staat aufgehen zu lassen. Dieser Weg - der Weg zum Sozialstaat im Sinne der
sozialen Demokratie - war in der politisch-historischen Krise der modernen Welt
noch offen und mußte früher oder später begangen werden, es sei denn, die bürger-
liche Gesellschaft, in der nach Frantz Intelligenz- und Kapitalkraft zur Herrschaft
gekommen sind, schloß sich ab zur Klassenordnung.

3. Der 'Obergang vom Liberalismus zum Nationalliberalismus:


Heinrich von Treitsehke

Die Umdeutung des Begriffs in diesem Sinne, die direkte, über die frühliberalen
Ansätze weit hinausreichende Verhärtung und Abschließung seiner sprachlichen
Darstellungsmöglichkeiten setzt in Deutschland erst nach 1871 ein. Damit wird die
Kritik des Frühsozialismus an der „Bourgeoisgesellschaft", exemplarisch entwickelt
am Frankreich der dreißiger Jahre und von dort auf die deutschen Verhältnisse im
Vormärz übertragen, von der liberalen Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft im
n11.nh hinein RprnnhpolitiRnh anerlrnnnt. 1848 nor.h wflithin an ihrfl 11ittlich-rechtlichen
Daseinsbedingungen gebunden, verhärtet sie sich erst nach der Reichsgründung zur
Herrschafts- und Klassenordnung. Diesen Übergang formuliert als Wortführer des
nationalliberalen Bürgertums HEINRWH VON TR.t<:I'l'SCHK.b]. Im Unterschieu zu Jen
„progres11ivfln" 'l'hflorfltikflrn OflR biirgerlichen Liberalismus wie Robert von Mohl,
Lorenz von Stein und später Rudolf Gneist, interpretiert Treitschke die Trennung
zwischen Staat und Gesellschaft nicht als eine „kritische Grenzbereinigung", son-
dern als Verkehrung der Fundamflntfl der politümhen Philosophie, die es gegen den
Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft zur „sozialen Demokratie" und des politischen
Staats zum „Sozialstaat" wieder zu rehabilitieren gilt 262 •
Der historische Standort dieser frühen, 1859 publizierten Kritik an eiri.em mittleren
Weg, den die liberalen Wortführer des Bürgertums noch kaum abgesteckt, ge-
schweige denn begangen hatten, ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Treitschke
kann einmal - und darin ist er durchaus im Recht - nachweisen, daß die Gesell-
schaftswissenschaft und Sozialpolitik der fünfziger Jahre einen einheitlichen Gesell-
schaftsbegriff nicht aufzustellen vermochte. Der Nachweis selber aber wird nicht
von den gesellschaftlichen Tatbeständen der modernen industriellen Welt her ge-
führt, sondern umgekehrt im Rückgriff auf die alte Identität von Staat und Gesell-
schaft. Das hat zur Folge, daß nunmehr wieder die alte bürgerliche Gesellschaft als
der geforderte einheitliche Begriff aufgewertet und - wie sich sehr bald erweisen
sollte - in der Aufwertung ideolcigisch verwandelt wird. Für Treitschke ist die Ge-
sellschaftswissenschaft („Soziologie") eine neue Wissenschaft ohne feste Bestim-
mungen, und das heißt: sie ist keine Wissenschaft. Ihren Gegenstand könne sie nur

·261Ebd. Die einen wollten, wie Frantz an dieser Stelle fortfährt;, den Staat in die bürgerliche
Gesellschaft, die anderen die bürgerliche Gesellschaft in den Staat auflösen, wobei beide den
naturnotwendigen Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft verkennen würden.
969 H.1.a.N1t1Uli v. T1tEl'l'SüHKE, Die Get!efü1diafLswisse.usuhafL. Ei.u k.riLischel' Versuch, 1.
(und einzige) .Aufl. (Leipzig 1859), zit. nach d. Ndr., hg. v. Erich Rothacker (Halle 1927).

793
Gesellschaft, bürgerliche VDI. 3. Übergang vom Liberalismus zum Nationalliberalismus

deshalb nicht angeben, weil sie aus dem vormals „einheitlich" gegliederten Gesell-
schafts- und Staatsverband einzelne Bestandteile herausgelöst und sich selber an
die Stelle einer sehr alten Wissenschaft, nämlich der Politik, gesetzt habe. Deren
Terminologie und methodischen Aufbau versucht Treitschke gegen die modernen
Sozialtheorien und. ihre historische Voraussetzung, die Differenz von Staat und
Gesellschaft, auszuspielen. Wie das „Gebiet der Staatswissenschaft" Staat und
Gesellschaft in einem umfaßt, so ist ihm die Wissenschaft vom Staat zugleich
Wissenschaft von der Gesellschaft, Politik im klassischen Sinne. Obwohl Treitschke
dabei sehr genau weiß, daß im Unterschied zur politischen Lebensweise der antiken
Bürgergesellschaft in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die „soziale" (seil.
„private") vorherrscht, ist er nicht bereit, die Umdeutung der Politik zur Sozial-
politik als historisch berechtigt anzuerkennen. Das soziale Leben ist zusammen-
genommen viel reicher als das politische, aber es entbehrt der Einheit. Die soziale
Politik ist überP,üssig, weil die ganze Staatswissenschaft sozial-politisch ist 263 . In
diesem Sinne fordert Treitschke eine Politik auf breiter Grundlage und als inhalts-
volle, wirkliche Wissenschaft 264.
An dieser Stelle muß nun freilich gefragt werden, inwieweit eine solche Wiederholung
der alten Politik nach dem geschichtlichen Traditionsbruch am Beginn des 19 .•fahr-
hunderts überhaupt noch möglich war 2 65 • Kann man, wie Treitschke es tut, um
1860 das Wechselspiel von Regierenden und Regierten noch als Mittelpunkt der
modernen Staatswissenschaft und-im ausdrücklichen Gegensatz zur Gesellschafts-
wissenschaft - die Politik ali;i ihre „Hauptdisziplin" ansehen 1266 Und was bedeutet
schon die antikisierende Parallele von Haus- und Staatsregierung26 7 in einer Zeit,
die mit ihren industriellen und sozialen Umwandlungen diese Paradigmen des klas-
sischen Liberalismus längst überholt hatte oder doch zu überholen im Begriff war,
wenn sie mehr als bloße Bildungsreminiszenz sein wollte 1 Gleichwohl hat sich
Treitschke nicht gescheut, in diesem Zusammenhang auch den Terminus 'bürger-
lichen Gesellschaft' in traditionell-politischer Verwendung zu erneuern. Im Mittel-
punkt der von ihm als „Oppositionswissenschaft" gegen die Soziologie verstandenen
Politik steht wieder - zum letzten Male - die Auflassung des Staats als der ein-
heitlich geordneten bürgerlichen Gesellschaft, die Untrennbarkeit von Staat und Gesell-
schaft268. Weil für Treitschke der einheitliche Begriff der Gesellschaft immer schon
die politische Verfassung voraussetzt, ist es nach dem terminologischen Selbst-
verständnis der Theorie der Politik nur gereclitferl'igl, 'Von der bürgerlichen Gesellschaft
eines Staates zu reden269.

263 Ebd., 61. 81.


264 Ebd., 79.
265 Vgl. ebd., 59: Die Auffassung 'des Staates als eines Aggregates atomistischer einzelner ist

Uingst, ohne diese Lehre, antiquiert und war wohi nie aUgemein anerkannt: Aristoteies und
Bodin wissen so wenig davon wie die Praxis des englischen Staatsrechts.
266 Vgl. ebd., 61. 80.
267 Ebd., 51: W eii unser Voik ein gebildetes und doch kein unnatürUches Leben führt,

sorgt es ganz von seibst dafür, daß der Staat sich der Natur nicht entfremdet, daß in der weit
überwiegenden Mehrzahi nur gereifte Männer, Männer, die auch im Hause regieren, seine
Zügd fonken. 83.
aoa Ebd., 71.
269 Ebd., 68.

794
Vill. 3. tThergang vom Liberalismus zum Nationalliberalismus Gesellschaft, ~ürgerliche

Aber in diesem Satze eine bloße Wiederaufnahme des klassischen Grundsatzes der
politischen Philosophie zu sehen, deren traditionell-sprachliches, auf der Einheit
von Staat und Gesellschaft basierendes Bezugssystem einen allgemeinen Begriff von
bürgerlicher Gesellschaft im Sinne des 19. Jahrhunderts ausschloß, hieße über der
formalen Rezeption der Begriffe die geschichtlich mehrdeutigen Positionen von
Treitschke unterbestimmen. Denn nicht die - wenn man so will - „Gesellschafts-
muster" von Antike und früher Neuzeit und ihre Artikulierung im traditionell-
sprachlichen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Staatsidee der
Moderne wird für Treitschkes politische Terminologie maßgebend. Ihre Semantik
bestimmt sich durch ein Bezugssystem, das von Machiavelli und Hobbes und mehr
noch von rler Machtstaatsideologie des deutsch-nationalen Bürgertums strukturiert
ist. In der Definition des Staates- als Gesellschaft überwiegt die Organisation der
letzteren durch den Staat: Der Staat ist die einheitlich organisierte Gesellschaft ...
Der Staat ist die Gesellschaft in ihrer eigentlichen Organisation ... die organisierte Ge-
sellschaft ... die geordnete Gesellschaft 270 • Diese „politische" Definition des Staates als
der einheitlich geordneten bürgerlichen Gesellschaft mit seiner national-liberalen Position
verbindend, nimmt Treitschke am Schluß seiner Kritik an der von den Erfahrungen
der Jahre 1848/49 geprägten „Gesellschaftswissenschaft" dasjenige politische Ereig-
nis vorweg, das ein knappes Jahrzehnt später der deutschen Gesellschaft ihren
Staat geben sollte: die Reichsgründung von 1871. Die Berufung der Politik auf
die Geschichte ihrer Tradition verbindet sich mit den nationalen Erwartungen
des deutschen Bürgertums von 1859, die Sehnsucht des Liberalen nach den eng-
lischen Zuständen mit dem Vertrauen des Konservativen auf den Gang der Historie:
Warum, wenn wir zurückblicken auf die Geschichte aller großen Völker, sollen wir
nicht hellen A ttges in unsere eigene Zukunft schauen und die Notwendigkeit begreifen,
daß einst, wie in Eng"land schon heute Staat und Gesellschaft zusammen/allen, auch
der deutsche Staat sein wird - was seine Bestimmung ist - die einheitlich geordnete
deutsche Gesellschaft? 271
Mit dem „deutschen Staat" von 1871 war freilich noch nicht, wie Treitschke und
das national-liberale Bürgertum erhofft hatten, das Problem der GesellSchaft und
ihrer Krise gelöst. Zwar vermochte dieser Staat die Gesellschaft- um mit Treitschke
zu reden - einheitlich zu ordnen und das Bürgertum mit dem Nationalstaat weit-
hin zu versöhnen, nicht aber ihre eigene „soziale" Desorganisation zu entschärfen
und den „Sozialstaat" der Zukunft in der Gegenwart aufzubauen. Die geschichtlich
bedeutend gewordenen Ansätze der Bismarckschen Sozialgesetzgebung geschahen
sehr viel später und standen, so vorbildlich für ihre Zeit und praktisch wirksam sie
auch waren, immer unter dem politischen Vorzeichen des gleichzeitigen Kampfes
gegen die Sozialdemokratie. Unmittelbar nach 1870/71 waren sich wohl nur
wenige Teile des deutschen Bürgertums darüber im klaren, daß die nationale
Einigung noch nicht den geschichtlich notwendigen Ausgleich zwischen Staat
und Gesellschaft gebracht hatte. Die „soziale Frage" blieb weiterhin ein offenes
Problem.
In diese Richtung wies der Vortrag von GusTAv ScHMOLLER „Die sociale Frage

210 Ebd., 73. 68. 81. 83.


271 Ebd., 83.

795
Gesellschaft, bürgerliche VIII. 3. Übergang vom Liberalismus zum Nationalliberalismus

und der preußische Staat" (1874) 272 , auf den Treitschke mit zwei Aufsätzen unter
dem Titel „Der Socialismus und seine Gönner" antwortete, deren erster den Titel
trägt: „Die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft" 273 • ·
Während die Kritik an der Gesellschaftswissenschaft in der Anknüpfung an die
Tradition relativ „unideologisch" blieb, sollte die Polemik gegen die Weiterführung
der Ideen der „Sozialpolitik" nach 1871 geschichtlich weit folgenreicher werden'.
Denn jetzt verteidigt Treitschke nicht nur einen philosophisch verstandenen Staats-
begriff gegen die" neue Gesellschaftslehre, sondern mit dem Bau des Hohenzollern-
staates den nationalstaatlichen Kompromiß des Bürgertums gegenüber der anwach-
senden sozialen Macht der deutschen Sozialdemokratie 274 • Die Anknüpfung an
ältere politische Redeweisen verbindet sich mit der offenen Verteidigung der Grund-
sätze des Manchesterliberalismus.
Die „bürgerliche" Gesellschaft verwandelt sich zur „Klassenordnung", ihre Grund-
lagen werden Besitz und Bildung genannt, die Redefiguren erweisen sich als leere
Worte, die beliebig manipulierbar sind, kurzum: die Tradition schlägt um in Ideolo-
gie für das nationalliberale Bürgertum: Die bürgerliche Gesellschaft ist der I nbegritf der
Verhältnisse gegenseitiger Abliäng·igkeü, welche mü der natürlichen Ungleichheit der
Menschen, mit der Verteilung von Besitz und Bildung gegeben sind und durch den
Verkehr in einem unendlichen Werden sich täglich neu gestalten 275 • Treitschke wird
nicht müde, diesen Grundsatz ständig zu wiederholen, zu variieren und der moder-
nen Gesellschaftsidee entgegenzuhalten: Diesen Grundsatz also halten wir fest, bevor
wir die Begehren der Socialdemokratie im einzelnen betrachten: die bürgerliche Gesell-
schaft eines gesitteten Volkes i.~t eine natürliche Aristokratie, sie kann und darf die
höchsten Arbeiten und Genüsse der Oultur nur einer Minderzahl gewähren 276 • Auch
wenn Treitschke selber der Meinung war, die vorliegenden Aufsätze enthielten nur
eine „schärfere Durchbildung" einer Reihe von Gedanken, die schon die Kritik an
der Gesellschaftswissenschaft angedeutet habe 277 , so kann doch kein Zweifel daran
bestehen, daß seine Ideologisierung der Begriffe mit der Gegnerschaft zur Sozial-
demokratie und mit der Apologie des „politischen Staates" von 1871 in Verbindung
steht. Die Begriffe 'Gesellschaft' und 'Gliederung', 'Gesellschaft' und 'Klassenord-
nung' - 1859 noch nicht nebeneinander genannt - wurden ihm nunmehr gleich-
bedeutend. Und während einst das Problem der Wechselwirkung zwischen Staat
272 GusTAV ScHMOLLER, Die sociale Frage und der preußische Staat, Preuß. Jbb. 33 (1874),

323 JI.
273 Vgl. die Eingangssätze in dem genannten Brief an Schmoller. Die beiden Aufsätze er-

schienen noch einmal in der Aufsatzsa.mmlung TREITSCHKES ,.,lOJahre deutscher Kämpfe"


(Berlin 1874).' Nachdem ScHMOLLER die Ansichten des Vereins für Sozialpolitik mit einem
offenen Sendschreiben „Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft"
(Jena 1875) verteidigt hatte, schrieb Treitschke eine dritte Entgegnung und ließ sie 1875
zusammen Init den zwei vorangegangenen Aufsätzen u. d. T.: Der Socialismus und seine
Gönner. Nebst einem Sendschreiben an Gustav Schmoller (Berlin 1875) veröffentlichen.
Wir zitieren nach dieser Ausgabe.
274 Daß der Vortrag des bürgerlichen Sozialpolitikers Schmoller in einem sozialdemokra-

tischen Blatt nachgedruckt und Init lebhaftem Beifall bedacht werden konnte, hatte
Treitschke aufmerksam notiert, TREITSCHKE, Der Socialismus. 104 ff.
275 Ebd., 9.

276 Ebd., 45.

277 Vgl. ebd., 103.

796
VIII. 3. Übergang vom Liberalismus zum Nationalliberalismus Gesellschaft, bürgerliche

und Gesellschaft im Vordergrund stand, heißt es 1874: Auf der notwendigen Gliede-
rung der Gesellschaft ruht überall die Ordnung des Staates. Besitz, Bildung und, was
damit nahe zusammenhängt, die Erfüllung der schweren Staatspfiichten sind überall
die anerkannten Rechtstitel der politischen Macht 278 • Die Konzeption der Sozialpolitik
eines Riehl und Mohl wurde zwar auch 1959 mitheftigen Worten abgelehnt, aber doch
nicht mit dem gleichen giftigen Hohne übergossen wie die „Sozialdemokratie", von
derTreitschke sagt, sie bekenne schon durch ihren Namen, daß sie den Unsinn will 279 •
Als wohl wichtigster Unterschied bleibt schließlich festzuhalten, daß der Rückgriff
auf die Tradition der Politik im Jahre 1859 zu der Auffassung des Staats als der
einheitlich geordneten bürgerlichen Gesellschaft führte, während jetzt die bürger-
liche Gesellschaft allein noch auf den Begriff der Klassenordnung bezogen wird,
indem Treitschke die generelle . These vertritt, daß jede denkbare Verfassung der
bürgerlichen Gesellschaft eine Klassenordnung ist, und alle die socialen Reformpläne,
welche die Gliederung der Gesellschaft aufzuheben suchen, unausführbar bleiben 280 •
In diesem Zusammenhang fallen nun die harten Worte über die Maschinensklaven,
über die „Masse" derer, die ackern, schmieden und hobeln müssen, damit einige
Tausende forschen, malen und regieren können 281 • Hier wurde Treitschke selbst von
vielen seiner alten liberalen Freunde nicht mehr verstanden. In den Bildungs-
schichten des Bürgertums fühlte man sich an „feudale Hintergedanken" erinnert,
wenn Treitschke von der „natürlichen Aristokratie" der bürgerlichen Gesellschaft
sprach 282 • Es darf aber nicht übersehen werden, daß er damit nicht unbedingt in
Widerspruch mit seinen früheren, altliberalen Vorstellungen stand. Die „aristokra-
tische" Gliederung der bürgerlichen GeRP.llEmhaft, die er seit der Einführung des
allgemeinen Stimmrechts durch Bismarck nicht mehr politisch. gewährt sah, wollte
er wenigstens sozial, d. h. in ihrem Klassenaufbau, erhalten wissen. Daher die Hef-
tigkeit der Polemik gegen die Sozialdemokraten und die bürgerlichen Sozial-
politiker, welche diese - nunmehr rein „sozial" gewordene - Gliederung der
bürgerlichen Gesellschaft theoretisch und praktisch bedrohen; daher aber auch die
Kritik an Bismarcks Einführung des allgemeinen Stimmrechts 283 . Das allgemeine
Stimmrecht, welches Treitschke eines der wahrhaft verhängnisvollen Mißgriffe der
deutschen Politik nennt, sei nicht, wie die Sozialpolitiker argumentierten, ein Macht-
mittel des Staats gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, sondern umgekehrt
ein Zeichen der Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft und in ~einer Wirkung
gleichbedeutend mit der politischen Entsittlichi1ng des H a11,fen.~ 284 .

218 Ebd., 118; ähnlich 119.


279 Ebd., 18.
280 Ebd., 106.
281 Vgl. ebd., 17 ff. Vgl. den damit im Zusammenhang stehenden Satz ebd., 23: Es ist

keineswegs die Aufgabe der Gesellschaft, alle Menschen zum Genuß aller Güter der Oultur
heranzuziehen.
282 Vgl. ebd., 107 und den Hinweis auf die Kaiserrede über den aristokratischen Geist über-

lieferter Standesehre: Es war die Sprache eines guten und großen Fürsten, der die sittlichen
Grundlagen der bürgerlichen Gemeinschaft kennt, ebd., 23.
283 Ebd., 43.
284 Ebd., 43 f. Vgl. ebd., 45 den Schluß auf den Grundsatz der bürgerlichen Gesellschaft als

der natürlichen .Aristokratie, nach der vorangegangenen These, das allgemeine Stimmrecht
sei in diesem Sfaate der edlen Bildung die organisierte Zuchtlosigkeit, die anerkannte Über-

797
Gesellschaft, bilrgerliche IX. Ausblick

In seinen späteren Vorlesungen über Politik285, in denen die wesentlichsten Ge-


danken der kritischen Erstlingsschrift breit entwickelt un,d fast alle polemischen
Sätze aus den Streitschriften in gedrungener Form wiederzufinden sind, greift
Treitschke auch systematisch auf den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft zurück,
um den Vorrang der politischen Verfassung des Staats vor den Ansprüchen der
„Gesellschaft" zu begründen 286 • Gleichwohl kann Treitschke die bürgerliche Ge-
sellschaft nur noch als das ganze Gefiecht gegenseitiger Abhängigkeit betrachten, an
dem deutlich werde, daß alle Gesellschaft von Natur eine Aristokratie biklet. Während
der junge Treitschke in der versuchten Wiederholung der aristotelischen Tradition
den Staat in das Wechselspielverhältnis von Regierenden und Regierten einfaßte,
ist es nunmehr der Unterschied von Obri,gkeit und Untertan, der mit dem Staat ge-
geben sei. Und in Analogie zum „politischen" Staat als Obrigkeitsstaat wird auch
hier die bürgerliche Gesellschaft als ,gegebene" Klassenordnung ausgezeichnet:
mit dem Wesen der Gesellschaft sei ein für allemal gegeben die Verschiedenheit der
Lebenslage und Lebensbedingungen ihrer Glieder. Um es kurz zu sagen: alle bürgerliche
Gesellschaft ist Klassenordnung2s7.

IX. Ausblick·
Damit war in der für das Deutschland des späten 19. Jahrhunderts charakteristi-
schen Zusammensetzung von Bildungstradition, Altliberalismus und konservativem
Staatsdenken der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft zum letzten Male umfassend
aufgewertet und politisch aktualisiert worden. Die bürgerliche Gesellschaft der
Wilhelminischen .Ära konnte und wollte sich gewiß nicht als „Bourgeoisgesellschaft"
im polemisch-ideologischen Sinne der Sozialdemokratie bzw. der französischen
Sozialtheoretiker vor 1850 verstehen, aber sie vermochte ebensowenig zu dem un-
ideologischen Sinn des älteren Begriffs - und sei es auch nur in seiner frühliberalen
Gestalt - zurückzukehren. Insofern bringt die Umdeutung des der traditionell-
politischen Bildungssprache entnommenen Terminus zur „Klassenordnung" die
geschichtliche Situation der deutschen Gesellschaft innerhalb des Staates von 1871
und den Wandel der sprachlichen Bezugssysteme prägnant zum Ausdruck. Und im
Sinne der „Klassenordnung" des Bismarckstaates ist der Begriff in der Epoche bis
HH 4 von der überwiegenden Mehrheit des nationalliberalen deutschen Bürgertums
aufgenommen und verwendet worden.
Dem kommt die Verengung von systematischem Bezugsrahmen und begriffshistori-
scher Perspektive des Sprachgebrauchs in der deutschen Sozialdemokratie entgegen,
deren Wortführer - im Unterschied zu der von Marx und Engels geübten termino-
logischen Differenzierung - die bürgerliche Gesellschaft global mit der kapitalisti-

hebung des souveränen Unverstand!38, die Überhebung des Sok/,aten gegen den Offizier, des Ge-
sellen gegen den Meister, des Arbeiters gegen den Unternehmer.
285 Treitschke hatte sie in Freiburg 1864/65 ein weiteres Mal und dann nur noch einmal

in Heidelberg gehalten. Vgl. dazu das Vorwort von Max Cornicelius zur 1. Auflage der von
ihm edierten Vorlesungen.
286 Vgl. dazu vor allem TREITSCHKE, Politik, hg. v. Max Cornicelius, 3. Aufl„ Bd. 1 (Leipzig

1913), 202 ff.: Die socialen Grundlagen des Staates.


287 Vgl. clazu den Abschnitt über die bürgerliche Gesellschaft ebd„ 49 f. sowie das Thema

Staat und Gesellschaft ebd„ 55 ff.

798
IX. Ausblick Gesellschaft, bürgerliche

sehen gleichsetzen 288 . Auf dem Boden des Bismarckreiches und seines Klassen-
antagonismus hat der Satz von LASSALLE, daß der Arbeiterstand nur ein Stand
.unter den mehreren Ständen sei, welche die bürgerliche Gesellschaft zusammensetzen 289 ,
seine Geltung verloren. Während Lassalle mit Friedrich Albert Lange und den
„Sozial-Politikern" der sechziger und siebziger Jahre an eine Aufhebung der
bürgerlichen Gesellschaft im „Staat", d. h. im „Sozial-" und „Volks-Staat" der
Zukunft glaubte, und während auf der anderen Seite RuDOLF VON GNEIST die
soziale Krise der Zeit durch den „Rechts-Staat" zu überwinden hoffte, der statt
des Dualismus die Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zum Inhalt
haben sollte 290, treten in der Wilhelminischen Ära die sprachlichen Konzepte beider
. Parteien, der sozialen Realität der bürgerlichen Gesellschaft als Klassenordnung
entsprechend, in zunehmendem Maße auseinander. Eine Vermittlung der Konzeption
des „Rechts-Staats" mit dem „Sozial-Staat", die in den sechziger Jahren möglich
schien und in der Logik der geschichtlichen Emanzipation der modernen Bürger-
und Arbeiterklasse gelegen hätte, findet nicht statt. Der Staat der bürgerlichen Ge-
sellschaft war inzwischen -wie das die Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie,
aber auch Lenin richtig erkannten291 - zum „bürgerlichen Staat" geworden, der
erst nach den Erschütterungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges und den sich
daran anschließenden sozialen Revolutionen in den Bildungsprozeß der europäischen
Emanzipationsbewegung wieder eintrat.
So zeigt sich am Begriff der bürgerlichen Gesellschaft in exemplarischer Weise, was
seit dem frühen 19. Jahrhundert die Signatur der politischen Sprache im ganzen
bestimmt. Die Mehr- und Vieldeutigkeit des Wortgebrauchs kennzeichnet jetzt nicht
mehr nur den Stf!,tus der Umgangssprache, sondern setzt sich fort in der wissenschaft-
lichen (oder sich wissenschaftlich drapierenden) Terminologie, die sie doch aufzu-
heben berufen ist. Aus dieser Lage hat Max Weber die Konsequenz gezogen, auf eine
Anwendung des Terminus 'bürgerliche Gesellschaft' im methodischen Aufbau der
Sozialwissenschaften und zur Erklärung sozialhistorischer Tatbestände ganz zu
verzichten. Das heißt aber nicht, daß mit der von Weber vollzogenen Formalisierung
der sozioökonomischen Terminologie, die sich im gegenwärtigen Funktionalismus der
Systemtheorie noch beträchtlich gesteigert hat, auch die inhaltliche Problematik
aufgelöst worden wäre, die sich mit dem Begriff und seiner Geschichte verbindet.
Gerade weil sie mit Weber einen Abschluß erreicht und die faktische Abschließung
der heute bestehenden „bürgerlichen" und „sozialistischen" Gesellschaften von
ihrer „Vorgeschichte" zu politischen Aporien (u. a. denen des Faschismus und
Stalinismus) geführt hat, ist der rückläufige, auf historische und sprachliche Unter-
scheidungen bedachte Diskurs der Begriffsgeschichte nötig, da ohne sie eine Diagnose
der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation im Spannungsfeld von Vergangenheit
und Zukunft unvollständig und in vieler Hinsicht unzureichend bleiben müßte. Die
Kritik der bürgerlichen Gesellschaft durch Marx und den Marxismus hat die Mängel
der liberalen Sozialkonzeption autonomer Individuen, die nach dem Schema eines
Vertrags einander koordiniert und als Subjekte einer Rechtsordnung definiert sind,

288 Vgl. z. B. AuausT BEBEL, Die Frau und der Sozialismus, 45. Aufl. (Stuttgart 1919), 5.
289 FERDINAND LASSALLE, Arbeiter-Programm (1862), Ges. Red. u. Sehr., Bd. 2 (1919), 148.
290 RuDOLJ! v. G.Nl!l18'1', Der Reeht~~LaaL, 2. Auil. (Berlin 1879), 8 ff.
291 Vgl. u. a. LENIN, Staat und Revolution, 1. dt. Übers. (Berlin 1919), 15. 83.

799
Gesellschaft, bürgerliche IX. Ausblick

scharfsinnig aufgedeckt. Aber sie hat mit den Mängeln zugleich den Vorzug des
bürgerlich-liberalen Konzepts preisgegeben, ein Normensystem zur Sicherung
individueller Freiheitsrechte und zur Unterscheidung und Beurteilung materiell-
gesellschaftlicher Lebensverhältnisse zu enthalten. Wie die Geschichte der bürger-
lichen Gesellschaft bis in die antike Welt zurückreicht und nicht erst mit der
Emanzipation des neuzeitlichen Stadtbürgertums beginnt, so stellt dieser Termi-
nus einen Begriff dar, der nicht nur historisch gegebene Gesellschaftszustände
beschreibt, sondern Normen (wie z.B. das „Recht" oder auch die „Freiheit")
vorschreibt, die in solchen Zuständen zu realisieren sind. Die normative Funktion
tritt freilich in der Geschichte des Begriffs erst relativ spät (seit Kant) klar zutage,
um dann - mit d!lr Rfäi.lisierung der Grundrechte im „bürgerlichen" Verfassungs-
staat - wieder hinter den faktischen Handlungszusammenhängen der modernen
Wirtschafts- und Erwerbsgesellschaft zu verschwinden. So kommt es dazu, daß
mit der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx das liberale Vertragsschema
der Koordination autonomer Individuen durch das Assoziationsschema einer sich
als „nichtbürgerlich" begreifenden Gesellschaft abgelöst wird, nach dessen Anspruch
die „freie Entwicklung eines jeden die Iledingung für die freie Entwicklung aller" ist.
Die Aporie jener Formel besteht darin, daß sie den Anspruch des liberalen Konzepts
aufnimmt und die Emanzipationsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft zu Ende
schreibt, ohne das Normensystem der „autonomen" mit dem der „assoziierten"
Individuen zu vermitteln.
Wie diese Aporien der beiden miteinander konkurrierenden Sozialmodelle in einer
Theorie der modernen („nachbürgerlichen" und doch unvermeidlicherweise „staats-
bürgerlichen") Gesellschaft und der zu ihr gehörigen „politischen" Verfassung auf-
zulösen wären, vermag die Begriffsgeschichte nicht zu zeigen. Aber sie kann die
Problematik des Ansatzes einer solchen Theorie, ihre Genese und ihre Ausgangs-
situation entwickeln und in der rückläufigen Bewegung des historisch-begrifflichen
Diskurses als Regulativ eines kritischen Wort- und Geschichtsverständnisses dienen.

Literatur
ERICH ANGERMANN, Das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft im Denken des
18. ,Jahrhunderts, Zs. f. Politik NF 10 (1963), 89 ff.; ÜTTO BRUNNER, Neue Woge der
Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1968); KURT NEU, Zur Entwicklung
der Gesellschaftsvorstellung von Grotius bis Rousseau (phil. !>iss. .Berlin 1922); PAUL J o-
ACHIMSEN, Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedankens, Die Dioskuren 1
(1922); HANS MEDICK, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft
(Göttingen 1972); MANFRED RIEDEL, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie (Frankfurt
1969); ders., Bürgerliche Gesellschaft und Staat. Grundproblem und Struktur der Hegel-
schen Rechtsphilosophie (Neuwied, Berlin 1970); JOACHIM RITTER, Das bürgerliche Leben.
Zur aristotelischen Theorie des Glücks, Vjschr. f. wiss. Pädagogik 32 (1956), 60 ff.; ders.,
Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel (Frankfurt 1969); RUDOLF
ScHWENGER, Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft bei Kant und Fichte (phil. Diss.
Bonn 1929); GERHARD SCHULZ, Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ent-
stehung und Wandel der modernen Gesellschaft, Fschr. Hans Rosenberg, hg. v. GERHARD
A. RITTER (Berlin 1970), 3 ff.; ADALBERT v. UNRUH, Dogmenhistorische Untersuchung
über den Gegensatz von Staat und Gesellschaft vor Hegel (Leipzig 1928).

MANFRED RIEDEL

800
Gesellschaft, Gemeinschaft

I. Einleitung: Wort- und Begriffsbestimmungen. II. Traditionelle Gesellsohaftstheorie.


1. Sozialphilosophische Begriffsbildung bei Aristoteles. 2. Terminologischer Wandel in der
spätantiken und christlich-mittelalterlichen Sozialphilosophie. 3. Sprachliche Vielfalt und
synonyme Bezeichnungen des frühneuzeitlichen Gesellschaftsbegriffs. 4. Naturrecht und
Gesellschaft. III. Das Sozialideal der Aufklärung: Gemeinschaft als vollkommene Gesell-
schaft. 1. Gesellschaft und Herrschaft bei Christian Wol.ff. 2. Sprachpolitik irr Jurisprudenz
und praktischer Gesetzeskodifikation. 3. Sprachliche Standards in Wörterbüchern und En-
zyklopädien. 4. Geselligkeitstheorie und Popularphilosophie. 5. 'Gesellschaft' und 'Ge-
meinschaft' in der klassischen Literatursprache. 6. Kritik der traditionellen Gesellschafts-
theorie: Kant und der junge Fichte. IV. Romantisch-restaurative und bürgerlich-liberale
Sprachregressionen. 1. Soz~alphilosophie als Sozialromantik. 2. 'Gemeinschaft' und 'Ge-
sellschaft': zur Genese der begrifflichen Unterscheidung. 3. Der bürgerlich-liberale Gesell-
schaftsbegriff. 4. Die Unterscheidung zwischen 'Staat' und 'Gesellschaft': Hegel und der
Übergang zur kritischen Gesellschaftstheorie. V. Kritische Gesellschaftstheorie. 1. Um-
wertung des Gesellschaftsbegriffs: „Gesellschaftswissenschaft" und soziale Bewegung im
19. Jahrhundert. 2. 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' in der deutschen Schule der Gesell-
schaftswissenschaft (Lorenz von Stein). 3. Gesellschaft und Staat in der bürgerlichen
Rechtsstaatstheorie. 4. 'Gemeinwesen', 'Gesellschaft', 'Staat': der Gesellschaftsbegriff des
Historischen Materialismus. 5. Synkretismus und Sprachanarchie in Philosophie und Wis-
senschaft (Historiographie, Jurisprudenz, Staatslehre). VI. Begriffsgeschichte, Geschichts-
philosophie und Ideologiebildung. 1. Kritik der „reinen Soziologie" (Ferdinand Tönnies).
2. Gesellschaft und Gemeinschaft als soziologische und geschichtsphilosophische Unter-
scheidung. VII. Ausblick.

1. Einleitung:

Wort- und Begriffsbestimmungen

'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' sind Grundtermini der Soziologie, Sozial- und Ge-
schichtsphilosophie, die als Gegenbegriffe zusammen mit dem Gegensatzpaar 'Staat'
- 'Gesellschaft' in der sozialrevolutionären Situation des 19. und frühen 20. Jahr-
hunderts, insbesondere Deutschlands, eine zentrale sprach- und ideenpolitische
Rolle gespielt haben. 'Gesellschaft', etymologisch verwandt mit ahd. 'sal' („Raum"),
'selida' („Wohnung"), 'gisellio', mhd. 'geselle' („Saal- und Hausgenosse"), davon
abgeleitet mhd. 'gesellec' („zugestellt, verbunden")· und 'gesellen' („vereinigen,
verbinden"), bezeichnet allgemein eine durch Rede (Sprache) und Handlung be-
wirkte V er bind ung zwischen Menschen, die Gesamtheit miteinander sprechender
und zusammen handelnder Individuen und zugleich den Zustand des Verbun-
denseins, die im Handlungszusammenhang von Bedürfnis, Arbeit und Herrschaft
entstehende und an bestimmte. Rede- und Handlungsnormen geknüpfte Verbindung
selbst, den sozialen V erb and. Das Wort besagt also zweierlei: den Inbegriff aktuell-
sozialen Handelns und ein soziales Handlungsschema (z.B. Familie, Staat, Be-
trieb, Schule), das in Institutionen, Gruppen, Verbänden usw. geschichtlich aktu-
alisiert wird. Dieselbe Doppelbedeutung hat auch das Wort 'Gemeinschaft', abgelei-
tet von mhd. 'gemeine' („zusammengehörig, gemeinsam, allgemein"), mit der Grund-
bedeutung „mehreren (= gemeinsam) bzw. allen(= allgemein) in gleicher Weise

51-90386/l 801
Gesellschaft, Gemeinschaft I. Einleitung

zukommend". Etymologisch liegt eine Verwandtschaft mit lat. 'munus', „obliegen-


de Leistung", „Amt", „Wirkungskreis" (in einem sozialen Verband) vor, faßbar in
lat. 'communis', „gemeinsam", „öffentlich" und seinen Ableitungen, got. 'gamains',
„gemeinsam", 'gamainja', „Teilnehmer", „Verbandsglied", 'gamainths', „Ver-
sammlung", ahd. 'gimeinida', „Gemeinschaft", mhd. 'gemeine' und 'gemeinae',
„versammelte Menge", „Heer", „gemeinsamer Besitz", „Teilhabe" und „Teilnah-
me". Das Wort bezeichnet einerseits die durch gemeinsames Sprechen (schon in
ahd. 'meinan', „denken", „sagen ", „ beraten" = innerhalb des· „Ringes" einer Ge-
meinschaft verbindlich reden und raten!) und Handeln bewirkte personale Ver-
bindung zwischen Menschen, andererseits den Zustand des Verbundenseins
als soziales Handlungssr,hemii„ das der Aktualisierung bedarf (Beispiele: Ehe-,
Berufs, Betriebs-, Religionsgemeinschaft usw.). Die älteren Tiezeichnungeu für
„Gemeinschaft" lauten 'Gemeinde.' (Dorf, Stadt) und 'Gemein~' (LUTHER: der
ganzen gemeine der kinder Israel)1, die den primären Bezug ~uf das soziale Hand-
lungsschema - „Gemeinschaft" als Institution - festhalten: „Sie stellen sich
ursprünglich zu der allgemeinen Grundbedeutung von 'gemein', und zwar zunächst
als Zustandsbezeichnungen; vgl. noch das Sprichwort: besser alle-in als in böser
Gemein. In dieser Funktion sind sie durch 'Gemeinschaft' verdrängt und nur
erhalten als Kollektivbezeichnungen in spezifisch politischem Sinne" 2 •
In herkömmlicher sprachlicher Verknüpfung mit 'Gemeinde' (vereinzelt auch als
'Gemeinschaft' bezeugt) bedeutet 'Gemeinschaft' ein Verbandsverhältnis vön
Personen auf der Grundlage eines gemeinsamen. Verhältnisses zu Sachen. Dem
entspricht das ebenfalls bis zum 18. Jahrhundert an Stelle von 'Gemeinschaft'
geläufige Wort 'Gemeinheit', das teils als identisch mit 'Gemeinde' (SCHILLER: diese
Privilegien der Gemeinheiten) 3 , teils als Bezeichnung für sonstige m!mschliche
Zweckverbände gehraucht wird. Das Wort entstammt der Rechtssprache und ist
die Übersetzung von lat. 'universitas'. Wie das Römische Recht neben der societas
als freiem Vertragsverhältnis von Personen, die sich gegenüberstehen, die universitas
(bonorum) als ein von den Personen losgelöstes Zweckvermögen kennt, so ent-
wickelt das ältere deutsche Recht den Begriff 'Gemeinheit', eines unteilbar gemein-
samen Vermögens, das die Personen über das Besitzverhältnis an Sachen („All-
mende") besonders eng zusammenschließt4 • Daneben bedeutet 'Gemeinschaft'
allgemein alle anderen, insbesondere sach- und zweckfreien „Formen gemeinsamen
Lebens und Wescns" 5 • So spricht die sakrale Sprache der christlichen Theologie uncl
Kirche seit alters von einer „Gemeinschaft der Heiligen" oder, in metaphorischer
Erweiterung des Wortes über den Umfang des menschlichen Geschlechts hinaus,
von der Gemeinschaft der Menschen mit Gott. Aber auch die profane Sprache der
Philosophie, der Ethik und Soziallehre kennt in umgekehrter Anwendung auf engere
und engste Gruppen oder Verbände gemeinsamen Lebens die Profilierung des

1 LUTHER, Übers. v. 2. Mose 16,1; vgl. GRIMM Bd. 4/1, 2 (1879), 3255.
2 HERMANN PAUL, Deutsches Wörterbuch, 4. Aufl. (Halle 1935), 200. Vgl. RENE KÖNIG,
Grundformen der Gesellschaft, in: Die Gemeinde, hg. v. RENE KÖNIG (Hamburg 1958).
3 ScHlLLER, Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande, NA Bd. 17 (1970), 28.
4 Vgl. THEODOR GEIGER, Art. Gesellschaft, Hwb. d. Soziologie, hg. v. ALFRED VIERKANDT

(Stuttgart 1931), 202.


6 GRIMM Bd. 4/1, 2, 3264 ff.

802
II. 1. BegriJfsbildung bei Aristoteles Gesellschaft, Gemeinschaft

Wortgebrauchs zu einer Fein personalen Bedeutung, z. B. in der Einschränkung


auf Liebes-, Ehe- und Freundschaftsbeziehungen, auf Verhältnisse zwischen Lehrern
und Schülern, Meistern und Jüngern, Alters-, Berufs- und Standeszugehörigkeiten,
Religions-, Kult- und Lebensgemeinschaften usw. Von hier aus kann sich dann jene
„ausgesprochen emphatische Bedeutung des Wortes 'Gemeinschaft' im Sinne eines
höchsten Wertgefühls" entwickeln6 , die es von 'Gesellschaft' terminologisch zu
unterscheiden scheint.
Sprachkritisch und historisch-genetisch betrachtet kommt diese Wertbedeutung
dem Wort 'Gesellschaft' jedoch gleichermaßen zu. Nach GRIMM heißt 'Gesellschaft'
vom hohen Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert das Verhältnis der „Gesellen", das
Haus-, Kriegs- und Reisegefolge der Herren und Fürsten, ferner Genossenschaft,
Bund, Bruderschaft, Korporation, Orden (geistliche und weltliche), der Stamm-
und Geschlechterverband, die politische (Stadt-) und Kirchengemeinde, das freund-
liche Beisammen- und Verbundensein, Gesellung und Geselligkeit, nicht zuletzt im
Sinne der (zuerst ständisch abgeschlossenen, dann bildungsbürgerlich geöffneten,
in jedem Falle aber „guten") Gesellschaft 7 • Obwohl die Bezeichnungsarten für die
vielfältigen sozialen Verbände und Verbindungen schwanken un<l. im einzelnen
sprachlich höchst differenziert sind, bleiben 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft'
während dieser Zeit miteinander synonym oder gleichbedeutend. Sie stellen beide
denselben Begriff dar, wobei die sprachliche Darstellung z. T. so weit geht, daß ihre
Lautgestalt zusammengezogen und zu einem Wort - 'Gesell- und Gemeinschaft' -
verschmolzen werden kann 8 •

II. Traditionelle Gesellschaftstheorie

1. Sozialphilosophische Begriffsbildung hei Aristoteles

Alle älteren Bestimmungen von 'Gesellschaft' (in der erwähnten Synonymität mit
'Gemeinschaft') knüpfen an den Begriff der "owwv'" an, den ARISTOTELES im
Rahmen der praktischen, die Ethik und Politik umfassenden Philosophie entwik-
kelt. Vorlagen und Vorbilder dazu finden sich bei Plato und Xenophon9 • Schon der
sprachliche Zusammenhang, in dem das Wort innerhalb der „Nikomachischen

6 R. KÖNIG, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, Kölner
Zs. f. Soziologie u. Sozialpsychologie 7 (1955), 388.
7 GRIMM Bd. 4/1,2, 4049 :ff.
8 Dazu findet sich ein klassisch zu nennendes Beispiel in SCHILLERS Adelsdiplom, das nach

den Formeln der zuständigen Kanzleisprache abgefaßt ist: So haben wir demnach . . . ihn
samt seinen ehelichen Leibeserben und derselbenErbeserben beiderlei Geschlechts ... in des hei-
ligen römischen Reichs Adelstand gniidigst erhoben, eingesetzt und gewürdigt, auch der Schar,
Gesell- und Gemeinschaft anderer adeliger Personen dergestalt zugeeignet, zugefüget und vergli-
chen, als ob sie von ihren vier Ahnen ... in solchem Stande hergekommen und geboren wären,
zit. GusTAv SCRWAB, Schiller's Leben (Stuttgart 1840), 711 f.
9 PLATO, Gorg. 507c :ff.; Symp. 188b-d; Pol. 35ld. 442c-d; Nom. 738d-e; XENOPHON,

Mem. 2, 2-6, 3, 11. Vgl. FRANZ DIRLMEIER, Philos und Philia im vorhellenischen Grie-
chentum (phil. Diss. München 1931) u. ÜLOF GIGON, Kommentar zum 2. Buch von Xeno-
phons Memorabilien (Basel 1956), 7 ff. (1252a).

803
Gesellschaft, Gemeinschaft II. 1. Begriffsbildung bei Aristoteles

Ethik" eingeführt wird, ist aufschlußreich für die Struktur der Aristotelischen So-
zialphilosophie. Aristoteles fragt nämlich nicht von vornherein nach der Begriffs-
bildung von Gesellschaft, sondern nach den Grundarten der Freundschaft (qJtÄfu:).
Erst nach deren Erörterung kommt er auf die Thematik des „Sozialen" im engeren
Sinne zu sprechen10 . U:nd selbst hier wird das qnÄloc-Thema nicht aufgegeben,
sondern nur abgewandelt im Hinblick auf die Verbindung von Recht (t5tu11) und
Freundschaft (qnÄfu:) in den verschiedenen, an die Institutionen von Haus und
Stadt gebundenen „Gesellschaften" oder „Gemeinschaften" (uowwvloci).
Der Ausdruck uowwvhx bezieht sich bei Aristoteles gleichmäßig auf alle sozietären
Verbindungen und Zusammenhänge, gleichgültig, ob es sich dabei um natürlich-
familienhafte, durch Neigung und Gewohnheiten bejahte Zusammenhänge oder
um willkürlich-vereinbarte, um eines äußeren Zweckes willen gewollte und rechtlich
befestigte Verbindungen, um „Status- oder Kontraktverhältnisse" im Sinne der neu-
zeitlichen Sozialphilosophie (Sir Henry Maine, Spencer, Tönnies) handelt. Obwohl
Aristoteles den Begriff des Rechts für die Bildung von „Gesellschaften" bzw. „Ge-
meinschaften" unter den Menschen als grundlegend ansieht, ist uowwvfu: keine
Rechtsfigur (vergleichbar etwa der societas des römischen Rechts), sondern ein
Komplementärbegriff zu 'Herrschaft' (dex~) 11 • Das Wort ist ferner nicht mit qnMoc
synonym, auch wenn diese keineswegs nur die auf „Sympathie" beruhende Bezie-
hung von Privatleuten meint, wie der zur Übersetzung dienende Begriff der Freund-
schaft und sein modernes (privat-sentimentales) Verständnis nahelegt. Zwischen
qJtÄloc und uowwvloc einerseits, uowwvloc unil IUucaov andererseits besteht ein
Verhältnis wechselseitiger sprachlicher Zuordnung. Unter uowwvloc, 'Gesellschaft'
oder 'Gemeinschaft' versteht Aristoteles das Vergesellschaftetsein im elementaren
Sinne, so daß der Begriff sowohl die verschiedenen, auf Übereinkommen (Ver-
sprechen, Vertrag) beruhenden Formen menschlicher Vereinigungen wie die
„naturwüchsigen" Grundformen des Zusammenlebens in Haus-, Gemeinde- und
Stammverband umfaßt. Außer den auf Verwandtschafts- und Kameradschafts-
verhältnisseri. beruhenden Formen, die als spezielle Bezeichnungen für sozietäre
Zusammenhänge ein terminologisches Eigengewicht haben, unterscheidet Aristote-
les eine Vielzahl von uowwvfu:i, die innerhalb der Polis, im Verkehr der Bürger
entstehen und durch ihnen gemeinsame religiöse, kriegerische, wirtschaftliche und
im engeren Sinne gesellige Zwecke zusammengehalten werden: Verbindungen unter
Kriegern und seefahrenden Händlern, Phyle und Demos als Stammverbiindc,
Opfervereine und Mahlgenossenschaften. Hier systematisiert Aristoteles. das reich
gestaltete Vereinsleben der attischen Demokratie. Jedoch konstituieren alle diese
in Recht und Freundschaft eingefaßten uowwvfu:i weder einen in sich ruhenden
freien Handlungsbereich zwischen dem einzelnen und der Polis, noch erhalten sie
einen von dieser unabhängigen, allein ihnen eigentümlichen Begriff. Aristoteles
bezeichnet sie vielmehr als Bestandteile derjenigen uowwvloc, welche für ihn die
Polis und ihre Herrschaftsformen repräsentiert, der „ bürgerlichen Gesellschaft",
deren „begriffliches" Analogon sie sind: ccl t5e uowwvfu:i niiaai µoelou; ioluocai •ij~
noÄinuij~ 12 •

10 ARISTOTELES, Nik. Eth. 1155a 3 ff.; 1159b 20 ff.


11 Vgl. vor allem Pol. 1252a. l ff., wo für die Analyse von „Herrschaft" die verschiedenen
Arten von Gesellschaft (uowwvfu:) genetisch abgeleitet werden.
12 Ders„ Nik. Eth. 1160a 8-9 wiederholt a28.

804
ll. 2. Terminologischer Wandel Gesellschaft, Gemeinschaft

Aristoteles geht also nicht den methodischen Weg der modernen Gesellschafts-
theorie. Er benutzt keineswegs den Gattungsbegriff uowwvlrx. als Subjekt „sozio-
logischer" Prädikationen, sondern nimmt umgekehrt einen speziellen Begriff dieser
Gattung - die „bürgerliche" oder „politische" Gesellschaft - zum Ausgangs- und
Zielpunkt seiner Theorie- und Begriffsbildung. Wie 'Gesellschaft' bzw. 'Gemein-
schaft' stets an Komplementärbegriffe ('Recht', 'Freundschaft', 'Herrschaft')
gebunden sind, so werden sie nirgends als das „Ganze", sondern immer nur teilhaft
und in ihrer Bezogenheit auf die Grundinstitution der Polis verstanden13.

2. Terminologischer Wandel in der spätantiken und christlich-mittelalterlichen


Sozialphilosophie

Die uowwvlrx.-Lehre des Aristoteles ist für das alteuropäische Paradigma der
Sozialphilosophie struktur- lind wirkungsgeschichtlich von großer Bedeutung
gewesen. Denn dieses sprachliche Paradigma läßt sich genau dadurch charakteri-
sieren, daß ihm sowohl die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft als auch
die zwischen Gesellschaft und Gemeihschaft unbekannt bleibt. Die gilt im Prinzip
auch für die Geschichte jener Begriffe innerhalb des neuzeitlichen Naturrechts, das
sich seit Hobbes antiaristotelisch versteht. Naturrecht und Politik sind die beiden
Theoriebildungen, in denen die traditionell-europäische Philosophie des „Sozialen"
ihre begriffliche Darstellung gefunden hat. Lehre von der Gesellschaft ist die
Politik als Hauptdisziplin der „praktischen Philosophie" deshalb, weil Polis und
uowwvtrx. sprachlich wie politisch identisch und alle anderen Arten von uowwvlrx.
ihre „Teile" sind. Die Gesellschaftslehre des Naturrechts scheint in ihrer Begriffs-
bildung über diese Einschränkung hinauszugehen. Hier ist die menschliche Gesell-
schaft (societas humana) Ga.ttungsbegriff und der Mensch selber nicht mehr das
(;ij>ov noA.inuov des Aristoteles, sondern, allgemeiner, (;ij>ov uowwviuov, ein animal
sociale14 .
Dieser Wandel vollzieht sich schon in der Spätantike. Er findet, unter Radikali-
sierung stoischer (Grotius) und epikureischer (Hobbes) Ansätze, in der klassischen
Epoche des Naturrechts, im 17. Jahrhundert, seine Fortsetzung. Man kann aber
nicht übersehen, daß der in beiden Theorieformen der europäischen Sozialphiloso-
phie entwickelte Begriff von Gesellschaft invariante Strukturen aufweist. Während
das klassisch-griechische Denken davor zurückscheut, die sozietären Zusammenhän-
ge der Polis kosmologisch zu deuten, erhebt die spätantike Philosophie (in teilwei-
sem Rückgriff auf vorsokratische Sozialtheoreme) den Kosmos selber zu der einen
uowwvlrx. der Polis, die jetzt alle Vernunftwesen umfaßt. Die Kosmo-Polis der Stoa
wird von einem Götter und Menschen gemeinsamen Gesetz (uowo, voµo,) regiert,
das als Logos die gesamte Natur durchherrscht15 . Die uowwvlrx., die diesem „Na-
turgesetz" (qnfoet uowov !5lurx.wv) entspricht, ist nicht mehr durch die doppelte Be-

1 3 Vgl. dazu mit etwas anderer Akzentuierung NIKLAS LUHMANN, Moderne Systemtheorien
als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse (1968), in: JfutGEN HABERMAs/NIKLAS LuH-
MANN, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (Frankfurt 1971), 7 f.
14 Vgl. ÄRISTOTELES, Pol. 1253 a 3 mit Stoicorum veterum fragmenta, hg. v. HANS v. ARNIM,

Bd. 3 (Leipzig 1903), Nr. 346. 686 und EPIKTE'l', Dissert. 3, 13, 5.
15 ZENON nach DIOG. LAERT. 7, 88 und CHRYSIPP nach PLUTARCH, De stoic. rep. 9, 4. Vgl.

CICERO, Fin. 3, 19, 64; Leg. 1, 7, 23; SENECA, Er. 95, 51-53; MARC AUREL 9, 9.

805
Gesellschaft, Gemeinschaft II. 2. Terminologischer Wandel

zogenheit auf die Gemeinsamkeit (itowov) eines begrenzten politischen Gemeinde-


verbands und die ihm zugehörige Bürgerschaft eingegrenzt, sondern erweitert sich
zu einer nicht mehr institutionell-politisch gedachten Idee der Weltbürgerschaft.
In der Sprache des frühen Christentums kehrt sie als Gemeinschaft der Gläubigen
mit Gott und Christus 16 wieder. Der neutestamentliche itowawloc-Begriff, der die
Teilhabe an einem gemeinsamen Gut, die Anteilnahme durch gemeinsames (kulti-
sches) Handeln und die Mitteilsamkeit des Guten wie aller Güter bei den im Glauben
Verbundenen bezeichnet1 7 , entspricht mit Ausnahme der Paulinisch-Johanneischen
Zuspitzung auf das Anteilhaben an Gott dem hellenistischen Wortgebrauch. Auch
hier wird itowwvloc häufig als Ausdruck der Gemeinschaft zwischen Mensch und
Gott verwandt, wobei freilich mehr der Gedanke des „Gemeinsamen" im Sinne
des Gleichen und Verwandten (statt des Gedankens der Gotteskindschaft) im Vor-
dergrund steht.
In diesem Zusammenhang erfährt die Aristotelische itowwvfu:-Lehre mancherlei
Abwandlungen. Nicht nur, daß der bekannte aristotelische Satz über den l\lenschen
als eines (;qiov :n:oÄtTtitov durch die in der Stoa immer wieder vorgetragenen Thesen
über die „soziale" Natur des Menschen 18 ergänzt wird - ergänzt, vertieft und er-
weitert wird auch der Aufbau der klassisch-griechischen Sozialphilm1ophie. Voran
geht hier das spätantike Konzept eines Stufenbaus von „Gesellschaften'', das
bereits bei CICERO ( gradus autem plures sunt societatis hominum) 19 und dann bei
AUGUSTIN (post civitatem vel urbem sequitur orbis terrae, in quo tertium gradum
ponunt societatis humanae, incipientes a domo atque inde ad urbem, deinde ad orbem
progrediendo venientes)2° auf das Menschheitsgeschlecht im ganzen, die „societas
generis humani" oder einfach die „sooietas humana", ausgedehnt wird. Der hier
vorgenommenen terminologischen Erweiterung des griechischen itowwvloc-Be-
griffs entspricht auch, daß sich die stoische Idee einer „societas humana sive na-
turalis"21 den römischen Juristen der Kaiserzeit im Verband der nationes und
gentes des Imperium Romanum institutionalisiert, der dem Völkerrecht (ius
gentium) unter dem Titel einer allen Menschen zugänglichen „Gesellschaft" (so-
cietas) zugrunde liegt: sed ea quidem societas, de qua loquimur, heißt es bei GAJUS,
id est, quae nudo consensu contrahitur, iuris gentium est; itaque inter omnes homines
naturali ratione consistit 22 •
Der terminologische Wandel in Spätantike und frühem Christentum begleitet die
geschichtlich bedeutsame Rezeption der Aristotelischen Sozialphilosophie, die sich
während des 13. Jahrhunderts durch die Übersetzer- und Kommentatorentätigkeit
der scholastischen Philosophie vollzieht. Mit ihr beginnt die Ausbildung einer eigen-
ständigen, von theologisch-kirchlichen Prämissen unabhängigen Philosophie des

18 Joh. 1, 1, 3 ff.
17 Vgl. die Untersuchung von HEINRICH SEESEMANN, Der Begriffitowwvfu: im Neuen Te-
stament (Gießen 1933).
18 Vgl. EPIKTET, Dissert. 3, 13, 5; MARc AUREL 5, 16; STOBAEUS 4, 22, 21; Stoicorum vete-

rum fragmenta, Bd. 3, Nr. 346. 686 (s. Anm. 14).


lD CICERO, Off. 1, 17; Lael. 5, 19.
20 AUGUSTIN, De civitate Dei 19, 7.
21 CICERO, Off. 1, 16; Leg. 1, 5, 16; 7, 23.
22 Institutiones 1, 1. Vgl. Inst. 3, 154.

806
II. 3. Frühneuzeitlicher Gesellschaftshegrlif Gesellschaft, Gemeinschaft

„Sozialen" im gelehrten Unterricht der sich damals konstituierenden europäischen


Universitäten.
Die Übersetzung von griech. "owwvl.rx. ins Lateinische war bereits in der Spätan-
tike ein höchst vieldeutiger, komplexer Vorgang. Bei Cicero steht 'societas' neben
'communitas', 'consociatio' neben 'coniunctio', 'communicatio' neben 'coetus' 23 •
Die Schwierigkeit, für das griechische Wort ein angemessenes lateinisches Äquiva-
lent zu finden, setzt sich mit der Rezeption der Aristotelischen "owrovloc-Lehre in
der scholastischen Philosophie fort. Wichtig ist zunächst, daß "owwvloc in den ersten
mittelalterlichen Übersetzungen der „Ethik" und „Politik" des Aristoteles mit
'communio', 'communitas' und 'communicatio' wiedergegeben wird (Wilhelm von
Moerbecke), woraus sich die Bevorzugung dieser Ausdrücke in den Aristoteleskom-
mentaren von Thomas von Aquin, Albertus Magnus und dann bei Wilhelm von
Ockham und Marsilius von Padua erklärt. Das Wort 'societas' begegnet in stärkerem
Maße erst seit den Aristotelesübersetzungen der Humanisten (Leonardo Bruni), ist
aber von Anfang an mit BezeichnUn.gen wie 'communitas', 'communicatio' usw.
gleichwertig. Harum autem communitatum seu societatum institutio, heißt es bei
JAKOB VON VITERBO, ex ipsa hominum naturali inclinatione processit 'ut Philosophus
nsterulit I Pol-il-icorum 24• Charakteristisch für die sprachliche Synonymität ist die
erste Schuldefinition des Cesellschaftsbcgriffs dm:ch THOMAS VON AQUIN in der
Schrift „Contra impugnantes Dei cultum": Est ewirn soc'ietas ... adunatio hominum
ad aliquid perficiendum ... Et inde est quod Philosophus in VIII Ethicorum diversas
C-Orfl,municatione.~ di.~ting1tit, quae nihit atiud sunt quam societates quaedam, secundum
diversa officia, in quibus homincs sibi in1,icem communicant 25 •

3. Sprachliche Vielfalt und synonyme Bezeichnungen des frühneuzeitlichen


Gesellschaftsbegriffs

Neben der terminologischen Verschränkung von 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft'


in der an Aristoteles orientierten sozialphilosophischen Begriffsbildung lehrt vor
allem die bis zum 17./18. Jahrhundert anzutreffende Beziehung zum Begriff der
Freundschaft, daß "owwvloc und ihre lateinischen Äquivalente (einschließlich das
Grundwort 'societas') nicht einfach mit 'Gesellschaft' im Sprachverständnis der mo-
dernen Sozialwissenschaften gleichgesetzt werden können. Beide Ausdrücke haben
eine Spannweite des Anwendungsbereichs und der Bedeutung, rfüi von „Gemein-
schaft", „Gemeinsamkeit", „Teilhabe" (passivisch), „Teilnahme" (aktivisch),
„Verbindung", „Bündnis" bis hin zu „Genossenschaft", „Freundschaft", „Bru-
derschaft", „Körperschaft" usw. reicht. Die seit SENECA26 bekannte Formel so-
cietas = amicita (zu der dann auch die familiaritas als spezifisch intime „Gemein-
schaftsform" einer Kleingruppe treten kann) ist kein Novum der lateinischen Ge-
sellschaftskultur, sondern geht auf die griechische "owwvloc- und qnJi.loc-Lehre zu-
rück. Ihr folgt der französische Sprachgebrauch bei MoNTAIGNE („societe d'ami-

23 Vgl. z. B. CICERO, Off. 1, 44 ff.


24 JAKOB VON VITERBO, De regimine christiano (1301/02), ed. Henri Xavier Arquilliere
(Paris 1926), 91.
25 THOMAS VON AQUIN, Oontra impugnantes Dei cultum et religionem 3.
2 6 8ENECA, Epiat. 6, 48, 3.

807
Gesellsebaft, Gemeinschaft II, 3. Frühneuzeitlicher Geseilschaftshegriß.'

tie") 27 und Bonrn (Le fondement principal des mariages et de la soci:ete h,11.mm>nP. r11:st
en amitüfJ 28 , 11nil no11h ilie frnm:ösisch-deutsch-lateinischen Wörterbücher des 17.
und frühen 18. Jahrhunderts notieren diese Zusammenhänge: Gesellschafft, Gemein-
schaft, Societe, compagnie, Societas ... Socialite, Gemeinsamkeit, Freundlichkeit, So-
cialitas ... , Societe, Gemeinschafft, Soc·ietas 29 • Eine ähnliche Wortreihe findet sich
im „Europäischen Sprachschatz" von RÄDLEIN: Societe, Gemeinschaft, Gesellschaft,
it. eine Societät oder Zusammentretung einiger zu einem Gewerbe, it. Verbindung,
Freundschaft . . . Gesellschaft, Gemeinschaft, Oompagnia, consorzio, comrnunita,
societa, societe, compagnie 30 •
Die Weite und Vieldeutigkeit der sozialphilosophischen Grundbegriffe 'Gesellschaft'
und 'Gemeinschaft' ist also schon den aus der graeco-latcinischcn Sprachtradition
herkommenden Bezeichnungsarten für sozietäre Zusammenhänge eigentiimlich, ja
mehr noch: sie wird von ihnen vielfach übertroffen. So zählt zu Beginn ileR 17 .•fahr-
hunderts J OH. ANGELIUS WERDENHAGEN in seiner „Politica generalis" als Antwort
auf die Frage nach der Synonymität des Wortes 'Gesellschaft' (Quaenam synonyma
habet aliasve appellationes societatis hoc vocabulum) eine lange Reihe einander gleich-
wertiger Bezeichnungen auf, die von consociatio, consortium, fraternitas, sodalitas,
coniunctio .• communio, participatio, communitas, commercium, cornitat1rn bis hin
zu p11ctio, focdmi, lig11, ordo rcicht 31 . Vergleichbare Beobachtunge11 kanu uurn ferner
an der zeitgenössischen Sprache des Kirchenrechts, nicht zuletzt am Corpus Juris
Canonicum machen, wo spezifisch kirchliche Gemeinschaftsbegriffe (conventus,
coetus, concilium, congregatio) durch 'societas' ( a ,~ocietate d?:r:#u,r m1lltomm in
1tnum) definiert werden 32 • 'Gemeinschaft' kann auch, ohne ein genauer zuzuordnen-
des Wort, die Einigkeit und Zusammengehörigkeit der Glieder einer Institution
bzw. der Bekenner eines Glaubens meinen, wie in der „Confessio Augustana":
Und wie wir alle unter einem Christo sind und streiten, also auch alle in einer Gemein-
schaft, Kirchen und Einigkeit [ ita in una etiam ecclesia christiana unitate et concordia]
zu leben 33 •
An diesen Beispielen wird deutlich, daß die älteren sozialphilosophischen Grund-
begriffe einen umfassenderen Anwendungs- und Geltungsbereich haben, was mit
ihrem unemphatisch-wertneutralen Gebrauch auf das engste zusammenhängt. Sie
bezeichnen den Tatbestand des Verbundenseins von Menschen überhaupt, unab-
hängig von verschiedenen Wertgefühlen, .l!}inigkeitsgraden, Arten und Formen, in
denen er1 Rid1 vollr.iehen kann. Lehrreich ist hier die Definition von 'societas' bei
JAKOB THOMASIUS: Societas est status personarum consistens in unione seu ordine
earum 34 • Sie bringt beide Momente zum Ausdruck, den Personenverband als sol-

27 MoNTAIGNE, Essais 1, 27.


28 Bonrn, Les six livres de la republique 6, 6 (Paris 1583; Ndr. Aalen 1961), 1018.
29 Dict. fran9. - all. - lat., t. 2 (1660), 183; t. 1, 668.

30 RXDLEIN Tl. 2 (1711), 770; Tl. 1, 369.


31 JoH. ANGELIUS WERDENHAGEN, Introductio universalis in omnes respublicas sive poli-

tica generalis 2, 6, 15 (Amsterdam 1632); 272.


32 Corpus juris canonicum, Decret. Pas. 1, ·Dist. 15, Cap. 1.

33 Confessio Augustana (1530), in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen

Kirche, hg. v. Dt. Ev. Kirchenausschuß, 6. Aufl. (Göttingen 1967), 44.


34 JAKOB .THOMAsrns, Philosophia practica (Leipzig 1661), Tab. XXXIII.

808
II. 3. Frühneuzeitlicher GeseDschaftshegriJf Gesellschaft, Gemeinschaft

chen, den Bezug auf einen je bestimmten „SLaml" unu zugleich auf dessen „Ord-
nung", woraus sich die Gliederung des Begriffs und seine Applizierbarkeit auf die
ständisch-herrschaftliche „Gesellschaft" der alteuropäischen Welt ergibt. Wenn
Menschen miteinander vergesellschaftet sind, befinden sie sich in einem je bestimm-
ten Ordnungszusammenhang, dem geistlichen, weltlich-politischen oder häuslichen
Stande (status ecclesiasticus, politicus sive civilis, oeconomicus), entsprechend der
mittelalterlichen und reformatorisch erneuerten Dreiständelehre, oder in einem der
„politischen" Stände im engeren Sinne, einer Grundherrschaft, Dorf- und Stadt-
gemeinde. Aber auch bei Vergesellschaftungen, die mit Handel und Austausch,
Arbeit und Beruf verbunden sind, bilden die miteinander handelnden Individuen
einen Stand. Sie sind Handwerker oder Kaufleute, Fleischer oder Bäcker, Lehr-
mei~ter oder Schüler usw.
Eine genauere Vorstellung von dem inneren Gefüge dieses älteren, herrschaftlich
differenzierten und mit 'Gemeinschaft' gleichbedeutenden Gesellschaftsbegriffs
vermittelt LEIBNIZ' Klassifikation elementarer sozietärer Zusammenhänge unter
Menschen. Die wichtigsten Klassifikationsmerkmale sind unter anderem Gleichheit
und Ungleichheit der verbundenen Individuen sowie Beschränktheit und Unbe-
schränktheit der gemeinsamen Zwecke: Alle <iesellschaft ist gleich oder ungleich.
Gleich, wenn einer so i1iel a.ls der a.nde.re. da.be.1: Ma.ch.t h.a.t, m1.gle.ü·.h., wenn e?:ner den wn-
deren regiert. - Alle Gesellschaft ist entweder unbeschränkt oder beschränkt. Eine
unbeschränkte Gesellschaft geht aufs ganze Leben und gemeine Beste. Eine beschränkte
Gesellschaft geht auf gewisse Absicht, zum Exempel, Handel und Wandel, Schiffahrt,
Kriegsdienst, Re1:sen. Diese Merkmale lassen sich untereinander kombinieren, z. H.
der Gesichtspunkt uer UnbesLiuunLheiL der Zwecke mit dem der Gleichheit bzw.
Ungleichheit der verbundenen Individuen, wobei der Grad der Komplexität einer
Gesellschaft als weiteres Unterscheifhmgsmerkmal hinzukommen kann: Eine unbe-
schränkt gleiche Gesellschaft ist zwischen wahren Freunden . . . Eine unbeschränkt un-
gleiche Gesellschaft ist zwischen den Regierenden und Untergebenen . . . Alle diese
Gesellschaften sind einfach oder zusammengesetzt, auch zwischen wenig oder viel M en-
schen . . . Alle unbeschränkte Gesellschaften gehen zwar auf die Wohlfahrt, können aber
nicht solche allemal leisten; daher haben mehr Menschen zusammentreten und größere
und kräftige Gemeinschaft machen müssen. Daher Haushaltungen, Geschlechter, Dörfer,
Klöster, Orden, Städte, Landschaften, und endlich das ganze menschliche Geschlecht,
welches unter dem Gebot Gottes gleichsam eine Gemeine macht35. Hier werden 'Gesell-
schaft' und 'Gemeinschaft' auf begrenzte Gebilde (Klöster; Orden, Dörfer usw.) und
zugleich auf die ganze Menschheit angewandt, wobei dem Wort 'Gemeine' lat. res
publica, civitas Dei entsprechen dürfte.
Für Leibniz bedeutet 'Gesellschaft' noch so viel wie das „Öffentliche" (publicum),
das gemeinsame Leben, Sprechen und Handeln, das sich in der Öffentlichkeit voll-
zieht. Ihr Gegensatz ist daher nicht der Staat, auch nicht der einzelne, sondern die
„Einsamkeit", d. h. das einsame Leben (vita solitaria) jenes „Einzigen", der sich-
entweder durch ein ungewöhnliches Geschick oder infolge ungewöhnlicher, beson-
derer Einsicht- auf exemplarische, aher gleichwohl nicht ohne weiteres nachahm-
bare Weise der Gesellschaft entzieht. Das literarisch-rhetorisch vielfach behandelte

35 L.l!llßNIZ, Vom NatuiTecht, Deutimbe Schriften, hg. v. G. E. Gubrauer, Bd. 1 (ßerlin


1838), 417 f.

809
Gosollsohoft, Gomoinsohoft II. 4. Naturrecht Wld Geliell11cLafl

.l!Jxempel des einfachen Lebens darf nicht mit dem Problem der Vereinzelung des
einzelnen innerhalb der Gesellschaft verwechselt werden, das uns alo Thema der So-
zialphilosophie nach der Mitte des 18. Jahrhunderts (Rousseau) begegnet. Denn die
Betrachtungen über „Gesellschaft" und „Einsamkeit", die, unter Anknüpfung an
antike Vorbilder, in der literarischen Kultur der frühen Neuzeit immer wieder auf-
treten, sind moralphilosophischen Ursprungs und führen den einzelnen aus dem
Umkreis der „Gesellschaft" heraus. Sie gehören zur Topik der älteren Lehre vom
„gesellschaftlichen Leben" (vita socialis), deren Gegentopoi sie entwickeln. „Ge-
sellschaft" wird dadurch konstituiert, daß der Mensch Vernunft (ratio) und Rede
(oratio) hat. Außerdem bedarf sie zu ihrer Erhaltung der Herrschaft (imperium),
und obwohl diese mit Mühe und Last verbunden ist, zieht der Mensch die Gesell-
schaft der Einsamkeit vor. Das sind die Grundthemen in der Behandlung des Ge-
sellschaftsproblems, wie sie im 17. Jahrhundert ,ToR. HF.TNRTflH Aumm enzyldo-
pädisch zusammenfaßt: De vita sociali: Praestetne vita solitaria sociali? . . . Socialem
praeferendam. Hominem esse animal sociale. Data ei ad societatem constituendam con-
firmandamque instrumenta: rationem, orationem. Nullum vitae genus expers esse
molestiae. In omni societate aliquod esse imperium: viri in uxorem, domini in servos,
patris in liberos, animae in corpus, hominis in bellua.~, homini.~ in alias homines 36 •

4. Naturrecht und Gesellschaft

Ein struktuell veränderter 'Regri ff. von Geaellschaft artikuliert sich im 17. J ahrhun -
dert bei Hobbes und Spinoza. Erst jetzt entfällt die Natur als Erklärungsgrund
menschlicher Vergemeinschaftung. 'Gesellschaft' oder 'Gemeinschaft' sind weder
Zweck- noch Substanzbegriffe. Wenn Menschen zusammenkommen und sich wech-
selseitiger Gesellschaft erfreuen ( societate mutua gaudent), geschieht dies, wie HoB-
BES sagt, nicht naturnotwendig, sondern nur zufälligerweise ( quod aliter fieri natura
non possit, sed ex accidente) 31 • Zugleich entfällt der Stufenbau der „natürlichen"
Gemeinschaften oder Gesellschaften; mit Ausnahme der ihre herrschaftlich-öko-
nomischen Basis verlierenden „Familie" sind alle anderen Gesellschaftsformen
(Kollegium, Korporationen, Zünfte, Gemeinden, Handelsgesellschaften usw.) nur
sekundäre Bildungen innerhalb eines durch Gesellschaftsvertrag konstituierten
Staatsverbandes (civitas, res publica). Es dürfte kein Zufall sein, daß sie bei Hobbes
einen neuen Namen erhalten, der die uowwvl1Xi des Aristoteles funktional zu deu-
ten erlaubt: 'Systeme' (systems ... of people), numbers of men joined in one interest,
or one business 38 • An die Stelle des politischen Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft
tritt mehr und in.ehr ein allgemeiner, einheitlicher Gesellschaftsbegriff, der dann
auf andere, d. h. „vertragliche" Weise, identisch ist mit dem 'Staat' im modernen
Sinne des Wortes.
Der Übergang von der traditionell-naturrechtlichen zur neuzeitlich-vernunftrecht-
lichen Begriffssprache :findet sich bei JOHN LOCKE. Er gründet einerseits alle Gesell-
schaftsbildung auf Vertrag und ersetzt die klassisch-aristotelische Zweckidee der
Vollkommenheit durch de~ Funktionsbegriff der Sicherheit (von Leben und Eigen-

36 ALSTED 3. Aufl., Bd. 3 (1649), 7.


37 HoBBES, l>e cive 1, 2. Opera, t. 2 (1839), 159.
38 Ders., Leviathan 2, 22. EW vol. 3 (1839), 210. 225.

810
Il. 4. Naturrecht und Gesellschaft Gesellschaft, Gemeinschaft

turn), womit er das traditionelle Schema von Gesellschaft weithin umdeutet, das er
andererseits doch beibehält, einschließlich der bürgerlichen Gesellschaft ( political
or civil society): The first society was between man and wife, which gave beginning to
that between parents and children; to which, in time, that between master and servant
came tobe added: and though all these might, and commonly did meet together, and make
up but one family, wherein the master or mistress of it had some sort of rule proper to a
family; each of these, or all together, come short of political society, as we shall see, if we
consider the different ends, ties and bounds of each of these 39 • Diese den naturrechtli-
chen Gesellschaftsbegriff auszeichnende Systematik führt weiter zur Frage seiner
Stellung im Aufbau der Philosophie bzw. der ihr zugehörigen Wissenschaften. Es
ist klar, daß wir es auch hier noch nicht mit einer „gesellschaftlichen" Theorie-
bildung mit „reiner Soziologie'', sondern mit moralphilosophischen Erwägungen zu
tun haben. Der systematische Ort der naturrechtlichen Gesellschaftstheorie, die
nicht identisch ist mit „Soziologie" im modernen Sinne des Wortes, ist die prak-
tische Philosophie, d. h. derjenige Teil der Philosophie, der Ethik und Politik um-
faßt. Soweit die praktische Philosophie unter aristotelischem Einfluß steht, wird
das Naturrecht mit beiden Disziplinen verbunden; selbst als es sich aus dem Ver-
ha.no oer praktischen Philmwphie JGU losen beginnL, behält der naLurrechtlicl1e Be-
griff von Gesellschaft eine ethisch-politische Basis. Gesellschaftstheorie ist eine
Disziplin der Moralphilosophie, die sich ihrerseits als politische Philosophie im wei-
testen Sinne des Wortes begreift. Noch in der französischen „Encyclopedie"4°
wird unter dem 'l'it11l „Societe" auf „Morn.le" v11rwi11sAn. N11bAn il11Ti1 moralphiloso-
phischen Sinn des Begriffs steht, relativ unverbunden (was sich u. a. darin aus-
drückt, daß die Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts dem Wort 'Gesellschaft' stets
zwei Artikel widmen), eine spezifisch rechtliche Bedeutung, 'societas' als Terminus
der Jurisp~udenz. 'Gesellschaft' heißt hier in der Regel die durch Vertrag (consen-
sus, pactum) begründete Vereinigung zweier oder mehrerer Personen zu wechselsei-
tiger Förderung ihrer - wirtschaftlichen oder sonstigen - Zwecke, unterschieden
von 'collegium' (= Vereinigung, die nicht, wie die societas, auf eine bestimmte Zeit,
sondern für immer konstituiert wird) und 'communio' (= vertraglose Sachgemein-
schaft).
Es wird sich zeigen, daß dieses zunächst rein privat- und obligationenrechtliche
Sozietätsverhältnis für ein bestimmtes Stadium innerhalb der Entwicklung des
modernen Gesellschaftsbegriffs als Modell dient, das die sozialgeschichtlichen Ver-
änderungen in der Periode europäischer Spätaufklärung und Revolution registriert.
Die Möglichkeit solcher Übertragung ergibt sich aus der Auflösung von Politik und
Ökonomik als Wissenschaftsdisziplinen der traditionellen Gesellschaftstheorie, vor
allem aber aus der Entstehung der modernen Staats- und Nationalökonomie. So-
lange die Sozialphilosophie die „Gesellschaften" auf den Hausverband reduziert
und als „Teile" der „bürgerlichen Gesellschaft" begreift, kann es keine „Gesell-
schaftswissenschaft" als eigene Disziplin geben. Staat (civitas) und· bürgerliche
Gesellschaft (societas civilis) repräsentieren das ganze Dasein der „Gesellschaft"
oder „Gemeinschaft", und deren Theorie, die Politik, enthält die von ihr mögliche
„praktische" Wissenschaft schon in sich. Die „Gesellschaft" des Menschenge-

39 LoCKE, The Second Treatise of Civil Government 7, 77. 78 ff.


40 Encyclopedie, t. 31 (Ausg. 1781), 206.

811
Gesellschaft, Gemeinschaft m. 1. Gesellschaft und Herrschaft bei Christian W oUI
schlechts (societas generis humani), von der die Naturrechtler des 17. Jahrhunderts
und die Philosophen des 18. Jahrhunderts reden, bleibt dann vorerst noch Thema
der Ethik oder eines hypothetisch formulierten Naturrechts, und was unterhalb
ihrer Sphäre liegt, die „Gesellschaften" des Hauses und die Beziehungen der einzel-
nen untereinander, sind Bestandteile der Ökonomik als Nebendisziplin der prak-
tischen Philosophie und infolge der Kontingenz der hier herrschenden Verhältnisse
eines eigenen Begriffs weder fähig noch bedürftig.

m. Das Sozialideal der Aufklärung: Gemeinschaft als vollkommene


Gesellschaft

1. Gesellschaft und Herrschaft bei Christian W olff

Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte CHRISTIAN WoLFF, der Wegbereiter
der deutschen Frühaufklärung, mit seinem Buch „Vernünfftige Gedancken von dem
gesellschaftlichen Leben der Menschen" die Aristotelische "oivwvla- Lehre wieder-
holen, indem er sie dem naturrechtlichen Vertragsdenken anglich. Dem Aufbau
der „Gesellschaften der Menschen" geht eine kur:r.e F.rläuterung des Begriffs voraus,
die deutlich macht, wie Wolffihn versteht: geschichtslos, verbamlhafL, Leleologisch,
logisch-klassifikatorisch. Handlungsschema der Gesellschaft ist der Vertrag, die
Vereinbarung der Individuen über gemeinsame Zwecke: Wenn Menschen miteinan-
der eines werden, mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu befördern; so begeben
sie sich miteinander in eine Gesellschaft. Und demnach ist die Gesellschaft nichts an-
deres als ein Vertrag einiger Personen, mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu
befördern41 • 'Gesellschaft' (societas) hat für Wolff einen doppelten Sinn; sie ist
gleichbedeutend mit „Vertrag", zugleich aber mit der „Menge der Menschen
selbst", die einen Vertrag, d. i. eine Gesellschaft, überhaupt schließen 42 •
Gleichwohl absorbiert die naturrechtliche Vertragsidee nicht das traditionelle, für
den Sinn von Gesellschaft wesentliche Moment der Herrschaft. Vielmehr werden
Herrschaft und Gesellschaft bei Wolff noch immer zusammen abgehandelt. Herr-
schaft ist das Recht, über die Handlungen eines anderen zu verfügen 43 , und heißt
insofern ein „gesellschaftliches" Recht. Daß die Verfügung willkürlich sein könnte,
wird von Wolff nicht in Betracht gezogen, weil die „Absicht" jeder Gesellschaft
„gemeinsam" ist, d. h. auf Nutzen und „Wohlfahrt" der Individuen zielt. Die
utilitaristische Deutung der Aufklärung - die Rationalisierung des herkömmlichen
Eudämoniegedankens - neutralisiert den herrschaftlichen Gesichtspunkt einer
noch „unaufgeklärten" Tradition. Das „Beste" als die Absicht einer Vereinigung
beruht auf der Wohlfahrt der Gesellschaft, die zum Hauptgesetz des gesellschaftlichen
Lebens der Menschen erklärt wird 44 •

41 CHRISTIAN WoLFF, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Men-
schen, insonderheit dem Gemeinen Wesen, 4.Aufi. (Frankfurt, Leipzig 1736), 1, § 2; vgl.
§§ 3 ff. (S. 3 ff.).
42 Ders., Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (Halle 1754), § 836.

43 .b:bd., § 833: Von der Herrschaft und der Gesellschaft überhaupt.

44 Ders., Vernünfftige Gedancken 1, § 11, S. 7; vgl. §§ a f.

812
m. 2. Jurisprudenz und Gesetzeskodifikation Gesellschaft, Gemeinschaft

2. Sprachpolitik in Jurisprudenz und praktischer Gesetzeskodifikation

Während die Philo!!ophie LroLz der „utiliListischen" Umstilisierung die Sprache


der aristotelischen Tradition, nicht zuletzt den Satz der Gleichursprünglichkeit
von Herrschaft und Gesellschaft ( imperium omne nascitur ex societate) 45 , zunächst
noch unkritisch weiterträgt, kommt es in der Jurisprudenz der Aufklärung zu einer
Verschiebung zugunsten des Rechtsbegriffs. Symptomatisch dafür ist die Entste
hung einer neuen Disziplin, des „allgemeinen Gesellschaftsrechts" (ius sociale uni
versale), die der von der neuzeitlichen Souveränitätsdoktrin (Bodin, Hobbes) ange
stoßenen Entwicklung eines „allgemeinen Staatsrechts" (ius publicum universale)
parallel läuft. Inhaltlich gesehen erweist es sich freilich als wenig originell. Vielfach
konserviert es nur die Begriffstopik der traditionellen Gesellschaftstheorie 46 • Jedoch
hat der weitere Ausbau des Gesellschaftsrechts bei den einflußreichen Wolfn.'anern
Darie11 und Nettelbladt zur Einschränkung dCß dogmutfooh no,ivon Horrooho,ftBdon
kens im älteren Gesellschaftsbegriff wesentlich beigetragen, vor allem durch die
konsequente Anwendung dor Vcrtragskonstruktion uuf alle sozietären und koope-
rativ-kollegialen Gebilde und eine damit verbundene UrnwerLung jene8 Begriffs.
Jede Gel'lelhichaft ist Tril.ger gewiR::1er natiirlich-gesellRchaftlir.hflr "R.flr.htfl, „jnra,
socialia sive collegialia" genannt, die von der jeweils gAgAh1m1m Gesellschaft unab-
trennbar sind („ponuntur posita societate"). Dazu treten dann vertraglich erwor-
bene Rechte („jura societatis contracta"), die zusammen mit den „natürlichen"
Gesellschaftsrechten den Anteil der Herrschaft an den sozietären Verbindungen
m1tringieren 47 • Dabei können Gesellschaften eigenen Rechts entstehen, die selber
zur Ausübung von Herrschaft befugt sind (sog. „sociietates privatae in republica",
die der Herrschaftsbefugnisse des Souveräns nicht bedürfen, z.B. Handels- und
Erwerbsgesellschaften).
In dem von Christian Wolff und seiner Schule (Nettelbladt) beeinflußten Staats-
und Lehnrecht der Zeit nach 1750 macht sich jedoch deutlich eine Tendenz zur Ein-
gliederung aller „Gesellschaften" in das „souverän" gewordene landesfürstliche
Territorium, einen einheitlich organisierten Herrschaftsverband, bemerkbar. Dem
kommt die naturrechtliche Begrenzung des Herrschaftsbegriffs teilweise entgegen.
Die „Gesellschaften" oder „Gemeinschaften", d. h. die mit obrigkeitlichen Befug-
nissen ausgestatteten Grundherrschaften des Landes, die Dorf- und Studtgemein-
den, Korporationen, Kirchen und Universitäten werden dem Souverän unterwor-
fen. An die Stelle der verschiedenen ständisch verfaßten sozietären Verbindungen
setzt sich allmählich eine vom „Staat" des souveränen Herrschers abhängige „Ge-

45 Ders., Jus naturae 7, § 213 (Halle, Magdeburg 1748); vgl. § 195 f.


4 \1.LUCAS FRIEDRICH LANGEMACK, Allgemeines gesellschaftliches Recht (Berlin 1745);
JuLIUS ll'RIEDRICH .l::lÖl'Fl';liJR., Nat.urreoht de"~ einzelrn'>n Mern~nhf':n, df':r Hf':Rf':llRnhaft,f':n 11nfl
Völker, 2. Aufl. (Gießen 1783); JoH. HEINRICH PüTTER, Neuer Versuch einer Juristischen
Enzyklopadie (Göttingen 1767), 8 ff.; GOTTFRIED ACHENWALL, Juris na.turalts pars poste-
rior, 5. Aufl. (Göttingen 1763), lib. 2.
47 DANIEL NETTELIILADT, Systema elementare universae jurisprudentiae naturalis, 5. Aufl.

(Halle 1785), lib. 1, sect. 1: Generalissima de societatibus principia; JoH. GEORG DARIES,
Instit.utiones jurisprudentiae universalis (Jena 1757).

813
Geselliiehaft, Gemeinschaft m. 2. Jurisprudenz und Gesetzeskodifikation
sellschaft", die nicht mehr aus „Gesellschaften und Ständen" 48 , sondern aus einem
Untertanenverband homogener „Individuen" besLehL.
Diese Tendenz läßt sich an ScHEIDEMANTELS „Repertorium des Teutschen Staats-
und Lehnsrechts" (2. Aufl. 1783) ablesen. Daß die „Gesellschaften" dein Staat zum
Problem werden, hatte Scheidemantel schon an anderer Stelle notiert: Vor allen
Dingen sind die Gesellschaften in unserem Territorium zu bemerken, denn eine jede
Versammlung, die sich durch Verträge oder auch zufälligerweise zur Beförderung einer
bestimmten Absicht im Staat vereinigt, hat wenigstens durch Umwege einen Einfluß in
die Regierung 49 • Eine „vernünftige" Verfassung dürfe keine heimlichen Zusammen-
künfte erlauben, keine „Gesellschaften" als rechtmäßig anerkennen außer den-
jenigen, die ausdrücklich oder stillschweigend von der Majestät bewilligt worden sind50•
Rs iRf, ifahp,r nm folgerichtig, wenn Scheidemantel die „Gesellschaften" 111B 'Unter-
tanen' bezeichnet und dem Status von Privatpersonen angleicht 51 • Neben der Un-
terscheidung in rechtmäßige und unrechtmäßige „Gesellschaften" steht hier die
Trennung in öffontlioho und priv11to, die das Intere1111e de11 Souveräus fUl'derL: Tre11-
nungsge1:1ichtspunkt ist ihr Einfluß auf den Staat. Die „privaten GesellRP-haften"
haben einen nur mittelbaren, die öffentlichen einen unmittelbaren Einfluß. Öffent-
liche Gesellschaften entstehen nach Scheidemantel te-ils dad1urch, daß der Oberherr
se·ine Rey·ierungsrechte dm·c/i e·in bestünmtes Kulley,iwm wusüben will, teils auch, daß
eine öUentliche Gesellschaft durch das Ansehn, welches ihr der RP.gent beilegt, in
Stand gesetzt werden soll, das Beste des Ganzen um so leichter befördern zu können 52 •
Dazu gehören auf der einen Seite Regierung, „Polizei", Kriegs- und Justizkollegien
und verschiedene Gesellschaften, d·ie dwrcli das mannigfaltige Departement veranstaltet
werden, auf der anderen Kirchen, „Hohe Schulen", Akademien der Künste und
Wissenschaften, große und privilegierte Handlungsgesellschaften, Gemeinden oder
ansehnliche Verknüpfungen, welche der Regent wegen besonderer Verfassung seines
Landes auch unter die öUentlichen Gesellschaften rechne~. Hinter diesen Ausführungen
steht das ambivalente Sozialmodell des modernen Staates, der, um seine Herrschaft
als absolute begründen zu können, sich genötigt sieht, eine herrschaftsfreie Sphäre
(die der zur „Gesellschaft" werdenden „Gesellschaften") zu schaffen. Der damit
beginnende RecJei1t.lmg~wandel erweist sich als eine Sonderform genereller Sprach-
politik, als „juristische Sprachplanung" 53 . Nicht ohne Grund stellt Scheidemantel
die Frage, ob die Gesellschaft zwischen Lehnsherrn und seinen. Vasallen unter die öUent-
lichen oder Privatgesellschaften gehöre. Seine Antwort bestätigt nur die allgemeine
Tendenz der Staatsgewalt, die Herrschaftsrechte der älteren „Gesellschaften" aufzu-
heben: Wo die Lehnspfiicht mit dem Staatsinteresse verknüpft ist, da kann die Ver-
sammlung der Vasallen eine öffentliche Gesellschaft genennt werden; außerdem . . . ist

48 Vgl. die Formel im ALR, Tl. 1, Tit. 1, § 2.


49 HEINRICH GODFRIED SoHEIDEMANTEL, Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten
der vornehmsten Völker, Bd. 1 (Jena 1770), 253.
&o Ebd.; vgl. SOHEIDEMANTEL Bd. 2 (1783), 270.

61 SoHEIDEMANTEL Bd. 2, 270 ff. (Art. Gesellschaft, § 2).


69 Ebd., 271.
53 Das ist der für die Jurisprudenz der Aufklärung insgesamt zutreffende Ausdruck, mit

dem REINHART KosELLEOK die juristische Arbeit am Preußischen Landrecht kennzeich-


net, Preußen zwischen Reform und Revolution (Stuttgart 1967), 53.

814
m. 2. Jurisprudenz und Gesetzeskodifikation Gesellschaft, Gemeinschaft

sie wenigstens nach ·den neuern Gebräuchen eine Privatgesellschaft, weil . fast nichts
mehr als die PP,ichten in Ansehung der Lehnsgüter übrig bleiben54 •
Gleichwohl kann man nicht übersehen, daß der Gesellschaftsbegriff noch immer in
der Vielzahl möglicher „Gesellschaften" steckenbleibt und nicht als objektiver
Handlungszusammenhang aus der Verfolgung subjektiver Interessen und Zwecke
hervorgeht. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, daß Scheidemantel hier dem Vor-
bild der W olffschen Schule folgt und überhaupt alle Privatgesellschaften, wo sich ein-
zelne Personen vereinigen, um mit gemeinschaftlichen Kräften eine gute Absicht zu be-
wirken, in Analogie zu den wenig komplexen sozialen Teilsystemen des Hausver-
bandes begreift und sie unter dem Gesichtspunkt eines vermeintlich geringen Kom-
plexitätsgrades zur Klasse der „11infa.clrnn" Gesellschaften zählt: Zween oder auch
mehrerr, Tfou,fku,te oder Kiln,~tlr,r (fl. i. H11.1Hlw1wkr.r, „'l'Hdrnik1-1r·") treten Z'u.sa.mnwn,
mit vereinigter Bemühung besorgen sie ihre Handelschaft, Fabrilcen, Manufakturen
oder arulere Gewerbe, 'und d'tese Uesellschaften sind einfach,••. Ähnlich un:problematisch
erscheint die Zuordnung des Gesellschaftsbegriffs im staatsrechtlichen Denken von
JoH. JAKOB MOSER, der darunter entweder alle Untertanen eines Landes unter sich
oder nur gewisse Olassen und Gattungen desselbigen versteht. Die Tendenz zur Aus-
bildung einer einheitlichen Staatsuntertanengesellschaft relativiert Moser mit dem
der zeitgenössischen Verfassungswirklichkeit nicht. mehr entsprechenden Satz:
alle Untertanen würden durch die Landesstände vorgestellt56, d. h. sie sind „Gesell-
schaft" als öffentlich-politische Körperschaft. Die privaten, auf Arbeit und Tausch
beruhenden Gesellschaften spielen dabei eine so geringe Rolle, daß sie Moser von
seinen Erörterungen ausdrücklich fernhält: Es ist hier aber nicht die Rede von solchen
kleinen Gesellschaften, wann zwei oder drei Personen in einer Handlung miteinander
stehen, oder eine Fabric, Manufaotur etc. gemeinschaftlich unternehmen 57 •
Im Preußischen Landrecht (1794) hat der für den „aufgeklärten" Absolutismus des
18. Jahrhunderts kennzeichnende Prozeß der Einordnung der „Gesellschaften" in
den Staat seinen Abschluß gefunden. Die neu eingeführte juristische Terminologie
setzt sich in politische Praxis um. Das Landrecht unterscheidet generell nur zwi-
schen „erlaubten", „unerlaubten" und „privilegierten" Gesellschaften58 • Als uner-
laubt gelten diejenigen, deren Zweck und Geschäfte der gemm:nen R1ih.e, Sü„herh,m:t 111nd
Ordnung zuwiderlaufen, - Bestimmungen, die zu den wes1mtlichen Merkmalen des
souveränen Staats gehören. Das „allgemeine Gesellschaftsrecht", das im Landrecht
kodifiziert wird, durchdringt die ständischen Sonderrechte und ermöglicht - auf
der Basis des ebenfalls kodifizierten „allgemeinen Staatsrechts" - eine generelle
Normierung der verschiedensten historisch gewordenen Gesellschaftsformen. Alle
im Staat bestehenden „Gesellschaften", worunter die Verfasser neben den „Privat-
gesellschaften" auch die „Corporationen und Gemeinen" begreifen (Tl. 2, Tit. 6:
Von Gesellschaften überhaupt, und von Oorporationen und Gemeinen insonderheit),
unterstehen um der Ruhe und Sicherheit willen seiner Aufsicht und Leitung. Deren

64 SCHEIDEM:ANTEL Bd. 2, 272.


55 Ebd. ( § 5).
56 JoH. JAKOB MOSER, Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten 2, 1, § 1

(Frankfurt 1774), 86.


57 Ebd. 4, § 1, S. 261.
5s ALR, Tl. 2, Tit. 6, §§ 2 ff.

815
Gesellschaft, Gemeinschaft m. 3. Wörterbücher und Enzyklopädien

Abhängigkeit von staatlichen Normen und Interessen zeigt sieh nirgends deutlicher
a.ls daran, daß der Sta.at nun selber in die Definition von Gesellschaft eintritt: Ge-
sellschaften überhaupt sind nicht mehr Verbindungen von „Individuen überhaupt",
sondern Verbindungen mehrerer Mitglieder des Staats zu einem gemeinschaftlichen
Zwecke, der damit notwendig auch den „Staatszweck" berühren muß 59 • Die stän-
dische Gesellschaft - im Landrecht noch als „bürgerliche" bezeichnet - befindet
sich auf dem Weg zur „Staatsgesellschaft", zu jenem historisch beispiellosen Para-
digma von Gesellschaft, das der moderne Staat selbst schafft 60. Der Prozeß der
Einordnung wird durch den der Freilassung ergänzt: das staatlich positivierte
Gesellschaftsrecht stellt allen „Mitgliedern des Staats" frei, sich innerhalb der
Grenzen des „gemeinen Wohls" (und bald auch außerhalb der von den Standes-
rechten gezogenen Grenzen) zu assoziieren, - ein Erlaubnisgesetz:, das vor allem für
die „Pl'ivaLgesellschafLen", für gesellige Vereine und Vereinigungen und für die
wirtschaftlichen Erwerbsgesellschaften wichtig werden sollte, die im Landrecht
noch außerhalb des allgemeinen Gesellschaftsrechts behandelt worden waren 61 •

3. Sprachliche Standards in Wörterbüchern und En,zyklopädien

Die angeführten Beispiele faktischer Wortverwendung lassen erkennen, daß 'Ge-


sellschaft' im sozialphilosophischen Begriffsgebrauch des 18. Jahrhunderts bevor-
zugt auftritt. Doch ist diese Tatsache nur zum Teil auf die Einwirkung der natur-
rechtlichen Vertragskonstruktion zurückzuführen. Wenn man von. der aus der
Nationalökonomie hervorgehenden Verengung des Terminus zur individualistischen
Erwerbs- und Wirtschaftsgesellschaft einmal absieht, bleibe~ für die Zeit zwischen
1720 und 1780 in der Regel ältere Begriffsstrukturen bestimmend. 'Gemeinschaft'
heißt noch weitgehend eine Commun oder Gemeinde, die· sprachlich zwanglos als
„Gesellschaft" definiert werden kann 62 • Denn 'Gesellschaft' umfaßt hier immer
schon „gemeinschaftliche" Verhältnisse, weshalb die relativ seltenere Verwendung
des Wortes 'Gemeinschaft' nicht so zu deuten ist, als ob es in seiner inhaltlichen
Bedeutung von dem Gesellschaftsbegriff aufgesogen und als Terminus verdrängt
worden wiire. Das Gegenteil ist der Fall. Die älteren Bedeutungen leben als alltags-
oder bildungssprachliche Standards fort und werden durch die sich abzeichnenden
Veränderungen nicht berührt. Selbst die (schon im 17. Jahrhundert beliebte) latini-
sierte Wortform 'Societät' steht in den reµräsentativen Wörterbüchern und En-
zyklopädien der Zeit für 'Gemeinschaft', 'Genossenschaft', 'Verband', 'Vereini-
gung'63. Im Gegensatz zu 'Genossenschaft', das umgangssprachlich als veraltet
empfunden wird (Auch das gute, etwas veraltete Wort Genossenschaft verdiente, für
Societät wieder üblich gemacht zu werden. Die gelehrte Genossenschaft könnte man für
Societät der Wissenschaften sagen)6 4 , erhält das Wort 'Gemeinschaft' im 18. Jahr-

59 Ebd., Tl. 2, Tit. 6.


60 Vgl.-+ Gesellschaft, bürgerliche, 753 sowie KosELLECK, Preußen, 4~ ff.
61 ALR, Tl. 1, Tit. 17.
62 Vgl. MOSER, Rechte und Pflichten ·2, 3, § 3, S. l 62.

63 Vgl. ZEDLER Bu. 38 (1743), 174 ff.


64 C.AMPE, Fremdwb., 2. Aufl. (1813; Ndr. 1970), 558.

816
m. 3. Wörterbücher und Enzyklopädien Gesellschaft, Gemeinschaft

hundert keine zusätzlichen Iledeutungsaspekte: es bleibL miL 'Gesellschaft' syno-


nym.
Die sprachliche Synonymität bezeugen die Wörterbücher der Zeit. Gesellschaft, so
heißt, AR in ZEDLERS „Universal-Lexikon", ist eine würkliche Vereinbarung der
Kräfte vieler zu Erlangung eines gemeinschaftlichen Zweckes. Das bloße Beieinander-
sein macht noch keine „Gesellschaft", ja dieses ist, wie die Autoren unter Hinweis
auf die neu gegründeten gelehrten Akademien bemerken, nicht einmal notwendig,
immaßen eine Gesellschaft unter Anwesenden auch wohl unterhalten werden kann 65 •
Hier werden nun die von W olff aufgenommenen Sprechweisen der traditionell-
aristotelischen Sozialphilosophie abgehandelt ( societas simplex, prima und minima
- societas composita oder secunda, auch major) 66 • Nur gelegentlich finden sich Ab-
weichungen von den hr.rkömmlir.hfln Rt,:;1,nrlarrlR, wie in der Bestimmung Societät
(öffentliche) oder gemeine Societät ( societaspublica oder societas communis)-heißt ins-
gemein der allgemeine Umgang aller Menschen mit und untereinander, welchen Gott
und die Natur, oder vielmehr der erstere durch die letztere selbst, geordnet, und wohin
auch alle gute Polizei-Gesetze, Statuten und Ordnungen abgezwecket sind, daß solche
erhalten und gehandhabP-t werden 67 • Neben 'Gesellschaft' steht latinisiert 'Societät'
('häusliche oder oeconomische Societät', 'Societät[bürgerliche] oder die bürgerliche
Gesellschaft'), woran deutlich werden dürfte, daß das Wort keineswegs erst über
das englische 'society' bzw. französifmhc 'Aocictß'68 während des 18. Jahrhunderts
in den deutschen Sprachraum eingedrungen ist~ ·
Bei einem sprachstatistischen Vergleich der Wörterbücher jener Zeit und ihres
systematischen Aufbaus fällt auf, daß die Artikel zu 'Gemeinschaft' im all-
gemeinen knapp, die zu 'Gesellschaft' hingegen relativ ausführlich abgefaßt sind.
Man geht sicherlich nicht fehl in der Annahme, daß sich dieser Tatbestand durch
das noch nicht „individualistisch" eingeschränkte Verständnis des Gesellschafts-
begriffs erklären läßt, der gemeinschaftliche und partnerschaftliche Bedeutungs-
elemente mit umschreibt. So fehlt in J. A. EBERHARDS „Versuch einer all-
gemeinen teutschen Synonymik" (1795) ein Hinweis auf das Wort 'Gemeinschaft'
ganz, aber unter 'Gesellschaft' wird als conditio sine qua non der gemeinschaft-
liche Zweck angeführt 69 . Nicht selten firnfot Riilh 1mtflr dem Stichwort 'Gemein-
schaft' ein Verweis auf die - nach biblisch-mythischer wie naturrechtlich-
philosophischer Denkweise am „Anfang der Welt" unter Menschen herrschende -
Gütergemeinschaft (communio primaeva). Nach WALCH versteht man darunter
ein Recht, da ihrer etliche eine Sache unverteilt besitzen und gebrauchen können 70 •
Sofern man überhaupt zwischen beiden Termini unterscheidet, begnügt man sich
mit der Erläuterung, daß 'Gemeinschaft' den Anteil der Personen an einer außer
ihnen liegenden „gemeinsamen" Sache und 'Gesellschaft', die interpersonale Anteil-

66 ZEDLER Bd. 10 (1735), 1260.


66 Ebd., Bd. 38 (1743), 233. 227: Societas simplex, prima und minima ... werden d·iejewigen
Gesellschaften genennet, welche bloß für sich und ohne anderer Gesellschaften Beihülfe bestehen
können ... Societas composita oder secunda, auch major ... werden diejenigen Gesellschaften
genennet, welche aus anderen kleineren Gesellschaften bestehen.
67 Ebd„ 180.
88 So zuletztnochDANKMAR AMBROS, Art. Gesellschaft, Hwb. d. SozWiss., Bd.4 (1964),427ff.

69 EBERHARD/MAASS 3. Aufl„ Bd. 3 (1827), 185 .

.7o WALCH 3. Aufl., Bd. 1(1775),1583.

52-90386/1 817
Gesellschaft, Gemeinschaft .m. 3. Wörterbücher und Enzyklopädien
nahme, das „Gesellt- und Verbundensein" der Menschen untereinanuer LezeicluteL.
Das wird in der „Deutschen Encyklopädie" noch weiter differenziert und auf dill
Beziehung zwischen Lehnsherr und Vasall übertragen. Im Gegensatz zu der mit der
Romantik aufkommenden Sentimentalisierung „mittelalterlicher" Gesellschafts-
verhältnisse subsumiert die Sozialphilosophie der Aufklärung diese Beziehung ge-
rade nicht unter den Gemeinschaftsbegriff: Gemeinschaft nennt man, wenn mehrere
Personen ungeteilte Rechte bei einer Sache haben. So ist überhaupt unter mehreren Mit-
eigentümern eine Gemeinschaft, keineswegs aber ist eine Gemeinschaft vorhanden, wenn
geteilte Rechte bei einerlei Sache vorkommen. Auf diese Weise sind z.B. der Lehnsherr
und Vasall in Rücksicht des dirigierenden und Nutzungseigentums nicht in der Ge-
meinschaft, ob sie gleich beiderseits ihre Rechte an dem Lehngut haben 71 • Ähnlich macht
auch daa ADELUNaache Wörterbuch unter dem Titel „Gomcinochaft" primär auf
den· gemeinsamen Anteil an einer Sache aufmerksam: Gemeinschaft, der Zustand,
da man etwas mit einem andern gemein hat oder sich mit ihm gemein macht. Besonders
die gegenseitige Teilnehmung an den Umständen und an dem Eigentume des andern;
da denn dieser Ausdriiclc so viele nähere Bestimmungen leidet als es Arten von Umstän-
den gibt, an welchem man teilnimmt 72 • Als Beispiel wird außer der Cütergemein-
schaft die traditionell-theologische Deutung einer „Gemeinschaft" (communio,
commercium) zwischen Seele und Leib bzw. der Gläubigen in Gott genannt, und nur
uer SchlußsaLz vermerkL: Z·wwe·ilen wuch ·in we·ile'fer Bede·ut·uny für vertrauter Um-
1Jr11ru1wnd1:n noch weiterer Redent1tn1J fii,r m:ruin jPilen Um1Ja.n1J 13 .
Über die dem Wort 'Gesellschaft' zukommenden Bedeutungsnuancen gibt die eben-
falls im Verhältnis ·zu 'Gemeinschaft' ungleich breitere Darstellung bei Adelung
weiteren Aufschluß. Auch hier steht nicht der Anteil an einer Sache, sondern die
wechselseitige Teilnahme an einem von dem „Geselltsein" selber unabtrennbaren
Zwecke im Vordergrund der Betrachtung. Nach Adelung heißt 'Gesellschaft' in
engerer Bedeutung die persönliche Versammlung mehrerer zu einem gemeinschaftlichen
Endzwecke, in weiterer Bedeutung die Verbindung mehrerer zu einem gemeinsamen
Zwecke, z. B. in der Redeweise; „Die Menschen sind zur Gesellschaft geboren". Von
dieser „abstrakten" unterscheidet Adelung eine „konkrete" Redeweise, die sich auf
die einzelnen „Personen" als Glieder einer Gesellschaft bezieht, wobei das Wort
wiederum die Menschheit im ganzen bezeichnen kann: Die menschliche Gesellschaft
aller Menschen überhaupt, als ein auf mancherlei Art verbundenes Ganzes betrachtet,
welche oft auch nur die Gesellschaft schlechthin genannt werden. Ein nützliches Glied
der menschlichen Gesellschaft sein 74 • Diese Aussagen scheinen auf den sich im Ver-
lauf der Aufklärung vollziehenden Strukturwandel des Begriffs hinzudeuten. „Die
Gesellschaft" wird als Ganzes erfahren, das abstrakt und konkret zugleich ist, ab-
strakt sowohl durch die ihr immanenten Handlungsweisen wie den - als solchen
nicht anschaulich verifizierbaren - Begriff des Ganzen selber, konkret durch die
möglichen Auswirkungen des „gesellschaftlichen" Handelns auf das Dasein des ein-
zelnen und dessen daraus folgende Abhängigkeit vom Ganzen. Darauf verweist
offenbar auch die Redewendung „ein nützliches Glied der (menschlichen) Gesell-

n Dt. Enc., Bd. 11 (1786), 656.


72 ADELUNG 2. Aufl., Bd. 2 (1796), 552.
73 Ebd.
74 Ebd., 623.

818
W. 4. Geselligkeitstheorie und Popularphilosophie Gesellschaft, Gemeinschaft

Dehuft t.lcin", die aioh am Au~gang des 18. Jahrhunderti ebcm10 verbreitet wie iliu
Rede vom „allgemeinen Interesse der Gesellschaft", womit bezeichnenderweise der
ältere Terminus 'bonum commune' utilitaristisch, im Sinne der .Nützlichkeitserwä-
gungen des Riirgert11ms und seiner Emanzipationswünsche umgedeutet wird:
Beste, gemeines, heißt das Gute, welches den gemeinschaftlichen Endzweck einer Ge-
sellschaft ausmacht. ·Man nennt es auch die gemeine Wohlfahrt, das bonum publicum,
das allgemeine Interesse der Gesellschaft 15 • Doch sind dies Redewendungen, die in
Deutschland erst 'später auf den Begriff gebracht werden. Für den Sprachgebrauch
der (deutschen) Aufklärung bleiben sie von untergeordneter Bedeutung.

4. Geselligkeitstheorie und Popularphilosophie

Ein erster wichtiger Einschnitt in die bisherige Begriffsentwicklung vollzieht sich in


der deutschen, nach Westeuropa (England, Frankreich) hin geöffneten .Popular-
philosophie. Sie leitet aus der in der traditionellen Gesellschaftstheorie nur beiläufig
thematisierten Sprache des geselligen „Umgangs" {„Verkehr") einen Begriff von
Geselligkeit ab, der den herkömmli0h1m, mit. 'Gemeinschaft' synonymen Gesell-
schaft11h11griff l'.tmkturell verändert. Das Theurn. haLLe außt:ll·halL U.tll' au Arüito-
teles orientierten Schulphilosophie durch die scharfsinnige und schonungslos-kriti-
sche Analytik der höfisch-städtischen Lebensformen bei den Moralisten drni 17. ,Jahr-
hunderts (Balthasar Gracian, La Rochefoucauld, La Bruyere) an Profil gewonnen.
In ihr artikuliert sich die Realität einer geselligen Kultur, die Adel und Bürgertum,
Hof und Stadt gleichermaßen erfaßt, aber auch der damit verbundene Schein, die
Desillusionierung gesellschaftlicher Normen und Tugenden.
Der deutschen Philosophie bleibt diese geistvolle, auf das Zufällige und in vielfacher
Hinsicht Bedingte des gesellschaftlichen Lebens und Handelns gerichtete Betrach-
tungsweise weitgehend unbekannt. Eine der wenigen Ausnahmen ist CHRISTIAN
GARVE. Die Methode moralphilosophischer Beobachtung, die er von den Engländern
bzw. Schotten (Hume, Smith, Ferguson) und Franzosen übernimmt, führt ihn in
seiner Schrift „Über Gesellschaft und Einsamkeit" zur Analytik der Sphäre des
bürgerlichen „Umgangs" inmitten einer nun auch in Deutschland nicht mehr tra-
ditionell-politisch zu klassifizierenden, „privat" gewordenen Ständegesellschaft.
Wollte man in der Sprache der Zeit reden, so könnte man sagen: 'Gesellschaft'
wird bei Garve zu einem „Weltbegriff", im Unterschied zu ihrer bisherigen Behand-
lung als Schulbegriff (Wolff). „Umgang" ist für Garve eine wesentlich historische
Kategorie. Von ihm heißt es, er sei eigentlich zur Erholung bestimmt, aber bei den
cultivierten Völkern des neueren Europa eine wichtige Angelegenheit des Lebens ...
vornehmlich für die höheren Classen der Menschen geworden 1 6. Im Hintergrund steht
die Emanzipationstendenz der Sphäre des Verkehrs bürgerlicher Privatleute. von
jenen Beschränkungen, die ihr der absolutistische Staat (und die Sittengesetze der
alten bürgerlichen Gesellschaft) auferlegt. Garve erkennt, daß die Struktur der
besondern und engern Art der Verbindung, die wir den gesellschaftlichen Umgang
nennen, eine andere ist als die der „Gesellschaften", wie sie Naturrecht und Politik

75 Dt. Enc„ Bd. 3 (1780), 472.


76 Olm1STIAN GARVF.,Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur
und dem gesellschaftlichen Leben, Bd. 1 (Breslau 1792), 157.

819
Gesellschaft, Gemeinschaft m. 5. Klassische Literatursprache
bisher klassifizierten. Die Kontingenz des Umgangs, welche für Garve die eigent-
liche Basis des gesellschaftlichen Lebens ist, läßt sich nicht durch Worte wie 'Ver-
abredung' oder 'Vertrag', auch nicht durch den Hinweis auf die „Natur" erfassen.
Es bedarf vielmehr der Einsicht, daß sie fortwährend durch die (zufälligen und
willkürlichen) „Verhältnisse" modifiziert werden, unter denen Menschen miteinan-
der umgehen. Die Klassifizierung, um die sich Garve gleichwohl bemüht, hat daher
nur den Charakter einer exemplarischen Deutung 77 . Den verschiedenen „Arten der
Gesellschaft" legt er als Prinzip die Art des Umgangs zugrunde, den die Individuen,
innerhalb von Ständen und Berufen, Parteiungen und Vereinigungen unter- und
miteinander pflegen. Die Art des Umgangs bestimmt sich im allgemeinen durch
zwei Ab.sichten: Vergnügen und Geschäft. Demgemäß bilden eine erste Gruppe die
„Gesellschaften zum Vergnügen" (Hof- und Prunkgesellsoh11ften, Familiengesell-
schaften, Kaffeehausgesellschaften, Clubs: 1. Politische Clubs; 2. Gelehrte Clubs,
Gesellschaften auf öffentlichem Markt); zur zweiten Gruppe gehören die „Gesell-
schaften", welche durch „Geschäfte veranlaßt werden" (u. a. Regierungsgeschäfte,
Geschäfte des Gewerbestandes, militärische Geschäfte, Geschäfte des Lehrstandes).
Die Struktur des Garveschen Gesellschaftsbegriffs wird bestimmt durch eine un-
politische, aber wirkungsmächtige Öffentlichkeit, die der gesteigerte, ständisch
relativ undifferenzierte Umgang vergniignngRAiir.ht.igP.r und geschäftstüchtiger
Privatpersonen unaufhörlich produziert,.
Darin berührt sich Garve mit Anm,F VON KNIGGES Buch „Über den Umgang mit
Menschen" (1. Aufl. 1788), das ihn wohl auch inhaUlich beeinfiußt haben dürfte.
Doch kristallisiert sich Knigges Sprache des „Umgangs" nirgends zu jedem Be-
griff von Gesellschaft aus, wie wir ihn bei Garve vorfinden. Diese „Gesellschaft"
freilich ist in ihrem privat-öffentlichen Wesen von der ökonomischen Basis und
einer „sozialen" Konkretisierung weit entfernt, obwohl bei Garve Wendungen wie
'gesellschaftliche Verhältnisse', 'gesellschaftliches Leben', 'gesellschaftliche Einrich-
tungen', 'gesellschaftliche Gegenstände' und 'gesellschaftliche Gebräuche' schon
eine erhebliche Rolle spielen. Auch der Terminus 'Gesellschaftslehre', der sich in der
Folgezeit an die Stelle des „Gesellschaftsrechts" (jus sociale universale) setzt, ist von
einem Popularphilosophen (TH. ABBT) 78 zuerst geprägt worden. Die Beobachtungen
über das „Privatleben", das von Abbt als beliebige Anwendung der Zeit und Kräfte
definiert wird, die damit verbundene Wahrnehmung einer zwischen privatisierter
Gesellschaft und Staat bestehenden Differenz (Man kann die Menschen, welche in
einem Staate leben, in zwo Reihen stellen. Die eine Reihe führt öffentliche Ämter und
Bedienungen, die andre Reihe führt ein Privatleben) lassen sich offenbar nicht mehr
unter Rechtsbegriffe allein subsumieren.

5. 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' in der klassischen Literatursprache

ln der zeitgenössischen deutschen Literatursprache vermehren sich die vielschich-


tigen Bedeutungsschattierungen der sozialphilosophischen Grundbegriffe. Dabei
lockert sich einerseits die bisherige enge Bindung zwischen 'Gesellschaft' und 'Ge-

77 Vgl. ebd., Bd. 4 (1797), 57 ff.


78TnoMAs ABBT, Vom Verdienste, Vermischte Werke, Tl. 5 (Frankfurt, Leipzig 1883), 100;
Tl. 1, 300. 299.

820
m. 5. Klassische Literatursprache Gesellschaft, Gemeinschaft

meinschaft', andererseits wird die Zuordnung zum 'Staat' durch neu eingeführte
terminologische Unterscheidungen hervorgehoben. Da eine politische Tiefenstruk-
tur im deutschen Sprachgebrauch jedoch fehlt- der Staat ist entweder bedeutungs-
loses Duodezfürstentum oder eine bedeutungsleere Abstraktion-, bleibt das Wort
in der situationsbezogenen Literatursprache charakteristischerweise farblos und
ohne feste Konturen. Meist bezeichnet es eine losere oder mehr äußerliche Gemein-
samkeit, „Gesellschaften", die zur Erreichung eines bestimmten Zweckes gegründet
wurden, oder allgemein das Treffen im geselligen Umgang (bzw. die sich treffenden
Menschen). Obwohl letzteres für die Literatur zunehmend an Wichtigkeit gewinnt
und oft betont wird, daß dieser Umgang einen bestimmten menschlichen Bildungs-
wert hat, erschließt hier die Kritik an ihm ein neues Bedeutungsfeld, in dem der
A<ipekL der „GemeinsehafL" wrüekLriLL. Um ilie Vereiuiguug vou Memiehen auf-
grund von Gemeinsamkeiten zu bezeichnen, verwendet man entweder das bei-
fügungslose oder das durch Beiwörter näher bestimmte Wort 'Gesellschaft'. Am
eindeutigsten sind Verbindungen wie 'politische', 'polizierte', 'politisch formierte
Gesellschaft'. Wenn WIELAND Untersuchungen über . . . den Zweck und die wesent-
l·iclten Rechte der. polü·isclten Gesellschaft a1rntellt 79 oder von der Ungleichheit unter
den Bürgern einer großen politischen Gesellschaft spricht80, so ist damit der Staat
gemeint. Das Wort 'Staat' betont die Einheit, die Geschlossenheit des Verbandes;
'Gesellschaft' betont. die Vielfalt der sich Zusammenschließenden und damit das
Recht des Individuums.
Klarere Profilierungen ergeben sich im Verhältnis von 'Staat' und 'Kirche'. Als
gemeinsamer Oberbegriff galt hier bisher 'Gesellschaft' in einer Bedeutungsweite
und -vielfalt, die 'Gemeinde' und 'Gemeinschaft' zwanglos unter sich befaßt. Im
Prozeß der Aufklärung, der Reflexion auf die Situationsabhängigkeit christlicher
Glaubensformen und Einsicht in ihre geschichtliche Vergänglichkeit einschließt,
wird diese sprachliche Naivität gebrochen. Um den Geist vom Buchstaben, den
überhistorischen „Kern" des Christentums von seiner Hülle, der Verflechtung mit
dem Staat, zu befreien, fordert HERDER, einen „Unterschied" in der sozialphiloso-
phischen Begriffsbildung nicht zu übersehen, - den Unterschied zwischen Gesell-
schaft und Gemeinschaft 81 • 'Gesellschaft' nennt Ilerder das Christentum im Verhält-
nis zum Staat, an dessen Herrschaft es institutionell im Kirchenregiment teilhat,
'Gemeinschaft' in Beziehung auf den „Geist", der es belebt: Gemeinschaft des Gei-
stes ist eine andre Sache. Er hängt nicht vom Staat ab, wird vom Staat auch weder be-
schützt noch besoldet. Er will nicht mitherrschen; sondern herrschet allein: denn er ist
Geist 82 •
Die Herdersche Unterscheidung, welche die alten biblisch-christlichen uoivwvla-
Formeln und die alte Rede von der „Christengemeinde" 83 in einem neuen Sinne
„wörtlich" nimmt, ist jedoch nicht Gemeingut geworden. Sie bleibt Bestandteil

79 WIELAND, Der goldne Spiegel, AA 1. Abt„ Bd. 9 (1931), 126.


80 Ders„ Kosmopolitische Adresse an die Französische Nazionalversammlung, AA 1. Abt.,
Bd. 15 (1930), 319.
8 1 HERDER, Christliche Schriften, 4. Slg. (1798), SW Bd. 20 (1880), 101. Den Hinweis auf

diese Stelle verdanke ich Dietrich Harth, Erlangen.


82 F.bd „ 102.

83 Ebd„ 32 ff.

821
Gesellschaft, Gemeinschaft m. 5. Klassische Lilcr1llur11prache
einer spezifisch religiösen Sprechweise, die weder im systematischen Verständnis der
zeitgenössischen Religionsphilosophie (Kant, Hegel) noch im situierten Wortge-
brauch der zeitgenössischen Literatursprache nachgewirkt hat.
Daß die sich anbahnenden terminologischen Differenzierungen nur allmählich auf-
genommen und nachvollzogen werden, zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die Sprache
der Literatur. SCHILLER unterscheidet in seinen geschichtsphilosophischen Schriften
die politische Gesellschaft als Staat von einem Zustand menschlichen Zusam-
menlebens, der trotz seiner „Staatslosigkeit" bereits die Bildung politischer Kör-
per zuläßt. Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung zwischen europäischer
und außereuropäischer „Gesellschaft". Die Völkerstämme Nordamerikas z.B. sind
nach Schiller zwar schon politisch strulrturiert, aber ihren Gliedern fehlt noch die
Möglichkeit des Vernunftgebrauchs. In ihnen herrscht die Freiheit des Raubtiers,
die durch die Freiheit des Men.,chen überwundtm wArdAn m11ß. DaR ist dai> Ziel
der „politischen Gesellschaft", das für Schiller noch in der Zukunft84 liegt. Diese
Gesellschaft - das Vernunftideal der bürgerlichen Gesellschaft, das Schiller in der
ihm eigenen Form einer „poetischen" GeAchichtsphilosophie verklärt, -wird durch
den Menschen als Vernunftwesen konstituiert, der sich von den Fesseln des Natur-
triebs befreit, an die Stellfl flp,r Zwangspflichten die veredelnden Sitten setzt, jedem
Sicherheit, Eigentum und freie Entfaltung innerhalb der freiwillig übernommenen
Beschränkungen garantiert, um so die Zwecke der Individuen.zu einem das gesell-
schaftliche Ganze erhaltenden und fördernden Zweck zu vereinigen. Es ist der Fort-
schrittsoptimismus der Aufklärung, der sich hier ausspricht, der Glaube, daß der
freie Tau.~ch von Vernunft das Einzige sei, was eine Gesellschaft zur menschlichen
mache 85 •
Nun ist der Ausdruck 'menschliche Gesellschaft' nicht nur in der Umgangssprache,
sondern auch in der Dichtersprache außerordentlich weitgespannt und in seiner
Bedeutung schwer zu fassen. Besondere Schwierigkeiten bereitet dabei das Ver-
hältnis von „politischer" und „menschlicher" Gesellschaft. Da die Menschen nach
der Geschichtsphilosophie der Aufklärung von einer gewissen Stufe ab staatlich
organisiert zusammenleben, kann sich der Ausdruck eng an 'politische Gesellschaft'
anlehnen. SoHILLER spricht von erster Menschengesellschaft, GOETHE fragt, wie es
eigentlich von jeher mit der Bildung der Menschen und menschlicher Gesell.~chaft zu-
gegangen sei 86 • Wie schon das Wort 'Gesellschaft' in vielen Fällen einzelne Gruppen
meint, ohne das Politische ihres Zusammenschlusses durch ein Beiwort betonend
hervorzuheben, so ist 'menschliche Gesellschaft' in der Regel der allgemeinere, um-
fassendere Begriff, von dem die einzelnen Staaten nur besondere Formen darstellen.
Bei WIELAND bemüht sich Agathon zu beweisen, daß die Gerechtigkeit der einzige
Grund der Macht und Dauer eines Staats sowie das einzige Band der menschlichen
Gesellscha/t i;e:i. Daß d'ie Gerechtigkeit fodre, eine jede politische Gesellschaft (sie

84 SCHILLER, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, SA

·Bd. 13 (o. J.), 9. 11; vgl. ders., Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leit-
faden der mosaischen Urkunde, ebd., 24 ff.
· 85 Vgl. KARL LUDWIG v. KNEBEL, Brief an Karl August von Sachsen-Weimar (1787), in:
HELLMUTH v. MALTZAHN, Karl Ludwig von Knebel (Jena 1929), 134.
88 Vgl. ScHILLi.J.K, Etwas über die erste Menschengesellschaft, SA Bd. 13, 24 ff.; GoETHE,

Tag- und Jahreshefte, WA Bd. 35 (1892), 187.

822
ID. 5. Klassische Literatursprache Gesellschaft, Gemeinschaft

möge groß oder klein sein) als unsersgleichen anzusehen 87 • Goethe blickt auf die ihn
umgebenden sozialen Zustände, wobei ihm die „menschliche Gesellschaft" im
Gegensatz zur Natur und zur Einsamkeit erscheint. Sie bedeutet das Leben der
Menschen im geselligen Umgang, mit seinen gegebenen Sitten und Konventionen:
Wenn nun aber auch der menschlichen Gesellschaft mancher Raum in diesen Briefen
gegönnt ist, so nimmt doch bei weitem die Beschreibung von Gegenden den größten Teil
derselben einBB. Zu dieser menschlichen Gesellschaft gehören das Zusammenleben in
größerer Zahl, Sitten, Gesetze, Institutionen usw„ so daß auch Gruppen, die in der
Einsamkeit des Gebirges leben, von aller menschlichen Gesellschaft entfernt sind89 •
Schließlich kann auch und gerade der Dichter die menschliche Gesellschaft „nor-
mativ", unter dem Gesichtspunkt moralischer Wertideen und ihrer Realisierung
betrachten. Sind schon für die „politische" Gesellschaft Normen des Miteinander-
handelns eine notwendige Bedingung, ohne die sie nicht bestehen kann, so noch mehr
in der „sittlichen" Gesellschaft, die das Zusammenleben der Menschen unter mora-
lische, vom einzelnen einsichtig zu übernehmende Grundnormen stellt, deren auch
nur teilweise Verletzung (z. B. der Institution „Familie") das gesellschaftliche
Ganze als „unmoralisch" qualifizieren würde: Wer mir den Ehestand angreift, läßt
Goethe in seinen „ Wahlverwandtschaften" emphatisch ausrufen, wer mir durch Wort,
ja di1,rr,h Tat dü~sen Gmnd aller .~i:ttl1;r,hen Gesell.~r,haft 11,ntergräht, der hat e.~ mi:t mfr Z1J,
t·un90 • Schillei· versuchL, die WerLidee eines moralischen Ganzen, dessen Glieder
herrRflhafü1frei miteinander zu kommunizieren vermör,hten, rlaR Ideal mn Gesell-
schaft91, auf dem Weg der ästhetischen Erziehung des Menschen zu realisieren. Sie
umgreift bei ihm auch und gerade die Sphäre des Politischen, die mit der Gesell-
schaft harmonieren soll. Staat und Gesellschaft entsprechen und bedingen einander
in physischer, moralischer und ästhetischer Verfassung, wobei nur die letztere den
Normbegri:ff von Gesellschaft (der dann wieder mit 'Gemeinschaft' zusammenfällt)
darstellt. lridem Herrschaft und Zwang, Kampf und Streit aufgehoben sind, kommt
es zwischen Individuum und Gesellschaft zur Versöhnung. Der einzelne findet sich
im Ganzen und das Ganze im einzelnen erhalten und bestätigt, so daß die „Norm"
des Zusammenlebens als „wahre" Gesellschaft vollständig realisiert und so von an-
deren (bloß möglichen) Gesellschaften unterschieden ist: Der dynamische Staat lcann
die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der
ethische Staat kann sie bloß (moralisch) notwendig machen, indem er den einzelnen
Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich
machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht.
Wenn schon das Bedürfnis den Menschen in Gesellschaft nötigt und die Vernunft gesel-
lige Grundsätze in ihm pfianzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Cha-
rakter erteilen9 2.

87 WIELAND, Geschichte des Agathon, AA 1. Abt„ Bd. 6 (1937), 210.


88 GOETHE, Rez. Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen, WA Bd. 42/1 (1904), 58.
89 Ders„ Wilhelm Meisters Lehrjahre, W A Bd. 21 (1898), 137.
90 Ders„ Die Wahlverwandtschaften, WA Bd. 20 (1892), 107.

91 SoHlLLElt, Ästhetische Erziehung, SA Bd. 12 (o. J.), 9.


92 Ebd., 117.

823
.Gesellschaft, Gemeinschaft m. 6. Kritik der traditionellen Theorie
6. Kritik der trad.itione1len GeseJlschaftstheorie: Kant und der junge Fichte

Anders stellt sich der Philosophie das Normproblem einer „vollkommenen Gesell-
schaft" dar. Sie geht zurück auf einen kritisch gereinigten, den traditionell-sozial-
philosophischen Zusammenhang von Herrschaft und Gesellschaft im neuzeitlichen
Naturrecht weiter auflösenden Rechtsbegriff. Gerade weil sie die Verbundenheit
menschlicher Individuen (z. B. in den Institutionen „Ehe", „Staat", „Gemeinde"
usw.) weder deskriptiv-teleologisch noch moralisch-emotiv oder gar (mit Schil-
ler) ästhetisch, sondern normativ-vernünftig, als „Verbindung'' freier Wesen
betrachtet, die durch den wechselseitigen Einfiuß . . . nach dem Prinzip der äußeren
Freiheit (Kausalität) eine Gesellschaft von Gliedern eines Ganzen (in Gemeinschaft
stehender Personen) ausmachen93 , orientiert sie sich zunächst am Recht. Das norma-
tiv-vernünftige Rechtsdenken unterwirft die „Kausalität" der mit- und gegeneinan-
der handelnden Individuen, die Möglichkeit ihrer wechselseitigen Einflußnahme,
einem „Prinzip", nämlich äußerlich so zu ha;ndeln, daß die Freiheit (Kausalität)
eines jeden mit der von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz (der Vereinbar-
keit dieser Freiheit) zusammen bestehen kann94 • Erst mit der Befolgung dieses
„Prinzips des Rechts" wird Gesellschaft unter Menschen im Sinne eines moralischen
Ganzen, als Personengemeinschaft gedacht. Beide Termini gebraucht Kant syno-
nym. Trotz der Kritik an den naturrechtlichen Prämissen stimmt er mit seinen Vor-
gängern darin überein, daß die Gemeinschaft mit andern Menschen d. i. der Trieb
zur Gesellschaft95 nicht nur als Mittel, sondern als Zweck, ja in gewisser Weise
als Selbstzweck (dem man dann der „Natur" zurechnet) zu begreifen sei. Beispiele
dafür liefert - wie bei Schiller - die Kunst: höchstes Ziel des Wohlgefallens an
ästhetischen Gegenständen ist, gemein.Ychaftlich mit anderen (gesellschaftlich) zu
empfinden 96 •
Daß Kant im Kontext der Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie gleichwohl
terminologisch meist von 'Gesellschaft' spricht, erklärt sich einerseits aus der dar-
gelegten Bedeutungssynonymität, andererseits aus den oben behandelten sprach-
lichen Konventionen des neuzeitlichen Naturrechts. Auch bei Kant unterliegt dem
Terminus das Schema des Vertrags, wodurch eine Menge von Menschen sich zu einer
Gesellschaft verbindet ( pactum sociale). Es kann daher eine Vielzahl von „ Gesell-
schaften" geben, je nach der Art der Verbindung vieler zu irgendeinem gemeinsa-
men Zwecke, den alle (faktisch) haben. Davon unterscheidet sich, nicht der Aus
führung, sondern dem Aufbau nach, die Verbindung, die an sich selbst Zweck ist,
deren Zweck ein jeder haben soll97 , - die ideale Norm von „Gesellschaft" (im Sinne
dynamischer Gemeinschaft unter Menschen), die sich nach Kant nur politisch, im
(bürgerlichen) Rechtsstaat realisieren läßt. Die Norm postuliert keine „herrschafts-
freie" Gesellschaft, im Gegenteil: die Möglichkeit ihrer Realisierung setzt eine alle
bindende und für alle verbindliche Herrschaftsgewalt voraus. Aber im Unterschied
zur traditioncll-naturrechtlichen Gesellschaftstheorie vermag Kant, angestoßen

93 KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 22. AA Bd. 6 (1907), 276.


94 Ebd., 230 f. (Einleitung, § C).
95 Ders., Kritik der Urteilskraft, § 41. AA Bd. 5 (1908), 297. 296.

96 Dcrs., Anthropologie, AA Bd. 7 (1907), 244.


97 DeI"s., Übei· Jeu Gemeim;pruuh: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für

die Praxis, AA Bd. 8 (1912), 289.

824
m. 6. Kritik der traditionellen Theorie Gesellschaft, Gemeinschaft

von Rousseaus „Contrat social" (den er nicht 'Gesellschaftsvertrag', sondern 'Bür-


gerbund' nennt), das Prinzip der Herrschaft (Unterwerfung) mit dem der Gesell-
schaft (Vereinigung) in Übereinstimmung zu bringen. Dazu genügt nicht die An-
nahme eines - stets Bedingungen der Erfahrung unterliegenden - Vertrags allein,
sondern es bedarf der praktisch-vernünftigen Idee einer Verfassung von der größten
menschlichen Freiheit nacli Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern
ihrer zusammen bestehen kann 98 •
Was dem normativ-vernünftigen Denken der Rechts- und Staatsphilosophie als
Aufgabe gesetzgebender Vernunft gilt - für eine Menge von vernünftigen Wesen, die
insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim
sich davon auszunehmen geneigt ist, diejenige Verfassung zu finden, in der allgemei-
nes Gesetz und besonderes Interesse miteinander übereinstimmen -, bildet im
situationsbezogenen, deskriptiven Denken der Geschichtsphilosophie und Anthro-
pologie den Ansatz und Ausgangspunkt einer Konstruktion, deren Basis statt der
„durchgängigen", d. h. auf Vernunft beruhenden, die pathologisch abgedrungene
Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft ausmacht99 • Das Kantische Sozialmodell
umschreibt in beiden Fällen das Handlungsschema der „bürgerlichen Gesellschaft"
im modernen (liberalen) Sinne des Wortes, d. h. eines dynamischen Ganzen, dessen
Teile zugleich mit- und gegeneinander handeln : I eh verstehe hier unter dem Antagonism
die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft
zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft
beständig zu trennen droht; verbunden ist 100 • Die Parallelen, die sich von diesem
Kantischen Theorem zum popularphilosophischen, vor allem aber zum geschicht-
philosophisch inspirierten Gesellschaftsdenken der englisch-schottischen Moral-
philosophie (Smith, Hume, Ferguson, Millar) ergeben, liegen auf der Hand; sie
wären weiterer Verdeutlichung bedürftig 101 .
Die von Kant formulierte Frage nach einer auffreier „Wechselwirkung" aufgebau-
ten, vollkommenen Gesellschaft wird von FICHTE aufgenommen und in einen
historisch wie sprachkritisch genauer fixierbaren Deutungszusammenhang gebracht.
Obwohl auch Fichte 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' nicht selten synonym ver-
wendet102, stellt er als erster im Zusammenhang der sozialphilosophischen Begriffs-
bildung sprachkritische Überlegungen an. 1792 notiert Fichte eine Verwirrung der
Begriffe, die nach seiner Meinung bis auf diesen Tag ... geherrscht und so sehr bis in
das Innere der Sprache sich verwebt hat, daß es schwer fällt, ein Wort zu finden, um ihr

98 Ders., Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl. 1781, AA Bd. 4 (1903), 201.
99 Ders., Idee zu einer allgemeinen. Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. 8, 21.
100 Ebd., 20.

1o 1 Das Modell menschlicher Vergesellschaftung als Ergebnis der Wechselwirkung verschie-


dener, einander entgegeugeioebzter Faktoren (Vereinzelung und Vereinigung, Triebnatur
und Vernunft, Natur )lnd Kultur) entwickelt ADAM FERGUSON, Essay on the History of
Civil Society (1767) 1, 1-6. Seine historiographische Anwendung findet sich bereits bei
GrLBERT STUART, A View of Society in Europein Its Progress from Rudeness to Refine-
ment (1778). Vgl. dazu neuerdings HANS MEDICK, Naturzustand und Naturgeschichte
der bürgerlichen Gesellschaft (Göttingen, Zürich 1972).
102 FICHTE, Deiträge zur Derichtigung der Urteile des Publikums über die Ffänzösische

Revolution, AA 1. Abt., Bd. 1 (1964), 275 ff.

825
Gesellschaft, Gemeinschaft m. 6. Kritik der traditionellen Theorie
ein Ende zu machen. Das Wort 'Gesellschaft' nämlich ist die Quelle des leidigen Miß-
verständnisses. Der Haupteinwand von Fichtes Kritik richtet sich gegen die na-
turrechtliche Modifikation des traditionellen Gesellschaftsbegriffs. Man brauche ihn
gleichbedeutend bald mit Menschen, die überhaupt in einem Vertrage, bald mit
Menschen, die in dem besonderen Bürgervertrage stehen, mit dem Staat, und schleiche
sich dadurch über die wicht~ge Erörterung hinweg: wie es mit Menschen beschaffen sei,
die um, neben, zwischen einander leben, ohne in irgendeinem V ertrage, geschweige denn
im Bürgervertrage zu stehenioa.
Während Kant den in keiner Erfahrung „gegebenen", normativen Gesellschafts-
begriff nur als Bedingung ihrer Möglichkeit (durchgängige Zusammenstimmung
nach äußeren Gesetzen des Rechts) verstehen mochte, überträgt ihn Fichte aus der
Sphäre praktischer Vernunft unkritisch in den Bereich wirklicher Erfahrung:
Gesellschaft nenne ich die Beziehung der vernünftigen Wesen aufeinander. Der Begriff
der Gesellschaft ist nicht möglich, ohne die Voraussetzung, daß es vernünftige Wesen
außer uns wirklich gebe 104 • Neben die vertraglichen, vernünftig geregelten Beziehun-
ge_n der Individuen untereinander tritt das vertragsfreie „Verhältnis im Raume",
---:- ein sozietärer Zusammenhang, der nicht auf Vernunft und Vertrag reduzierbar
ist. Der Sinn von Gesellschaft ist terminologisch neu festzulegen: I eh unterscheide
beim Worte Gesellschaft zwei H aupt.bedeutungen; einmal, indem es eine physische
Beziehung mehrerer aufeinander ausdrückt, welches keine andere sein kann als das V er-
hältnis Z'UL-inander im Ra-ume; dann, indem es eine moralische Beziehung ausdrückt,
das Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pfiichten gegeneinander 105 •
In der letzteren Bedeutung sei es von der naturrechtlichen Schule gebraucht wor-
den, die alle Rechte und Pflichten des Menschen durch Verträge, entweder im all-
gemeinen oder durch den Bürgervertrag im besonderen, bestimmt sein ließ, so daß
notwendig jede Gesellschaft durch Vertrag entstanden sein mußte und ohne diesen
keine möglich war. Darüber aber vergaß man, wie Fichte sagt, die erstere Bedeutung
des Wortes Gesellschaft. Zwar nennt er sie die 'physische', aber es ist nicht die einer
menschlichen Bedürfnisnatur, im Gegenteil: Fichte versteht darunter eine jede
„Aggregation" freier, nicht durch Vertrag gebundener Wesen, die „natürlich", und
das besagt nur: im Raume beieinander leben und dadurch in gegenseitige Beziehungen
versetzt werden 106 • „Gesellschaft" iiit für Fir,hte die Rumme fler Tnfliviflmm und nicht
Ausdruck ihrer Unselbständigkeit und Abhängigkeit: Die Menschen _können aller-
dings, . . . um, neben, zwischen, 'untereinander leben, ohne in Gesellschaft in euerer
zweiten Bedeutung, im Vertrage, zu stehen. Sie sind dann nicht ohne gegenseitige Rechte
und Pfiichten. Ihr gemeinschaftliches Gesetz, welches dies scharf genug bestimmt, ist das
Freiheitsgesetz; der Grundsatz: hemme niemandes Freiheit, insofern sie die deinige
nicht hemmt107 •
Aus dieser Unterscheidung leitet Fichte - als einer der ersten im deutschen Sprach-
bereich - den Unterschied zwischen Gesellschaft und Staat ab 108 • Er ist einerseits

103 Ebd., 275 f.


104 Ders., Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, AA 1. Abt., Bd. 3 (1966), 34.
l0 5 Ders., Beiträge, ebd., Bd. 1, 276.
100 Ders., Bestimmung des Gelehrten, ebd., Bd. 3, 27.
107 Ders., Beiträge, ebd., Bd. 1, 276 f.
108 Ebd., 284.

826
IV. 1. Sozialphilosophie als Sozialrom.antik Gesellschaft, Gemeinschaft

auf den souveränen Staat der Neuzeit bezogen, den Fichte, im nur noch negativen
Sinne des Wortes, als „Maschine" begreift, - ein nicht mehr bewundernswertes,
sondern „sonderbares" Kunstwerk, das in seiner Zusammensetzung wider die Natur
sündigte109 • Insofern wird der Unterschied zur Gesellschaft geschichtlich konkreti-
siert. Auf der anderen Seite aber besagt der Unterschied für Fichte die Gegnerschaft
zu jeder Art Staat, weil dieser selber allein kraft der Gesellschaft da ist 110 • So spricht
Fichte in den „Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" (1794) nicht nur
von einem „Unterschied", sondern postuliert die „Auflösung" des Staats in „Ge-
sellschaft", die als „Beziehung vernünftiger Wesen aufeinander" nicht mit der
besondren empirisch bedingten Art von Gesellschaft, die man.den Staat nennt, zu ver-
wechseln ist: Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des M en-
schen ... ; sondern es ist ein nur unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel zur
Gründung einer vollkommenen Gesellschaft 111 • Die abstrakt-geschichtslose Fassung
des Unterschieds zwischen Staat und Gesellschaft darf nicht darüber hinwegtäu-
schen, daß Fichte die terminologischen Differenzierungen nicht um ihrer selbst willen
vornimmt. Denn Fichte hat seine Auseinandersetzung mit den Aporien des natur-
rechtlichen Gesellschaftsbegriffs in der Absicht begonnen, daraus hinsichtlich der
Beurteilung der Französischen Revolution eine wichtige Folgerung zu ziehen. Er
bezieht nämlich die Unterscheidung auf die zu Beginn der neunziger Jahre heftig
umstrittene Frage nach dem Recht des französischen Volkes, den „Bürgervertrag"
zu verändern. Seine Antwort erweist sich allen anderen im Umlauf befindlichen
Theorien dadurch überlegen, daß er die Revolution als Überwindung des Staates
durch die Gesellschaft begreift. Das Recht zur Veränderung des Bürgervertrages,
das Fichte in seiner Auseinandersetzung mit A. W. REHBERGS „Untersuchungen
über die Französische Revolution" (1793) verteidigt, ergibt sich aus der am Ende
des 18. Jahrhunderts aufbrechenden Differenz zwischen Gesellschaft und Staat, die
Fichte nun systematisch der abstrakt-naturrechtlichen Unterscheidung von Natur-
und bürgerlichem Zustand an die Seite stellte. Das Naturrecht (droits de l'homme)
ist Gesellschaftsrecht des Staats insofern, als der „Naturzustand des Menschen"
nicht, wie die Gegner der Französischen Revolution übereinstimmend meinen, im
Bürgervertrag aufgehoben ist; er läuft vielmehr umtnterbrochen mit d1irch den Staat
hindurch. Der Mensch, dem als vernünftigem Wesen kein Gesetz gegeben werden
kann, es sei denn von ihm selbst, hat jederzeit das vollkommene Recht, den Staat
zu verlassen, und die Gesellschaft hat das Recht, den bestehenden Bürgervertrag
aufzuheben und einen neuen zu schließen 112 .

IV. Romantisch-restaurative und bürgerlich-liberale Sprachregressionen

I. Sozialphilosophie als Sozialromantik

Obwohl diese terminologischen Unterscheidungen den CharaJder einer .b:ntdeckung


haben, sind sie von Fichte schon bald wieder zurückgenommen worden, - zunächst

109 Ebd., 249.


110 Ebd„ 288 .
. 111 Ders., Bestimmung des Gelehrten, ebd., Bd. 3, 37.
11 2 Ders., Beiträge, ebd., Bd. 1, 277 f. 290 f.

827
Gesellschaft, Gemeinschaft IV. 1. Sozialphilosophie aIS Sozialromantik

(„Grundlagen des Naturrechts", 1796) zugunsten des naturrechtlicheu Vertrags-


schemas, danach („Reden an die deutsche Nation", 1807/08) infolge einer „na.tnr
wüchsigen" Begriffssprache, in welcher der Gesellschaftsbegriff der Sozialphilosophie
durch vorphilosophische Sprechweisen, z.B. Worte wie 'Volk', 'Volkstum', 'Nation',
'Stamm' usw. überlagert wird. Die Zurücknahme fällt zusammen mit dem Entstehen
der romantischen Bewegung, - dem Versuch einer literarisch-kulturellen und poli-
tischen Abwehr der Aufklärung und ihrer praktischen Konsequenzen, vor allem der
Französischen Revolution. „Gesellschaft" war von Kant und dem jungen Fichte als
„Gemeinschaft", als Wechselwirkung freier und gleicher Individuen in einem ver-
nunftbegründeten Handlungs- und Zweckzusammenhang begriffen worden. Das
gesellschaftliche Ganze wurde hierbei nicht zum Selbstzweck erklärt, sondern blieb
stets zugleich ein Mittel zur Reafüiiorung bogründotor Zwooko des Individuums;
selbst der Staat galt dem frühen Fichte als Mittel zur Gründung einer über ihn
hinausweisenden, „vollkommenen" Gesellschaft der Vernunft. Die Anhänger der
Romantik kehren das „vernünftige" Bezugsverhältnis von Individuum und Gesell-
schaft um. Indem sie 1) die Relationskategorien wieder substanzialisieren, stilisieren
sie das gesellschaftliche Ganze und seine Teile zu sozialen „Ganzheiten" hoch, die
dem individuellen Handeln vorgeordnet sind, und indem sie ::.:1) die Annahme emes
rationalfm RnhjektR deR e;eRellRr.haft,lir.hen HR.nrlP.lrn1 prP.iRgP.hP.n, fal'\Rf\n sie das Indi-
viduum als moralische Person, deren RechLe urnl Pilichteu wohldefiniert sind, in der
AnRr.hauung einer allerrlingR nir.ht mehr rlefinierbaren, „individuellen" Persönlich-
keit verschwinden. 'Persönlichkeit' und 'Gemeinschaft' sind die beiden begrifflichen
Extreme, um die sich die literarischen Meinungen der Romantiker zum Gesell-
schafts- und Staatsproblem bewegen. Dieser offensichtlich schlecht gewählte Be-
zugsrahmen führt einerseits zur Sentimentalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse,
wobei der Rückgriff auf naturhafte und geschichtlich gewordene Grundlagen der
Sozialbeziehungen (Familie, Stamm, Volk usw.) eine erhebliche Rolle spielt, an-
dererseits zur Privatisierung, ihrer Reduktion auf eine nicht mehr öffentlich kon-
zipierte, intime „Geselligkeit". Beide Tendenzen haben eines gemeinsam: sie brin-
gen gegenüber der Tendenz zur Verfiüchtigung sozietärer Zusammenhänge im Ver-
nunftrechtsbegriff des philosophischen Idealismus zu Bewußtsein, .daß „Gesell-
schaft" Faktum oder, wie F. SCHLEGEL sagt, empirisches Datum ist: Aus dem bloßen
Rechtsbegriff kann die Gemeinschaft und Gesellschaft nicht hergeleitet werden, es muß
dabei dann schon immer eine Gesellschaft als empirisches Datum angenommen wer-
den113. Die an sich triviale Feststellung, daß Gesellschaft ein Erfahrungsbegriff sei,
unterscheidet die Romantik noch nicht von der aristotelisch-naturrechtlichen
Tradition, wohl aber der Umstand, daß sie mit der Kritik am Vertragsschema den
normativ-~ernünftigen Begründungszusammenhang von Recht und Gesellschaft
auflöst. Die Vertragstheorie, so wird hier argumentiert, überschätzt den Anteil der
Vernunft am Zustandekommen menschlicher Beziehungen, sie versteht unter
'Gesellschaft' einen Zusammenhang von Mitteln zur Realisierung von Zwecken, die
das Individuum in vernünftiger Erwägung zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und
Interessen bestimmt. Damit verliert sie <len Rlir.k für rlaR „wahm WeRen menRr.h-
licher Beziehungen", das nicht im „vernünftigen" Reden und Handeln, sondern in

113 F. Scm,EGEL, Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, SW 2. Abt., Bd. 13

(1964), llO.

828
IV. 1. Sozialphiloinphir. nli Sozialromantik Gesr.llichafl, Gemeinschaft

vorvernünftigen lnstinkten, Gefühlen, Gewohnheiten, Gebräuchen und Abhängig-


keiten (von Familie, Stamm, Volk, usw.) besteht 114 .
So kommt es in der Rechts- und Staatsphilosophie der Frühromantik zu einer
höchst folgenschweren Bedeutung1:iver~;chiebung. Sie wird ausgelöst von einem Miß-
verständnis, das sich an das Schema des Vertrags, insbesondere an die Lehre vom
Gesellschaftsvertrag knüpft. Obwohl dieses Schema bei den Naturre~htstheoreti­
kern des 17. und 18. Jahrhunderts lediglich als Norm zur Beurteilung der Vernünf-
tigkeit menschlicher Gesellschaftsbildung überhaupt und nicht als historisch-fak-
tische Genese bestimmter „Gesellschaften" gilt, wird es jetzt als Faktum, und das
heißt zugleich: nach dem Schema des juristischen Privatvertrags gedeutet. Gewiß
war an dieser mißverständlichen Deutung die populäre Aufklärung (z.B. ScHLÖZER
iu DeuLschland 115) nicht ganz schuldlos; aber die FehldeuLung isL vun Jeu Iluruau-
tikern theoriepolitisch beabsichtigt, das Mißverständnis nicht Zeichen mangelnden,
:;uuJern eine~ iJeulugisd1 i11Lere~~ierLe11 Veri:!Lehen~. Der SLaaL, ~agL ADAM MÜLL.l!:J:t
in seinen vor dem Dresdner Adelspublikum gehaltenen Vorlesungen über die „Ele-
mente der Staatskunst" (1809), ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei, Asseku-
ranzanstalt oder merkantil-ische Sozietät, das Volk als seine Naturgrundlage nicht eine
Menge von Menschen, sondern die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von ver-
ganganan, jatzt lebenden und noch kommenden Gaschlßchtern, dia alla in ainam großan
innigen Verbande zu Leben und Tod zusammenhangen, von denen jedes einzelne und in
jedem einzelnen Geschlechte wieder jedes einzelne menschliche Individuum den gemein-
samen Bund verbürgt und mit seiner gesamten Existenz wieder von ihm verbürgt wird;
welche schöne . . . Gemeinschajt sich den Augen und den Sinnen darstellt in gemein-
schaftlicher Sprache, in gemeinschaftlichen Sitten und Gesetzen, in tausend segensreichen
Institutionen 116 •
Müller bezieht sich hier inhaltlich und wohl auch terminologisch auf EDMUND
BuRKES „Re:fiections on the Revolution in France" (1793), die in der Übersetzung
von FRIEDRICH GENTZ die politische Begriffssprache der Romantik nachhaltig be-
einflußt hat. Die Gesellschaft, so heißt es bei Burke, sei in gewisser Weise wohl ein
Vertrag (contract), aber nicht ein Vertrag, der wie eine Geschäftspartnerschaft im
Handelsverkehr (partnership agreement) mit Pfeffer oder Tabak beliebig von einem
der Partner gelöst werden kann: Da die Zwecke einer solchen Verbindung (so Gentz,
bei Burke: partnership) nicht in einer Generation zu erreichen sind, so wird daraus
eine Gemeinschaft (bei Burke wieder: partnership) zwischen denen, welche leben, denen,
welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen 111 • 'Gemeinschaft' ist hier also
nicht die Übersetzung von engl. 'community', sondern von 'partnership' - ein
Wort, das die fortdauernde Orientierung am Vertragsschema bezeugt und von
Gentz gelegentlich auch mit 'Staatsverein' wiedergegeben wird. Bei Burke/Gentz
ist von der Gemeinschaft zwischen den Lebenden im Sinne einer Interessenge-

114 Vgl. EuaEN LERCH, „Gesellsohaft" und „Gemeinsohaft", Dt. Vjsohr. f. Literaturwiss.

u. Geistesgesch. 22 (1944), 112.


m Aue. LUDWIG l::lcHLÖZER, Allgemeines l::ltatsRecht (1793), § 4.
116 ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst (1809), hg. v. Jakob Baxa, Bd. 1 (Jena

'1922), 37. 145 f.


11 7 EDMUND BURKE, Betrachtungen über die französische Revolution, dt. Übers. v. Fried-
rich Gentz, hg. v. Dieter Henrich u. Lore Iser (Frankfurt 1967), 160.

829
Gesellschaft, Gemeinschaft IV. 2. BegriJlliche Unterscheidung

meinschaft, der 'l'eilhaberschaft an bestimmten Gütern die Rede, wobei diese Güter
keineswegs nur materielle Sachgüter sind 118 • Adam Müller hat den 1!och unbefan-
genen Wortgebrauch von Burke/Gentz, der lediglich einen Zustand (das Verhältnis
zwischen den Generationen) beschreibt, sentimentalisiert, indem er pathetisch von
einer erhabenen Gemeinschaft spricht, welche die Generationen verbinden und die
Dauerordnung „Staat" vor anderen sozietären Zusammenhängen als geschichtlich
werthaft auszeichnen soll. In der Tat weist diese sentimental-pathetische Redeweise
in die Zukunft119 • HEINRICH VON KLEIST gebraucht 'Gemeinschaft' bereits ganz im
Sinne eines höchsten Wertgefühls, als Selbstbezeichnung „der" Gemeinschaft, ohne
nachfolgende Verhältnis- oder Zustandsbestimmungen. Die Gemeinschaft der
miteinander Verbundenen wird trotz oder gerade wegen der politischen Absicht
(der Selbstbehauptung der deutschen Natiu11 gegeüüLer U.el" Napuleouümhen Herr-
schaft) zum Selbstzweck: Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wurzeln tausendästig, einer
Eiche gleich, in den Boden der Zeit eingreifen ... , eine Gemeinschaft, die unbekannt
mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung ... , eine Gemeinschaft, die ... ,
einem schönen Gemüt gleich, bis auf den heutigen Tag an ihre eigneHerrlichkeit nicht ge-
ylwubt hut ... , e·ine Gerrwinschaft, deren Dase'i-tt ke'irte de'atsche Brust überleben und die
nur mit Blut, vor dem die Sonne verdunkelt, zu Grabe gebracht werden soll 120 .
In anderer Hinsicht redet FRIEDRIOH SoHLEOEL vo·n „wahrer Gomoirniohaft". Er
verbindet 'Gemeinschaft' als Wertbegriff mit dem theologisch-kirchlichen Begriff
der Hierarchie, dem Gedanken statischer Über- und TTntArordrnmgsvcrhältnisse in
der kirchlichen Organisation, die sich - nach mittelalterlichem Vorbild - im Staat
fortsetzen: Das Menschengeschlecht soll doch zu einer wahren Gemeinschaft, wenn
nicht unmittelbar geführt, doch dazu vorbereitet werden. Hierzu dient die Hierarchie.
Durch das Kaisertum mit durchgehender ständischer Verfassung und die Hierarchie
werden beide Forderungen der Absonderung und der Verbindung der Nationen be-
friedigt121. Die Verbindung ist das Werk der Kirche, die Absonderung die Folge des
Staats. Staat und Kirche verhalten sich zueinander wie bedingte („relative") und
unbedingte („absolute") Gemeinschaft, so daß Schlegel auch sagen kann, die
Hierarchie bezwecke die unbedingte Gemeinschaft und Verbindung unter Menschen, -
eine Spiritualisierung sozietärer Zusammenhänge, die auf einer grnndlegenden Um-
deutung des herkölllmlichen, lllit den traditionell-begrifflichen Mitteln der Sozial-
philosophie verstandenen Kirchen- und Staatsbegriffs beruhte.

2. 'Gemeinschaft' und 'Gesellschaft': zur Genese der begrifflichen Unterscheidung

Gleichwohl ist die sich hieran anknüpfende und noch in Publikationen aus jüngster
Zeit vorgetragene These von einer terminologischen Fixierung des romantisch-
konscrvativcn Sprachgebrauchs auf das Wort 'Gemeinschaft' - „Für die natur-
wüchsig-historisch vorgegebenen (Familie, Gemeinde, Stand, Volk) oder sittlich
vorgAo_rdnAtAn (Rtaat) fianr.hP.it1m Rtanfl Rynnnym oflAr prii.flilrn,t,iv nAr 'J'er~inus

118 .b:bd.
119 Vgl. LERCH, „Gesellschaft" u. „Gemeinschaft", 116.
120 HEINRICH v. KLEIST, Was gilt es in diesem Ki·iege? (1809), Sämtl. Werke u. Br., hg.
v. Helmut Sembdner (Darmstadt 1962), 378 f.
1 21 Vgl. SCHLEGEL, Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, SW Bd. 13, 168.

830
IV. 2. Begriffliche Unterscheidung Gesellschaft, Gemeinschaft

Gcmcimwhaft"l22 -- in die~er Au88chließlichkeit, nicht, h11.lthi.r 'l'rntz ihr11r Pol11mik


gegen die unkontrollierte .Anwendung des Vertragsschemas in der Sozialphilosophie
der Aufklärung benutzen die Romantiker regelmäßig Wortverbindungen mit
'Gesellschaft', so etwa HEINRICH VON KLEIST, der einen Gesellschaftsbund fordert 123,
oder ADAM MÜLLER, der 'Gesellschaft' nach dem Muster der traditionellen Gesell-
schaftstheorie noch mit dem 'Staat' identifiziert: Die ewige Allianz der Menschen
untereinander, welche wir Gesellschaft oder Staat nennen, ist ... ebenso rechtmäßig als
nützlich124 • 'Gemeinschaft' hat auch nicht die Funktion eines polemischen Gegen-
begriffs. Das nimmt dem oben erwähnten Bedeutungswandel die terminologische
Spitze. Auch FRIEDRICH SCHLEGEL, der mit der Gleichsetzung von „Hierarchie"
und „unbedingter Gemeinschaft" am weitesten über das Gesellschaftsdenken der
Aufklärung hinauszugehen scheint, bedient sich der älteren Synonymitätsformel,
wenn er schreibt: Aus dfw sittliolum Fordemng ab.~olut,er Gemeinschaft geht die Gesell-
schaftsform uberhaupt hervor . , . Die Kirche ist die unbedingte Gesellschaft und Gemein-
schaft aller Menschen in ihrem 'Verhältnis zu sich selbst und zur Gottheit 125 • Ähnlich
weit gebraucht NovALIS beide Begriffe. Einerseits spricht er abwertend davon, daß
jedelängereGemeinschaft(inder Bedeutungvon„Beisammensein") die Menschen dar-
an gewöhne, ihr ganu.~ Dfohttn "'nd Trachten deii 111ittf!ln des W ohlbcfindcns allein zu-
zuwenden, andererseits preist er die Organisation kirchlicher Orden als Muster aller
Gesellschaften ... , die eine organische Sehnsitcht nach itnendlicher Verbreitung und
ewiger· Dauer fühlen 126 • Daneben. verwendet Novalis das. vorher nur in der
Rezeptionssprache der empirischen Psychologie (Hume) auftretende Wort 'Asso-
ziation' (von der deutschen Popularphilosophie mit 'Vergesellschaftung' über-
setzt127) als Oberbegriff sozialer Beziehungen: Staat, Kirche, Ehe, Gesellschaft,
Publikum sind lauter Begriffe, die auf unsere eigentlich menschlichen Verhältnisse,
das ist auf unsern Bestand in einer unendlichen Assoziation von Vernunftwesen, den
eigentlichsten Bezug haben128 • Auch der Ausdruck 'Gesellschaftslehre' ist Novalis
nicht fremd; freilich gelangt er über einige vage .Andeutungen zur Stellung dieser
offenbar neuartigen Wissenschaftsdisziplin nicht hinaus 129 •
Das eigentliche wissenschaftliche Interesse der Romantiker an der „Gesellschaft"
gilt den privaten Verhältnissen der Geselligkeit, die hier an die Stelle der Öffent-

122 So jüngst noch PETER FURTH, Art. Gemeinschaft, Evangelisches Staatslexikon, hg. v.

HERMANN KUNST/SIEGFRIED GRUNDMANN (Stuttgart, Berlin 1966), 608.


123 KLEIST, Gewerbfreiheit, Berliner Abendbll. 1 (1810), 216.

1 2 4 MÜLLER, Elemente der Staatskunst, Bd. 1, 59.


125 SCHLEGEL, Entwicklung der Philosophie, SW Bd. 13, 143. Vgl. ebd„ 168: Es ist daher

auch eigentlich nicht zu sagen, die Kirche hahe einen Zweck, sie ist sich vielmehr selbst Zweck,
sie hat ihren unbedingte.n W e.rt in sich u.nd ist die unbedingte. Ge.m.e.inschaft 11.rul GP.~PZl.~chn,jt.
126 Nov.ALIS, Die Christenheit oder Europa (1799), GW Bd. 3 (1968), 509. 513.

127 Vgl. JoH. AUGUST EIIERH.ARD, Über den moralischen Sinn, Neue vermischte Sehr.

(Halle 1788), l98: G<JBßtz der Vergesellschaftung der Ideen.


12s Nov.ALIS, Fragmente, GW Bd. 3, 571.
129 Vgl. ders„ Das Allgemeine Brouillon (1798/99), ebd„ 320: Die Politik--' die Gesell-

schn,ftl!lR.hrP. - diP. liJhR.thmriP. (JP.hiirP.n in diP. höhere Menschenlehre, wo von zusammengesetzten


Menschen gehandelt wird.

831
Gesellschaft, Gemeinschaft IV. 2. Begriffliche Unterscheidun1

lichkeiL, des aufklärerischen „Publikums" ireLen1 ao. Novalis begreift die „Gesell-
schaft" nach Analogie des individuellen Menschen; sie ist, obwohl gemeinschaftliches
Leben, nichts als eine unteilbare, denkende und fühlende Person. Insofern vermag sie
die privatesten Empfindungen aufzunehmen, - auch in solchen Bestätigungen, die
auf andere Personen angewiesen sind: Tanz - Essen - Sprechen - gemeinschaftlich
Empfinden und arbeiten - zusammensein - sich hören, sehn, fühlen etc. alles sind
Bedingungen und Anlässe und selbst schon Funktionen - der Wirksamkeit des Hökern
zusammengesetzten Menschen, sie sind entstanden durch dieses Gefühl des hökern
Lebens in Gesellschaft 131 • Eine klarere Gestalt finden diese Überlegungen in ScHLEIER-
MACHERS „Theorie des geselligen Betragens" (1799), in der zum ersten Mal termino-
logisch explizit zwischen 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' unterschieden wird.
Aber Schleiermacher beiiitimmt dal! Verhältniiil beider Termini nicht soj wio m11n oo
nach der kritischen Polemik der Frühromantik gegen die Vertragslehre der Auf-
klärung erwarten würde. 'Gesellschaft! ist für ihn ein Ausdruck zweckfreier Wechsel-
wirkung zwischen Individuen, Gemeinschaft dagegen an Zwecke gebunden und
insofern weniger frei. Die ideale Norm ungezwungener Kommunikation ist die
allseitige, durch keine (bestimmten) Zwecke eingeschränkte Weohsclwirkung
zwischen den Komm11nika,tionspa.rtnetl1, die durch das W orL 'Gesellschaft' ihre
sprachlich adäquate Darstellung findet; Wenn wir den Begriff der freüm Ge.~ell1:gkm:t,
der Gesellschaft im eigentlichen Sinn zerlegen, so finden wir hier, daß mehrere Menschen
aufeinander einwirken sollen und daß diese Einwirkung auf keine Art ein.~eüig .~m:n
darf. Diejenigen, welche im Schauspielhause versammelt sind oder gemeinschaftlich
einer Vorlesung beiwohnen, machen untereinander eigentlich gar keine Gesellschaft aus,
und jeder ist auch mit dem Künstler eigentlich nicht in einer freien, sondern in einer
gebundenen Geselligkeit begriffen, weil dieser es nur auf irgendeine bestimmte Wirkung
abgelegt hat . . . Denn das ist der wahre Charakter einer Gesellschaft in Absicht ihrer
Form, daß sie eine durch alle Teilhaber·sich hindurchschlingende, aber auch durch sie
völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung sein soll132 • Gesellschaft fordert als
Inbegriff freier wechselseitiger Kommunikation Selbstbehauptung und Selbster-
haltung der Individuen, sie fordert Individuation. In einer Worterklärung zu
'Gesellschaft im eigentlichen Sinn' merkt Schleiermacher an: Das Wort sollte nur in
diesem Verstande genommen werden. In jeder durch einen äußeren Zweck gebundenen
und bestimmten geselligen Verbindung ist den Teilhabern etwas gemein, und diese
Verbindungen sind Gemeinschaften, uowwvlrx.t hier ist ihnen eigentlich nichts gemein,
sondern alles ist wechselseitig, d. h. eigentlich entgegengesetzt, und dies sind Gesell-
schaften, GVVOVO'lrx.t 133 •
Eine theoretisch begründete Option für den einen oder anderen Terminus läßt sich
auch späterhin, nach dem allgemein-politischen Erfolg der Romantik, in der Zeit
zwisnhen 1800 unfl 1830 ninht fest.stellen. Im Gegenteil: bei den· führenden Ver-

130 Vgl. schon Sem.EGEL, Ueber die Philosophie. An Dorothea, Seine prosaischen Jugend-

schriften, hg. v. J. Minor, Bd. 2 (Wien 1882), 330.


131 Nov.ALIS, Vermischte Bemerkw1gen und Blütheru;taub, GW Bd. 2 (1965), 430. 431;

Allgemeines Brouillon, ebd., Bd. 3, 425; Poeticismen, ebd., Bd. 2, 538.


132 Scm.EIERMACHER, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, Ausg. Werke, hg.

v. Otto Bmun u. Johann Bauer, Bd. 2 (Leipzig 1913), 8 f.


133 Ebd., Anm.

832
IV. 3. Bürgerlieh-liheraler Gesellschaftsbegrift' Gesellschaft, Gemeinschaft

tretern der Restaurationsperiode überwiegen die Termini 'Gesellschaft', 'Sozietät',


'Geselligkeit', auch 'Genossenschaft' - ein Wort, das FRANZ VON BAADER wieder
aufzuwerten versucht. Grundlegend ist hier neben den „sentimentalen" und
„personalen" Ausdrucksformen - Jede Sozietät (die der Ehe, der Familie, des
Stammes, des Volkes) geht aber von der unmittelbaren, darum verlierbaren Liebe aus
und soll in der mittelbaren, konfirmierten Liebe sich vollenden 134 - die theologisierende
Auffassung (Ohne eine ursprüngliche und radikale Gesellschaft zwischen Gott und den
Menschen würde eine Gesellschaft der Menschen unter sich ... weder entstehen noch
bestehen können)1 35 • Eine Sonderstellung nimmt. C. L. VON HALLERS Begriff der
Geselligkeit ein, der einerseits in Gegensatz zur öffentlich-rechtlichen Interpretation
der Aufklärung den „privaten" Charakter aller gesellschaftlichen Beziehungen zum
Ausdruck bringen soll, die private, von den Frühromantikern entdeekte Sphäre des
Geselligen jedoch ausdrücklich hinter sich läßt: Man könnte d~eses Werk („Restau-
ration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands der
Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt") auch überhaupt eine Theorie
aller geselligen Verhältnisse nennen, doch so, daß die mächtigen und freien, welche ich
Staaten nenne, vorzüglich berücksichtiget werden136 • Das „Natürlich-Gesellige", dem
„Künstlich-Bürgerlichen" entgegengesetzt, nähert sich dem Bereich des „Sozialen",
der Sphiire einer ihrer Struktur nach weder privat noch öffentlich verfaßten, mit
dem 8ta.a.t nicht, z11Ra.mmenfallend1m „tl-e1:1elhmhaft", die in dieser Epoche zum
sozialphilosophischen Problem wird.

3. Der bürgerlich-liberale Gesellschaftsbegriff


Im Gegensatz zum romantisch-restaurativen Denken setzt die Rechts- und Staats-
philosophie des bürgerlichen Liberalismus die Tradition des naturrechtlichen Gesell-
schaftsbegriffs fort. Ihr Anknüpfungspunkt liegt in der idealistischen Philosophie
(Kant), deren normativ-vernünftige Begründung von „Gesellschaft'' als Wechsel-
wirkung freier und gleicher Individuen („Gemeinschaft") freilich nicht einfach
übernommen, sondern der geistig-gesellschaftlichen Situation des frühen 19. Jahr-
hunderts und den spezifischen Emanzipationsbestrebungen des deutschen Bürger-
tums angepaßt wird. Das Problem des deutschen Frühliberalismus ist die Vermitt-
lung des Widerspruchs zwischen Vernunftrecht und historischem Recht einerseits137,
von „freiem" Volksleben und „organischer" Herrschaftsorganisation andererseits.
Romantisch-restaurative Begrifflichkeit, das Gedankengut der „historischen
Schule" (Savigny) und des deutschen Idealismus fließen nach rückwärts zusammen
mit den Topoi der traditionellen Gesellschaftstheorie (Aristoteles). Dementsprechend
steht nicht der Gegensatz von Staat und Gesellschaft, sondern deren Ausgleich im

134 FRANZ v. BAADER, Über den verderblichen Einfluß der herrschenden rationalistisch-

materialistischen Vorstellungen auf die höhere Physik und Kunst (1834), l::lW .Hd. a (185.2),
298, Anm.
135 Ders., Rez. der Schrift Essai sur l'indifference en matiere de Religion par M. l'Abbe de

Lamennais, SW Bd. 5 (1854), 244; ferner ebd., 125 f. 166 f. 199 f. 296 f.
136 CARL LUDWIG v. HALLER, Restauration der Staats-Wissenschaft, 2. Aufl„ Bd. 1

(Winterthur 1820; Ndr. Aalen 1964), XLVI.


137 Vgl. GOTTFRIED 8.A.LOMON-DELATOUR, Moderne Staatslehren (Neuwied, .Herlin 1\:165),

529.

53-90386/1 833
IV. 8. BOrgerllch-Uheraler Gesellschaftsbegriff

Vordergrund des frühliberalen Denkens. Vermittelnde Begriffe sind 'Volk' und


'Nation'. Bereits WILHELM VON HUMBOLDT hatte sie in diesem Sinne eingeführt
und mit dem Terminus 'Gemeinschaft' verknüpft. 'Gesellschaft' ist nach Humboldt
ein Titel für die „Mitglieder einer Nation", die bei organisch gewachsener Mannig-
faltigkeit und Individualität miteinander „in Gemeinschaft" leben. Sie wird durch
einen allmächtigen Staat außer Kraft gesetzt: Gerade die aus der Vereinigung
mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft gibt,
und diese Mannigfaltigkeit geht gewiß immer in dem Grade der Einmischung des
Staats verloren. Es sind nicht mehr eigentlich die Mitglieder einer Nation, die mit sich
in Gemeinschaft leben, sondern einzelne Untertanen, welche mit dem Staat . . . in
Verhältnis kommen 138 • Der Liberalismus des frühen 19. Jahrhunderts führt diesen
H11rlanlrnn fort, ohne dabei aus der bei Humboldt angelegten Unterscheidungs-
möglic.hkeit zwischen 'Gemeinschaft' und 'Gesellschaft' terminologißehe Konse-
quenzen zu ziehen. Die Grenzen zwischen beiden Begriffen bleiben - bezeich-
nenderweise - unscharf, wie auch die G'tenzlinien 'zwischen 'Staat' und 'Gesell-
schaft' nach wie vor ineinanderlaufen.
Das verdeutlicht beispielhaft das große sprachpolitische Unternehmen des siidw11st-
deutschen Liberalismus, das „Staatslexikon" von RoTTEOK und WELCKER, die
vielfach Begriffe von gänzlich heterogener Herkunft bemühen, um diese Limen
möglichst weit ausziehen zu können. Nach CARL WELCKER stellt die Idee des
Staates das zum freien sittlichen, lebendigen Gemeinwesen organ·isie·rte Volksleben dar,
und diese Darstellung drücken die griechischen und römischen Namen a.us:
1'owwvla, res publica, societas civilis, civitas 139 • Auch die dem bürgerlichen Libera-
lismus nahestehenden Nationalökonomen der Zeit, die das „Industriesystem"
von Adam Smith anzueignen und auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen
versuchen, sprechen eine vergleichbar vieldeutige und konventionelle Sprache. Die
„Nation" in ihrem Verhältnis zum „Staat" (und nicht der Staat in seinem Verhält-
nis zur Gesellschaft) bildet hier ein immer wieder diskutiertes Thema, - nicht
zuletzt deshalb, weil die neue Wissenschaft der Politischen oder National-
ökonomie im Englischen und Französischen Alternativbegriffe zuläßt, die sich im
Deutschen. ausschließen: 'Staatswirtschaft' und 'Nationalwirtschaft' 140 • Die
Nation wifl<fornm fällt nach der Auffassung jener liberal-bürgerlichen National-
ökonomen (voN SoDEN) nicht mit der Gesellschaft zusammen, weil sie natürlich-
geschichtliche Individualität ist141 • Unterscheidungen dieser Art, die nichts benen-
nen und keinerlei Erkenntnis zulassen, sind kennzeichnend für die sozialphilo-
sophische Begriffsbildung· des klassisch-bürgerlichen Liberalismus. Sein Gesell-
schaftsbegriff, der auf „konstitutionelle" Vermittlung der seit der Französischen
Revolution entstandenen sozialen Gegensätze tendiert, ist der Sache nach eine
Fortentwicklung des allgemeinen Gesellschaftsrechts (ius sociale universale) der
Aufklärung: Kein Rechü(JP{ff'/Yl„~tam,d 1:st fii.r di:e St<iatswissenschaft, allernächst für das
Staatsrecht und ganz insbesondere für die Verfassungslehre, von so großer Wichtigkeit

138 HuMDOLDT, Ideen zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu be-

stimmen, AA 1. Abt., Bd. 1 (1903), 113.


139 CARL WELCKER, Art. Staatsverfassung, RoTTECK/WELCKER Bd. 15 (1843), 66.

i 4 0 JuLius GRAF v. SODEN, Die Nazional-Oekonomie, Bd. 1 (1804; Wien 1815), 8.

m Ebd., lOf.

834
IV. 3. Bürgerlich-liberaler Gesellschaftsbegriff Gesellschaft, Gemeinschaft

als die Lehre von der Gesellschaft, und zwar namentlich als das natürliche Gesell-
schaftsrecht142. Die libernle Gesellschaftslehre ioit im Kefn Rechtoilehre, wobei sich
das „natürliche Gesellschaftsrecht" im Staatsrecht „organisch" fortsetzt. Unter
'Gesellschaft' verstehen Rotteck und Welcker eine rechtskräftig (insbesondere ver-
möge Vertrags) bestehende Verbindung mehrerer Personen zur Erstrebung eines
gemeinschaftlichen Zweckes 143 • Nach dieser Begriffsbestimmung unterscheidet sich
die Gesellschaft a) von einer Anzahl von Individuen, die zwar alle denselben Zweck
erstreben, aber jeder für sich allein, ohne mit dem anderen zusammenzuwirken
(Beispiel: Theatergemeinden), b) von einer Menge von Individuen, die zwar zur
Erreichung gemeinsamer Zwecke zusammenwirken, aber ohne alle Verpflichtung
dazu und ohne wechselseitige Rechtsverbindlichkeit (Beispiel: Kultgemeinden)
und c) von einer Gruppe, in der zwar mehrere rechtsverbindlich für einen gemein-
samen Zweck tätig sind, ohne deshalb als durch einen Gesamtwillen „beseelte"
Persönlichkeit zu erscheinen, z.B. die Fabrik: So bildet die Gesamtheit (oder eigent-
licher die Summe) der Arbeiter in einer Fabrik, obschon sie alle kontraktmäßig ver-
bunden sind, zur Hervorbringung der Fabrikerzeugnisse ... mitzuwirken, gleichwohl
keine Gesellschaft, weil sie sich nicht untereinander gegenseitig, sondern nur dem
Fabrikherrn ... zur Arbeit 11erpf/,ick,tet haben 11,nd weil sie daher weder wntereinander
selbst 1tnd noch viel weniger mit dem Fabrikherrn zusammen eine Person aus-
machen144. ·
'Gesellschaft' als Rechtsbegriff fordert außer der Konstituierung zu einer „Person"
durch gemeinsames Wollen eines Zweckes und der Rechtsverbindlichkeit seiner
Realisierung eine spezifische „Natur" für die ihr eigene Persönlichkeit: daß ihre
Glieder untereinander nicht nur verbunden (namentlich vermöge einer Gemeinschaft
von Rechten oder Schuldigkeiten als ein Gesamtsubjekt derselben erscheinend), sondern
wirklich vereiniget, d. h. zu einem lebendigen, durch eine ihnen allen gemeinsame Seele
in Tätigkeit gesetzten Ganzen gemacht sind145 • Kurz: 'Gesellschaft' ist nicht nur
„normativer", sondern „organischer" Begriff und insofern mehr als 'Gemeinschaft'
im Sinne der Teilhabe oder wechselseitiger Teilnehmung - die Einswerdung in
einer „lebendigen" Gesamtpersönlichkeit. Darunter fallen nicht die Institute des
positiven Rechts wie Korporationen, Schulen, Vereine, Anstalten usw., sondern
allein die „Institutionen" des Vernunftrechts (Familie, Gemeinde, Staat). Rotteck
und Welcker unterscheiden mehrere Stufen der Gesellschaftsbildung, wobei das
Vertragsschema für alle Gültigkeit hat: Gesellschaft und gesellschaftlicher Vertrag -
ausdrücklich und stillschweigend abgeschlossen, privatrechtliche und staatsrechtliche,
geheime und öffentliche, gute und nicht gute Gesellschaften der verschiedensten Art -
begründen und beherrschen das menschliche Leben und seine Gestalt und alle höhere,
insbesondere auch alle rechtliche Ordnung desselben 1 4 6 • Die erste „Hauptstufe" bilden
gesellige Zusammenkünfte, die nur metaphorisch als 'Gesellschaften' bezeichnet
werden können; difi r.wP.itP. umfaßt das bloß privat- und obligationenrechtlichP.
Sozietätsverhältnis, das nur einzelne, vorübergehende Rechte und Verpflichtungen

142 RoTTEOK, Art. Gesellschaft, Gesellschaftsrecht, RoTTEOK/WELOKER Bd. 6 (1838), 703.


ua Ebd., 705.
144 Ebd., 705 f.
145 Ebd., 706 f.
146 CARL WELOKER, Art. Gesellschaft, Gesellschaftscontract, ebd„ 666.

835
Gesellschaft, Gemeinschaft IV. 4. Unterscheidung 'Staat' - 'GeseUSchaft'

der Kontrahenten begründet, die dritte Stufe ist „Personengemeinheit" - jene


wahre, rrwralisch persönliche Gesellschaft, wie die Familie, die Gemeinde, der Staut,
die Kirche14- 7 • Dieses Gesellschaftsmodell orientiert sich nicht an der modernen,
industriellen Erwerbsgesellschaft, der Entfesselung ihrer wirtschaftlichen und
sozialen Potenzen, sondern an einer noch unentzweiten, „vernünftigen" Ordnung,
die, auf rechtlicher ',,Persönlichkeit" und bürgerlicher „Selbständigkeit" ruhend,
nicht wenige Bestandteile der traditionellen Gesellschaftstheorie weiterträgt. Die
Möglichkeit einer. Trennung vom Staat tritt nicht in den Gesichtskreis, weil
Rotteck/Welckers „Lehre von der Gesellschaft" auf der - lediglich „organisch"
umgebildeten - naturrechtlichen Vertragslehre aufbaut. Die unter dem Einfluß
Hegels aufkommende Definition von 'Gesellschaft' als „System der Bedürfnisse"
und als Inbegriff von Individuen, die in der Verfolgung ihrer Zwecke voneinander
abhängig und insofern gesellschaftlich verbunden Rind, erRr.heint dAn Verfa:>sern des
Staatslexikons als vage, weil ein gesellschaftliches Ganzes dieser Art jedenfalls bloß
ein faktisches, kein rechtsverbindliches Verhältnis darstellt 148 • Der Liberalismus des
frühen 19. JahrhundertA hat nicht gesehen bzw. nicht sehen wollen, daß die Umge-
staltung der modernen Gesellschaft Verhältnisse und Beziehungen zwischen den
Individuen und KlaRRen Rflhafft, die mit rechtlichen Kategorien allein nicht faßbar
sind.

4. Die Unterscheidung zwischen 'Staat' und 'Gesellschaft': Hegel und der Obergang
zur kritischen Gesellschaftstheorie

Während die Sozialphilosophie des klassischen Liberalismus die im 18. Jahrhundert


entstandene Wissenschaft der Nationalökonomie für die Bildung ihrer Begriffe nicht
oder nur ungenügend berücksichtigt149, bildet sie bei HEGEL und in der Hegelschen
Schule den systematischen Rahmen einer grundsätzlich veränderten Deduktion der
„Lehre von der Gesellschaft". Hier handelt es sich um keine Weiterführung des
herkömmlichen „Gesellschaftsrechts", sondern um einen Neubeginn - um die
Entdeckung der von Rechts- und Staatsformen unterschiedenen „Gesellschaft"
als eines eigenständigen, auf Arbeit und Tausch beruhenden Handlungszusammen-
hangs. Nach liberalem Gesellschaftsrecht (das damit an Theoreme der traditionellen
Gesellschaftstheorie anknüpft) sind „eigentliche Gesellschaften" personell verfaßt -
Verbände von Personen, die durch vernünftige Rede und vernunftbestimmtes
Handeln einen gemeinschaftlichen Willen bilden, der für alle rechtsverbindlich, der
Wille einer „Rechtsperson" ist. Sprechen und Handeln haben dabei öffentliche
Relevanz, sie vollziehen sich in jenem Medium der Öffentlichkeit, das jede „Gesell-
schaft" (und nicht nur den Staat) als Rechtsfigur konstituiert. Für Hegel hingegen
be1:1Leht „Gesellschaft" per definitionem aus Privatpersonen, die-vor allem Sprechen
und Handeln - durch Bedürfnis und Arbeit miteinander verbunden sind. „Arbeit"

147 Ebd„ 667.


148 CARL v. RoTTECK, Rez. J. F. G. Eiselen, Handbuch des Systems der Staatswissenschaft
(1828), Ges. u. nachgel. Sehr„ Bd. 2 (Pforzheim 1841), 156.
149 Bei RoTTECK, Lehrbuch des Vernunftrechts, Bd. 4 (Stuttgart 1835), 24 wird die Politi-

sche Ökonomie als Sonderdisziplin der Staatswissenschaften bezeichnenderweise zur


„ökonomischen Politik" umstilisiert.

836
IV, 4. Unterscheidung 'Staat' - 'Gesellschaft' Gesellschaft, Gemeinschaft

ist eine spezifische Weise des Handelns, „Bedürfnis" die Naturbasis des Menschen
als „Privatperson", die beide erst jetzt, mit der Wissenschaft der Nationalökonomie,
in den Gesichtskreis der Gesellschaftstheorie eintreten. Hegels philosophische
Leistung auf diesem Feld besteht vor allem darin, deren „privaten" Bezugsrahmen
als öffentlich vermittelt und ihre Naturbasis als gesellschaftliche Konstante be-
griffen zu haben. Das theoretische Paradigma seiner Sozialphilosophie ist nicht der
Vertrag, die Vereinbarung vernünftiger, durch Sprechen und Handeln ausgezeich-
neter Rechtspersonen, sondern das „System der Bedürfnisse" - das aus Bedürfnis,
Arbeit und den Mitteln der Bedürfnisbefriedigung hervorgehende und in seiner
Wirksamkeit sich ständig reproduzierende Beziehungsgeflecht zwischen „Privat-
personen"160.
DaR h1ii Hegel „dialektisch" verstandene Wechselverhältnis zwischen privaten und
öffentlichen Zwecken als Grundlage eines das „personale" Handeln übergreifenden
„gesellschaftlichen Zusammenhangs", der (privat-bürgerlichen) Gesellschaft im
modernen Begriffssinn - Meinen Zweck befördernd, befördere ich das Arlgemeine, und
dieses wiederum befördert meinen Zweck 151 - ist schon in der englisch-schottischen
Moralphilosophie (Hume, Smith, Ferguson) und in der Interesse-Theorie der
französischen Aufklärung reflektiert worden. Bereits hier gewinnt das Vcrtrags-
schema neben seiner formal-rechtlichen Funktion dadurch· einen material-sozialen
Inhalt, daß private Zwecke, der Schutz von Leben und Eigentum des einzelnen,
zu öffentlichen Angelegenheiten deklariert werden. Indem die alten Gegensätze von
Gesellschaft und Einsamkeit auf der einen, von ökonomisch-privater und bürgerlich-
öffentlicher Gesellschaft auf der anderen Seite verschwinden, tritt das „Soziale" als
Bereich der privaten Reproduktion der Arbeit und Bedürfnisbefriedigung des
einzelnen hervor. Dabei trifft sich die neue Dialektik des Privaten und Öffentlichen,
von „private vices - public benefits" (Mandeville), wie sie dem Wirtschaftsmodell
der modernen Nationalökonomie zugrunde liegt, mit dem älteren Vertragsschema,
das ja als privatrechtliches Handlungsschema auf genau der gleichen Dialektik, der
Verknüpfung zwischen „einzelnen" und „gemeinsamen" Zwecken beruht. 'Gesell-
schaft' heißt der Vertrag zweier oder mehrerer Personen, welche, indem sie für sich,
auch für andere, und indem sie für andere, auch für sich handeln. Die Übertragbar-
keit dieses Schemas auf die Gesellschaft im ganzen setzt nicht nur voraus, daß Pro-
duktion und Warenverkehr die Grenzen der Haus- und Grundherrschaft überschrei-
ten und Sache des Staates (= Staats-Wirtschaft) werden; sie ist auch abhängig
davon, inwieweit sie sich von staatlicher Reglementierung emanzipieren, und das
heißt: als zugleich private und öffentliche Angelegenheiten fungieren können.
Das geschieht weithin in den industriell fortgeschrittenen Ländern Westeuropas
(Holland, England, Frankreich), wo 'Gesellschaft' zuerst als Zweckzusammenhang
rechts- und vertragsfähiger Individuen begriffen wird, die auf ihr privates „Inter-
esse" reduziert sind und so sich selbst wie dem Staat gegenüberstehen. Hier wird
sie zum Schlüsselwort der Emanzipation des Bürgertums, das sein Interesse an
einem ungezwungenen Geschäfts- und Handelsverkehr bekundet. Nach DAVID
HuME ist es bereits nicht mehr der Vertrag als solcher, der die Individuen unter-
einander und an den Staat bindet, sondern das Interesse und die „Notwendigkeiten"

15 0 HEGEL, Hechtsphilosophie, § 187. SW Bd. 7 (Hl28), 267 ff.


151 Ebd., § 184, Zusatz. SW Bd. 7, 264.

837
Gesellschaft, Gemeinschaft IV. 4. Unterscheidung 'Staat' - 'Gesellschaft'

der Ge,<>ell$Ch~ft, die eine rer.ht.lir. h n ir. ht fa ßharA, nhnr gfoich wohl wirksame Vor bind
lichkeit schaffen: The general obligation, which binds us to government, is the interest
and necessü,ies uf sooiety; and this obligation is very strong, heißt es bei Hume152.
Die Nützlichkeits- und Interessentheorie beherrscht das Denken der europäischen
Spätaufklärung, deren Texte der junge Hegel studiert hat. Sie proklamieren die
Prinzipien eines von ständischen und herrschaftlichen Banden ledigen Verkehrs
bürgerlicher Privatleute untereinander, der durch „interet personelle" (Diderot,
Helvetius, Holbach) bzw. „selfinterest" (Franklin, Bentham) alle gesellschaftlichen
Verhältnisse reguliert. Die eigentliche Wissenschaft dieser Theorie ist die National-
ökonomie, ADAM SMITH der klassische Interpret ihres Gesellschaftsbegriffs: lt is
his own advantage, indeed, and not that of the society, which he (der einzelne, individual)
has in view. But the study of his own advantage, naturaUy, or raJ,hp,r nPl'l'.~.~nrily,
kads him to prefer that employment which is most advantageous to the society ...
By perswiny kis uwn 'interest he frequently promotes that of the society more etfectually
than when he really intends to promote it153• Die klassisch-bürgerliche National-
ökonomie begreift Gesellschaft als eigenes Zwecksubjekt, das unabhängig vom
Staat, durch die dem ökonomischen Handeln immanenten Geset7.e des „Marktes"
regiert wird. Zwar bleibt sie gebunden an den objektiven Gang einer „natürlichen
Ordnung" (ordre naturel), die den Ausgleich der miteinander konkurrierenden
Interessen garantieren soll, doch setzt diese die Erscheinung gesellsoh11ftlir.her
Unordnung voraus, die Kontingenz subjektiven Handelns, mit ihrem alltäglichen
Akt, dem Tausch.
Das harmonistischo Gesellschaftsbild der Aufklärung wird von HEGEL - nach
den Erfahrungen der Französischen Revolution und den ersten sichtbar gewor-
denen Folgen einer Einführung des Smithschen „Industriesystems" - als Konflikt-
modell gedeutet. Hegels Stellung zu dem begrifflichen Problem jenes nicht mehr mit
anderen Begriffen ('Staat', 'Gemeinschaft', 'bürgerliche Gesellschaft') synonymen,
sondern anonym gewordenen Gebildes ist ambivalent. Einerseits ist Gesellschaft
ein rechtliches Gebilde: das Recht, das Dasein des vernünftigen („freien") Willens.
Andererseits faßt sich der Wille nur in privatrechtlicher Hinsicht zum Vertrag
zusammen - Gesellschaft als natürlich-geschichtliche Institution, .wie sie sich in
Familie, „bürgerlicher Gesellschaft" und Staat realisiert, beruht nicht auf Rechts-
verbindlichkeiten des VerLrag:,;, der „Gemeinsamkeit" eines Personenverbands:
Wenn der Staat, heißt es im Zusatz zum§ 182 der „Rechtsphilosophie", vorgestellt
wird als eine Einheit verschiedener Personen, als eine Einheit, die nur Gemeinsamkeit
ist, so ist damit nur die, Bestimmung der lYürgerlichen Gesellschaft gemeint 154 •
'Gesellschaft' verliert ihre Synonymität mit 'Gemeinschaft' und 'Staat' und wird
zu einem Moment der „bürgerlichen Gesellschaft" herabgesetzt - zum „System
der Bedürfnisse" als deren „faktische", nicht mehr vernünftig normierbare Grund-
lage.
Diese Grundlage der Gesellschaft wird zum Problem sozialphilosophischer Begriffs-
bildung. Das beginnt mit EDUARD GANS, der schon sehr früh (1831-34) Gedanken

162 DAVID HuME, Essays, Works, vol. 3 (1882; Ndr. 1964), 459.
153 ADAM SMITH, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations 4, 2.
Vol. 2 (London 1776), 32. 35.
154 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 182, Zusatz. SW Bd~ 7, 262 f.

838
V. 1. Umwertung des Gesellschaftshegrift's Gesellschaft, Gemeinschaft

Saint-Simons und Fouriers aufnimmt 11nfl in Deuti:mhland bekanntmacht. Für


Gans ist gewiß, daß die bürgerliche Gesellschaft als Gesellschaft nicht selbst zum
Staat erhoben werden kann - die Konkurrenz (die nationalökonomische Umdeutung
der Idee der „Wechselwirkung") muß'ihre Grundlage bleiben 155 . Zugleich aber hat
Gans die Folgen der allgemeinen Konkurrenz vor Augen - den Kampf der Prole-
tarier gegen die mittleren Klassen der Gesellschaft 156 • Um ihn zu bestehen, werden sie
nach gesellschaftlichen Organisationsformen suchen müssen, genauer gesagt: nach
ihrer „Assoziation", - ein von Fourier geprägtes Wort, das Gans mit 'Vergesell-
.schaftung' übersetzt und auf Hegels Begriff der Korporation (Assoziation) be-
zieht157. Die Hegelschüler der vierziger Jahre beschreiten neue Wege, um den
„sozialen" Herausforderungen ihrer Gegenwart zu antworten. In einem Vortrag
über „Gesellschaft und Staat" (gehalten 1843) weist MoRITZ VEIT ausdrücklich
darauf hin, daß er unter 'Gesellschaft' nicht das verstehe, was Hegel die ,bürgerliche
Gesellschaft' nennt168 • Zwar habe sie den SLaaL zur Voraussetzung, aber sie reicht
weiter als dieser, - sie ist der gährende, keimende, treibende Inhalt desselben, die
lebendige Materie, die ewig die Form aus sich gebiert, die gegenseitige Ergänzung aller
menschlichen Tätigkeiten und das Gefäß f'ür d·ie ltöclisten Zwecke und den Fortschritt
der 1Jfenschheit 159 • Es ist die Sprache der sozialen Bewegung, die hier mit dem
Pathos des 19. Jahrhunderts gesprochen wird, eine Sprache, die den Gesellschafts-
hegriff zu verabsolutieren und damit wieder in jene falsche Sozialromantik umzu-
schlagen droht, die Hegels Rechtsphilosophie inmitten der romantisch-restaurativen
Gegenbewegung gegen die Französische Revolution zu vermeiden gewußt hatte.

V. Kritische Gesellschaftstheorie

1. Umwertung des Gesellschaftsbegriffs: „Gesellschaftswissenschaft" und soziale


Bewegung im 19. Jahrhundert

Hegels Problematisierung des nationalökonomischen „Systems der Bedürfnisse"


bildet das Zwischenglied in der Entwicklung von der traditionellen zur kritischen
Theorie der Gesellschaft, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland
vollzieht. Der Ausdruck 'kritische Gesellschaftstheorie' steht im Kontext mit einer
bestimmten wissenschaftsgeschichtlichen Situation. Es handelt sich um keine
Wertbezeichnung, sondern um das theoretische Paradigma eines nicht immer leicht
überschaubaren historischen Vorgangs, der begriffs- und wissenschaftsgeschichtlich
gleichermaßen bedeutsam ist. Unter 'kritischer Theorie' der Gesellschaft soll dabei
im wesentlichen dreierlei verstanden werden: 1) daß die neu eingeführten wissen-
schaftlichen Grundtermini scheiden und unterscheiden, was bislang als synonym
bzw. begrifflich identisch galt (wie 'Gesellschaft' - 'Gemeinschaft'; 'Staat' - 'Ge-
sellschaft'; 'bürgerliche Gesellschaft' - 'Gesellschaft'); 2) daß die terminologischen
Unterscheidungen aus der Kritik der traditionellen Gesellschaftstheorie erwachsen

1 55 EDUARD GANS, Rückblicke auf Personen und Zustände (Berlin 1836), 99.
168 Ebd„ 100.
167 Ebd„ 100 f.; Vorlesungen über Naturrecht (1832/33), 114 (ungedruckt).
158 Abgedr. erst in: Der Gedanke 1 (1861), 52 ff.
159 Ebd„ 60.

839
Gesellschaft, Gemeinschaft V. 1. Umwertung des Gesellschaftsbegriffs

sind und 3) daß die kritische Gesellschaftstheorie im Zusammenhang mit der


sozialrevolutionären Bewegung des 19. Jahrhunderts entstanden und als Antwort
auf jene Krise zu begreifen ist, die seit der Französischen Revolution und der von
England ausgehenden Industriellen Revolution die geschichtliche Lebenswelt der
europäischen (und bald auch außereuropäischen) Länder erfaßt hat. Obwohl sich
die verschiedenen Richtungen vielfach ablehnend gegenüberstehen und z. T. heftig
befehden, sind sie durch das Pathos der Wissenschaft, d. h. der Berufung auf bereits
ausgebildete und bewährte wissenschaftliche Methoden (z. B. der Physik) bzw. des
Bewußtseins der Entdeckung einer „neuen Wissenschaft" - der „Gesellschafts-
Wissenschaft" (Soziologie) - miteinander verbunden. Dabei sind die von ihnen als
„wissenschaftlich" deklarierten Unterscheidungen keineswegs immer kritisch be-
gründet. Nicht wenige Systeme der „Gesellscha.ftR-WiRsenschaft" fallen wieder
auf den Standpunkt einer (alten oder neuen) Sozialmetaphysik zurück, deren
absolute Lösungsansprüche kritischer Begriffsklärung und der Bildung eines
handlungsorientierenden Selbstverständnisses eher hinderlich als förderlich ge-
wesen sind.
Das gilt für eine ganze Reihe von Termini, die in der Situation der sozialen Krise
und radikaler Kritik am „Bestehenden" erneut, eiueu Zuwaehs an Vieldeutigkeit
erhalten. Für die „neue Wissenschaft", die sich auf dem Boden der modernen
Geselhmh11.ft, herauszubilden beginnt, kompliziert sich das terminologische Verhält-
nis von 'Gesellschaft' zu 'Gemeinschaft', weil sie nicht zu erfüllen vermag, was etwa
Politik und ~thik als vergleichbare „Fächer" des älteren Wissenschaftssystems
zu leisten vermochten: die Ilegriffe relaLiv eiudeutig zu definieren und im Rahmen
eines verhältnismäßig stabilen institutionellen Zusammenhangs zu tradieren. Das
Gegenteil ist der Fall, weil die „Gesellschafts-Wissenschaft" von Anbeginn mit dem
Umwandlungsprozeß der europäischen Gesellschaft verbunden ist. Bei SAINT-SIMON
erscheint sie noch unter dem Titel der „Politique". Aber er ist nur dem Namen nach
mit der Grunddisziplin der traditionellen Gesellschaftstheorie identisch. Denn jene
Wissenschaft hat nicht mehr Regierungs- und Verfassungsformen, sondern ökono-
mische Kategorien wie Reichtum, Produktion, Verteilung usw. zum Gegenstand:
Politik wird zur Produktionswissenschaft ( science de la productioriJ 16 0 und auf dieser
Basis zur Wissenschaft von der gesellschaftlichen Neuorganisation (science sociale).
Erst, hier wird jener Schritt von der „ersten" (geschichtlich gegebenen) zu einer
„zweiten" (vernünftig erdachten) Gesellschaft wirklich vollzogen, den nach
TocQUEVILLE bereits die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts gegangen
war: Au-dessus de la somete reelle, schreibt Tocqueville, dont la constitution etait
encore traditionnelle, confuse et irreguliere ... , il se bdtissait ainsi peu a peu une
societe imaginaire, dans laquelle tout paraissait simple et coordonne, uniforme,
equitable et conforme a la raison. Graduellement l'imagination de la foule de.~erta. la.
premiere pour se retirer dans la seconde161 • Die Sprache der „ersten Gesellschaft"
ist die der Politik und des Naturrechts; die der „zweiten Gesellschaft" - abstrakte
Bezeichnungen für sozietäre Zusammenhänge, 'Gesellschaft' im Singular, ohne
erläuterndes Beiwort gebraucht usw. - bild!lt sich im Rahmen der „science sociale"

iso SAINT-SIMON, L'Industrie, Oeuvres, t. 1 (1966), 188.


161 ALEXIS DE TOCQUEVILLE, L'Anoi1m regime et la revolution, Oeuvres oompl„ t. 2/1
(1952), 199.

840
V. 1. Umwertung des Gesellschaftshegriffs Gesellschaft, Gemeinschaft

und unter Anknüpfung an Vorläufer im 18. Jahrhundert (MoRELLY, BABEUF)l 62


in der Schule Saint-Simons aus. Die Gesellschaft ist hier weder ein Sonderbereich
zwischen Familie und Staat (Hegel) noch der zwischen dem privaten und öffent-
lichen Recht stehende Bereich des Gesellschaftsrechts (Naturrecht der Aufklärung),
sondern ein Sozialparadigma, das die ganze Menschheit umfassen und die alten insti-
tutionellen Dauerordnungen des menschlichen Zusammenlebens überwinden soll.
SAINT-SIMONS „science sociale" ist theologisch und eschatologisch begründet. In
der Gesellschaft der Zukunft, der association universelle, die das christliche Liebes-
und Friedensgebot realisieren wird, :fließen Religion und Politik, Kirche und Staat
in eins zusammenl63.
Die neue Disziplin der „science sociale" ~eine sprachliche Wendung, die bei den
französischen Revolutionären des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Sieyes) in der
Rede von einer „mecanique sociale", „art social" etc. vorgebildet war, - wird in
Deutschland nur zögernd rezipiert. Der auf sozialem Gebiet noch gering entwickelte
Sprachzustand des Deutschen scheint hier zunächst hemmend gewirkt zu haben.
Abkürzende Wendungen wie 'la mecanique sociale' bzw. 'science sociale' übersetzt
man zunächst mit 'die Mechanik der bürgerlichen Gescllschaft' 164 bzw. die 'Lehre
von der bürgerlichen Gesellschaft' 165 , bis sich die neue Terminologie des Sozialen
und der Gesellschaft allmählich einbürgert. Voran geht hier der philosophische und
politisch-publizistische Außenseiter FRIEDRICH BUCHHOLZ miL :;einem Buch
„Hermes oder über die Natur der Gesellschaft, mit Rlir,ken in rlie Zukunft" (1810),
der die „science sociale" als „Wissenschaft der Gesellschaft" versteht. Mit Saint-
Simon166, auf den er in den zwanziger Jahren zuerst hingewiesen hat, geht Buchholz
von der Krise des europäischen Gesellschaftszustandes aus, die nur durch eine
„kritische Wissenschaft" zu überwinden wäre: Was ich die Wissenschaft der Gesell-
schaft nennen möchte, würde sehr viel dazu beitragen, den Staaten eine Sicherheit ...
zu geben, die sie bisher nicht erhalten konnten, weil das, was ihrer Entstehung und Fort-
bildung zum Grunde lag, so wenig erkannt wurde 167 • Dazu ist es nach Buchholz not-
wendig zu ermitteln, was wir 'Gesellschaft' nennen, auf welchen Grundlagen sie
beruht und wie diese am besten zu erhalten seien 168 . Ihre Grundlagen sieht Buchholz
im Faktum der Arbeitsteilung; 'Gesellschaft' heißt eine Vereinigung von mannig-
faltigen Einzelkräften, deren Zweck darin besteht, eine Gesamtkraft hervorzubringen,
die jedem Individuum den Schutz und die Sicherheit gewähre, deren es zu seiner
Erhaltung und Fortdauer bedar/1 69 • Buchholz will nicht nur die „sozialen Gesetze"
des menschlichen Zusammenlebens erkennen, sondern darauf aufbauend in prak-

162 Vgl. MoRELLY, Gesetzbuch der Natur, Art. 1: Nichts in der Gesellschaft soll jemand beson-

ders oder zu Eigentum gehören; BABEUF, Manifest, Art. 2: Der Zweck der Gesellschaft ist,
die Gleichheit zu verteidigen und alle gemeinschaftlichen Genüsse durch die gemeinsame Mit-
wirkung zu vermehren.
163 Doctrine de Saint-Simon (1829), ed. L. IlouGLE/ELIE HALEVY (Pads 1924), 203 IT.
164 E. SIEYES, Politische Schriften, hg. v. D. Usteri, Bd. 1 (o. 0. 1796), 196. ·
166 HEINRICH FRIEDRICH v. STORCH, Handbuch der National-Wirthschaftslehre, übers.

v. H. Rau, Bd. 1 (Hamburg 1919), 5.


168 s. S. 840f. mit Anm. 160. 163.
167 Ders., Hermes oder über die Natur der Gesellschaft (Tübingen 1810), 18.

168 Ebd., Vorrede, III f.


189 Ebd., 10.

841
Gesellschaft, ·Gemeinschaft V. 1. Umwertung des Gesellschaftsbegriffs

tischer Absicht die Gleichheit und Gleichförmigkeit im System der gesellschaftlichen


Verrichtungen nachweisen - daß jede in allen, und alle in jeder enthalten sind. Von
einem Oben und Unten sollte in Beziehung auf die Gesellschaft ebensowenig die Rede
sein als in Beziehung auf das W eltall 170 • Buchholz' Wissenschaft der Gesellschaft
wird erst mit den „Grundzügen der Gesellschaftenwissenschaft" (1838-41) von
M. v. LAVERGNE-PEGUILHEN zu einer Redewendung zusammengezogen, die sich
in Deutschland statt des zunächst nicht akzeptierten Terminus 'Soziologie'
(Comte) durchsetzt. 'Gesellschaft' ist bei Lavergne Inbegriff der durch gemeinsame
Gesetze und Institutionen verbundenen Menschen, einschließlich der auf dem von
ihnen bewohnten Territorium befindlichen Gegenstände und Kräfte, soweit diese
auf das menschliche Leben und Zusammenleben Bezug haben. Lavergn~ weist auf
die französischen „Sozialschriftsteller" hin und sucht wie diese nach „Gesetzen",
die die Verhältnisse der gesellschaftlichen ·„Masse" zur äußeren Natur und unter-
ein;mder bestimmen. Das Buch wurde bei seinem Erscheinen als ein wichtiges,
den Weg der „Social-Lehre" eröffnendes Werk begrüßt1 71 •
Unter dem Eindruck der von Frankreich ausgehenden sozialen Bewegung, die zu
Beginn der vierziger Jahre auch auf Deutschland übergreift, gewinnt nun der
Gesellschaftsbegriff, der bei Lavergne noch mit dem Begriff des Staats und der
sozialen Institutionen (Dorf-, Stadt-, Kirchen-, Kreis- und Provinzialgemeinde)
verschwimmt, allmählich schärfere Konturen. Das Wort bezeichnet dabei nicht
nur den veränderten sozialen Zustand der Unterschichten, die in der Entwicklung
vom „Pöbel" zum „Proletariat" in die „Geschichte der Gesellschaft" (TH.
MuNDT) 172 mit einbezogen werden, sondern ein verändertes moralisches Normen-
und Wertsystem, das Aufkommen einer neuen „Gesittung" 173 • Die abstrakte
Bezeichnung wird in der sozialen Bewegung politisch konkretisiert, sie wird zum
positiv wertbesetzten oder zum negativ abwertenden Schlagwort der politischen
Parteien und Gruppierungen: Da wurde denn endlich das Wort Gesellschaft ausge-
sprochen. Zuerst von Schwärmern und ihren Schülern; dann aber allmählich auf der
Rednerbühne, in der Schenke und in den heimlichen Versammlungen Verschworener;
es ward in entsetzlichen Straßenschlachten als Banner vorangetragen. Jetzt öffneten sich
plötzlich die Augen. Die gänzliche Nichtbeachtung schlug in maßlosen Schrecken um,
so. daß nun das früher ganz unbelcannte Wort als Medusenhaupt dient, welches die
Freiheitsgewohnheiten und Forderungen der Gebildeten und Gemäßigten versteinert 174 •
Hier wird 'Gesellschaft' als Terminus mit einem spezifisch zeitlichen Stellenwert
verstanden und im situationsbezogenen Zusammenhang der sozialen Bewegung
inhaltlich gedeutet. In Leben und Wissenschaft, heißt es bei ROBERT MoHL, drängt

uo Ebd., 13.
171 FELIX HEINRICH Bonz [REYMOND], Staatswesen und Menschenbildung, Bd. 4 (Berlin
1839), 280.
17 2 Vgl. THEODOR MUNDT, Die Geschichte der Gesellschaft in ihren neueren Entwicklungen

und Problemen (Berlin 1844); HEINRICH WILHELM BENSEN, Die Proletarier. Eine histori-
sche Denkschrift (Stuttgart 1947).
173 Vgl. ROBERT v. MoHL, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1

(Erlangen 1855), 80.


174 Ebd., 71.

842
V. 2. Lorenz von Stein Gesellschaft, Gemeinschaft

sich der Be,griff, das besondere Dasein, das Bedürfnis, die Gegenwart und Zukunft der
Gesellschaft auf und bringt einen ganz neuen Ge,genstand des Bewußtseins, des Wollens,
des Denkens.1 75 •

2. 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' in der deutschen Schule der Gesellschafts-


wissenschaft (Lorenz von Stein)

Einer der ersten, der sich mit diesem Wort an das auf dem Feld des „Sozialen"
lange Zeit blind gebliebene bürgerliche Publikum wendet, ist der junge LORENZ
VON STEIN mit seinem Buch „Der Socialismus und Communismus des heutigen
Frankreichs" (1842). Nach Stein ist die systematisch begründete Disziplin der
„Gesellscha.ftswiRRAnRnhaft.'' dAr spA?:ifisch dAutsche Beitra.g zur sozialen Bewegung
Europas, deren Erhebung zum „Begriff". Dabei ist sich Stein mit seinen Anhängern
und Kritikern (R. Mohl, füuntschli) darin einig, daß es bisher noch gar keinen Be,griff
von der Gesellschaft gibt 176 • Was Stein zum Thema jener Wissenschaft erhebt, ist
jener Zwischenbereich jenseits der Volk~wirtschaftslehre auf der einen, der Staats-
lehre auf der anderen Seite, der bei Buchholz und Lavergne noch mit beiden
konfw1ilie.rL wi.ru. SLeiu will gernue zeigen, Jaß terminologische Unterscheidungen
nunmehr unvermeidlich sind, obwohl das Gebiet der „Gesellschaft" von beiden
in vieler Beziehung bestimmt wird und umgekehrt beide bestimmt177, Auf die Um-
kehrbarkeit der Gesichtspunkte kommt dabei alles an. Der Schlüssel zum Ver-
ständnis der staatlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Institutionen des Men-
schen ist in der „Gesellschaft" und ihrer Geschichte zu suchen. Bis jetzt hat der
Staat die Gesellschaft . . . bedingt, während die sozialen Bewegungen der Zeit in all
ihren Erscheinungen und Richtungen den Versuch enthalten, den Staat durch den
Be,griff und das wirkliche Leben der Gesellschaft gestalten und bedingen zu lassen 178 •
Am klarsten sind „Gesellschaftswissenschaft" und zeitgeschichtliche Situation im
Frühwerk von Lorenz von Stein verschränkt. Der Freiheits- und Gleichheits-
anspruch der modernen bürgerlichen Gesellschaft (= „Civilisation") und die mit den
Verhältnissen von Arbeit und Eigentum gegebenen gesellschaftlichen Klassen und
Klassengegensätze erheben die Frage nach der BerechtÜ.J?tng de.~ per.~önlichen
Eigentums und seiner Versöhnung mit der unabweisbaren Forderung der Civilisation -
kurz di,e Wissenschaft der Gesellschaft zu einer wahrhaft europäischen Aufgabe179 •
Nachdem RoBERT MoHL die hier vollzogene kritische Reduktion von Gesellschaft
auf ein System von Klassen, Interessen und Tätigkeiten18 0 scharf abgelehnt und
Stein vorgeworfen hatte, er lasse sich von den „Sozialschriftstellern" dazu verleiten,
in der Gesellschaft ... wesentli-ch nur ein auf Arbeit gerichtetes und durch das System
des Eigentums geordnetes Verhältnis zu sehen 181 , nahm Stein diese terminologische

175 Ders., Gesellschafts-Wissenschaften und Staats-Wissenschaften, Zs. f. d. gesammte

Staatswiss. 7 (1851), 6
176 LORENZ v. STEIN, System der Staatswissenschaft, Bd. 2 (Stuttgart, Leipzig 1856; Ndr.

Osnabrück 1964), 22.


177 Ebd., 23.
17 8 Ders., Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs (Leipzig 1842), 446 f.
179 Ebd., 28.

180 Ebd., 2. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1848), 93 f.


181 MoHL, Gesellschafts-Wissenschaften, Zs. f. d. gesammte Staatswiss. 7 (1851), 21.

843
Gesellschaft, Gemeinschaft V. 2. Lorenz von Stein

Einschränkung wieder zurück. Mit der nach 1850 erfolgenden Ausgestaltung seiner
Theorie der sozialen Bewegung zum „System der Staatswissenschaft" kritisiert er
an dem Ansatz der neuen Wissenschaft, daß man als Gegenstand der Erkenntnis in der
menschlichen Gesellschaft zuerst nur die gegenwärtigen Zustände, dann die Gegensätze
und Bewegungen derselben betrachtet hat. Das Gebiet, welches auf diese Weise der
Gesellschaftslehre übergeben worden ist, ist eben dadurch ein sehr eng beschränktes.
Die Gesellschaftswissenschaft beschränkt sich auf das Problem des Pauperismus,
auf Harmonisierungsversuche zwischen Arbeit und Kapital und auf die Theorien
des Sozialismus und Kommunismus 182 • Indem Stein versucht, den Gesellschafts-
begriff jener fragwürdigen Disziplin „wissenschaftlich" zu verallgemeinern, wird er
genötigt, ihn durch den Begriff der Gemeinschaft zu ergänzen, der die Terminologie
des „Sozialen" mit der politischen Sprache der Staatswissenschaft wieder verbinden
soll. 'Gemeinschaft' ist ein den Bereich der Gesellschaft ergänzender und dessen
Mängel kompensierender Begriff. Mit seiner Einführung wird die neue „Gesell-
schaftswissenschaft" nicht nur „sozial" entschärft, sondern auch geschichtlich
neutralisiert: Die Gesellschaft wird zu einer Wissenschaft erst dadurch, daß sie selbst
als eine dauernde und allgemeine Seite in allen Zuständen der menschlichen Gemein-
schaft erscheint ... Der Begriff der Gesellschaft ergibt vielmehr, daß die Gesellschaft
selbst ein wesentliches und machtvolles Element der ganzen Weltgeschichte ist 183 •
'Gemeinschaft' ist nicht nur Oberbegriff der Gesellschaftslehre, sondern ein Wert-
begriff, der das Füreinander der einzelnen in der Gesellschaft (dem bloßen Neben-
einandersein) ausdrückt. Stein spricht auch von dem Leben aller Gemeinschaft, das
auf zwei Prinzipien aufbaut, dem der Erhaltung und dem der Bewegung: _. .. Das er-
haltende Prinzip ist im allgemeinen dasjenige, welches um der gegebenen Ordnung des
geistigen Lebens willen die ihr zum Grunde liegende Verteilung der gesellschaftlichen
Güter vor der Änderung, die der weniger begünstigte einzelne wünschen könnte, schützt.
Das erhaltende Prinzip ist der Staat, den Stein mit Hegel als den personifizierten
„Willen der Gemeinschaft" begreift. Auf der anderen Seite· aber sind 'Staat' und
'Gemeinschaft' nicht schlechthin synonym, weil Stein die Gemeinschaft als die
allgemeinste Form menschlicher Verbundenheit auffaßt, wobei dann.Staat und Ge-
sellschaft . . . die beiden Lebenselemente aller menschlichen Gemeinschaft darstellen 184 .
Gemeinschaft wird hier zum Ganzen, welches die Gegensätze umfaßt185 • Der eigentliche
Gegensatz aller sozialen Gegensätze, der zwischen Staat und Gesellschaft, erscheint
unter diesem Aspekt als „natürliche" Dichotomie des menschlichen Zusammen-
lebens: Staat und Gesellschaft bilden ihrem innersten Wesen nach nicht bloß zwei
verschiedene Gestaltungen des menschlichen Daseins, sondern sie sind eben die beiden
Lebenselemente aller menschlichen Gemeinschaft 186 • Dennoch wird bei Stein 'Gemein-
schaft' als Begriff nie thematisch behandelt oder auch nur näher erläutert. Er

182 STEIN, Staatswissenschaft, Bd. 2 (1856), 268.


183 Ebd., 269.
184 Ebd., 134 f.; ders., Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf

unsere Tage (3. Aufl., 1850), hg. v. Gottfried Salomon, Bd. 1 (Ndr. München 1921), 13 ff.,
bes. 31. Vgl. R. KÖNIG, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, Kölner Zs. f. Soziologie
u. Sozialpsychologie 7 (1955), 382 f. (s. Anm. 6).
185 STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, 31.
186 Ebd.

844
V. 3. Bürgerliche Rechtsstaatstheorie Gesellschaft, Gemeinschaft

bezeichnet lediglich den trivialen Tatbestand, daß Individuen und Klassen trotz
des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit innerhalb der „volkswirtschaftlichen"
Gesellschaft ,,gemeinsam'' leben. Die Grundlage der sozialphilosophischen Begriffs-
bildung bleibt aber der Besitz, der Unterschiede zwischen den Individuen setzt und
die Gemeinsc"haft zur Gesellsc"haft macht, so daß Stein auch gelegentlich sagen kann:
Die menschliche Gemeinsc"haft ist Gesellsc"haft 187 •

3. Gesellschaft und Staat in der bürgerlichen Rechtsstaatstheorie

In der Kantischen Zuordnung des Rechts auf die „Gesellschaft" und deren Bestim-
m~ng als „Gemeinschaft" (= Wechselwirkung des vernünftigen Handelns freier
Individuen) gilt der Staat per definitionem als Rechtsstaat. Durch fortschreitende
Unterwerfung aller Gesellschafts- und Gewaltverhältnisse unter die Herrschaft der
Vernunft wird die Staatsgewalt ihres „naturwüchsigen" Scheins entkleidet. Sie
verwandelt sich aus einem willkürlichen Herrschaftsmittel in ein Instrument zur
Verwirklichung des Rechts. Der Staat ist Rechtsstaat, die Gesellschaft ist Gemein-
schaft („Rechtsgesellschaft"). Dieser klassisch-liberale Begriff des Rechtsstaats
wird unt.er dem Rindruok der „sozialen Bewegung" im 19. Jahrhundert modifiziert.
Die Kantische Rechts- und Staatslehre, schreibt ROBERT VON MoHL in seiner
„Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" (1855), war während mehr als
eines Menschenalters die herrschende; und zwar ging sie ... ganz allgemein auch in das
Bewußtsein der Gebildeten über und hatte dadurch den größten Einfiuß auf Gesetz-
gebung und positive Staatseinrichtungen. Dies aber bei unleugbaren Mängeln, so nament-
lich bei offenbar allzu enger Zweckbestimmung des Staates, bei Übersehung aller
naturwüchsigen Organisation im Volke und der allgemeinen menschlichen Notwendig-
keit des Staates 188 • Diese beiden Momente: gesellschaftliche' Naturwüchsigkeit und
staatlich-politische Notwendigkeit, erfahren im Rahmen der liberal-bürgerlichen
Rechtsstaatstheorie eine Art von Rehabilitierung. Der Staat soll Rechtsstaat sein,
aber nicht im Sinne der Kantischen Rechtsgesellschaft als Gemeinschaft freier
Individuen, - daß er bloß die Rechtsordnung hand"habe ohne administrative Zwecke
oder vollends bloß die Rechte der einzelnen sohiltze 189, sondern umgekehrt: daß er sich
selber schütze vor der „naturwüchsigen" Gewalt der einzelnen bzw. der Gesellschaft.
Nach FRIEDRICH JuLIUS STAHL befindet sich der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts
nicht mehr nur im Gegensatze zum Patrimonial- und Polizeistaat; er steht nicht
minder ... auch im Gegensatze zum Volksstaate(Rousseau,Robespierre), wie ich ihn
nennen möchte, in welchem das Volk die vollständige und positive politische Tugend von
Staatswegen jedem Bürger zumutet und seiner eigenen jeweiligen sittlichen Würdigung
gegenüber keine rechtliche Schranke anerkennt 190•
Es ist der Dualismus von repräsentativer und pleb~szitiirer DemokraLie, der mit der
sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts über die hier zwischen Rousseau und
Robespierre gezogene Linie hinaus- und zu der in der sozialistischen und kommu-

1s1 Ebd., 42; Bd. 2, 106.


188 MOHL, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, 242.
189 FRIEDRICH JULIUs STAHL, Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/2: Rechts- und Staats-

lehre, 3. Aufl. (Heidelberg 1856), 137 f.


190 Ebd., 138.

845
Gesellschaft, Gemeinschaft V. 3. Bürgerliche Rechtsstaatstheorie

nistischen Literatur (Marx/Engels) beginnenden Diskussion um die Räteverfassung


weiterführt. Die bürgerliche Rechtsstaatstheorie diskutiert ihn Unter den Stich-
worten: 'Gemeinschaft' - 'Staat' - 'Gesellschaft'. Der Rechtsstaat ist nicht mehr
die formal-vernunftrechtliche Gemeinschaft freier Wesen, die Kant und Fichte
als Emanzipationsideal vor Augen hatten, nicht der Staat, in welchem 'das Recht
statt der Willkür gilt' oder welcher die Aufgabe hat, das 'Recht zu verwirklichen' oder
was dergleichen Redensarten mehr sind, sondern der Rechtsstaat ist der Staat des
verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts, der normalen Rechtsordnung zwischen Gesetz
und Verordnung 191 • Der Rechtsstaat, so dürfen wir diese Erläuterung von LORENZ
VON STEIN verstehen, hat einen materialen Inhalt, jene durch Vernunft nicht auf-
hebbare Willkür gesellschaftlicher Gewalten, die allenfalls „verwaltet" werden
können. Wie 'Gemeinschaft' den faktischen Zustand menschlicher Verbundenheit
überhaupt bezeichnet (das „Leben der Gemeinschaft"), so ist 'Verwaltung' ein
Begriff, der faktische Zustände nicht aufhebt, sondern bestehen läßt. Die liberal-
bürgerliche Rechtsstaatstheorie verklärt den zeitbedingten Gegensatz zwischen
Staat und Gesellschaft zu einem absolut gültigen, ewigen Dualismus, weshalb die
ihr zugrunde liegende kritische Theorie der Gesellschaft am Ende wieder dogmatisoh
wird und in die historisch weder beweis- noch nachweisbare Behauptung ausläuft,
daß der Inhalt des Lebens der menschlichen Gemeinschaft ein beständiger Kampf des
Staats mit der Gesellschaft, der Gesellschaft mit dem Staate sein muß 192 •
Über den damit gezogenen Begriffsrahmen geht auch die MoHLsche Gesellschafts-
theorie nicht wesentlich hinaus. 'Gemeinschaft' alA Reziehung menschlicher Ver-
bundenheit, als „gemeinschaftliches Leben" ist hier gleichermaßen ein 'Gesellschaft'
und 'Staat' umfassender Begriff, dessen Ursprung und Geltung nicht weiter befragt
wird, obwohl doch die Genese der mit der Neuentdeckung der Gesellschaft ver-
bundenen Terminologie eine solche sprachkritische Reflexion nahelegen würde : Seit
ganz kurzem, schreibt Robert von Mohl, ist man zu der deutlichen Erkenntnis ge-
kommen, daß das gemeinschaftliche Leben der Menschen keineswegs im Staate allein
besteht, sondern daß zwischen der Sphäre der einzelnen Persönlichkeit und der organi-
schen Einheit des Volkslebens eine Anzahl von Lebenskreisen in der Mitte liegt 193 •
Mohls Gesellschaftstheorie schließt terminologisch an den Begriff der Lebenskreise
deA Kra.11A11-Schülers HEINRICH AHRENS an, der etwa gleichzeitig mit Lavergnc-
Peguilhen eine „Gesellschaftswissenschaft" gefordert und auf dieser Grundlage
noch vor Stein und Mohl die Unterschcidw:lg zwischen Staat und Gesellschaft
eingeführt hatte 194 : Ahrens' Gesellschaftsbegriff ist so umfassend, daß darin nicht
wenige seiner begrifflichen Unterscheidungen wieder verschwinden. 'Gesellschaft'
nennt er das Ganze aller die Hauptzwecke des menschlichen Handelns realisierenden
„Lebenskreise". Sie umfaßt Staat, Kirche und alle übrigen sozialen Institutionen
und ist insofern fast gleichbed,eutend mit dem ähnlich farblosen 'Menschheit-

191 LORENZ v. STEIN, Handbuch der Verwaltungslehre, 2. Aufl. (Stuttgart 1876), 72.
192 Ders., Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, 32.
193 Mom., Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, 70.
194 HEINRIC'H AHRENS, Juristische Encyclopädie (Wien 1855), 107. Das Desiderat einer

neuen „Gesellschaftswissenschaft" findet sich im Vorwort zur 1. (franz.) Ausgabe von


Ahrens' „Rechtsphilosophie".

846
V. 3. Bürgerliche Rechtsstaatstheorie Gesellschaft, Gemeinschaft

verein' seines Lehrers Krause 195 • Die hier vorgebildete Ausweitung der Begriffe
ist der Mohlschen Gesellschaftstheorie zum Verhängnis geworden. Mohls noch
weitergehender Verallgemeinerung von 'Gesellschaft' zum Inbegriff der in einem
bestimmten Lebenskreis tatsächlich bestehenden gesellschaftlichen Gestaltung geht
ihre Reduktion auf ein geschichtlich und sozial gleichermaßen beziehungsloses
Schema des menschlichen Zusammenlebens vorher, wonach sich bei jedem Volke, sei
im übrigen seine Gesittung und seine Regierungsform welche sie wolle, drei . . . ver-
schiedene ... Zustände finden: Persönlichkeitsleben, Gesellschaft und Staat196 •
Der eigentliche problematische „Zustand" ist der zwischen Individuum und Staat.
weil hierfür in der älteren Sprache der Politik und Jurisprudenz eine passende
Bezeichnung fehlt 197. Während der Staat die „Gemeinschaftlichkeit" eines ganzen
Volkes aktualisiert, hat die Gesellschaft immer nur einen fragmentarischen Lebens-
zweck. Obwohl beide voneinander getrennt sein sollen, läßt Mohl dem Staat die
Aufgabe des „Ausgleichs" der sozialen Interessengegensätze. Er hat - nach dem
N ormensystem des bürgerlichen Rechtsstaats - die Zwecke der Gesellschaft zu
erfüllen und deren natürliche Unvollkommenheiten zu verbessern 198 • In diesem Konzept,
das versc;hiedenste Begriffsrichtungen eklektisch verbindet, bleibt vieles unklar.
Ungeklärt bleibt nicht zuletzt der terminologische Aufbau der neuen „Gesellschafts-
wissenschaft", der sich vielfach noch der Sprache des älteren „Gesellschaftsrechts",
der Ethik und der Politik bedient199, worauf die Vagheit der Mohlschen Vorschläge
_teilweise zurückzuführen sein mug.
Die von Stein und Mohl begründete „deutsche" Schule der Gesellschaftswissen-
schaft hat vor allem während der fünfziger und sechziger Jahre eine Reihe von
Anhängern gefunden 2 0°. Der erste Kritiker dieser Schule ist JoH. CASPAR
BLUNTSCHLI mit seinem Aufsatz „Über die neuen Begründungen der Gesellschaft
und des Gesellschaftsrechts" 261 • Die von ihm erhobenen Einwände richten sich vor
allem gegen Mohls Forderung, das private und öffentliche Recht durch den Aufbau
einer dritten Rechtssphäre (des ,;Gesellschaftsrechts") zu ergänzen. In systemati-

195 Vgl. schon ERNST GRÜNFELD, Lorenz von Stein und die Gesellschaftslehre (Jena 1910),
193.
1 96Mom., Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, lOJ. 88.
19 7Ders., Gesellschafts-Wissenschaften, Zs. f. d. gesammte Staatswiss. 7 (1851), 49.
198 Ders., Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, 86; vgl. Enzyklopädie

der Staatswissenschaften, 2. Aufl. (Tübingen 1872), 325 f.


199 Ders., Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 50 f.
200 Vgl. ADOLF WmMANN, Die Gesetze der sozialen Bewegung (Jena 1851); JOHANN Rrn-

PEL, Zur Theorie der Gesellschaft, Magazin f. Rechts- und Staatswiss. 7-13 (1853-1856)
[in jeclem Bd. ful"tgesetzt]; E. HEINRICH CoSTA, Enzyklopädische Einleitung in ein System
der Gesellschaftswissenschaft (1855); KARL DIETZEL, Die Volkswirthschaft und ihr Ver-
hältnis zu Gesellschaft und Staat (Frankfurt 1864); J OH. ÜARL GLASER, Enzyklopädie der
Gesellschafts- und Staatswissenschaften (Berlin 1864); ders., Die Idee der Gesellschaft und
Gesellschaftswissenschaften, Jbb. f. Gesellschafts- u. Staatswiss. 1 (1864); JoH. JOSEPH
RossBACH, Vom Geiste der Geschichte. Geschichte der Gesellschaft, Bd. 1-8 (Würzburg
1868-1875).
201 J OH. ÜASPAR BLUNTSCHLI, Über die neuen Begründungen der Gesellschaft und des Gesell-

schaftsrechts, in: Kritische Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissen-


schaft, hg. v. J. c. BLUNTSCHLI u. a., Bd. 3 (Miinchen 1856), 229 :ff.

847
Gesellschaft, Gemeinschaft V. 3. Bürgerliche Rechtsstaatstheorie

scher Hinsicht möchte Bluntschli die neue Gesellschaftswissenschaft nur als


„Hilfswissenschaft" für die Staatslehre zulassen 202 • Ihre Berechtigung wird nicht
bezweifelt: Der Begriff der Gesellschaft hat seit etwa einem Jahrhundert eine Bedeutung
gewonnen, welche er in keinem früheren Zeitalter besessen hatte. Man kannte wohl ...
im römischen Altertum einzelne gesellschaftliche Verbindungen, und die römische J uris-
prudenz hatte auch die juristische Bedeutung des privatrechtlichen Gesellschaftsvertrags
auszubilden versucht. Aber erst die neuere Zeit hat die eminente wirtschaftliche und
moralisch politische Bedeutung der Gesellschaft offenbar gemacht und freilich auch zu
mancherlei Übertreibung derselben gereizt 203 • 'Gesellschaft' ist nach Bluntschli nicht
ein Volks-, sondern ein Drittenstandsbegriff 204 , der deshalb auch keine universelle
Gültigkeit beanspruchen darf. Die wissenschaftsgeschichtlich folgenreichste Kritik
liegt jedoch in HEINRICH VON TREITSCHKES Erstlingsschrift „Die Gesellschafts-
wissenschaft. Ein kritischer Versuch" (1859) vor. Ihre polemische Schärfe erklärt
sich daraus, daß Treitschke im Unterschied zu dem weit vorsichtiger urteilenden
Bluntschli davon überzeugt ist, daß die Gesellschaftswissenschaft eine gänzliche
Umwälzung der Lehre vom Staate herbeiführen müßte 205 , die weder wünschenswert
noch notwendig sei. Gesellschaft, unabhängig vom Staat, ist für Treitschke kein
einheitlicher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens uno infolgedessen weder
möglicher Gegenstand einer selbständigen Wissenschaft noch methodischer Bezugs-
punkt anderer Wissenschaften, z.B. der Geschichte. Immerhin vermag er nicht zu
übersehen, daß zwischen Staat und Gesellschaft ein Unterschied bestehL; ubcr dieser
ist ihm nur Anlaß, an ihrer Untrennbarkeit festzuhalten 206 • Treitschkes Verurtei-
lung der neuen „Gesellschaftswissenschaft" hat in Verbindung mit Droysens
gleichzeitiger Abwehr des westeuropäischen Geschichtspositivismus (Buckle) 207 ,
wesentlich dazu beigetragen, daß die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahr-
hunderts dem von Stein und Mohl vorgeschlagenen methodischen Konzept einer.
„Gesellschaftsgeschichte" (= Sozialgeschichte) 208 zunächst keine Beachtung
schenkte und sich weiterhin einseitig an der Staaten- und Personengeschichte
orientierte.

202 Vgl. BLUNTSCHLI/IlRATER Bd. 4 (1859), 250.


203 Ebd., 246 f.
204 Ebd., 247.
205 HEINRICH v. TREITSCHKE, Die Gesellschaftswissenschaft (1859; Ndr. Halle 1927), 87.
206 Ebd., 81.
207 Vgl. MANFRED RIEDEL, Positivismuskritik und Historismus, in: Positivismus im 19.

Jahrhundert, hg. v. JÜRGEN BLÜHDORN u. JOACHIM RITTER (Frankfurt 1971), 81 ff.


208 „Gesellschaftsgeschichte" ist das theoretische Programm von LORENZ v. STEINS „Ge-

schichte der sozialen Bewegung von 1789 bis auf unsere Tage". Bei ROBERT v. MoHL steht
der „allgemeinen" und „dogmatischen" ( = systematischen) Gesellschaftswissenschaft
eine „geschichtliche" zur Seite, die „Geschichte" und „Statistik" umfaßt; vgl. ders., Ge-
schichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, 94 ff. Eine Anwendung des Stein·
Mohlschen Konzepts versucht J. J. RossBACH, Vom Geiste der Geschichte, 1868 ff., der die
Gesellschaftsgeschichte als grundlegende historische Disziplin, insbesondere für die Staats-
geschichte, ansieht.

848
V. 4. Historischer Materialismus Gesellschaft, Gemeinschaft

4. 'Gemeinwesen', 'Gesellschaft', 'Staat': der Gesellschaftsbegriff des Historischen


Materialismus

Das Konzept einer , ,Gesellschaftsgeschichte'' wird um die Mitte des 19. Jahrhunderts
in der „Gesellschaftswissenschaft" von Marx und Engels ausgearbeitet. Hier voll-
zieht sich noch einmal eine Umwertung der Terminologie der kritischen Gesell-
schaftstheorie, die auf der Theorie des „Historischen Materialismus", insbesondere
der politischen Rollentheorie des Proletariats, basiert. 'Gesellschaft', so läßt sich
dieser Vorgang umschreiben, wird zu einem „Viertenstandsbegriff", wobei zugleich
der Terminus 'Gemeinschaft' und die mit ihm verbundenen politischen Grund-
termini 'Kommunismus' und 'Sozialismus' neu bewertet werden. Bereits LORENZ VON
STEIN hatte die politisch und sozial folgenlosen sozialistischen und kommunistischen
Systeme der Aufklärer und ihre Vorläufer (Plato, Morus, Campanella usw.) von
den Sozialbewegungen des Sozialismus und Kommunismus im 19. Jl:thrhurnlerL
unterschieden 209 und beide terminologisch weiter differenziert. Stein rechnet es
dem Sozialismus als Verdienst zu, das problematische Verhältnis zwischen der
normativen „Idee der freien Persönlichkeit" und dem faktischen Zustand der
Arbeit, der Produktionsbedingungen erkannt zu haben: Er hei'.ßt eben darum mit
Recht der Soz,ial,isnvus, weil er zuerst 'Von der menschz.ichen Gesellschaft als e'iner von
bestimmten Gesetzen und Elementen beherrschten Ordnung sprechen gelehrt hat 21 0.
Der Sozialismus - so argumentiert Stein - schließt sich mit der Idee der „freien
Persönlichkeit" an das bestehende Normensystem des bürgerlichen Rechtsstaates
an. Der Kommunismus dagegen ist bloße Verneinung des bestehenden Systems
durch das nicht mehr „persönlich" vermittelte Klassenbewußtsein des Proletariats
- eine historische Tatsache von der allerhöchsten Bedeutung; aber freilich eine histori-
sche Tatsache nur für die Geschichte der Gesellschaft 211 • Marx und Engels haben diese
„Tatsache" politisch gewendet und für die moderne Staatengeschichte zur Geltung
gebracht.
Was den frühen, weitgehend „vorwissenschaftlichen" Sprachgebrauch betrifft, so
sind beide teils von französisch-englischen Sozialtheoretikern, teils von der zeitgenös-
sischen deutschen Philosophie (Feuerbach) beeinflußt. Dazu kommt die Erfahrung
einer neuen, später 'Solidarität' genannten Geselligkeit im Emanzipationskampf des
vierten Standes, der soziale Enthusiasmus der frühen Arbeiterbewegung, dem MARX
zu Beginn der vierziger Jahre einen bered Len Ausdruek giLt: D'ie Gesellschaft, der V er-
e,in, d'ie Unterhaltwny, d'ie 'W'ieder die Gesellschaft Z'am Zweck hat, reicht 'ihnen hin, die
Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der
Adel der Menschheit leuo_htet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen 212 •
Dem entspricht die soziale, auf dem Liebesprinzip fundierte Anthropologie Feuer-
bachs, die das Wort 'Gemeinschaft' emphatisch betont und bald auch mit der
„kommunistischen" Modeströmung assoziiert: Der einzelne Mensch für sich hat
das Wesen des Menschen weder in sich als moralischem, noch in sich als· denkendem

209 LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, 5; Socialismus und Commu-

nismus, 100 ff. 130 ff. 347 ff.


210 Ders., Ceschichte der sozialen Bewegung, Bd. 2, 124.

911 Ebd., 348; vgl. ebu., 347 u. ders., Suuialislllus w1u Cullllllwiislllw1, 131.
21 2 MARx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Erg. Bd. 1 (1968), 554.

54-90386/l 849
Gesells~aft, Gemeinschaft V. 4. Historischer Materialismus

Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Minheit des Men-
schen mit dem Menschen enthalten 213 • Diese Einheit (die bei Feuerbach allerdings
den Unterschied der lµdividuen, zwischen „Ich und Du" nicht aufhebt, sondern
voraussetzt) bezeichnet der junge Marx mit 'Gemeinwesen': Indem das menschliche
Wesen das wahre Gemeinwesen der Menschen, so schaffen, produzieren die Menschen
durch Betätigung ihres Wesens das menschliche Gemeinwesen, das gesellschaftliche
Wesen, welches keine abstrakt-allgemeine Macht gegenüber dem einzelnen Individuum
ist, sondern das Wesen eines jeden Individuums, seine eigne Tätigkeit, sein eignes
Leben, sein eigner Geist, sein eigner Reichtum ist 214 • 'Gemeinwesen' ist umgangs-
und bildungssprachlich ein ursprünglich politischer (lat. res publica), von Marx
aber entpolitisiert gebrauchter Begriff, der einen Maximalzustand menschlicher
Verbundenheit, das „Gattungsleben" des Menschen, bezeichnet. Obwohl er
bedeutungsmäßig nicht näher :fixiert und auch nicht auf eine bestimmte WortgeRtalt
proji?.iert wirf! (7.. R 'Gflmeinscha.ft'), set?.t ihn Marx dem nationalökonomischen
Gesellschaftsbegriff entgegen. Die Nationalökonomie faßt das Gemeinwesen des
Menschen oder ihr sich betätigendes Menschenwesen einseitig unter dem Aspekt des
Austauschs und Handels auf: Die Gesellschaft, sagt Destutt de Tracy, ist eine Reihe
von wechselseitigen echanges. Sie ist eben diese Bewegung der wechselseitigen Inte-
gration. Die Gesellschaft, sagt Adam Smith, ist eine handelstreibende Gesellschaft.
Jedes ihrer Glieder ist ein Kaufmann. Man sieht, wie die NationaliJkonomie die ent-
fremdete Form des geselligen Verkehrs als die wesentliche und itrsprilnglich.e und der
menschlichen Bestimmung entsprechende fixiert 215 •
Trotz der Kritik am Gesellschaftsbegriff der Nationalökonomie hat Marx ihre
Terminologie in das ausgearbeitete Sprachsystem des Historischen Materialismus
übernommen. Die Gründe für diese folgenreiche Rezeption der „bürgerlichen"
Gesellschaftstheorie liegen vor allem darin, daß Marx die abstrakt-emphatische
Rede von einem „menschlichen Gemeinwesen" bald wieder verlassen und der Ver-
suchung Feuerbachs und der „wahren Sozialisten" widerstanden hat, „unent-
fremdete" Gesellschaftszustände lediglich sprachlich, durch Evokation zu anti-
zipieren. Sprachpolitik kann die Sprache der Politik, die Organisation des politi-
1:1che11 Harnlel111:1 wul da1:1 Spreehe11 und Handeln innerhalb bestimmter In1:1titutionen
und Organisationen, nicht ersetzen.
„Gesellschaft", die Produktions-, Distributions- und Konsumtionssphäre, konsti-
tuiert sich nach Marx und ENGELS als intersubjektiver Handlungszusammenhang.
Wie es keine „Produktion im allgemeinen", keine „allgemeine Produktion", sondern
immer nur eine Produktion unter speziellen („gesellschaftlichen") Verhältnissen
gibt, so gibt es auch keine „allgemeine Gesellschaft" - es hat nach Marx und
Engels immer nur eine spezielle „Gesellschaftsformation" als das historisch ge-
wordene Ganze („Totalität") von ProdukLivkräfLen und ProdukLionsverhältnissen
gegeben 216 • Dabei werden im historisch-genetischen Zusammenhang einer im An-
satz entwickelten „Geschichte der Gesellschaft" fünf Formationen unterschieden:

213 Lunwm FEUERBAOH, Grundsätze der Philosophie der Zukunft,§ 59, Sämtl. Werke, hg.
v. Wilhelm Bolin u. Friedrich Jodl, 2. Aufl., Bd. 2 (Stuttgart 1959), 318.
214 MARx, Auszüge aus Mills „Elemens d'eoonomie politiquo", MEW Erg. Bd. 1, 451.
215 Ebd.
216 Ders., Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW Bd. 13 (1961), 8 f.

850
V. 4. Historischer Materialismus Gesellschaft, Gemeinschaft

Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, FeudalgeseUschaft, bürgerliche bzw.


kapitalistische Gesellschaft und sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft.
'Gesellschaftsformation' ist der Grundterminus in der Gesellschaftswissenschaft des
Historischen Materialismus, der den Gesellschaftsbegriff als historisch variabel
erscheinen läßt, - so variabel wie den Begriff des Staats, der durch die Emanzi-
pation des Proletariats überwunden werden soll. Die These vom „Absterben des
Staats" fand Marx insbesondere durch die politische Organisationsform der Pariser
Kommune bestätigt, von der er (im gewissen Gegensatz zu späteren Folgerungen,
welche die „marxistische" Staatslehre daraus zog) ~einte, sie habe dem gesellschaft-
lichen Körper all seine Kräfte zurückgegeben, die bislter der Schmarotzerauswuchs
, ,Staat'', der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewe,gung ltemmt, aufgezehrt
hat~ 1 • 1 • 'U-eselfschaft' hat hier bereits ienen positiven Wertbezug, der im politischen
System de.s Historisc.hen Materialismu,s de.m Wort 'A.ssoziation' zukommt, das
den für die Zukunft erwarteten Zustand vollendeter' Emanzipation und damit
das „Ende" des Staats anzeigt: Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage
freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze
Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer,
neben das Spinnrad und die bronzene Axt218 • Das Marx-Engelssche Gesellschafts-
modell einer Assoziation von Individuen, in der die freie Entwicklung eines jeden
die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist 219 , kehrt sich nicht nur nicht vom
bürgerlich-liberalen Koordinationsmodell ab, das die Individuen nach der Regel
der Wechselwirkung (Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung) vereinigt, -
es überbietet und vervollständigt dieses Modell durch die Annahme einer selbst-
tätigen („automatischen") Koordination, die Herrschaft über Menschen über-
flüssig und allein „ Verwaltung", nämlich die von Sachen, übriglassen wird.
Das Modell der künftigen, auf „Assoziation" basierenden Gesellschaft hat Marx
während der vierziger Jahre gelegentlich als 'Gemeinschaft' im emphatischen Sinne
ausgezeichnet. 'Gemeinschaft' heißt der Zustand aufgehobener ·Arbeitsteilung,
aufgehobener Herrschaft, aufgehobener Vereinzelung. Diese Aufhebung(= Nega-
tion) ist ohne die Gemeinschaft nicht möglich. Erst in der Ge~inschaft [mit andernJ
hat jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden;
P-r.~t 1:n der Geme1>nscha,ft w?'.rd also die persönliche Freiheit möglich. In den bish.erigen
Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat usw. existierte die persönliche Freiheit nur für
die in den Verhältnissen der herrschenden Klasse entwickelten Individuen 220 • Die
Surrogate nennt Marx nicht 'Gesellschaften', sondern 'scheinbare Gemeinschaften'
(Vereinigungen einer Klasse gegenüber anderen Klassen), irri. Gegensatz zu der
„wirklichen Gemeinschaft" der Zukunft, in der die Individuen in und durch ihre
Assoziation zugleich ihre Freiheit erlangen 221 • In den Schriften der fünfziger und
sechziger Jahre spricht Marx nicht mehr von 'Gemeinschaft', sondern vorzugs-
weise von 'GemeinweRen'. DaA Wort hr,r.r,ichnet abr,r jr,tr.t eine Jnst,itution, dir,

217 Ders„ Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW Bd. 17 (1962), 341.


218 ENGELS, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW Bd. 21
(1962), 168.
219 MAB.x/ENGELS, Kommunistisches Manifest, MEW Bd. 4 (1959), 482.
220 MARX, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3 (1958), 74.
2 21 Ebd.

851
Gesellschaft, Gemeinschaft V. 5. Synkretismus und Sprachanarchie

„Gemeinde" in der Bedeutung 1m1priinglicih primitiver bzw. elementar-polit.ischer


GeRellRcihaft.sformen, deren „Naturwüchsigkeit" durch entwickelte Geld- und
Tauschwirtschaft aufgelöst und auf höherer Stufe erst in der sozialistischen bzw.
kommunistischen Gesellschaft., dem „Reich der Freiheit", wiederhergestellt. werden
kann 222 •

5. Synkretismus und Sprachanarchie in Philosophie und Wissenschaft (Historiogra-


phie, Jurisprudenz, Staatslehre)

Wie Marx und Engels trotz der Gewinnung wichtiger „gesellschaftswissenschaft.-


licher" Erkenntnisse zu keiner in sich konsistenten Begrifflichkeit gelangen, so
hleiht, auch die „burgerliche" Gesellschaftstheorie in der zweiLen HälfLe tlel:l 19 .
.Tahrh1milArtR von Ainer terminologischen Verständigung auf diesem Felde weit
entfernt. Die auch vorher anzutreffende Vielfalt des Sprachgebrauchs, die relative
Beliebigkeit in der Wortauswahl und die oft willkürliche Begriffsdeutung erreichten
jetzt die Grenze der Sprachanarchie. Mit den Worten: Gesellscha~, Socialismus,
social und Socialisten, schreibt KARL MARLO, werden so verschiedene Begrifje ver-
bunden, daß, z11>r V erm111:d1m11 e?:ner färmlichen Sprachverwirrung, eine spezielle V er-
i;tänd·iywny über d·ie1Seluen e'/'/orderticli ·ist?. 23 • Der Appell von Marlo verhallt ungehört.
Das ist freilich auch in der persönlichen Idiosynkrasie mancher Vertreter del'
„neuen Wissenschaft" 224 begründet, aber mehr noch Symptom der kritisch zuge-
spitzten kulturell-geschichtlichen Situation des Bürgertums; das den aufgebroche-
nen Konflikt im Inneren der von ihm getragenen „Gesellschaft" nicht mehr aus
eigener Kraft, weder wissenschaftlich noch politisch, zu bewältigen weiß. Das um
sich greifende Bewußtsein tiefer Ratlosigkeit und Resignation führt entweder zu
Scheinlösungen oder zur Ausflucht.in willkürliche Entscheidung.
Die Philosophie begreift mit LoTZE den Staat zunächst noch als Produkt der
gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung, deren Konflikte er nicht einfach zu
negieren„ sondern positiv aufzulösen hat: Das lebhafte Gefühl hiervon veranlaßte die
Frage nach dem eigentlichen Sinn und Recht dieser vielen Bildungen, von denen jede
sich gegen die andern zu erhalten sucht, und erzeugte dabei den modernen BeyriO der
'Gesellschaft' als einer Vielheit lebendiger Individuen, die zu gemeinsamer Erfüllung
aller ihrer Lebenszwecke verbunden sind. In diesem Sinne schien der Begriff der
'Gesellschaft' das eigentliche wahrn .~1:ttli:r,he Tnst1:t1.tt zu bezeichnen, dem die politische
Form des 'Staats' höchstens eine bestimmte unter gegebenen Umständen notwendige
Endform gab 225 • Mit Dilthey und in Übereinstimmung mit Lotze, der dazu den

222 Vgl. Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. 1857-1858 (Berlin 1953), 375 ff.

(Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen).


223 KARL MARLO rd. i. KARL GEORG WINKELBLECH], Untersuchungen über die Organi-

sation der Arbeit, BJ. 1: Historische Einleitung in die Oekonomie, 2. Aufl. (Tübingen 1885),
303, Anm. 1.
224 z. B. der an der Biologie orientierten „soziologischen" Sprache von PAm, v. LILIEN-

FELD, Gedanken über die Sozialwissenschaft der Zukunft (Hamburg 1873-1881) u. AL-
BERT ScHÄFFLE, Bau und Leben des sozialen Körpers (Tübingen 1875-1878).
226 HERMANN LoTZE, Grundzüge der praktischen Philosophie,§ 47, ~.Aufl. (Leipzig 1884),

fi7 f.

852
V. 5. Synkretismus .und Sprachanarchie Gesellschaft, Gemeinschaft

Anlaß gab, lehnt die Philosophie jedoch die Tendenz zu einer selbständigen Organi-
sation der Gesellschaft (z.B. in der Form der „Demokratie", die dem Begriff einer
bloßen 'Gesellschaft' am nächsten steht) 226 ebenso ab wie die. Möglichkeit eines
selbständigen Wissens von ihr. „Soziologie" nach dem Muster von Comte und Mill,
Spencer, Schäffle und Lilienfeld ist für DILTHEY keine „wirkliche Wissenschaft",
da „Gesellschaft" nicht das Ganze der geschichtlich-geistigen Welt des Menschen,
sondern nur einen Teilinhalt, die äußere Organisation des Zusammenlebens als
Voraussetzung und Grundlage des Staats, umfaßt 227 . Die Normen und Regeln, nach
welchen das Wechselspiel zwischen beiden verläuft, werden jetzt auf extrem
individualistischem Standpunkt zu „psychischen Tatsachen" verinnerlicht und den
geschichtslosen Sphären der Gemeinschaftsbeziehungen auf der einen, der Herrschafts-
und Abhängigkeitsverhältnisse auf der anderen Seite zugeordnet 228 . Eine Klärung
·der schon bei Stein und Mohl hergestellten Begriffsreihe 'Gesellschaft' - 'Staat' -
'Gemeinschaft' und ihrer Einzelglieder findet nicht statt.
Die Geschichtsschreibung ordnet mit DROYSEN die Sphäre der „Gesellschaft" noch
in eine Systematik der „Gemeinsamkeiten" ein, die der liistoriker als Bänder des
menschlichen Zusammenlebens darzustellen habe: Die Gesellschaft macht den
Anwprnr:h., jP.dP.m d1:P. 8teUr- zit hieten, in der die sittlichen Gemein11amkeiten sich ihm
erfüllen Mnd er nie orfüttt229 , lhre .ffilemente, die durchweg der sozialen Konflikt-
situation entstammen, sind freilich von jenem Kosmos der sittlichen Mächte weit
entfernt, der hier nooh alR GeRohichtsideal vorschwebt: Der Unterschied der Kla.ssen,
des Blutes, der Bildung, des Vermögens, Herkommen und Sitte; die trägen Elemente;
die Parteien; die öffentliche Meinung usw. Die 1Joz·iale Republ-ik2 30 • Mit Treitschke
und dem Methodenstreit der neunziger Jahre um die „Gesellschafts- ( = Kultur-)
Geschichte" gibt die deutsche Geschichtsschreibung jene Zuordnung der Gesell-
schaft zu den „sittlichen Gemeinsamkeiten und Mächten" zugunsten ihrer Ein-
ordnung in die Macht des Nationalstaats preis.
Die Rechtswissenschaft bricht die in der Rechtsstaatslehre immerhin noch gesuchte
Verbindung zur Gesellschaftswissenschaft ab. Dem juristischen Positivismus stellt
sich mit GERBER und Laband der „Stoff des Staatsrechts" als eine „Summe von
Rechtssätzen und Institutionen" dar, die einzig vom Staat garantiert und deshalb
ohne Rücksicht auf die soziale Bewegung der Gesellschaft konstruiert werden
können. Die Konstruktionsabsicht des Positivismus führt r.ur Verklärung des
Staats, der bei Gerber nicht mehr als Organ der Gesellschaft, sondern als Bewahrer
und Offenbarer aller auf die sittliche Vollendung des Gemeinlebens gerichteten
Volkskräfte erscheint2a1.
Der Aufstieg des Wortes 'Gemeinschaft', der damit in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts beginnt, verdankt sich einer sozial- und sprachpolitisch gleichermaßen

226 Ebd„ § 61, S. 77.


227 DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Ges. Sehr„ 4. Aufl„ Bd. 1 (Stuttgart,
Göttingen 1959), 36, Anm.
228 Ebd., 64 f..

229 DROYSEN, Historik (1858), § 68, hg. v. Rudolf Hübner (München 1937), 351.

2ao Ebd.
231 KARL FRIEDRICH GERBER, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht.A (Leip-

zig 1869), 2.

853
Gesellschaft, Gemeinschaft VI. 1. Kritik der ,,reinen Soziologie" (Tönnies)

problematischen Situation, Der affirmative Grundzug seines Gehra1rnhR, niA Be„


setzung des Wortes mit Gefühlen und Werten prälogischen Ursprungs erklärt sich
aus der zunehmenden Rationalisierung aller gesellschaftlichen Lebensverhältnisse
einerseits, der Positivierung und Historisierung moralischer, rechtlicher und
sozialer Normen andererseits. Nachdem die Gesellschaft als neue, den Staat in
Frage stellende „Tatsache" des menschlichen Zusammenlebens erfahren worden
ist, wird nun, im Gefolge dieser Erfahrung, der Staat als „Norm" angesehen,
wobei gegebenenfalls auch seine historischen Erscheinungsformen - z.B. der
Bismarcksche Nationalstaat - nach G. JELLINEKS Maxime von der normativen
Kraft des Faktischen zu rechtfertigen sind 232 • 'Staat' und 'Gesellschaft', der „juristi-
sche" und der „soziologische" Staatsbegriff treten sich in dem Maße gegenüber,
wie Norm und Faktum auseinandertreten. Noch der Brückenschlag, den RUDOLF·
VON IHERING sucht, bestätigt Jen Duaföunuii. Iherings Formel: Die Gesellschaft
als lnhaber·in der Zwany11yewalt 'i1Jt der Staat läßt sich auch umkehren in: Staat ist
die Gesellschaft, welche zwingt 233 - ein Satz, der nichts bestimmt und beide Termini
buchstäblich nur gewaltsam, mit Hilfe des Gewaltbegriffs zusammenzwingt.

VI. Begrüfsgeschichte, Geschichtsphilosophie und Ideologiebildung

1. Kritik der „reinen Soziologie" (Ferdinand Tönnies)

ln dieser wissenschaftlich unbefriedigenden, ja verworrenen Situation mußte nach


einem Ausweg gesucht werden. Er wurde in zwei Richtungen begangen, die manches
miteinander verbindet: einmal im Rückgriff auf das der älteren Rechtssprache
vertraute (und gelegentlich schon von Georg Beseler erneuerte) Wort 'Genossen-
schaft' und zum anderen durch eine Neubestimmung des Wortes 'Gemeinschaft',
das bisher terminologisch nicht vereinbart, sondern mit 'Gesellschaft' synonym war.
Auf das Wort 'Genossenschaft' greift ÜTTO VON GIERKE zurück, der die soziale
Bewegung seiner Zeit auf der Basis einer generellen Verbandstheorie „evolutio-
nistisch" zu deuten unternimmt. Deutungsschemata sind nicht mehr „Staat und
Gesellschaft", sondern „H~rrschaft und Genossenschaft", die Gierke als bestimmte
Entwicklungsreihen mit meist paralleler Evolution durch die Geschichte führt. In
uer Reihe der „Genossenschaft". erscheinen die Gens, der St.a.mm, die Bürger-
gemeinde und schließlich auch der (idealisierte) bürgerliche H.echtsstaat, der als
„Genossenschaftsstaat" der Zukunft Herrschaft und Gesellschaft, lfänheit und
persönliche Selbständigkeit seiner Glieder (=Vielheit) miteinander ausgleichen und
versöhnen soll. Grundinstitution der Genossenschaft und in gewisser Weise auch
Deutungsschema der sozialen Versöhnung ist für Gierke der Kleinverband, die
Familie: Die älteste aller menschlichen Verbindungen, die Familie, war es, welche
der Rechtsidee der deutschen Genossenschaft in vorhistorischer Zeit das Dasein gegeben
hatte 231 •

232 GEORG J ELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Reohto, 2. Aufl. (Tübingen 1919),

16 ff. 27 f.
233 RUDOLF v ..!HERING, Der Zweck im Recht, Bd. 1 (Leipzig 1877/1883), 295. 307.

234 ÜTTO v. GIERKE, Das deutsche GenoRRllTIRClhaftRrecht., Bd. 1: Re.chtsgeschichte der deut-

schen Genossenschaft (Berlin 1868), 14.

854
VI. 1. Kritik der „reinen Soziologie". (Tönnies) Gesellschaft, Gemeinschaft

Diu Rilll1Lw1g dor „Gomeinichaft" 11chlägt FERDINAND TöNNIES ein, der mit Oicrkc
den Wechsel der begrifflichen Perspektive, die Verlagerung des theoretischen
Interesses von der Gesamtgesellschaft und ihrer politischen Organisation, dem
Staat, auf die sozialen Kleinverbände und Gruppen teilt. Der Wechs11l iAt. kAinAA-
wegs zufällig, sondern historisch motiviert. Er vollzieht sich auf dem Hintergrund
des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rapide beschleunigten Industriali-
sierungsprozesses, der insbesondere die an agrarische IJebensformen gebundenen
Kleinverbände (Familie, Dorf) ergreift. Hier hat das Wort 'Gemeinschaft' schon
vor Tönnies einen sozialromantischen, auf eine spezifische Situation und Institution
(die Familie) bezogenen Klang. Die Auflösung der persönlichen Lebensgemeinschaft,
schreibt RUDOLF VON _GNEIST, welche einst Besitz und Arbeit miteinander verband,
schü:.htet d1:e. MPmsr.h.rm. in Stadt 11.nd T,nnd in nr.1u',r W r.i.~e. m1:t nmum Bedürfnis.~en
und neuen Ansprüchen 235 • Obwohl das Resultat dieser Umschichtung auch hier
'Gesellschaft' heißt, verzichtet Gneist auf terminologisch verselbständigte Wendun-
gen für Kleinverbände und Gruppen, da sein Interesse der Weiterentwicklung des
Rechtsstaats auf der Basis der Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft
gilt236,
Diese Pmütiou üueroichreiLeL eniL TöNNIEs iu.iL .i1:limlll1 Duch „Gemeinschaft und
Gesellschaft" (1887). Wie der Untertitel der 1. Auflage („Abhandlung des Kommu-
nismus und Sm1i11liAmm1 alR cmpiriRohc Kulturformen") anzeigt, steht es mit der
sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts in einem direkten Wirkungszusammen-
hang. Es ist Tönnies' Absicht, den zu politischen Schlagworten und Parteibezeich-
nungen gewordenen Begriffen eine wissenschaftliche Gestalt zu geben, die zwar jenen
Weisen des Sprachgebrauchs gerecht würde, zugleich aber den Charakter einer 1dee
hätte, der sowohl bestimmte Erscheinungen der Wirklichkeit als auch die Vorstellungen
und ideale der Menschen irgendwie nahekommen, ohne sich je damit zu decken 237 •
In . dieser methodischen Perspektive werden 'Sozialismus' und 'Kommunismus'
als empirische Kulturformen verstanden und - auf einer sprachkritisch und
historisch-genetisch allerdings nicht befriedigend abgestützten Basis - mit der
begrifflichen Unterscheidung zwischen 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' paralleli-
si11rt.: Tr.h wollte K ommum:smits hl'{Jrei:fen al.~ da.~ Kultursystem der Gemeinschaft,
Sozialismus als das Kultursystem der Gesellschaft. Zu diesem Behufe dehnte ich beide
ldeen aus, um ihre Bedeutung als llormen des Eigentumsrechts auf das gesamte wirt-
schaftliche, politische und geistige Zusammenleben der Menschen zu erstrecken 238 .
Die ursprünglich mit der Sozialbewegung des 19. Jahrhunderts eng verbundene
Genese beider Begriffe hat Tönnies später, nach der Änderung des Untertitels (in:
„Grundbegriffe der reinen Soziologie"), auf den Gegensatz zwischen Naturrecht und
Historischer Schule reduziert, der in der Sozialbewegung selber, zum mindesten
bei Comte und Marx, keine Rolle spielte. Für Tönnies wird der Rückgriff notwendig,
weil in der systematischen Formulierung seiner Begriffe trotz weitestgehender

235 RUDOLF v. GNEIST, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland,

2. Aufl. (Berlin 1879), 4.


236 Ebd., 8.

237 FERDINAND TÖNNIES, Gemeinschaft und Gesellschaft, Vorrede (der 3. Auflage), in:

ders„ Soziologische Studien und Kritiken, Bd. 1 (Jena 1925), 59.


2as Ebd.

855
Gesellschaft, Gemeinschaft VI. 1. Kritik der „reinen Soziologie" (Tönnies)

lifatol'ischer Ausdehnung das entscheidende Zwischenglied, die 1„bürgerlich-


individualistische" Gesellschaft der Neuzeit, nicht mit erfaßt ist: Der Ursprung
meiner soziologischen Begriffe liegt in dem für Deutschland bedeutenden Gegensatz der
historischen gegen die rationalistische Denkungsart und Schule, welcher Gegensatz
der vorherrschenden Auffassung nach mit der Überwindung des rationalistischen
durch das historische Denken gelöst worden sei 239 • Tönnies war der Auffassung, daß
dieser Gegen~atz nicht gelöst, sondern zunächst als Dauerantinomie zu begreifen
und dann durch „Synthese" zu überwinden sei. „Sozialismus" und „Kommunismus"
sind „empirische Kulturformen", die der sozialen Bewegung, Naturrecht und
Historismus Kulturerscheinungen, die der Wissenschaftsgeschichte angehören.
Indem Tönnies beides miteinander vermischt, indem er einerseits zeigen will,
daß die natürliche und (für uns) vergangeno, abor immor zitgrunde liegendf! Ifon-
stitution der Kultur kommunistisch ist, die akt·uelle und werdende sozialistisch 24 o,
und indem er andererseits nachzuweisen versucht, daß das Naturrecht der Neuzeit
eine Theorie der „Gesellschaft" und von der historisch-organischen Theorie der
„Gemeinschaft" zu trennen sei, verlieren die soziologischen Termini ihre historische
Situierung und den Bezug auf unterscheidbare Sozial- und Handlungsschemata.
Sie werden aus theoretisch und praktisch gleichermaßen brauchbaren Begriffen
mit teils deskriptivem, teils normativem Stellenwert zu wissenschaftlichen
„Normalbegriffen" - eine VarianLe vou Webers „Idealtypen" --- hochstilisiert,
mit deren Hilfe der Soziologe an fliA historische wnd gegenwärtige Wirklichkeit
menschlichen Zusammenlebens herantreten und iu empirischer Forschung nachweisen
soll, daß überhaupt jenen Begriffen eine bedeutende Wirklichkeit entspreche 241 •
In der (1931 erschienenen) „Einleitung in die Soziologie" hat Tönnies schließlich
nach der „Nebeneinanderstellung" beider Termini als „normalbegri:fflicher"
Gesichtspunkte zur Analyse der sozialen Wirklichkeit die Frage gestellt, ob jede
der beiden Ansichten in. ihrer Weise recht habe und ein Stück der Wahrheit enthalte,
so daß die ganze Wahrheit in einer vermittelnden höheren Ansicht zu suchen sei. Die
Antwort freilich bleibt trotz klarer Stellungnahme zweideutig. Ohne Rücksicht
auf eine hier zu erwartende „mittlere" Position, auf eine kritische, die gegensätz-
lichen Implikate des Begriffspaares noch einmal aufeinander beziehende und
ineinander aufhebende Gesellschaftstheorie, und nicht zuletzt auch ohne Rücksicht
auf die anfängliche Situicrung beider Begriffe in „empirischen Kulturformen",
d. h. der sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts, sagt Tönnies, daß die sozio-
logische Theorie die naturrechtliche Auffassung, der sich bisher die „historische"
und „organische" negativ entgegenstellt, in sich aufzunehmen und von sich
abhängig zu erhalten habe. Womit gesagt ist, daß die „organische" Ansicht zugleich
die ursprüngliche und die umfassende ist, also insoweit die allein recht habende. Dies
i.~t durcha.its meine Meinimg 2 42.

239 Ders., Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, Kölner Zs. f.

Soziologie u. Sozialpsychologie 7 (1955), 463 (Redaktionstitel).


240 Ders., Gemeinschaft und Gesellschaft, Vorrede (der ersten Auflage), in: 8tudien und

Kritiken, Ed. 1, 43.


241 Ders., Gemeinschaft und Gesellschaft, Einleitung, ebd., 33.
242 Ders., Zur Einleitung in die Soziologie, ebd., 71.

856
VD. Ausblick Gesellschaft, Gemeinschaft

2. Gesellschaft und Gemeinschaft als soziologische und geschichtsphilosophische


Unterscheidung

Auf dem Bekenntnis zur „organischen" als der „allein recht habenden" Ansicht und
der sich daran anschließenden formellen Überordnung der „Gemeinschaft" über
die „Gesellschaft" beruht die Wirkung von Tönnies' Theorem in der Folgezeit.
Dahinter steht eine normative Wertschätzung, die sich material in der stillschwei-
gend vorausgesetzten Verbindung der normalbegrifflichen Konstruktion mit
Geschichtsphilosophie zur Geltung bringt. 'Gemeinschaft' ist aller soziologischen
Begriffsbildung nicht nur systematisch über-, sondern historisch vorgeordnet, sie
ist der „dialektische Mutterschoß", aus dem in einem zeitlichen Verlauf die
„Gesellschaft" entspringt: Der Begriff „Gesellschafr" bezeichnet also den gesetzmäßig
normalen Prozeß des Verfalles aller „Gemeinschafr". Dies ist seine Wahrheit; und sie
auszudrüclccn, ist er unentbelvrlich und müßte gebildet werden, wenn er nicht schon
ausgebildet vorläge; obgleich seine Ausbildung ohne die Ahndung seiner Bedingtheit
und echten Bedeutung geschehen ist 243 • Im Unterschied zur „Gesellschaftswissen-
schaft" als Komplement der bürgerlichen Rechtsstaatstheorie, aber auch im
Gegensatz zur organizistisch mißverstandenen Soziologie von Schäffle und Lilienfeld
hält Tönnies' „reine Soziologie" den Situationsbczug der kritischen Gesellschafts-
theorie partiell noch fest. Aber die geschichtlichen Dimensionen haben ihren
Stellenwert verändert. Derselbe Prozeß, den.Marx und Engels (in Übereinstimmung
mit dem Sozialoptimismul:l der klal:ll:liseh-ideali:;Li:;ehen Philosophie und ihrem
kritisch-normativen Deutungsschema der Gesellschaft als „Gemeinschaft") im
positiven Wertsinn als Freisetzung der Elemente und Bauformen des „Sozialismus"
bzw. „Kommunis~us", einer künftigen „Assoziation" freier Individuen durch das
ökonomische Bewegungsgesetz der modernen (bürgerlichen) Gesellschaft begreifen,
stellt sich in der Optik der Tönniesschen Unterscheidung als Verfallssyndrom dar.
Geschichtsphilosophie, die systematische Fortsetzung und material-inhaltliche
Erfüllung· der Normbegriffe der reinen Soziologie durch eine Art historischen
Normalprozeß (die Bewegung von der „Gemeinschaft" zur „Gesellschaft"), optiert
für eine historisch vergangene Gemeinschaftskultur und beschreitet damit die
verschlungenen Pfade rückwärtsgewandter Prophetie. Für die Zukunft steht nur
die vage Hoffnung, daß die Kraft der Gemeinschaft auch innerhalb des gesellschaft-
lichen Zeitalters, wenn auch abnehmend, sich erhält und die Realität des sozialen
Lebens bleibt 2 u, - eine Hoffnung, die Tönnies teils in der Förderung des Kommunal-
und Genossenschaftswesens durch den liberal-bürgerlichen Rechtsstaat, teils in der
Belebung des Vereins- und Solidaritätsgedankens durch die Arbeiterbewegung und
die aus ihr hervorgehenden sozialen Institutionen (Gewerkschaften, Konsumvereine,
Produktivgenossenschaften usw.) empirisch bestätigt findet.

VII. Ausblick
Der kritische Begriff der Gesellschaft ist nach Marx (und Hegel, der ihn zuerst vor-
formuliert hat) der Inbegriff des durch Arbeit, Arbeitsteilung und Austausch

243 Ebd.
244 Ders., Gemeinschaft und Gesellschaft, 6./7. Aufl. (Berlin 1926), 252.

857
Gesellschaft, Gemeinschaft· VII. Ausblick

universell gewordenen, durch das Handeln der Individuen hindurch sich ständig
reproduzierenden Systems der Bedürfnisse und der Mittel zu ihrer Befriedigung.
Dieses Paradigma der Gesellschaftstheorie, das seine Situationsabhängigkeit so
wenig verleugnet wie den traditionell-philosophischen Anspruch auf kritisches
Begreifen, wird mit Ferdinand Tönnies aufgegeben. 'Gesellschaft' heißt bei Tönnies
der Inbegriff sozialen Wollens und Handelns, nach welchem die von allen ursprüng-
lichen und natürlichen Verbindungen losgelösten Individuen nur durch die abstrakt
vernünftigen Erwägungen gegenseitigen Nutzens und Entgeltens in Beziehung zuein-
ander treten 245 • Tönnies' Gesellschaftsbegriff umfaßt noch die Gesamtheit der
durch Tausch vermittelten Beziehungen zwischen den Individuen und bleibt
insofern historisch situierbar. Die Aporie der historischen Situierung besteht jedoch
darin, daß mit ihr begriffliche Unterscheidungen einhergehen, die spmchkritisch
und genetisch nicht zu rechtfertigen sind. Diese Aporie haben führende Vertreter
der neueren Soziologie wie Max Weber und Simmel auf der einen, Vierkandt und
Mannheim auf der anderen Seite durchschaut' und durch eine Veränderung der
sozialphilosophischen Begriffsbildung zu lösen versucht. MAX WEBER hat es als
einen in der Soziologie noch nicht überwundenen Rest von „Metaphysik" ange-
sehen, soziale Institutionen wie Staat, Kirche, Genossenschaft usw. als eigen-
ständige, dem Individuum.vorgegebene WeRenheitfm zu hegreifän und sie einem
generellen Gesellschaftsbegriff zuzuordnen. Der soziulugi1:!Chen Forschung müsse
vielmehr daran gelegen sein, diese Kategor1:en fiir be.~timmte Arten des menschlichen
Zusammenhandelns ... auf „verständliches" Handeln zu reduzieren 246 • So über-
zeugend dieser Gesichtspunkt für den methodischen Aufbau der Soziologie ist, so
verwirrend, ja irreführend sind die Folgerungen, die Weber damit verbindet.
Die Orientierung der Soziologie auf die Untersuchung „verständlichen" Handelns
beschränkt sie implizit auf das Handeln von Individuen und führt explizit zum_
Verzicht auf die Erkenntnis überindividueller, gesellschaftlich-geschichtlicher
Zusammenhänge. Es ist daher kein Zufall, wenn Webers Vorschläge zur soziologi-
schen Begriffsbildung den Grlindbegriff der Gesellschaft nicht mehr enthalten. An
seiner Stelle steht der extrem-generelle („formale") Terminus 'Vergesellschaftung',
der nach Weber immer dann gebraucht werden kann, wenn und soweit die Ein
stellung des sozialen Handelns auf rational . . . motiviertem Interessenausgleich und
auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht 247 • Damit gibt die Soziologie den
Anspruch preis, den realen, auf rational motiviertes Handeln rückführbaren Zu-
sammenhang der Gesellschaft kritisch zu begreifen. Die Generalisierung und
Funktionalisierung der soziologischen Begriffe läßt deren Situationsbezug, die

245 So lautet die Charakterisierung des Tönniesschen Gesellschaftsbegriffs bei EMIL LASK,

Rechtsphilosophie, Ges. Sehr., Dd. 1 (Tübingen 1923), 302. Vgl. dazu und zum Folgenden
KURT LENK, Marx in der Wissenssoziologie. Studien zur Rezeption der Marxschen Ideolo-
giekritik (Neuwied, Berlin 1972), dessen Ausführungen über die Enthistorisierung des Ge-
sellschaftsbegriffs in der deutschen Soziologie seit Tönnies mit den hier vertretenen Thesen
vielfach übereinstimmen.
246 MAx WEBER, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik (Stuttgart 1956), 110.
247 Dcrs., Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen 1922), 21. Zw· Abgreuzuug von Tönnies

vgl. ebd., 22 f.

858
VIl. Ausblick Gesellschaft, Gemeinschaft

Dimension der Geschichte, ausfallen. Hinter dem formalisierten Begriffsgerüst der


Soziologie kann der geschichtliche Zusammenhang nur noch begriffslos, als „Tragö-
die der Kultur" (Simmel) oder als „Schicksal der Rationalisierung der gesellschaft-
lichen Welt durch Wissenschaft" (Weber) in Erscheinung treten.
Der Prozeß der Enthistorisierung des Gesellschaftsbegriffs, der in der neueren
Soziologie mit Tönnies' terminologischer Unterscheidung und ihrer (impliziten oder
expliziten) Kritik durch Weber und Mannheim beginnt, hat seine Kehrseite in einer
Aktualisierung des Wortes 'Gemeinschaft', die man als „Pseudohistorisierung"
bezeichnen kann: Es handelt sich um einen weiteren Aspekt des geschichtsphilo-
sophischen :Problems der reinen Soziologie, um ihre ·w:issenschaftsgeschichtliche
und begriffspolitische Einordnung in die europäische Kultursituation am Übergang
vom rn. im1 20 .•Jahrhundert. Mit der Einführung des Wortes 'Gemeinschaft' -
das wurde bereits oben angedeutet - kommt die soziologische Theorie ungewollt der
reaktionären Opposition gegen die moderne industrielle Gesellschaft entgegen.
Während sich die anderen europäischen Sprachen die Synonymität von 'Gesell-
schaft' und 'Gemeinschaft' bis heute bewahrt haben, wird 'Gemeinschaft' in
Deutschland zum 11ozialidllologi11r,hfln Lflit.hegriff jener national-konservativen und
völkischen Bewegung, die nach dem 1. Weltkrieg Sozialismus, Kapitalismus und
Industrialismus zugleich zu „überwinden" trachtete.
Nicht ohne Grund konnte der Verfasser von „Gemeinschaft UIJ.d' Gi:sellschaft" als
Vertreter einer spezifisch „deutschen", von der westeuropäisch-rationalistischen
Gesellschaftsphilosophie unterschiedenen Soziologie angesehen und so in die Ge-
schichte der deutscl;ien Ideologie einer „antiwestlichen" SomlerenLwieklung ein-
geordnet werden 24 8. Es ist die Abhängigkeit der „deutschen" Soziologie von der
sozio-kulturellen Situation der geschichtlich „verspäteten Nation" (H. Plessner),
die sich sowohl an den systematischen Ergänzungen der Begriffspaare als auch an
ihren historischen Deutungen auf eine methodisch nicht mehr kontrollierbare
Weise anspricht. Während HANS FREYER die Fatalität des „Normalprozesses", die
geschichtsphilosophische Komponente des Verfalls zur „Gesellschaft" hervorhebt
(die Strukturen Gemeinschaft und Gesellschaft folgen in dieser und nur in dieser
Ordnung aufeinander in der Zeit; sie sind nicht bloß zwei Möglichkeiten des gesell-
schaft.lichen Zusammenlebens, sondern zwei Etappen der gesell11r,haft,Jir,hen Wirk-
lichkeit; Gemeinschaft kann nur Gesellschaft werden, Gesellschaft geht immflr a.uA
Gemeinschaft hervor; nie ist der reale Prozeß umkehrbar), 249 betont HERMANN
ScHMALENBACHS Kategorie des Bundes die dualistische Struktur der „N ormalbe-
griffe", die sich durch systematische Erweiterung nicht aufheben läßt. Beide Vor-
schläge stützen und verbreitern die Basis der sich vor 1933 formierenden Gemein-
schaftsideologie, einer vorwiegend affekt- und gefühlsgebundenen Gegenbewegung
gegen die rationalistischen und sozialnivellierenden Tendenzen der modernen indu-
striellen Massengesellschaft, die HELMUT PLESSNER als Spielart des sozialen Radi-

248 HANS FREYER, Ferdinand Tönnies und seine Stellung in der deutschen Soziologie,
WeltwirLt1chaftliche1:1 Arch. 44 (1936), 7 ff. ·
249 Ders., Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der

Soziologie (Leipzig 1930), 182; HERMANN SCHMALENBACH, Die soziologische Kategorie des
Bundes, Die Dioskuren 1 (1922), 35 ff.

859
Gesellschaft, Gemeinschaft VII. Ausblick

kalismus bezeichnet und noch vor ihrer Politisierung durch den Nationalsozialismus
in Jugendbewegung, Wandervogel und bei zahlreichen Anhängern der Idee „bün-
dischen Lebens" (Georgekreis, Religionsgemeinden usw.) nachgewiesen hat 250 •
Der Kult der Gemeinschaft und die mit ihm verbundene Dogmatisierung soziolo-
gischer Begriffe findet auch in der Philosophie seinen Widerhall. MAX ScHELER
identifiziert 'Gemeinschaft' mit einer Personengemeinschaft sui generis („Person
von Personen"), die sich nicht, wie „Ges"ellschaft", aus der Summe der Individuen
ableiten läßt. Scheler verschärft die Tönniessche Unterscheidung, indem er syste-
matisch und historisch von der These ausgeht, die Gesellschaft sei so wenig der
Oberbegriff zu den „Gemeinschaften", die durch Blut, Tradition, Geschichtlichkeit des
Lebens geeint sind, daß vielmehr alle „Gesellschaft" nur der Rest, der Abfall ist, der
sich bei den inneren Zersetzungsprozessen der Gemeinschaften ergibt 251 • Scheler miß-
versteht die sozietären Zusammenhänge personalistisch. Sein Sozialideal ist die
„Liebesgemeinschaft", das in abgewandelter Form auch im damaligen Existenzia-
lismus (Jaspers, Heidegger, Marcel) auftritt. „Gemeinschaft" stellt eine interper-
sonale, auf dem Ich-Du~Verhältnis aufgebaute Beziehung dar, keine einseitige
Teilhabe, sondern WP-P-hRelseitige Teilnahme („Kommunikation") der Partner, im
Gegensatz zur Gesellschaft als „Welt der Koexistenz mit den Anderen", dem von
Heidegger so genannten (und bereits mit der Benennung entsprechend abgewer-
teten) „Man". Nach dem existenzi11listisch-pcrsonalistischen Begriffsschema ist
'Gesellschaft' synonym mit 'Öffentlichkeit', die das Individuum ständig von sich
entfernt, 'Gemeinschaft' synonym mit 'personaler Verbundenheit', die es wieder zu
sich sellnit kommen läßt, die Sphäre des „Selbstseins" im Unterschied zu der des
„Andersseins".
Der politisch verhängnisvolle Einfluß der Gemeinschaftsideologie ist der weiteren
Wirkung des Theormes verständlicherweise abträglich gewesen. Soweit das Be-
griffspaar in seinem Kern eine zwar grobe, aber im ganzen „richtige" und prägnant
wirkende Unterscheidung zwischen agrarischen und industriell bestimmten Sozial-
verhältnissen, zwischen Agrar- und Industriegesellschaft trifft, ist es trotz prinzi
pieller Kritik auch von der außerdeutschen Soziologie angenommen und vielfach
variiert worden. So setzen z.B. die von Cooley ausgp,gangP-nP-n amP-rikaniRr.hP-n
Agrarsoziologen Brunner und Kolb einer „primary group organization" mit enger
807.ialhindung („face-to-face-relation") eine „secondary group organization''. mit
entsprechend abstrakten und partiellen Sozialrelationen gegenüber. Es handelt sich
hier um sprachlich standartisierte Unterscheidungen, die in der amerikanischen
Soziologie auch in anderen Zusammenhängen auftreten, so bei Howard Becker
„isolated-sacred" (geschlossen-wertbeständige), „accessible-secular · structures"
(offen-wertveränderliche Strukturen), Peter Sorokin („familism - contractualism"),
Mciver („communal-associational groupings"), Loomis und Beegle (die in ihren
agrarsoziologischen Untersuchungen 1950 das Tönniessche Begriffspaar als Fremd-

250 HELMUT PLESSNER, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus

(llonn 1924); vgl. Jel"8., Naehwort zu Ferdinand Tönnies, Kölner Zs. f. Soziologie u. Sozial-
psychologie 7 (1955), 341 ff.
251 M11.x SCHELER, Vom Umsturz der Werte. Abh. u. Aufs., Ges. Werke, Bd. 3, 1. Aufl.,

hg. v. Maria Scheler (Bern 1955), 140.

860
VII. Ausblick Gesellschaft, Gemeinschaft

wort übernommen haben: 'farnilistic Gemeinschaft' - 'contractual Gesellschaft') 252 •


Die Entwicklung beider Begriffe tendiert in der deutschen wie in der westeuropäi-
schen und amerikanischen Soziologie auf zunehmende Formalisierung und Funk-
tionalisierung. Nachdem schon Max Weber das auf „konkrete" Sozialinstitutionen
(Familie, Stamm, Dorf- und Stadtgemeinde usw.) bezogene, substanzialistisch
verstandene und überdies geschichtsideologisch gebundene Wort 'Gemeinschaft'
durch den neutraleren Terminus 'Vergemeinschaftung' (= „subjektiv gefühlte -
affektuelle oder traditionale - Zusammengehörigkeit der Beteiligten") ersetzt und
Alfred Vierkandt im Rekurs auf einen sozialpsychologisch eingeschränkten „Zu-
stand spezifischer innerer Verbundenheit", der verschiedener Abstufungen fähig
ist, „gemeinschaftsnahe" und „gemeinschaftsferne" Verhältnisse unterschieden
hatte, wird das normalbegri:ffliche Globaltheorem der „reinen Soziologie" mikro-
soziologisch durch die Gruppentheorie aufgelöst. Das geschieht in Deutschland dem
Ansatz nach bereits bei Theodor Geiger, der 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' als
formale Betrachtungsweisen der Gruppe begreift (Gemeinschaft = Innenschau;
Gesellschaft = Außenschau). In Frankreich hat GEORGES GuRVITCH dem Tön-
niesschen Begriffspaar ein einprägsames Sozialschema („Wir") an die Seite ge-
stellt, flas je nach dem Grad der partiellen Verbundenheit von Individuen in einer
Gruppe „Masse" als schwächsten, „communaute" als stärkeren und „commu-
nion" als engsten Verdichtungsgrad der Individuen zum kollektiven „Wir-Bewußt-
sein" unterscheidet. In den Vereinigten Staaten von Amerika hat TALOOTT P ARSONS
die Begriffe 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' zu Merkmalsreihen aufgelöst und
diese als strukturell-funktionales Alternativschema von Wertorientierungen („pat-
tern variables") weiterentwickelt (affectivity versus affective neutrality, particu-
larism versus universalism, ascription versus achievement, diffuseness versus
specifity,) welche die möglichen sozialen Interaktionen und Entscheidungen in
einer Gruppe erschöpfen sollen und vor allem für die Rollentheorie bedeutsam
geworden sind 253 • Trotz aller Formalisierung sind die geschichtlichen Bezüge in der
scharfen Antithek der Begriffsbildung unübersehbar. Das Alternativschema von
Parsons spiegelt auf seine Weise die relevanten Dimensionen der Änderung von
Binstellungen und VerhaltenserwarLungen beim Übergang von einer traditionalen
( = „Gemeinschaft") zur „modernen Gesellschaft'' 254 • In dieser zuletzt genannten,
von J. HABERMAS formulierten Deutung ließe sich das Begriffspaar als Schlüssel-
problem der sm:io-kulturellen Entwicklung von Mensch und Gesellschaft im indu-
striellen Zeitalter methodisch und historisch-kritisch rekonstruieren. „Traditionale"
und „moderne Gesellschaft" stehen hier einander gegenüber, womit über die Frage
geschichtlicher Determinanten und Spezifikationen des Vorgangs noch nichts aus-
gesagt ist; sie stellt sich für jede Kultur und in jeder Epoche (auch terminologisch)

252 Vgl. die Hinweise in: Gruppe, .Führung, Gesellschaft. Begriffskritik und Strukturana-

lysen am Beispiel der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands, hg. v. GERHARD WuRZ-


BACHER (München 1961), 19.
253 So formuliert JÜRGEN HABERMAS, Technik und Wissenschaft als „Ideologie" (Frankfurt

1968), 61.
254 Zur Tönnies-Kritik vgl.: GEORGES GuRVITCH, La vocation actuelle de la sociologiA (Paris

1950), 101 ff. u. TALCOTT !'ARSONS, The Structure of Social Action (1937; 2nd ed. Glencoe/
Ill. 1949), 686 ff.

861
Gesellschaft, Gemeinschaft VII. Ausblick

anders. Ein später Nachhall soziologischer Unterscheidungen findet sich in der


Gegenüberstellung von „primären" und „sekundären" Systemen, von „gewachse-
nen Ordnungen" und „gemachten" Strukturen in Hans Freyers „ Theorie des ge-
genwärtigen Zeitalters" (1957). Für den angesichts der noch immer ungeklärten
sprachlichen Grundlagen der Kultur- und Geisteswissenschaften dringlichen Aufbau
einer systematischen Terminologie der „Gegenwartswissenschaft" Soziologie und
deren Anwendung auf die Geschichtswissenschaft ist das dualistische Schema jedoch
ohne Belang. Es lebt heute lediglich als ideologisch fragwürdiger Wortbestand in
Publizistik, kulturkritischem Schrifttum und unterschwellig in jenen pseudomar-
xistischen Texten der „Neuen Linken" fort, die - oft in Termini der existenzialisti-
schen (Jaspers) oder technizistischen Kommunikationstheorie - den Gemein-
schaftskult der Periode nach uem Er!iten Weltkrieg wiederholen.

Literatur

K. DuNCKMANN, Die Bedeutung der Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft für die
Geisteswissenschaften, Kölner Vjh. f. Soziologie 5 (1925/ö), 35 ff.; THEODOR GEIGER, Art.
Gemeinschaft, Hwb. d. Soziologie, hg. v. ALFRED VIERKANDT (1931; unv. Ndr. Stuttgart,
1959), 173 ff.; ders., Art. Gesellschaft, ebd., 201 ff.; GEORGES GURVITCH, La vocation actu-
cllc de la sociologie (Paris 1950); RENE KÖNIG, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft
bei Ferdinand Tönnies, ~ölner Zs. f. Soziologie u. Sozialpsychologie 7 (1955), 12 ff.;
JOACHIM KOPPER, Die Dialektik der Gemeinschaft (Frankfurt 1960); FELIX KRÜGER (Hg.),
Philosophie der Gemeinschaft (Berlin 1929); DIETRICH v. HILDEBRAND, Metaphysik der Ge-
meinschaft, 2. Aufl. (Regensburg 1955); FRANZ W. JERUSALEM, Der Begriff Gemeinschaft
und seine Stellung im Ganzen der Soziologie, Studium Generale 3 (1950), 626 ff.; THEODOR
LITT, Individuum und.Gemeinschaft (Leipzig 1929); NIKLAS LUHMANN, Moderne System-
theorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse (1968), in: JÜRGEN HABERMAS/NIKLAS
LUHMANN, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (Frankfurt 1971);
HANS PicHLER, Zur Logik der Gemeinschaft, in: Ganzheit und Gemeinschaft, hg. v. ERNST
PLEWE/E. STURM (Wiesbaden 1967); HELMUT PLESSNER, Grenzen der Gemeinschaft. Eine
Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn 1924); TALCOTT P ARSONS, The Structure of Social
Action (New York, London 1937); MANFRlm Rrnm11„ Zur Topologie des klassisch-politi-
schen und modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs, Arch. f. Rechts- u. Sozialphilos.
51 (1965), 291 ff.; der"S., .- Ge!!ellschaft, bürgerliche, 719 ff.; FERDINAND 'T'öNNIES, Ge-
meinschaft und Gesellschaft (1887; 8. Aufl. Leipzig 1935); JosT TRIER, Arbeit und Ge-
meinscho.ft, Studium Generale 3 (1950), 603 ff.
MANFRED RIEDEL

862
Gesetz

I. Einleitung. II. 1. Antikes Begriffsverständnis. a) Der griechische Nomos. b) 'Lex' im


Römischen Recht. 2. Germanisch-fränkische Periode. 3. Altes Recht und modernes Gesetz
im Mittelalter. 4. Reichsgesetz und Reichsgesetzgebung der Neuzeit. a) Reichsgesetz-
gebungspraxis, Landfrieden. b) Die Richtigkeit des Gesetzes und die Souveränität des
Gesetzgebers: Naturrecht, Hobbes, Bodin. c) Das Gesetz als Befehl oder Vertrag in der
Reichsstaatslehre. d) Leges fundamentales, Wahlkapitulationen. 5. Reichsgesetz und
Landesgesetz; leges generales, leges particulares. 6. Einwirkungen des naturwissenschaft-
lichen Gesetzesbegriffs. 7. Liberale und demokratische Grundlegung; der revolutionäre
Gesetzesbegriff. a) Locke, Montesquieu, Rousseau. b) Die Assemblee Nationale und die
Konstitutionen der Französischen Revolution. 8. Der landständische Gesetzesbegriff des
Frühkonstitutionalismus. a) Die Bereiche landständischer Gesetzgebungsteilhabe. b) Lan-
desherrliche Verordnungen. c) Bundesgesetze. 9. Die staatswissenschaftliche Begriffsent-
wicklung bis 1850. a) Rechtssystematische Begriffsvariationen und konstitutionelle Über-
gänge. b) Staatspolitische Begriffsausformungen. III. Ausblick.

1. Einleitung
'Gesetz' mit seinen zahlreichen Äquivokationen ist ein Zentralbegriff der meisten
Sozialsysteme und aller systematischen Wissenschaften. Von dem im Sakralbereich
zu verortenden Ursprung als einer Explikation der göttlichen und Weltordnung bis
zu der Bedeutung einer falsi:fizierbaren Hypothese in den modernen Naturwissen-
schaften, deckt der Begiff ein Bedeutungsfeld ab, das sich gemeinsam nur durch
die Ordnungsfun~tion und meistens durch eine Aussage über Regelmäßigkeiten
kennzeichnen läßt1. Der deutsche Terminus 'Gesetz' meint etwa die Bestimmung
einer höheren Instanz (Gott, Obrigkeit), das Gebot selbst (Vorschrift, Norm), einen
Inbegriff von Vorschriften (Gesetzbuch, Lehre), den Absatz (einer Schrift) und sogar
'Baumgesetz' i. S. von „Baumschulen" 2 • Vergleichbare fremdsprachliche Termini
sind ebenso äquipollent. Eine Schlüsselrolle spielt der Begriff 'Gesetz' in der Rechts-
ordnung. lfüir hängt RP.iTifl RP.dP.ntnng vor allem von dem jeweiligen Verständnis des
Rechts ab, als dessen Definition, Explikation oder Teil 'Gesetz' erscheint. Die Ge-
schichte des Rechtsbegriffes 3 bildet das Umfeld des Gesetzesbegriffes, der sioh ins-
besondere in den im 13. Jahrhundert erneut einsetzenden Naturrechtsdiskussionen
grundlegend für das moderne Verständnis abklärt. Die Wurzeln des zu keiner Zeit
eindeutigen Gesetzesbegriffs reichen jedoch bis' in die Vorantike.

1 Zu den Gesetzesbegriffen moderner Natur' und Sozialwissenschaften vgl. WOLFGANG

STEGMÜLLER, FRANZ-GEORG MAIER, SIMON ,MOSER, ERNST TOPITSCH, MARTIN DRATH,


Studium Generale 11 (1966), 649 ff.
2 GRIMM Bd. 4/1,2 (1897), 4070 ff.

3 Dazu ERNST-WOLFGANG BöcKENFÖRDE, Der Rechtsbegriff in seiner geschichtlichen

Entwicklung, Arch. f. Begriffsgesch. 12 (1968), 145 ff.

863
Gesetz II. 1. Antikes Begriffsverständnis

II.

1. Antik.es Begrift'sverständnis

a) Der griechische Nomos. Die meisten Hochkulturen kennen für Phasen der Kon-
solidation historische oder mythische Gesetzgeber (Hammurabi, Moses). Nachweis-
baren Einfluß auf europäische Begriffsentwicklungen hat jedoch erst der im früh-
griechischen Kult- und Rechtsdenken wurzelnde Begriff des Nomos erlangt. Aus
der ursprünglich theonomen Bedeutung einer Ethos, Recht, Sitte und Satzung um-
greifenden Gesamtordnung der Polis schichtet sich mit den Sophisten im 5. Jahr-
hundert v. Chr. in einem Säkularisierungsprozeß das zeitbedingt positiv gestaltbare
Gesetz von den ewigen Ordnungsprinzipien ab 4 ; Gesetz und Sitte werden aus den
Interessen der beteiligten sozialen Gruppen abgeschätzt und am ewigen Naturgesetz
gemessen (Nomos - Physis). Aus dieser Skepsis heraus gegenüber den Gesetzes-
manipulationen der Politiker entwickelt PLATON im „Politikos" und in der „Poli-
teia" den Entwurf eines idealen Staates, dessen Geschicke ein Staatsmann in
Kenntnis der ewigen Ideen durch Erziehung zum Guten und Gerechten 5 statt durch
unvollkommene und abstrakte 6 Gesetze leitet. Kann es hier nur ausnahmsweise
Erziehungsgesetze geben, so gewinnen angeordnete oder vereinbarte Gesetze in den
realistischeren „Nomoi" Vermittlungsfunktion .r.wisch1m d1im Guten und dem Be-
wußtseinsstand der Polisbewohner; Staatsordnung und Ethikwerden verbunden.
Das politische Gesetz, obwohl von absolutem Geltungsanspruch, soll die Bürger
mit Hilfe seiner Priiambcl über den Gcsctzestelos zu freiwilligem Gehorsam über-
zeugen, nicht zwingen 7 • Vielschichtig meint Platons Nomosbegri:ff hiermit sowohl
einen verbindlichen, abstrakten Satz, einen zwischen göttlicher Fügung und dem
einzelnen vermittelnden, herrscherlich gesetzten oder gemeinschaftlich gefaßten Be-
schluß wie schließlich die vermittelte Vernunft selbst8 . ARISTOTELES hingegen ver-
ortet das Gerechte konkreter in der Ordnung der realen. Polis, indem er für Typen
von Polisverfassungen die Staatszwecke herausarbeitet und zum jeweiligen Telos
der Gesetzgebung erklärt. Damit ist die Verbindung zwischen Brauch, Herkommen
und Gesetz, zwischen Moralität und Legalität wieder hergestellt. Über das positive
Gesetz hinaus bedeutet 'Nomos' die durch das vorgegebene Ethos der Polis be-
stimmte Ordnung, in der durch rechten Brauch das allgemeine Naturgesetz ver-
. wirklicht wird9 • Das derart programmierte politische Gesetz gewährleistet die Herr-
schaft der Vernunft anstelle der von Menschen10 .

4 TRASYMACHos, Fragm. 6a; ANTIPHON, Fragm. 44; KRITIAS, Fragm. 25, abgedr. in:

Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. HERMANN DIELS u. (ab der 5. Aufl.) WALTHER
KRAN?., 12. Aufl., Bd. 2 (Dublin, Zürich 1966), 325. 346 ff. 386 f.
5 PLATON, Politikos 294 a-c.
6 Ders., Politeia 479e; EMMANUEL MrcHELAKIS, Platons Lehre von der Anwendung des

Gesetzes und der Begriff der Billigkeit bei Aristoteles (München 1953), 6 f.
7 PLATON, Nomoi 720a. 722c ff. 885e.
8 SIMON MOSER, Platons Begriff des Gesetzes, Österr. Zs. f. öffentliches Recht, NF 4 (1952),

137 ff.
9 ARISTOTET.F.S, R.hetorica 1373b 4 ff.; näher JOACHIM RITTER, 'Politik' und 'Ethik' in der

prakfümhen Philosophie des Aristoteles, Philos. Jb. 74 (1966/67), 246 ff.


lO ARISTOTELES, Politik 1282 b. 1287 a, b.

864
b) 'Lex' im Römischen Recht Gesetz

Idealiter und unhistorisch werden Nomos und Physis wieder von der Btoa vereinigt,
für die der Nomos zur Weltvernunft selbst wird, zur „lex aeterna et perpetua",
die sich in der Natur und näherhin im Wesen des Menschen als „lex natura" und
„lex humana" fortsetzt 11 • Diese Dreistufigkeit wird, durch CICERO vermittelt, das
Begriffsgerüst für das weitere Naturrecht bis ins 18. Jahrhundert. Mit der Identifi-
kation des stoischen Nomos- und des rechtsformalenlex-Begriffs definiert Cicero
maßgebend: Lex est ratio summa, insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt
prohibetque contraria 12 • Daß lex nur die recta ratio13, ein ungerechtes Gesetz also
kein Gesetz ist, das ist Cicero wohl wegen der als „natürlich" anerkannten Geltung
der römischen mores maiorum selbstverständlich. Sobald allerdings in Umbruchs-
zeiten, wie Cicero sie erlebt, eine derartige materiale Homogenität zerbricht, sind
die Gesetz'e gegenüber dissentierenden sozialen Uruppen auf Befehl und Zwang an-
gewiesen. In der frühen Reichstagsliteratur, die sich gern auf Cicero hernft, wird
diese Problematik angesichts der politischen und religiösen Differenzen zwischen
Kaiser und Landesherrn evident.

b) 'Lex' im Römischen Re.cht. Der römische Begriff der lex ist schon im 5. Jahr-
hundert von dem im Sittlichen verankerten Brauch abgehoben14 und als Rechts-
begriff formalisiert. Wie 'Nomos' im Sakralen verwurzelt, bezeichnet 'lex' ur-
sprünglich eine rituelle Satzung im (Rechts-)Verkehr mit der Gottheit durch fcicr-
iiche Wortformeln (legum dictio) 15 • Daraus setzen sich die Bedeutungen von Rechts-
findung und schließlich von Rechtsetzung durch das Volk als Rechtsgemeinschaft
heraus. Sie meinen an sich die rechtsfindende und konkretisierende Einzelfall-
entscheidung, die 'lex' noch in justinianischer Zeit bedeuten kann 16 ; aber mit zu-
nehmender Abstraktion unter dem Einfluß griechischen Rechtsdenkens wird lex
zur allgemeinen Regel für zukünftige Fälle. Zur Zeit des Augustus findet sich lex
bereits als generale iussum den privilegia gegenübergestellt, die nicht generalia
iussa neque de universis civibus, sed de singulis concepta17 sind.
Der Entstehungsart nach unterscheidet das republikanische Staatsrecht die lex
rogata, d. h. das vom populus in den Komitien auf Frage des Magistrats beschlossene
Komitialgesetz, und die einseitig vom populus oder einem Amtsträger erlassene
lex data. Das formal, wenn auch nicht immer machtpolitisch zweiseitige Verfahren
der lex rogata hat wiederholt zu zweifelhaften reehfa!kom!truküven Vereinbarungs-
theorien angeregt 18 , die dem römischen Rechtsdenken aber fremd sein dürften.

11 HANS WELZEL, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Göttingen 1962), 38 ff.


12 ÜICERO, Leg. 1, 18.
13 Ebd. 2, 10 f.

14 MAX KARER, Mores maiorum und Gewohnheitsrecht, Zs. f. Rechtsgesch., romanist.

Abt. 59 (1939), 52 ff.


10 H.EINRIUli SrnER, Die ältesten römischen Volksversammlungen, Zti. f. Rechtsgesch.,

romanist. Abt. 57 (Hl37), 235.


1& (°)01'1Ax .T1rntinianm1 1, 14, 12, Prooemium.
17 ATEIUS CAPITO, zit. GELLIUS, Noctes Atticae 10, 20, 2.
18 THEODOR MoMMSEN, Römisches Staatsrecht, 3. Aufl., Bd. 3/1 (1887/8; Ndr. Basel,

Stuttgart 1963), 309. Seine Vereinbarungstheorie könnte mit der seinerzeit von Binding
und Triepel für die EnLtiLehung uei· ueuLschen Bundesverfassung 1871 vertretenen Ver-
einbarungslehre zusammenhängen.

55-90386/1 865
Gesetz II. 1. Antike& BesWfsverstiindnis

Aufschlußreicher ist die Bedeutung der „Bindung zwischen Rechtssubjekten", in die


sich auch <ler Regriff ner lax contractus einordnen läßt, obwohl hier eher eine Be-
zugnahme auf amtliche, prozeßsichernde Vertragsklauseln (lex dicta) durch Private
gemeint ist. Neben den Komitialgesetzen des populus erheben seit 471 v. Chr. die
Beschlüsse der plebs als einer sozialen Teilklasse Anspruch auf Geltung und erhalten
seit 286 v. Chr. als Ergebnis einer plebeiischen Revolution Verbindlichkeit für alle
Bürger (lex plebive scita). Der amtlichen Sprache und den Schriftstellern um die
Zeitwende ist der Unterschied zwischen lex und plebiscitum nicht mehr wesentlich.
Mit Tiberius erlischt die Volksgesetzgebung überhaupt, so daß die das Mittelalter
anregenden Definitionsunterschiede des Gaius einen historischen Rechtszustand re-
kapitulieren: Lex est, quod populus Romanus senatorio magistratu interrogante
(•vel-ul'i cori:~·ule) constituebat. Plebescitum est, quod plebs plebeio magistratu interro-
gante (veluti tribuno) constituebat. Plebs autem a populo eo differt q11,o .~pP.r.Ü'..~ n. ge.ne.re.
... sed P.t plemscita lege Hortensia lata non minus valere quam leges coeperunt 19•
·Der volksrechtliche Begriff der lex bleibt aber bis in die Kaiserzeit maßgebend
und wird von den späteren gesetzeskräftigen Akten nur zögernd usurpiert. Mit
Ausgang der Republik neben, seit Tiberius endgültig anstelle der leges werden
zunächst die senatus consulta, die ursprünglich afa Auftrii.gp, 7.U magistratischen
Edikten nur mittelbar eine Quelle von Amtsrecht sind, zur eigeuLlichen Recht-
setzungsform mit Gesetzeskraft. Seit dem: 2. Jahrhundert verblassen sie jedoch zu
Zustimmungs-, dann zu Akklamationsakten für orationes der Kaiser. Seit dem
Prinzipat verdrängen amtsrechtliche Anordnungen die Rechtsetzungsformen der
Republik. Aber wenn Gaius seinen Definitionen von lex usw. hinzufügt: Sed et quod
principi placuit, legis habet vigorem 20, dann adaptiert er nicht einfach den alten lex-
Begri:ff, sondern erklärt seine Terminologie mit der Übertragung der Rechtsetzungs-
gewalt vom populus auf den princeps aufgrund der sagenhaften lex regia, die auch
der mittelalterlichen Kaisergesetzgebung als Argumentationsstütze dienen wird.
Die spätrömische Kaisergesetzgebung beläßt es bei dem bisherigen Begriffsstand.
Die verschiedenartigen Amtsakte der Kaiser, die aus den bisher einzelnen Amts-
gewalten jetzt beim Kaiser kompetenziell zusammenlaufen, tragen ihre Bezeich-
nungen wie 'orationes', 'epistulae', 'edicta', 'mandata', 'decreta', 'rescripta' und
'adnotationes' als rechtsunerhebliche Kanzleibedeutungen weiter 21 • JnRßARamt wer-
den sie als 'constitutiones' bezeichnet und haben die verbindliche Kraft von Ge-
setzen: pro lege .~er?JP11tr 22 • Erst der Absolutismus des Dominats seit dem 3. Jahr-
hundert geht von der vollen Gesetzgebungsgewalt aus, deren Qualität durch die
212 n. Chr. erfolgte Globaleinbürgerung der gesamten Reichsbevölkerung ent-
scheidend verändert wird. Seit Constantin herrschen statt der bisherigen Einzelfall-
reskripte die „allgemeinen" Kaisergesetze vor als Befehle des absoluten Herrschers.
Die Reskripte gewinnen als constitutiones personales den Charakter von Privilegien 23
und werden von den leges generales unterschieden. Leges generales sind zweifanh

19 Institutiones Justiniani 1, 2, 4.
~0 Ebd. 1, 2, 6.
21 G.AIUs, ebd. 1, 2, 6; ULPIAN, Dig. 1, 4, 1, 1. Ausführlich LEOPOLD WENGER, Die Quellen

des römischen Rechts (Wien 1953), 407 ff. 124 ff.


22 POMPONIUS, Dig. 1, 2, 2, 11 f.
23 FRANZ WIEAOKER, Recht und Gesellschaft in der Spätantike (Stuttgart 1964), 54 ff. 58.

866
II. 2. Germauiach·friinkiiche PeriooP. Gesetz

gekennzeichnet: sie sind als .H.egel für zukünftige Fälle personen- und fallabstrakt
und gelten - im Prinzip -in einem oder beiden Reichsteilen insgesamt 24 • Justinian
faßt die bisherige Entwicklung in der wegweisenden Formulierung zusammen, daß
(allein) der Kaiser das Reeht habe „leges condere" 25, und führt folgerichtig den von
griechischen Rechtsvorstellungen beeinflußten Satz ein, daß· jüngere Gesetze den
älteren vorgingen 26 • Im Zuge der vor Justinian beginnenden Rechtsvereinfachung
findet eine grundlegende Begriffsumschichtung zwischen 'ius' und 'leges' statt, auf
der auch die Zweiteilung des Corpus Iuris in Digesten und Codex beruht. Zu 'ius'
zählt man mit allen älteren Rechtsquellen auch die volksrechtlichen leges, wie sie
in der Responseliliteratur der Juristen überliefert sind, zu den 'leges' die Kaiser-
konstitutionen 27.

2. Germanisch-fränkische Periode

Der Terminus 'lex' behält mit Latein als Amtssprache seine Schlüsselstellung auch
in den sich seit dem 5. Jahrhundert konsolidierenden Germanenreichen. Erstmals
von den Westgoten wird t:1eit dem 6. Jahrhundert berichtet: Gothi legum instituta
scriptis habere coeperunt, nam antea tantum moribus et cons'uetud,ine tenebantur~ 8 , und
damit 'lcx' alG Gogono11tz zu Gewohnheiten mit geschriebenem-:- und zwar vom
König kodifizierten - Recht gleichgesetzt. In christlicher Einfärbung bedeutet
'lex' schon seit dem 3, .Jahrhundert „Altes Testament", „Heilige Schrift", sowie
abgeleitet, den durch sie bestimmten Glauben 29 • Als Oberbegriff zu 'mos' und 'lex'
avanciert gleichzeitig 'ius', das einst in der Ableitung von 'iubere' zum Bedeutungs-
feld von 'lex' gehörte, jetzt aber stoisch-naturrechtlich mit 'justum' assoziiert wird
und zur Annäherung von 'lex' und 'iustitia' führt 30 ; 'lex' ist dann das gesammelte
und aufgeschriebene, 'mos' das tradierte ungeschriebene Recht 31 • Die instanziell-

24 Codex Justinianus 1, 14, 3 (426 n. Chr. von den Mitkaisern Theodosius und Valen-

tinian).
25 F.hd. 1, 14, 12, 5.
28 . Einführende Konstitution des 1. Codex Haec § 2 u. Summa§ 3; Dig. 1, 4, 4 (Modestinus).
27 WrnAOKJllit, Spätantike, 46 f. Zw· Komplementär- u. Konträrfunktion der lex zum ius

(civile) in der Republik vgl. MAx KAsER, Lex und ius civile, in: Deutsche Landesreferate
zum 7. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Uppsala 1966 (Berlin,
Tübingen 1967), 3 ff.
28 IsIDOR HlsPALENSIS (620), zit. RUDOLF BucHNER, Die Rechtsquellen. Beih. zu

WATTENBACH/LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Vorzeit und


Karolinger (Weimar 1953), 7, Anm. 16 f.
29 JAN FREDERIK NIERMEYER, Mediae Latinitatis lexicon minus, Fasciculus 7 (Lflidfln
1959), 601 ff.; ALEXANDER SoUTER, A Glossary of Later Latin to 600 A. D., 2nd ed.
(Oxford 1957), 230.
30 Dazu ROLF SPRANDEL, Über das Problem neuen Rechts im früheren Mittelalter,

Zs. f. Rechtsgesch., kanonist. Abt. 79 (1962), 124 ff.


3l Libellus der verbis legalibus 1, zit. ROBERT w ARRAND u. ALEXANDER JAMES CARLYLE,
A History of Mediaeval Political Theory in the West, vol. 2 (Edinburgh, London 1903),
51, Anm. 2; ebenso das ISIDOR HISPALENSIS zitierende. c. 139 der Usatici von Barcelona
(1068), zit. ADOLF HELFFERICH, Entstehung und Geschichte des Westgothen-Rechta
(Berlin 1858), Anhang, 460.

867
II, 2, Gcrmllllisch·fi·ii.ulWche Periode

prozessual ausgezeichnete römische H,echtsetzung.hleibt hingegen dem germanischen


Rechtsdenken fremd. Nach ihm gilt das gcncrationenweise tradierte Recht, weil es
alt und deshalb gut, prinzipiell dauernd und unabänderlich 32 ist, was sich etymolo-
gisch in der westgermanischen Bezeichnung 'ewa' zeigt 33• Das Urteilsverfahren der
Rechtsfindung durch rechtskundige Thinggenossen schließt bewußte Rechts-
schöpfungen aus, so daß zeitgemäße Rechtsanpassungen nur als Wiederherstellung
des schon immer geltenden, d. h. als Rechtsbesserung („legem emendare") erfolgen
können. In diesem Kontext ist 'lex' aber nicht irgendein abstraktes, sondern ein
bestimmtes - und zwar zunehmend das schriftlich fixierte - Stammesrecht, wie
das Wort übrigens schon in klassischer Zeit auch die Eigenrechte der mit Rom
föderierten Völker meinen konnte 34. Indem dieses Recht nach dem Personalitäts-
}Jtim.ip nu1· für Stammesangehörige gilt, konkretisiert sich die Bedeutung von 'lex'
zuweilen auch zu individuellem Rechtsstatm~. im Verlet,r.1mgRfall zu Wergeld, im
Rechtsgang zu Rechtsweisung und Urteilsspruch35,
Die Bedeutung von Stammesrecht behält 'lex' in der fränkischen Zeit und bleibt
damit streng von den königlichen Kapitula.rien unterschieden. Die sogenannten
„capitula legibus addita" sind nämlich solche, die den stammesrechtlichen leges
einzelner oder aller im Frankenreich zusammengefaßten Stämme hinzugefügt wer-
den, um oo an deren durch die AltersqualiLäL beiliugLen AnHehen und Geltungs-
kraft teilzunehmen und die mit der Amtszeit umgrenzte Geltungsbeschränkung
königlicher Anordnungen zu umgehen: non •ult&ri·us <Japitula, sed ... lex dicantur,
immo pro lege teneantur 36 • Die nach der römischen Amtssprache 'decretio', 'edictum',
'constitutio' u.ä. genannten Erlasse der merowingischen Könige halten sich noch
von den Stammesrechten fern; aber besonders seit Karl dem Großen wirken diese
jetzt 'capitulare' heißenden Erlasse 37 ergänzend, wenn auch nie ausdrücklich auf-
hebend auf die tradierte Rechtsmasse ein. Neben die Vorstellung einer reformieren-
den Rechtsbesserung schiebt sich damit die Auffassung königlicher Rechtsetzung.
Bereits die schriftlichen Stammesrechtssammlungen sind freilich von den Königen
initiiert, redigiert und meistens auch novelliert worden, so daß schon die Leges
Visigothorum feststellen können: leges valeant quas aut ex antiquitate iuste tenemus,
aut ·idern yen·itor noster ... visus est ... condedisse 38 • Im Zuge von Zentralisations-
bestrebungen beanspruchen sie bald ausschließliohe Autorität gegenüber den ein-
zelnen Gewohnheitsrechten und richterlichen Rechts:findungen 39 • Zusammen mit
der germanischen Auffassung von Königsgebot (verbum regis) und -bann stützen

32 FRITZ KERN, Recht und Verfassung im Mittelalter (Ausg. Darmstadt 1965).


33 Die Ableitung v. lat. 'aequum' = „billig" od. 'aevum' = „ewig" ist strittig.
34 MoMMSEN, Staatsrecht, Bd. 3/1, 692 f.
36 Du CANGE t. 5 {1883-87; Ndr. 1954), 78; Decretum COJllpendiense (Pippin 757),

c. 8, MG LL Capit„ Bd. 1 (1883), Nr. 15, S. 38.


36 Capitula de functionibus publicis (ca. 820), c. 5, MG LL Capit„ Bd. l, Nr. 143, S. 295.

37 FRAN90Is GANSHOF, Was waren die Capitularien? (1955; Ndr. Darmstadt 1961), 13 ff.

as Lex Visigothorum Reccessvindiana 2, 1, 3, ed. KARL ZEUMER (Hannover, Leipzig


1894), 37.
39 Vgl. BUCHNER, Rechtsquellen, 14; zu REKKESWINDIS „Liber iudiciorum" v. 654 vgl.

ebd„ 7, Anm. 18; capitulare missorum gcnerale (802), c. 26, MG LL Capit„ Bu. 1, Nr. 33,
S. 96; capitulare (Pippin ca. 790), c. 10, MG LL Capit„ Bd. 1, Nr. 95, S ..201.

868
II. 2. Germanisch-&änkische Periode Gesetz

die aus Byzanz importierten Imperatorvorstellungen, die sich in Insertionsformu-


lierungen wie 'iussio', 'constituere' u. ä. niederschlagen, die effektive Machtposition,
die ein Karl der Große erringen kann. Sie prägen seine bereits rationale Gesetz-
gebung und deren Verhältnis zu den leges 40.
Gleichzeitig wird aber gerade für die die leges ergänzenden - noviter addita -
Kapitularien, auch Karls d.es Großen, der consensus universalis, populi oder om-
nium41, mehrfach daneben oder repräsentativ für den populus, der Großen des
Reichs 42 , hervorgehoben und deren Beurkundung und Beeidung vermerkt. Ob dieser
consensus geltungskonstitutiv oder geltungskonfirmativ, obligatorisch oder frei ist 43,
ergibt sich nicht aus einem dogmatischen Schema, sondern aus mehreren Begrün-
dungszusammenhängen. Zum einen bleibt trotz .römisch-rechtlicher Formeln die
H11nhtRfinrlnng nar,h Urt11il h11wnßt. Zum anrl11rnn könn11n rli11 N1111Rtatni11r1mg11n der
Kaiser, da die leges außerhalb ihrer Verfügungsgewalt stehen, nicht wie jene aus
sich heraus, sondern erst aufgrund einer Anerkennung als quasi-lex und der - frei-
willigen oder erzwungenen, jedenfalls häufig angemahnten - Folgezusage Geltung
und Beachtung durch Partikularmächte und Nachkommende erwarten. Endlich
erweisen die Einungsbeteuerungen besonders in Zeiten schwacher und die impera-
Lurümheu GeuuLtifurmelu zu ZeiLeu i:;Larker Herfl:!cher, wie i:;ie eiuern:Üts das An-
steigen des Domänenbesitzes der Krone bis Karl den Großen, andererseits den
Fcudalisicrungs-- und Dczcntralisicrungsprozcß seit J,nrlwig <lern Heiligen begleiten,
daß die Instanzen einer bewußten, rationalisierten Rechtssetzung mit den Trägern
politischer Macht konvergieren. Solange etwa die deutschen Kaiser in Italien als
Eroberer auftreten können, fehlen den Italicnkapitularicn die Zustimmungs-
formeln44, werden aber seit 832 mit steigender Macht der dortigen Großen, insbe-
sondere der Städte, wieder erforderlich 45 . Die Unterscheidung von Wirksamkeits-
sicherstellung und Gültigkeitserfordernis erscheint in dieser Situation akademisch;
vielmehr hat man es mit einer Form der vereinbarten Satzung im Bereich, nicht
außerhalb des Rechts zu tun, einer Form, die Karl II. 864 in einem Zustand politi-
schen Patts zwischen König und Adel klassisch definiert: et quoniam lex consensu
populi et constitutione regis fit 46 • Aus dem Stammesrecht wird hier lex zu einer
g11miwht11n Renhtsreg11l; ein amhaisnh-trarlition11.lf\r ]ex-Begriff wird rationalisiert.
Mit dem Zerfall der fränkischen Zentralverwaltung weicht jedoch dieser Ansatz
für einige Jahrhunderte wieder dem zu .Partikularismus tendierenden Traditions-
recht.

40 Vgl. capitulare Jegibus additum (803), Prooemium; capitulare missorum (803), c. 19,

MG LL Capit., Bd. 1, Nr. 40, S. 116.


41 Ebd.
42 Capitulare Saxonicum (797), Prooemium, MG LL Capit., Bd. 1, Nr. 27, S. 71.
43 GANSHOF, Capitularien, 52 f. gegen CARLYLE, History, 238; vgl. ferner HELMUT

QuARITSCH, Staat und Souveränität, Bd. 1 (Frankfurt 1970), 109 ff.


44 MG LL Capit., Bd. 1, Nr. 88. 92 ff., S. 187 ff.
45 Capitulare Papiense (856), prephatio 1, MG LL Capit., Bd. 2 (1897), Nr. 215, S. 90.
46 Edictum Pistense, c. 6, MG LL Capit., Bd. 2, Nr. 273, S. 313.

869
Gesetz II. 3. Altes Recht und modernes Gesetz im Mittelalter

3. Altes Recht und modernes Gesetz im Mittelalter

In der Geschichte der Gesetzgebung sind die Zeitwenden um 800 und 12UU Ver-
dichtungszonen zentraler Herrschaft, die eine „moderne" 47 Auffassung yon 'Gesetz'
begünstigen. Der Aufschwung der Agrarwirtschaft und des Handels im 12. Jahr-
hundert bewirkt eine gesellschaftliche Stabilisierung, die sich in einer Stärkung des
Adels und der Städte sowie in einer Abschichtung der Stadtgesellschaft in Patrizier,
Zünfte, Arme äußert und einen Siegeszug der gemeinschaftskonsolidierenden lex
scripta zur Folge hat. Auf dem Gebiet des Rechts führt die allgemeine Rationalisie-
rung zu einer zuvor unbekannten „Juristifizierung" 48 , die in der Kirche beginnt
und sich seit den Assisen von Ariano (1140) in zahlreichen staatlichen Grund-
gesetzen verfestigt, wie den englischen Konstitutionen von Clarendon (1164), der
Magna Charta (1215), der ungarischen Goldenen Bulle (1222) und den Konstitutio-
nen von Melfi (1231).
Unterhalb der immer nur punktuellen Reichs- und Territorialgesetzgebung wird
das Rechtsleben in Deutschland jedoch nicht nur in der sog. „autoritätslosen" Zeit
des 9./10. Jahrhunderts, sondern im gesamten Mittelalter durch die Vorstellung
vom gute.n, alten Recht beherracht, dail treffend als „tTherzeuA'Uilgerooht"49 oh11
rakterisiert ist. Die mittelalterlichen Quellen des 10. bis 15. Jahrhunderts meinen
mit 'lex' meistens diesen seinerseits fact1LLt1w:efohen Rechtsbegriff. In den Urkunden
Ottos I. und III. 50 etwa bezeichnet 'lex' die früheren Stammesrechte sowie das in-
zwischen als alt empfundene Römische Recht, kurz: consuetudines antiquitus
traditae et jus non scriptum61 • Dieses Recht konkretisiert sich zum individuell-
personalen Rechtsstatus, wenn im Königsgericht Heinrichs II. gebeten wird: facite
nobis legem et iusticiam 52 , und des Königs legem facere eine Rechtszuweisung im
Urteilsspruch oder Privil~gienbrief ist, oder wenn 1130 jura 'et leges durch ein
privilegio 58, und zwar inklusive der (Dienst- und Abgabe-)Pflichten 54, erteilt werden.
Aus dem Blickwinkel ihrer Durchsetzung erscheint 'lex' sodann bis ins 15. Jahr-
hundert als Rechtsgang und C'..ericht5 5.

47 WALTER FREUND, Modemus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters (Köln, Graz 1957),

111 ff.; ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Miitdalwr,
2. Aufl. (Bern 1954), 256 ff. 261.
48 PETER RASsow, Honor Imperii (Darmstadt 1961), 91 f.
49 KARL GOTTFRIED HuGELMANN, Das deutsche Recht, ·in: Das Mittelalter in Einzel-

darstellungen, hg. v. ÜTTO BRUNNER (Leipzig, Wien 1930), 217.


60 HERMANN KRAUSE, Kaiserrecht und Rezeption (Heidelberg 1952), 26 ff. 45.

51 Reichslandfriede (1235), Prooemium, zit. KARL ZEUMER, Quellensammlung zur Ge-

schichte rler rlent.schen Heichsverfässung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. (Tübingen


1913), Nr. 58 B, S. 73.
6 D Urkunde Heinrichs II. (1022), MG DD reg. et imp. Germ., Bd. 3 (1900-1903), Nr. 467,

8. 594.
53 Urkunde Lothara ITT., ehd., 2. Anfl., Rrl. 8 (Hlfi7), Nr, ?.3, S. 34.
54 NIERMEYER, Lexicon, Fasciculus 7, 601 ff.
55 KRAUSE, Kaiserrecht, 27 f. 106 f. Im englischen hoch.mittelalterlichen Recht hat 'lex'

bzw. 'lei' auch rlie Berlentnng von „Eid", „Ordal" 1wd ähnlich im technischen Sinne von
„Bewei1:1zeichen"; vgl. FREDERllJK PoLLOOK u. FREDERIC Wn.LIA:M MArrLAND, The History
of English Law before the Time of Edward I, 2nd ed., vol. 1 (Cambridge 1952), 175.

870
II. 3. Altes Recht und modernes Gesetz Im Mittelalter Gesetz

Im ohri1Jtfü:1hrm RAwnßtRAin ilAr Zeit identifiziert sich dieses ewige Recht mit der
göttlichen Ordnung und der Heiligen Schrift. Für EICKE VON REPGOW ist Got ...
selbe rechtL 6 • Noch Ausgang des .Mittelalters berufe11 1:1ich die Bauern allein auf das
göttliche Recht gegenüber ihren Grundherren. Andererseits fordern sie ein schriftlich
:fixiertes Recht, seitdem durch das Verblassen eines gemeinsamen Rechtsbewußt-
seins die - jetzt - „dunklen" Gewohnheiten Rechtsperversionen der Grundherrn
Vorschub leisten, während diese ihrerseits gegen eine rationale Reichsgesetzgebung
agitieren.
Neben dem hergebrachten „Recht" entwickelt sich seit dem 11./12. Jahrhundert in
den städtischen Gemeinschaften, wie Ebel 57 aufgezeigt hat, 'aus den Selbstverwill-
kürungen als bedingten Selbsturteilen einzelner die Gesamtverwillkürung aller Mit-
glieder einer Gemeinschaft von Bürgern, Kaufleuten usw. Im 13./14. Jahrhundert
heißen diese Willkiiren 'constitutio', 'statutum', 'köhre', 'eillung' o. ä., während
'lex' in Ausdrücken wie 'lex loci', 'le:x: villa.e' als Gruppenbegriff für da1:1 (gewuhllheiL1:1-
rechtliche) Stadtrecht erscheint58• Anders als das Recht beruht die Verbindlichkeit
der Willkür, die den mittelalterlichen Begriff der Satzung ausmacht, auf der Selbst-
bindung der Beteiligten und wirkt deshalb nur unter ihnen: non secundum legem,
sed secundum voluntatenili9 • Erst mit der Kompctonzkonzontration beim repräsenta-
tiven Rat der Stadt und dem Obsoletwerden der Zustimmung bzw. Anwesenheit
der Bürgergemeinde wird die Willkürsatzung zum Gebotsrenht het.eronomer Rats-
satzungen, deren Inhalt und Autorität jedoch meistens auf dem Traditionsrecht
beruhen60 • Indem so Einung und Gebot sowie die Willkür mit den nach „Recht"
urteilenden stadtherrlichen Gerichten fusionieren und Stadtrechtssammlungen
Willkür- und (Land-)Recht vereinigen, verschwindet der Gegensatz von Recht
und Satzung wie in dem Spruch: Ez ist auch gesetzet zu ainem ewigen rehten 61 •
Auf Territorialebene formt sich die Rechtssicherung und -vereinheitlichung in
„pactweisen" Satzungen zwischen Land und Landesherrn. 1231 weist ein Reichs-
weistum die Landesherrn bei der Aufstellung von Satzungen und nova iura auf den
notwendigen consensus meliorum et inaiorum terrae 62 hin. 1220 erläßt jedoch Fried-
rich II. nach dem Vorbild der spätantiken Digesten 1, 4 und des Codex Justinianis 1,
14 und im Anschluß an seine sizilianischen und kaiserlichen Vorgänger Roger II.

56 Sachsenspiegel, Prolog, MG FonLes iuds, Bd. 1 (1933), 13.


57 WILHELM EBEL, Die Willkür (Göttingen 1953), 46 ff.; ders., Der Bürgereid (Weimar
1958), 85 ff.
5s EBEL, Willkür, 50 f.; Du CANGE t. 5, 77.
s9 ALPERTS VON METZ (ca. 1020) über die Kaufleute von Tiel, zit. EBEL, Willkür, 52,
Anm.173a.
60 So z.B. für Frankfurt ARMIN WoLF, Gesetzgebung und Stadtverfassung (Frankfurt

1968), 7. 35.
61 Die Niirnh11rg11r Polizeiordnungen, hg. v. JosEPHBAADER (1861; Ndr. Amsterdam 1966),

Nr. 14, S. 17; ferner aus dem 13./14. Jahrhundert ebd., Nr. 18, S. 19: Reduktion der recht-
setzenden Bürgerschaft auf den Rat; ebd., Nr. 23, S. 23: Gebotsrecht der Stadtrepräsen-
tanten; aus dem 15. Jahrhundert ebd., Nr. 6, 8. 29. fi2; für ~·rankfürt s. WOLF, Gesetz-
gebung, 26 f.
62 Urkunden zur Geschichte der Territorialverfassung, hg. v. ·PAUL SANDER u. HANS

SPANGENBERG (1922-26; Ndr. Aalen 1965), H. 3, Nr. 130, 8. l; ebenso§ 43 des Land-
friedens v. 1287, abgedr. bei ZEUMER, Quellensammlung, Nr. 108, S. 141.

871
Gesetz Il. S. Altes Recht und modernes Gesetz im Mittelalter

11nrl FriP.dcir..h I. selbstherrlich Vorschriften (legßs} aufgrund einer imperatorischeu


Gesetzgebungsgewalt mit Geltung per totum nostrum imperium und setzt sie von
statuta et consuet·ui1'ines der Partikularobrigkeiten ab 68• Dieser neue herrscherliche
Gesetzgebungsanspruch, die Kompetenz pro temporis necessitate novas leges con-
dere64, wird im 11. Jahrhundert im Umkreis des Papstes aus der Dispensationslehre
und der Lehre Gratians von der Widerruflichkeit der Privilegien entwickelt. ·Be-
sonders seit Innozenz IV. (1245) und Hostiensis wird in der Kanonistik 'lex' scharf
von 'sententia' bzw. 'praeceptum' (i. S. von Urteil, Spruch) abgegrenzt: es zeichnet
sich durch seine Zukunftsgeltung, die Dauergeltung und die personale Allgemeinheit
aus, die im Übergang zur Neuzeit auch territorial präzisiert und definiert wird 6 5.
Mit dieser ausgefeilten Theorie ist nicht nur für die kirchlichen Juristen der Grund-
stock für eine rational gesteuerte Gesetzgebung gelegt 66 ; auch der weltlinhP. Herr-
scher wird vom „uustos legum" zum „conditor legum". Leges und privilegia, die
seiL dem 11. Jahrhundert etymologisch als leges privatorum, erklii.rt 6 '1 lmd rechtlich
als einzel- und gruppenspezifische Sonderfälle der leges behandelt werden, treten
erst in einen Gegensatz zueinander, seitdem 'lex' vornehmlich als „lex generalis"
verstll.nden und seitdem die lex-posterior-Regel angewendet wird; seither beruft
man sich auffällig oft auf dao „alte" (Privilegien·)Uecht gegenüLei· dem „neuen"
Gesetz und betont, etwa seit dem 15. Jahrhundert, den gesetzfesten Vertrags-
charakter der Privilegien 68 . An der Rationalität und Positivität der neuen Gesetz-
gebung ändert prinzipiell auch nichts, daß die Gesetze sich meistens auf anerkanntes,
politisch durchsetzbares Recht beschränken und Überzeugungstaktiken einschlagen,
wo zuvor Überzeugungsrecht aus sich galt und der heutige Gesetzgeber institutionell
akzeptiert ist. Mit der Rangerhöhung des Herrschers zum Gesetzgeber kehrt sich
nämlich andererseits das zeitliche Rangverhältnis der Rechtsquellen um, das
Baldus de Ubaldis formuliert: lex posterior derogat legibus prioribus, so daß die alten
leges ihrer Unangreifbarkeit entkleidet und die Ewigkeit des Rechts von der Im-
mortalität des Herrschers (Herrscheramtes) ersetzt werden können 69 •
Theoretisch durchformt wird die neue Gesetzgebung von THOMAS VON AQUIN. Im

63 Constitutio iu Basilica Beati Petri, Prooemium, MG LL Const., Bd. 2 (1906), Nr. 85,

S.107. .
64 Diotatus Papae Gregors VII. (1080), abgedr. in: Quellen zur Geschichte des Papsttums

und des römischen Katholizismus, hg. v. CARL MIRBT u. KURT ALAND, 6. Aufl., Bd. 1
(Tübingen 1967) Nr. 547, S. 282; Codex 2, 25, 1, 6 (Gratianus), Corpus iuris canonici,
hg. v. EMIL FRIEDBERG, Bd. 1 (1879; Ndr. Graz 1955), 1008.
65 Ausführliche Belege bei GULIELMO ÜNCLIN, De territoriali vel personali leges indole

(Gemblaci 1938), 128 ff. 234 ff.


66 STEN GAGNER, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Stockholm, Uppsala,

Göteborg 1960), 184 ff.; HERMANN KRAUSE, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalter-
lichen Recht, Zs. f. Rechtsgesch., germanist. Abt. 7fi (l!l58), 233 f.; Qu.ARITSCH, Staat,
Bd. 1, 132 ff.
67 Usatici von Barcelona (1068), c. 140, zit. HELFFERICH, Entstehung, 460; DoMINIKUS

LINDNER, Die Lehre vom Privileg na.ch Gratian und den Glossatoren des Corpus Iuris
Canonici (Regensburg 1917), 7 ff. 43 ff.
68 KRAUSE, Dauer und Vergänglichkeit, 244 ff.; ÜTTO v. GIERKE, Das deutsche Genossen-

schaftsrecht, Bd. 3 (Darmstadt 1954), 619.


69 Zit. KRAUSE, Dauer und Vergänglichkeit, 238.

872
D. 3. Altes Recht und modemes Gesetz im Mittelalter Gesetz

Anschluß an die aristotelische Tugendlehre bejaht er die Notwendigkeit mensch-


licher Gesetze, deren Positivität er aber in der Kanonistik der Schule von Chartres
entwickelt findet. Die dort ca. 1125 aufgestellte Gleichung „iustitia positiva" = „ab
hominibus inventa" verbindet sich mit dem Begriff 'lex' und regt Reflexionen über
„leges condere" an 70 • Thomas betont deshalb den Befehlscharakter des Gesetzes,
weil nur Furcht vor Strafe zur Gesetzesbeachtung führe; aber er.sieht das Willens-
moment lediglich als Hilfe für die intellektuelle Komponente des Gesetzes. Nur die
mit dem überpositiven Recht übereinstimmende lex humana positiva hat wirkliche
Gesetzeskraft (ratio legis) und verpflichtet im Gewissen als lex legalis 71 • Das un-
gerechte Gesetz zwingt lediglich, aber immerhin, als lex tyrannica kraft Setzung
und Befehl. Im Ergebnis ist für Thomas lex nihil aliud . . . quam dictamen rationis
in praesidente, qiw siibditi gubernantur 72 • Gegen diesen rationalen Gesetzesbegriff
betont Ockham im Anschluß an JOHANNES DuNs ScoTus das voluntaristische
Element des gesetzgeberischen Willens, denn: voluntas imperat intellectui, obwohl
auch bei ihm der Herrscherwille ethisch rückgebunden und deshalb nicht allein für
Recht und Unrecht maßgebend ist 73 •
Die so begründete Gesetzgebungsgewalt - „leges condere" - wird, umgeben von
einer gewaltigen Herrschaftspropaganda 74 , zu einem Hauptargument in dem Macht-
streit zwischen Kaiser, Papst, Landesherrn und Städten im 13. Jahrhundert. In
Richtung Papsttum bezeichnet sich Ludwig der Bayer anspruchsvoll als supra leges
und als legis lator, dem es zustehe, Gesetze und Rechte racionabiliter inmutare et
aliud statuere75 • Dieser Anspruch wird noch im 14. Jahrhundert mit den hohen-
staufischen, in Byzanz entliehenen Bezeichnungen 'leges sacrae' unterstrichen 76 ,
obgleich das Gesetzgebungsrecht des Kaisers inzwischen säkularisiert und als Teil
der iurisdictio gesichert ist. In vielen Variationen bezeichnet 'lex' gleichbedeutend
mit 'satzung' und 'gebot' das Kaiserrecht 77 • Wenn auch der Gebotscharakter weit-
gehend mit Annuitätsvorstellungen konvergiert, so bleibt entscheidend die Aus-
richtung auf den Kaiser als Quelle des Rechts. Naturrechtlich überhöht erscheint er
als lex animata78 , Mittler zwischen Gott und Mensch, der das lebendig recht in seinem
herczen79 trägt, selbst Inkarnation des weltlichen Rechts ist. Das ist jedoch auch

70 f*AffNF.R, St,ncfüm, 210 ff. 222 ff.; R. C. KuHLMANN, Der Gesetzesbegriff beim HI. Thomas
von Aquin im Lichte des Rechtsstudiums seiner Zeit (Bonn 1912), 115 ff.
71 THOMAS VON AQmN, Summa theologica 2,1 qu. 17, art. 1 u. qu. 90, art. 1 einerseits,

2,1 qu. 96, art. 4 u. qu. 95, art. 2 andererseits.


72 Ebd. 2,1 qu. 92, art. 1 u. qu. 90, art. 4. Lex als rationabile statutum schon bei dem

Bologneser Azo in seiner Summa Codicis, zit. CARLYLE, History, 51, Anm. 5.
73 JOHANNES DuNs ScoTus, zit. HANS WELZEL, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit

(Göttingen 1962), 71, Anm. 38; zu ÜCKHAM vgl. ebd„ 66 ff.


7 4 HEINRICH FICHTENAU, Arenga (Graz, Köln 1957), 179.
75 An Mo.rkgmf Friedrich v. Meißen 132(), MC LL Const„ Bd. 6 (1914), Nr. 612, S. 513.
76 KRAUSE, Kaiserrecht, 19 f. (s. Anm. 50).
77 Ebd., 18 ff.
78 Ausdruck von JusTINIAN, Novellae Justiniani 105, 2, 4. Zur hellenistischen Tradition

des Begriffs ERNST H. KANTOROWICZ, Kaiser Friedrich II. und das Königsbild des Helle-
nismus (1952), in: Stupor Mundi, hg. v. GUNTHER WOLF (Darmstadt 1966), 296 ff. 300 f.;
ders., The King's Two Bodies (Princeton/N. J. 1957), 127 ff..
79 So 1430 der Prokurator-Fiskal König Sigmunds, zit. KRAUSE, Kaiserrecht, 69.

873
Gesetz II. 3. Altes Recht und modernes Gesetz im Mittelalter

im Weltlichen nicht unbestritten. Immanent deutet im l!Jngland U.e11 13. J ahrhun-


derts HENRrcus DE BRACTON die Beziehung zwischen rex und lex (i. 8. von tra-
diertem Recht) um: lex facit regem, nicht die voluntas, und selbst wo der Königswille
wie im Bereich aer positiven Gesetze maßgebend ist, wird er durch magnatum
suqrum consilio vorbestimmt80• Zudem kommt mit der Erstarkung der Territorial-
gewalten die Ansicht auf, auch der Territorialherrscher sei imperator in regno suoBl
und könne aliquid statuere, mit der Ausnahme: leges autem generales solo imperatori
licet condereB 2 , d. h. leges mit Geltungskraft im Gesamtbereich.
In Ergänzung der hochgestuften herrscherlichen Gesetzgebungsgewalt soll der
Kaiser - bzw. jeder gesetzgebungsbefugte Herrscher - legibus solutus 83 im Gegen-
satz zu alligatus 84 sein. Bis in das 18. Jahrhundert bezeichnen diese römisch-recht-
lichen Formeln die .Argumentationspunkte für die Stellung des Herrschers zu (Ge-
bots-)Gesetz und (Natur-)Recht. Meinte die solutus-Formel einst die Befreiunµ; von
Formvorschriften für Ehe und Adoption 85 , so erhält sie seit den Glossatoren
eine allgemeine Wendung; Thomas von Aquin diskutiert sie unter dem - streitigen
- Gesichtspunkt, daß der Kaiser nicht den gesetzlichen Strafsanktionen unter-
worfen und gerichtlich exempt sei. 'Lex' in diesem Kontext ist allerdings nur das
Uewohnheits- und das gesetzte Hecht; an die ratio erklärt sich auch Frie<lrich II.
gebundenss. Nac.hdem bereits Johann von Salisbury im 12. Jahrhundert die Ge-
setzesfreiheit im bonum commune sowie in der aequitas amore justitiae aufzufangen
versucht hat 87 , erwägt man in Frankreich im 14. Jahrhund~rt, es sei des Königs
würdig, das zu wollen, was die Gesetze wollen 88, und Nikolaus von Cues bezeichnet
gegen die Kaiseranh,änger Peter von Andlau und Aeneas Sylvius 89 die schon im
13. Jahrhundert nachweisbare Ansicht als vulgatissimum: patere legem quam tu ipse

80 HENRICUS DE BRACTON, De legibus et consuetudinibus .Angliae (ca. 1259), ed. George

E. Woodbine, vol. 2 (New Haven 1922), 33. 305; dazu KANToRowrcz, Bodies, 149 ff.
81 Bulle Per venerabilem Innozenz' III. v. 1204, zugunsten des ·französischen Königs

gegen den Kaiser gerichtet; GAGNER, Studien, 334 f. 344; PAUL KoscHAKER, Europa lIDd
das römische Recht (München, Berlin 1958), 77 f.
8 2 Glosse zum Decretum Gratiani v. ca. 1210, zit. GAINES PosT, Studies in Medieval Legal
Thought (Princet.on/N.•T. Hlfi4), 460.
sa Dig. 1, 3, 31 (Ulpian).
84 Codex Justinianus 1, 14, 4.

85 MoMMSEN, Staatsrecht, Bd. 2/2, 750 f.


86 Encyclica contra dispositionis sententiam v. 1245, MG LL Const., Bd. 2, Nr. 262,

S. 360 ff.; exemplarisch insoweit ferner die Differenzierungen bei RUDOLF VON HABSBURG
im Brief v. 1282, MG LL Const., Bd. 3 (1904--1906), Nr. 339, S. 325.
8 7 JoANNIS SARESBERIENSIS, Episcopi Carnotensis Policratici sive de nugis curialium et

vestigiis philosophorum libri octo 4, 2, ed. Clemens C. J. Webb, t. 1 (1909; Ndr. Frankfurt
1965), 238.
66 ADUMAR EsMEIN, La maxime princeps legibus solutus est dans l'ancien droit public

fram;iais, in: Essays in Legal History, ed. PAUL VrnoGRADOFF (Oxford 1913), 208 f.
89 PETER VON ANDLAU, Libellus de Cesarea monarchia (1460), 2, 8, hg. v. Joseph Hürbin,

Zs. f. Rechtsgesch., gerinanist. Abt. 13 (1892), 182 ff.; AENEAS Sn.vros PrccoLoMINI,
Epistola de ortu et auctoritate imperii Romani (1446), hg. v. GERHARD KALLEN u. d. T.:
Aeneas Silvius Piccolomini als Publizist in der Epistola de ortu et auctoritato imperii
Romani (Köln 1939), 52 ff.

874
Il. 4. Reichsgesetz und Reichsgesetzgebung der Neuzeit Gesetz

tuleris90• In den Theorien cler aln;uluLeu Muuarehle verhlaßL ill1:i RechLabindung zu


einer bloß moralischen. Als Bodin seinen Souveränitätsbegriff auf die „potestas
legibus soluta" stützt und die deutschen Fürsten diese Ansicht aufnehmen, ver-
fagert sich die Bindungswirkung auf den freiwilligen Vertrag; ein Berater des fran-
zösischen Königs begründet Ende des 16. Jahrhunderts dessen Gesetzesbindung
vertragstheoretisch dainit, daß das Gesetz eine mutuelle convention entre le souverain
et le peuple sei91 • Politisch erheblich ist diese Bindung des Herrschers vor allem für
die Bestandskraft der hergebrachten Privilegien.
Der durchschnittlichen Wirklichkeit des Mittelalters, dem Dualismus von „Land
und Herrschaft" 92 , entspricht, wie gesagt, der Vereinbarungsprozeß zwischen Herr-
scher und politisch relevanten Gesetzesadressaten eher als die meistens nur ideo-
lugiache Gesetzgebung11hoheit, die nur in wenigen hcrr0ohaftm1icntrnli0iorton Lii.ndorn
realisiert werden kann. Nicht gegen Neuerungen des Rechts überhaupt, sondern
gegen die Einseitigkeit der Eingriffe opponieren die Stände93 und können ihre Mit-
wirkungsrechte häufig über das Mittelbewilligungsrecht durchsetzen94 • Dennoch
werden die Herrschaftsformeln akzeptiert, wie etwa sogar die Goldene Bulle Karls
IV. (1356) Gesetzgebungskompetenzen des Kaisers aus der plenitudo imperatoriae
potestatis ableitet95 • Dieser scheinbare Widerspruch legt die .lJJrklärung nahe, da~
dio !Jtii.ndiaohe Mitwirkung den internen Willensbildungspro.zeß betrifft,, daß aber
die Gesetzgebungshoheit des Herrschers nach außen anerkannt ist.

~· Reichsgesetz und Reichsgeset.zgebung der Neu.zeit

Der gebotsrechtliche Charakter des Gesetzes vermag sich seit Beginn der Neuzeit
eher in der die Territorialstaatswerdung begleitenden Landesgesetzgebung als in der
Reichsgesetzgebung zu realisieren, die init zunehmender Föderierung des Reichs
stärker föderative Züge annimmt. Landes- wie Reichsgesetze treten jedoch gleicher-
maßen als bewußt gesetzte Rechtsakte den Gewohnheiten und Naturrechten gegen-
über; ihre Eigenart differiert je nach Art und Kompetenz des Gesetzgebungsorgans.
Obgleich die Reichsgesetzgebung den Normbedarf der neuen Gesellschaft keines-
wegs abdeckt, steht sie im Mittelpunkt der politischen und th-0orctisohon Diskussion.

90 NICOLAUS VON CuEs, Do oonoordantia catholica 3, 41, hg. v. Gerhard Kallen (Hamburg
1963), 589.
91 CHARONDAS LE ÜARON, Pandectes ou digestes du droicts fran90is 4 (1596; Ausg. Lyon

1611), 41; weitere Nachweise bei QuARITSCH, Staat, Bd. l, 171 ff.
92 ÜTTO BRUNNER, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965), bes .. 180 ff. 231 ff. 357 ff.;

zusammenfassend zum Mittelalter vgl. QuARITSCH, Staat, Bd. 1, 138 ff. 155 ff.
93 Tm 1:1. ,Tahrhundert läßt sich der einseitig vom König verfaßte Fuero Real in Aragon

wegen des Aufruhrs gegen seinen Absolutismus nicht einführen, während die sachlich
weitergehenden Fueros de Aragou miL Eiuvei·8tänll.nis der Großen ergehen können; vgl.
GAGNirn, Studien, 318 f.; ähnlich das Schicksal df.lr Majf.IF.1ti1.R CJ;i.rolinR. TfarlR TV. in Böhmen.
94 FR.ANCIS L. ÜARSTEN, Princes and Parliaments in Germany (Oxford 1959), passim,

bes. z.B. zum Tübinger Vertrag von 1415 und seiner Durchführung, die je nach Herr-
scherpersönlichkeit und Geldbedarfsdeckung gebotsrechtliche oder vertragliche Züge trägt,
ebd., 21. 32. 36. 42. 48.
95 Goldene Bulle Karls IV. (1356), Prooemium, c. 3. 16, zit. KARL ZEUMER, Die Goldene

Bulle Kaiser Karls IV., Bd. 1 (Weima:r 1908), 141.

875
Gesetz Il. 4, Reichsgesetz und R11foh11g111111t7.g,.,bung d~r Newi:eit

a) Reichsgesetzgebungspraxis, Landfrieden. Gegenständlich betrifft die Reichs-


gesetzgebung, abgesehen von der Notariatsordnung (1512), der Carolina (1532) und
den Reichspolizeiordnungen (1530, 1548, 1577), vorwiegend' öffentlich-rechtliche,
näherhin reichsverfassungsrechtliche Fragen, während das Privat.recht im Stadt-,
Land- und Gemeinen (römischen) Recht geregelt ist. Infolgedessen ist das Verhältnis
des Reichsgesetzgebers zu den einzelnen Untertanen nur am Rande begri:ffserheb-
lich, wohl aber sind es die Zentralisations- bzw. Dezentralisationsprozesse und -be
strebungen von Kaiser und Reichsständen.
Zwischen ihnen ist die Zuständigkeit zur Gesetzgebung verteilt; wie, das läßt sich
dogmatisch und ein für allemal kaum sagen. Erscheint in der Goldenen Bulle von
1356 die Gesetzgebung noch in der kaiserlichen Machtvollkommenheit verankert,
oo oprioht Ko.rl V. 1510 von des Reichs Ordnung und Ges~tzt!-n ... , dwrch Uns 'llVit 'ir,
der Ohurfursten und Fursten, auc}i anderer Stende des Heiligen Reichs Rathe ... auf-
gcricht96, und schwört zugleich, wie seine Nachfolger, jeder eige11rnächtigen Gesetz-
gebung ab 97 • Was er als Rath bezeichnet, mahnt 1629 der sächsische Kurfürst als
notwendigen consens an98 . Ende des Dreißigjährigen Krieges gesteht der Kaiser
seine Konsensgebundenheit, si novae in ·imperio leges /erendue veteresque inter-
pretandae fuerint,uu, erstmals zu, wie sie förmlich dann im Westfäüschen Frieden100
fästgestellt, wird. Die kaiserlich-ständische Gesetzgebungskoopero.tion erhellt aus
dem Reichsgesetzgebungsverfahren: Dem vom Kaiser - später mit Zustimmung
der Kurfürsten - einberufenen Reichstag wird die Proposition Of\R Kaisers vor-
gelegt; das daraufhin im Reichstag beschlossene Reichsgutachten (consultum
imperii) wird dem Kaiser zugeleitet, der unverzüglich101 zustimmt oder ablehnt102 •
Durch die mit einem Ratifikationsdekret erteilte Zustimmung wird das consultum
zum conclusum imperii, zum „Reichsschluß", der mit seiner Verkündung in Kraft
tritt103 • Schriftlichkeit und Publikation sind zwar nicht Geltungsbedingung, aber
üblich. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts werden die Reichsschlüsse in „Reichs-
abschieden" (recessus imperii) zusammengefaßt, deren Schluß regelmäßig die Be-
willigungserklärungen der Stände, deren Anfang die kaiserliche Sanktionsformel
bilden. Daraus ergibt sich ein Aufbau, wie er ähnlich für Frankreich mit der Unter-

96 Wahlhpit,nlation Karls V. (1519), §§ 31 f., abgedr. bei ZEUMER, Quollonsammlung,

Nr. 180, S. 312; vgl. ebd., § 2, S. 309.


91 Wahlkapitulation Franz' 1. (1745), .Art. 2, § fi, 11:it. HlilINRICHCHRISTIANV. SENCKENBERG

u. ERNST .AUGUST KOCH, Neue und vollständige Sammlung der Reichsabschiede (Frank-
furt 1747), Zugabe zum 4. Tl., 4; Beständige Wahlkapitulation (1711), .Art. 2; In:strumen-
tum Pacis Osnabrugense, .Art. 8, § 2; Wahlkapitulation Karls VII„ .Art. 16, § 13, zit.
JoH. JAKOB ScHMAUSS, Corpus juris publici academicum, 4 . .Aufl.. (Leipzig 1745), 1471.
98 Zit. HIPPOLITHUS A LAPIDE rd. i. BOGISLAW PHILIPP CHEMNITZ], Dissertatio de ratione

status in imperio nostro Romano-Germanico 1, 6, 1 (Freystadt 1640), 81.


99 Sohroibcn v. 17. !J. 1645 u. v. 20. 4. 1647, in: JoH. GOTTFRIED v. MEIERN, .Acta pacis

Westphalicae publica 6, 20, ad 5, Tl. 1 (Göttingen 174~). 620; vgl. ebd. 29, 3, ad 3, Tl. 4,
495.
lOO Instrumentum Pacis Osnabrugense, .Art. 8, § 2.
101 Erstmals Wahlkapitulation Karls VII. (1742), .Art. 13, § 5, zit. SCHMAUSS, Corpus

juris, 1465.
102 Pfl.iohtzustimmung naoh HrrroLITIIUS A LAPIDE, Dissertatio 1, 6, 2, S. 88.

103 Daneben die .Abschiede des Reichsdeputationstages, eines Reichstagsausschusses.

876
a) Reichsgesetzgebungspraxis, Landfrieden Gesetz

teilung des Gesetzes in die Feststellung des Gesetzinhaltes und den Befolgungs-
befehl beschrieben ist104 • Ausnahmsweise daneben, seit dem Jüngsten Reichs-
abschied (1654) allein, werden die Reichsschlüsse durch. kaiserliche Reskripte,
Dekrete u. ä. publiziert. Die eigentliche Bekanntmachung an jedermann wird in
der Regel wie die Durchsetzung den einzelnen Reichsständen überlassen.
Im Text der Reichsabschiede erscheint der Kaiser häufig in der Stellung.des im-
perialen Gesetzgebers. Aber auch die ihn hervorhebenden Herrschafts- und Auto-
ritätsformeln konkurrieren mit ständischen Mitwirkungs- und Vereinbarungs-
formeln, die in unterschiedlichen Gewichtsverteilungen entweder den Kaiser als
eigentliches Setzungsorgan und die Stände als Beratungsinstanzen nennen oder die
Zustimmung der Stände und ihren „Vergleich" mit dem Kaiser betonen, was sich
auch in Titelunterschieden wie „Unser und gemeiner Stände Abschied" bzw. „des
Reichs Abschied" äußert. Die ständische Mitwirkung wird in der Regel aber nicht
nur als Verfahrensteil, sondern als Legitimationsbasis empfunden. Denn neben der
Betonung der Einmütigkeit bei der Gesetzgebungskooperation finden sich außer
verstreuten Hinweisen auf die Übereinstimmung des neuen mit früherem Rechtlos
kaum materielle Richtigkeitsformeln. Der Kaiser tritt nicht als lex animata, sondern
als (Mit-)Inhaber der Gesetzgebungsgewalt auf. Dennoch erlangen etliche seiner ein-
seitigen, zuweilen mit Scheinzustimmungsformeln verbrämten Rechtsetzungsakte
wie die Carolina und einige Miinzordnungen faktisch Gesetr.eskraft, weil sie den
Reichsgerichten zur Anwendung vorgeschrieben werden und in einer Zeit der Rechts-
zersplitterung und -unsicherheit Regelungsbedürfnisse befriedigen.
Aus solchen nach Zeit und Herrscher divergierenden Praxisbefunden folgern schon
zeitgenössische Kommentatoren sowohl die Zuständigkeit des Kaisers oder des
Reichstages allein als auch beider zusammen und dementsprechend die Struktur des
Reichsgesetzes als Gebpt, Vertrag .oder beides zugleich. Im heutigen Schrifttum
wiederholt sich diese Fragestellung vor allem hinsichtlich der aus dem hohen Mittel-
alter in die Neuzeit reichenden Landfrieden. Nach einer Ansicht sind sie mit Aus-
nahme der Einungen des 14. Jahrhunderts vom König (Herrscher) einseitig ge-
botene Gesetze 106, eine zweite betrachtet sie als Verwillkürungen in Form der
Einung, d. h. Satzungen107 , eine vermittelnde Ansicht plaziert sie auf die Grenze
zwischen Vertrag und Gesetz 108 • Die alten Selbstbezeichnungen lauten hier mehr-
deutig auf 'verbunt' oder 'einung' wie auf 'gebot' oder 'geRetr.' 109 und unterRcheiden

10 4CHARONDAS LE CARON, Pandectes 3, S. 43.


105 z.B. Jüngster Reichsabschied v. 1654, § 4, abgedr. bei ZEUMER, Quellensammlung,
Nr. 200, S. 447; Instrumentum Pacis Osnabrugense, Art. 8, § 3.
106 JOACHIM GERNHUBER, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer

Reichslandfrieden von l 2ali CBonn l !lli2), beR. 60 ff. 104 fl'.; H F.fT\rZ A NGF.RMEIF.R, Königtum
und Landfrieden im deutschen Spätmittelalter (München 1966), 27 f. 104 ff. 320 ff. 448 ff.
107 EJHJL, Willkür, bes. 65. 76; ders., Gesetzgebung, 47 f.; GöTZ LANDWEHR, Königtum

und Landfrieden, Der Staat 7 (1968), 90 ff.


108 HEINRICH MITTEIS, Politische Verträge im Mittelalter, Zs. f. Rechtsgesch., germanist.

Abt. 69 (1950), 76 ff. 118.


109 Erneuerung des Reichslandfriedens (1235) zu Nürnberg 1281, MG LL Const., Bd. 3,

Nr. 279, S. 271i ff. u. zu Mainz, MG T,T, Const., Rd. 3, Nr. 280, S. 280ff.; Landfrieden (1548),
Art. 28; Art. 29, § 3, abgedr. bei Z.1mM.1m, Quellensammlung, Nr. 187, S. 339; Augsburger
Reichsabschied (1555), Prooemium u. § 55, ebd., Nr. 189, S. 341. 352.

877
Gesetz II. 4. Reichsgesetz und Reichsgesetzgebung der Neuzeit

sich insoweit nicht von sonstigen Reichsgesetzen . .l!'ür den Satzungscharakter spricht
einmal die befristete Geltung, ferner die für die Verbindlichkeit konstitutive Be-
eidung durch Anwesende und die Eideszwänge für Abwesende und Dissentierende
durch Androhung der.Friedlosstellung110 ; zudem ist der Kaiser in der Regel Partner,
allenfalls Initiator der oft auch ohne ihn ausgehandelten Landfrieden, deren Durch-
führung und gerichtliche Überwachung ihm bis 1495 von den Reichsständen ent-
wunden ist. Andererseits kann die Beeidung aufgrund des Folgegebots zu einer
gegenüber dem politisch Schwächeren auch durchsetzbaren Untertanenpflicht wer-
den und schließlich hinter einem nach Anspruch und Geltung heteronomen Gebots-
recht zurücktreten111 . Wann das eine oder andere angenommen werden kann, läßt
sich für die Zeit vom Mainzer Landfrieden von 1103 bis in die Neuzeit nicht ein-
heitlich und keineswegs nach einer stringenten dogmatischen Formel beantworten.
D1mn in dimmr l':eit der Rir.h bildenden und rivalisierenden RefohR-, Lanr1AR- 1mr1
sonstigen Rechtsgemeinschaften schließen sich die Vorstellungen von Weistums-,
Einungs- und Gebotsrecht nicht aus, so daß es die Mischformen112 nicht in jene
Tr1ealtypen auszudivir1ierAn, sonr1ern als eigenen nar,h Zeit, Ort und beteiligten
Instanzen und politischer Machtlage variablen Typus zu präzisieren gilt. Dabei
brauchen die Landfrieden von der R.eichsgesetzgebung nicht getrennt behandelt zu
wei·lltm, weil iliel:le ilie gleieheu Fragel:lLelluugeu aufgiLL, ueuzeiLliehe Larnlfrieueu
häufig in Reichsabschieden enthalten sind und in der zeitgenössischen Literatur zu
den Reichs(fundamental)gesetzen gerechnet und wie diese begriffen werden. Dabei
beruft man sich seinerzeit auch auf den Text der Reichsgesetze, so daß deren Selbst-
bezeichnungen und Herrschafts- bzw. Vergleichsformeln heute nicht als Tarnformen
abgetan werden können, zumal solche Formeln in einer sprach- und stilbewU:ßten
Zeit durchaus Gegenstand von Verhandlungen sein können und weil erklärungs-
bedürftig bleibt, warum die Stände Herrschaftsformeln dulden oder der Kaiser
Vereinbarungsformeln vorschützen sollte.
Auf den Vertragscharakter eines Reichsgesetzes deuten FormUlierungen wie 'Ver-
gleich', 'Pact'; aber nur die unhistorische Annahme einer Begriffskonstanz könnte
sie im Hinblick auf das kooperative Reichsgesetzgebungsverfahren zur Begriffs-
grundlage erklären. Im 17. Jahrhundert werden vielmehr Vertrag und Reichs-
gesetze trotz dessen paktweisen Zustandekommens unterschieden. So werden etwa
die Bestimmungen des Westfälischen :Friedens für Abwesende und Anwesende, für
Reichsständische und Nichtreichsständische dadurch als leges et constitutiones
fundamentales imperii, als immerwährende Richtschnur und ewige norma ·iudicandi 113
verbindlich gemacht und aus einem völkerrechtlichen Vertrag in ein formliches und

110 Reichslandfriede (1287), Art. 37 f.: dazu ANGERMEIER, Landfrieden, 76; Reichsland-

friede (1323), c: 5, MG LL Const„ Bd. 5 (1909), Nr. 735, S. 573: dazu LANDWEHR, König-
tum, Der Staat 7, 93.
111 ConsLiLuLiu co11Lra i11cenillarios Fi·iedrichs 1. (USO), P1·uuemium, c. 17. 22. 28, MG LL

Conat„ Bd. 1 (1803), Nr. 318, S. 451 f.; Landfrieden Karls V. (1548), Art. 28; Art. 20, § 3.
112 z. B. Constitutio pacis generalis König Alberts (1298), c. 50, MG LL Const., Bd. 4/1

(1906), Nr. 33, S. 31.


113 Instrumentum Pacis Osnabrugense, Art. 17, § 2; Jüngster Reichsabschied v. 1654,

§§ 4 ff., abgedr. bei ZEUMER, Quellensammlung, Nr. 200, S. 447; Beständige Wahlkapitu-
lation (1711), Art. 2, ebd., Nr. 205, S. 475. ·

878
b) Naturrecht, Hobbes, Bodin Gesetz

bloßes Reichs-Grun<lgesetz114 transponiert, daß sie einem Reichsabschied und der


Wahlkapitulation eingefügt werden. Eindeutig wird der Unterschied zwischen Ver-
trag und Gesetz für die Wahlkapitulationen bezeichnet, die den Kaiser nicht per
vim legis, d. h. per modum subjectionis 115 , sondern freiwillig bänden; ein bindiges
Reichs-Gesetz116 könne nur im Reichsgesetzgebungsverfahren entstehen. Demnach
können Reichsgesetze nur im übertragenen Sinne als „Verträge" gelten, insoweit
sie die Autonomie der Beteiligten erhalten, während sie als „Gesetze" heteronome
Gebote im Über-Unterordnungs-Verhältnis sind. ImVerhältnis Kaiser-Reichsstände
meint die Frage nach dem Gesetz oder Vertragscharakter also eigentlich die Vasal-
lität bzw. Souveränität im Reich. Das Reichsgesetz als paktweiser Vergleich von
Kaiser und Ständen präsentiert sich hier nicht mehr als mittelalterliche Satzung,
sondern als Föderativakt einander bündisch zugeordneter Partner. Als Gebotsrecht
tritt das Reichsgesetz andererseits gegenüber Richtern, Beamten und „Unter-
tanen" auf, wer auch immer das sei: Karl V. befiehlt sogar den (Kur-)Fürsten bei
dem Gehorsam, den ihr Uns, als Römischer Kayser schuldig seyd 117 • Vertrag und
Gebot können offenbar in einem Akt zusammenfallen, und es hängt von der politi-
schen Machtlage ab, welchen Adressatenkreisen gegenüber ein Reichsgesetz die eine
oder andere im Begriffsverstii.ndnis angelegte Strukturtendenz annimmt. Der Text
zahlreicher Reichsgesetze deutet insoweit für das Verhältnis Kaise1· - Stänue eiue11
rechtstechnischen Mittelweg an, indem der die Sanktion aussprechende Kaiser als
Gesetzgeber und die Mitwirkung der Stände als internes, auf die Gesetzesinhalts-
feststellung begrenztes Vor.verfahren erscheint.
b) Die Richtigkeit des Gesetzes und die Souveränität des Gesetzgebers: Natur-
recht, Hobbes, Bodin. Fern den prozessualen und kompetenziellen Problemen der
Reichsgesetzgebungspraxis gründet die parallele Literatur ihr Begriffsverständnis
zunächst zeitlos a-iµ Naturrechtstraditionen und definiert 'lex' nach materiellen
Richtigkeitsmaßstäben als (natürliches, göttliches) Recht bzw. Gerechtigkeit 118 •
Für die Verbreitung des naturrechtlichen Gesetzesbegriffs zeugen die Lexika
des 16./17. Jahrhunderts mit nachklassisch-römischen, ciceronisch-augustinischen
Gedankensplittern. 'Lex' ist dort mens vel ratio recta 119; creat1tra et ordinatio

114 Jo11. JACOB MOSER, Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt, in:·

Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 1 (1766; Ndr. Osnabrück 1967 ff.), 204; vgl. ebd., 548 f.
115 DANIEL ÜTTO, De iure publico impedi Romani 8 (WiLtenber·g 1658), 181; CASPAR

HEINRICH HoRN, luris publici Romano-Germanici 1, 9, 3 (Berlin 1707), 98; DoMINicus


ARUMAEUS, Num Imperator noster etiamnum legibus solutus dici possit ?, in: Discursus
academici de jure publico, hg. v. DoMINJcus ARUMAEUS (Jena 1616), 82.
116 JoH. MAXIMILIAN v. GÜNDERODE, Abhandlungen des Teutschen StaatsRechts nach

Mass-Cabc der Reichs-Gesetze 1, 12, 6 (Gießen 1743), 67.


117 Vgl. die Aufzählung im Reichsabschied (1548), c. 29, § 4, abgedr. bei ZEUMER, Quellen-

sammlung, Nr.187, S. 339; ferner Jüngster Reichsabschied v.1654, §6, ebd.,Nr. 200, S. 447.
118 JOHANN CALVINUS [KAHL], Lexicon juridicum juris Caesarei simul et canonici (o. 0.

1665), 521, s. v. legis vocabulum; HERMANN WESSELING, Nomognosticon juris universi,


Bd. 1 (Köln 1662), 917 ff.
119 JAKOB SPIEGEL, Lexicon juris civilis (Basel 1549), präziser in der Ausg. Basel 1563,

je zu '!ex'; BARNABAS BmssoN, De vcrborum quae ad ius pcrtinent significationc libri XIX
(Leyden 1559), 318, sowie die Ausg. v. B. BrussoN u. FRAN90Is HoTMAN (Frankfurt 1587),
314 u. die v. B. BRISSON u, JOANNES CHRISTIAN ITTER (Leipzig 1721), 538 f.

879
Gesetz II. 4. Reicluige11elz uud Reicluige11etzgehung der Neuzeit

Dei 120 und mit Cicero noch Ende des 17. Jahrhunderts summa ratio 121 • Selbst aus
hugenottisnher Rinht wP.rden kurz nach der Bartholomäusnacht 'lex' als boni regis
anima, der König als legis organum et quasi corpus bezeichnet, doch äußert sich
die monarchomachische Kritik darin, daß die ratio des Gesetzes als das Werk vieler
angesehen wird122 • Die gleiche Skepsis gegenüber dem monistischen Gesetzgeber
äußert sich in einer verbreiteten Neuinterpretation von Papinians Definition der
lex als commune praeceptum123 , die nicht mehr im mittelalterlichen. Sinne einer
traditionellen Gemeinschaftsüberzeugung und Normunvordenklichkeit, sondern im
Sinne der Mitwirkung aller (commune) Instanzen und Gruppen an der Gesetzgebung
aufgefaßt wird124• In dieser Linie erfolgt der Anschluß an die dualistische Reichs-
gesetzgebung, deren Kompetenz- und Verfahrensprobleme die Lexika im 18. Jahr-
hundert auch begrifflich zu würdigen beginnen. :::lystematisch antworten die natur-
mnhtlinhfln DP.finit,ionen häufig auf die Frage, von welchen Gesetzen der HerrfJchor
befreit sei. Seine überpositiven Bindungen werden außer in den „leges naturales"
vor allem in den teils idealisiert, teils säkularisiert verstandenen „leges fundamenta-
les", dem „fundamental law" 125, zusammengefaßt, seitdem das göttliche Recht zur
moralischen Bindung verblaßt ist. Als unvorgreifliche Barrieren der positiven Ge-
setzgebung erweisen sich jedoch prakLiHcl1 his ins 19. Jahrhundert die tradierten
Berechtigungen, deren Gesetzesfestigkeit ein stets aktuelles Thema bleibt. Wenn
Goethe um 1800 ironisch bemerkt: Es erben sich Gesetz' und Rechte wie eine ewge
Kranlcheit fort 1 2 6 , dann wird deutlich, daß die Tradition nicht mehr aus 1:Üuh heraus
die Gerechtigkeit verbürgt, sondern als Hemmschuh einer rational1m, positiven
Gesetzgebung erscheint.
Der Gedanke, daß sich die ratio im Gesetzgebungsverfahren herstelle oder in der
Gesetzgebungsinstanz institutionalisiert sei, findet sich in der Reichsstaatsrechts-
literatur freilich nicht, obwohl Hobbes' Gesetzesdefinition häufig zitiert wird. Das
ungerechte, gemeinwohlschädliche Gesetz eines despotischen Gesetzgebers ist bei
dem dualistisch-kooperativen Reichsgesetzgebungsverfahren nicht aktuell. Jenseits
solcher prozessualen Sicherungen entwickelt HoBBES jedoch seine strikt an den
Souverän gebundene voluntaristisch-absolutistische Lehre vom Gesetz in einer den
französischen Religionskämpfen - die ja auch Bodin anregen - ähnlichen Situation,
und r.war indem er die ständisch oder religionsparteilich heteronomen materiellen
Vorgegebenheiten bewußt ausspart. Im Traditionszusammenhang mit Ockham de-
finiert er: The Law is a Oommand, and a command consisteth in declaration, or mani-
festation of the will of him that commandeth 127 , d. i. im Bereich der civil laws der Wille

1 20 PARnoux Du PRAT [PRATEJUS], Lexicon juris civilis et canonici (Leiden 1567), 119;
ebd. (Ausg. Frankfurt 1576), 295 f.
1 2 1 HENNING ARNlSAEUS, De jure majestatis libri tres 2, 3, 1 (Stmßburg 1673), 13.
122 [STEPHANUS Iumus BRUTUS CELTA? PHILIPPE DU PLESSIS-MORNAY? HUBERT

LANGUET ?], Vindiciae contra tyrannos (o. 0. 1589), 117 f. 124 f.


123 Dig. 1, 3, 1.
124 Übereinstimmend PRATEJUS, Lexicon (1567), 120; ebd. (Ausg. Frankfurt 1576), 296;

SIMON SoHARD, Lexicon juridicum (Köln 1616), 554 f.; CALvrnus, Lexicon (1665), 526.
125 Dazu JoAN W. Goum1, Fundamental Law in English Constitutional History (Oxford

1955).
120 GOETHE, Fallilt, 1. Tl., Studierzimmer (Mephistopheles), HA 7. Aufl., Bd. 3 (1964), 64.
127 HoBBES, Leviathan 2, 26, 8. EW vol. 3 (1839; Ndr. 1962), 257.

880
h) Naturrecht, Hohhes, Bodin Ge11et11

des für die abstrakte Staatsperson handelnden Souveräns128. Sogenannte natürliche


Gesetze, an sich nur unverbindliche Wertvorstellungen, gelten und binden ebenso
wie tradierte Gewohnheiten erst aufgrund staatlicher Anerkennung 129, womit das
Naturrecht zur unverbindlichen Moral herabgestuft und die Tradition ihrer Auto-
rität entkleidet wird. Bezugspunkt des Rechts ist nicht mehr ein -- irgendwie
evidenter-reason, sondern der Souverän130. Die sittlichen Werte sind Resultanten
seines Willens; Recht und Unrecht bestimmen sich allein nach der Entscheidung
der Gesetze1 31 . Aber da dieses Gesetz vön dem die politische Vernunft in der Regel
repräsentierenden Souverän herrührt, ist es zugleich moralisch. In der lateinischen
Fassung des „Leviathan" präzisiert Hobbes seinen imperativen Gesetzesbegriff:
authoritas, non veritas, facit legem 132 • Für den Vorteil eines das Leben und Recht
prinzipiell sichernden Staates im Vergleich zu dem Risiko eines ungerechten Herr-
RflhArwillimR nimmt Hobbes den Widerspruch zwischen Staats- und Gesetzeszwer,k
einerseits und der Willensmacht andererseits in Kauf.
Im deutschen Raum stößt der Satz, das Gesetz sei, quod principi placuit, jedoch auf
vielfachen WiderRpr1rnh 133, der nicht nm kompetenziell, Rondern naturrechtli.ch
begründet wird. Für SAMUEL PuFENDORF ist das positiv:e Gesetz eine Konkretisie-
rung des Naturrechts. l>esha.lb ka.nn die Befolgung der AnordnungAn dp,:;1 na.tur-
rechtlich auLurisierLtm GeseLzgebefä auch ein Gebot, Jes NaLw·rechLs sein 131. Ähnlich
geht CHRISTIAN W OLFF von der inhaltlichen Identität des positiven mit dem natür-
lichen Rcuht uus; Jus letztere lenkt die positive Gesetzgebung wie überhaupt die
menschlichen Handlungen, das erstere bestärkt die Bindungswirkung des Natur-
gesetzes135. Hinsichtlich der Verbindlichkeit wird das positive Gesetz hier wie von
allen Zeitgenossen als ein vom Herrscher willentlich gesetzter und sanktionierter
Befehl aufgefaßt136. Aber anders als bei Hobbes besteht gegenüber dem ungerechten
Gesetz keine Folgepflicht der Untertanen, wohl aber eine Sanktionslast bei Un-
gehorsam137. Das ungerechte Machtgesetz kann also nur zwingen, aber nicht sittlich
verpflichten. Die radikale Konsequenz findet sich schon bei MATTHIAS BoRTIUS:
Obligatio legis non tam oritur ex ratione, quam ex sanctione138 • Prinzipieller verweist
CHRISTIAN THOMASIUS das Naturgesetz auf die Stufe des vinculum morale: Es habe

12s Ebd., 252; ders., De cive 14, 5. Opera, t. 2 (1839; Ndr. 1961), 316.
1 29 Ders., Leviathan 2, 26, 3 f. EW vol. 3, 252 f.
130 Ebd., 253. 256.
131 Ebd., 251.

132 Ders., Leviathan, Opera, t. 3 (1841), 202.


l33 z.B. JoHANNES LIMNAEUS, Additiones ad libros suos de jure publico imperii Romano-
Gennanici, t. 2 (Straßburg 1660), 273, Appendix ad 1, 10, 102.
134 SAMUEL PUFENDORF, De jure naturae et gentium 2, 3, 11. 24 (Lund 1672); dazu
WELZEL, Naturrecht, 130 ff.
13s CHRISTIAN WoLFF, Jus naturae 8, § 965 mit Anm.; §§979 f.
136 Ebd., §§ 813. 967; dazu KARL LARENZ, Sittlichkeit und Recht, in: Reich und Recht
in der deutschen Philosophie, hg. v. KARL LARENZ, Bd. 1 (Stuttgart, Berlin 1943), .267 ff.
1 3 7 WoLFF, Jus naturae 8, § 975; ders., lnstitutiones juris naturae et gentium (Halle 1763),

§ 1079.
13s MATTHIAS BoRTIUS, (Discursus octavus) de sensu 27, in: ARUMAEus, Discursus

academici, 89 (s. Anm. 115).

56-90386/l 881
Gesetz II. 4. Reichsgesetz und Reichsgesetzgebung der Neuzeit

lediglich die Kraft einer obligatio interna 139 , während das positive Gesetz als ein
ein~eitiger herr~ehel'lieher Befähl uen ~'Ubjt!clus llliL uur BLrufbuwehrung eine ob·
ligatio externa auferlege 140 • Obwohl Thomasius mit der Trennung von Recht und
Ethik die Einheit des Naturrechts zerstört, wird das Gesetz nicht zur unrecht-
mäßigen Willkür, weil es wie der Herrscher an die säkularen Zweckbestimmungen
des Staates gebunden bleibt. Die aus der Gesetzesdiskussion entschwindenden über-
positiven Richtigkeits- und Bindungsanforderungen verlagern sich in die Staats-
und Fürstenethik. Welche Gefahren eine säkularisierte „Staatsraison" freilich in
der Hand souveräner Herrscher bergen kann, ist schon Zeitgenossen klar, und sie
versuchen, wie HIPPOLITHUS A LAPIDE 141, einem staatlich manipulierten Zweck-
denken wieder überpositive Schranken zu stellen. Neben dieses sich aus der Mach-
barkeit und Veränderbarkeit der Gesetze ergebende Folgeproblem tritt das der
Anerkennungsbereitschaft der Gesetzesunte:r:tanen. Sie ist um so mehr erforderlich,
als dem Gesetzgeber kein Herrschaftsapparat zur Verfügung steht, der seine Gesetze
gegen jedermann faktisch durchsetzt. Deshalb kommt es auch weiterhin weniger
auf Zwang als auf Überzeugung an. Die jedoch wird, wie BESOLD mit einem auf-
schlußreichen Hinweis auf die Religion warnt, durch häufige Gesetzesänderung be-
einträchtigt: Oonsultum quippc cst, ut populus lcges pro oraculis habeat; corumquc
oontcmptus cm commutationc frcqucntiori oriri solct. Ao ita culpanda inprimis cst
curiositas eorum, qui temere leges ( aut aliqu~d in religione) immutant 14 1a.
Inzw iimhen haL JEAN BonIN die GeseLzgebungsgewalt zum Kriterium der Sou verän.i-
tät erhoben und in ihr die seinerzeit dem römischen Prinzeps zugeschriebenen und
vom französischen König erkämpften Herrschaftsrechte gebündelt: sous ceste mesme
puissance de donner et casser la lmJ sont compris tous les autres droits et marques de
souverainete, so die Entscheidungen über Krieg und Frieden, Beamtenbestellungen,
Steuererhebung u. ä.m. 142 • Diese Gewalt lokalisiert Bodin jenseits des ständischen
und religiösen Pluralismus in der neutralen Position eines monistischen, amtsrecht-
lich verstandenen Königtums, das nach Bartolus' Formulierung „superiorem non
recognoscens", nämlich keinen übergeordneten Gesetzgeber kennt. Von den selbst-
gesetzten Gesetzen ist der König frei, da er sich nicht selbst befehlen kann; unge-
achtet bestehender Traditionen und Privilegien darf er über die Gesetze nach staat-
lichen Zweckmäßigkeitserwägungen disponieren143 ; aber er ist als Amtsträger an
die weltlich-staatlich bestimmten bonnes et vives raisons, an das Gemeinwohl sowie-
trotz rechtlich und faktisch minimaler Kontrollmöglichkeiten - an natürliches und
göttliches Recht gebunden144 • Das Gesetz ist also zwar Willens- aber nicht Willkür-
akt. In diesem materiell-rechtlich durchaus rückgebundenen Sinne definiert Bodin

139. CHRISTIAN THOMASIUS, Fundamenta jurie naturae et gentium, Prooemium, § 11


(Halle, Leipzig 1718), 6; ders., Institutiones jurisprudentiae divinae 1, 1, 56, 7. Aufl. (1720;
Ndr. Aalen 1963), 13.
uo Ders., Instltutlones 1, 1, 28, S. 6; ders., Funda.menta. 1, 4, 60 f., S. 13/S.
141 IlIProLITHUS A LAPIDE, Dissertatio, Vorrede (s. Anm. 98).
141 a CHRISTOPH BEsOLD, Synopsis politicae doctrinae 2, 4, 15, 4. Aufl. (Frankfurt 1642), 228.
142 JEAN BODIN, Les six livres de la republique (1583; Ndr. Aalen 1961), 223; dazu aus-
führlich QuARITSCH, Staat, Ild. 1, 255 ff.
1 43 Bonm, Republique, 3. 132 f. 142. 149. 161.
144 Ebd., 161; zum Problem vgl. QuARTTSOH, Staat, Rn. l, 383ff.

882
c) Das Gesetz in der Reichsstaatslehre Gesetz

das Gesetz als le commandement de celuy qui a la souverainete'1 45 • Damit ist das die
weitere Diakuaaion beherrsohende Stiohwort geliefert. Wem in' Reioh und Tcrri toricn
kommt diese Souveränität zu 1

c) Das Gesetz als Befehl oder Vertrag in der Reichsstaatslehre. In Bodins monist~ches
Konzept paßt der Reichsdualismus nicht. So erklärt er kurzerhand die Reichsstände
insgesamt zum Souverän und spricht dem Kaiser jegliche Gesetzgebungskompetenz
ab 146 • Dem tatsächlich bestehenden Gesetzgebungskond01ninium kommt hingegen
trotz des in der Lehre von der Volkssouveränität liegenden monistischen Ansatzes
ALTHUSIUS mit seiner Consoziations- und Repräsentationstheorie näher, indem er
den Kaiser als summus magistratus im Reich wie in den Territorien die Landesherrn,
diese in ihrer Gesamtheit, zudem im Reich als ständische Volksreprasentanten ein-
stuft und so eine Beurteilung der vertragsmiWig1m Kompornmtim rlP.s R.P.ir.hse;P.sP.tz11s
ermöglioht147 • In seiner :Naohfolge kennzeiohnet MATTIIIAS BoRTIUS mit der Unter-
scheidung von der maiestas realis des Volkes und der durch Herrschaftsvertrag
widerruflich beim Herrscher begriindeten maiesta,s personalis148 die Doppelung im
Reich. Indem er die Gesetzgebung zu den Rechten der maiestas personalis 149 rech-
net, gibt er trotz des volkssouveränen Ausgangspunktes dem Kaiser die souveräne
Stellung zurück. Brst in der Lehre von uer 2.Wll:UlllllellgeMeLzLe11 (eu11jUlleLilll) Sou-
veränität im Reich150 wird der Dualismus aufgefangen. Entsprechend der Souve-
ränitätsdiskussion verläuft die Gesetzesdiskussion; bei der tiieh wie auf politischem
Feld kaiserliche und reichsständische Parteigänger ungeachtet religiöser Bekennt-
nisse befehden. · ·
Ähnlich Bortius rechnet KONRAD VON EINSIEDEL zu den kaiserlichen regalia majora
die Befugnis, die 'Reichsabschiede' heißenden leges universales zu erlass.en. Die
ständische Mitwirkung degradiert er interpretativ, indem er die Formel cum assensu
ac consilio nur als ein „consentire" und nicht als ein „consultare" ausgibt151 • Des-
selben Argumentes bedient sich sein Zeitgenosse THEODOR REINKINGK152 • Für ihn
ist der Kaiser nur deshalb an die Wahlkapitulation und. leges fundamentales ge~
bunden, weil sie sozusagen zum natürlichen und göttlichen Recht gehören, so daß
eine Verpflichtung aus positivem Recht und gegenüber den Reichsständen entfällt153•
Die Konsequenz aus einer derart beim Hemmher monopolisierten Gesetzgebungs-

u Bonrn, Republique, 131.


0

146 Ebd., 301. 320 ff.


147 JOHANNES ALTHUSIUS, Politica 33, §§ 55 ff., bes.§ 83, 3. Aufl. (1614; Ndr. Aalen 1961),

725 ff.; ders., Dicaelogicae libri tres 1, 81, 4, 2.Aufl. (Frankfurt 1649), 283.
14R BoRTIUS, Discursus de natura jurium majestatis et regalium 1, in: ARUMAEUS, Dis-

cursus academici, 830 f.; dazu ÜTTO V. GIERKE, Johannes Althusius und die Entwicklung
der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl. (Aalen 1958), 164 ff.
He BORTIUS, Discursus 13. 16, S. 867 ff. 871.
150 Grnrurn, Althusius, 176 ff. 180 ff.
161 KONRAD v. EINSIEDEL, Tractatus de juribus ad imperatoris Romano-Teutonici

majestatem pertinentibus sive regalibus 2, § 29 f. (Halle 1619), 150 f.; ferner 2, §§ 3 ff.
162 THEonoR REINKINGK, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico 1, 2, 2, §§ 109 ff.
120 ff. (1619; Ausg. Frankfurt 1651), 70 ff. .
163 Ebd. l, 3, 9, §§ 10 ff. 1'2, S. 255.

883
II. 4. Reichsgesetz und Ileichsgesetzg„Luog d„1· N„uzeil

souveränität 154 zieht HENNING ARNISAEUS, indem er den Zwangscharakter des Ge-
setzes gegenüber den Untertamm hP.tont, flifl im 80?.ialvertrag einflr uneingeschänk-
ten Gehorsamspflicht ohne Widerstandsberechtigung zugestimmt hätten155 : leges
sunt scita superioris potentiae 156 • l!'ür kaiserliche J:'arteigänger liegt die Subordination
der Reichsstände auf der Hand, so daß das Reichsgesetz als einseitige, fremd-
verbindliche Anordnung des Kaisers erscheinen kann.
Aber diese Ansicht begegnet ideologisch-politischen und reichsrechtspraktischen
Einwänden. Nach dem monarchomachischen Verfasser der „Vindiciae contra Tyran-
nos" steht fest, daß die principes legitimi leges a populo accipiunt, so daß die Mit-
wirkung der Parlamente und Stände für den Gesetzerlaß essentiell wird 157 • Aus dem
Herrschaftsvertrag folgert er die Gesetzesgebundenheit des Herrschers wie andere
aus de.m positiven H.eichsrecht, 10 ij. In emer lrnm1P.qmmt rnmhRRt.ii,nd1schen Wendung
macht jedoch nur CHEMNITZ [d. i. Hil'l'OLITm.Ts A LAPIDE] den Kaiser zum Adres-
saten und bloßen executor der Reichstagsbeschlüsse 15u. J:'olitisch gegen Habsburg,
literarisch gegen Reinkingk wertet Chemnitz mitten im Dreißigjährigen Krieg die
Mitwirkung der Stände an der Gesetzgebung zur Hauptsache auf, die des Kaisers
als untergeordnet und aufhebbar ab 160 . Nur die versammelten Reichsstände hält er
von allen Gesetzen befreit, mit Bodin also für souverän161 • Folglich bestreitet Chem-
nitz den Charakter des Gesetzes als einer kaiserlich-reichsständischen Konvention.
Die Reichstagsmitglieder seien zwar modo contractus gebunden, der Kaiser aber wie
die subditi des Reichs modo legis, d. h. heteronom, und modo subjectionis 162 •
Die durchaus herrschende Meinung des 17. Jahrhunderts folgt jedoch nicht dem
Zirkelschluß, der Kaiser sei dem Reichstag, weil nicht übergeordnet, unterworfen,
sondern versucht, der Bipolarität im Reich Rechnung zu tragen. Als einer der ersten
betont HERMANN VULTEJUS,. daß die lex als lex imperii durch imperatoris et com-
mune statuum placitum163 zustande komme. Der kooperativ-föderale - zuweilen
sogar völkerrechtlichinterpretierte164 -Aspekt wird seitdem zum Angelpunkt des

154 So ARNISAEUS, De jure majestatis 1, 2, 7, S. 20 f.; 1, 3, 1, S. 22.


155 Ders., De autoritate principum in populum semper inviolabili; seu quod nulla ex causa
subditis fassit contra legitimum principem arma movere, commentatio politica opposita
seditioniR quorundam Rcriptis, qui omnem principum majestatem subjiciunt censurae
ephorum et populi 3, 1. 4, 14 (Straßburg 1673), 35. 63.
rno Ders., De jure majestatis 1, 3, 6, S. 27.
157 Vindiciae, 124 f. (s. Anm. 122).
158 U. a. HERMANN VULTEIUS, Jurisconsulta ad titulos codicis, qui sunt, de jurisdictione
et foro competenti, commentarius, ad tit. 13, nota 90 (Frankfurt 1599), 62; TOBIAS
PAURMEISTER, De iurisdictione imperii Romani libri duo 1, 6, 23, 2.Auß. (Frankfurt 1616),
111 ff.; GEORG IlRAUTLACHT, Epitome jurisprudentiae publicae universae 3, 1, 5 ff. (1622;
Ausg. Jena 1671), 72 f.; MATTHIAS STEPHANUS, Tractatus de iurisdictione2, 1, l, 2, 28. 40f.,
2. Aufl. (Frankfurt 1610), 46 f.
159 lIIPJ!OLI'l'liU8 A LAJ!HHJ, Dissertatio 1, 3, 1, S. 30; 1, 4, 1, S. 44; 1, 6, 3, S. 90 ff.
160 Ebd. 1, 6, 2, S. 85. 88; 1, 4, 5, S. 63 ff. 67.
161 Ebd. 1, 6, 3, S. 90.
16 2 Ebd. 1, 3, 2, S. 34; 1, 5, 3, S. 79 u. 1, 6, 1, S. 79.
163 VuLTEJUS, Jurisconsulta, ad tit. 13 nota 90, S. 62.
1 6 4 GEORG RICHTER, Bedencken über das Stimmrecht der Reichsstände (1645), Ziffer 7,

a.bgedr. in: MF.TRRN, Act.a paciR, '1'1. 1, 48:l (ll, 1ll, nota 2).

884
c) Das Gesetz In der Relehsstaatslehre Gesetz

Gesetzesbegriffes. In einer oft zitierten, den Reichsabschieden entnommenen Formel


faßt MATTHIAS STEPHANUS zusammen: universalem legem condit imperator cum
assensu et consilio statuum imperii 165 • Auch wenn GEORG BRAUTLACHT dagegen eine
Metaebene jenseits der rivalisierenden Vertragspartner und der Unterscheidung von
maiestas realis und personalis darin sucht, daß er die Befugnis, leges universales
condere, Kaiser und Ständen als una persona zuweist166, kommt er letztlich über
das Kooperationsverfahren nicht hinweg. Aus empirischer Beobachtung der Reichs-
praxis übernehmen zahlreiche Schriftsteller den Konventionalbegri:ff des Gesetzes
und verneinen deshalb das zeitgebundene Hauptproblem, ob der Kaiser legibus
solutus sei. Frei vom Bodinschen Monismus sieht TOBIAS PAURMEISTER die „po-
testas legum ferendarum" wie überhaupt das imperium zwischen Kaiser und
Ständen geteilt167 . Die von beiden Teilen vereinbarten leges entfalteten zwischen
ihnen vim conventionwn et contractumlRR. Davon unterschieden entstehe die beson-
dere Gesetzesbindung (vigor legis) der Reichsgesetze aufgrund der potestas gegen-
über der civitas, näherhi:n den Städten und Reichsuntertanen 169 •
Diese Doppelwirkung, auch von anderen vertreten170, befriedigt in einer Richtung
den 11llseitigen Souveriinitiits11nspruch, wie sie andererseits die Souveränität zwi-
schen den Konkurrenten in der Schwebe läßt. Aber gegen die Föderativtendenz der
Gesetzgebung erheben sich konstruktive Dcdcnken. So bezeichnet etwa ÜA5PAR
HEINRICH HORN die leyes zwar als conventiones inter caput et membra imperii,
schränkt aber ein, daß sie conventiones nur zwischen dem imperator und den status
imperii collective sumpti seien, jedoch den einzelnen Ständen sowie allen sonstigen
Untertanen gegenüber eigentliche Gesetze, nämlich decreta superioris171 • Ebenso
gründet JOHANNES LIMNAEUS die Reichsgesetze auf die Reichsautorität und erklärt
trotz des konventionellen Zustandekommens der Gesetze die einzelnen Reichsstände
aufgrund des kaiserlichen Befolgungsgebotes für gebunden, das der Kaiser als
administrator imperii et rector singulorum erteile 172 • Limnaeus unterscheidet dabei
bewußt zwischen dem Zustandekommen und der Bindungswirkung eines Gesetzes 173 .
Amkonzisesten verweist ULRICH HUBER die vertragliche Komponente in eine Vor-
phase der Gesetzgebung und kennzeichnet die „lex propria" ausschließlich durch

165 STEPHANUS, Tractatus 2, 1, 1, 2, 11, S. 42; ebenso BENEDIKT CARPZOV, Commentarius

in legem regiam Germanorum sive capitulationum imperatoriam 12, 2, 16 (Leipzig 1640),


861; ErnsIEDEL, Tractatus 2, § 3.
166 BRAUTLACHT, Epitome 3, 2, 7, s. 76; 1, 2, 9, s. 11.
167 PAURMEISTER, De iurisdictione 1, 6, 23, s. 111; 1, 21, 8, s. 230.
168 Ebd. 2, 2, 57, S. 473 f.; 2, 2, 50, S. 458.

169 Ebd. 2, 2, 47, S. 451.


170 SEVERINUS DE MOZAMBANO [d. i. PUFENDORF], De statu imperii Germanici (1667) 5, 4,

hg. v. F. Salomon (Weimar 1910), 90; ULRICH HUBER, De jure civitatis 3, 1, 2, 2, 4. Aufl.
(Frankfurt, Leipzig 1708), 555; GoTTLIEB TITIUS, Specimen juris publici Romano-
Germanici 1, 4, 14 ff. 18 (Leipzig 1698), 26 f.; CHRISTIAN A. BECK, Kurzer Inbegriff des
Deutschen Staatsrechts 1, 2, 3, in: Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria
Theresias, hg. v. HERMANN CoNRAD (Köln, Opladen 1964), 402.
171 HoRN, Iuris publici 5, 2, 5 ff„ S. 62. 65 f.; 11, 3, S. 98.
172 JoH. LIMNAEUS, Iuris publici imperii Romano-Germanici libri 9, 2, 59 (Straßburg

1645), Bd. 3; ders„ Additiones, t. 2, 274, Appendix ad 1, 10, 102. (s. Anm. 133).
173 z.B. ders„ Iuris publioi libri 1, 10, 32 (Bd. 1); 9, 2, 59 (Bd. 3).

885
Gesetz Il. 4. Reichsgesetz und Reichsgesetzgebung der Neuzeit

ihre Heteronomie, ihren Befehlscharakter und dessen Subjektionswirkung; eine


eventuelle Beschwörung konstituiere diese Verpfilchtungswirkung nicht, sondern
füge ihr nur die religiöse Bindung hinzu. Jeder Akt, der derart jedermann im Terri-
torium binde, sei unbesehen von Form und Verfahren ein Gesetz 174. Mit dem glei-
chen funktionalen Begriffsansatz verteidigt JOHANN JAKOB SCHMAUSS einen dog-
matisch einheitlichen Gesetzesbegriff, der etwa auch die Goldene.Bulle und den Bad.
Frieden umfassen soll. Den Lehren, die den Vertragscharakter betonen, entgegnet
erl 75 : sie halten alle Reichsstände vor co-imperantes; sie statuieren nicht gern andere
Untertanen des Reichs als die mittelbaren und Landsäßigen; sie machen aus dem
Teutschen Reich ein förmliches Systema rerumpublicarum und heben alle unitatem
Reipubl. auf. Darum statuieren sie, alle Reichs-Gesetze seien respectu der unmittelbaren
Reichsstände . . . nichts anders als pacta inter aequales inita, die nach den principis
I uris N aturae et Gentium zu erklären .. , seien, imd könnten allein respectit der Land-
sassen als leges angesehen werden. Neu an diesem Ansatz ist, daß die unfruchtbaren
Konstruktionen der Gesetzgebungsinstanz( en) und des Gesetzgebungsverfahrens für
die Begriffsbildung zugunsten der Gesetzeswirkung vernachlässigt werden.
Darüber hinaus findet sich bei BENEDIKT ÜARPZOV derwohl zuerst von vonSchwendj
vorgebrachte Gesichtspunkt, daß die Mitwirkung der Stände an der (einfachen) Ge-
setzgebung mit der Sicherung ihrer Freiheitsrechte zusammenhänge, in die der
Kaiser allein nicht eingreifen dürfe1 76. Mit solcher Bcsitzstandswahrung begründet
später auch JOHANN JACOB MOSER die Mitwirkung der I.Jandstände am Landesge-
setzgebungsverfahren177. In einer allgemeinen Wendung verbindet jedoch erstmals
HUBER aus althusianisch-volksrechtlicher Sicht den Satz: volenti non fit iniuria,
mit der Zustimmung zum Gesetz 178 . Unter dem Einfluß Rousseaus findet schließlich
der Gedanke, daß die Freiheit jedes Menschen ungeachtet ständischer Zuordnungen
auf der Grundlag{l seiner gesellschaftsvertraglichen Zustimmung im Gesetz de-
poniert sei 179, sogar Eingang in die Reichsstaatsrechtslehre und öffnet den Weg zu
der späteren Forderung, die eigene Freiheitssicherung aktuell mitzubestimmen.
Die hier skizzierte literarische Entwicklung des reichsrechtlichen Gesetzesbegriffs
wird von Moser und Pütter abschließend für den vorrevolutionären Reflexionsstand
aufgearbeitet und zusammengefaßt. MosER weist alle Metaphysik aus dem Gesetz,
indem er ihm eine moralische Bindung abspricht. Als formliche und bloße180 Reichs-
gesetze bezeichnet er, ungeachtet des Inhaltes und dessen Bedeutsamkeit oder der
territorialen und zeitlichen Geltung181, die von Kaiser und Reich im Vergleichs-
verfahren abgefaßten und publizierten Reichsschlüsse, die befehlend Handlungs-

174 HUBER, De jure civitatis 3, 1, 2, 24, S. 559; §§ 30 f., S. 560 u. § 40, S. 562.
175 SCHMA.uss, Corpus juris, Vorwort X ff. III ff. XVII ff.
176 CA.1wzov, Commentarius 3, 1, 13, S. 146.
177 JoH. JACOB MOSER, Von der Landeshoheit im Weltlichen, in: Teutsches Staatsrecht,

Bd. 16/1 (1772), 307; ders., Von der Teutschen Unterthanen Rechten u. Pflichten, ebd.,
Bd. 17 (1774), 12 f.
178 HUBER, De jure civitatis 3, 1, 2, 9, S. 556.
179 JuLIUs SODEN, Geist der peinlichen Gesetzgebung Teutschlands, Bd. 1 (Frankfurt

1792), 8. 15.
180 MOSER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 1, 204.
181 Ebd., Bd. 16/1, 303; Bd. 4/1: Von denen Teutschen Reichs-Tags-Geschäfften (1768),

258; Bd. 1, 196. 198.

886
d) Leges fundamentales, Wahlkapitulationen Gesetz

maßstäbe vorschreiben182. Hinsichtlich der Bindungswirkung sei das Reichsgesetz


im Verhältnis Kaiser und Reichstag (als corpus der vereinten Reichsstände) ein
Vertrag, weil der Errichtungsakt zweiseitig vertraglich ist und die Partner sich
mangels eines gemeinsam übergeordneten Richters gerichtlich nicht belangen kön-
nen; gegenüber Nicht-Partnern, d. h. gegenüber allen einzelnen Reichsständen, ins-
besondere auch den im Reichstag Abwesenden und Überstimmten, ferner den nicht
reichsständischen unmittelbaren sowie den mittelbaren Reichsgliedern, die ins-
gesamt die durch die Gesetzes- und Gerichtsunterworfenheit definierten Reichs-
untertanen ausmachen183, sei das Reichsgesetz jedoch ein einseitig bindendes Ge-
setz184. Die Gesetzgebungsbefugnis soll wie die Dispensationsbefugnis eine gemein-
schaftliche sein 185. Der Kaiser bleibt in der Regel auf die Gesetzesdurchführung be-
schränkt; Moser nennt ihn in eigenwilliger Anwendung eines vorgesetzliQhen ger-
manisch-rechtlichen Begriffs: oustos lcgum et oonstitutionum im;pcrii, womit er
andererseits die Stellung der Landstände alS Mitregenten ausweist1 86 .
d) Leges fundamentales, Wahlkapitulationen. Der zunehmenden Formalisierung der
Reichsgesetze entzi~ht sich eine Gruppe von Normen, die alS lcgcs fundamentales,
seit 1636 auch als Grundgesetz 187 , allgemein hervorgehoben werden. Ihre Abgren-
zung zu den normalen Reichsgesetzen bleibt immer vage; aber RP:it nf':r Wahl-
kapitulation Karls V. von 1519 (§ 2) schält sich ein Kanon von Akten geseLzliche.r,
vertraglicher, staatsrechtlicher oder völkerrechtlicher188 Herkunft und Struktur
heraus: Goldene Bulle, Wahlkapitulation, Religionsfrieden samt Handhabung
(1555), Westfälischer Frieden, Landfrieden (1442, 1495), Passauer Vertrag, Kammer-
gerichts-, Reichshofrats-, Hofgerichtsordnungen, als deren „wichtigste" wiederum
die Goldene Bulle, die Wahlkapitulationen und der Westfälische Frieden 189 genannt
werden. Prinzipielle Strukturunterschiede zu den normalen Gesetzen weisen, wie
auch Moser betont190, diese Akte nicht auf; insbesondere zeichnen sie sich nicht
durch einen „rechtsatzmäßigen Charakter" 191 atis. Die Unterschiede ergeben sich
vielmehr daher, daß die leges fundamentales von besonderer Wichtigkeit für die
Organisation des Gemeinwesens sind, sei es, daß sie in der Rolle des Herrschafts-
vertrages stehen 192, sei es, daß sie alS säkulare Staats und Verfassungsgrundlage
(fundamentum regiminis), al.S vereinbarte und für den Herrscher unvorgreifliche

18 2 Ebd., Bd. 4/1, 258; ebenso f. Landesgesetze Bd. 16/1, 303.


1 83 Ebd., Bd. 17, 3.
1 8 4 Ebd., Bd. 6/2, 451; Bd. 1, 196 f.; Bd. 4/1, 259. 270 f.

185 Ebd., Bd. 6/2, 457. 463; Bd. 16/1, 319.


186 Ebd., Bd. 4/1, 284, gegen Bd. 13/1: Von der Teutschen Reichs-Stände Landen (1769),

839. 843.
187 Wahlkapitulatiou Ft:mliuautls III., Art. 14; lat. Instrnmentum Pacis Osnabrugense,

Art. 17, § 2.
188 Umstritten; vgl. die· Kontroverse zwischen Spener, Titius, Moser, Schmauß· bei

ScBMAuss, Corpus juris, Vorwort, X f. XIX ff.


189 Zuweilen alle (vertragsmäßigen!) Reichsabschiede.

19o MosER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 1, 196.


191 So aber EBERHARD SOHMIDT-ASSMANN, Der Verfassungsbegriff in der deutschen

Staatslehre der Aufklärung und des Historismus (Berlin 1967), 38 f.


192 ALTHUSIUS, Politica 18, § 30, S. 285; ÜTTO, De iure 8, S. 181 (s. Anm.115); HUBER,

De jure civitatis 1, 3, 5, 16 ff., S. 85.

887
Gesetz II. 4. Reichsgesetz und Reichsgesetzgebung der Neuzeit

Machtbegrenzung oder nur als Bestimmungen über die - abdingbare - Regie-


rung<iform betrachtet werden193 • Sie leiten mit der Zeit zu dem einheitlichen Begriff
der Verfassung bzw. des Verfassungsgesetzes über 194• In diesem Maße können sich
die übrigen Gesetze von ihnen sogar begrifflich als 'leges administrationes' ab-
setzen 195 • Während diese fast ohne Diskussion als leges scriptae verstanden werden,
wird zu den leges fundamentales bemerkt, daß sie häufig non scriptae seien196 •
Die nach Inhalt, Herkunft und Struktur heterogenen, formungebundenen leges
fundamentales weisen somit auf einen weiteren Gesetzesbegriff im funktionellen
und substantiellen Sinne.
Die Beurteilung insbesondere der Wahlkapitulationen, die noch Franz II. in seiner
Abdankungserklärung 1806 mit 'Wahlvertrag' bezeichnet197, als leges scheint nur
dann merkwürdig, wenn 'Gesetz' und 'Vertrag' als sich ausschließende dogmatische
Begriffe verstanden werden. Die Bedeutung von „Abspmche" gewinnt das Wort
'capitulatio' im 15. Jahrhundert198, aus welcher Zeit die Wahlkapitulationen der
geistlichen Fürsten als unmittelbare Vorbilder der kaiserlichen datieren. Auf Ver-
einbarungen geht denn auch die Festlegung des Inhaltes zurück; ihr folgt das gegen-
seitige Versprechen (confoederatio) der Kurfürsten und des hinzugezogenen Wahl-
kandidaten, den Inhalt im Fall der Wahl zu bcciden, und schließlich die Beeidung,
die erst die Einhaltungspflicht begründet199 • Der gegen die Kurfürsten gerichtete
Versuch, die Kapitulation auf einem Reichstag abzuschließen und so in das Reichs-
gesetzgebungsverfahren einzugliedem, <1cheitert 200 • Vielmehr treten die Kurfürsten
seit 1653 201 im eigenen imfl irnglAich im Na.men des Reichs auf, dem gegenüber auch
der Eid geleistet wird; als „Abmachung zwischen der Gesamtheit der Wähler und
dem Gewählten" 202 wird die Kapitulation also nicht empfunden. Als eidliche Ver-
pflichtung behält sie die auf die Lebenszeit des Kaisers 203 befristete Geltungs-
schwäche noch, als die Reichsgesetze bereits transpersonale Geltungskraft haben.

193 LIMNAEUS, Additiones, t. 2, 196, ad 1, 12, 19, V f.; DoMINicus ARUMAEUS, Discursus

academici ad Auream Bullam Caroli Quarti 7 (Jena 1617), 13: substantia imperii
einerseits u. BoRTIUS, Discursus de natura 17, in: ARUMAEUS, Discursus academici, 853:
abdingbare Staatsform andererseits.
194 MosER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 1, 196. 198. 204.

lDö 8.AMUEL OBERLÄNDER (Hg.), Lexicon juridicum Romano-Teutonicum (Nürnberg


1726), 437.
196 JoH. STEPHAN PüTTER, Institutiones juris publici Germanici 2, 2, 160 ff., 4. Aufl. (Göt-

tingen 1766), 232 ff.


197 Erklärung des Kaisers Franz L über die Niederlegung der deutschen Kaiserkrone,

abgedr. bei ZEUMER, Quellensammlung, Nr. 217, S. 538 f.


198 RONALD EDWARD LA.TRAM, Revised Med,ieval Latin Word-List from British and

frit1h Sources (London 1965), 70; FEW Bd. 2 (1940), 265 f.; OBERLÄNDER, Lexicon, 106.
199 GERD KLEINHEYER, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen (Karlsruhe 1968), 102.
200 Instrumentum Pacis Osnabrugense, Art. 8, § 3; Entwurf einer Beständigen Wahl-

kapitulation (1711), abgedr. bei ZEUMER, Quellensammlung, Nr. 205, S. 474 ff.
201 Wahlkapitulation Ferdinands IV., zit. FERDINAND FRENSDORFF, Das Reich und die

Hansestädte, Zs. f. Rechtsgesch., germanist. Abt. 20 (1899), 117 f.


202 FRrrz HARTUNG, Die Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser und Könige (1911), in:

ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte (Leipzig 1940), 73.
203 Liste der Wahlkapitulationen v. 1519-1764 bei PüTTER, Institutiones 2, 1, 154, S.

224.

888
II. 5. Reichsgesetz und Landesgesetz Gesetz

Obgleich wegen der nur einseitigen Kapitulationszusagen des Wahlbewerbers Be-


zeichnungen wie 'obligatio Caesarea' eher das politische Diktat der Kurfürsten als
die Vertragsform 204 hervorheben, treten selbst Kaisergegner nicht für eine gesetz-
liche Bindung der Kaiser ein. Von kaiserlicher Seite betont man vielmehr die - für
die Souveränitätsfrage wichtige - Freiwilligkeit der Verpflichtung: daz Wir Uns
. . . aus freiem genedigem Willen mit . . . Ohurfursten . . . gedings - und pactsweise
verainigt, vertragen, die angenomen, bewilligt und zu halten zugesagt haben 205 • Die
Freiwilligkeitsthese soll einer Interpretation entgegenwirken, die in der Wahl-
kapitulation nicht nur eine Beschränkung der (unabgeleiteten) Herrschermacht,
sondern Bedingung und konstitutives Element der Herrschaft sieht. Die Kapitula-
tion wird nämlich von zahlreichen Schriftstellern bis in das 18. Jahrhundert mit der
römischen lex regia 206 verglichen 207 und zur staatsvertraglichen Grundlage der
Herrschafts(potestas) - oder enger 208 : der Administrationstranslation vom Volk
auf den Kaiser erklärt, von wo der Weg zur Bindung modo subjectionis nicht mehr
weit scheint. Demgegenüber wird die Vertragstreue als Grund der Bindung betont 209 .
Die Charakterisierung der Wahlkapitulation als lex ist dann nur materiell zu ver-
stehen, insoweit sie wegen ihrer Bedeutung als Verfassungsgrundlage alle betrifft
und sachlich hindet210.

5. Reichsgesetz und Landesgesetz; leges generales, leges particulares


Reichsgesetz und Reichstagskompetenz sind inhaltlich nicht charakterisiert; in-
haltliche Kriterien tauchen überhaupt nur bei den leges fundamentales beschreibend,
aber nicht rechtsfolgeerheblich auf. Dennoch meinen alle, die unspezifisch von Ge-
setz und Gesetzgebung sprechen, die leges universales (= generales, communes, all-
gemeine), denen die leges particulares (= speciales, besondere) gegenübergestellt
werden. Derartige Begriffspaare gehen letztlich auf die nachgratianisch-kanonisti-
sche Privilegienliteratur zurück, die privilegia generalia und specialia/communia,
näherhin auch generalia-provincialia und daneben perpetua-temporalia unter-
scheidet211. Wie 'communis' meint 'universalis' bei vielen Schriftstellern die Gesamt-
einwirkungsbefugnis von Kaiser und Reichsständen. HUBER definiert in diesem
Sinne: ab universa republica vel potiori parte recepta, perinde ut lex a toto populo
fertur, und HoRN verbindet die recessus universales mit den allgemeinen Reichstagen
und die recess·us particulares mit diaetae partic-ulares 212 • Dem ähnlich kann die
264 LlMNAEUS, luris publici libri 1, 12, 7; bes. die bei RUDOLF HoKE, Die Reichsstaats-

rechtslehre des Johannes Limnaeus (Aalen 1968), 122 zitierten Äußerungen.


200 Wahlkapitulation Karls V. (1519), Vorspruch.
206 U. a. Institutiones Justiniani 1, 2, 5; Dig. 1, 4, 1, 1.
207 Erstmals FmDEmous HORTLEDER, Capitulationis regiae commentatio (1609), zit.

Politica imperialia, hg. v. MELCfilOR GOLDAST (Frankfurt 1614), 612.


208 BRAUTLAOHT, Epitome 1, 1, § 16, s. 5.
209 HORN, luris publici 11, 3, S. 98. CARPZOV, Commentarius 12, 2, 5, S. 859.

210 HORN, luris publici 11, 3, S. 98 f.


211 Zuerst RUFINUS in seiner Summa. ciArmit.orum (ca.. 111\7-59), dann bes. HosTIENSIS:

Nachweise bei LINDNER, Privileg, 34. 36. 39 f.


212 HUBER, De jure civitatis 3, 1, 2, 16, S. 558; § 55, S. 565; Hoit.N, luris publici G, 8, S. 66 f.

Ferner LIMNAEUS, luris publici libri 1, 10, :!~; CARPZOV, Commentarius 3, 1, 1 ff„ S. 145 f.;
12. 2, 16, s. 860; PAURMEISTER, De iurisdictione 1, 21, 8, s. 230.

889
Gesetz Il. 5. Reichsgesetz wid Landesgesetz

Herkunft vom Gesamtreich bzw. Gesamtvolk gemeint sein 213 . Insbesondere indi-
ziert 'universalis' das - personal-allgemein -- für alle, und zwar je nach Stoß-
richtung: Laien wie Kleriker, Richter, Reichsstände, Reichs- und Landesunter-
tanen214, und/oder das - territorial-allgemein - für das Gesamtherrschaftsgebiet
wie im kaiserlichen Rom geltende Gesetz 215 .
Die Gegenbegriffe kommen aus verschiedenen Richtungen. Zum einen stehen den
leges universales publicae die privilegia, d. h. die leges privatae gegenüber, die private
Belange betreffen 216 und die nach P AURMEISTER in personas singulas sunt con-
ceptae217, weshalb sie auch leges personales 218 - sei es für einzelne, sei es für Grup-
pen, z.B. nur für protestantische Fürsten, - genannt werden. Die mit der Ein-
ordnung in die Reichsgesetzgebung bereits erschwerte Abänderbarkeit von Privi-
legien wird zusätzlich durch deren Bestätigungen in Wahlkapitulationen versagt.
Die Landesprivilegien hingegen stehen zur Disposition rlflr T,andesherrn, sofern sie
nicht vertraglich gesichert oder der notwendigen Mitwirkung der Landstände vor-
behalten sind. Mitte des 18. Jahrhunderts wird-der Zweck der Privilegien statt wie
bisher in der Abweichung vom gemeinen Recht darin gesehen, daß sie um des ge-
meinen Besten willen von der Gleichheit der Bürger durch Beschränkung oder Er-
weiterung ihrer Freiheit(en) abweichen 219 . Hier kündigt sich ein Topos für die Ein-
ebnung der Privilegien in der StaatsbürgergesefülchafL an, die das gemeine Beste
nicht mehr in Klassenunterschieden versteht.
Diese im Reichsstaatsrecht erst im 17./18. Jahrhundert hervortretenden Begriffs-
paare sind am französischen Königshof schon Ende des 16. Jahrhunderts entwickelt.
CHARONDAS LE CARON gruppiert die loix generales in die loix universelles, die einer-
seits den Gesamtzustand des Staates sowie personell alle Bürger, und zwar sachlich-
allgemein und für die Zukunft, betreffen,. ferner in die nur einen Teil des Staates
betreffenden lois particulaires, die sich von den Privilegien wiederum durch ihre
Ausrichtung am Gemeinwohl abheben 22 0. Bei Charondas finden sich vor allem erst-
mals die Begriffe 'Zeit- und Maßnahmegesetze': loix ou ordonnances temporaires 22 1,
die in Deutschland erst ein Jahrhundert später bewußt werden 22 2 als besondere,
aber mit dem Gesetzesbegriff nicht selbstverständlich zu vereinbarende Arten von
Gesetzen 223 • Das im Hinblick auf die Bedeutsamkeit seines Inhaltes auch zeitlich
„allgemein" dauernde 224 Gesetz steht nämlich bei aller Rinsicht in die zweck- und

21 9 .ALTHUSIUS, Politica 18, § 55. § 76, S. 152. 302.


214 MosER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 6/2, 451.
215 HoRN, Iuris publici 5, 8, S. 66 f.; STEPHANUS, Tractatus 2, 1, 1, 2, 14. 16, S. 45; MosER,

Teutsches Staatsrecht, Bd: 13/2, 1183; Bd. 16/1, 192. 316.


2 16 STEPHANUS, Tractatus 2, 1, 1, 2, 41, S. 47; TITIUs, Specimen 1, 4, 3.
217 PAURMEISTER, De iurisdictione 1, 4, 16 f., s. 46.
2 1s LIMNAEllS, Additiones, t. 2, 274, Appendix ad 1, 10, 102.

219 JoACHIM GEORG DARIES, Institutiones iurisprudentiae universalis, § 709 a, 5. Aufl.

(Jena 1757), 405.


22° CHARONDAS LE CARON, Pandectes 3 (1596), 33. 36. 39 (s. Anm. 91).
221 Ebd. 3, S. 40.
222 T:ITIUs, Specimen 1, 4, 3; MoSER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 1, 198.
229 Vgl. Anm. 222.
2 u PüTTER, Institutiones 2, 2, 160, S. 232.

890
II. 5, Reichsgesetz und Landesgesetz Gesetz

umständebedingte Machbarkeit 225 im Vordergrund, obwohl sich andererseits seine


Geltungsdauer auf keine theologisclie, sondern nur efru~ politisclie und moralische
Ewigkeit 22 6 richtet.
Der dritte Gegenbegriff ist territorial geprägt. Leges prpvinciales (= particulares)
heißen einerseits die auf Kreistagen o. ä. 227 , andererseits die von den landesfiirst-
lichen Obrigkeiten ohne kaiserliche Konfirmation, aber nach Maßgabe der Landes-
verfassungen228 mit Zustimmung der Landstände für das Landesgebiet :--- lex
territorialis 229 - und die in ihm befindlichen Menschen 230 erlassenen Gesetze. Sie
sind bereits deutlich den - jetzt vorwiegend 'statuta' heißenden - leges municipales
vorgeordnet231 . Unterschiedlich wird hingegen das Verhältnis der leges provinciales
zu den Reichsgesetzen beurteilt. Nach unbestrittener Vorrangigkeit werden erstere
zunächst auf die bloße InterpretaLiun letzterer beschränkt und schließlich von
Mrnrim als nachrangig eingestuft. Aber wenn Moser vorsichtshalber fragt, ob das
Reichsgesetz überhaupt derogieren wolle 232, zeigt sich die Disproportionalität zwi-
schen dem angeblichen reichsgesetzlichen Vorrang und der Territorialisierung des
Reichs. Mosers Hinweis auf reichsgesetzliche Pflichten zu landesgesetzlichen Er-
gänzungsbestimmungen233 beweist eher die Regelungsunfähigkeit des Reiches. Als
födera.tive Kompetenzfrage löst endlich Pütter das Rangproblem23 4.
Obwohl die Gesetzgebung der Territorien die des Reichs an Bedeutung überholt,
wird sie in der Literatur zunächst nur nebenbei und analog der kooperativen Reichs-
gesetzgebung begriffen. Zum entscheidend TIA1111n Gesichtspunkt wird aber die Tat-
sache, daß der Landesherr als Quelle des Gebotsrechts in den Vordergrund tritt, bei
absolutistischer Herrschaft selbstverständlich, aber auch dann, wenn er an eine
ständische Mitwirkung gebunden ist. In dogmatischer Hinsicht wird nämlich die
Gesetzgebungsgewalt in den Territorien nicht wie im Reich als vereinzeltes Hoheits-
recht, sondern als - wichtigster - Teil der seit 1648 förmlich anerkannten, ein-
heitlichen und ungeteilten Landeshoheit behandelt und deshalb im Zweifel mit
dieser dem Landesherrn allein zugestanden 235, und zwar hinsichtlich. der facultas
leges concipiendi wie der promulgandi 236• Mit den modernen französischen Termini

225 Gegen ein lex in perpel·@rn 'Valil·ura: HEINRICH ALBERT ZACIIAIUÄ, Doutaohea Staats-

und Bundesrecht, Bd. 2 (Göttingen 1842), 90 (§ 126).


226 MosER, Von der Landeshoheit derer TeutschenReichsstände überhaupt, in: Teutachea

Staatsrecht, Bd. 14 (1773), 50 ff.


227 Wie HoRN auch PüTTER, Institutiones 2, l, 156, S. 226.
228 Ausführlich zu den einzelnen Territorien MosER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 16/1,

194 ff. 308 ff. 361 ff.


229 PüTTER, Inatitutionea 5, 1, 331, S. 444.
230 STEPHANUS, Tractatus 2, 1, 7, 324. 342, S. 222. 224 mit§ 1, S. 192 f.
231 Ebenso den auf autanomia beruhenden Familienverträgen ( statuta): PüTTER, Institutio-

nes 5, 1, 328, S. 442 .


. 2 s 2 MOSER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 14, Vorwort u. 9; Bd. 13/2, 1181 ff.
233 Ebd., Bd. 16/1, 304; Reichspolizeiordnung (1577), Tit. 15, §§ 4. 8.

234 PüTTER, Institutiones 5, 1, 218, S. 203.


235 l\fosER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 16/1, 192 f. 305. 200 f.; Bd. 16/6: Von der Landes-

hoheit in J:'olicey-Sachen (1773), 8; ALR Tl. 2, Tit. 6, § 13.


· 238 Trrms, Specimen 3, 1, 12. 15.

891
Gesetz Il. 5, ReichsgP.sP.tz und Landesgesetz

wird der Souverän so zum Verwahrer des allgemeinen Willens 237 und kann diese
Funktion später an den „Staat" abgeben, in dem die Gesetze reden und der Souverän
... schweigen muß 238 . Die inhaltliche Richtigkeit dieser Gesetze hängt trotz..:__ oder
wegen - einer an Gemeinwohl und Glückseligkeit orientierten eudämonistischen
Gesetzesauffassung, wonach Gesetze die zur Erreichung des Endzwecks notwendigen
Vorschriften oder Regeln 239 seien, letztlich an der Person und Amtsauffassung des
Fürsten; prinzipiell aber ändert sie sich funktional zur Gesellschaftsentwicklung239•.
Während die historische Rechtsschule gegen solche Funktionalisierung und Zweck-
rationalisierung der Gesetze in der Hand des absoluten Fürsten auf die geschichtliche
Lebensordnung der Rechtsgemeinschaft zurückgreift, will das ALR einen rechts-
staatlichen Gesetzesbegriff durch das Verbot von Machtsprüchen sowie von Sonder-
und rückwirkenden Gesetzen, durch die Einrichtung der Gesetzeskommission, durch
die Unterstellung des Königs unter die Gesetze usw. stabilisieren. Daß die Landes-
gesetze - auch bei Betonung des Rechtszwecks - Befehlsakte gegenüber allen
Untertanen ohne Standesunterschied sind, setzt sich als allgemeine Ansicht, beson-
ders in Preußen, durch; die Vereinbarungsaspekte treten zurück, zumal die stän-
dischen Mitwirkungsrechte in zahlreichen Territorien abgeschafft oder auf eine nur
vorberatende Mitspra.che abgedrängt werden 240 . Der reichsrechtliche duali~tische
Gesetzesbegriff wird hier durch einen monarchisch-hoheitlichen weitgehend ersetzt.
Soweit sich die ständische Mitwirkung hält, führt sie zu einer Zweiteilung der Gesetz-
gebungsmaterien, die im Prinzip von der frühkonsLitutionellen Gesetzeslehre auf-
genommen werden wird. Beispielhaft unterscheidet der Landesvergleich des Herzogs
zu Mecklenburg-Schwerin mit seiner Ritter- und Landschaft von 1755 (§§ 192 ff.)
zwei Klassen von Landesordnungen und Oonstiti~tiones: erstens, die die landes-
herrlichen Ämter, Domänen und Kammergüter samt eingesessenen Untertanen
sowie die Beamten betreffen; zweitens, die, welche unsere gesamte Lande, mit ln'li-
begriff der Ritter- und Landschaft, angehen. Die zur ersten Klasse gehörenden Ver-
ordnungen, Gesetze ,und Oonstitutiones - also nicht nur Verordnungen - kann der
Herzog nach Willkür erlassen. In der zweiten Klasse bedürfen die Verordnungen
und Gesetze, die die wohlerworbenen Rechte und Befugnisse der Ritter-und Land-
schaft ändern, aufheben, ihnen widersprechen, der ausdrücklichen ständischen Be-
willigung, während RechtRsetzungen, die insoweit gleichgültig sind, sich abei: doch

237 CARL GoTTLIEB Sv.A.REZ, Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Hermann Conrad u.

Gerd Kleinheyer (Köln, Opladen 1960), 467; NICOLAUS THADDÄUS GÖNNER, Teutsches
Staatsrecht, § 275 (Landshut 1804), 423.
238 Politisches Testament Friedrichs II. v. Prnußen (1752), zit. WILHELM DILTHEY, Das

allgemeine Landrecht, Ges. Sehr., 3. Aufl., hg. v. Erich Weniger, Bd. 12 (Stuttgart,
Göttingen 1964), 202.
239 Westgalizisches Gesetzbuch (1797), 1, § 8; ERNST FERDINAND KLEIN, Über die Ver-

einigung der Simplicität der Gesetze mit der Vielseitigkeit des Gesetzgebers, in: Annalen
der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Pr1mßischen Staaten, hg. v. ERNST
FERDINAND KLEIN, Bd. 24 (Berlin, Stettin 1806), 70.
239• ROLF GRAWERT, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts,
Der Staat 11 (1972), 9 ff.
240 MOSER (vgl. Anm. 228).

892
Il. 5. Reichsgesetz und Landesgesetz Gesetz

auf das ganze Land beziehen, mit den Ständen nur beraten zu werden brauchen2 4 oa.
MosER sieht in dieser Interessenaufteilung ein allgemeines Prinzip; er übernimmt
dabei, in völliger Umkehr des alten Willkürbegriffs, die Bezeichnung 'Gesetz nach
Willkür' für die mitwirkungsfreien Gesetze 241 •
Diese Bereichsbeschreibung teilt zwar keineswegs den Gesetzesbegriff auf, ·enthält
aber insoweit einen politischen Anspruch, als sich die Gesetzgebung auf „allgemeine"
Gesetze 242 im Gegensatz zu „besonderen", d. h. bestimmte Landesteile, Stände,
Personen und Handlungen betreffenden Gesetze, erstrecken soll. Diese Begrenzun..:
gen sind ständisch und rechtsstaatlich motiviert. Sie zielen zum einen auf die Ab-
straktheit des Gesetzes und meinen das Gesetz als fallabstrakte Regel zur Beurtei-
lung von Handlungen 243 i. S. eines pandektistisch-rechtssystematischen Gesetzes-
begriffs, der sogar fall- und personenspezifische Verordnungen des Landesherrn von
sich absetzt 244; obgleich solche Differenzierungen staatsrechtlich bedeutungslos sind,
solange die N ormgebung institutionell z. B. beim absoluten Herrscher mit sonstigen
Handlungsbefugnissen zusammen monopolisiert ist 245 •
•Jedoch auch für diesen ist die territoriale Allgemeinheit der Gesetze ein entscheiden-
der Gesichtspunkt bei der tatsächlichen Erringung der Landeshoheit. Rechtsherr-
schaft, Rechtsintegration und Rechtssicherheit setzen eine Gleichförmigkeit derer
Rechte in seinem Land 246 voraus, die letztlich erst erreicht wird, als die Provinzial-
rechte und Herkommen mit der stärkeren Mobilität der Menschen in der spät-
ständischen, frühbürgerlichen Gesellschaft ihre ortsgebundene Evidenz und Auto-
rität verlieren. Der Rechtseinheit dienen seit dem 16. Jahrhundert sammelnd-
abstrahierende „Revisionen", die seit dem 18. Jahrhundert durch eine Unzahl von
sozial- und wirtschaftsgestaltenden Zunft-, Polizei- etc. Ordnungen ergänzt werden.
Insbesondere die Polizeiordnungen können, weil sie wegen ihres Inhaltes zunächst
nicht als „Recht" gelten, vom Landesherrn „administrativ" 247 erlassen werden.
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts stehen infolgedessen Gesetz- und Polizeinormen
funktionell relativ unverbunden nebeneinander; sie sind zudem durch die Vorstel-
lung von Hoheitsbereichen getrennt. Seit dem 16. Jahrhundert entstehen daneben
umfassende „Landrechte" und „Landesordnungen". Erstere beinhalten ursprüng-
lich die Rechte des „Landes", letztere zeichnen sieh eher dul'Ch ihren herrschaft-

24 oa Abgedr. in: Mecklenburgische Urkunden und Daten, hg. v. H. SACHSSE (Rostock

1900), 496 f.
241 MOSER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 16/1, 308 (vgl. 305) u. Zitat v. § 192 des Vergleichs

im Anh. zu c. 4, ebd„ 375 ff.; ebenso KARL FRIEDRICH HAEBERLIN, Handbuch des Teutschen
Staatsrechts, Bd. 2 (Berlin 1794), 164; JusTUS CHRISTOPH LEIST, Lehrbuch des teutschen
Staatsrechts, § 109, 2. Aufl. (Göttingen 1805), 343.
242 Codex Maximilianeus Bavaricus 2, §§ 13 f.; ALR Einleitung, §§ 5. 22.
243 AL.!{ Einleitung, §§ 85. 87; dazu BöCKENFÖRDE, Gesetz, 80 ff.

244 ERNST FERDINAND KLEIN, System des Preußischen Civilrechts, § 22 (Halle 1801), 18;

LEIST, Lehrbuch, §§ 105 f„ s. 324. 326 f.


245 Vgl. den Bezeichnungskatalog bei LEIST, Lehrbuch, § 109, S. 343, Anm. 11.
246 MOSER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 16/8: Von der Landeshoheit in Ansehung der

Unterthanen Personen und Vermögens (1773), 160ff.; Publikationspatent zum ALR v.


5. 2. 1794 (sub VI).
247 Vgl. ALR TI. 2, Tit. 6, § 13.

893
Gesetz ß. 6. Einwirkung dr.R nat11rwiR11r.nR11haft.lieheo Geaetzesbegrift's

liehen Erlaß aus; erst später - so bei Moser 248 - werden die ersteren mit privat-
rechtlichen; die letzteren mit öffentlich-rechtlichen, vor allem polizeirechtlichen,
Regeln identifiziert. Ob sich ansonsten 'Gesetz' und 'Ordnung' darin unterscheiden,
daß jene an Bürger, diese an Gerichte adressiert sind, ist bis ins 17. Jahrhundert zu
verneinen und für das 18. Jahrhundert wegen zahlreicher Synonymverwendungen
fraglich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts finden die Territorialstaaten zu um-
fassenden staats- und sozialgestaltenden Kodifikationen, deren bedeutendste, das
Allgemeine Gesetzbuch (1791) bzw. das Allgemeine Larulrecht für die Preußischen
Staaten (1794), als feste, sichere und fortdauern<le ... Grurulverfassung 249 Preußens
konzipiert ist. Selbst zu Gesetzen ermächtigend, gilt es häufig als das Gesetz schlecht-
hin20o. Aber wie der „Codex Maximilianeus Bavaricus" kommt das ALR nur zu
subsidiärer Geltung, was zu dem Paradox führt, daß das „allgemeine" Gesetz als
Ausnahme- und die „besonderen" Gesetze als Regelgesetze gelten 261 • Grundsätzlich
ist am Ende des 18. Jahrhunderts das Gesetz als rationaler, positiver, genereller
(abstrakter), imperativer, funktionalisierbarer Rechtsakt ausgebildet; sein pro-
zessual-institutioneller Aspekt hängt von der Struktur und Macht des Gesetzgebers
ab: im föderativen Reich dualistisch-föderativ, 'in den Territorien monarchisch-
hoheitlich mit der Tendenz zum transpersonalen Staatsgesetz.

6. Einwirkungen des naturwissenschaftlichen Gesetzeshegriffs

Das positive Gesetz des weltlichen Gesetzgebers entspricht im Prinzip dem des
göttlichen Gesetzgebers, das im traditionellen Naturrecht häufig als Naturgesetz
auftritt. Gemeinsam ist beiden vor allem der normative Charakter. Von diesem
Sinngehalt hebt sich seit dem 17. Jahrhundert ein neuer Begriff des Naturgesetzes
ab, der wesentlich von den Erkenntnissen der Mathematik und Physik dieses und
des vorhergehenden Jahrhunderts geprägt wird. Methodisch und der Sache nach
werden diese Wissenschaften begri:ffsmaßgebend mit ihrem kausalen Folgern und
Konstruieren, mit der empirischen Beweisführung sowie mit der Entdeckung u. a.
der Infinitesimalrechnung und der mechanischen Bewegungsgesetze. Vor allem die
letzteren beflügeln das Denken der Zeit zu Gesetzmäßigkeiten, die in der Fülle der
Erscheinungen Ursache und Regel zeigen; sie nähren den Gla1tben .. a,n die
nivellierende Idee der mechanischen Natur 252 • Als Schlagwort dringt 'Bewegungs-
gesetz' auch in die Sprache anderer Wissenschaften und bringt es, in häufiger Ver-
wendung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, bis zur begrifflichen Identifizierung
mit 'Naturgesetz'. Werden im 17. Jahrhundert die Naturgesetze der neuen Natur-
wissenschaft noch vorsichtig Gott als der Primärursache zugeschrieben, so findet
sich das metaphysische Zitat im 18. Jahrhundert vielfach durch Berufung auf
Descartes ersetzt.

248 MOSER, Teutsches Staatsrecht, Bd. 16/1, 303.


249 SvAREZ, Vorträge, 635.
2 so Publikationspatent zum ALR v. 5. 2. 1794 (sub VIII).

251 Dazu REINHART KosELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution (Stuttgart

1967), 39 ff.
252 ERNST BLOCH, Naturrecht und menschliche Würde (Frankfurt 1961), 71.

894
D. 6. Einwirkung des naturwissenschaftlichen Gesetzeshegrift's Gesetz

Die erste oodeutsame Übernahme der neuen Methoden in die Sozialwissenschaften 2ss
~rfolgt Mitte des 17. Jahrhunderts durch Hobbes. Wo HoBBES dann freilich von
'natural law' spricht, deduziert er aus Handlungszwecken statt aus -ursachen und
gelangt so eher zu einem Begriff im Sinne der alten „recta ratio" 254 - wie über-
haupt methodischer Anspruch und traditionelles Vorverständnis sich in der Folge-
zeit bei zahlreichen Naturrechtlern widersprechen. Mit ausdrücklichem Bezug auf
Descartes' mechanische Gesetze sieht RICHARD CuMBERLAND auch die Bewegungen
der Seele und der sozialen Körper, durch eine ursprüngliche Ursache angeregt,
perpetuellement determinez, selon certaines Loix, par cette impression constamment
continue, wie sein Übersetzer Barbeyrac, im wesentlichen zustimmend, formuliert 25 5.
Repräsentativ für eine neue Naturrechtsgeneration mit und nach sich will Cumber-
land diese Gesetze durch Beobachtungen und El'.perimente erkennen und theore-
tisch ausdeutim. Tn iliARAm Rinnfl nii.turwissenschaftlich nachempfundener Exaktheit
und Evidenz begreift er die Naturgesetze der Moral als unwandelbar. Gesetzmäßig-
keiten des sozialen Gefüges wie z. B. die Subordination von Menschen unter Men-
schen und Gesetze werden mit vergleich baren Gesetzen der Mathematik und Physik
begründet. Diese Sicht neigt leicht zur Verfestigung politisch-sozialer Strukturen.
Auch die „Encyclopedie" rechnet etwa daR l'ThAr-Unterordnungsmodell wegen
seines für das Fw.ikLiw.lltlnm Jer Gesellscl111.ft 11.11geblich e1111entiellen Charakters zu
derartigen unveränderlichen = „natürlichen" Gesetzen 256 und verdeutlicht die
solchen Funktionsargumenten inneliegende Gefahr.
Als Gegenbegriff jener sozialen Naturgesetze erscheinen in beiden Quellen die poli-
tischen, arbiträren Gesetze. Damit wird ein tieferer als nur methodischer Zusammen-
hang von naturwissenschaftlichem Vorbild und politischer Doktrin sichtbar;
MoNTESQUIEU hebt ihn bewußter hervor, wenn er vergleicht: Que les legislateurs
ordinaires nous proposent des lois pour regler les societes des hommes; des lois aussi
sujettes au changement que l' esprit de ceux qui les proposent, et des peuples qui les
observent! Ceux-ci ne nous parlent que des lois generales, immuables, eternelles, qui
s' observent sans aucune exception avec un ordre, une regularite et une promptitude in-
-(inie, dans l'immensite des espaces 257 • Wendungen wie diese zeigen, daß die Bewun-

268 :ilur allgemeinen Geschichte dieses Einflusses vgl. DIETER v. S•1•.l:!JJ:'~1·1•:i;, ExakLe

Wissenschaft und Recht (Berlin 1970), bes. 52 ff. 113 ff. Zu den naturwissenschaftlichen
Begriffen von Natur und Naturgesetz vgl. vor allem HERIBERT M. NoBIS, Frühneuzeit-
liche Verständnisweisen der Natur und ihr Wandel bis zum 18. Jahrhundert, Arch. f.
Begriffsgesch. 11 (1967), 37 ff.; vgl. auch HANS ScHillIANK, Der Aspekt der Naturgesetzlich-
keit im Wandel der Zeiten, in: Das Problem der Gesetzlichkeit, hg. v. d. Joachim-Jungius-
Gesellschaft, Bd. 2 (Hamburg 1949), 139 ff.
au HOBBES, De cive (1642), Vorwort an den Leser; Leviathan (engl. 1651), Introduction
u. o. 5. 6 gegen c. 14; dazu LEO STRAUSS, Naturrecht und Geschichte (Stuttgart 1956),
180. 186 ff.
ai;i; ProgrammaLiHeh uer TiLel: RroHAitD CUMBERLAJ.'\D, Tra.ite philosophiquo doa loix
naturelles, ou l'on rcohoroho ot l'on 6to.blit, po.r lo. nature des choses, la forme de ses loi:x:,
leurs principaux chefs, leur ordre, leur publication et leur obligation: on y refute aussi
les elements de la morale et de la politique de Thomas Hobbes (1672), übers. v. Jean
Barbeyrac (Amsterdam 1744), 9. 34. 38. 41. 389.
25s Encyclopedie, 3• ed., t. 20 (1778), 261, Art. Loi.

257 MoN'l'ERQmETT, Lettres persanes, lettre 97.

895
Gesetz II. 6. Einwirkung des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegrift's

derung für die exakten Wissenschaften und die ständige Betonung der Unwandel-
barkeit der Gesetr.e nir.ht ohne Gewinn fi.-Lr die politische Ausein11ndomcL»ur1g mit
dem positiven Gesetzgeber und mit dessen Maßstäben gewesen ist. Die andere Spitze
ist gegen die Theologie als V-erwalterin metaphysischer ewiger Gesetze gerichtet.
Beide Zielrichtungen werden später von Condorcet hervorgehoben, der sich dabei
u. a. auf Bacon's Methodik beruft 258 • Das Begriffsverständnis ist damit zum Jahr-
hundert früher eigentümlich verkehrt; denn folgt man Blumenbergs Interpretation,
dann begriff Bacon die unveränderlichen ordinances and decrees im Universum in
Analogie zum politischen Gesetz, das ebenfalls nicht voll einsehbar erschien 269 •
Die Analogie zur naturwissenschaftlichen Gesetzeserkenntnis führt Montesquieu
über den engeren politischen Bereich hinaus vor allem auf das Gebiet der Geschichte.
Deu Geist der Gesetze, der jedem Volk, jeder Regierungsform angemessen ist, be-
stimmt er u. a. durch historische Belegreihen, <lie Rir.h 7.U Gesetzmäßigkeiten (prin-
cipes) fügen. Er sr.höpft sie, wie er seinen Zeitgenossen versichert, nicht aus Vor-
urteilen, sondern aus der nature des choses 260 • Differenziert wie diese sind die ent-
sprechenden Gesetzmäßigkeiten, doch in Rich stringent; im Vergleich sind sie also,
abhängig jeweils von ihrer raison primitive, relative Gesetzmäßigkeiten. Montesquieu
hebt diese Relativität hervor, wenn er definiert: Les lois, dans la signification la plus
6tcnduc, sont les 1·0;ppm·ts nrfoessa·ires qwi de'f'ivent de la nature des choses et, dans ce
sens, tous les €tres ont leurs lois, einschließlich Gott. Diese Gesetze stehen nicht zur
Disposition; sie sind in sich invar·iables unJ oun1Jtantcs2 61 ; denn sie drücken „Not-
wendigkeiten" aus, wie er mit einem viel verwendeten Schlüsselwort sagt. Mon-
tesquieu unterscheidet näherhin Strukturgesetze, die sich auf die nature einer Sache,
und Wirkungsgesetze, die sich auf ihr principe beziehen 262 • Die historischen und
sozialen Gesetzmäßigkeiten vollziehen sich ursachengemäß. Wie Klima, Gebiet,
historische Daten usw. ist auch die Zeit eine konkrete, punktuelle Ursache für kon-
krete Wirkungsabläufe; aber sie betont noch nicht die Evolutionsperspektive in die
Zukunft.
Montesquieus Methode und Begrifflichkeit werden vielfach übernommen 263 • Auf
allen Gebieten werden konkrete Regelhaftigkeiten zum Objekt und zur Grundlage
Jer F01"i;chuug. Der Wechsel vom mechanischen zum organischen Modell läßt die
Konkretisierung der historischen und politisr.hen (}ei:;11b:mäßigkeit bewußter werden.
In der zweiten Hälfte und gegen Ende. des 18. Jahrhunderts entwickelt sich der
zeitliche Evolutionsgedanke im Begriff des Gesetzes. In Frankreich faßt CoNDORCET
die lois necessaires ausdrücklich als Entwicklungsgesetze auf. Aus den Erfahrungen
der Vergangenheit will er Regeln für den Fortschritt der Gesellschaft ziehen, die
z.B. etwas über die Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Völkern und zwi-
schen den Menschen oder über deren Vervollkommnung aussagen. Mit der kalkula-

aos Co.NVO!WET, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain (1794),
hg. u. übers. v. Wilhelm Alff (Frankfurt 1063), 246 f.
269 HANS BLlTllflilNRF.Rn, nie Legit.imit.ät der Neuzeit (Frankfurt 1966), 380.

2so MoNTESQUIEU, De l'esprit des lois, Preface.


261 Ebd. 1, 1 u. 2.

26 2 Ebd. 3, 1; im Preface erscheint 'principe' i. S. von „Gesetzmäßigkeit".


263 Vgl. z.B. Dt. Enc., Bd. 12 (1787), 145 f., Art. Gesetz. ~ahlreiche verwandte Belege

auch der nachfolgenden Zeit bei STEPHANITZ, Exakte Wissenschaft, 135 ff.

896
II. 6. Einwirkung des naturwissenschaftlichen GesetzesbegrUfs Gesetz

torischen und kombinatorischen Präzision der Mathematik soll der Gang der Dinge,
la marche, auf den Gebieten der Moral und Politik analysiert und vorausberechnet
werden 2 64, In Deutschland hofft KANT, in der Vielfalt der geschichtlichen Er-
scheinungen einen regelmäßigen Gang, d. h. beständige Naturgesetze, aufzuspüren und
auf diesem Gebiet Kepler und Newton nachvollziehen zu können. Er argumentiert
kausal-mechanisch; seine Beweise gründen auf Erfahrung. Geschichte begreift er als
Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur nach Art eines - überdimensionierten
- Kreislaufs, der sich freilich in einer Vervollkommnung schließen wird 265 • Herder
wirft er vor, nicht beobachtete, sondern gemutmaßte Gesetze der Menschheit zu
entwerfen 266 • Aber wenn er auch Herders Hypothese unsichtbarer Kräfte hinter den
sichtbaren Gesetzen verwirft, so unterscheiden sich doch die von beiden benutzten
Degrill'e kaum. Aueh lIERDER sp1·iehL vun ewigen Gesetzen, die allgemein und der Will-
kür der Menschen entzogen sind und die mit der Zeitenfol,ge stetig zu einem Fortgange
der Menschen und Völker führen 267 • ·
Mit dem Glauben an solchen gesetzmäßigen Fortschritt verbreitet sich auch das zu-·
gehörige Begriffsverständnis. Im 19. Jahrhundert läßt sich auch insoweit eine ver-
mehrte Verwendung feststellen. Eine neue Variante führt über den bisherigen
human-idealistischen Aspekt hinaus zu sozialrevolutionären Perspektiven. PIERRE
J OElI!JPII PnounnoN spricht von don Gonotzon dor ·rovolutionäron Dialolctilc, woloho Ro
gierungen und aesellschaften leiten, ohne daß sie es wissen 268 • KARL MARX beschreibt
die N atu.rge.setze der lcapi:tah:sti:schen ProduJction, die sich mi:t eherner Notwendig Tcei:t
durchsetzen; er beweist das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft
in seinen naturgemäßen Entwicklungsphasen der dialektischen Umwandlung 269 •
ENGELS grenzt ausdrücklich diesen Begriff der dialektischen Bewegungsgesetze, den
er selbst dem Gesetz der historischen Entwicklung appliziert, von der mechanischen
Vorstellung ab, die das 18. Jahrhundert demselben Wort unterlegt habe. Darwin
wird programmatisch Newton gegenübergestellt, dessen Hypothese konstanter Ver-
hältnisse - die ja auch den ökonomischen Naturgesetzen der Physiokraten zu-
grunde liegt - der Annahme eines Entwicklungsfortschritts entgegenstehe, d. h.,
daß das bisherige Kriterium der Unabäuderlichkeit um das Merkmal der Konstanz
el'leichLert wird. Die The.ie vuu der Ge1wkicltle in der Ze-il 210 eri;eLzL 111echa11ii;che
Begriffsvorbilder wie den Kreislauf.
Dieser Neuansatz wirkt weit über das 19. Jahrhundert hinaus in dem Begriff der
sozialistischen Gesetzlichkeit, wie er der marxistisch-leninistischen Rechtslehre zu-
grunde liegt. Die einstige Unabdingbarkeit wird jetzt stärker im Zeitmaßstab re-

264 CoNDORCET, Esquisse, 344 ff. 349. 376.


265 KANT; Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784),
AA Bd. 8 (1912), 17 ff.
266 Ders., Rez. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784),

ebd., 45.
267 HERDER, Ideen zur Philosophie der Gesohiohte der Menschheit (1781), SW Bd. 13
(1887), 47; Bd. 14 (1909), 235 f.
268 1'IERRE JOSEPH PROUDHON, Bekenntnisse eines .i{evolutionärs, hg. v. Uünter Hillmann

(Hamburg 1969), 184.


269 KARL MARX, Das Kapital, MEW Bd. 23 (1962), 15. 789 ff.
27 ° FRIEDRICH ENGELS, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft

(1877), MEW Bd. 19 (1962), 207.

57-90386/1 897
Gesetz Il. 6. Einwirkung des naturwissenschaftlichen Gesetzeshegrifls

lativiert und zugleich klassenspezifisch gebunden. Die Erkenntnis der Entwicklungs-


gesetze wird zur Grundlage bewußter politischer Zielsetzungen 271 . Zwar behält man
den Autoritätsanspruch bei, der sich mit dem Unabdingbarkeitsmerkmal verbindet;
aber indem eine herrschende Partei zum Garanten und Interpreten der Gesetzlich-
keit wird, wird deren Aussage politisch variabel und drückt nur das Stabilitäts-
interesse der Parteiführung aus 272 . Der Begriff der revolutionären Gesetzlichkeit 273
kennzeichnet nunmehr die Entwicklung aus der Perspektive des Interessenstand-
punktes einer bestimmten Klasse.
Aber auch insoweit bleibt diese Gesetzlichkeit vorgegebener Maßstab für die posi-
tive Gesetzgebung. Der Begriff des. politischen Gesetzes wird damit eigentümlich
relativiert. Statt aus sich heraus oder durch die Qualität des Gesetzgebers richtig
und deshalb dauerhaft zu sein, ist er hier abhängig von ihm vorausliegenden histo-
rischen und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Diese Begriffsentwicklung hat
ihre Wurzeln ebenfalls im 18. Jahrhundert; sie läßt sich insbesondere bei den
Physiokraten und in der französischen Revolutionstheorie ausmachen. Man kann
insoweit von einer Funktionalisierung des Geimtr.esbegriffs sprechen 274 .
Im recht.swissenschaffüchen Schrifttum hat 'Gesetzlichkeit' daneben die konkretere
Bedeutung der Legalität, d. h. den positiven Gesetzen gemäß. Auch marxistische
Rechtstheoretiker behalten diese Bedeutung im Begriff der revolutionären Gesetzlich-
keit bei 270 . Sein Ursprung dürfte kaum vor 1800 zurückreichen, und es ist zu ver-
muten, daß diese Wortverwendung unter dem Einfluß der naturwissenschaftlich
bedingten Begriffsanalogien zustande gekommen ist. Zwar kennt man schon vorher
'gesetzlich' im Sinne von „legitimus", d. h. (einzelnen) Gesetzen gemäß 276 . Aber als
der Inbegriff eines gesetzesmäßig-richtigen Verhaltens, konvergierend mit 'Legitimi-
tät', findet sich das Wort erst später. FRIEDRICH MURHARD stellt die politische Gesetz-
lichkeit auf der Grundlage der Volkssouveränität oder des monarchischen Prinzips
der faktischen Machtausübung durch angebliche Gesetze entgegen; mit ähnlichem
Pathos verfaßt CARL WELCKER seinen Artikel „Gesetzlichkeit" im Staatslexikon 277 .
Die positiven Gesetze, die diesen Begriff der Gesetzlichkeit leiten, werden von mehr
getragen als der bloßen Setzung eines Gewalthabers; sie gründen auf Wertvorstel-
lungen, die ihnen und dem Gesetzgeber „Richtigkeit" verleihen. Die gegenläufige
Begriffsentwicklung läßt sich in dem Auseinandertreten von 'Legalität' und 'Legi-
timität' seit Beginn der dreißiger Jahre, zuerst in Frankreich, ausmachen2 78.

271 Vgl. z.B. PETR 1. STUCKA, Die revolutionäre Rolle von Recht und Staat, hg. u. übers.

v. Norbert Reich (Frankfurt 1969), 109. 155.


272 NORBERT REICH, Recht und Politik im sowjetischen Sozialismus, Zs. f. Rechtspolitik 3

(1970), 281 f.
273 STUCKA, Recht und Staat, 155.

274 Vgl. GRAWERT, Neuzeitliches Gesetzesrecht, 16 ff. (s. Anm. 239 a).
275 STUCKA, Recht und Staat, 155. Vgl. auch Text zu Anm. 269 u. unten S. 917f.

276 z.B. Dt. Enc., Bd. 12 (1787), 200.


277 FRIEDRICH MURHARD, Das Recht der Nationen zur Erstrebung zeitgemäßer, ihrem

Kulturgrade angemessener Staatsverfassungen (Frankfurt 1832), 161. 284. CARL WELCKER,


Art. Gesetzlichkeit, RoTTECK/WELCKER 2. Aufl., Bd. 5 (1847), 714 ff.
278 Dazu CARL SCHMITT, Das Problem der Legalität (1950), in: ders., Verfassungsrechtliche

Aufsätze aus den Jahren 1924-191)4 (fü1rlin 1958), 449 (Zusatz).

898
a) Locke, Montesquieu, Rousseau Gesetz

7. Liberale und demokratische Grundlegung; der revolutionäre Gesetzesbegriff

Das naturwissenschaftlich inspirierte Gesetzmäßig~eitsstreben des 18. Jahrhunderts


beeinflußt auch den Begriff des politischen Gesetzes, insbesondere d~ssen Merkmal
der Allgemeinheit. Dazu tritt im Gegensatz zur reichsständischen Begriffstradition
ein neues politisches, aus dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit geschöpftes
Allgemeinheitsverständnis, das auf außerdeutschen, ·insbesondere französischen
Impulsen beruht. Bemerkenswert ist die völlige Vereinnahmung des traditionellen
dur~h den positiven Gesetzesbegriff.

a) Locke, Montesquieu, Rousseau. Einen Fixpunkt für ein antiabsolutistisches,


liberales Gesetzesverständnis setzt Ende des 17. Jahrhunderts JOHN LOCKE, indem
er als den Zweck des staatlichen Gesetzes die Sicherung des vorstaatlichen Eigen-
bereichs jedes Menschen, d. h. der Leben, Freiheit und Eigentum umfassenden
property 279 bezeichnet. Lockes Gesetz, inhaltlich vom Naturrecht, formell durch die
Volkszustimmung bestimmt 280 , erscheint deshalb als Gegenteil von arbitrary oder
contemporary decrees; es ist eine unverrückbar established, eine standing/constant and
lasting ... rule 281 , die ihrem Regelungsobjekt nach willkürfeindlich abstrakt, ihrer
zeitlichen und räumlichen Geltung nach allgemein sowie inhaltlich vernünftig und
substantiell-bedeutsam ist. Da nicht jede Art von Rechtsetzung der Gesetzgebung
bedarf, behält die Prärogative neben dem ausführenden ein selbständiges Ver-
ordnungsrecht282. ·
Einen zweiten Fixpunkt setzt MoNTESQUIEU, indem er die Richtigkeit des politi-
schen Gesetzes weder apriorisch noch traditional, sondern aufgrund der konkreten
nature des choses 283 , nach der historischen usw. Eigenart der jeweiligen Staatsformen
und ihrer Wirkungsprinzipien bestimmt. Im Gegensatz zu Hobbes' voluntaristi-
schem Autoritätsgesetz und zu aCtions momentanees 284 stellt sich die loi in ihrer sach-
gesetzlichen Regelhaftigkeit als volonte generale de l'etat dar. Das ist noch nicht pro-
zedural gemeint, obgleich Freiheit und Autonomie in Bezug gesetzt sind. Die All-
gemeinheit einer Volksgesetzgebung wird jedoch zum einen durch den Repräsen-
tationsgedanken285, zum anderen dadurch mediatisiert, daß die ständisch geglie-
derten (eigentumsähnlichen) Freiheitsstatus - zugunsten des privilegierten Adels
- den Maßstab für den klassenspezifischen Umfang der Gesetzgebungsteilhabe ab-
geben286. Der Gegner ist hier freilich das absolute Königtum; gegen das sich auch
der Vorschlag der Gewaltengliederung richtet, mit der die Gesetzgebung aus der
Gerichtsgewalt gelöst wird. Gegen die vorstaatliche Anarchie - nun anders als
Locke - betont Montesquieu die freiheitskonstituierende Wirkung des staatlichen
Gesetzes 287 .

279 JoHN LOCKE, The Second Treatise ofCivil Government (1690), 7, 87; 9, 135; 15, 173.
280 Ebd. 2, 12; 11, 134 f.
2s1 Ebd. 9, 131; 11, 136. 142.
282 Ebd. 14, 159 f.
283 MoNTESQUIEu, De l'esprit des Jois 1, 1.
284 Ebd. 29, 17; 11, 6.
. 285 Ebd. 11, 6.
286 Ebd.: 1,a liberte commune serait leur (sc. der Privilegierten) esclavage.
287 Ebd. 11, 3 mit 1, 2. 3.

899
Gesetz II. 7. Der revolutionäre Gesetzesbegriff

Dieses Verhältnis von loi und staatsbürgerlicher l!'reiheit ist das Zentralproblem bei
RoussEAn. Rr entwickelt einen „demokratischen Gesetzesbegriff", bei dem das Ge-
setz als der unvermittelte und unvermittelbare Ausdruck der gemeinsamen Willens-
übereinstimmung (volonte generale) der in der Kollektivperson des corps politique
vereinten citoyens erscheint: la loi n' etant que la declaration de la volonte generale 288 •
Dieser materiell - und nicht numerisch als volonte de tous 289 - begründete Gemein-
wille resultiert aus einer sozialen 290 und idealen Homogenität; sie stützt sich auf
traditionelle Gewohnheiten und eine präformierte gemeinwohlorientierte Staats-
gesinnung, die als öffentliche Meinung vom legislateur hergestellt werden sol1 291 •
In der volonte generale vollzieht sich die Metamorphose des Willens in Vernunft.
Ein irrender oder nur privatorientierter Wille selbst aller ist lediglich decret 292 •
Wie 'volonte generale' ist 'loi' ein normativer Begriff: sie gilt als gerecht und auf das
Gemeinwohl gerichtet, das nicht mehr transzendental-naturrechtlich fixiert ist,
sondern sich in der freien und öffentlichen Diskussion des Bürgertums als das
Richtige und Vernünftige artikuliert. Bei den Physiokraten erscheint diese öffent-
liche Meinung als Gesetzgeber schlechthin293 • Rousseau schließt die Ungerechtigkeit
der loi aus, weil niemau<l. 1::1ieh selbst schaden würde 294 • Ein vorgegebenes Recht oder
vorrangige lois fondamentales können die stets aktuell geltende volonte generale
nicht vorbestimmen. Es ist die Qualität des Gesetzgebers, die bei ihm wie bei Hob bes
und Montesquieu letztlich die Richtigkeit des Gesetzes verbürgt.
Im Gesetz beschließen die Memmhen als citoycn insgesamt, was sie sich als verein-
zelte sujets vorschreiben, und bewahren in der Autonomie ihre Freiheit im Staat.
Damit erfährt der Befehlscharakter des Gesetzes 295 eine entscheidende Umdeutung,
weil Herrschaft in Selbstbestimmung aufgelöst wird. Während ein Dictionnaire von
1702 296 'loi' noch als commandement qui vient d'une autorite superieure, auquel un
inferieur est contraint d' obeir, definiert, prangert ein Dictionnaire von 1791 297 dieses
Begriffsverständnis als unterdrückend an und proklamiert klassenkämpferisch les
veritables loix, die von allen, die ihnen unterworfen seien, auch beraten und be-
schlossen sein müßten 298 ; 1826 erscheint 'loi' jedoch wieder als l'expression de la
volonte souveraine 299 • Für Rousseaus Gesetzbegriff ist neben der Beteiligungs- und

288 RoussEAU, Du contrat social 2, 6; 3, 15.


289 Ebd. 2, 7. Mehrheitsprinzip dient der Feststellung der Homogenität: ebd. 2, 4.
290 Ebd. 2, 11.
291 Ebd. 2, 7. 12.
292 Ebd. 2, 6; 4, 1.
293 JÜRGEN HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 2. Aufl. (Neuwied, Berlin 1965),

66. 93 ff. 112 ff.


294 RouRRlMTT, Contrat. social 2, 6.
296 Die erste Fassung des „Contrat social" unterscheidet schärfer „Materie" (Regelungs-

objekt) u. „Form" der Gesetze (statuierende Autorität, Verkündungsorgan), zit. !RING


FETSCHER, Rousseaus politische Philosophie, 2. Aufl. (Neuwied, Berlin 1968), 129.
29 6 FuRETIERE 2• ed., t. 1 (1702), 158 f.
297 Nouveau dictionnaire historique des deputes a I'Assemblee Nationale, t. 1 (Paris

1791), 269.
298 Ebd.
299 JEAN-CHAltL.i.JS LAV1'JAUX, Dictionnaire synonymique de Ja langue fraw,aise, t. l

(Paris, New York 1826), 334.

900
b) Assemblee Nationale, Revolutionsverfassungen Gesetz

Integl'iltionsullgcmcinhcit die Subaumtiomiallgcmoinhoit woaontlioh; dio loi ifJL


generale i. S. von abstrait 800 , weil niemand nur Objekt der volonte generale sein und
die loi sich deshalb nicht auf vorbestimmte, individuelle Personen und Handlungen
richten könne. Solche konkreten Be~chlüsse, d. h. des actes particulieres, gehören zur
Exekutive 301 .

b) Die Assemblee Nationale und die Konstitutionen der Französischen Revolution.


Nicht Rousseaus konservativ oder progressiv interpretierbare Lehre, wohl aber
seine Autorität und die dem Zeitgeist entsprechenden Schlüsselworte bestimmen die
Auseinandersetzungen in der Assemblee Nationale und den Revolutionsverfassun-
gen. Das geschriebene und vom (neuen) Gesetzgeber erlassene Gesetz wird zu einem
Symbol gegen Feudalität, Traditionalität, Königswillkür und für die Revolutions-
verbürgungen302. Une loi revolutionnaire est une loi qui a pour objet de ·maintenir
cette revolution, et d'en accllerer ou regler la marc}w, befindetCu.NDu.1w.b:·1· 303, nachdem
schon VOLTAIRE aufgefordert hat: Voulez-vous avoir de bonnes lois? Brulez les votres
et faites-en de nouvelles/304 • Wortgeschichtlich ist die Häufung von 'legislation',
'legislateur' bzw. 'Gesetzgebung', 'Gesetzgeber' im 18. Jahrhundert, besonders in
und nach der Revolution bemerkenswert 305 . Das Gesetz wird ausnahmslos ein von
dem Gesetzgeber in einem bestimmten Verfahren erlassener Staatsakt.
Daß volonte genera.le 1mfl loi ?.118ammengehören30o und let,zt,erA in ihrer Genera.lit,ii.t,
(Abstrakt,heit) dem Rchut,z von Freiheit und Eigentum dient, ist vorherrschende
Ansicht 307 • Nur vereinzelt taucht die konservative ..l!'ormel auf: concert des deux
parties integrantes de la souverainete, ... du Roi et de la natio.n 308 • Die Volkssouverä-
nität und -gesetzgebung ist prinzipiell,bei fast allen Parteien außer Streit. Aber sie
wird in dem Maße, in dem sich die Abgeordneten des 3. Standes mit der Nation
identifizieren, durch den Repräsentantenwillen der Notabeln ersetzt309 . Den Über-
gang zum repräsentativ-demokratischen Gesetzesbegriff formuliert Lafayette für die
Deklaration von 1789: Tout gouvernement a pour unique but le bien commun. Cet
inter& exige . . . que leur organisation assure la representation libre des citoyeris 310 •
Die Verfassung von 1791 verordnet bereits dem Volk die Delegation sei.ner Macht

3oo RoussEAU, Contrat social 2, 6: Mais quawl taut le peuple statue sur taut le peuple.
ao1 Ebd. 2, 4; 2, 5; 3, 1.
3 o2 Am 28. 2. 1791 ergeht ein Dekret sur le respect du a la loi.
303 CONDORCET, Sur le sens du mot revolutionnaire (1793), Oeuvres compl., ed. Arthur

O'Connor, t.12 (Paris 1847), 615 ff.


304 VoLTAIRE, Dictionnaire philosophique, Art. Lois, Oeuvres compl., t. 19 (1879), 614.

305 GAGNER, Studien, 57 ff.


3 os Eine Variante: La loi est une convention des citayens reunis; elle se /arme par la volonte

generale: MARTINE„;\U am 21. 8. 1789, abgedr. in: Archives parlementaires, le ser.


(1787-1799), t. 8 (Paris 1875), 465.
307 Vgl. Auszug aus. dem cahier deti 3. Standeti v. Paris v. Dez 1788, abgeili·. in: Archives,

2" ed., t. 1 (Paris 1879), 557.


368 COMTE DE LALLY·TOLLENI>AL am 29. 5. 1789, abgedr. in: Archives, l e ser., t. 8, 57.
309 SIEYES am'/. 9. 1789, abgedr. in: Archives, t. 8, l:i94f.; Konstitution v. 1791, tit. 3,
c. 1, sect. 3, art. 7; im Konvent CoNDORCET, zit. GEORGES BURDEAU, Manuel de droit
constitutionelle, 6° ed. (Paris 1952), 88.
310 LAFAYETTE am 11. 7. 1789, abgedr. in: Archives, t. 8, 222. Vgl. Art. 0 der Deklaration

selbst.

901
Gesetz II. 7. Der revolutionäre Gesetzesbegrilf

und begrenzt seine Teilnahme auf die Stimmabgabe des steuerbaren citoyen acti/ 311 •
So wird aus dem acte de la volonte generale ein acte de la volonte des gou1'ernes 312 und
schließlich ein acte du corps legislati/313 • Erst die J akobinerverfassung von 1793 führt,
freilich nur verbal, die unmittelbare radikal-demokratische Volksgesetzgebung
ein314.
Indem die Beteiligungsallgemeinheit des Gesetzes hinter seine Qualität als l'expres-
sion de la justice et de la raison publique zurückgesetzt wird 315 , identifiziert sich das
wahre Bewußtsein einer elitären Minderheit mit dein Gesetz. Aus diesem Ab-
schichtungsprozeß geht die folgenschwere Unterscheidung von Gesetz und Gesetz-
geber hervor. Der König trug einst das Recht als lex animata noch in sich. Nachdem
die Identität von Gesetz, Recht und öffentlicher Meinung 316 nunmehr gelöst ist,
erhebt sich das Gesetz über seinen Urheber; sein Wille verselbständigt sich in der
objektivierten Autorität des Gesetzes 317 . In Deutschland tritt dieser Vorgang erst
ein halbes Jahrhundert später in Erscheinung, zuerst 1835 bei C. G. Wächter,
1842 bei Marx und 1843 bei Robert von Mohl 318 . Diese Gesetzesautorität wird auch
nicht dadurch ernsthaft beeinträchtigt, daß die Unterscheidung von 'ioi ordinaire'
und 'loi constitutionelle' 319 in gewissem Umfang institutionell und prozedural beLont
und eine Normenkontrollinstanz eingeführt wird.
Das Theorem der Abstmktheit OP.R GeRetr.es wird schon in der Praxis der Assemblee
Nationale häufig mißachtet. TocQUEVlLL]j] bemängelt eine solche Regierung durch
zeit- und situationsgebunilene Gesetze 320 . Offiziell führt aber schon die Verfassung
von 1791 gruppenspezifische lois particulieres 321 , die von 1795 dann das Einzelfall-
gesetz und das essentiellement provisoire geltende Zeit- und Maßnahmegesetz 322 ein;
dennoch gibt es keine textliche Verbindung zwischen 'mesure' und 'loi'. Im Grunde
bleiben dem Gesetz aber inhaltlich allgemeine und bedeutsame Angelegenheiten in
zahlreichen verstreuten Gesetzeskatalogen vorbehalten, die ebenso den Eigentums-
und Freiheitsraum der Bürger wie die für wichtig befundenen Staatsorganisations-
fragen betreffen.

311 Verfassung v. 1791, tit. 3, c. 1, sect. 2, art. 2, 7, abgedr. in: French Revolution Docu-

ments, ed. J. M. ROBERTS, vol. 1 (Oxford 1966), 351.


312 SIEYBS am 7. 9. 1789, abgodr. in: Archives, t. 8, 592 f.
313 Ebd.; MouNIER am 4. 9. 1789, abgedr. in: Archives, t. 8, 561, u. a. m.
314 Verfassung v. 1793, art. 10, 53 ff. u. die declaration v. 1793, art. 4, 29.
315 So schon MALUET am 8. 8. 1791; abgedr. in: Archives, 1° ser. t. 29 (1888), 275f.
316 CHRISTIAN A. L. RASENACK, Gesetz und Verordnung in Frankreich seit 1789 (Berlin

1967), 36.
317 Konstitution v. 1791, tit. 3, c. 2, sect. 1, art. 3.

3 18 Nachweise bei CARL SCHMITT, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44),
in: ders„ Verfassungsrechtliche Aufsätze, 407 f.; dazu KARL MARx, Die Verhandlungen
des 6. rheinischen Landtags, MEW Bd. 1 (1957), 61.
319 'Constitution' i. S. v. materieller und (oder) kodifizierter Staatsverfassung erstmals

vor der Revolution: Dict. Ac. fran9„ t. 1 (Ausg. Lyon 1776), 262; Nouveau dictionnaire
historique des deputes, t. 1, 213.
3 20 ALEXIS DE TOCQUEVILLE, llAncien regime et la revolution, Oeuvres compl., t. 2/1

(1952), 112 ff. 242.


a21 Verfassung v. 1791, tit. 4, art. 13.
322 Verfassung v. 1795, art. 256. 355.

902
II. 8. Frühkonstitutionalismus Gesetz

Als Komplementärbegriff zu 'loi' erscheint als Unterfall der „actes du corps Iegisla-
tif" 'decret' 323. Zunächst meint das Wort untechnisch die Beschlüsse des corps
Iegislatif als solche, betreffen sie nun Gesetzesvorlagen oder iudikative bzw. ad-
ministrative Einzelakte, sodann die beschlossenen Akte selbst324 . Die Unterschei-
dung von 'loi' und 'decret' ist an sich rechtlich nur insoweit erheblich, als alle Kon-
stitutionen detaillierte Vorschriften über Instanzen, Formen und Verfahren der
Gesetzgebung enthalten; sie ist politisch aber ohne Belang, solange für beide Akte
dasselbe Organ zuständig ist. Dennoch formuliert .der girondistische Verfassungs-
entwurf von 1793 prinzipielle Abgrenzungskriterien, die für die deutsche kon-
stitutionelle Staatslehre vorbildlich werden: Die lois zeichneten sich durch ihre
generalite et leur duree indefinie aus, die decrets durch ihre application locale ou
a
particuliere, et la necessite de leur renouvellement une.epoque determinee 325 • Nachdem
die jakobinische Verfassung von 1793 die Unterscheidung auch kompetenziell voll-
zogen hat, versuchen Enumeratiomikataloge ille Regelungsbereiche für 'lois' und
'decrets' nach der Bedeutsamkeit aufzuschlüsseln 326. Als Akt der Verwaltungs-
behörden erscheint decret jedoch erst in der Zeit der Restauration 327 . Nach den
Revolutionsverfassungen kann die Exekutive dagegen proclamatiuns pour l'exe-
cution des lois, seit dem Direktorium auch proclamations conformes aux lois erlas-
sen328. Erst die Konsulatsverfassung führt den speziell der Gubernative zugeordne-
ten Begriff !reglement' ein, der gesetr.ausfiihrende, -vertretende und administrative
Verordnungen bezeichnet329 . Seitdem die Parlamentssuprematie einer Funktionen-
teilung gewichen ist, gewinnt dieses exekutive Anordnungsrecht größere Bedeutung.
In der Charte Constitutionelle geht das selbständige Verordnungsrecht auf den
König über; die Gesetzgebung übt er nur mit zwei Repräsentantenkammern
collectivement aus 330 . In dieser Moderation klingt der Schwung des revolutionären
Gesetzes aus.

8. Der landständische Gesetzesbegriff des Frühkonstitutionalismus

Der in der französischen politischen Philosophie erreichte Reflexionsstand und die


Ergebnisse des revolutionären Verfassungsrechts bilden, gefiltert durch die Kon-
sulatsverfassung und die Charte Constitutionelle, für die deutsche Begriffsentwick-
lung ein Kontrastprogramm, dessen Ausstrahlung ertlt fernwirkend erfolgt. Re-
volutionäre Umgestaltungen erfährt der Gesetzesbegriff nach 1800 in Deutschland
jedenfalls nicht; seine Entwicklung beruht auf der Reichsstaatsrechtslehre und dem

323 Überblick bei RASENACK, Gesetz, 37 ff.


324 z. B. Konstitution v. 1795: Gesetzes beschluß (art. !:14), Anklagebeschluß (art. 237. 263),
Kriegserklärung (art. 326 f.).
3 25 Girondistischer Verfassungsentwurf v. 1793, tit. 7, sect. 2, art. 4; vgl. unten II. 8.
326 Konstitution v. 1793, art. 10. 54 f.
327 LAVEAUX, Dictionnaire, t. 1, 334; J. D-c., Art. Decret, Enc. des gens du monde, t. 7

(1836), 644.
328 Konstitution v. 1791, tit. 3, c. 4, sect. 1, art. 6; Konstitution v. 1795, art. 144.
329 Konstitution v. 1799, art. 44. 48. 52; ferner Charte Constitutionelle v. 1814, art. 14. 72.

330 Charte Constitutionelle, art. 14 f.

903
Gesetz Il. 8. Frühkonstitutionalismus

Vcrnunftrecht des 18. Jahrhunderts wie auf alt- und landständischen 33 1 Traditionen.
Als hervorstechendstes Klassifizierungsmerkmal bringen die ,,Landständischen Ver-
fassungen" die Mitwirkung von Repräsentationsorganen an der Gesetzgebung des
Landesherrn in die Diskussion über die Jahrhundertmitte hinaus ein. Dennoch
wirken Verfassungsrecht und -praxis auf die Lehren der Staatsrechtswissenschaft
nicht system- und begri:ffsbildend, sondern dienen ihnen sekundär als Realitäts-
maßstab. So laufen, grob gesagt, eine verfassungsrechtliche und eine, staatsrechts-
wissenschaftliche Linie nebeneinander her.
a) Die Bereiche landständischer Gesetzgebungsteilhahe. Die Konstitutionen seit 1814
halten prinzipiell daran fest, daß dem Landesherrn die Gesetzgebung als droit de
souverainete mit der ungeteilten Staatsgewalt allein gebührt 332 • Sie gehen also vom
„landesherrlich-hoheitlichen Gesetzesbegriff" aus. In Gesamt-Österreich, Liechten-
stein und Anhalt behält er seine absolutistische Prägung. Auch soweit die übrigen
Konstitutionen Mitwirkungsbefugnisse einräumen, beziehen sie sich nur auf die
Inhaltsbestimmung vor Erlassung 333 eines Gesetzes, während Initiative und Sank-
tion im Rechtsetzungsmonopol des Landesherrn bleiben. Die Mitwirkung ist leuig-
lich eine nachgeordnete Funktionsbeteiligung; sie soll keine Gewaltenteilung oder
Souveränitätsteilhabe indizieren. Gegenständlich uneingeschränkt gewährt erstmals
Württemberg (1819) die Mitwirkung: Ohne Beistimmung der Stände kann kein Gesetz
gegeben, aufgehoben, abgeändert oder authentisch erläutert werden 334• ·nie meisten Län-
der klassifizieren ihre Gesetze jedoch iu zustirnmungsbedürf'tige und -freie. In der
Regel gelten verfassungsändernde Gesetze als zustimmungsbedürftig, oft bei Form-
erschwernissen335. Grundlegend für den liberalen Gesetzesbegriff ist die Zustim-
mungsklausel, die zuerst Nassau (1814) und repräsentativ Bayern (1818) formulieren,
wo ein allgemeines neues Gesetz, welches die Freiheit der Personen oder das Eigentum der
Staatsangehörigen betrifft336 , zustimmungsbedürftig ist. Die Allgemeinheit der Geset-
ze kennzeichnet dabei nur einen Typus; sie definiert nicht das Gesetz schlechthin,
sondern grenzt das „besondere Gesetz" sowie das nicht Freiheit und Eigentum be-
treffende Gesetz aus. „Allgemein" ist gemeinhin, wie bisher, gebietlich-über-
provinziell337, zuweilen auch abstrakt-generell 338 und i. S. des Grundlegenden,

331 „Altständisch" i. s. der onaliRt,ifmhen Herrschaftsauffassung; „landständisch" i. s. der

untergeordneten Mitwirkung wie in der Deutschen Bundes- und der Wiener Schlußakte.
332 Rheinbunds-Akte v. 12. 7. 1806, Art. 26; Wiener Schlußakte v. 15. 5. 1820, Art. 57.

333 HARTLEBEN Bd. 1 (1824), 271.

8 34 Die Konstitutionen v. Württemberg (1819), Art. 88 ff., 124, Hessen-Darmstadt (1820),

§ 72, Kurhessen (1831), § 95, Sachsen (1831), §§ 86 f., Hohenzollern-Sigmaringen (1833),


§ 65 a, zit. KARL HEINRICH L. PÖLITZ, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789,
2. Aufl., Bd. 1 u. 3 (Leipzig 1832/33); ERNST RUDOLF HUBER, Dokumente zur deutschen
Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (Stuttgart 1961), 141 ff.
336 z.B. Baden (1818), § 64; Württemberg,§ 176.

336 Bayern (1818), Tit. 7, § 2; Nassau (1814), § 2; Weimar (1816), § 5, Ziffer 6; Waldeck

(1816), § 25; Baden, § 65; Hildburghausen (1818), § 2 b; Coburg-Saalfeld (1821), § 65;


Meiningen (1829), Art. 85; Altenburg (1831), §§ 201. 211; Braunschweig (1832), § 98,
Ziffer 3.
337 Waldeck, § 5, Ziffer 6; Hannover (1833), § 85; Preuß. Gesetz wegen Anordnung der

Provinzialstände v. 5. 6. 1823 (GS!g., 129), Ziffer III.


338 Preuß. Edikt über die Bauernbefreiung v. 9. 10. 1807, § 1 (GS!g. 1806-1810, 170).

904
a) Landständische Gesetzgebungsteilhabe Gesetz

Wichtigen und insoweit Dauerhaften339 gemeint. Die politischen Interpretationen


zugänglichere Freiheits- und Eigentumsformel stammt aus dem neuzeitlichen Ver-
nunftrecht, insbesondere von Locke; sie ist vom Freiherrn vom Stein in den Kon-
stitutionalismus eingeführt und verbindet sich vorzüglich mit dem bürgerlich-
liberalen Denken; aber sie wurzelt ebenso im Bereich ständischer Freiheiten und
Privilegien, die in den-Eigentumsbegriff eingehen340, und kann der Ständeordnung
zugeordnet werden wie der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft. Letzteres erhellt vor-
züglich aus der Einbeziehung des Vermögens in das Eigentum, indem, zuerst in der
französischen Verfassung von 1791, in Deutschland in der Verfassung des König-
reichs Westfalen (1807) und besonders in der preußischen Repräsentationsverord-
nung von 1815, für (jährliche) Steuerfestsetzungen Gesetzform und Zustimmungs-
erfordernis notwendig werden 341 , womit die Steuergewalt in der Gesetzgebungs-
gewalt aufzugehen beginnt. Auch wo die Konstitution wie in Württemberg nichts
über Steuergesetze sagt, machen sie zusammen mit sonstigen Abgabe- und Haus-
haltsgesetzen den Hauptbestandteil aller Gesetze aus 342 . Als besonderen Zustim-
mungsfall erwähnt aus altständischer Sicht die Nassauische Verfassung(§ 2) Gesetze
zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen und Gewerbefreiheit, die für die bürgerliche
Gesellschaft den Hauptanwendungsfall der Freiheits- und Eigentumsformel dar-
stellen. Deren Vagheit versuchen einige Verfassungen aufzuhellen: etwa Waldeck
für die Eigentums- und Privilegienentziehung, Meiningen durch Abgrenzung gegen
Organisationsgesetze oder Altenburg durch Ausgrenzungen z.B. der Militärgeset-
ze343.
Erst die Praxis vermittelt hier schärfere, wenn auch keineswegs immer einheitliche
Konturen. In Baden, das schon vor 1818 die Oiml- sowie die Rechts- und Strafgesetz-
gebung hervorhebt 344, hält man die Regelung folgender Bereiche für zustimmungs-
bedürftig: Auferlegung und Aufhebung von Steuern, Abgaben, Haushalt; Beförste-
rung; Hausiererei; Militärkonskription; Rechtsstellung der Pfarrer, Verschuldung
der Akademiker, Studienfreiheit; Gerichtszuständigkeiten; Gemeindeorganisation,
Wahlbezirksfestlegung, Standesausschußkompetenzen, Ministerverantwortlich-
keit345, nicht dagegen i~ Angelegenheiten der Domänen und standesherrlichen Fa-
milien sowie bei (authentischen) „Erläuterungen" des tradierten Landrechts. Es

339 Hildburghausen, § 2 b.
340 Deutlich Waldeck,§ 25.
341 Konstitution v. 1791, tit. 3, c. 3, sect. 3, art. 3; Konstitution v. 1793, art. 54; Charte

Constitutionnelle, art. 47 ff.; Belgische Konstitution v. 1831, art. llO; Westfalen 1807,
zit. ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1 (Stuttgart
1957), 89; Organisation des Herzogtums Köthen v. 18ll, § 5, zit. PöLITZ, Verfassungen,
Bd. 1, 1058; Preußische Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes v.
22. 5.1815, § 4 (GSlg„ 103); Schwarzburg-Rudolstadt (1816), § 1; Meiningen (1829), Art. 85;
Schwarzburg-Sondershausen (1830), § 8, Ziffer l; Hannover (1831), Kap. 6, § 10; Braun-
schweig, § 98, Ziffer 3. Sachsen (1831), Art. 103 kennt bei Bewilligungsverweigerung der
Stände ein Ersatzbewilligungsrecht mittels „Verordnung".
342 Von ca. 25 Gesetzen der ,Jahre 1819--'-25 sind ll Steuer- u. Abgaben-, 2 Ausgaben- u.

3 Staatsschuldengesetze.
343 Waldeck,§ 25; Meiningen, Art. 85; Altenburg,§ 201.
344 Kurbadisches Regierungshi. 1806, 31 (Ziffer 6); 1807, 35 (IV, Ziffer 4).

345 Belege im Kurbadischen Regierungshi. von 1819--49.

905
Gesetz Il. 8. Frühkonstitutionalismus

handelt sich also nicht nur um BelaEJtungon von Froihoit und Eigentum, sondern
auch um Entlastungen346 sowie um insoweit neutrale Staatsorganisationsfragen, ein
Katalog, der sich sachlich nur nach einem Kriterium der „Bedeutsamkeit" ordnen
läßt. Für Preußen sind vergleichbare, häufig aber nicht beachtete oder königlicher-
seits eingeengte Maßstäbe beobachtet worden 347, -die stark von der Auseinanderc
setzung zwischen Kr.one und Standen bestimmt sind. Auch die Württembergische
Praxis weist, obgleich hier der unbegrenzte Zustimmungsvorbehalt gilt, einen ähn-
lichen Katalog auf348 . Einen auch konventionell akzeptablen Rahmen nennt erst
die Landschaftsordnung Braunschweigs von 1832 (§ 98, Ziffer 3) mit den Gesetzen,
die das bürgerliche oder Strafrecht, den bürgerlichen oder Strafprozeß betreffen 349 • Über
einen vergleichbaren Begriffskern hinaus bietet die Formel politischen Auseinander-
RP.tr.ung1m r.wischen Lande~herrn und Repräsentanten.weiten Raum. Vermöge des
lnitiativmonopols bestimmt, wie ein zeitgenössischer Beobachter kritisch be-
merkt350, zunächst der Landesherr den Umfang der Formel und damit des Mit-
wirkungsrechts. Bei Verweigerung der ständischen Zustimmung kann er zudem in
der Regel provisorische Gesetze erlassen, die z.B. in Baden, insbesondere bei Auf-
lage- und Ausgabegesetzen, von 1819bis1825 praktisch die „normale" Gesetzesform
darstellen. Aus der Gegenüberstellung der Freiheit und Eigentum betreffenden Ge-
setze zu den übrigen, nicht zustimmungsbedürftigen Gesetzen, namentlir,h Provin-
zial-, Militär-, Polizei-, Organisationsgesetzen 351 , geht eindeutig hervor, daß die Be-
griffe 'Allgemeinheit', 'Freiheit' etc. nicht Definitions-, sondern Aufteilungskriterien
innerhalb der Gesetzgebung sind. Jedoch tendiert die Formel allmählich, zuweilen
schon im Urteil der Zeitgenossen 352, dazu, aus einer gegenständlichen Mitwirkungs-
begrenzung zum Synonym für den Gesetzesbereich zu werden, den in den Ländern
mit unbegrenzten Mitwirkungsrechten der Gesetzesbegriff abdeckt. Das ergibt sich
jedoch erst aus einer Verfassungsumdeutung.

b) Landesherrliche Verordnungen. Zustimmungsfreie Gesetze, die sich im allge-


meinen durch ihren Konnex zu einem engeren Herrschaftsbereich auszeichnen3 5 3,
erläßt der Landesherr allein, meistens unter der Bezeichnung 'Verordnung'. Dieses
Wort steht zunächst unspezifisch neben oder anstelle von 'Gesetz'. Im ALR z. B.
bezeichnet Verordnung sowohl allgemeine wie spezielle, jedenfalls aber verbindliche
Anordnungen des Königs gegenüber Bürgern wie Behörden, d. h. auch die des Ge-

34 6Vgl. z.B. Kurbadisches Regierungsbl. 1823, 9: Abgabenaufhebung.


347 ADOLF ARNDT, Der Anteil der Stände an der Gesetzgebung in Preußen von 1823-48,
Arch. f. öffentliches Recht 17 (1902), 574 ff.
348 Steuer-, Abgabengesetze, Militäraushebungsgesetze, Beamten-, Besoldungsgesetze,

nicht aber Disziplinarnormen; Prozeß-, Gerichtsgesetze; Gemeindeordnung~n.


349 FRANZ Rosrn, Gesetze und Verordnung nach badischem Staatsrecht (Karlsruhe 1911),

62 ff. Ob Prozeßnormen, ist umstritten.


360 WILHELM El>UAJW WlLDA, Art. Landstände, WEISKE Bd. 6 (1845), 893; vom monarchi-

schen Prinzip her beifällig aber KARL EDUARD WErss, System des deutschen Staatsrechts,
§ 30!) (Regensburg 1843), 672.
361 z. B. Braunschweig, §§ 99. 123.
352 FÜRST v. so~rs-LICH, Teutschland und die Repräsentativverfassung (Gießen 1838),

28; ablehnend zit. bei WILDA, Art. Landstände, WEIBKE Bd. 6, 892.
353 z. B. Hannover (1833), § 86.

906
· Geset:r;

setzesu:..i. ln der prelill1schen Rechtspraxis bleibt e!:l bei (ge!:letzlichen) Verordnun-


gen als Regel, bis Repräsentationsorg1me :r.ustimmnngsberechtigt werden (1823;
1847). Seither bezeichnen sich die mit Zustimmung erlassenen allgemeinen An-
ordnungen zunehmend häufiger als 'Gesetze', während 'Verordnung' sich auf die
zustimmungsfreien Anordnungen des Königs bzw. seiner Regierung verengt. Den-
selben Befund zeigt die badische Rechtspraxis, wo bis 1819 'Verordnung' und 'Ge-
setz' synonym für verbindliche landesherrliche Anordnungen verwendet werden,
die meistens personell-sachlich und/bzw. provinziell allgemeine Rechtsetzungen
sind: Normativver.ordnungen, wie es an einer Stelle heißt 355 • Neben der Verbindlich-
keit der Anordnung meinen in dem seit 1806 gebietsmäßig bunt erweiterten Baden
Ausdrücke wie 'Gesetzesgeltung' oder 'Gesetzesk-raft' häufig die gebietliche Geltungs-
tm1Lrecku11g auf neu el'worbene Gebiete und die Aufhebung de11 dortigen Rechts
sowie der feudalen Rechtsetzungsbefugnisse; in diesem Sinne wird auch von all-
gemeiner GesetzgelYung gesprochen; territorial-personale Unterschiede zwischen Pro-
vinzial- und allgemeinem Gesetz bzw. Vorschrift kennt auch das preußische
Recht 356 •
Wie im Reichsstaatsreeht zeigt i:iieh hiei·, daß die gebieLliche Allgemeinheit im Maße
der gebietlichen Zerrissenheit eines Landes begri:ffsbildend wird, während sie in
anderen Ländern oolbotvomtiindlioh orsohoint. Terminologische Differenzierungen
zwischen 'Gesetz' und 'Verordnung' markieren zunächst Einteilungen innerhalb der
Gosctzgcbungsgcwn.lt Of\R LanrleRluirrn und RP.iner Behörden. 1807 unterscheidet der
amtliche Sprachgebrauch in doppelter Hinsicht Geseze, d. h. alle vom Regenten oder
in dessen Namen von der obersten Staatsbehörde oder von den Mittelbehörden . . . aus-
fiießende Willenserklärungen, die eine bleibende Norm für Handlungen der Diener ( !)
oder Untertanen, sei es nun in dem ganzen Lande oder in einer einzelnen Provinz, oder
in einer bestimmten Landesgegend werden sollen . . . von Landes·verordnungen, d. h.
Geseze der Geheimenratsdepartements, von Provinzverordnungen, d; h. Geseze der
Provinzregierungen, von Partikularverordnungen der Generalkommissionen und von
Lokalverordnungen 357 • Mit Beginn der ständischen Mitwirkung 1819 werden die
konstitutionellen Gesetze auch terminologisch als 'Gesetz' hervorgehoben. Ein lan-
desherrlicher Ge1::1eLzenLwurf, der die Zustimmung nicht erhält, kann als prov·isori-
sches Gesez 358 , aber häufiger als (landesherrliche) Verordnung 359 ergehen.
Wie in der Praxis 'Verordnung' zum sachlichen und kompetenziellen Gegenbegriff
zu 'Gesetz' wird, so werden in den Ländern mit uneingeschränktem ständischem Zu -
stimmungsvorbehalt von Verfassungs wegen den zustimmungsgebundenen „Ge-
setzen" die zustimmungsfreien „Verordnungen" des Landesherrn gegenübergestellt.
Diese ,;Verordnungen" sind zum einen, französischen Verfassungsvorbildern folgend,
' '
354 ALR Einleitung, §§ 5. 11; Preußische Verordnung wegen Einführung des Staatsrats

v. 20. 3. 1817, § 28, Absatz 2 (GSlg., 67).


355 Kurbadische Verordnung v. 29. 9. 1804, § 22, Absatz 2 (Regierungsbl., 169).
356 Kurbadische Regierungsbl. 1806, 31; 1807, 59. 141. 201; Allerhöchste Kabinetsorder

v. 24. 7. 1826 (Preuß. GS!g. 1826, 73).


357 Generalverordnung, die Organisation der öffentlichen Verkündw1gsanstalten ... be- ·

treffend v. 27. 10. 1807 (Regierungsbl., 221), Ziffer 5.


358 12. 2. 1821 (Regierungsbl., 15); v. 10. 4. Hl2:f (Regierungsbl., 45).

359 Verordnung v. 23. 8. 1821 (Regierungsbl., 95).

907
ß. 8. Frühkonstitutionali1U11u11

auf Vollstreckung und Handhabung der Gesetze begrenzte Ausführungsverordnungen;


meistens wird daneben aber, hoheitlich-absolutistischer Tradition folgend, ein Ver-
ordnungsrecht aufgrund des landesherrlichen Aufsichts- und Verwaltungsrechts8 60 ,
insbesondere der Polizeihoheit, genannt. Gleichlautende Verordnungskompetenzen
des Landesherrn neben dessen zustimmungsfreien Gesetzgebungskompetenzen sta-
tuieren auch die Verfassungen, die nur ein gegenständlich begrenztes Mitwirkungs-
recht der Stände kennen, für-die folglich der Verordnungsbegriff nicht den Kompe-
tenzgegensatz von Landesherrn und Ständen abdeckt. Diese Kontrapunktion hängt
vielmehr von der Entwicklung ab, inwieweit sich die Eigentums- und Freiheits-
klausel einerseits auf alle Gesetze ausdehnt, andererseits den ständischen Mit-
wirkungsbereich umschreibt, oder inwieweit die zustimmungsfreien Gesetze in den
VerordnWlgsbereich absinken und damit zugleich zur FunkLioneu- und Kompetenz-
aufteilung zwischen Legislative und Exekutive werden. Erst unter dieser weiteren
Problemstellung kann in der spätk<{nstitutionellen Dogmatik das sog. selbständige
Verordnungsrecht der Krone zur Fragwürdigkeit werden. Ursprünglich machen
jedenfalls 'Gesetz' und 'Verordnung' zusammen funktionell den einheitlichen Ge-
setzesbegriff i. S. der verbindlichen Rechtsetzung aus; instanziell-kompetenzmäßig
wird das Zustimmungsgesetz jedoch, dem Verfassungs- und Praxissprachgebrauch
folgend, als eigentliches oder wirkliches Gesetz bezeichnet361 . Der Gesetzesbegriff ist
im Ergebnis also weder formell durch das Zustimmungserfordernis noch inhaltlich
durch die Freiheits- und Eigentumsklausel umschrieben, vielmehr beidemal voraus-
gesetzt362. Typischerweise meint er allgemeine, für Staat und Bürger bedeutsame,
verbindliche Regelungen des Gesetzgebers von gewisser Dauer. Zahlreiche Gesetzes-
vorbehalte kennzeichnen näherhin solche Bereiche.
Den Abschluß der frühkonstitutionellen Periode und gleichzeitig den Übergang zu
einem neuartigen Begriffsverständnis bildet die Preußische Verfassung vom
31. 1. 1850363, nach deren Art. 62 der König die Gesetzgebungsgewalt init zwei
Kammern gemeinschaftlich ausübt. Damit wird die Zustimmung der Repräsentations-
organe von einer - abdingbaren - Wirksamkeitsvoraussetzung zum Geltungs-
grund der Gesetze. Da die preußische Verfassung weder den Begriff des Gesetzes
noch den Umfang der gesetzgebenden Gewalt bestimmt, sondern nur enumerative
Gesetzvorbehalte - und übrigens auch nicht auf die Gesetzausführung (Art. 45)
beschränkte Verordnungsvorbehalte 364 - kennt, knüpft sich an jenen Art. 62 ab
1860 ein juristisch-interpretativ geführter Theorienstreit, der im Begriff des Gesetzes
das Verhältnis von König und Parlament austrägt 365 .

c) Bundesgesetze. An aktueller praktisch-politischer Bedeutung werden die landes-


konstitutionellen Gesetze überragt von den organischen Bundesgesetzen und den
Beschliissen der Bundesversammlung des Deutschen Bundes, die sich selbst als Ver-

360 z.B. Baden, Art. 66; bes. Braunschweig, § 101; bestätigt in Art. 16 der geheimen

Wiener „Sechzig Artikel" v. 12. 6. 1834, zit. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 123.
3 6 1 CARL FRIEDR. GÜNTHER, Art. Gesetz, WEISKE Bd. 4 (1843), 700.

362 Ebenso BöcKENFÖRDE, Gesetz, 78.


363 Preußische Verfassung v. 31. 1. 1850 (Preuß. GS!g. 1850, 17).

364 Ebd„ Art. 37. 39. 63. 65.


36 5 Dazu BöcKENFÖRDE, Gesetz, 220 ff.

908
II. 9. Staatswissenschaftliche Begriffsentwicklung bis 1850 Gesetz

einbarung oder Bundesgesetze bezeichnen 866 und ohne nochmalige landesherrliche


Sanktion allein mit ihrer Publikation auch in den Ländern mit Gesetzeskraft gelten,
wo die ständische Zustimmung zu allen Gesetzen verlangt wird 367 • Hinter dem
heftigen Streit368 um die Gesetzes- oder Vertragsnatur dieser (einstimmigen und
mehrstimmigen) Beschlüsse steht wieder die politische Frage nach der Konstruktion
des Bundes und der Souveränität. Die Beurteilung wird - wie im alten Reich -
das vertragsmäßige Verfahren des Zustandekommens von der Wirkung der Gesetzes-
bindung369 unterscheiden müssen, und zwar die Bindung der einzelnen verbündeten
Staaten und die ihrer Untertanen. Eine begriffliche Verbindung zwischen dem im
Landeshoheitsrecht ausgebildeten hoheitlich-monistischen Gesetzesbegriff und den
Bundesgesetzen besteht nur insoweit, als beide heteronome und für die Untertanen
unmittelbar verbindliche Rechtsregeln sind. Das vertragsmäßige Entstehungsver"
fahren bleibt unbeschadet dessen eine Eigenheit jeder föderalistischen Gesetzgebung
und je nach der institutionell-organisatorischen Verfestigung der Bundesgesetz-
gebungsorgane accidentale oder essentiale des Gesetzesbegriffs. Insoweit lassen sich
„bundesstaatliche" und „konventionale Gesetze" unterscheiden. Letztere gibt es im
Deutschen Bund in Form der Parallelgesetze der Länder, die außerhalb der Bundes-
kompetenz aufgrund echLer Vereinbarungen zusLarnle kommen und in den Ländern
je gesondert in Kraft gesetzt werden. Ein Beispiel ist die Allgemeine Deutsche
Wechselordnung von 1847. Der Typus solcher Konventionalgesetze ist auch im
heutigen Bundesstaatsrecht ebenso bekannt wie umstritten. Aber auch sie kenn-
zeichnet als Gesetz nicht die zugrunde liegende Vereinbarung und die Vertrags-
bindung der Länder untereinander, sondern die - hier von den einzelnen Ländern
ausgehende - Sanktion gegenüber den Untertanen. Für das liberale Bewußtsein
der damaligen Zeit repräsentieren jedenfalls vor allem die Bundesbeschlüsse einen
Typus von Gesetz, der wegen seiner restaurativen Tendenz die Identifikation von
Gesetz und repressiver Herrschaft nahelegt.

9. Die staatswissenschaftliche Begriffsentwicklung bis 1850

Solche ideologischen Aussagen liegen der Staatswissenschaft der Zeit freilich noch
fern. Auch das frühkonstitutionelle Staatsrecht ist ihren systematischen und dogma-
tischen Operationen zunächst nur blasser Hintergrund. In unterschiedlichen metho-
dischen Ansätzen ist ihr sachliches Interesse mehr auf allgemeine staatstheoretische
und -politische Aussagen als auf positivrechtliche Interpretationen gerichtet. Teils
an der Reichsstaatsrechtslehre und am Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts orien-
tiert, teils theoretisch systematisierend oder historisch-politisch argumentierend,
bietet die Staatsrechtswissenschaft eine Palette verschiedenartig ausgeprägter und

366 Beschluß v. 12. 6. 1834, Art. 59 f., zit. HUBER, Dokumente, Bd. l, 123; Maßregeln-
gesetz v. 16. 8. 1824, zit. ebd., 117.
367 z. B. Württemberg, § 3.
368 z.B. einerseits JoH. LUDWIG KLÜBER, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und
der Bundesstaaten, § 214, 4. Aufl. (Frankfurt 1840), 284; andererseits ROMEO MAUREN-
BRECHER, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, § 115, 2. Aufl. (Frankfurt 1843),
176 f.
369 Ebenso HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 599 f.

909
Gesetr1 II. 9. Staat11wllisenschaftliche Besrifl'sent1~icklung bis 1850

historisch zu verortender Gesetzesbegriffe. Sie meinen ausschließlich das staat(s-


recht)liche, und zwar das positive Gesetz. Die von SAVIGNY gegen das positive Ge-
setz und die rationale staatliche Gesetzgebung vorgetragenen Einwände der histori-
schen Schule betreffen nicht den Gesetzesbegriff, sondern den Rechtsbegriff: Der
Willkür eines Gesetzgebers werden die inneren, stillwirkenden Kräfte eines organisch-
historischen Rechts entgegengestellt370• Aber immerhin forciert dieses Programm
die Hinwendung vom naturrechtlichen zum politisch-historischen Denken beim
Gesetzesverständnis. Eine Autoritätseinbuße erfährt das normale staatliche Gesetz
vor allem dadurch, daß es der „Verfassung" als dem höchsten „Gesetz" („Verfas-
sungsgesetze") nachgeordnet und an ihm meßbar wird. Auf das Verfassungsgesetz
geht auch die Integrationswirkung über 371 • Im Verhältnis zu Korporationen sind
das staatliehe Gesetzgebungsmonopol - mit der Folge der Ableitung autonomer
Rechtsetzungsbefugnisse aus ihm - und der Gesetzesvorrang unbestritten.

a) Rechtssystematischeßegrift"svariationen und konstitutionelle "Übergänge. Die Aus-


gangslage veranschaulicht ein „Geschäftslexikon für die deutschen Landstände"
aus dem Jahre 1824. Gesetze werden hier als z. T. mitwirkungsgebundene Willens-
kundmachungen des Landesherrn von Bestimmungen uber Rechte und Pflichten
der Bürger unterschieden, deren Zweck der Staat .~elh8t, nämlich Sü:hp,rn,p,1:t dp,r fip,8(',ll-
scliaft und allgemeiner Nutzen sei und dielleiz.igkeit der Gesetze begründe; konkreLer
resultiere diese. aus Übereinkünften der entscheidungsbefugten Instanzen, fieren
Bestimmung sich aus den Zufälligkeiten des positiven Verfassungsrechts ergebe,
materiell aber einem schon vorhandenen geistigen Prinzip entsprechen müsse. Der
instanzielle Aspekt wird erst bei dem Begriff 'Edikt' erheblich, das als - allgemein
rechfa;regelnde - Willenskundrnackung des Landesherrn in Gegenständen der Gesetz-
gebung definiert wird; die landständische Mitwirkung bei der Gesetzgebung erscheint
nur in dem Zeitraum vor Erlassung eines Edikts 372 • Hoheitsrechtliche und vernunft-
rechtliche Aspekte, Gedanken Montesquieus und der historischen Rechtsschule ver-
binden sich hier mit positivverfassungsrechtlichen Anleihen zu einer begrifflichen
Gem.engelage, die das Verhältnis zahlreicher Theoretiker der Zeit zur Staatspraxis
charakterisiert. Solange nämlich das positive Verfassungsrecht und die historisch-
politische Problemlage als Reflexionsgegenstände hinter theoretischen und syste-
matischen Anliegen zurückstehen, solange ist weder die landständische Mitwirkung
noch das soziale Kräfteverhältnis begriffsprägend, aber sie bewirken immerhin
realitätsbezogene Brechungen der zunächst in vernunftrechtlicher Methoden-
tradition logisch-abstrakt formulierten Begrifflichkeit und führen schließlich zu
sozial- und politikorientierten Problembegriffen.
Typisch für das Auseinanderfallen der ~m Vernunftrecht geschulten theoretisch-
systematischen Begrifflichkeit und der staatspraktischen Erfahrung sind die Aus-
führungen CARL v. RoTTECKS, eines jahrelangen Mitgliedes der badischen Kammern.
Gesetz ist für ihn jede von der Staatsgewalt ausgehende Bestimmung, welche in abstracto

37 ° FRIEDR. C.ARL v. SAVIGNY, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechts-

wissenschaft, 3. Aufl. (Freiburg 1892), 9.


371 Jon. CHRISTIAN FRH. v. ARETIN, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, Bd. 1

(Altenburg 1824), 230. 250 f.


372 HARTLEBEN Bd. 1, 271. 415 ff.

910
a) Rechtssystematische Begriffsvariationen Gesetz

oder im aUgemeinen, d. h. nach Begriffen gemacht ist 373. Die Abstraktheit, die noch
bei Rousseau und, diesem folgend, bei Kant 37 "' aus der rechtsetzenden und freiheits-
konstituierenden Qualität der volonte generale resultiert, wird hier wie bei anderen
zeitgenössischen Schriftstellern das entscheidende Kriterium für Gesetzesbegriff und
gesetzgebende Gewalt; hier wie dort wird sie als Gegensatz zum personell oder sach-
lich bestim~ten Individuellen nicht numerisch, sondern nominell-formal „nach Be-
. griffen" verstanden. Demgegenüber darf die Administrativgewalt nur Verfü,gung in
konkreten Fällen, freilich nicht nur gesetz-vollziehender Art, erlassen 375 . Die Praxis-
ferne dieser Differenzierung unterläuft Rotteck, indem er zum einen die begrifflich-
theoretische Funktionentrennung nicht zur Grundlage einer organisatorisch-
institutionellen Gewaltengliederung erklärt, zum andern indem er einen historisch-
konventionell eingeschränkten Gesetzesbegriff konstatiert, der die abstrakten An-
ordnungen der Lokalgewalten, ferner die provinziell begrenzten Anordnungen der
Staatsgewalt, dazu deren bloß gesetz-durchführende und schließlich deren nur
nominell-begrifflich, aber nicht gegenständlich abstrakte Anordnungen aus-
schließt376.
Bereits schärfer stehen sich bei FRIEDRICH ScHMITTHENNER ein vom Vernunftrecht
indoktrinierter staatstheoretischer Gesetzesbegriff und ein historisch-verfassungs-
rechtlicherGesetzesbegriff gegenüber. Theoretisch ist 'Gesetz' im weiteren Sinne jeder
- rechtsetzende oder rechtsanwendende, befristete oder dauernde, abstrakte oder
konkrete - ausgesprochene Beschluß der öffe;,,,tlichen Macht im Gegensatz zur rein
tatsächlichen Ausführung 377 . Quer zu dieser Unterscheidung nach Willensbildung
und Umsetzung trennt Schmitthenner die Rechtsetzung auf nach sachlichen
Hoheitsbereichen, und zwar in die auf den Rechtszweck gerichteten, Rechtsverhält-
nisse schaffenden Rechtsgesetze - ein Begriff, mit dem Kant 378 in naturrechtlicher
Deutung die nicht statutarisch, sondern nach apriorischen Rechtsprinzipien gegebe-
nen Gesetze in die Diskussion einführt, - und in die auf den Wohlfahrtszweck ge-
richteten Verordnungen, deren Zweck außerhalb der Rechtsetzung liegt379. Aber zur
Erklärung der Verfassungswirklichkeit wird nicht diese inhaltlich am Funktions-
zweck orientierte Unterscheidung verwendet, sondern es wird hier historisch-empi-
risch auf das in den einzelnen Staaten verschiedene· Verfassungsrecht rekurriert.
Indem insoweit aber das Gesetz für Schmitthenner nur ein kompetenziell bestimm-
ter Akt der gesetzgebenden Gewalt und durch sie formell definiert bleibt, indem
Allgemeinheit und Dauerhaftigkeit zu historisch bedingten Prädikaten verblas-
sen380, scheint kaum der Versuch gewagt, das Prinzipielle am konstitutionellen
Kompetenzschema zu formulieren. Bei einem solchen Versuch steht Schmitthenner

373 CAitL v. RoTTECK, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaft, § 67,

Bd. 2 (Stuttgart 1830), 202.


374 KANT, Metaphysik der Sitten, 1. Tl., § 46. AA Bd. 6 (1907), 313 ff.

375 RoTTECK, Lehrbuch,§ 67, Bd. 2, 203.

376 Ebd., §§ 114 ff., S. 311 ff.


377 FRIEDRICH SCHllllTTHENNER, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts

(Gießen 1845), 298 ff. 317.


378 KANT, Metaphysik der Sitten, 1. Tl., § 45. AA Bd. 6, 313.

_a19. ScHMITTHENNER, Grundlinien, 306. 340 ff. 301 f.

a8o Ebd., 477. 523 f.

911
Gesetz II. 9. Staatswissenschaftliche Begrift'sentwicklung bis 1850

wie die meisten Theoretiker vor allem vor der mit dem alten Reichsstaatsrecht und
der Lehre von sachgegenständlich getrennten Hoheitsrechten gegebenen Schwierig-
keit, daß die gesetzgebende Gewalt nicht nur abstrakte Gesetze erläßt und abstrakte
Gesetze nicht nur von der gesetzgebenden Gewalt stammen, so daß Brechungen
logisch-abstrakter Begriffsdeduktionen unvermeidlich scheinen. Infolge einer sol-
chen Gleichsetzung der Akte der gesetzgebenden Gewalt mit Gesetzen erscheinen
etwa bei ROMEO MAURENBRECHER Friedensschlüsse, Kriegserklärungen u.ä. m. als
für die Untertanen wirkliche Gesetzess 1 •
Im Ansatz wie Rotteck bestimmt KARL EDUARD WEISS das Gesetz nach seiner
Abstraktheit, wobei abstrakt („allgemein") nicht nur das jedermann angehende,
sondern auch das gewisse Adressatengruppen wie Kaufleute betreffende, aber ab-
strakt und nicht individuell bestimmt gefaßte Gesetz, d. h. das „besondere" Gesetz,
ist. AhAr fliA gARAt:r.gAhAndA Gewalt umfaßt für ihn als sc.hlechthin anordnende Gewalt
auch Privilegienfragen und, wie nach dem französischen Verfassungsrecht, aber
entgegen der Freiheits- und Eigentumsklausel, auch Staatsorganisationsakte 3 8 2•
Diese Auffassung berührt sich mit der von NIKOLAUS THADDEUS GÖNNER zu Beginn
des Jahrhunderts, der ebenfalls eine umfassende Anordnungsgewalt kennt, zu der
auch das Gesetzgebungshoheitsrecht gehört 383, das Recht, al"lgemeine N(Yfmen,
1:1priuh: ab1:1trakte, zu erlassen, und zwar nicht nur für die Untertanen, sondern auch
für die Staatsverfassu,ng und alle Regierungsrechte 384• Dieser formal-systematische
Gesetzesbegriff ist unabhängig von der ständischen Mitwirkung und deren Gegen-
ständen. Daneben kennt Weiss einen traditionell-hoheitlichen Gesetzesbegriff, der
sich nicht aus der Gesetzgebungs-, sondern aus der Polizeihoheit ergibt 385 • Diese
polizeiliche Anordnungsgewalt stellt überhaupt die Crux der konstitutionellen
Staatsrechtslehre dar, die diesen expansiven landesherrlichen Sachhoheitsbereich
nur schwer in Funktionen aufzugliedern vermag 386 und seinen außer„recht"lichen
Ursprung aus der landesherrlichen Gewalt nur langsam mit den „Rechts"vorstel-
lungen der Freiheit- und Eigentumsformel und dem konstitutionellen Gesetzes-
begriff in Deckung bringen kann. Weiss jedenfalls wartet drittens mit einem im
Anschluß an die vormärzlichen Konstitutionen und deren Eigentums- und Freiheits-
klausel gewonnenen konstitutionellen Gesetzesbegriff auf, der nach dem Kriterium
Atii.ndischer Mitwirkung in die Teilklassen Ge.setz (leges) und Verordnung (con-
stitutiones) zerfällt 387 , wobei letztere Vollziehungs- wie selbständige Verordnungen
aufgrund des „Aufsichts- und Verwaltungsrechts" sein können. W eiss bietet damit
ein die Übergangszeit charakterisierendes Konglomerat heterogener Begriffs-
aspekte.
Mit dem Ausdruck 'besonderes Gesetz' knüpft Weiss terminologisch an die Begriffs-
ebene der Reichsstaatsrechtslehre an, die vor allem HEINRICH ALBERT ZACHARIÄ
zu reaktualisieren versucht. Als das Wesentliche am Gesetz erscheint ihm wie W eiss

881 MAURENBREOHER, Staatsrecht, § 41, s. 50 f.; § 186, s. 331.


882 WE1ss, System, §§ 304. 309. 314, S. 660 f. 673. 684 f.
3 83 GÖNNER, Staatsrecht, § 275, S. 423.
384 Ebd., §§ 275. 293, S. 423. 460 f.
3 8° WEISS, System, § 349, S. 750.
388 Dazu BöoKENFÖRDE, Gesetz, 84 ff. 94 ff.
887 WEISS, System, § 309, S. 673 f.; beide Arten können „generell" oder „speciell" sein.

912
a) Rechtssystematische Begriß'svariationen Gesetz

seine Allgemeinverbindlichkeit für alle Untertanen oder bestimmte Klassen von


ihnen sowie die Abstraktheit der allgemeinen objektiven Rechtsetzung; dieses Ge-
setz im eigentliclien Sinn nennt er in reichsrechtlicher Begriffssprache lex generalis 88 B.
Deren Allgemeinheit wird jedoch durch die leges speciales in Frage gestellt, die,
ebenfalls normgebend, jedoch nur in speziellen Fällen Rechte (Privilegien, Dispense)
setzen, aber mit der allgemeinen Rechtsetzung zusammen die Gesetzgebung aus-
machen. Dieser für die Normrang- und Ablösungsfragen bei der Privilegienabschaf-
fung erheblichen Unterscheidung liegt die reichsstaatsrechtliche Ansicht vom „ge-
meinen" Recht und seinen DurchbrechlJ.Ilgen im Einzelfall zugrunde; das Gesetzes-
recht ist dabei nur ein Ausschnitt aus dem Recht. Gemeinsam ist der lex generalis
und der lex specialis, daß sie Akt der Willkür, nicht der gebundenen Ausführung
sind 389 • Untergruppen der leges generales sind Gesetze und Verordnungen, die sich
verfassungsrechtlich durch die Teilnahme der Stände an ihrer Entstehung unter-
scheiden. Hier argumentiert Zachariä vom geltenden Verfassungsrecht aus em-
pirisch-pragmatisch, indem er -wie sein früher publizierender Namensvetter Karl
Salomon Zachariä- einzelstaatliche Varianten etwa zu typischen Gesetz- und Ver-
orunung8bereichen bündelL390 • Die Lraditionellen Sachhoheitsbereiche werden trotz
des reichsstaatsrechtlichen Begriffshorizontes in Funktionsbereiche aufgegliedert,
so daß die Gesetzgebung in Polizeisachen etwa nicht für sich, sondern, wie es schon
Aretin für selbstverständlich gehalten hat, nach den für jede Gesetzgebung gelten-
den verfm1sungRrechtlichen Grundsätzen, z. B. über die ständische Mitwirkung, be-
handelt wird 391 •
Unabhängig von solchen Positivierungen entwickelt KARL SALOMON ZACHARIÄ
einen materiell bestimmten ursprilnglichen Gesetzesbegriff, nach dem Gesetze
bleibende Vorschriften sind, und - wie einst in der girondistischen Konstitution -
allgemeine Vorschriften, deren Gültigkeit von Zeitbedingungen unabhängig ist 892 •
Gesetzliche Allgemeinheit bedeutet damit Substantialität und Dauerhaftigkeit, zu-
dem terminologische und begriffliche Allgemeinheit und schließlich Ausnahmslosig-
keit, d. h. Geltungsallgemeinheit393• An solche Allgemeinheit kann das frühkonsti-
tutionelle, liberale Rechtsethos anknüpfen und umgekehrt Ausnahmsgesetze als
Abwe·icli-ungen vom Recht brandmarken 394• Denn die Allgemeinheit des liberalen
Gesetzes soll die Gleichheit vor dem Gesetz, vor allem den Schutz des Eigentums
vor willkürlichen Eingriffen und die Freiheit, insbesondere der wirtschaftlichen Ent-
wicklung, verbürgen; sie soll die Richtigkeit, d. h. die Gerechtigkeit des Gesetzes
garantieren, die sich aus der Diskussion der bürgerlichen Öffentlichkeit herstellt und
nicht mehr wie in der Aufklärung aus apriorischen Prinzipien ableiten läßt. Das
staatliche Gesetz kann sich andererseits inhaltlich auf derartige allgemeine, ele-

388 ZACHARIÄ, Bundesrecht,§ 125, Bd. 2, 83. 86 (s. Anm. 225).


389 Ebd., §§ 125. 135, S. 83. 134 ff.
390 Ebd., §§ 125. 131, S. 86. 119 ff.; KARL SALOMO ZACHARIÄ, Vierzig Bücher vom Staate,

2. Aufl., B<l. 4 (Heidelberg 1840), 85. 89. 92. 19.


s91 ZACHARIÄ, Bundesrecht, §§ 159 f., S. 260. 266; ARETIN, Staatsrecht, Bd. 2/2 (Alten-
burg 1828), 192.
392 ZACHARIÄ, Vom Staate, Bd. 4, 9 ff.

393 Ebenso BöcKENFÖRDE, Gesetz, 116 f.

394 ARETIN, Staatsrecht, Bd. 2/2, 15. 32.

58-90386/1 913
Gesetz II. 9. Staatswissenschaftliche Begriß'sentwicklung bis 1850

mentare Fragen beschränken, solange die Gesellschaft ihre lnteressenauseinander-


setzungen selbst in einer „natürlichen" Harmonie austragen µnd der „Nachtwäch-
terstaat" sich einerseits darauf beschränken kann, die Ablaufregeln allgemein zu
formulieren 395, andererseits sich darauf beschränken muß, weil die freie Konkurrenz-
gesellschaft die Berechenbarkeit der staatlichen Handlungen erfordert. Das Gesetz
konstituiert nicht mehr Freiheiten und Freiheitsräume, sondern es begrenzt die
jedem Bürger und Menschen abstrakt und gleichermaßen zukommende - aber zur
Expansion neigende - Freiheit. ·
Zachariäs substantiellen Gesetzesbegriff präzisiert nach vernunftrechtlichen An-
läufen der späte HEINRICH ZoEPFL aus der Anschauung des konstitutionellen Ver-
fassungsrechts. Als typische Aufgabe des Gesetzes sieht er an, allgemeine Grundsätze
aufzustellen, als typische Aufgabe der Vet'Ol'dnung, uas i;13·iru~r N at·ur nach Yeränder-
liche in einer den gegenwärtigen Zeitumständen und Yerkehrsverhältnissen entspre-
chenden Weise festzulegen 396 • Gesetze regeln den prinzipiellen, wesentlichen Rechts-
zustand des Staates und seiner Bürger zueinander, während Verordnungen nur des-
sen Vollzug dienen und das wechselnd Zeitbedingte und zweckgebunden Veränder-
liche beLreIIen 397 • Den Gegenstandsbereich der-nicht nur gesetzesausführenden -
Verordnungen bestimmt auch Zoepil in enger Anlehnung- an das geltende Ver-
fassungsrecht nach Typengruppen39a.

h) Staatspolitische Begriffsausformungen. Zoepfls Begriffswandlungen markieren


eine Abkehr vom vernunft- und hoheitsreehtliehen Denken, die zu einem schon bei
Schmitthenner und K. S. Zachariä angerissenen funktions- und problemorientierten
Gesetzesbegriff der Substantialität führt. Indem die bürgerliche Kultur- und Wirt-
schaftsgesellschaft in der Mitwirkung an der Gesetzgebung ein Mittel hat, sich aktiv
zu politisieren, d. h. öffentliche Meinung in den Staatswillen zu transubstantiieren 399 ,
wird die Unterscheidung von Gesetz und Verordnung zu einem juristischen Angel-
pu~kt für die sozialen Spannungen und Kräfte. Dogmatisch geht es dabei um Be-
stand und Rang des sog. selbständigen Verordnungsrechts der Krone sowie um eine
interpretative Ausweitung des zustimmungsgebundenen Gesetzgebungsbereiches.
Der Gesetr.eshegriff wird aus einem theoretisch-systematischen Ordnungsbegriff zu
einem politisch relevanten, verfassungsrechtlichen Begriff, der sich im wesentlichen
in drei Richtungen ausformt.
Auf der Grundlage des monarchischen Prinzips ist für FRIEDRICH J ULIUS STAHL
nicht die Gesellschaft der Gegenpol zum Königtum, sondern das Volk Partizipant
an Teilen der einheitlichen Staatsgewalt des Monarchen. Nach dem Vorbild des
konstitutionellen Verfassungslebens bestimmt er Gesetz wie Verordnung als allge-

396 HARF:RllfAS, Öffentlichkeit, 193 ff.; FRANZ NEUMANN, Der Funktionswandel des Ge-
setzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, Zs. f. Sozialforsch. 6 (1937), 555 ff.
396 HEINRICH ZOEPFL, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts,§§ 439 f., 5. Aufl.,
Bd. 2 (Heidelberg, Leipzig 1863), 518 f. 523, der früher jedoch formell nach Verfahren u.
Kompetenz urteilt: Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen
Staatsrechts, § 128 (Heidelberg 1841), 201 f.
397 Ders., Gemeines Staatsrecht,§§ 276. 440, Bd. 1, 770; Bd. 2, 522 ff.

398 Vgl. BöCKENFÖRDE, Gesetz 120 f., der Zoepfl jedoch nur nach der 5. Aufl. beurteilt.

300 'Tram1substantiation' bei MARX, Zur Kritik der Regelsehen Rechtsphilosophie (1843),

MEW Bd. 1 (1957), 280. .

914
b) Staatspolitische Begriffsausformungen Gesetz

meine, rechtsetzende Regeln der Staatsgewalt. Aber während die Gesetze der Fest-
stellung der Rechtsgrundsätze dienen, nehmen Verordnungen, vorbehaltlich gesetz-
licher Festlegungen, selbständig wie ausführend eine Tätigkeit für Zwecke wahr 40 0;
sie tragen insoweit Anpassungs- und Maßnahmecharakter, während die Gesetze
durch den aus sich selbst legitimen Rechtszweck ausgezeichnet sind. Gesetze formen
den Rechtszustand der Staatsbürger prinzipiell und strukturell aus, wie z. B. in Ge-
setzen über Schul- oder Militärpflichten; sie konkretisieren ihn nicht nur wie z. B.
polizeiliche Ordnungsvorschriften 401 . Mit dieser Eingrenzung bringt Stahl die histo-
risch-konventionell verstandene, mehrdeutige Freiheits- und Eigentumsklausel in
Deckung. Systemkonform umgrenzt sie den Bereich der Mitwirkung der Betroffenen
(Personen), damit die Gesetzgebung, und teilt sie nicht40 2.
Für den Liberalen Rü.ll]jllt'l' voN MoHL besteht nach württembergischem Staatsrecht
kein Abgrenzungsproblem innerhalb der Gesetzgebung. Gesetze sind hier für ihn
allgemeine Normen, welche das Verhältnis der Bürger zum Staate, so wie das zu seinen
Mituntertanen feststellen 403 ; die königlichen Verordnungen sind nur gesetzausfüh-
rende40"'. Bei dieser untergeordneten Rolle der Verordnungen bleibt es auch, als.
Mohl späterhin die Gesetze theoretischer nach ihrer Abstraktheit definiert und aus
dem so gefundenen Systembegriff unter konstitutionellen Aspekten anhand des
Kriteriums der Wichtigkeit neben Verfassungsnormen die einfachen Gesetze aus-
grenzt. Sie sind formell durch die Zustimmung der Volksvertretung und inhaltlich
dadurch gekennzeichnet, daß sie Rechtssätze schaffen, d. h. Rechtsverhältnisse
regeln 405 , ohne kompetenziell hierauf beschränkt zu sein. Ist damit einerseits der
Legislative Aktionsfreiheit gewährt, so wird andererseits aus der praktischen Er-
wägung, daß nicht alle abstrakten Anordnungen im Wege der Gesetzgebung ge-
troffen werden können, der Exekutive ein selbständiges Verordnungsrecht, zunächst
für das Gebiet der (alten) Polizei<los, später auf allen Sachgebieten407 , zugestanden.
Das Kriterium des Prinzipiellen, der Wichtigkeit für den Bürger und sein Verhältnis
zum Staat, das auch von anderen Staatsrechtslehrern, wie z. B. Johann Caspar
Bluntschli, verwendet wird, steht auch hinter der Abgrenzung, die KARL THEODOR
WELCKER in dem für den politischen Liberalismus repräsentativen „Staatslexikon"
zwischen Gesetz und Verordnung vornimmt. Für ihn sollen die Gesetze in ethischer
Hinsicht vorab Gerechtigkeit verkörpern. Die Gesetzgebung ist kompetenziell je-
doch einerseits nicht auf die Rechtsetzung beschränkt, andererseits nicht zu jeder
Art abstrakter Normsetzung kompetent. Der staatsrechtlich~ Gesetzesbegriff um-

40 ° FRIEDRICH JuLIUS STAHL, Die Philosophie des Rechts, 2. AufL, Bd. 2/2 (Heidelberg

1846); 166. 168 (§§ 54. 55).


401 Ebd., § 55, S. 169; § 101, S. 336 f.
402 Ebd., § 101, S. 335 f.
4 ua ROBERT MoHL, Das 8taatsrecht des Königreiches Württemberg, 2. Aufl., Bd. 1 (Tübin-

gen 1840), 182.


404 Ebd., Bd. 1, 189.
406 Ders., Staatsrecht, Völkerrecht, Politik, Bd. 2 (Tübingen 1862), 405 f. 414 ff. 428 f.

628 f.
4 ou Ders., Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 3. Aufl.,

Bd. 1 (Freiburg 1866), 45 f.


407 Ders., Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl. (Tübingen 1872), 146.

915
Gesetz II~ 9. Staatswissenschaftliche Begriffsentwicklung bis 1850

faßt in Welckers politisch-pragmatischem Verständnis auch nicht-abstrakte, aber


für den Staatsbürgerzustand, insbesondere seinen Pflichtenkreis, wichtige Gegen-
stände wie Wahlbestimmung u.ä., schließt aber unwichtige Gegenstände aus, auch
wenn sie abstrakt und eigentumserheblich sind408 • Damit wird ein selbständiges,
aber gesetzesnachrangiges Verordnungsrecht der Krone bejaht.
Die staatsrechtliche Aussagekraft des an sich vagen Wichtigkeitskriteriums beruht
allein darauf, daß es konventionell verstanden wird aus der Perspektive der kon-
stitutionellen Gesetzesvorbehalte und einer im wesentlichen gefestigten Staats-
praxis. Die Erweiterungen bzw. Verengungen der Gesetzgebungs- bzw. Regierungs-
gewalt erfolgen in dem nicht scharf definierten Zwischenbereich 409 eher praktisch
und kasuistisch als begrifflich. Die begrifflichen Kategorien für den Dualismus von
monarchischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft liefert hier HEGEL. Der Be-'
.~nndP.rh,p,it d!lr individualistisr,h auf Fiigllntums- und FrllihllitRRClh11t:r. angewiesenen
Bedürfnisgesellschaft stellt er den Staat als die Allgemeinheit der übergreifenden
Einheit gegenüber 410 • Mit der Gesetzgebung ordnet der Staat die Gesellschaft,
realisiert sich das Allgemeine im Besonderen411 . Nach dem Ausgangskonzept der
(historischen) konstitutionellen Monarchie wirken für Hegel in der gesetzgebenden
Gewalt, zueinander vermittelt, das monarchische und das ständische Element; wobei
leLzLeres uie Beziehung zwischen uem Allgemein-(SLaaLs)luLeresse und den
(atomistischen) Individualinteressen der Gesellschaft herstellen soll 412 • In die gesetz-
gebende Gewalt fallen also außer Gesetze auch sonstige ihrem Inhalte nach ganz all-
gemeine innere Angelegenheiten413 ; sie ist umfassende Maßgabe-Gewalt. Demgerp.äß
sind die Gesetze Festsetzungen des Allgemeinen. Das heißt zunächst, daß sie allge-
meingültig sowie fallabstrakt sind; ferner, daß sie die Rechtsprinzipien, wie sie sich
inhaltlich für den konkreten Staat in seiner historischen Entwicklung und in der
Lebensgesetzlichkeit der staatlichen Gemeinschaft (Volksgeist) ergeben414 , sach-
logisch-systematisch im Gegensatz zum subjektiv-zufällig geordneten Gewohnheits-
recht aufsetzen 415 • Entscheidend aber ist eine durch das Staatstelos definierte sub-
stantielle Allgemeinheit gemeint. In diesem Sinne sind Gesetze Regelungen des In-
stitutionell-Grundlegenden, Maßgebenden und die Gesellschaft Ordnenden 416 im
Gegensatz zum Empirisch-Zweckmäßigen, Veränderlichen, „Besonderen". Dieses
airnh rP.Clhtset,:r.1md im Rahmen der Maßgebung :r.u regeln, obliegt der Regierung, so
daß Hegel sowohl Exekutiv- als auch selbständige Regierungsverordnungen

408 KARL THEonoR WELCKER, Art. Gesetz, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 6 (1862),

475f.
409 JoH. CASPAR BLUNTSCHLI, Art. Verordnung, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 10 (1867), 7.77.
410 HEGEL, Rechtsphilosophie, §§ 182 ff. 257 f.

m Ebd., §§ 261. 265.


412 Ebd., §§ 273. 300 ff.; gegen die „ Volkssouveränität" auf der Grundlage eines atomisti-

schen Volksbegriffs: §§ 279. 303.


413 Ebd., §§ 298. 273; ebenso schon 1802: Die Verfassung Deutschlands, Polit. Sehr. hg. v.

Jürgen Habermas (Frankfurt 1966), 131.


414 HEGEL, Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württem-

berg im Jahre 1815 und 1816, Polit. Sehr., 185.


415 Ders., Rechtsphilosophie, §§ 211. 215.
416 Gegenständlich konventionell aufgefaßt: vgl. ebd., § 299.

916
L) Staatspolitische Begriffsausformungen Gesetz

kennt 417 • Daß seine Abgrenzung der Gesetze und Verordnungen dabei nur im Typi-
schen vollzogen werden kann, verkennt er nicht.
Ist für Hegel die Ständemitwirkung ein Integrationsmittel zum Staat hin, so tritt bei
LORENZ VON STEIN das rousseausche und kantische Moment der Selbstbestimmung
und Freiheitskonstitution an seine Seite. Das Gesetz ist dadurch für ihn formell und
materiell durch die Volkszustimmung definiert 418 , die zusammen mit der Mit-
wirkung der Regierung und des Staatsoberhauptes den Begriff des formellen .Ge-
setzes ausmacht 419 . Die Beteiligung der Volksvertretung soll dabei der Motor sein,
um soziale und wirtschaftliche Klassenunterschiede zu beseitigen und· so die auf
Rechtsgleichheit beruhende staatsbürgerliche Gesellschaft herzustellen. Inhaltlich
ist das aus dem staatlich-gesellschaftlichen Willen entstandene Gesetz auf das
Dauemde, We1:1euLliche, GleicharLige der Suzialbeziehuugeu, auf d·ie D·inye wnd d·ie
Lebensverhältnisse ... an sich gerichtet, wie sie die Gesetzgebung selbst für dauernd
hält, nicht auf seine veränderlichen Ausgestaltungen. Das Gesetz in diesem Sinne ist
institutionell begriffen; es „schafft bzw. sanktioniert in sich simivolle Ordnungen
des sozialen Lebens" 420 • Demgegenüber regelt die Verordnung nicht das Wahre,
sondern das Zweckmäßige 421 , und zwar nicht nur im Rahmen des Gesetzes, sondern
auch, wo dieses fehlt, anstelle des Gesetzes 422 • Das bei einer solchen typischen Ab-
grenzung entstehende Konkurrenzverhältnis der Gesetzgebungs- und Verordnungs-
gewalt löst Stein juristisch durch den Vorrang des Gesetzes. Seine Lösung ist jedoch
letztlich angewiesen auf die Homogenität der Verfassungsstruktur und auf ein aus-
gewogenes Verhältnis von Staat und Gesellschaft, zu deren Versöhnung das Gesetz
beitragen soll.
In dieser Hinsicht stellt freilich kaum jemand in der frühliberalen Wirtschafts-
gesellschaft das Königtum und die Sozialordnung ernsthaft in Frage. Die zu „ Volks-
vertretungen" ausgeweiteten „Landstände" repräsentieren nur die vollberechtigten
Staatsbürger 423 , einschließlich des rechtlich eingeordneten Adels als Volk, aber nicht
mehr. Die hierin liegende Abschichtung nimmt jedoch MARX in der Entgegensetzung
von Volk und Proletariat 424 klassenkämpferisch auf und radikalisiert zugleich den
materiellen Gesetzesbegriff zu einem Parteibegriff. Ungeachtet Form und Instanzen
i1:1t für ihn zunäch1:1L da1:1 'W'irkl·iche GeMelz identÜ;ch mit der F!'eiheit und damiL dem
Recht; es ist allgemein i. S. von abstrakt, objektiv, in sich richtig und das Gegenteil
einer zweckgebundenen Maßregel 425 • In diesem Begriffspaar 'Gesetz' - 'Maßregel'
wird die bekannte Gegenüberstellung von Recht und Zweck erstmals dogmatisch

417 Ebd.
418 LORENZ v. STEIN, Die Verwaltungslehre, 2. Aufl., Tl. 1 (Stuttgart 1869), 73. 85.
419 Ebd., 90 f. 105.
420 BöcKENFÖRDE, Gesetz, 153.
421 STEIN, Verwaltungslehre, Tl. 1, 75.
422 Ebd., 76.

423 WILDA, Art. Landstände, WEISKE Bd. 6, 805.


424 MARx, Sitzung der Zentralbehörde vom 15. September 1850, MEW Bd. 8 (1960), 558,

zit. WERNER BLUMENBERG, Karl Marx in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rein-


bek 1962), 97.
ui; M.ARx, Rheinischer Landtag, M.ll:W Hd. 1, 41. 57 ff.; ders., Bemerkungen über die

neueste preußische Zensurinstruktion, ebd., .14.

917
Gesetz II. 9. Staalllwill11en1chaftliche Bewiffsentwicklun1 bis 1850

scharf gefaßt. Nach seiner W ortgeschichte 426 bezeichnet 'Maßregel' ursprünglich in


der Mitte des 18. Jahrhunderts revolutionäre Aktioncn„von etwa 1800 an aber, be-
sonders im Deutschen Bund, vorwiegend gegenrevolutionäre, staatserhaltende,
,außerordentliche, aber nicht unbedingt konkrete Vorkehrungen. Bei Kant werden
die „Rechtsgesetze" den auf die Glückseligkeit zielenden Gesetzen als „Maßregeln"
gegenübergestellt 427 . An ihn schließt Marx mit der Abqualifizierung des Zensur-
ediktes an, das kein Maß in sich, keine vernünftige Regel enthalte. Die kritische Ein-
stellung gegen den Gesetzgeber ist dabei nicht originell; auch im RoTTECK/WEL-
CKERschen „Staatslexikon", das man kaum revolutionärer Ansichten verdächtigen
kann, heißt es : Die Gesetze sind der Ausdruck der herrschenden Gewalt, was für den
despotischen Feudalstaat bedeute: sie sind das Mittel, um das Volk seiner Freiheit zu
berwuben 128 • Neu ist bei Marx die Rigidität, mit der er die Richtigkeit institutionell
im „Volk" (im rousseauschen Sinne) als Gesetzgeber verankert429 . Da.s staatliche
Gesetz des konstitutionellen Staates stelle nur formell Volks- und Staatsinteresse
gleich; es sei in Wahrheit ein Herrschaftsinstrument des Bürgerstandes („stän-
disches" Gesetz), abhängig von dessen historischen, ökonomischen Verhältnissen 430.
Das wirkliche Gesetz könne dagegen erst als Produkt des Proletariats als des wirk-
lichen Gesetzgebers entstehen 431, wobei daR Verfahren unerheblich erscheint.
Gegenläufig zu dieser Überbetonung des materiellen AspekLs des einheitlichen Ge-
setzesbegriffs entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter
Hiickgriff aufnaturrechtliche Begriffe und Theoreme ein angeblich wert- und partei-
neutral formalisierter, theoretisierter Gesetzesbegriff, der auf der Grundlage eines
positiven Staatsrechts das soziale Substrat der Rechtsordnung als unjuristisch aus-
klammert. Aus zeitgebundenen, sozialpsychologischen Gründen und methodischen
Prämissen 432 führt diese Formalisierung und angebliche Entpolitisierung über die
Verselbständigung des inhaltlichen und formellen Aspekts des einheitlichen Ge-
setzesbegriffs zu einem doppelten Gesetzesbegriff. Bis zu diesem Punkt hat sich die
Entwicklung als äußerst vielschichtig erwiesen. Nur in der vorwiegenden Tendenz
kann man aus den einzelnen Strömungen einen sog. „rechtsstaatlichen Gesetzes-
begriff"433 herauskristallisieren, dessen Typus durch die „Herrschaft des Gesetzes",
die Gewaltenteilung, die Richtigkeit und substantielle Generalität des Gesetzes ge-
kennzeichnet ist, der aber in seiner Abstraktion selbst wieder polfimische Bedeutung
erhält. Nicht zu der in Frankreich angelegten Entfaltung kommt hingegen der
„demokratische Gesetzesbegriff", weil sich das Bürgertum im Ergebnis mit einer
Abschirmung gegen den Staat begnügt und auf dieser Ebene mit der Monarchie
einigt. So ist es zu erklären, daß das Gesetz im gemeinen Bewußtsein auch weiterhin
weniger als Mitbestimmung, denn als obrigkeitliche Anordnung empfunden wird.

426 KONRAD HUBER, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz (Berlin 1963), 102 ff. 108 ff.
427 KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht
für die Praxis, AA Bd. 8 (1912), 297 ff,
428 Art. Gesetzlicher Fortschritt, RoTTECK/WELCKER 2. Aufl., Bd. 5 (1847), 725.

4 29 MARX, Rheinischer Landtag, MEW Bd. 1, 58.


430 Ders„ Hegelsche Rechtsphilosophie, MEW Bd. l, 258 ff. 320. 324.
431 Ders., Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4 (1959), 474 ff.
432 Vgl~ BöcKENFÖRDE, Gesetz, l!ll ff.; HABERMAS, Öffentlichkeit, 198.
433 ÜARL SCHMITT, Verfassungslehre, 3. Aufl. (Berlin 1957), 138 ff.

918
m. Ausblick Gesetz

III. Ausblick
Die staatsrechtliche Lehre vom doppelten Gesetzesbegriff prägt die Begriffsentwick-
lung für das folgende Jahrhundert und engt sie in die Grenzen juristischer Technik'
ein. Seit Laband unterscheidet man einen materiellen und einen formellen Gesetzes-
begriff, die einander nebengeordnet werden. Das materielle Gesetz ist ein - nicht
notwendig allgemeiner - Rechtssatz; das formelle Gesetz ist ein in Form des Ge-
setzes von den Gesetzgebungsinstanzen im vorgeschriebeuen Verfahren erlassener
Akt jeden beliebigen, d. h. auch rechtsirrelevanten, Inhaltes. Erstmals seit Kant
wird hier die Allgemeinheit des rechtsstaatlichen Gesetzes aufgegeben. Entsprechend
der Unterscheidung von formellem urid materiellem Gesetz, bezeichnet die materielle
Verordnung eine nicht rechtssatzmäßige Anordnung in Verwaltungssachen, die
formelle Verordnung eine zustimmungsfreie Anordnung der Krone, die, je nachdem
sie ein materielles Gesetz oder eine materielle Verordnung darstellt, ermächtigungs-
gebundene Rechtsverordnung oder Verwaltungsverordnung ist 434 • Der entschei-
dende Begriff des Rechtssatzes wird hierbei durch die Funktion der Schranken-
ziehung zwiRr-h1m Relbständig1m Personen, a.Js die auch der Staat, gilt, bezeir-hm~t
(raul Laband, Georg Jelliuek), su daß die Regelu ülier die ,;LaaLliuhen Innen-
beziehungen einschließlich des Verfassungsorganisations- und Gerichtsverfassungs-
rechts als Nichtrecht. erscheinen müssen. Eine andere Auffassung begreift den
Rechtssatz nach dem bekannten Schema abstrakt-konkret als abstrakte Rechts-
regel, so daß die Gesetzgebungskompetenz eine erhebliche Ausdehnung erfährt
(Gerhard Meyer, Edmond Seligmann). Schließlich identifiziert man den Rechtssatz
verengend mit Eingriff in Freiheit und Eigentum (Max von Seydel, Gerhard An-
schütz) und verbindet hiermit die Vorstellung rechtsfreier besonderer Gewalt-
verhältnisse, in deren Rahmen sich Soldaten, Beamte, Schüler usw. im imperme-
ablen Staatsinnenbereich· befinden, so daß Staatsorganisations- und gewährende
Normen ebensowenig Gesetz sein können wie Beamtenvorschriften u.ä.m. 435 .
Daß solche der Staatspraxis widersprechende Folgerungen tatsächlich nicht gezogen
und Normen, die ·die Beamten- oder Schülerverhältnisse regeln, auch als materielle
Gesetze angesehen werden, liegt daran, daß die vorgebföh rer-htstheoretischen Be-
griffe, die man ungeachtet der politischen Implikationen dem historisch geltenden
Verfassungsrecht als dogmatische Begriffe andient, letztlich systeniwidrig in ihren
historisch-konventionellen Verengungen verstanden werden. So wird in der Regel
einerseits die im formellen Gesetzesbegriff implizierte Herrschaft des Gesetzgebers
vermieden, andererseits ein selbständiges Verordnungsrecht des Monarchen bzw.
der Exekutive - wenn auch als Nichtrecht - erhalten. Trotz beachtlicher Kritik
setzt sich die Lehre vom doppelten Gesetzesbegriff in den Lehrbüchern durch. Diese
Kritik bemüht sich wieder um ein einheitliches Gesetzesverständnis, sei es, daß sie
das Gesetz als nicht nur schrankenziehende, sondern auch zusammenordnende
Richtschnur und Regel, als Satz des objektiven Rechts (Albert Haenel) versteht,
aber andererseits die rechtstheoretische Rechtssatzeigenschaft nicht auf Gesetze be-

434 Zusammenfassend PAUL LABAND, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl.,

Bd. 2 (Tübingen 1911), 2. 61 ff. 68 ff. 85.


436 Vgl. BüoK.1<J>'H<'Üit.u.1<J, Gesetz, 226 ff. (Paul Laband); 242 ff. (Georg Jellinek), 259 ff.

(Georg Meyer); 271 ff. (Gerhard Anschütz); 277 ff. (Max v. Seydel).

919
Gesetz m. Ausblick
grenzt (Albert Haenel, Ferdinand von Martitz, Otto von Sarwey), so daß die ein-
engende Gleichsetzung von rechtsetzender Funktion mit der Kompetenz der gesetz-
gebenden Gewalt aufgehoben wird; sei es, daß die formelle Seite des Gesetzes zwar
zum Ausgangspunkt genommen, die materielle Seite aber aus den verfassungs-
positiv enumerierten Gesetzesvorbehalten (Adolf Arndt) oder historisch aus einem
konventionellen Gesetzesvorbehalt (Conrad Bornhak) entnommen wird, wodurch
andererseits die Existenz des selbständigen Verordnungsrechts der Krone dogma-
tisch begründet erscheint; sei es schließlich, daß eine Synthese aus der formgerech-
ten Entstehung und dem Inhalt des Staatswillens vorgeschlagen wird, der sich so-
wohl auf die Erzeugung von abstrakten und allgemeinverbindlichen Rechtssätzen
wie auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum richten können soll (Otto Mayer)436.
Über diese systemimmanent bleibende Kritik hinaus knüpft man bei der Abgren-
zung von Gesetz und Verordnung, von Legislativ- und Exekutivfunktion im gegen-
wärtigen Schrifttum wieder an materiale, staatszweck- und politikbezogene Krite-
rien an und versucht, das Gesetz anhand der Gesichtspunkte der Rationalität und/
oder Substantialität, der Rechtszweck- im Gegensatz zur Verwaltungszweokbezogen-
heit, der grundsätzlichen Maßbestimmung im Gegensatz zu zweckorientierter,
agierender Anordnung begrifflich und funktionell zu erfassen. Rofohe im Typischen
bleibenden, diffusen Abgrenzungen werden prozessual präzisiert durch den Vor-
behaltsbereich und das ihn ergänzende Zugriffsrecht der Legislative 437, kraft dessen
sie bisher nicht vorbehaltene Regelungsinhalte kompetenziell an sich ziehen und
dem Vorbehaltsbereich einordnen kann, weil gesetzliche Regelungen allen anderen
intrakonstitutionellen Rechtsakten vorgehen (Gesetzesvorrang), also wiederum nur
von Gesetz aufgehoben und abgeändert werden können. Ein Legislativabsolutismus
läßt sich nach dieser Ansicht aber nur vermeiden, wenn man einen zugriffsfesten
Kern(vorbehalts)bereich der Exekutive postuliert, innerhalb dessen exekutive In-
stanzen rechtsetzend tätig werden dürfen. Damit ist man auf ein konventionelles,
topisches Funktionsverständnis von Legislative und Exekutive verwiesen, will-man
nicht einem Zirkelschluß verfallen. Das hierbei implizierte ermächtigungsfreie Ver-
ordnungsrecht der - demokratisch legitimierten - Exekutive begegnet freilich in
der Lehre vom totalen Gesetzesvorbehalt dem alten, in der Rechtssatzdiskussion
verborgenen demokratischen Mißtrauen gegenüber der Krone. Dabei werden nioht
immer hinreichend die verschiedenen Problemkreise der einerseits rechtstheoreti-
schen, andererseits dogmatischen Begriffsbildung, der verfassungsrechtlichen Funk-
tions- und Kompetenzverteilung, der Legitimations- und Rangfragen sowie des in-
dividuellen Rechtsschutzes unterschieden. Weil ein Staatsakt etwa unter dem Ge-
sichtspunkt des Rechtsschutzes als Gesetz i. S. der Rechtsschutznormen gelten soll,
braucht er nicht zugleich auch Gesetz i. S. der Funktionenteilung zu sein und
umgekehrt. Zudem bedürfen die Rangordnung und Funktion auch des nationalen
Gesetzgebers erneuter Überlegungen, seitdem die Rechtsetzungen nichtö:ffentlich-
rechtlicher Instanzen wie der Gewerkschaften und sonstiger Verbände sowie supra-
nationaler Organe an Umfang und Bedeutung auch für den einzelnen nationalen
Bürger zunehmen. Ob das Gesetz noch allgemeine Regel ist, wie man jahrhunderte-
lang und insbesondere in der rechtsstaatlichen Verfassungslehre meinte, ist heute,

436 .h:bd., 282 ff. :no ff. :121 ff.


437 Ders., Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung (Berlin 1964), 84. 103 ff,

920
m. Ausblick Gesetz

welchen Aspekt von „allgemein" man auch ins Auge faßt, problematisch, seitdem
der Staat der Daseinsvorsorge mehr gewährende als eingreifende und weniger prin-
zipielle, institutionelle Gesetze als Maßnahmegesetze erläßt, seitdem die Gesetze im
Parteien- und außerparlamentarischen Verbandskompromiß gefunden und ge-
sichert werden. Das Bundesverfassungsgericht hält Maßnahme- und Einzelfall-
gesetze im Staat der Industriegesellschaft für legitim 438 • Diese und andere Befunde
der Verfassungswirklichkeit zeigen, daß der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff frag-
würdig geworden ist. Ob die Staatspraxis eine Fehlentwicklung oder ob der Gesetzes-
begriff den veränderten Verhältnissen entsprechend neu formuliert werden muß,
ist im gegenwärtigen Schrifttum streitig. Eine anerkannte Neubestimmung von
Gesetz und Gesetzgebung unter den Bedingungen des modernen Sozialstaates und
der Industriegesellschaft steht also noch aus.
Die neuesten Entwicklungstendenzen der Gesetzgebung nicht nur in Deutschland
deuten freilich darauf hin, daß die Zeitgebundenheit, die strukturelle Unfertigkeit
und das Angewiesensein auf ständige situations- und objektbezogene Anpassungen
wesentliche Merkmale des heutigen Gesetzesbegriffs ausmachen und zu Funktions-
bedingungen der Gesetzgebung geworden sind. Diese EnLwicklung ist gedanklich
vorweggenommen im funktionellen Gesetzesbegriff, der seit Mitte des 18. Jahr-
hunderts aus der Abhängigkeit von ihm vorgegebener gesellschaftlich-ökonomischer
Gesetzmäßigkeiten entsteht.
Diese Situation c'ler DiRkm1Riornwffenheit nnc'I Rec'lentungRvarianz kennzeichnet die
gesamte Geschichte des Gesetzesbegriffs seit der Antike. Vielfältige Ausgestaltungen
der beiden Bedeutungskerne: 'Gesetz' =vorgegebenes Recht und 'Gesetz' = positi-
ves Recht bestimmen nebeneinander oder abwechselnd das Gesetzverständnis, je
nach geistes- und sozialgeschichtlicher Lage sowie machtpolitischer Konstellation.
Die wesentlichen Begriffskomponenten des neuzeitlichen Gesetzesbegriffs weisen in
die Antike; der rationale Aspekt gründet im griechischen, der politisch-genetische
Aspekt im römischen Rechtsdenken. Seit den hochmittelalterlichen Auseinander-
setzungen zwischen kirchlicher und weltlicher Macht treten beide Aspekte in einem
Säkularisationsprozeß auseinander. In dieser Zeit werden, grundlegend für die Neu-
zeiL, die PosiLivität, Heteronomie und Subordinationswirkung zu maßgebenden
Kriterien des Gesetzes ausgebildet. Seither ist die Vorstellung, das Gesetz sei eine
willkürliche, bewußte Rechtsetzung des Gesetzgebers, im Vordringen, wenn sie sich
auch auf breiter Linie erst im 18. Jahrhundert gegen traditionelle und konventio-
nelle Rechtsvorstellungen durchsetzen kann. Überschlägig läßt sich feststellen, daß
in Perioden herrschaftlicher Macht und Zentralisation der positive Gesetzesbegriff,
das Zwangsmoment des Gesetzes und die Autorität des Gesetzgebers in den Vorder-
grund treten, in Perioden der Dezentralisation hingegen die Tradition, die Über-
zeugung, die Vereinbarung der politisch-sozialen Kräfte. Seitdem Ilodin die Gesetz-
gebung zum Kriterium der Souveränität erklärt hat, wird die Frage entscheidend,
wer als Gesetzgeber anderen Gesetze geben dürfe; sie bestimmt im wesentlichen den
Begriff des Reichsgesetzes bis Ende des 18. Jahrhunderts. Die in der Zeit von 1750
bis 1850 neu hinzutretenden Begriffsaspekte betreffen in Deutschland deshalb nur

438 Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 7. 5. 1969, BVerf. GE 25, 371 f. 396 ff. Vgl. dem-

gegenüber ERNST FoRSTHOFF, Über Maßnahme-Gesetze (1955), in: ders., Rechtsstaat im


Wandel (Stuttgart 1964), 78 ff.

921
Gesetz m. Ausblick
das Territorialgesetz. Das Gesetz wird jetzt zum einen gekennzeichnet durch seine
sozialgestaltende Funktion, die sich extrem im französischen revolutionären Ge-
setzesbegriff artikuliert. Es wird zum andern gekennzeichnet durch seine Allgemein-
heit, die als Beteiligungsallgemeinheit den Träger der gesetzgebenden Gewalt in-
dividualistisch erweitert und als Abstraktheit des Regelungsobjektes Gleichheit
und Freiheit verbürgt. Beides wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in
Frankreich entwickelt, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts i,n Deutschland
aufgenommen und hier durch den Aspekt der Substantialität der Allgemeinheit er-
gänzt. Zugleich bewirkt das vormärzliche Verfassungsrecht ein Auseinandertreten
von Gesetz und Verordnung als zwei instanziell-prozessual verschiedener Arten
positiver Rechtsetzung.

Literatur

ERNST-WOLFGANG BöCKENFÖRDE, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen


der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus (Berlin
1958).; WILHELM ERF.L, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland (Göttingen 1958);
HANS W. Korr, Inhalt und Form der GeAet:>.e (Ziirid1 19G8), Ild. 1, 26 lf., Bd. 2, 358 ff.;
G.1.aw RoELL.ECKE, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz (Mainz 1969).
ARMIN WoLF, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten in Europa, in: Hand-
buch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hg. v.
HELMUT CoING, Bd.l (München 1973), 515 ff. konnte nichL mein• berücksichtigt werden.

ROLF GRAWERT

922
Gewaltenteilung

I. Einleitung. II. 1. Zum Bedeutungsgehalt von 'potestas' und 'Gewalt'. 2. Hochmittel-


alterliche summa potestas, Gegenwirkung durch die Gedanken der Volkssouveränität.
3. Ausbildung der Gewaltenteilung in England, Übernahme durch Montesquie~. 4. Summa
potestas im 17. und 18. Jahrhundert. 5. Zum naturrechtlichen Denken in Deutschland,
rechtsstaatliche Bestrebungen. III. 1. Aufnahme des Begriffs in Deutschland bis 1789.
2. Die Gewaltenteilung im vernunftrechtlichen Denken um die Jahrhundertwende.
a) Kant. b) Schule Kants. c) Fichte. 3. Wachsende Negierung des Prinzips. a) Begriffliche
Unsicherheit. b) Organologische Kritik. 4. Hegel. 5. Gewaltenteilung und monarchisches
Prinzip. a) Staatsrechtliche Festlegung des monarchischen Prinzipa. b) Die Gewalten-
teilung in der konstitutionellen Staatslehre. c) Liberale Auffassungen. 6. Technisierung des
Begriffs bis zum Ende der Monarchie. 7. Redslobs Gleichgewichtsgedanke )lild die Weimarer
Verfassung. 8. Zum Gewaltenmonismus des Dritten Reiches. IV. Ausblick.

I. Einleitung
'Gewalt' wird im folgenden nur im Hinblick auf den hier allein thematisierten Be-
griff 'Gewaltenteilung' in den Blick genommen. Zur umfassenden begriffsgeschicht-
lichen Problematik ist daher auf->- Macht, Gewalt zu verweisen.
Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung der Gewaltenteilung muß sich davor
hüten, zu weit zurückzugreifen, soll sie nicht zu einer Geschichte der Moderation
staatlicher Gewalt überhaupt werden. Weder die bei Platon und Aristoteles gegebe-
nen Formprinzipien, noch das von Polybios stilisierte (und später auch l\fontesquieu
beeinflussende) römische System der Gewaltenhemmung durch die „par maiorve
potestas", noch die Tradition des „status mixtus" oder die historisch gewachsene,
geteilte Ausübung von Herrschaftsrechten im ständischen Dualismus gehören in
eine sinnvoll verstandene Geschichte des Begriffs. Die Lehre von der gemischten
Verfassung hatte zwar erhebliche Bedeutung für die Ausgestaltung der Gewalten-
teilung, sie mußte sich jedoch nicht,notwendig dorthin entwickeln. So blieben die
Bemerkungen über das „regimen mixtum" in Deutschland zumeist viel zu allge-
mein, als daß sie für die Gewaltenteilung in Anspruch genommen werden könnten.
Die Feststellung kehrte formelhaft immer wieder, ein Staatswesen sei vermischt;
wenn es in einigen Stücken mit der Monarchie, in anderen mit der Aristokratie und
Demokratie Ähnlichkeit habe. So entstehet denn die vermischte Art einer Republik
aus der Teilung der Herrschaft in ihre 1liachtteile und deren Einschränkung (CHRISTIAN
WoLFF 1754) 1 . Durch eine solche Verteilung und wechselseitige Beschränkung der
Gewalten kann eine Staatsverfassung sehr verwickelt werden, wovon wir an Deutschland
ein auffallendes Beispiel haben (ANTON F. J. THIBAUT 1797) 2 • Ähnlich wenig für die
Gewaltenteilung sagt die Bemerkung bei GROTIUS über die „summitatis divisio"
aus 3 . Bei diesen und vielen entsprechenden Äußerungen handelte es sich um poli-
tisch unverbindliche Kategorien. Als bewußtes Mittel politischer Moderation und

1 CHRISTIAN WoLFF, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts,§ 993 (Halle 1754), 710.
2 ANTON FRIEDR. JusTus TmBAUT, Juristische Encyklopedie und Methodologie, § 24
(Altona 1797), 33 f.
3 HUGO GROTIDS, De iure belli ac pacis (1625), 1, 3, 17.

923
Gewaltenteilung Il. 1. Bedeutung von 'potestas' und 'Gewalt'

vernünftiger Staatsgestaltung entstand die Gewaltenteilung „aus der Einmaligkeit


einer konkreten historisch-geistesgeschichtlichen Situation" 4 und wurde innerhalb
kurzer Zeit voll ausgebildet. Die Doktrin entwickelte sich im 17. Jahrhundert in
England, hier hat deshalb die Untersuchung einzusetzen5 •

II.

I. Zum Bedeutungsgehalt von 'potestas' und 'Gewalt'

Das Wort 'potestas' deckt ein breites Bedeutungsfeld: allgemein das Vermögen,
etwas zu tun, Kr11..ft, Wirkung, Wert, Bedeutung, Einfluß, Macht, Gewalt, Herr-
schaft, Amt, Machthaber, Vollmacht, Erlaubnis. Der zentrale Inhalt ist „Macht".
Obwohl sich viele Überschneidungen aufweisen lassen, war römisch 'potestas' nicht
synonym mit 'potentia'. Im staatspolitischen Bereich, der für uns allein von Inter-
esse ist, meint 'potentia' eher die äußeren Aspekte der Macht, 'potestas' ihre Le-
galität, also die rechtmäßige Verfügung über andere, i. e. S. die Amtsgewalt oder
deren Träger, auch die Behörde. Wie die „patria potestas" 6 , zu der mannigfache
Beziehungen bestanden, war die römische Amtsgewalt7 ursprünglich eine nicht ab-
geleitete Gewalt, wurde aber bald an di~ Einsetzung gebunden und damit erst
legitim. In enger .Nachbarschaft stand der Begriff 'imperium' 8 •
Wie 'potestas' meint auch das Wort 'Gewalt' 9 in seiner ursprünglichen Bedeutung
„Kraft haben", „Macht haben", „über etwas verfügen", „damit walten können".
Auch hier war an rechtmäßige Gewalt gedacht, die Bedeutungen von 'vis', 'violentia',
'iniuria' blieben außerhalb des Vorstellungskomplexes. Der der engeren Bedeutung
von 'potestas' entsprechende Inhalt des Wortes bildete sich seit dem 10. Jahrhundert
heraus und rückte im Mittelhochdeutschen immer stärker in den Vordergrund,
zugleich entstanden jedoch auch die Bedeutungsgruppen „Zwang" und „Unrecht",
„ungebundene Gewalt". In der Folge gewann dieser Inhalt ständig an Gewicht,
um mit Beginn der Neuzeit vorherrschend zu werden. Kennzeichnend für das
Nebeneinander zweier gegensätzlicher Wortinhalte ist es, daß man eine unrecht-
mäßige Gewalt noch sehr lange als Gewalt wider Recht (1512) 1 0 bezeichnete. Die Viel-
deutigkeit des Wortes in dieser Übergangszeit ist der Einleitung zur Regiments-
ordnung Maximilians (1500) 11 gut zu entnehmen. Nacheinander wird 'Gewalt' für

4 ÜSKAR WERNER KAEGI, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewalten-

teilungsprinzips (Zürich 1937), 13.


5 „Man würde gut tun, diejenigen Stellen aus griechischen Schriftstellern, die sich auf

Gewaltenteilung beziehen, auf sich beruhen zu lassen; sie sagen weiter nichts, als daß
jede staatliche Tätigkeit sich in gewissen Hauptrichtungen bewegt", ERNST v. MEIER,
Französische Einflüsse auf die Staats- u. Rechtsentwicklung Preußens im 19. Jahrhundert,
Bd. 1 (Leipzig 1907), 61.
6 E. SACHER, Art. potestas patria, RE Bd. 22/1 (1953), 1046 ff.
7 U. v. LÜBTOW, Art. potestas, ebd., 1040 ff.
8 ARTHUR ROSENBERG, Art. imperium, RE Bd. 9 (1916), 1202 ff.

9 GRIMM Bd. 4 (1911), 4910 ff., s. v. Gewalt.


10 Trierer Reichstagsabschied (1512), abgedr. in: KARL ZEUMER, Quellensammlung zur

Ueschichte der deutschen Reichsverfassung, Nr. 179, 2. Aufl. (Tübingen 1913), 308.
11 Regiments-Ordnung Maximilians I. (1500), Einleitung, ebd., Nr. 177, S. 297 f.

924
II. 2. Hochmittelalterliche summa potestas Gewaltenteilung

Gebiet, Botmäßigkeit, Gewalttätigkeit, Heeresmacht (die Türken werden hinfüro


mit mercklichem Gewalt die deutsche Nation überziehen) und im alten Sinne benutzt:
auf gut Regiment, Gericht, Recht und Handhabung ruhen alle Reich und Gewalt. Der
Gebrauch von 'Gewalt' für jede legitime Einwirkung hielt sich bis zum Ausgang des
alten Reiches, und die Wörterbücher des 18. und frühen 19. Jahrhunderts stellten
stets die positive und die negative Wortbedeutung nebeneinander12 • Dieser Auf-
fassung nach war Macht Mittel der Gewalt und ihr deshalb eng zugehörig, weil· die
Gewalt dadurch erst Nachdruck bekommet, indem Gewalt ohne Macht nichts ausrichten
kann 13 • Seit dem 19. Jahrhundert erhielt sich der positive Inhalt des Wortes unge-
schwächt nur noch in festen Zusammensetzungen, besonders des staatlichen Bereichs,
als Amtsgewalt, höchste Gewalt, Staatsgewalt, gesetzgebende, ausführende, richter-
liche Gewalt und zur Bezeichnung besonderer Gewaltverhältnisse.

2. Hochmittelalterliche summa potestas, Gegenwirkung durch die Gedanken der


Volkssouveränität

Die Aufgaben Inittelalterlichen Herrschertums waren durch pax und iustitia um-
schrieben. Recht galt als Stück der Weltordnung14 und deshalb als unwandelbar
und nicht künstlich zu schaffen; es wurde gefunden, nicht gesetzt. Eine Gesetz-
gebungsgewalt konnte es nicht geben. Diese Auffassung begann sich im 12. Jahr-
hundert zu wandeln, die Vorstellung vom Herrscher als Gesetzgeber drang vor,
wenn auch leges sanctae imperatorum et usus bonus predecessorum et patrum nostrorum
(FRIEDRICH I.) 15 noch längere Zeit nebeneinander standen. Mit den röinischen For-
meln trat auch die antike Begründung des kaiserlichen Gesetzgebungsrechtes auf16 .
Dabei wurde besonders der Digestentitel 1, 4 „De constitutionibus principum"
herangezogen. Wohl war dieser Rückgriff eine Waffe im Kampf der weltlichen mit
der kirchlichen Gewalt, gegen die päpstliche „plenitudo potestatis" 17 , aber ein aus-
schließlich politisches Argument hätte kaum so schnelle Verbreitung gefunden;
die Zeit war vielmehr reif zur Anerkennung herrscherlicher Rechtsetzung (wobei das
gesetzte Recht selbstverst~ndlich göttlichem Recht verpflichtet blieb) 18 ; ausschlag-

13 Z.1mLER Bd. 10 (1735), 1377; CAMPE Bd. 2 (1808), 357; weitere Belege bei GRIMM Bd. 4
4952.
13 CIIBISTIAN WoLFF, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der

Menschen (1721), § 443, 4. Aufl. (Frankfurt, Leipzig 1736), 475.


14 FRITZ KERN, Recht und Verfassung im Mittelalter, Rist. z.s. 120 (1919), 5 oder separat:

Basel 1952, 13.


l5 Responsum episcoporum ad Hadrianum IV, MG LL Const., Bd. 1 (1843), Nr. 167,
s. 233.
16 Vgl. HERMANN KRAUSE, Kaiserrecht und Rezeption, Abh. d. Heidelberger Ak. d. Wiss„

Phil.-Hist. Kl. (1952), 32; ebd„ 26 ff. viele Belege.


17 Außer KRAUSE, Kaiserrecht vgl. auch FRIEDRICH KEMPF, Papsttum und Kaisertum bei

Innozenz III. (Rom 1954); LUDWIG BmssoN, Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt
im Spätmittelalter (Köln, Graz 1958); ERNST H. KAN'I'OROWICZ, Kaiser Friedrich II.,
Erg. Bd. (1931; Ndr. Berlin 1963), 20 f.
1s Allgemein FRITZ KERN, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, 3. Aufl. (Darmstadt
1962); ders., Recht und Verfassung (s. Anm. 14); für .Friedrich 11. .K.ANTOROWICZ, Kaiser
Friedrich II., Erg. Bd„ 82 ff.

925
Gewaltenteilung ß. 2. Hochmittelalterliche summa potestas

gebend war das praktische Bedürfnis, und so hatte auch die Neubelebung des
römischen Rechts nur unterstützende Funktion 19 • Der häufig benutzte Satz vom
„princeps legibus solutus" bedeutete nur, daß der Herrscher 'bei der Setzung neuen
Rechts auch altes aufheben dürfe. Die von den Hohenstaufen betonten Positionen
blieben auch nach dem Interregnum in Geltung. Im Königswahlgesetz „Licet iuris"
Ludwigs des Bayern (1338) hieß es ganz selbstverständlich quod imperialis dignitas
et potestas est immediate a solo Deo . . . quod postquam aliquis eligitur in imperatorem
sive in regem . . . statim ex sola electione est verus rex et imperator Romanorum censen-
dus et nominandus, et eidem debet ab omnibus imperio subditis obediri, et administrandi
bona et iura imperii et cetera faciendi, que ad imperatorem verum pertinent, habet
plenariam potesiatem. Die Satzungsformel et hac in perpetuum valitura lege decerni-
mus unterstrich das noch durch die Aufnahme des Begriffs der iurisdictio, der im
kanonischen Reoht flifl Fiille der Regierungsgewalt schlechthin meinte: et admini-
.strationem et iurisdictionem imperialem et imperialis potestatis plenitudinem ha-
beat20. ·
Moohte fortan die kaiserliche Gewalt allgemein als „summa potestas", als grund-
sätzlich unteilbar und unveräußerlich aufgefaßt und ihr Träger als „lex animata" 21 ,
als Gipfel der irdischen Rechtsordnung vers~anden werden, aus dessen Gewalt alle
andenlll GewalLeu abgeleitet seien, so entsprach doch die komproinißlose kaiserliche
Theorie den Realitäten nicht. Schon Ende des 10. Jahrhunderts tauchten die ersten
Formulierungen des später so bedeutenden Satzes auf, ein König sei „imperator in
regno suo" 22 • Die Formel war nicht zufällig kanonistischen Ursprungs; sie sollte
der Schwächung des Kaisertums dienen, faßte aber nur eine von Anfang an ge-
gebene Tatsache in Worte. Die theoretische Begründung eigenständiger Königs-
herrschaft bedurfte nicht erst des Niedergangs der Kaisermacht. Auch im Reiche
selbst traf die These von der umfassenden Gewalt des Kaisers nicht zu. Im „Statu-
tum in favorem principum" (1231) wurde nur tatsächlich Bestehendes anerkannt.
Wichtiger für unseren Zusammenhang ist es, daß schon früh unter Rückgriff auf
die „lex regia" die Widerrufbarkeit der kaiserlichen Gewalt postuliert wurde, zuerst
Ende des 11. Jahrhunderts durch MANEGOLD VON LAUTENBACH. Die „lex regia"
war hier in ein pactum verwandelt, das dem Herrscher ein subjektives Recht auf
Herrschaft ließ, solange er seinen Vertragspflichten nachkam, d. h. gut regierte 23 •
In der Folge wurden diese Ansätze stetig ausgebaut. Ganz entschieden machte im
14. Jahrhundert MARSILIUS VON PADUA den Willen des Volkes zur „causa efficiens"
des Gemeinwesens; der Herrscher war daran in allem gebunden, nur „executiva
pars". Die hier strikt durchgeführte Unterscheidung zwischen gesetzgebender Ge-

19 FRITZ HARTUNG, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. (Stuttgart 1964), 50.


26 Abgedr. bei ZEUMER, Quellensammlung, Nr. 142, S. 184 (s. Anm. 10); vgl. KRAUSE,
Kaiserrecht, 62 f.
21 WILHELM BERGES, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Leipzig 1938),

49, Anm. 2 übersetzt 'lex animata' mit „leibgewordenes Gesetz".


22 Bei dem Kanonisten ABBO VON FLEURY: .unusquisque infra sui regni fines imperium

Ohristianum piemte exsequitur, zit. KARL FERDINAND WERNER, Das hochmittelalterliche


Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs, Hist. Zs. 200 (1965); 17; ÜTTO GIERKE,
Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3 (Berlin 1881), 693.
23 KERN, Gottesgnan1mt.um, 213 ff.

926
II. 3. England, Montesquieu Gewaltenteilung

walt des Volkes und an die Gesetze gebundener ausführender Gewalt des Herrschers
erlaubt es jedoch nicht, in den Ansichten des Marsilius die Begründung der Ge-
waltenteilung zu sehen; dazu sind die Bemerkungen über die „valentior pars" nicht
ausreichend 24 • Von den entscheidenden Verfechtern der Volkssouveränität kam
GEORGE BvcHANAN (1579) 25 der Gewaltenteilung am nächsten, allerdings fehlte
der Gedanke einer gleichzeitig nötigen Verbindung der Gewalten noch völlig.

3. Ausbildung der Gewaltenteilung in England, Übernahme durch Montesquieu

Die Gewaltenteilung in ihrer ersten engeren Fassung war nicht gegen die Gewalten-
konzentration beim Herrscher, sondern gegen die Allmacht des (langen) Parlaments
gerichtet. Die Forderung, wie sie sich in JOHN LILBURNES „Englands Birth-Right
Justified against all Arbitrary Usurpation" (1645) 26 , in den „Agreements of the
People" (1647 und 1649}, bei JOHN MILTON, ISAAC PENINGTON und MARCHAMONT
NEDHAM findet, ging auf die Sicherung der Justiz vor dem Zugriff des Parlaments 27 •
Eine breitere AuffaRA1rng zeigte sich überall da, wo die Formeln des „status rnixtus" 28
einbezogen wurden .. JOHN SADLER unterstrich 1649, daß our Ancestorsdidsowillingly
follow the V oyce of N at~tre, in Pl,a,m>nq the Power leg1:8fob:11e, Tuilü:1:all, and Rxem1,t1:11e
in 3 distinct estates 29 • Ebenso verband RICHARD TEMPLE den Gedanken der Gewal-
tenteilung mit dem Konzept der gemischten Verfassung und des Gleichgewichts 30 •

24 HERMANN SEGALL, Der 'Defensor Pacis' des Marsilius von Padua. Grundfragen der

Interpretation (Wiesbaden 1959), 63 ff.; wiederholt ist darauf verwiesen worden, daß
Marsilius vermutlich durch die podesta-Verfassungen der italienischen Städte, die in ge-
wisser Weise eine strikt gewaltenteilende Organisation verwirklicht hatten, Anregungen
empfangen hat; vgl. SEGALL, Defensor Pacis, 52, Anm. 67.
2 5 GEORGE BUCIIA.NAN, De jure regni apud Scotos dialogus (Edinburgh 1579), engl. u. d. T.:
The Power of the Crown of Scotland, ed. Flinn Charles Arrowood (Austin 1949).
26 JOHN LILBURNE, Englands Birth-Right Justified against all Arbitrary Usurpation

(1645), abgedr. bei WILLIAM HALLER, Tracts on Liberty in the Puritan Revolution, vol. 3
(New York 1933), 257 ff.
27 Viele Belege bei WILLIAM BRENT GWYN, The Meaning of the Separation of Powers

(New Orleans, Den Haag 1965), 37 ff.; Texte der „Agreements" bei DoN M. WOLFE,
Leveller Manifestoes of the Puritan Revolution (New York, London 1944), 223 ff. 397 ff.;
zum ganzen Abschnitt außer Gwyn und KURT KLUXEN, Die Herkunft der Lehre von der
Gewaltentrennung, in: Aus Mittelalter und Neuzeit, Fschr. Gerhard Kallen, hg. v. JOSEF
ENGEL u. HANS KLlNKENBERG (Bonn 1957), 219 ff. noch LEOPOLD v. RANKE, Zur Ge-
schichte der Doctrin von den drei Staatsgewalten (1835), SW 2. Aufl., Bd. 24 (1877),
237 ff. u. ERNST KLIMOWSKY, Die englische Gewaltenteilungslehre bis zu Montesquieu
(Berlin, Leipzig 1927).
28 CoRINNE WESTON, The Theory of Mixed Monarchy under Charles 1 and after, English

Hist. Rev. 75 (1960), 426 ff.; R. HINTON, English Constitutional Theories, ebd., 410 ff.;
zur antiken Auffassung vgl. KURT v. FRITZ, The Theory of Mixed Constitution in Anti-
quity. A Critical Analysis of Polybius' Political Ideas (New York 1954).
2 9 JOHN SADLER, Rights of the Kingdom, or Customs of our Ancestors (1649), 92, zit.
GWYN, Separation, 54.
ao RICHARD TEMPLE, An Essay on Government, Calculated for the .:Meridian of England
(H\90).

927
Gewaltenteilung II. 3. England, Montesquien

Am nachdrücklichsten vertrat JAMES HARRINGTON das -+ Gleichgewicht 31 als


Mittel der Gewaltenmoderation. Wie FRANCIS BACON, der anknüpfend an die alte
Harmonie-Lehre gemeint hatte, daß es im Staate auf eine balance of all degrees an-
komme32, sah er das Gleichgewicht des Eigentums (neben der „rotation in govern-
ment") als zwingendes Erfordernis einer guten Staatsgestaltung an. As the true
proportion or balance of Dominion in land, such is the nature of the Empire (1656) 33 .
Die Gewaltenbeschränkung versuchte er vornehmlich durch Teilung der Legislative
(in ein debattierendes und ein beschließendes Haus) zu erreichen, warnte aber auch
vor dem confounding of Executive and Legislative Magistracy (1659) 34.
Das Gleichgewichtsdenken, so großer Beliebtheit es sich damals auch erfreute, blieb
für die Gewaltenteilung zunächst jedoch von geringer Bedeutung; erst ein halbes
Jahrhundert nach Harrington drang es allenthalben in die Argumentation ein und
wurde oft gleichgesetzt init Gewaltenteilung überhaupt. In der klassischen engli-
schen Formulierung des Gewaltenteilungsprinzips bei JOHN LOCKE im zweiten der
„Two Treatises of Civil Government" (1690) wurde es noch eher beiläufig erwähnt.
Locke glaubte, daß die Menschen, nachdem sie wegen der mmt11,a,l pre.sermtion of
their lives, liberties and estates (§ 123) auf einzelne Rechte verzichtet hatten, unter
noch schlimmeren Bedingungen als im Naturzustand lflhim würden, i/ they shall
have armed one or a few Men with the foint power of the multitude (§ 136). Er suchte
deshalb nach methods of restraining any exorbitances of those to whom they had given
the aiithority over them, and of balancing the power of government by pfo,oing scvcral
parts of it in different hands (§ 107). In allen moderated and well-framed governments
(§ 143. 159) war das die Teilung von Legislative und Exekutive. Aus grundsätzlichen
wie aus praktischen Erwägungen sollte dem Monarchen die Exekutive und die
„federative power", die auswärtige Gewalt, die bei Locke als dritte Gewalt auftritt,
-dem Volk die Legislative zukommen. Da - als Prägorative - dem Herrscher der
gesamte Bereich zugewiesen war, which law can by no means provide for (§ 159),
und er überdies a share in the legislative hatte (§ 151 f.), anerkannte Locke seine
starke Stellung. Nach dem common law of Nature durfte sie jedoch nur for the good
of the society benutzt werden (§ 159). Zudem blieb der König der supreme power,
which is the legislative ... subordinate (§ 149). Über die nötige unabhängige Stellung
der Richter äußerte Locke sich mehrfach entschieden: in!b;Uerent and 11,pr1:ght
fudges, who are to decide controversies by those la'lfJS (§ 131) 35 •
In den folgenden Jahrzehnten entfaltete sich eine breite Literatur zur Gewalten-
teilung, in der das System von „checks and balances" im Mittelpunkt stand, so bei
JOHN TRENCHARD (1698) 36 , bei WALTERMOYLE (1698) und vor allem beiHENRY

31 -+ Gleichgewicht, 963. Vgl. STANLEY P ARGELLIS, The Theory of Balanced Government,

in: Conyers Readed., The ConstitutionReconsidered (u. 0.1938), 37ff.


32 FRANCIS BACON, Essay 14: Of Nobility, Works, ed. James Spedding, vol. 6 (London

1870), 408.
33 JAMES HARRINGTON, Oceana (1656), Works, ed. John Toland (Ausg. 1771; Ndr. Aalen

1963), 37.
34 Ders., The Art of Lawgiving (1659), ebd., 361 f.
35 JOHN LOCKE, Two Treatises of Civil Government (1690), Works, vol. 5 (1823), 412.

420.401.424. 434. 427. 426. 414.


36 JoHN TRENCHARD, A Short History of Standing Armies in England (London 1698);

vgl. GWYN, Separation, 138 ff.

928
II. 3. England, Montesquieu Gewaltenteilung

BoLINGBROKE 37 , der wie Moyle die innenpolitische Balance vor dem Hintergrund
eines Gleichgewichts des Besitzes sah.
Angesichts dieser sehr umfangreichen Literatur über Gewaltenteilung und innen-
politisches Gleichgewicht hat die Frage, wer MüNTESQUIEU am stärksten beeinflußt
hat, für die Entwicklungsgeschichte der Doktrin wenig Aussagewert, zumal in seine
Ausführungen zur Gewaltenteilung mehr als nur englische Anregungen eingegangen
sind. In seinem Werk „Esprit des Lois" ist ebenso häufig von der römischen Re-
publik wie von der constitution d' Angleterre die Rede. Die Dreizahl der Gewalten
steht. für Montesquieu undiskutiert fest. Il y a dans chaque Etat trois sortes de
pouvoirs: la puissance legislative, la puissance executrice des choses qui dependent du
droit des gens, et la puissance executrice de celles qui dependent du droit civil 38 , heißt es
in charakteristischer Abwandlung des Schemas von Locke: die „puissance de juger",
wie Montesquieu meistens sagt, ist sehr viel stärker herausgestellt. Auch meint die
vom „droit des gens" abhängende exekutive Gewalt mehr als die „federative power",
so daß man nicht sagen kann, die Administration sei übersehen. Die Sache der Frei-
heit, der zentrale Gedanke des Buches, wäre völlig verloren, wenn die drei Gewalten
in einer Hand vereinigt wären. Durch eine certaine distribution (12, 1) - von sepa-
ration ist nur einmal beiläufig clie Recle 39 - muß cleshalb verhinclert werclen, claß
die Gewalten, der natürlichen Neigung jeder Macht zur Ausweitung folgend, der
Freiheit gefährlich werden können. Il faut combiner les puissances, les regler, les
temperer, les faire agir; donner . .'. un l'est a l'une, pour la mettre en etat de resister
a une autre (5, 14), nur so läßt sich das „gouvernement modere", das einzig die Frei-
heit garantieren kann, bilden. Die distribution ist keine konsequente Teilung, eine
Tatsache, die im 19. Jahrhundert übersehen'wurde, sie bedeutet zugleich Gewalten-
verschränkung; Montesquieu setzt mehrfach 'empecher' mit 'prendre part' gleich;
nur die Richter, der Mund, qui prononce les paroles de la loi (11, 6), stehen unabhängig
außerhalb des Gewaltenmechanismus. Eigenständige Stellung des Königs, Veto-
recht und Zweikammersystem sind für Montesquieu die wesentlichen Mittel der
Gewaltenteilung.
Nachdem schon das „Instrument of Government" (1653) eine gewaltenteilende
Organisation vorgesehen hatte, fand die Gewaltenteilung in Art. 5 der Erklärung
der Rechte von Virginia (1776) und in Art. 16 der Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte von 1789 Eingang in das geschriebene Verfassungsrecht: Toute societe
dans laquelle la garantie des droits n' est pas assuree, ni la separation des pouvoirs

37 WALTER MoYLE, An Essay upon the Lacedemonian Government (1698); statt vieler

Belege: V1scoUNT HENRY BoLINGBROKE: The publick Safety depend,s on the equal Ballance
of the Power of the King and, of the Power of the Kingdom, The Craftsman 7 (1734), 23,
zit. GWYN, Separation, 94, Anm. 2. Von den späteren angelsächsischen Autoren war be-
sonders JoHN ADAMS dem Gleichgewichtsdenken verpflichtet. A legislature, an executive,
anti, a judicial power comprehend, the whole of what is meant and, und,erstood by government.
lt is by balancing each of these powers against the other two, that the efforts of human nature
can alone be chequed (1775), Works, ed. Charles Francis Adams, vol. 4 (Boston 1851), 186;
A nation which will not adopt an equilibrium of power must adopt a despotism, ebd., vol. 6
(Boston 1851), 280; vgl. GWYN, Separation, 116 ff.
3s MoNTESQUIEU, ·Esprit des Lois 11, 6.
3 ~ J!lbd.,Absatz 5: lt n'y a point encore de liberte si la puissancedejugern'estpasseparee

de la puissance legislative et de l' executrice.

59-90386/1 929
Gewaltenteilung II. 4.. Summa poiestas im 17. und 18. Jahrhundert

determinee, n'a pO'int de constitution. Damit waren die Grundsätze des modernen
bürgerlichen Verfassungsdenkens in einen Satz gebracht. Die französische Ver-
fassung von 1791 verwirklichte das Prinzip freilich sehr starr und übersah die Not-
wendigkeit der Gewaltverschränkung weitgehend. In der Verfassung von 1793
wurde die Gewaltenteilung zur Leerformel. Hatte die Septemberverfassung ein
konsequent dualistisches System geschaffen, so häufte die jakobinische Verfassung,
in strikter Durchführung der Volkssouveränität die Befugnisse bei der Legislative
auf und versuchte die Exekutive zu einem reinen Vollzugsausschuß zu machen.
Die Direktorialverfassung von 1795 kehrte dann zur Gewaltenteilung zurück4 0.

4. Summa potestas im 17. und 18. Jahrhundert

Die im Hochmittelalter ausgebildeten Formeln der „summa potestas" wurden bis


in das 18. Jahrhundert immer wieder dargelegt. So schrieb KAsPAR KLOCK, impera-
toris suprerrta potestas et jurisdictio est incommunicabilis. Superioritas suprema est
indivisibilis et inabdicabilis a supremo . . . Superioritates duae in uno imperio con-
stitui nequeunt (1634) 41 • DIETRICH REINKINGK (1619) betonte ausdrücklich, daß sich
an der summa et leg,ib-as sol'Uta potestas des Kaisers nichts ändere, auch wenn er
leges fundamentales imperii unterworfen sei; könnten die Monarchen eine Tyrannei
aufrichten, besäßen sie keine potestas regia mehr, sondern eine bestialis potestas 42 •
Bodins Souveränitätslehre wurde sehr häufig zur Unterstützung der kaiRArlichen
wie allgemein der herrscherlichen Stellung herangezogen, am nachhaltigsten bei
ARNOLD ÜLAPMAR, dessen „De arcanis rerum publicarum libri sex" (1605) schnell
ein viel gelesenes und mehrfach aufgelegtes Handbuch der .Politik wurde. Nach
Clapmar bestand das Herrschaftsrecht in der potestas absoluta atque extremum ius
omnium earum rerum quae ad maiestatem regni et reipublicae pertinent. Die wichtig-
sten Majestätsrechte waren ihm: Primum, ut princeps legibus sit solutus, deinde ut
civibus et subditis leges ponat 43 • Auf Einzelheiten der Diskussion über die „iura
maiestatis" und die dabei entwickelten differenzierten Einteilungen ist hier ebenso-
wenig einzugehen wie auf die mit großem Ernst besprochene Frage nach der Form
des deutschen Reiches, die erst JOHANN JAKOB MosER als olinnützes Schulgezänk
abtat 44 •
40 RoussEAU, Contrat social (1762), 2, 2 lehnt das Prinzip ironisch ab. Auch er anerkennt

jedoch eine - gänzlich funktional verstandene - Gewaltenteilung, in der Exekutive und


richterliche Gewalt nur Delegationen aus der höchsten Gewalt und jederzeit widerrufbar
sind. Rousseau hält es auf keinen Fall für gut, daß der Gesetzgeber die Gesetze auch aus-
führt. Die öffentliche Gewalt muß einen Bevollmächtigten haben, der die Akte des Souve·
räns, die Gesetze, in die Tat umsetzt. Die Regierung ist ein corps intermediaire zwischen
dem Volk als je einzelne Untertanen. Zwischen der Macht der so doppelt erfaßten Staats-
bürger und der Macht der Regierung muß Gleichheit herrschen, wenn der Staat sich im
rechten Gleichgewicht befinden soll; vgl. 3, l; 3, 4 u. - über die partage der Gewalt -
3, 7; vgl. !RING FETSCHER, Rousseaus Politische Philosophie (Neuwied 1960), 146 ff.
41 KASPAR KLOCK, Tractatus nomico-politicus de contributionibus (Bremen 1634), 57.

42 DIETRICH REINKINGK, Tractatus de regime saeculare et ecclesiastico (1619), 1, 2, 2,

Nr. 180, 5. Aufl. (Frankfurt 1651), 78.


43 ARNOLD CLAPMAR, De arcanis rerum publicarum libri sex 1, 11 (Bremen, Amsterdam

1605), 26.
44 JoH. JAKOB MOSER, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 1(Stuttgart1766), 547.

930
II. 4. Summa potestas im 17. und 18. Jahrhundert Gewaltenteilung

Alle diese Einteilungen hatten nur klassifikatorische, aber keine begriffliche Be-
deutung45. Sie leisteten ebensowenig einen Beitrag zur Rezeption der Gewalten-
teilung wie die Kontroversen über die beim Volk liegende „maiestas realis" und die
herrscherliche „maiestas personalis" oder die Erörterungen über das Verhältnis von
kaiserlicher maiestas und landesherrlicher Gewalt. Nach der Tradition des „status
mixtus" war es vielen Autoren selbstverständlich, daß die iura maiestatis partialia
a diversis personis iure proprio ausgeübt werden könnten (JOHANN ADAM VON lcK-
STATT 1759) 46, daß das imperium in varias distinctas partes dividi possit ... ut penes
unum possint esse divisim et independenter quaedam jura maiestatica (JusTus
HENNING BoEHMER 1710)47, aber nach dem Vorgang von PUFENDORF (1667) galten
alle derart verfaßten Gemeinwesen als krank, als „respublica irregularis". Gesund
sei eine respublica nur, wenn das „summum imperium" ungeteilt in einer Hand
liege 48. Die Literatur über die Landeshoheitsrechte kü=erte sich darum ebenso-
wenig wie um den Gedanken der doppelten Souveränität. Mit VEIT LUDWIG VON
SECKENDORFF war die lands-Fürstliche Regierung - von Landeshoheit spricht er
nur einmal beiläufig in den „Additiones" 49 - nichts anders als die Oberste und höchste
Bottmässigkeit des ordentlich regierenden Lands-Fürsten . ... welche ... über die Sttinde
und Unterthanen deß Fürstenthumbs, auch über das Land selbst und dessen zugehörige
Sachen, zur Erhaltung und Behauptung des gemeinen N utzcns und W olwesens im
Geist- und Weltlichen Stande, und zur Ertheilung des Rechtens gebraucht und verführet
wird (1656) 5 0. In den „Additiones" hieß es noch ausdrücklicher, die Gewalt des
Landesfürsten begreife regulariter alles unter sich, nur sei dabei auf die - gering-
fügigen - Reservatrechte Rücksicht zu nehmen 51 . Schon im 16. Jahrhundert war
nach JOHANN STEPHAN PüTTER (1795) die landesherrliche Gewalt . . . unstreitig schon
so gut gegründet, daß, nur einige kaiserliche' Reservatrechte abgerechnet, alles, was nach
richtigen Grundsätzen eines allgemeinen Staatsrechts in jedem Staate von wegen der höch-
sten Gewalt geschehen kann, auch in eines jeden Reichsstandes Lande geschehen konnte 52 •

45 Vgl. E. KAUFMANN, Art. Verwaltung, Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwal-

tungsrechts, hg. v. KARL v. STENGEL u. MA.x FLEISCHMANN, 2. Aufl., Bd. 3 (Tübingen 1914),
692.
46 JoH. ADAM v. lCKSTATT, De iure maiorum in conclusis civitatis communibus formandis,

Opuscula juridica, t. 2 (Ingolstadt 1759), 19 f.


47 JusTUS HENNING BoEHMER, Introductio in ius publicum universale (1710; 2. Auß.

Halle 1726), 218.


48 PUFENDORF, De statu imperii Germanici 6, 9 (Genf 1667), 157; ebenso auch in: ders.,

De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo 2, 8, 12 (1673; Ausg. Frankfurt
1719), 320.
49 VEIT LUDWIG v. SECKENDORFF, Teutscher Fürsten-Staat. Additiones zur 2. Aufl.

(1665), 89.
50 Ders., Teutscher Fürsten-Staat 2, 1, 2 (Ausg. Frankfurt 1660), 21 f.
51 Ders„ Additiones, 69 (zu „.Fürsten·l::ltaat" 2, 1, 2).
52 JoH. STEPHAN PüTTER, Geist des Westfälischen Friedens (Göttingen 1795), 372; zum

ganzen Abschnitt OTTO v. GIERKE, Johannes Althusius und die Entwicklung der natur-
rechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl. (Aalen 1958); ders., Genossenschaftsrecht, Bd. 4
(1913; Ndr. Graz 1954), 193; FRIEDRICH HERMANN SCHUBERT, Die deutschen Reichstage
in der Staatslehre der frühen Neuzeit (Göttingen 1966); HANS HUBERT HOFMANN, Adelige
Herrschaft und souveräner Staat (München Hlö2); OTTO HRUNNER, Land und Herrschaft,
5. Aufl. (Wien, Wiesbaden 1965).

931
Gewoltenteilung II. 4. Summa potestas im 17. und 18. Jahrhundert

In der Kontroverse über die doppelte Majestät setzte sich der volle Begriff der
kaiserlichen maiestas durch, am konsequentesten bei THEODOR GRARRWINKF.T,, <lAr
behauptete, daß die „maiestas realis" in der wahren Monarchie in die „maiestas
personalis" übergehe (1642) 53 . Hätte von dieser Streitfrage aus der Weg zur Ge-
waltenteilung gefunden werden sollen, so hätte umgekehrt das Konzept der Volks-
souveränität Boden gewinnen müssen. Es fehlte sowohl daran wie an einer sauberen
begrifflichen Zusammenfassung der einzelnen der „summa potestas" zugehörigen
Rechte, Es dauerte sehr lang, bis sich aus der überall wiederkehrenden Aufzählung5 4
allgemeine Begriffe herausbildeten. Abweichend von der üblichen Aufzählung der
Hoheitsrechte trennt DANIEL NETTELBLADT 1749 das dominium von der „potestas
civilis" und teilt sie in die „potestas rectoria", die „potestas exsecutoria" und die
„potestas inspectoria". Die „potestas rectoria", durch die der Herrscher festsetzt,
q1tiil 8a/,11,t1:,~ p11,hlir:rui r,(],1t8(J, fip,n;, 11p,/, non fip,r1: (lp,hw,t, umfaßt rliP. e11RP.t?.g11h11nrl11 G11walt
i. e. S., unterteilt in die „potestas legislatoria stricte" und das „ius privilegiorum",
und das „ius mandandi". Die Exekutive enthält die Zwangsgewalt, die auswärtigen
R11?.i11h11ng11n ll. a. 55 . PüTTER (1770) setzt das „ius supremae inspectionis" an die
erste Stelle und kennt außerdem die „potestas legislatoria", die „potestas exse-
quendi el. puuiemli", das „iw:i Lr.ibLLLu.nLw11 llllll das „iui:! ewiueul:!", u. h. Uie au1:1-
wärtige Gewa.lt 56 . Die „potestas iudiciaria" behandeln beide aU.ßerhalb dieses
Katalogs. FRANZ DOMINIK HÄDERLEIN ordnet die jedem Regenten zustehende Ge-
setzgebung, die Vollziehung und die Rechtsprechung dem Recht der Oberaufsicht
unter (1794) 57 . Noch 1804 klassifiziert NIKOLAUS THADDÄUS GÖNNER die Hoheits-
rechte in die (Lockes „federative power" entsprechende) Repräsentativgewalt, die
oberaufsehende Gewalt, die anordnende Gewalt durch a) Gesetze, b) Privilegien,
c) Befehle, in die vielfach gegliederte vollziehende Gewalt und die Polizeigewalt,
übernimmt also die jetzt schon ziemlich allgemein anerkannte Dreiteilung der
Staatsfunktionen nicht 58 . Die Fülle der potestas ist dem Herrscher zugeschrieben.
Nur die richterliche Gewalt besteht selbständig. Die begriffliche Unsicherheit setzte
sich noch längere Zeit fort. So spielte etwa das Recht der Oberaufsicht noch bis zum
Ende des 19. Jahrhunderts eine freilich immer geringere Rolle 59 •

öS THEODOR GRASSWINKEL, De iure maiestatis (Amsterdam 1642).


64 PUFENDORF, De iure naturae et gentium Iibri octo (1672), 7, 4, 1 ff. etwa zählt Gesetz-
gebung, Strafgewalt, Rechtsprechung, das Recht von Krieg und Frieden und zum Bündnis-
schluß, Beamtenernennung, Steuerrecht, das Recht zur Untersuchung staatsgefährdender
Lehren als wesentliche Rechte des summum imperium auf; vgl. damit beispielsweise die
sehr viel umfangreichere Liste bei WIGULÄUS XAVER ALOYS KREITTMAYR, Grundriß des
Allgemeinen und Deutschen Staatsrechtes l, § 8 (München 1770), 19.
66 DANIEL NETTELBLADT, SysLema elemenbare universae iurisprudentiae naturalis (1749),

4. Aufl. (Halle 1777) 435 (§ 1228), vgl. §§ 1079. 1227 ff.


66 JoH. STEPHAN PüTTER, Institutiones juris publici Germanici, §§ 214 ff. 263 (Göttingen

1770), 198 ff. 262 f.


67 FRANZ DOMINIK IUBERLEIN, Handbuch des TeuLschen SLaaLsrechLs (F1·ankfw·L 1794),

§ 216.
68 NIKOLAUS THADDÄUS GÖNNER, Teutsches Staatsrecht (Landshut 1804), § 275.
59 WALTHER SCHOENBORN, Das Oberaufsichtsrecht des Staates im modernen deutschen

Staatsrecht (jur. Diss. Heidelberg 1906), 1 ff.; vgl. ERNST WOLFGANG BöcKENFÖRDE,
ftARAtl>: nnn gARflt,zgAbende Gewalt (Berlin 1958), 58 f.; J. s. PüTTER, Litteratur des Teut-

932
Il. 5. Naturrechtliches Denken in Deutschland Gewaltenteilung

Die Gründe für diesen langsamen Generalisierungsprozeß sind in der besonderen


Ausrichtung der älteren deutschen Staatslehre zu suchen. Angesichts der Vielfalt
der Erscheinungen maß sie nicht so sehr allgemeinen Kategorien die entscheidende
Bedeutung zu, sondern der Fülle des konkreten Stoffes. Im Zentrum stand ihr Be-
griff der wohlerworbenen Rechte, die es nicht erlaubten, den Bereich der Herrschaft
abstrakt und allgemeingültig zu umschreiben 60 • Bestehende Mitwirkungsrechte ein-
zelner Gruppen wurden deshalb auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer allge-
meinen Machtbeschränkung gesehen, sondern als Sicherung jeweils bestehender
Rechte. Nur eine einheitliche und allgemein kraftvollere Stellung der Stände hätte
zu einem anderen Ergebnis geführt. Es ist jedoch zu betonen, daß der ständische
Gedanke nicht abgestorben war; gerade zum Ausgang des Jahrhunderts setzten viele
auf ihn neue Hoffnungen.

5. Zum naturrechtlichen Denken in Deutschland, rechtsstaatliche Bestrebungen

Ein weiteres Hindernis bei der Aufnahme der in Westeuropa und Nordamerika
hochentwickelten Gewaltenteilungslehre laM in Jer besonderen Ausprägung des
naturrechtlichen Denkens in Deutschland. Wegen der rnwh d1im Dr1iißigjährigen
Krieg vielfältigen, von den Territorien zu lösenJen Aufgaben richtete sich das
Denken sehr viel stärker auf das Wohl der Gesamtheit denn auf die Rechte der
Individuen. Die Fürsorgepflicht des Landesherrn wurde außerordentlich stark be-
tont. Generalis lex summorum imperantium est haec: salus publica suprema lex esto,
so, mit Cicero, PuFENDORF 61 • Freilich stand daneben auch in Deutschland der Satz,
daß die einzelnen bei der Übertragung der Gewalt auf den Herrscher de suis juribus
omnia sibi reservasse . . . quae cum natura civitatis consistere possint (PuFENDORF
1672) 62 , wobei natürlich über das Maß der für den Gesellschaftszweck erforderlichen
Rechte Divergenzen entstehen konnten. Zumeist wurde der Anspruch der Gesamt-
heit sehr breit verstanden. Die gemeine Wohlfahrt ... und Sicherheit ist das höchste
und letzte Gesetz im gemeinen Wesen, sie geht der besonderen durchaus vor (CHRI-
STIAN WoLFF 1721) 63 • Die Regel, nach der alles zu entscheiden war, lautete: Tue,
was die gemeine Wohlfahrt befördert und die gemeine Sicherheit erhält. Hingegen unter-
1,aß, was die gemeine Wohlfahrt hindert und der gemeinen Sicherheit zuwider ist 64 , ein
Satz, der JOHANN JoACHlM BECHERS 50 Jahre älteren Definition nützlicher Politik

sehen Staatsrechts, Bd. 3 (Göttingen 1783), 300 definiert die Oberaufsicht als das erste
und allgemeinste Recht der höchsten Gewalt, sie betrifft alles, was zum Staate gehöret und darinn
vorgehet, so weit es die gemeine Wohlfahrt nötig oder nützlich macht.
60 EBERHARD ScHMIDT-AssMANN, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der

Aufklärung und des Historismus (Berlin 1967), 35 f.


61 PuFENDORF, De off. 2, 11, 3; vgl. HANS MAIER, Die ältere deutsche Staats- und Ver-

waltungslehre (Neuwied 1966), 116 ff.; WALTHER MERK, Der Gedanke des gemeinen
Besten in der deutschen Staats- u. Rechtsentwicklung, in: Fschr. Alfred Schultze, hg. v.
WALTHER MERK (Weimar 1934), 469.
6 2 PUFENDORF, De jure naturae et gentium (1672), 8, 4, 1.
8 3 WoLFF, Vernünfftige Gedancken, §§ 215. 218, S. 163. 164 (s. Anm. 13).
84 Ebd., § 215, S. 163.

933
Gewaltenteilung II. 5. Naturrechtliches Denken in Deutschland

sehr nahesteht 65 . Da der Mensch seinen natürlichen Pflichten bequem genügen


können soll, hat die Obrigkeit dafür zu sorgen, daß diejenigen, so willig sind ...
nicht allein von andern nicht gehindert, sondern vielmehr gefördert werden 66 • Wohl
wurde schon seit Anfang des Jahrhunderts betont, daß der Mensch unverzichtbare
Rechte besitze (bes. bei CHRISTIAN THOMASIUS, der in diesem Zusammenhang an-
geborene wie erworbene, connata und acquisita, nannte) 67, aber erst PÜTTER be-
stritt die breite Ausfächerung des Wohlfahrts- und Polizeistaatsgedankens ent-
schieden, indem er bemerkte, die Staatsgewalt erstrecke sich der Sache nach auf
alles ... was nur irgend einer menschlichen Gewalt unterworfen sein kann, sei aber nur
soweit einzusetzen, als gerechte Gründe dafür bestünden68 • Zum jus politiae gehörte
danach nur cura avertendi mala futura 69 • Allgemein bestimmten die Staatsrechtler-
des ausgehenden Jahrhunderts den Staatszweck enger als Erreichung der inneren
und äußeren Sicherheit mit vereinten Kräften 70, ohne jedoch den Wohlfahrts-
gedanken ganz preiszugeben und .nur eine repressive Gefahrenabwehr zu
meinen 71 .
Parallel zur theoretischen Reduzierung des Staatszwecks verlief der Prozeß der
Selbstbeschränkung der Herrscher und das Bemühen um Schaffung eines umfassen-
ilim „ins scriptum", um den Staat so in das Recht zu stellen. Auch hierbei hatte
eher die deutsche naturrechtliche Auffassung als die Aufklärungsphilosophie west-
europäischer Prägung Einfl.uß7 2 • Auf FRIEDRICH DEN GROSS'EN, der in erster Linie
genannt werden muß, machten W ol:ffs Lehren durchaus Eindruck, während die
Beschäftigung mit Montesquieu eher kritisch war 73. Wohl sah er die englische Ver-
fassung als mögliches Ideal an, für Preußen hielt er jedoch an der Alleinherrschaft
des Königs fest7 4 • Das schloß nicht aus, daß in den Gerichtshöfen nur die Gesetze

65 JoH. JOACHIM BECHER, Psychosophia, das ist Seelenweisheit (Güstrow 1678), 109,

zit. HERBERT HASSINGER, Johann Joachim Becher 1635-1682. Ein Beitrag zur Ge-
schichte des Merkantilismus (Wien 1951), 66: Alles ... was da dienet zur Beförderung einer
volckreichen, nahrhafjten Gemeinde, das ist anzunehmen, und was hinderlich, <ibzuschafjen.
Das ist die gründliche PuUUk.
6 8 WoLFF, Vernünfftige Gedancken, § 227, S. 171 f.; vgl.§ 272.
67 CHRISTIAN THoMASros, Institutiones iurisprudentiae divinae 1, 1, 114, 7. Aufl. (Halle

1730), 21; ferner WoLFF, Institutiones juris, naturae et gentium, §§ 35 ff. (Halle 1750),
18 ff.; vgl. JOACHIM GEORG DARIES, Institutiones iurisprudentiae universalis, 4. Aufl.
(Jena 1754), §§ 780 ff.; KREITTMAYR, Staatsrecht 1, § 1, S. 1 ff.; NETTELBLADT, Systema
elementare,§§ 143 ff., S. 70; J. S. PüTTER, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-
recht, Bd. 1 (Göttingen 1777), 362.
es PüTTER, Beyträge, Bd. 1, 320.
89 Ders., Institutiones (1770), § 321, S. 330 (s. Anm. 56).

70 Ders., Beyträge, Bd. 1, 320; GIERKE, Genossenschaftsrecht, Rd. 4, 407.


71 WOLFGANG RÜFNER, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen 1749-1842 (Bonn 1962), 27.
72 HANS v. VoLTELINI, Die naturrechtlichen Lehren und die Reformen des 18. Jahr-

hunderts, Rist. Zs. 105 (1910), 69. 71.


73 MAx PosNER, Die Montesquieu-Noten Friedrich's II., Rist. Zs. 47 (1882), 193 ff.

74 FRIEDRICH II.„ Dissertation sur· les raisons d'etablir ou d'abroger les lois (1750),

Oeuvres de Frederic le Grand, ed. J. D. E. Preuss, t. 9 (Berlin 1848), 9 :ff.; ders., EsRai Rnr
les formes de gouvernement et sur les devoirs des souverains (1777), ebd., 195 ff.

934
m. 1. Aufnahme des Begrift's in Deutschland bis 1789 Gewaltenteilung

sprechen und die Herrscher schweigen sollten75 ; Machtsprüche, Hauptangriffs-


punkte der zeitgenössischen Kritik, lehnte Friedrich ab. Durch die Kabinettsordre
vom 14. 5. 1780 und das Patent vom 28. 5. 1781 band er auch die Gesetzgebung an
die gutachtliche Mitwirkung einer von ihm eingesetzten Kommission, die nach§ 14
des Patents niemals übergangen, sondern jedesmal mit ihrem Gutachten vernom-
men werden sollte. Keinem Edikt oder Reskript sollte irgend eine gesetzliche Kraft
beigelegt werden, ehe nicht das Gutachten erstattet sei76 • In Österreich lenkte be-
sonders FRHR. VON MARTINI, der Lehrer Josephs II., in enger Anlehnung an Pufen-
dorf, dessen „De officio" das offizielle naturrechtliche Lehrbuch an den öster"
reichischen Universitäten war, und an Wolff die Entwicklung in diese Richtung.
Entsprechende Bemühungen gab es auch in den kleineren Territorien. Seinen Höhe-
punkt errllichte der Prozeß im ALR; er bewirkte faktisch eine Änderung der Re-
gierungsform 77. Nach einer Bemerkung von ÜARL GOTTJ,IEB SVAREZ (1789) war es
Aufgabe der allgemeinen Gesetzgebung, feste, sichere und fortdauernde Grunusätze
über Recht und Unrecht festzustellen. Besonders in einem Staate, welcher keine
eigene Grundverfassung hat, solle sie die Stelle derselben gewissermaßen ersetzen, müsse
also für den Gesetzgeber selbst Regeln enthalten 78 •

m.
I. Aufnahme des Begriffs in Deutschland bis 1789
Montesquieus „Geist der Gesetze" wurde in Deutschland schnell bekannt und über-
setzt, erstmals 1753, zwei weitere Übersetzungen folgten bis zum Ausbruch der Re-
volution, was immerhin als ein Zeichen für das rege Interesse angesehen werden
kann. Aber man besprach nicht die nach der heutigen Sicht an zentraler Stell,e
stehenden Kapitel, sondern die vielerlei kulturgeschichtlichen Bemerkungen, die
lokale Bedingtheit der Gesetze 79 und den Gedanken der altgermanischen Freiheit,
der damals auch in Deutschland gelehrtes Interesse fand 80•

75 C'est dans les tribunaux oU les lois doivent parler et oU le souverain doit se taire, ders.,

Politiimhes Testament von 1752, in: Die politischen Testamente der Hohenzollern, hg. v.
GEORG KÜNTZEL u. MARTIN HASS, Bd. 2 (Leipzig, Berlin 1911), 3.
78 Zit. HERMANN ÜONRAD, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrecht.~ fiir
die preußischen Staaten (Köln, Opladen 1958), 22 f., Anm. 3.
77 Ders., Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am

Ende des 18. Jahrhunderts (Köln, Opladen 1961), 14.


78 ÜARL GoTTLIEB SvAREZ, Über den Einfluß der Gesetzgebung in der Aufklärung (1789),
in: Vorträge über Recht und Staat, hg. v. HERMANN ÜONRAD u. GERD KLEINHEYER
(Köln, Opladen 1960), 635. Vgl. auch Svarez' Mitarbeiter ERNST FERDINAND KLEIN,
Freyheit und Eigentum, abgehandelt in 8 Gesprächen über die Beschlüsse der französi-
schen Nationalversammlung (Berlin 1790), 167; vgl. ebd., 164: wer in einer Monarchie
lebe, worin die bürgerliche Freiheit gehandhabt werde, werde kein Verlangen tragen, ein
Republikaner zu werden. Sei die ausübende Gewalt durch keine Gesetze beschränkt,
handle es sich um eine Despotie. In der Monarchie aber, wenn sie auch uneingeschränkt ist,
existieren Gesetze, welche der Gewalt Grenzen. verzeichnen.
79 Vgl. RUDOLF VIERHAus, Montesquieu in Dimtschland, in: Collegium Philosophicum,
Fschr. JOACHIM RrrTER (Basel, Stuttgart 1965), 403 ff. Beträchtliche Wirkungen hatte

935
Gcwoltentcilung m. 1. Aufuuhwe des Begrlifs In Deutschland bis 1789

Charakteristisch dafür sind die ausführlichen Retr11.r.htnngAn, die DAVID GEORG


STRUBE 1754 veröffentlichte; sie gingen auf die Gewaltenteilung überhaupt nicht
ein, sondern betonten nur wiederholt, daß die Justiz nicht mit den anderen Ge-
walten vermischt werden dürfe 81 . Wenn man, wie JOHANN HEUMANN VON TEUT-
SCHENBRUNN 1760 den Gedanken der Gewaltenteilung aufnahm, so nur beiläufig
und ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Man will einen Unterschied unter der
gesetzgebenden und vollstreckenden Gewalt sowohl in Staats- als J ustizhändeln machen.
Beide sollen nicht vereiniget sein, weil dieses der Freiheit des Volks nachteilig sein
möchte. Gegen die Berechtigung dieser Ansicht erhob Heumann keinen Wider-
spruch, hielt jedoch dagegen, daß im teutschen Reich ... der Freiheit auf eine be-
sondere Art vorgesehen sei, da hier zwar nicht die Majestät selbst, aber doch die Ver-
waltung der Majestätsrechte zwischen Reich und Ständen verteilt i.~t 82 . ner sehr
offenherzige FRmDRICH KARL VON MOSER (1761) erachtete 'Montesquieu als im
Reich der GelliLer lel.Jeud und hielt eine übertriebene Verfassungsbal,ance für gefähr-
lich; schon ein Sperling könne, wie Swift gemeint habe, ein solches Gebäude zum
Einsturz bringen. Die englische Verfassung sei nicht als vorbildlich zu betrachten,
vielmehr l:!ei der obrigkeitliche Stand ... ein besonderes Gnadenge.~r:h.enk Gottes, weil
e.r allein zu einer schnellen Löoung o,llcr anßtchenden Fragen befähige. Allerdings sei
die st1·euge Beachtung der Gesetze die oberste Pflicht der Monarchen, auch müßten
Mittelskorporationen, Stände, die Freiheit sichern helfen 83 • Vier Jahre später gab er
zu, daß in dem Gleichgewicht der befehlenden und vollziehenden Macht eine weise
Mäßigung liege (1765) 84• Man hielt es jedoch für fraglich, ob diese Teilung wirklich
ein ausreichendes Mittel gegen Tyrannei sei, auch wenn viele Autoren sie in die
Reihe der größesten Glückseligkeiten der bürgerlichen. Gesellschaft setzten (HEINRIOII
GOTTFRIED ScHEIDEMANTEL 1770) 85 • Zumindest gerate eine so zusammengesetzte
Maschine leicht in Unordnung (JosEF VON SoNNENFELS) 86 • Entscheidendes Gewicht

Montesquieu auch auf dem Umweg über die Schrift von GAETANO Fn..ANGIERI, Szienza
della legislazione (Florenz 1780), bes. 1, 2, dt. Ansbach 1784; JoH. CHRISTOPH v. ARETIN,
Staatsrecht der constitutionellen Monarchie, Bd. 1 (Altenburg 1824), 55 f.: Mit dem Werke
Montesquieus hat sie zwar den Gegenst,and, aber nicht den Zweck gemein. Montesquieu zeigte,
wle die bestehenden Gesetzgebungen das geworden, was sie sind. Fi'langieri dagegen zeigt,
W'ie sie sein sollen; allgemein: FRITZ V ALJAVEC, Die Entstehung der politi!mh1m St.römungen
in Deutschland 1770-1815 (München 1951), 13 ff.; RUDOLF VIERHAUS, Politisches Be-
wußtsein in Deutschland vor 1789, Der Staat 6 (1967), 175 ff.
80 ERWIN HöLZLE, Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu, Rist. Zs.,

Beih. 5 (1925); ERNST WoLFGANG BöcKENFÖRDE, Die deutsche verfassungsgeschichtliche


Forschung im 19. Jahrhundert (Berlin 1961), 23 ff. (über Möser).
81 DAVID GEORG STRUBE, Betrachtungen über das Buch, L'esprit des Loix genannt,

Hannoverische Gelehrte Anzeigen (1754), 1180f., auch in: ders., Nebenstunden, 2. Aufl.,
Tl. 5, (Hannover 1766), 420.
82 JOHANN HEUMANN v. TEUTROHF.NBRUNN, Geist der Gesetze der Deutschen (1760),

2. Aufl. (Nürnborg 1770), 287. 66.


83 FRIEDR. KARL v. MOSER, Beherzigungen (Frankfurt 1761), 653 f. 163. 165. 338.
84 TJ11rR., Vnn dem Deutachen National-Geiet (Fmnkfurt 1765), 19 f .

.85 HEINR. GOTTFRIED ScHEIDEMANTEL, Das Staatsrecht nach der Vernunft und den
Sitten der vornehmsten Völker,§ 98, Bd. l (Jena 1770), 156.
88 JosEF v. SoNNENFELS, Über die Liebe rl11s Vaterlandes, Ges. Sehr., Bd. 7 (Wien

1785), 114f.

936
m. 1. Aufnahme des Begrift's in Deutschland bis 1789 Gewaltenteilung

hatte das Argument, daß die oberste Gewalt, 11ntAilbn.r sei. Die Sotweränität teilen,
heißt, sie vernichten (C. VON REAL) 87 • Wohl meinte man die höchste Gewalt auf ver-
schiedene Träger delegieren zu können, ohne damit eine 1'rennung der Majestäts-
rechte vorzunehmen, denn die Befugnisse, die man durch andere ausüben ließe,
blieben doch immer die eigenen, die Teilung der Regierungsrechte dergestalt, daß
jeder seinen Teil unabhängig besaß, galt jedoch als nach Begriffen ohnmöglich, weil
die Maiestät ein einiges, höchstes, vollkommenes und unabhängiges Wesen ist, und sich
in einem Staat keine andere Personen denken lassen als Regent und Untertanen
(SCHEIDEMANTEL) 88• Wie die Teilung in der Praxis ohne Schaden geschehen könnte,
konnte Scheidemantel, der sich übrigens als einziger Staatsrechtler ausführlich mit
der Gewaltenteilung auseinandersetzte, sich nicht vorstellen.
Die selbstbewußteste Kritik der Gewaltenteilung gab ÜARL GoTTJ.TRR RvARF.r. 89 .
In seinen „Kronprinzenvorträgen" 1791/92 handelte er sie unter den gemischten
Regierungsformen ab und würdigte sie durchaus positiv. In der beschränkten Mon-
archie scheinen die verschiedenen an der Regierung teilnehmenden Mächte des Königs
und der Volksrepräsentanten sich untereinander in einem so glücklichen Gleichgewicht
zu erhalten, daß jede derselben nur zu dem Zweclr,e de.~ 8taaJ;e.~ ihrer Bestimmung gemäß
hinivirloon und koino dortwlhcn ein dcni. Ga.nu.n nacliteil-iges Übergew·iclit erlwnAJlfn ~:wnn
... Alle·in ·in eben diesem Gleichgewicht liegt der Hauptmangel, seien doch dauernde
Störungen zu befürchten, Grenzüberschreitungen zwischen den politifmhcn Mächten
und damit eine immerwährende Eifersucht. Sie könne nur nachteilige Folgen für
Glückseligkeit und Moralität des Volkes haben. Damit werde der an sich in diesem
System gegebene Vorteil einer sehr viel freieren Lebensgestaltung und größeren
politii:mhen Tnteresses wieder aufgehoben. Wegen der Schnelligkeit und Sicherheit
der Entscheidungen, und ihrer Durchführung sei die unumschränkte Monarchie auf
jeden Fall überlegen. Allerdings müsse der Monarch richtige Begriffe haben, dann
werde er auch kein Interesse zeigen, das von dem des Volkes abweiche oder ihm gar
entgegengesetzt sei. Der Herrscher sollte, wie FRIEDRICH II. sagte, voir, penser et
agir pour toute la communaute9o.
Weit verbreitet war die These, das sei schon deshalb nötig, weil das Volk zum selbst-
verantwortlichen politischen Handeln noch nicht fähig sei. Alle.~ was 1m:r ... tu.n
können, ist, dem Volk zu allmähligen Fortschritten zum Bessern den Weg zu bahnen ...
·Nur wann das Volk auf efrien hohen Grad der Verbesserung gekommen ist, nur dann
,ist es Zeit zu einer Gesetzgebung, welche zugleich es und den Gesetzgeber bindet: denn
ohne beide zu binden, ist keine Gesetzgebung vollkommen91 . In der allgemeinen Dis-

87 CASPAR DE REAL DE CURBAN, Die Staatskunst, aus dem Franz. übers. v. Johann v.

Schulin, Bd. 4 (Frankfurt, Leipzig 1766), 143. Die Dreiteilung ist hier die in gesetzgebende,
richterliche und die Zwang brauchenrle oder Coactiv Macht, ebd., 153.
88 ScHEIDEMANTEL, Staatsrecht, § 102, S. 160.
89 SvAREZ, Vorträge, 469. 474 (s. Anm. 78).
9 ° FRIEDRICH II„ Essai sur les formes de Gouvernement, Oeuvres, t. 9, 200 (s. Anm. 74);

in der „Dissertation sur les misollfl", cbd„ 23 betonte er, daß es dort, wo das Volk die
Gesetze selbst gebe, wesentlich auf un juste equilibre entre le pCYUvoir du gCYUvernement et l.a
liberte des citoyens ankomme (1750).
91 .ToH. <1F.ORG Smrr.ossER, Briefe über die Gesetzgebung überhaupt und don Entwurf
des preußischen Gesetzbuches insbesondere (Frankfurt 1789), 344. Mit der Gewalten-

937
Gewaltenteilung m. 1. Aufnahme des BegriJfs in Deutschland bis 1789

kmi1:liuu giug el:! uiuhL Ulll eiueu gruuillegeuueu wechsel der IlegierU1lgsfum1, suuuem
um die Beseitigung konkreter Mißstände, um mehr Freiheit für den einzelnen und
um die allmähliche Bindung des Staates an die Gesetze. Weder die besonders durch
JEAN Louis DE LoLME vermittelte Bekanntschaft mit der Verfassung Englands92
noch das Echo· auf den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg93 änderte etwas an
der grundsätzlichen Zustimmung zum aufgeklärten Absolutismus.
Eindeutige Stimmen für die Gewaltenteilung waren deshalb vor 1789 selten und
hatten nur geringe Wirkungen. Die Bemerkungen ISAAK lsELINS (1760) lassen den
Begriff noch kaum erfaßt erscheinen: der erste Grundsatz bei der Wahrung der Frei-
heit sei es, die Gewalt unter denjenigen, denen die Beherrschung des Volkes anvertrauet
wird, so viel möglich und so viel es ohne Verwirrung geschehen kann, zu verteilen 'f!,nd
:iu mäßigen 94, ohne daß genauer gelilagt würde, wie ein solches System aussehen
könnte. Auch die Unabhängigkeit der Justiz, sonst schon ziemlich regelmäßig ge-
fordert, wird nicht besonders erwähnt. Wiederholt und sehr ausführlich setzte sich
J. H. G. yoN JusTI für die Gewaltenteilung ein. Auf seine Formulierungen dürfte es
weitgehend zurückzuführen sein, daß man auch in Deutschland die Gewaltenteilung
in das Bild eines Gleichgewichts faßte; in den wenigen Bemerkungen vorher finden
sich Balance-Ideen nicht. Justi sah die Gewaltenteilung als die vorzüglichste Form
der gemischten Verfassung an und bezeichnete sie als einen der wichtigsten Gegen-
stände der Politik. Denn die Glückseligkeit des Staates und die Freiheit seiner Bür-
ger beruhen hauptsächlich auf der vernünftigen Anordnung und dem Gleichgewichte
der obersten Gewalt in der Grundverfassung des Staats96 • Sind die beiden Haupt-
gewalten, Gesetzgebung und Vollziehung (diese einschließlich der richterlichen Ge-
walt, die ein subordinierter Teil der Exekutive ist, aber dennoch unabhängig
gehandhabt werden muß) 96 in einer Hand, so steht es um die Freiheit der Bürger
ttnd damit um die Glückseligkeit des Staates schlecht. Die beiden höchsten Gewalten
müssen getrennt, aber stets in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zueinander
stehen, sich im Gleichgewicht befinden. Sie müssen das Recht haben, einander zu

teilungsliteratur wohlvertraut - Schlosser erwähnt Montesquieu und. Bolingbroke und


polemisiert gegen Filangieri - hält er die Gewaltenteilung doch nicht für nötig. Der
Regent. ist eher als F.rklärer des Naturrecht.R denn als Gesetzgeber a:nZusehen, ebd., 132 f ..
92 JEAN LOUIS DE LOLME, La Constitution de l'Angleterre ou etat du gouvernement

anglais com,pare avec la forme republicaine et avec les autres monarchies de l'Europe
(Amsterdam 1771), engl. London 1775, dt. Ausg. hg. v. F. C. Dahlmann (Altona 1819).
Über seine Wirkungen in Deutschland EDITH RUFF, Jean Louis De Lolme und sein Werk
über die Verfassung Englands (Berlin 1934); THEODOR WILHELM, Die englische Verfassung
und der vormärzliche deutsche Liberalismus (Stuttgart 1928), 17 ff.; wichtig auch WILLIAM
BLACKSTONE, Commentaries on the Laws of England (Oxford 1765-69), der die Lehre
von der Gewaltenteilung konsequent für das englische Staatsrecht auswertete.
93 HERBERT GALLINGER, Die Haltung der deutschen Publizistik zu dem amerikanischen

Unabhängigkeitskrieg (phil. Dias. Leipzig 1900); Verfassungsfragen wurden kaum be-


rührt.
94 ISAAK lsELIN, Versuch über die Gesetzgebung (Zürich 1760), 17.
95 JoH. HEINR. GOTTLOB v. JusTI, Abhandlung von der Anordnung und dem Gleich-

gewichte der Hauptzweige der obersten Gewalt, Ges. polit. u. Finanzschr., Bd. 2 (Kopen-
hagen, Leipzig 1761), 3.
98 Ebd., 7.

938
a) Kant Gewaltenteilung

hindern, wenn eine Gewalt zu weit gehen, die Wohlfahrt außer acht lassen oder die
Grundverfassung über den Haufen werfen will. Bei der weiteren Ausführung
orientiert Justi sich gänzlich an Montesquieu und verweist wie er auf England, wo
gewiß die weiseste Verfassung von ganz Europa besteht. Wird zwischen beiden
Hauptgewalten ein Gleichgewicht nicht erreicht, so ist die Zerteilung der obersten
Gewalt allemal äußerst schädlich97 •
Diese Rezeption des England-Kapitels aus dem „Geist der Gesetze" war die reifste
vorrevolutionäre Darlegung des Begriffs in Deutschland, weil Justi die Gewalten
nicht als unabhängige Größen, sondern funktional als „Zweige" einer abstrakten.
obersten Gewalt ansah und damit das Dogma der unteilbaren Souveränität über-
wand. Zu einer von ihren Trägern losgelösten Auffassung der Staatsgewalt stieß er
dahP.i jP.doch nicht vor; dieser Schritt wurde erst im 19. Jahrhundert mühsam voll-
zogen. Wohl lassen sich in Justis Schriften auch Äußerungen nachweisen, die auf
die Bevorzugung eines patriarchalischen Absolutismus deuten, seine Bemerkungen
über die Vorzüge der gleichgewichtigen gemischten Regierungsform als in der Ver-
nunft und in der Natur der Sache gegründet98 lassen jedoch keinen Zweifel daran, wo
er wirklich stand. Trotz längerer Erörterung der Probleme der Repräsentation99
dachte Justi natürlich in keiner Weise in demokratischen Kategorien. D11s Gleich-
gewicht der Gewalt blieb, wie auch bei Montesquieu, weitgehend im Bereich stän-
discher Vorstellungen. Zwar wies er dem Volk die Grundgewalt zu 1 00, 11ber 11uf den
Boden.der Volkssouveränität stellte er sich nicht.
Nebst Justi ist JOHANN FRIEDRICH VON Pl!'l!lll!'l!'J!llt (1779) für die Einbürgerung der
Gewaltenteilungslehre in Deutschland bedeutsam geworden101 . Gedankenführung
und gelegentliche Formulierungen entsprechen denen Justis, nur wird hier stärker
hervorgehoben, daß die gesetzgebende Macht ihrer Natur nach ein Übergewicht hat
und dazu neigt, es auszubauen. Die Grenzen müssen somit sehr sorgfältig abgesteckt,
in der Grundverfassung des Staats beide Gewalten in ein möglichst vollkommenes
Gleichgewicht gebracht werden102 • Pfeiffer legt deshalb auf das Veto der Exekutive
entscheidendes Gewicht, wie sein System überhaupt dualistischer als das Justis
wirkt. In den wichtigsten Formulierungen stimmt die „Deutsche Encyclopädie"
mit dem Gleichgewichtskapitel in Pfei:ffers „Grundriß" wörtlich überein. Obbeschrie-
bene Einrichtung des Gleichgewichts der verschiedenen Gewalten ist in der Natur der
Sache und in der gesunden Vernunft gegründet (1787)1°3.

2. Die Gewaltenteilung im vernunftrechtlichen Denken um die Jahrhundertwende


a) Kant. Von dieser Auffassung bis zur Erklärung einer gewaltenteilenden Verfas-
sung als der allein rechtmäßigen war es nur ein Schritt. Er wurde nach Ausbruch

D1 Ebd., 14. 15. 17.


98 Ders„ Der Grundriß einer guten Regierung in fünf Büchern (Frankfurt, Leipzig 1759),
§ 149; vgl. hier zur Gewaltenteilung das ganze zweite Brich, ebd„ 129 ff.
99 Ebd., §§ 141. 153.
100 Ebd., § 47.

101 JoH. FRIEDRICH v. PFEIFFER, Grundriß der wahren und falschen Staatskunst, Bd. 2

(Berlin 1779).
102 Ebd., 27.
103 Dt. Enc., Bd. 12 (1787), 551, Art. Gleichgewicht der Gewalt.

939
Gewaltenteilung m. 2. Gewaltenteilung im vemunftrechtlichen Denken
der Französischen Revolution auch in Deutschland häufig getan; das meiste Ge-
wicht hatten dabei die Ausführungen KANTS, und wenn sein Eintreten für die Ge-
waltenteilung trotz seiner Autorität keine größeren Wirkungen hatte, so war das
in der Vergröberung der politischen Diskussion im Gefolge der Revolution begrün-
det. Die republikanische Verfassung war für Kant die einzige, welche aus der Idee des
ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volkes
gegründet sein muß. Und weiter: Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Ab-
sonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden: der
Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst
gegeben hat (1795) 104• In der „Rechtslehre" (1797) erklärte er die so verstandene reine
Republik zur einzig rechtmäßigen Verfassung, weil nur sie allmählich einen Zustand
herbeiführt, wo allein das Gesetz selbstherrschend ist und wo es an keiner besondern
Person hängt. Jeder Staat enthält drei Gewalten, d. i. den allgemeinen vereinigten
Willen in dreifacher Person, pje Herrschergewalt oder Souveränität in der des Gesetz-
gebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die recht-
sprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der
Person des Richters ... gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß:
dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens
nach dem Gesetz ... , und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch . . . enthält, was im
vorkommenden Falle Rechtens ist. Diese di·ei Staatswürden müssen wgleieh koordi-
niert und subordiniert sein, damit keine die Funktionen der anderen usurpieren
kann, und sie müssen durch ihre Vereinigung jedem Untertan sein Recht zukommen
lassen. Nur in ihrem Zusammenwirken besteht das Heil des Staates, nämlich der
Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien . . . als
nach welchen zu streben uns die Vernunft nach einem kategorischen Imperativ verbind-
lich macht. Der eigentliche Beherrscher des Volks, der Gesetzgeber, kann nicht zu-
gleich Regent sein, und weder der Staatsherrscher noch der Regierer können richten,
sondern nur das Volk durch seine gewählten Mitbürger.
Man wird diese Paragraphen als konkrete und grundsätzliche Stellungnahme zu
Verfassungsfragen nehmen dürfen. Die Definition enthält die Elemente des gewalten-
teilenden Denkens in völliger Klarheit, wenn auch auf die Ausführung in Einzel-
heiten verzichtet ist. Die in der starken Betonung des Gesetzes liegende Abstraktion
bedeutet zugleich den Wegfall des politisch orientierten Gleichgewichtsdenkens.
Der Regierer ist keine eigenständige Größe, sondern nur Agent des Staats, Staats-
herrscher - in entschlossener Wendung zur Volkssouveränität - einzig das ver-
einigte Volk 105 .

104 KANT, Zum ewigen Frieden (1795), 1. Definitivart. AA. Bd. 8 (1912), 350. 352. Nach

dieser Definition war die Demokratie für Kant notwendig ein Despotism, weil sie eine
exekutive Gewalt gründet, die alle über einen und notfalls auch gegen ihn beschließen
läßt. Überhaupt ist jede Regierungsform, die nicht repräsentativ ist, eine Unform, weil
der Gesetzgeber zugleich Vollstrecker seines Willens ist. Autokratisch herrschen und
republikanisch regieren kann deshalb sehr wohl zusammengehören; vgl. ders., D.er Streit
der Fakultäten (1798), AA Bd. 7 (1907), 91. Die Republik war ihm forma regiminis.
106 Dcrs., Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), §§ 52. 45. 48. 49. 47.

AA Bd. 6 (1907), 341. 313 ff.

940
b) Schule Kants Gewaltenteilung

b) Schule Kants. Diese entschiedene Auffassung des Prinzips fand nur wenig Nach-
folger. JOHANN HEINRICH 'l'IEFTRUNK trug mit seinen ,,l'hilosophischen Unter-
suchungen" (17\!8) am meisten zur Verbreitung der Kantschen Rechtslehre bei.
Ihm i11t die Idee de11 Stu.u.te:s dfr Vor.~tdlwny 1!0n einer Ver/1i.~.~1.i,ny, 1farnh wel<:hr, d·1;,,,
größtmögliche Freiheit von jede1tmann mit der eines jeden andern nach allgemeinen
Go1wtzll'n hmitoh,(lri, karim,. Dio rlrni Aotiui, f!t11,11,tRgawnlton, flinrl fi'(lnzi:ßfmh nr.rfinhü>f/,r.n1
sie sollen so rein wie möglic.h sein, ihre. Ve.rmischung wider.~pi·icht der Machthafn.my
des Revhls und darniL dern Ernlzweck dei; SLaaLei;. Ganz irn Sinne Kanfa betonte
Tieftrunk auch die Beiordnung und Unterordnung der Gewalten und die Notwendig-
keit eineR innigen Zmm.mmenwirkens 106 • Nor.h 17\ll ha.tte 'l'ieftr11nk von <for GA-
w11ltenteilung keine Notiz genommenl07. 1802 meinte JorrANN ADAM BmtGK: Da
im Staa·te durchgehende Gerechtigkeit herrschen soll, ·in.Ussen d·ie ve1·sckiedenen Ge-
walten, welche zu einer durchgehenden Rechtsherrschaft notwendig sind, voneinander
getrennt, aber doch in ihren Wirkungen ineinander eingreifend sein, damit das Recht
stets das notwendige Resultat derselben sei (1802). Bergks Ddinitionen von 'Republi-
kanismus' und 'Despotismus' entsprechen genau denen Kants 108 .
In Anlehnung an Kantsche Prinzipien, aber doch sehr selbständig, entwickelte
Wrr:FTF.T,'M .JoSF.'F llF.llR. iieit 1804 iieine °f(on:>:ept.ion der .1 hrnrchie. llurch 'l'eilung der
Staatsgewalt auf zwei verschiedene Subjekte, die beide gewählt werden sollen,
Feststellung des richtigen Verhältnisses zwischen beiden Gewaltinhabern, Unpartei-
lichkeit der Justiz, grundgesetzliche Regulative des Gewaltausübung, durch Unter
ordnung der Vollzieher unter die Aufsicht des gesetzgebenden Korps und dessen
Unterordnung unter die Gesamtheit sei eine durchgängig gute Staatsverwaltung
fest zu begründen109 . Auch in der vernunftrechtlichen Schule konnte jedoch der
Zweifel über die Unteilbarkeit der obersten Gewalt nicht ganz überwunden werden.
THEODOR SCHMALZ erwähnte die Gewaltenteilung deshalb nur beiläufig (1794).
Wichtiger war ihm die Feststellung, daß alle drei Gewalten nur eine sind und nur die
Art ihrer Äußerung verschieden sei 110 . Er unterschied zwar die dreüachen Gewalten
nach der dreifachen Denkkraft des Menschen, meinte jedoch, das sei nur rein be-
grifflich zu verstehen; inder Praxis sei eine solche Unterscheidungundurchführbar 111 •
106 JoH. HEINRICH TÜJFTRUNK, Philosophische Untersuchungen über das Privat- und

öffentliche Recht, Tl. 2 (Halle 1798), 114. 163. 171.


107 Ders., Über Staatskunst und Gesetzgebung (Berlin 1791).

108 JOH. ADAM BERGK, Die Theorie der Gesetzgebung (Meissen 1802), 165; vgl. 170:

Eine Verfassung, in welcher die Gewalten voneinander getrennt sind, heißt die republikanische,
und da diese allein den Forderungen des Rechts Genüge tut, so ist das Gegenteil . . . die
despotische.
109 WILH. JOSEF BEHR, System der angewandten allgemeinen Staatslehre oder der Staats-

kunst. Politik (Frankfurt 1810), 237; hier wird sohr viel stiirkor politisch argumentiert
als in der übrigen vernunftrechtlichen Literatur. Behr saß als Vertreter der Universität
Wiirr.burg im ba.yerischen Landt.a.g und wunle hiei· einer dei· Wo1·Lführei· de8 Layerischen
Frühliberalismus; vgl. EVA PEIFFER, Wilhelm ,Josef Behr. 8tudje 1r.11m bayerischen
J,ibflra.li~mn8 der Met.t.ernif1h-7.eit. (F.msdett.en 1936).
110 'l'HEODOR l::lcHMALZ, Das natürliche l::ltaatsrecht, § lll, Anm. (J!'rankfurt, Leipzig

1794), 74.
111 Ders., Handbuch der Rechtsphilosophie (Halle 1807), 289; ausführliche Bibliographie

der vernunftrechtlichen Literatur bei LEOPOLD WARNKÖNIG, Rechtsphilosophie als Natur-


lehre des Rechts (Freiburg 1839), 137 ff.

941
Gewaltenteilung m. 3. Wachsende Ne;ierung des Prinzip11
c) Fichte. Besonders FICHTE versuchte die einheitliche Staatsgewalt, wenngleich
mehr aus praktischen denn aus dogmatischen Gründen, zu retten. Mit der Gewalten-
teilung im herkömmlichen Sinne konnte er nicht viel anfangen; ihm schien darin
etwas Unbestimmtes zu liegen 112 • Statt dessen verfocht er, einen vor allem von Althu-
sius vertretenen Gedanken wieder aufnehmend, das Nebeneinander einer positiven
und einer absolut negativen Staatsgewalt, deren Trennung das Fundamentalgesetz
jeder vernunft- und rechtmäßigen Verfassung sei. Die erste umfaßt die gesamte öOent-
liche Gewalt in allen ihren Zweigen; aber sie muß über die Verwaltung derselben dem
Ephorat ... verantwortlich gemacht werden 113 • Das Ephorat besitzt eine absolut
prohibitive Gewalt und kann die öffentliche Gewalt gänzlich und in allen Teilen
suspendieren. Schule machte diese eigenwillige Interpretation der Gewaltenteilung
nicht. Fichte äußerte sich später über seinen Versuch sehr kritisch. Die klassische
Gewaltenteilung lehnte er jetzt entschieden ab: eine derart künstliche Verfassung sei
unter der Kritik, und es gehöre unt~· die wunderba1·en Ere·ign·isse unserer Ze·it, wie
auch verständige Deutsche so etwas in den Mund nehmen konnten (1812) 114.

3. Wachsende Negierung des Prinzips

a) Begrilfliche Unsicherheit. Trotz des schon bei Jlisti und dann, von anderen Prä-
missen, erneuL im Veruu11fLrecht gewo1111e11e11 sichere11 Verständnisses des Prinzips
blieb der Begriff zunächst schwankend, und die begriffliche Unsicherheit nahm eher
zu, statt sich zu vermindern. Die An~änger der Gewaltenteilung schlugen zu viele
Auslegungen vor, als daß sich eine einheitliche Meinung bilden konnte, wie an den
Unterschieden der Systeme Kants, Behrs und Fichtes zu sehen ist, und die gemäßig-
ten Verfec.b.ter des Prinzips im Bereich der praktisch-politischen Diskussion mußten
entweder zu viele Rücksichten nehmen - deshalb warnte etwa ERNST BRANDES,
guter Kenner der englischen Verfassung und gewiß nicht gegen sie eingenom~en,
vor einer einfachen Übertragung von Verfassungsprinzipien und verwies darauf,
daß Verfassungen dem Nationalcharakter angepaßt sein müßten115 - oder sie
waren sich der Anwendbarkeit des Prinzips doch nicht ganz sicher.
Bezeichnend für diese ambivalente Haltung war AUGUST LUDWIG VON ScHLÖZER.
Er bewunderte nicht nur die politische Statik in der englischen Verfassung, sondern
forderte allgemein, der Staat sei durch genugsame Gegengewichte zu belasten, man
teile also die Herrschaftsrechte (1793) 116. Letztlich aber war er doch froh, daß eine
Revolution in Deutschland durch Aufklärung vermeidbar sei11 7 , wobei er die Augen
davor verschloß, daß dann die von ihm angestrebte Statik kaum zu erreichen sein
würde. CHRISTIAN DANIEL Voss gab deshalb auch mit innerem Recht der aufge-

112 FICHTE, Grundlage des Naturrechts (1796), AA 1. Abt., Bd. 3 (1966), 440 f.
113 Ebu.
114 Ders., System der Rechtslehre (1812), SW Bd. 2 (1845), 631 f.
115 ERNST BRANDES, Politische Betrachtungen über die französische Revolution (Jena
1790), 99 f. 146.
116 AUG. LUDWIG ScHLÖZER, Allgemeines StatsRecht und StatsverfassungsLere, § 23 (Göt-

tingen 1793), 144.


117 ARNOLD BERNEY, August Ludwig v. Schlözers Staatsauffassung, Hist. Zs. 132 (1925),
61.

942
b)· Organologische Kritik Gewaltenteilung

klärten Monarchie den Vorzug, da sie leistungsfähiger sei. Wohl bedeute es eine
entscheidende Sicherheit der Erreichung des allgemeinen Staatszweckes . . . wenn die
legislative und exekutive Gewalt konstitutionell voneinander getrennt bestehen und
geübt werden, aber repräsentative Systeme hätten den großen Nachteil, daß sie der
Kabale Tor und Tür öffneten. Behalte der Monarch beide ·Teile der Staatspraxis in
seinen Händen, so solle er, wenn er es mit dem Staate ehrlich meint, dieselbe durch eine
Konstitution gegen alle Willkür und Ausdehnung über die Grenzen der Staatsgewalt
überhaupt zu sichern suchen und sich der beratenden Mitwirkung eines Gesetzesrates
bedienen (1799)118.
Diese Haltung zur Gewaltenteilung entsprach etwa der Einschätzung bei Svarez,
und wenn man die vielen beiläufigen Erwähnungen des Prinzips in der damaligen
politischen Literatur durchsieht, so ergibt sich, daß sie die vorherrschende war.
Die Gewaltenteilung wurde als kluges Mittel politischer Moderation und guter
Staatsgestaltung anerkannt, aber nicht als das einzige angesehen. So liegt in STEINS
Bemerkung, Preußen habe keine Verfassung, da die oberste Gewalt nicht zwischen
dem Oberhaupt und Stellvertretern der Nation geteilt sei (1806), kein Bedauern119 • Es
kam nur darauf an, daß die Regierungsverfassung nach den richtigen Grundsätzen
gebildet sei und zweckmäßig gebildete Stände an der Regierungstätigkeit beteiligt
würden. Sie sehienenihm ein kräftiges Mittel, die Regierung durch das Ansehen der
gebildeten Klassen zu verstärken und so den Kräften der Nation eine freie Tätig-
keit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben.

b) Organologische Kritik. Je mehr sich die neue organische Auffassung des Staates
durchsetzte, desto mehr Raum gewann die Kritik an der Gewaltenteilung und desto
kraftloser wurde das Prinzip selbst. Hatte die ernstzunehmende Kritik - von der
verständnislosen entschiedenen konservativen Polemik kann hier abgesehen werden
- zunächst nur bezweifelt, ob es möglich sei, ein System abstrakter Grundslitze zu
entwickeln, die als Vorschrift für die Administration hinlänglich wären (AUGUST
WILHELM REHBERG 1793) 120, und gefragt, ob eine Kombination zwischen Teilung
der Macht auf der einen Seite, Gleichheit ihrer Kräfte auf der anderen auch nur be-
stehen, geschweige denn fruchtbar werden könne (FRIEDRICH GENTZ 1800) 121 , so
wurde es zunehmend eine sichere Überzeugung, daß ein solches System nur eine
Quelle der V nordnung und des Verderbens sei. 8olange die Gewalt nicht in letzter 1n-
stanz auf einem festgegründeten Prinzip der Einheit beruhe, sei sie nichts als verlarvte

118 CHRISTIAN DANIEL Voss, Handbuch der allgemeinen Staatswissenschaft nach Schlözers

Grundriß gearbeitet, Bd. 4 (Leipzig 1799), 104. 83.


119 STEIN, Darstellung der fehlerhaften Organisation des Kabinetts (26./27. 4. 1806),

Br. u. Sehr., Bd. 2/1 (1959), 206 f.; vgl. insgesamt REINHART KosELLECK, Preußen zwischen
Reform und Revolution (Stuttgart 1967), 163 ff. Für die Gewaltenteilung äußerte sich
aus dem Kreis der Reformer nur eine kleine von Kant beeinflußte Gruppe, besonders
Joh. Gottfried Frey; vgl. THEODOR WINKLER, Johann Gottfried Frey und die Entwicklung
der preußischen Selbstverwaltung (Stuttgart 1957), 150.
120 Auo. WILHELM REHBERG, Untersuchungen über die französische Revolution, Bd. 2

(Hannover, Osnabrück 1703), 139. ·


121 FRIEDRICH GENTZ, Über politische Gleichheit (1800), Ausg. Sehr., hg. v. Wilderich

Weick, Bd. 5 (Stuttgart, Leipzig 1837), 255.

943
Gewaltenteilung m. 3. Wachsende Negierung des Prinzips
Anarchie (1820) 122 • Die Ansicht wurde vorherrschend, daß der Staat durch die
Trennung der beiden Gewalten ... auf Entgegensetzung, nicht auf Einheit begründet
werde (JOHANN JACOB WAGNER 1804) 123, während doch umgekehrt im Herrscher
. . . die Staatskräfte vereint sein müßten, damit er durch ihren Gebrauch in allen
Teilen des Staats Ordnung und Gesetze aufrecht erhalte, so NIKOLAUS THADDÄUS
GÖNNER (1804), der als einer der ersten die Abkehr von der vernunftrechtlichen
Betrachtungsweise vollzog 12 4. Von der Gewaltenteilung blieb dabei häufig nurmehr
die Notwendigkeit einer übersichtlichen Behördeneinteilung und die Beachtung der
Zuständigkeiten125 •
Wenn man den Staat schließlich als die innige Verbinilung der gesamten physischen
unil geistigen Bedürfnisse . . . einer Nation zu einem großen, energischen, unendlich
bewegten und lebeniligen Ganzen verstand wie ADAM MÜLLER (1808), konnte für eine
als Entgegensetzung begriffene Gewaltenteilung kein Platz mehr sein. Zwar meinte
Müller, nichts könne verbinden als dit wah1·t Teilung selbst, aber die vom leere11
Begriff und nicht von der Idee ausgehende Teilung der Funktionen anerkannte er
nicht als wahre Teilung. Mit der Idee des Staates war ihm nur die Erkenntnis der
von ewigen göttlichen Gesetzen angeordneten Teilung in Stände verträglich. Da-
neben sei alle Constitut·ionskünstele·i unserer Taye nur ein Surrogat des Mittelalters 126 •
Für SCHLEGEL, der einstmals die Gewaltenteilung als die Regel des rcpublilcanischcn
Staates anerkannL haLLe (1796) 127 , war Parlamentarismus 1820 die englische Krank-
heit. Die englische Vcrfassung galt ihm als glückliches Gleichgewicht unter den auf-
gereizten Parteien, aber es war eben doch nur eine immerwährend am Ausbruche ver-
hinderte Revolution. Ganz anders die wahre Ständcvcrfassung, der auf den Kor-
porationen beruhenile Staat. Hier ist die monarchische Gewalt der feste Mittelpunkt

1 2 2 Ders., Nochmals gegen de Pradt (1820), Ungcdrucktc Denkschriften, Tagebücher und

Briefe, hg. v. Gustav Schlesier, Bd. 5 (Mannheim 1840), 92.


1 2a JoH. JACOB WAGNER, Über die Trennung der legislativen und executiven Staatsge-
walt (München 1804), 79.
124 NIKOLAUS THADDÄUS GÖNNER, Teutsches Staatsrecht (Landshut 1804), 565. Vgl. auch

PAUL FERD. FRIEDR. BUCHHOLZ, Theorie der politischen Welt (o. 0. 1807), 76: Da die
Macht aus Willen (Gesetzgebung) und Kraft (Ausführung) bestehen muß, ist die H,egierung
zugleich gesetzgehende Macht und vollziehende Macht, oder sie würde nichts sein; KARL
LUDWIG V. WOLTMANN, Geist der neuen Preußischen Staatsorganisation (Leipzig UHU),
176: sich aussprechend und handelnd, Gesetzgeber und Vollzieher zugleich, ist der Volkswille
die Souveränität, welche unteilbar ist. Aber die Souveränität ist im Herrscher konzentriert,
beide sind ganz einerlei; mehr als gutachtliche Mitwirkung der Stände bei der Gesetz-
gebung ist deshalb nicht denkbar.
12 5 So etwa bei MAXIMILIAN CARL GRÄVI!lLL, Anti-Platonischer Staat, 2. Aufl. (Berlin

1812), 11 f.: .Obliegenheiten des Staatsoberhauptes sind die aufsehende Gewalt '(ein-
schließlich qer GeseL:t.geuw1g), die regierende und die exekutive Gewalt; letztere darf
nicht mit den beiden anderen Staatsgewalten vermischt werden, wolle man nicht die
größte Unordnung. Dieses Postulat berücksichtigte die Freiheitswahrung noch insofern,
als es die unmittelbare Einwirkung des Herrschers in die Administration ablehnte.
1 26 ADAM MÜLLER, Elemente der Staatskunst, 9. Vorlesung, hg. v. Jakob Baxa, Bd. 1
(Jena 1922), 190 f.
127 F. SCHLEGEL, Versuch über den Begriff des Republicanismus (1796), SW 1. Abt.,

Bd. 7 (1966), 14.

944
a) Staatsrechtliche Fe11tlegung des monarchischen Prinzips Gewoltcntcllung

und Schlußstein des Ganzen, sie hält die Macht der einzelnen Korporationen ausein-
ander, nicht in einem toten Gleichgewicht, sondern in lebendigem Efr1,k7nm{J (1820/23) 12 8.

4. Hegel
Den in den letzten Zitaten sich abzeichnenden unüberbrückbaren Gegensatz
zwischen dem Prinzip der Einheit und dem der Gewaltenteilung hob HEGEL auf. Er
gab die philosophische Grundlegung des monarchischen Prinzips und rettete die Ge-
waltenteilung, indem er sie in seine Deduktionen einbezog, vor der kompromißlosen
Ablehnung durch das romantische Staatsdenken. Ursprünglich (1802) gegen die
Gewaltenteilung eingestellt, näherte er sich später dem Gedanken der Trennung
und Beziehung der Regierungsgewalten an, ging von da aber weiter zu der Forde-
rung, daß es nicht auf Gleichgewicht, sondern auf lebendige Einheit ankomme.
Es ist gegen die Grundidee des Staates, ihn als Mechanismus eines Gleichgewichts
zu denken. Gleichwohl ist die Gewaltenteilung eine höchst wichtige Bestimmung, die
- richtig verstanden - berechtigt als Garantie der öffentlichen .lfreiheit angesehen
werden kann. Mit der Selbständigkeit der Gewalten wäre die Zertrümmerung des
Staates umnittelbar gt'~t'izt, l!lie mfü1sen vielmehr uurnrL l:lill GtWZl:ll! bilden, duß jede
die Momente der anderen in sich enthält und damit R11lbst die Totalität ist. Die
Gewalte11fa1il11 ng erklärt sich aus der Selbstbest,imtn'U'IUJ des Begriffes an sich, geht also
nicht aus praktischen Erwägungen hervor. Nachdem die Verfassungsform11n <lmch-
laufen sind, die noch die ungetrennte, substantielle Einheit zu ihrer Grundlage haben,
Demokratie, Aristokratie und Monarchie, clirimiert sich diese Einheit nun in der
konstitutionellen Monarchie in drei substantielle Unterschie<le: a) dip, Gewalt, das
Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen, die ge.~etZ(JllhllndR. (ip,111alt, b) dp,r Efobs11.m.tion
der besonderen Spliären und e·inzebnen Fälle 'Unter das Allgemeine, - die Regierungs-
gewalt, c) der Subjektivität als der letzten Willensentscheidung, die fürstliche Gewalt, -
in der die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammen gefaßt sind.
Die fürstliche Gewalt enthält alle drei Teile der Totalität in sich, die Allgemeinheit,
die Besonderheit und die Einzelheit, sie ist zugleich Einheit und Spitze, das absolut
entscheidende Moment des Ganzen; nur so kann der Wille zum Dasein kommen.
In der gesetzgebenden Gewalt sind monarchische und ständische Elemente (Stände
als „Moment der Mitte") wirksam; die Regierungsgewalt hat das allgemeine Inter-
esse gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft geltend zu machen, sie begreift deshalb
auch polizeiliche und richterliche Gewalt in sich129 • Die Garantien, nach denen gefragt
wfrd, se'i es für d'ie ... Gerechtigkeit, öffentliche Freiheit u.s.f. sind Sicherungen durch
Institutionen ... , d. i. den organisch verschränkten und sich bedingenden Momenten 130•

S. Gewaltenteilung und monarchisches Prinzip


a) Staatsrechtliche FeRtfognng des monarchischen Prinzips. StaatsrechLlich normiert
wurue ua1:1 monarchische Prinzip im Anschluß an Art. 1il <l11r Rim<l111111.kte - in a.llen

128 Ders., Die Signatur des Zeitalters (1820/23), ebd., Bd. 7, 527. 531 f. 585.
1 29 TIEGEL,Rechtsphilosophie, §§ 272. 273. 304. 287.
lSO Ebd., § 286, Zusatz; vgl. auch FRANZ RosENZWEtG, Hegel und der Staat, Bd. 2
(München, Berlin 1920), 136 ff.

60-90386/1 945
Gewaltenteilung m. 5. Gewaltenteilung und monarchisches Prinzip

Bundesstaaten wird eine l,andständische ·Verfassung stattfinden-, in Art. 57 WSA.


Es· war bald heftig umstritten, ob die Formulierung des Art. 13 eine altständische
Körperschaft meinte oder auf eine moderne Repräsentativverfassung zielte, wie der
größte Teil der öffentlichen Meinung in richtigem Verständnis der Entstehungs-
geschichte glaubte 131. Im Auftrage METTERNICHS, der den Begriff der Pondera~ion
der Gewalten immer mit Unbehagen ansah, weil er in der Unterstellung des ewigen
Kampfes wurzelt statt in jener der Ruhe, dieses ersten Bedürfnisses für das Leben und
Gedeihen der Staaten (1849/55) 132 , unternahm es FRIEDRICH GENTz, der zunehmen-
den Identifikation der beiden Begriffe entgegenzutreten. Er führte aus, daß Re-
präsentativverfassungen, in denen jeder Abgeordnete die Gesamtmasse des Volkes
vorstelle, auf dem verkehrten Begriff von der obersten Souveränität des Volkes be-
ruhten. Notwendige Folge sei eine konstruierte Konstitution, Auflösung der einheit-
lichen Staatsverwaltung und Teilung -der Gewalt, daraus folgernd Anarchie und
UuLergaug ues SLaaLes. Diese EuLwichlUllg li~ge uem lauusLämfücheu Verfassungs-
typus fern, da hier nur Mitgliedern durch sich selbst bestehender Körperschaften
das Recht auf Teilnahme am Staatsleben zustehe133.
Während der Beratungen über diese Denkschrift in Karlsbad wurde auf Wunsch des
württembergischen Vertreters auf eine authentische Interpretation des Art. 13 in
diesem Sinne verzichtet; es gelang Metternich in der Folge nur, die Feststellung des
Art. 57 WSA durchzusetzen: da der Bund mit Ausnahme der Freien Städte aus
souveränen Fürsten bestehe, müsse dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zu/olge d'ie
gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte . . . vereinigt bleiben, und der Souverän
kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte
an die Mitwirkung der Stände gebunden werden (1820) 134. Wegen der Allgemeinheit
iliesei' Bestimmllllgeu und angesichts uer nach dem Muster uer franz~sischen Charte
von 1814 gegebenen süddeutschen Verfassungen war das ein Kompromiß, der zwar
das entscheidende Gewicht dem Herrscher gab, aber die Mitwirkung der Stände
(ohne genaue Bestimmung, was darunter zu verstehen sei!) doch rechtlich aner-
kannte und somit allen Entwicklungen Raum gab, die das monarchische Prinzip
grundsätzlich unverletzt ließen (wie es der Bundesbeschluß vom 16. 8. 1824 noch-
mals nachdrücklich forderte) 130, also nicht die Volkssouveränität entschieden zur
Grundlage nahmen 136.

131 Zum ganzen Abschnitt ERNST RuDOLF HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit

1789, Bd. l (Stuttgart 1957), 640 ff.; zum Problem der Stände der Überblick bei REuss,
Zur Geschichte der Repräsentativ-Verfassung in Deutschland, Arch. f. öffentliches Recht,
NF 27 (1936), 1 ff. und die ausführliche Darstellung bei WILHELM EDUARD WILDA, Art.
Landstände, WEISKE Bd. 6 (1845), bes. 839 ff. Zusammenstellung der zeitgenössischen
LiLeraLw: bei JoH. LUDWIG KLüBER, Öffentliuhe8 Recht de8 Teut8chen Bunde8 und der
Bundesstaaten, 3. Aufl. (Frankfurt 1831), Anm. zu den§§ 279. 280. 283. 284.
132 METTERNICH, Politisches Testament (1849/55), Nachgel. Papiere, Bd. 7 (1883), 635.
133 Über den Unterschied zwischen landständischen und Repräsentativ-Verfassungen,

abgedr. in: Wichtige Urkunden für den Rechtszustand. der deutschen Nation, hg. v.
JoH. LUDWIG KLÜBER u. CARL WELCKER (Mannheim 1841), 220 ff.
134 Die Wiener Schlußakte. 1820. Mai 15., in: ZEUMER, Quellensammlung, Nr. 219,

S. 550 f. (s. Anm. 10).


135 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung, Bd. 16 (Frankfurt 1824), 263.
136 Zum monarchischen Prinzip ERICH KAUFMANN, Studien zur Staatslehre des monarchi-

946
b) Konstitutionelle Staatslehre Gewaltenteilung

b) Die Gewaltenteilung in der konstitutionellen Staatslehre. Insofern nötigte dieser


Kompromiß zu einem „Netz scholastischer Begriffskunststücke" 137 • Die Stellung
des Herrschers war theoretisch so stark, daß die These BENJAMIN CoNSTANTS vom
„pouvoir neutre" des Monarchen in Deutschland keinen Widerhall finden konnte 138•
Auch der Weg zur Anerkennung des Staates als juristischer Person, d. h. als Träger
der Souveränität, wie ihn EDUARD ALBRECHT zuerst entschieden ging139, war durch
das monarchische Prinzip erheblich erschwert. Ein unmittelbarer Bezug zur Ge-
waltenteilung bestand dabei zwar nicht, aber die Albrechtsche Auffassung markiert
in der Entwicklung des Begriffs der Staatsgewalt doch einen Punkt, von dem aus
auch die Gewaltenteilung vorurteilsloser angesehen werden konnte.
Nach der Definition WILHELM EDUARD WILDAS (1845) 140 beinhaltete das monar-
chische Prinzip die Ausschließung der VolkssouveräniW.t und die Unzu'lässigkeit der
Teilung der Staatsgewalt, worunter man versteht, daß nicht die aus derselben hervor-
gehenden Funktionen oder Hoheitsrechte völlig oolbotändig und unabhängig voin Re·
genten ausgeübt werden können. Ins Positive gekehrt, sprach dieser Satz die Zulässig-
keit der Gewaltenteilung aus, wenn nur der Bezug auf den Herrscher gewahrt blieb.
Tatsächlich gab die konstitutionelle Staatslehre die Gewaltenteilung nur verbal
preis, bezeichnete sie als höchst verwerflich141 oder sprach von der berüchtigten Lehre
von der Teilung der .Staatsgewalt, also von der Zerreißung des Regierungsrechts, die
pralctisch ganz undurchführbar ist 142 , Faktisch anerkannte man die GewalLenteilung
jedoch sehr wohl. So forrlerte JOHANN LUDWIG KLÜBER: Der Staat werde regiert,
nicht dwrch das Volk und nicht mit ihm, aber auch, verfassungsmäßig, nicht ohne
dasselbe (1817) 143 . Als Grundsätze der neueren Repräsentativ-Systeme gab er den
ganzen Katalog der gemäßigt-liberalen Forderungen einschließlich-der bestimmten
Trennung der vollziehenden Gewalt von dor gcsotzgcbcndcn und notwendige Mitwirkung
der Volksvertreter bei der letzten 144.

sehen Prinzips (Leipzig 1906); HEINR. ÜTTO MEISNER, Die Lehre vom monarchischen
Prinzip im Zeitaliier der Restauration und des deutschen Bundes (Breslau 1913); FRIEDR.
JuLius STAHL, Das Monarchische Prinzip (Heidelberg 1845); HUBER, Verfassungsge-
schichiie, Dd. 1, Oül 11'.; Btl. 2 (Stuttgart 1960), 335 f. Huber bezeichneiie ebd., Bd. 1, 653
das monarchische Prinzip als „Gegenlehre gegen das Gewal1ien1ieilungsprinzip". Es schloß
zwar die Negiemng uei· Gtlwa.lteniieilung ein, wird aber im wesentlichen als gegen die
Volkssouveränität gerichiiet verstanden werden müssen.
137 ERICH KAUFMANN, Über den Begriff des Organismus (Heidelberg 1908), 8.

ms Vgl. LOTHAR G.ALL, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche
Vormärz (Wiesbaden 1963), 158 ff.
1 39 EDUARD .ALBRECHT, Rez. Romeo Maurenbrecher, Grundsii.tze des heutigen deutschen
Staatsrechts (1837), Göttingische Gelehriie Anzeigen 3 (1837), 1489 ff., separat Darmstadt
1962; in seiner Entgegnung „Die deutschen regierenden 1!'ürs1ien und die SuuveriiniW.t"
(Frankfurt 1839) bezeichneiie Maurenbrecher das als unsinnige staatsrechtliche Fiktion.
ao. WILDA, Art. Landstände, WEIBKE Bd. 6 (1845), 849.
141 ARETIN, Staatsrecht, Bd. 1, 107 (s. Anm. 79).

142 FRIEDRICH ScBmTTHENNER, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts


(Gießen 1845), 204.
143 KLÜ}\ER, Öffentliches Recht, § 2W, S. 363 (Note a).

144 Ebd., § 280, S. 368 (Noiie e).

947
Gewaltenteilung m. 5. Gewaltenteilung und monarchisches Prinzip

Zu einem sicheren Verständnis der Gewaltenteilung hätte die besonders von FRIED-
RICH ANCILLON und dann von KARL HEINRICH LUDWIG PöLITZ vertretene terini-
nologische Unterscheidung zwischen 'Teilung' und 'Trennung' beitragen können145 .
Sie fand jedoch kaum Nachfolger, wie es überhaupt nicht zu einer terininologischen
Übereinstimmung kam. Ancillon verstand unter 'Trennung' die völlige Unabhängig-
keit, während 'Teilung' ihm Sonderung und gleichzeitige Verbindung bedeutete.
In enger Anlehnung an Montesquieu entwickelte er das System einer dreigliedrigen
Gewaltenteilung146 • In späteren Ausführungen betonte er das monarchische Prinzip
stärker, ohne jedoch an seinem Teilungskonzept Abstriche zu machen. Nur durch
eine gut berechnete Abhängigkeit und Unabhängigkeit aller Gewalten, durch ihre Ver-
bindung mit einem Zentralpunkt, von dem alles ausgeht, läßt sich das Leben des
Staates denken 147 . KARL SALOMO ZACHARIÄ (1820/23) nannte als die beiden Grund-
sätze der konstitutionellen Monarchie, daß Einherrschaft und Volksherrschaft mit-
e·inwtider gepaart süid, wnd ziwar so, daß .... d·ie Gewalt des e·inen Besta·tidte·ils der Ver-
fassung . . . durch die des anderen gehemmt wird und daß die drei Grundgewalten
voneinander gesondert, d. h. in Händen verschiedener Behörden seien148 , wobei die
richterliche Gewalt nicht bloß gesondert, sondern selbst unabhängig sein müsse. Ihrem
innersten Wesen nach war ihm eine solche Verfassung eine Verfassung des Gleich-
gewichts149; dainit sie auf die Dauer bestehen konnte, hielt er das Vorhandensein
zweier entgegengesetzter Parteien, einer royalistischen und einer demokratischen,
für nötig. Wenn auch niemand der zeitgenössischen .i\.utoren so weit ging, so finden
sich doch gerade in den ersten Jahren nach 1815 eine Reihe von unbefangenen Dar-
legungen des Prinzips. Man meinte sogar feststellen zu können, daß der Grundsatz
von allen Staatsreclalern und Staatsmännern als richtig anerkannt sei, ohne Trennung
der Gewalten, ohne gena·ue Beze:iclinung der Gtenze ·ihres Wfrk·wiigskre·ises könne es ke·ine
vollständige Garantie für die Rechte der Staatsglieder geben (ANTON KuRz 1821) 150 •
Es wurde jedoch bald vorsichtiger formuliert, und das Mißverständnis, Montcsquicu
habe eine völlige Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten gewollt, gewann immer
mehr an Raum. ARETIN betonte, daß die Grundlage des gereinigten konstitutionellen
Staatsrechts nicht so sehr die Trennung als· vielmehr die Vereinigung und Be-

145 KARL HEINR. LUDWIG PöLITZ, Grundriß für encyklopädische Vorträge über die ge-

sammten Staatswissenschaften (Leipzig 1825).


146 JoH. PETER FRIEDR. ANCILLON, Über Souveränität und Staatsverfassungen. Ein

Versuch zur Berichtigung einiger politischer Grundbegriffe, 2. Aufl. (Berlin 1816), 38.
147 Ders., Über den Geist der Staatsverfassung und dessen Einfluß auf die Gesetzgebung

(Berlin 1825), 34; PöLITZ, Grundriß (1825), 47: Daraus folgt, daß die Vernunft im Staate
zwar eine Teilung der höchBtcn Gewalt (eine UntcrBcheidung und erfahrungsmäßige Wahr-
nehmung der in einem Ganzen aufs innigste verbundenen einzelnen Bestandteile), nie aber
e:int Trenwwng d·ieser Te·ile (d{e s·ich als Absandr;rwng 'Vune·inwnder ·und als Entgegensetz·ung
ankündigen würde) gutheißen kann.
148 KARL SALOMO ZACHARIÄ, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. 3 (1820/23; 2. Aufl. Heidel-

berg 1839), 230. 235.


149 Ebd., 238. 210; vgl. 231.
150 ANTON KURZ, Versuch einer Entwicklung der Grundsätze, nach welchen die Zweck-

mäßigkeit des Staatsorganismus in konstitutionellen Monarchien zu beurtheilen ist


(München 1821), § 39.

948
b) Komtitutiunelle Staatslehre Gewaltenteilung

schränkung der Gewalten sei. Nachdrücklich hob er hervor, daß es nur eine einheit-
liche Staatsgewalt geben könne, denn sobald es zwei oder mehrere solcher Gewalten
gäbe, so müßten dieselben entweder einander gleich, oder eine davon müßte die ·stärkere
sein 151 • Sie wäre dann bald die einzige Staatsgewalt, während sich aus dem Neben-
einander gleicher Staatsgewalten notwenqig ein staatserschütternder Kampf ent-
wickeln und so lange anhalten würde, bis eine der bestehenden Gewalten den Sieg
über die andere erhalten hätte. Es war ihm jedoch selbstverständlich, daß das Volk .
dem Monarchen keine unbeschränkte Gewalt überlassen wollte; es müsse deshalb
Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung haben. Die ausschließliche Übertragung der
Gesetzgebung an die Volksrepräsentanten sei jedoch ebenso verwerflich wie das
Prinzip. der Gewaltenteilung. Was Aretin an die Stelle der nominell verworfenen
Gewaltenteilung setzt, „ist freilich davon nicht sehr verschieden" 152 . Er fordert
Initiativ- und Zustimmungsrecht der Volksvertretung bei Gesetzgebung und Steuer-
weseu, Millii;LervernuLwurLlichkeiL, Gerneirnleverfai;sWig, Pruvinzialstände, Unab-
hängigkeit der Richter, Öffentlichkeit der Verhandlungen und Schwurgerichte und
geht damit z. T. wesentlich über das gültige Staatsrecht hinaus. Ähnlich argumen-
tierten u. a. Karl Heinrich Ludwig Pölitz und Friedrich von Raumer153• Die Be-
hauptung RoMEO MAURENBRECHERS, der neueste pi1blicistische Sprachgebrauch ver-
i;Lürnle ·unter de-r Te·ilwng de-r Holw·itsrecltte (Gewalten) eine Trennung der W.irkz.ich-
Jceitnach, so daß zwei sich gegenseitig ausschließende Souveräne in jedem Staat vor-
handen wären154, kann deshalb nur als. krasses Mißverständnis der herrschenden
Lehre bezeichnet werden.
Im Laufe der Diskussion kam die Ablösung von der Theorie der Hoheitsrechte und
die Anerkennung der einzelnen Gewalten als Funktion der Gesamtgewalt 155 stetig
voran. Endgültig baute FRIEDRICH ScHMITTHENNER die Funktionenlehre aus und
konnte damit auch der Gewaltenteilung einen sicheren Platz zuweisen. Denn eine
Teüung oder riclit-iger e·ine Untersclie·id·ung der Gewalten ün Staate ·in der Art, daß die
Staatsgewalt in verschiedenen organischen Systemen, die zusammen gewissermaßen
den Körper des Staates bilden, auseinandertritt, ist schon aus dem Grunde notwendig,
weil besondere Funktionen, d. h. Äußerungen des Lebens ... am vollkommensten durch
eigentümliche Organe vollzogen werden (1845) 156 • Diese Funktionen müssen aber
immer ihren lebendigen Mittelpunkt in der Regierungsgewalt des Fürsten behalten,
will man verhindern, daß die Staatsgewalt im Kampf untergeht. Ebenso meint
HEINRICH ZoEPFL, die Gewaltenteilung widerspreche dem Wesen der Souveränität,
die an sich mit Staatsgewalt überhaupt identisch sei; denkbar sei nur eine - der Sache
nach überall von selbst gebotene Trennung der Organe (1811)157.

161 ARETIN, Staatsrecht, Bd. 1 (1824), 107; vgl. 173.


1s2 BöCKENFÖRDE, Gesetz, 114 (s. Anm. 59).
153 PöLITZ, Grundriß (1825), 46 f.; FRIEDR. Lunw. GEORG v. RAUMER, Über die geschicht-

liche Entwicklung der Begriffe von Recht, Staat und Politik (Leipzig 1826), 87 f.: nicht
eine unbfilingte anatomische Trennung, sondern eine organische Gliederung.
154 ROMEO MAURENBRECHER, Grundsätze, 2. Aufl. (Frankfurt 1842), 53 f. (s. Anm. 139).

155 ARETIN, Staatsrecht, Bd. 1, 177.


1 5 6 ScHMITTHENNER, Grundlinien, 478 (s. Anm. 142).

157 HEINRICH ZOEPFL, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen

Staatsrechts (Heidelberg 1841), 39. 102.

949
Gewaltenteilung lll. 5. Gewaltenteilung und monarchisches Prinzip

Damit war in der staatsrechtlichen Diskussion die Auffassung der Gewaltenteilung


erreicht, die bis zum Ausgang der Monarchie bestimmend blieb; sie war von einem
grundlegenden politischen Gestaltungsprinzip auf ein naturgegebenes Gliederungs-
schema reduziert. Leitend bei der staatsrechtlichen Begriffsbestimmung war natur-
gemäß die Verfassungswirklichkeit. Daß das vor dem Positivismus keinen Verzicht
auf politische und staatstheoretische Argumente bedeuten mußte, ist besonders an
den frühen Autoren zu sehen. Nicht allein der zunehmende Positivismus begründete
jedoch die fortschreitende Entpolitisierung des Prinzips. Da der konstitutionelle
Dualismus fast allgemein akzeptiert wurde, gehörte die Gewaltenteilung in der kon-
stitutionellen Auslegung nicht zu den eigentlich umkämpften Prinzipien und verlor
deshalb an Farbe. Wenn etwa FRIEDRICH JuLIUS STAHL 1848 schrieb, in der con-
stitutionellen Monarchie teile das Volk mit dem König ... die Staatsgewalt 158 , so ent-
sprach das der Auffassung der Liberalen wie der Konservativen. Strittig waren das
Pruulem .tler Souveränität, die zwingende Kraft des monarchischen Prinzips, das
Verhältnis der Gewalten im einzelnen, die Ausgestaltung des Rechtsstaats, aber
nicht der Dualismu1::1 üuerhaupL.

c) Liberale Auffassungen. Die vom politischen Liberalismus vertrete mm AII rrll.1-lJo\ II Il-
gen des l'rinzips entsprachen zumeist den bisher dargestellten; ohnehin ist ja gerade
im Vormärz die Unterscheidung zwischen konstitutionellen SLuutiolehrern und libe-
ralen Politikern häufig etwas künstlich. Freilich führte hier bisweilen stärker poli-
tische1:1 Pathos die Feder. Nur der entschieden demokratische Liberalismus lehnte
unter Berufung auf die Volkssouveränität die Gewaltenteilung in ihrer damaligen
konkreten Ausgestaltung und Interpretation ab, während die gemäßigten Liberalen
im dualistischen Gleichgewicht g11rade einen Damm gegen mögliche Gefahren aus
dem Gedanken rl11r Volkssouveränität sahen. Auf dem Hambacher Fest rief RRüfl-
GEMA NN a.11A: Wt>f] mit den Gleichgewichtstheorien und dem ständischen Wirrwarr!
Der Bürgerwille ist Gesetz - dies wird vollstreckt in der Bürger Auftrag und Sold 159 •
Dagegen war eine funktional verstandene Gewaltenteilung hier verfassungspoliti-
scher Grundbegriff. Als Basis der Konstitution galt die Trennung der gesetzgebenden,
richterlichen und vollziehende,,,, Gewalt (1818) 160• Teilweise wurde der Begriff auch
verengt auf die Unabhängigkeit der Justiz, besonders im Kampf der rheinischen
Libera.lcn um die Institutionen. Aber was s·ind denn I nst-it·ut·iunen,. ·wird rnan /rayen.
Hierauf wollen wir denn kurz bemerken . . . Trennung der Gewalten, d. h. des V er-
waltwngsamtes vom Richteramte (A. LEMBERT 1821) 161 • Diese Nebenbedeutung
spielte nur zeitweilig eine Rolle und konnte Aich ni11 vor den eigentlichen Inhalt des
Begriffs schieben.

rns FFRIEDR. Juuus STAHL, Die Revolution und die constitutionelle Monarchie (l848),
2. Aufl. (Berlin 1849), 26.
159 Zit. Jorr. ÜlilORG AUGUST WIRTH, Das NationalfesL uer DeuLscheu zu Harnbach

(Neustadt 1832), 78.


160 Neue Speyerer Zeitung, Nr. 3 (1818), zit. FRANZ KAsTNlilR, Da0 Auftreten der Pfälzer

auf dem ersten bayrischen Landtag 1819/22 (München 1916), 47.


161 A. LEMBERT, Über die Notwendigkeit, die jetzige Civil-Procedur-Ordnung ••. fort-

bestehen zu lassen (1821), 21, zit. KARL GEORG FADER, Die ;Rheinlande zwischen Restau-
ration und Revolution (Wiesbaden 1966), 115.

950
c) Liberale Auffass~geo Gewaltenteilung

Entschiedener Gegner der Gewaltenteilung wa.r a.uch R.oBERT VON MoHL. Seine Hal-
tung ist gekennzeichnet durch eine seltsame Diskrepanz zwischen Verhaftetsein an
die konstitutionelle Dogmatik einerseits, entschieden liberalen Forderungen anderer-
seits. Zwar anerkannte er den moralischen Wert von Montesquieus Theorie als
nicht hoch genug zu veranschlagen, weil damit dem konstitutionellen St!J,atsrecht
die Bahn gebrochen worden sei, die Idee selbst blieb ihm jedoch im Fundament schief
und muß ganz verworfen werden (1859) 162 • Der langanhaltende Beifall, den sie ge-
funden habe, sei schwer zu begreifen, da sie sowohl den Grundsätzen der Logik und
der Staatsklugheit widerspreche wie den zu ihrer Stützung angeführten Tatsachen
(wobei er vor allem auf die englische Verfassung hinweist). Er hielt beharrlich an
der Ansicht fest, daß das Prinzip zu der einzig richtigen Auffassung von der aus-
schließenden und unteilbaren Staatsgewalt im entschiedenen Widerspruch 163 stehe.
Die Zersplitterung der Staatsgewalt in drei voneinander getrennte und unabhängige
Gewalten lüMt den Oryun·iMr1vuM deM StuuteM, d·ie E•inlwit •in der V•iellwü, wu/ •und /ültrt
praktisch zu Anarchie und Zerrüttung (1855) 164 . Blieb das im R.ahmen der zeitgenös-
sischen Montesquieu-Fehlinterpretation, so lehnte Mohl auch den unglücklichen
Dualismus zwischen Regierung und Volk im deutschen Repräsentativsystem ab 16 5
und forderte das parlamentarische System nach englischem Vorbild 166 . Herrschende
Arnüeht war das keine8wegs. Die llleisten Liberalen folgten, mit lllaneherlei N uaneie-
rungen, Meinungen, wie sie R.otteck, Welcker oder Dahlmann vertraten.
Zum entschiedenen Vorkämpfer der Gewaltenteilung machte sich vornehmlich
ÜARL VON ROTTECK, wenngleich er anfänglich vor dem Problem der einheitlichen
Staatsgewalt stockte und vor der Volkssouveränität zögerte. Wenn an der Ausübung
einer der Staatsgewalten oder der Staatsgewalt überhaupt ... mehrere Personen ... jede
allernächst einen gesonderten Rechts- oder Tätigkeitskreis erfüllend ... partizipieren,
so ist die Herrschaft geteilt. Diese Teilung macht das Wesen aller gemischten Ver-
fassungen aus. Nur dort besteh[; e·ine wahre GaranlÜ3 f'wr Recht wnd Fre·ihe·it, wo das
Volk selbst einen Teil der Staatsgewalt sich vorbehält, nur damit ist der Rechts-
forderung wie jener der Klugheit entsprochen. Es ist am besten, wenn das Volk sich
von jeder der beiden Gewalten (Urteilen ist bloß eine logische Funktion, durchaus kein
Akt der Gewalt, die richterliche Gewalt mithin ein Unding) einen Teil selbst vorbehält
und den anderen überträgt: Teilung durch Übertragung und Vorbehalt. Die klar ge-
regelte Wechselwirkung der übertragenen Gewalt - R.egierung - und der vorbehal-
tenen - R.epräsentation - verbürgt Freiheit und R.echt; beide Gewalten vereinigen
sich zur obersten Staatsgewalt. In der Regel ist bei der Gesetzgebung die vorherr-
schende R.ollc den Ständen zuzuweisen, bei der Administration der R.egierung, doch

162 ROBERT v. Mom., Encyklopädie der Staatswissenschaften (1859), 2. Aufl. (Tübingen

1872), 22.
163 Ebd., 121.

lH Ders., Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1 (Erlangen 1855), 274.
165 Dcrs., Über die verschiedene Auffassung des repräsentativen Systems in England,

Frankreich und Deutschland, Zs. f. d. gesammte Staatswiss. 3 (1846), 465.


168 Ebd., 478 ff. sowie den gegen ST.AHL, Revolution und constitutionelle Monarchie

(s. Anm. 158) gerichteten Aufsatz: Das Repräsentativ-System, seine Mängel und die
Heilmittel, Dt. Vjschr., H. 4 (1852), 145 ff. Zum Bild der englischen Verfassung THEODOR
WILHELM, Die englische Verfassung und der vormärzliohe deutsche Liberalismus (Tübin-
gen 1928).

9öl
Gewaltenteilung m. 6. Technisierung des Begrift'11
niemals ausschließlich167 . ÜARL THEODOR WELCKER pries die gleichgewichtige organi-
sche Verbindung und ihre Wirkungen auf die bürgerliche Freiheit und Ehre mit be-
redten Worten169, ohne sich jedoch konkret zum Thema zu äußern. Mit Kant, Montes-
quieu und Burke sah er in der Gewaltenteilung ein System gegenseitiger Mäßigung,
des Vertrauens und der Vereinigung. Viel undogmatischcr als Rotteck orientierte er
sich in den Einzelheiten seiner Verfassungsvorstellungen stark an England. FRIED-
RICH CHRISTOPH DAHLMANN sprach von so geteilter Staatsgewalt, denn es ist nichts
anders, wie sehr man auch an dem Verhältnisse künstle. Wie Rotteck kannte er nur
zwei Gewalten, denen sich die richterliche nicht als dritte gleichstellen dürfe, da sie
als Anwenderin bereits vorhandener Gesetze bloß über deren konkreten Inhalt ent-
scheidend, den anderen beiden untergeordnet ist. Die Regierung kann nicht anders
gedacht werden als im unmittelbaren und ungeteilten Besitz der ausübenden oder
Tatgewalt, denn jede andere Staatsgewalt wäre sonst neben ihr eine auch-regierende.
Sie muß weuigi>Lern; wuvh lnlmber:'in de'r yeJJetzgebenden Gewalt insofern .~dn, daß s1:e
ihren Willen zu allen Gesetzen gibt; die Untertanen sind nur Mitinhaber der gesetz-
gebenden GewalL169 • Wuhl ergiliL :>ich eine Ablehnung des monarchischen Prinzips
(§ 93)-dieRegierung sei die höchste, aber keineswegs die gesamte Staatsgewalt-,
faktisch ordnete Dahlmann im "Ref.ltreben, auf clom Gow11nlwo11cn aufzubauen, sein
System einer „guten Ve1fassung" dern Prinzip aber ein.
Die von Dahlmann stark beeinflußte Paulslrirchen-Verfassung wies im Si 11 ne de11
konstitutionellen Gleichgewichts- und Gewaltenteilungsdenkens die gesetzgebende
Gewalt dem Kaiser in Gemeinschaft mit dem Reichstage unter den verfassungsmäßigen
Beschränkungen 170 zu. Vor allem der (auf einen Vorentwurf Dahlmanns und Albrechts
zurückgehende) Siebzehnerentwurf versuchte, einen Parlamentsabsolutismus zu
verhindern, und gab dem Kaiser deshalb mit absoluLern VeLo und Auflösungsrecht
eine sehr starke Stellung, während die parlamentarische Verantwortlichkeit der
Minister, da ein MißLrauem;voLurn nicht vorgesehen war, nicht konsequent ausge-
staltet wurde. Die Aufgabe des absoluten Vetos zugunsten eines suspensiven (um
eine Verständigung in der Kaiserfrage herbeizuführen) verschob die Gewichte nur
geringfügig zum Parlament, da das Verfahren zur Überwindung des kaiserlichen
Widerspruchs sehr langwierig war und dem Kaiser das Auflösungsrecht blieb.

6. Technisierung des BegriJfs bis zum Ende der Monarchie

Die Überzeugung blieb ungeschwächt, der Staat fordere wohl die Sonderung, aber
erträgt nicht die Trennung der Gewalten (JOHANN ÜASPAR IlLUNTSCHLI 1852) 171 ; es

187 C.ARL v. RoTTEOK, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften,

2. Aufl., Bd. 2 (1830; Ndr. Aalen l\J64), l!J5. 206. 214 f. 221. 229.
168 CARL THEODOR WELOKER, Art. Gleichgewicht dcr Gcw11ltcn; RoTTEOK/WELOKER Bd. 7

(1839), 66.
169 FRIEDR. CHRISTOPH DAELMANN, Politik,§§ 98. 95 f., 2. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1847), 83.

8~ f.; vgl.§ 93.


170 Reichsverfassung v. 1849, §' 80, RGBI. 1849, 101, abgedr. in: ERNST RUDOLF HUBER,

Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (Stuttgart 1961), 311.


171 JoH. CASPAR BLUNTSOHLI, Allgemeines St1111tsrccht, geschichtlich begründet (München

1852), 260.

952
m. 7. Red11lob, W elmarer Verfai:u:iung Gewaltenteilung

wurde als selbstverntiindlioh 11nork11nnt, daß für voroohiodonc Funktionen verschie-


dene Organe sachlich notwendig seien, daß sie aber mit dem ganzen Körper und
untereinander verbunden sein müßten, weil der Staat ein einheitlicher Organismus
sei 172 • Wesentlich neue Gesichtspunkte wurden in die Diskussion nicht, eingeführt.
Mit dem weiteren Rückzug theoretischer Argumente aus der Staatslehre verlor das
Prinzip überhaupt an Interesse, so daß schließlich sogar konstatiert werden konnte,
die Gewaltenteilung sei für das deutsche Staatsrecht nur theoretisch interessant
(Lunwm VON RöNNE) 173 • Immer noch fand sich die Feststellung, die Gewalten-
teilung vernichte die Einheit des Staates174, möglich sei daher nur die Verteilung
von Zuständigkeiten, nicht Teilung der Gewalt 175 • Eine Bemerkung wie die bei
CoNRAD BoRNHAK (1896), in der Theorie spreche sich der Dualismus von Obrigkeit
und Vollcsfreiheit aus, die Einheit der Gewalt bleibe durch den Grundsatz der Volks-
souveränität gewahrt 176, stand vereinzelt. Unbestritten war, daß ... die Tätigkeit
der einheitlichen Btaat.~per.~önlir:'h,11.e# nacn. formellen oder materiellen Merkmalen ZU
sondern sei. Nicht verschiedene Gewalten liegen vor ... wohl aber einzelne, rechtlich zu
sondernde Funktionen 177 • Auch wurde zunehmend anerkannt, daß sich die Sonde-
rung nicht reinlich nach abstrakten Ausscheidungskriterien vornehmen lasse; das
Prinzip :sei vielmehr so zu verwirklid1en, daß ,[,,,.,. n,,,Ti,;;.,.,z,,,nwpvwruJ., tlt!.r für tlü~ e•irw
Funktio'YI, bestellt ist, nicht gleichzeitig der Hauptträger der anderen sein darf, daß also
eine bestimmte Tätigkeit fnr jP.dA Gewalt eigentUc/z.es Lebenselement sei (FRITZ
FLEINER 1911)178 •

7. Redslobs Gleichgewichtsgedanke und die Weimarer Verfassung

Die überwiegend konsArva.tive Erörterung des Gegenstandes führte dazu, daß man
l!H8 dem Problem unsicher gegenüberstand, wie eine republikanisch-demokratische
Verfassung zu schaffen sei. Die in der deutschen Staatslehre fast zum Dogma ge-
wordene Eigenständigkeit der Exekutive wirkte über den Zusammenbruch hinaus
fort. Es bestand kaum Bereitschaft, den Schritt zum echten Parlamentarismus zu
tun. Gegen den befürchteten Parlamentsabsolutismus stellte man auch jetzt noch
das traditionelle Gleichgewichtskonzept des deutschen Konstitutionalismus.
Den entscheidenden Anteil daran hatte ROBERT REDSLOBS Theorie des parlamenta-
rischen Regierungssystems, die sich zwar auf die englische Verfassung berief, aber

172 Ders., Art. Staatsgewalten, BLUNTSCHLt/BRATER Bd. 9 (1865), 279; sehr viel konkreter

ist der Artikel „Gleichgewicht der sogenannten l::ltaatsgewalten" von K. H. l::lCHEIDLER,


der für das Gleichgewicht Teilung der gesetzgebenden Gewalt zwischen Fürst und Volk,
Unabhängigkeit des Richteramts und Geschworenengerichte empfiehlt, ERSCH/GRUBER
1. Sect., Bd. 69 (1859), 335 ff.
113 LUDWIG v. RÖNNE, Staatsrecht der preußischen Monarchie, 4. Aufl., Bd. 1 (Leipzig

1881), 345 f., Anm.


174 GEORG MEYER, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (1878), 6. Aufl. (Leipzig 1905), 28.
175 GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre (1900), 4. Aufl. (Berlin 1922), 501; vgl. 496.

176 CoNRAD BoRNilAK, Allgemeine Staatslehre (1896), 2. Aufl. (Berlin 1909), 58. 62.
177 Ebd., 151.
178 FRrrz FLEINER, Institutionen des deutschen Verwalt.ungsrechts (Tübingen 1911),

12 f.; ähnlich PAUL LABAND, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, 4. Auil., Bd. 2
(Tübingen, Leipzig 1901), 163.

953
Gewaltenteilung m. 7. Redsloh, Weimarer Verfassung
sie gründlich mißverstand179 • Redslob hielt ein echtes parlamentarisches System nur
dann für gegeben, wenn ein durchgehendes System des Gleichgewichts zwischen der
exekutiven und legislativen Gewalt bestand. Unabdingbare Voraussetzung dafür war,
daß beide Gewalten eigenen Ursprungs waren. Das Staatsoberhaupt mußte sich ent-
weder auf die monarchische Legitimität oder auf Volkswahl stützen. Da es die Re-
gierung einzusetzen hatte, war es die schöpferische Kraft des Mechanismus der
Gewaltenbalance. Das Parlament sollte der Regierung nicht seinen Willen auf-
zwingen, andererseits die Regierung nicht gegen den Willen des Parlaments handeln
können. Nur ein solches System der Dualität erlaubte es, das Volk mit der Souveränität
zu begaben. Denn es erhebt das Volk zum Schiedsrichter unter Gewalten gleicher Kraft,
die sich im Falle des Zwiespaltes neutralisieren, und gibt ihm Gelegenheit, diejenige zu
unterstützen, die seinen wahren Willen repräsent,iert 180• Von Redslobs kurz vor der Re-
volution veröffentlichten Theorien wurde HuGo PREUSS wesentlich angeregt. Der echte
l'arlamentarismus setzt ... zwei einander wesentlich ebenbürtige höchste Staatsorgane vor-
aus, unterscheidet sich jedoch vom Dualismus dadurch, daß sie nicht in unverbundener
Gegensätzlichkeit nebeneinander stehen, sondern daß die parlamentarische Regierung
das bewegliche Bindeglied zwischen ihnen bildet181 • Entsprechend führte Preuß in der
Nationalversammlung aus: Ich glaube auch, daß das parlamentarische System ...
ein solches Gleichgewicht der Gewalten verlangt und voraussetzt 182 • Seine Thesen fänden
im Verfassungsausschuß unu Plenµm Zustimmung, man sah darin das geeignete
Mittel, die Allmacht des Parlaments zu verhindern und es einer GP1Jenkontrolle 7.11
unterwerfen183 .- RICHARD THOMA bezeichnete später (1930) das so geschaffene
System als einen gewaltenhemmenden Dualismus 184 • JuLIUS HATSCHEK wollte in
der Weimarer Verfassung sogar einen gänzlich neuen Verfassungstyp sehen, die
Republik mit parlamentari.~chem, TJ1wü.~m11,.~ 18 G.
Redtiloli::i The::ien fanden zunächst erhebliche Zustimmung, wurden jedoch im Laufe
einer lange sich hinziehenden Diskussion zunehmend angezweifelt186 • Einzelne
Autoren gingen so weit, dem Reichspräsidenten nur eine inferiore Stellung zuzu-

179 W .ALTER SIMONS, Hugo Preuß (Berlin 1930), 118 warf Preuß sogar vor, er habe den

Parlamentarismus in seiner französisch-kontinentalen Form in Deutschland eingeführt.


Redsloba Auffossungon wuron beeinflußt von LEON DuGUIT, Traite de droit coruititutionnel
(Paris 1911). Den Einfluß von Redslob auf die Reichsverfassung hat zuerst JOSEF LUKAS,
Die org11nis11torisohon Grundgedanken der neuen Reichsverfassung (Tübingen 1920), 29 ff.
herausgestellt. _
lHU ROBERT REDSLOII, Die Parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer
unechten Form (Tübingen 1918), 1. 180; vgl. ebd., 4.
181 HuGo PREuss, Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung,

Reichsanzeiger v. 20. 1. 1919; ders„ Staat, Recht und Freiheit (Tiihing1m l!l26), :187.
182 Ders., Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung,

ßd. 326 (Derlin 1920), 291.


1 8 3 Ebd., Bd. 327 (Berlin 1920), 1509 (Abgeordneter ABLASS).
184 RICHARD THOMA, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1 (Tübingen 1930), 505.

lAS Juuus IIATSCHEK, Deutsches und preußii;che!! SLaalA!reuht, Bd. 1 (Berlin 1922), 45.
186 ULRICH ScHEUNER, Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen

Regierungssystems. Zugleich eine Kritik der Lehre vom echten Parlamentarismus, Arch.
f. öffentliches Reuht, NF 13 (1927), 209 ff. 337 ff.; ebd., 345 ein Überblick über die Stellung-
nahmen zu Redslobs Theorie. ·

954
m. 7. Redslob, Weimarer Verfassung Gewaltenteilung

weisen und entschieden zu bestreiten, daß er die Funktion eines Gegengewichts


habe 187 • Am nachhaltigsten vertrat in den späteren Jahren der Weimarer Republik
ÜARL SCHMITT den Gedanken des innenpolitischen Gleichgewichts. Wie Redslob be-
zeichnete auch er den echten Parlamentarismus als eine Konstruktion des Gleich-
gewichts zwischen Regierung und Parlament. Im modernen Rechtsstaate handle es
sich darum, das Übergewicht der Legislative auszugleichen, da\! infolge der Ab-
hängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments und wegen seiner haus-
haltsrechtlichen Befugnisse .leicht zu einem hemmungslosen und unkontrollierten
Absolutismus werden kann. Diese Aufgabe versuche die Organisation der Exekutive
in der Weimarer Reichsverfassung zu lösen. Das Volk erscheine dabei als höherer
Dritter, als Träger der Balance188 • Für Schmitt war überhaupt die Verhinderung
jeder Form von Abso-lutismus durch Mischung und Balancierung die typische Sinn-
gebung des Rechtsstaates; für symptomatisch hielt er es dabei, daß es sich um ein
ständig lab1:le.~ Gkic1i{Jewic1i,t handle189.
Neben dieser betont politischen Auffassung der Gewaltenteilung blieb das technische
Verständnis des Begriffs als theoretische und organisatorische Sonderung der Ge-
walten unverändert. Zu überwinden versuchte diese Positionen die Integrationslehre
RUDOLF S1'4ENDS, die die Gewaltenteilung als po.~1:ti11rr,r,htl1:che Norm1:er11.ru.11for Tnte-
grationsgesetzlichkeit des politischen Geistes definierte. An die Stelle der einfachen
Gewaltenteilung iler Verfafoli'1t1ngf-ltexte (wie er, kaum in Übereinklang mit diesen
Texten, formulierte) setzte er drei Funktionensysteme: das politische Zusammenspiel
1ion Legislative und Exekutive ... als unmittelbar politische, integrierende Funktionen,
sodann Gesetzgebung und Rechtspßege als Träger des Rechtslebens; endlich die Verwal-
tung als die technische Wohlfahrtsförderung durch den Staat im einzelnen, wobei aber
1l?:e M ehrwhl der .~taatliclien Akte nicht aitsschließlicli im D,ienste des W e'rtgeb-ietes ge-
sehen wurde, dem sie in erster Linie gewidmet war. Aber kein staatlicher Akt, keine
staatliche 1nstitution darf über gewisse Grenzen hinaus zu ihrer Bestimmung fremden
Zwecken verwendet werden 190• An die Stelle der herkömmlichen, mehr statischen Auf-
fassung trat in dieser Sicht ein fortdauernder Prozeß. Mit den Gegebenheiten des
parlamentarischen Regierungssystems stand Smends Interpretation besser in
Überein.klang als die aus dem Konstitutionalismus herkommende dualistische Kon-
zeption oder die abstrakte Stufeillehre der Wiener Schule 191 , die Smend als Gegen-
beispiel seiner Theorie der staatlichen Funktionen charakterisierte und der er die
radikale Denaturierung des Staats von aller Eigennatur, allem politischen Charakter
vorwarf192 • Eine fruchtbare Aufnahme dieser Gedanken war erst nach 1945 möglich.

187 E. H. HOFMANN, Die Stellung des Staatsoberhaupts zur Legislative, Aroh. f. öffontliohos

Recht, NF 7 (1924), 257 ff.


1 88 CARL SCHMITT, Verfassungslehre, 2. Aufl. (Berlin 1954), 196 f. 305.
180 Ebd., 305.
190 RUDOLF SMEND, Verfassung und Verfassiingsrecht (1928), jetzt in: Staatsrechtliche

Abhandlungen und andere Aufsätze (Berlin 1955), 207. 213; vgl. 119 ff.
io1 Vgl. KAEm, Gewaltenteilungsprinzip, 164 ff.
102 SMEND, Verfassung, 215.

955
Gewaltenteilung IV. Ausblick

8. Zum Gewaltenmonismus des Dritten Reiches

Mit den politischen Auffassungen des Dritten Reiches war eine Gewaltenteilung,
wie man sie auch verstehen mochte, unvereinbar. Die Gewaltenteilung als politische
Forderung im Sinne des liberal-bürgerlichen Rechtsstaats wurde vom politischen und
verfassungsrechtlichen Grundsatz der Vereinheitlichung der Staatsgewalt abgelöst 193 ;
der Führer vereinigt potentiell alle Staatsgewalten in sich194 ; jede Trennung und
Aufteilung der staatlichen Gewalt ist mit dem nationalsozialistischen Staatsgedanken
unvereinbar 195 • Dabei konzedierte man, daß natürlich ... auch das vöikische Reich
eine Gliederung der politischen Gewalt nach Funktionen und Zuständigkeitsbereichen
brauche. Aber alle Einzelfunktionen und Einzelkompetenzen stehen sich ni~ht selbst-
herrlich gegenüber, sondern leiten sich aus der Gesamtgewalt des Führers ab 196 • Läßt
sich diese völlige Abkehr von den alten Kategorien immerhin noch als Ausfluß des
staat.srechtlic.hen Positivismus verstehen, der nur die Konsequenz aus den einzelnen
gesetzgebenden Maßnahmen zog, die seit dem Ermächtigungsgesetz den Weg zur
All11in h11rrRr.haft Hitl11rR hm1chrieben, so wird man die Aufgabe des Begriffs der
Staatsgewalt ein Ausbrechen aus der Tradition überhaupt nennen müssen, einen
Rückgriff auf die völlige Personalisierung de11 8taatlich11n. Nicht tion 'Staatsgewalt',
.~nndp,rn von '"fi'ührergewalt' miissen wir sprechen, wenn wir die politische Gewalt im
v/Jlkischen Reich richtig bezeichnen wollen 197 • Der altgermanische Gedanke dCf1 Fiih ror-
tums sollte neues Leben gewinnen; er wurde auch dazu herangezogen, die richter-
liche Gewalt des Führers zu begründen198 ; aus dem Führertum floß auch das .H.ich-
tertum199. Es war deshalb nur konsequent, daß der Richter schließlich nicht nur
auf das Gesetz, sondern auch auf die einheitliche geschlossene Weltanschauung des
Führers verpflichtet werden sollte. Unabhängighit könne niema.ls bedei1ten Freiheit
von weltanschaulicher Bindung. Das würde Befreiung von der Bindung an das Recht
• 200 •
l!ll1/YI,

IV. Ausblick
In den beiden letzten Jahrzehnten fand die Gewaltenteilung unter dem Eindruck
der Jahre 1933 bis 1945 stärkste Beachtung. Dabei ist es allgemeine Ansicht, daß
es mehr auf Absicht und Wirkung des Pri11zips a.ulwlllllle als auf uie strikt durch-

193 ÜTTO KOELLREUTTER, Grundriß der allgemeinen Staatslehre (Tübingen 1933), 87.
194 CARL SCHMITT, Der }j'ührer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom
13. Juli 1934, Dt. Juristenzeitung 39 (1934), 945.
19 5 ERNST RUDOLF HUBER, Die Einheit von Staatsgewalt, Dt. Juristenzeitung 39

(1934), 950.
196 Ders., Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. (Hamburg 1939), 231.
197 Flhfl., 2:10.
108 TH.t.JU.LIU!t KuH!t, Die Trennung der Gewalten und das germanische Recht (Mannheim,
Berlin, Leipzig 1934).
199 SCHMITT, Führer, 945 (s. Anm. 194).

°
20 CuRT ROTHENBERGER (Präsident des Oberlandesgerichts Hamburg), Die Stellung des

Richters im FiihrerRta.a.t„ in: Tag des deutschen Rechts, hg. v. NS-Rechtswahrerbund


(Berlin 1939), 431, zit. WERNER JoHE, Die gleichge!!chaltete Justiz (Frankfurt 1967), 241;
vgl. KA.t.Jm, Gewaltenteilungsprinzip, 139 :ff.

956
IV. Ausblick Gewaltenteilung

gefüL.rLe Furm. Di!!- wußere Gewaltenm..eclianik interessiert neben dem dm·ch den
kontrastschaffenden Gewaltenpluralismus gebildeten Damm gegen die ungeformte und
verschlingende Gewalt erst in zweiter Linie (MAX IMBODEN 1959) 201 . Man sieht die
Gewaltenteilung als die institiitionelle Sicherung rechtsstaatlicher VerlYindlichkeit der
Normen (primär: die Garantie unveräußerlicher Grundrechte) vermittels macht-
beschränkender Aufgliederung und wechselseitiger Kontrollen wesentlicher Letzt-
instanzen und löst sie aus dem Fachbereich der öffentlich-rechtlichen Diskussion,
in der sie fast ein Jahrhundert beheimatet war. Sehr viel stärker als zuvor wird sie
jetzt wieder als Grundprinzip politischer Herrschaftsgestaltung {WINFRIED STEF-
FANI 1962) 202 dargestellt. Häufig wird sie ganz bewußt in die engste Verbindung zur
Freiheit gebracht: sie soll einen druckleeren Raum schaffen, in dem die Freiheit des
Bürgers gesichert ist203 ; es soll ein bis zum Machtkampf gesteigertes Spannungs-
verhältnis der obersten Staatsorgane herbeigeführt werden ... , in dessen totem Winkel
die Freiheit der Bürger aufs denkbar beste geschützt ist im.d wo der Mensch frei von
Furcht leben kann (HANS PETERS 1954) 204 ; sie läßt den freien Raum entstehen, der
der gemeinschaftsbezogenen Person das Atmen ermöglicht {PETER SCHNEIDER
1957) 205 . Selbstverständlich ist, daß sie kp,in ab.~ofotp,.~ 11,nd .~tarr durchzuführende.~
Prinzip darstellt; ihr Sinn sei wenige't die begrifflich sauberre Abgreruvung der e'inzelnen
Staatsfunktionen als die Verhinderung der totalen Machtzusammenballung im Staate
(ADOLF SüsTERHENN 1957) 206. Ähnlich meint GERHARD LEIBHOLZ: der Sinn der
Gewaltfmteihmg, d. h. jen,es Systems, durch das eine Fülle von wechselseitig sich
kontrollierenden Verfassungsorganen in den staatlichen. Apparat eingebaut werden,
ist kp,1:n anderer wie der, 11om Organisatorischen her nach Möglichkeit Mißbräuche der
staatlichen Obrigkeit gegenüber dem Individuum von vornherein zu verhindern 207 •
in den Zusammenhang dieRel' N11ignng, naR OrganiRatoriRr.hA a.nfä hör.hRte 7.11 <liffe-
renzieren208, gehört auch die Entwicklung einer föderativen Teilungslehre.
Neben dieser Aufwertung des politischen Aspektes ist für die zeitgenössische .Ge-
waltenteilungsdiskussion die Betonung der Justiz kennzeichnend. Ihre Unabhängig-
keit, ihre hochgradige Trennung von den sogenannten 'politischen Gewalten', ist das
primäre Postulat rechtsstaatlicher Ordnung und der staatsrechtlichen Teilungs-
lehre209.
Die Hervorhebung der im ursprünglichen verfassungsstaatlichen Aufriß 11erkürzt ge-
bliebenen Gerichtsbarkeit bringt - so MAX IMBODEN - das konstitutionelle Gedanken-

201 MA.x IMBODEN, Die Staatsformen (Basel, Stuttgart 1959), 55.


202 WINFRIED STEFFANI, Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat,
Polit. Vjschr. 3 (1962), 258.
203 ERNST v. HIPPEL, Gewaltenteilung im modernen Staate (Koblenz 1949), 10.
204 H ANR PETER.'l, Die (',-ewaltentrennung in moderner Sicht (Köln, Opladen 1954), 6 f.
205 PETER SCHNEIDER, Zur Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Gegen-

wart, Arch. f. öffentliches Recht 82 (1957), 26.


206 ADOLF SüsTERRENN, Senats- oder Bundesratssystem? in: Staats- u. verwaltungs-

wissenschaftliche Beiträge, hg. v. d. Hochschule f. Verwaltungswissenschaft Speyer


(Stuttgart 1957), 90 f.
2o 7 GERHARD LEIBHOLZ, Zum Begriff und Wesen der Demokratie (1956), in: ders.,
Strukturprobleme der modernen Demokratie (Karlsruhe 1958), 151 f.
2os Vgl. SCHNEIDER, Gewaltenteilung, 2.
209 Ebd.

957
Gewaltenteilung IV. Ausblick

gut ·in eütd'l"ucks·voller We·ise ~·u 13•in~r spätl3n Navlibl'Ütea 1o. Es hat den Anschein,
als ob die Stellung der dritten Gewalt künftig der einzige unangetastete Denk-
bestand der Gewaltenteilung im herkömmlichen Sinne bleiben wird. Sonst aber ist
der Begriff angesichts der beiden letzten Jahrzehnte wenn nicht in Auflösung, so
doch erheblich ins Fließen geraten. Dafür spricht auch die Abkehr von der traditio-
nellen Terminologie, etwa indem. die Grundfunktionen der Gestaltung und Bewah-
rung unterschieden und Legislative und Exekutive als Gestaltung eng aneinander
gerückt werden 211 , oder indem man von den grundlegenden Hauptfunktionen ...
Rechtsetzung, nichtstreitigeRechtsanwendung und streitige Rechtsanwendung spricht21 2.
Tatsächlich fließen mit der starken Hervorhebung des Wohlfahrtszweckes (und dem
damit verbundenen Wandel des Gesetzes von der generellen zur speziellen Aus-
gestaltung) Legislative und Exekutive zunehmend ineinander über 213. Man kann
deshalb beide sehr wohl in engsten Zusammenhang bringen, zumal heute Legislative
und politische Spitze der Exekutive personell eng verzahnt sind. Das technische
und theoretische Verständnis der Gewaltenteilung als Sonderung von Funktionen
und Organen muß deshalb als den realen Gegebenheiten inadaequat erscheimm,
weil es den politischen Zusammenhang nicht g!='nügend berücksichtigt. Auch als
Machtverschränkung im traditionellen Sinne wird man diesen Zusammenhang .uicht
deuten können. DOLF STERNBERGER hat RO mit vollAm "R.Anht davon gesprochen,
<laß das Verhältnis von Regierung und Parlament eine .H.eihe von Aspekten zeige,
die der klassischen TJntersch.fl1:d~tng beider stracks zuwiderlaufen, und daß die Lehre
von der Gewaltenteilung uns heute gewissermaßen blaß und ruinös erscheinen müsse.
Er meint jedoch, daß Rie ein F1tndament des politischen Denkens bleibe, bis eine neue
Theorie aufgebaut sei, die den heutigen Verhältnissen besser gerecht wird, die aber den
oher.~ten MaßRta.b Monfe.sqm'.eus ... niemals aitfgeben darf: die Fr~iheit . .l!:inen Ansatz
dazu glaubt er in der lebensvollen Sonderart von „Gewaltenteilung" sehen zu können,
die in der wesenhaften Trennung der Gewalten im Verhältnis von Regierung und
Opposition im Zweiparteiensystem gegeben sei 214. Diese Auffassung knüpft immer-
hin noch, wenn auch mit charakteristischer Verschiebung, an das anfängliche
dualistische Konzept an und steht dem traditionellen Begriffsinhalt damit näher
als andere Ansätze einer dezisiven Teilungslehre215 . Es erscheint jedoch nicht als
sicher, ob diese „Sonderart" das künftige Begriffsverständnis maßgeblich beein-
flussen wird.
HANSFENSKE

210 MAX IMBODEN, Die politischen Systeme (Basel, Stuttgart 1962), 80.
2 11SCHNEIDER, Gt1walt.imt.eilmi.g, 12 ff.
212 STEFFANI, Gewaltenteilung, 267.
213 Vgl. W.1.at.NER WEBER, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: .!!'sehr.

Carl Schmitt, hg. v. HANS BARION (Rt1rlin 1959), 260 f.


214 DoLF STERNBERGER, Gewaltenteilung und parlamentarische Regierung, Polit. Vjschr. 3

(1963), 23 r. 31. 37. ·


215 STEFFANI, Gewaltenteilung, 276 ff. bezeichnet die dezisive Teilungslehre als Herzstück

der politologischen Gewaltenteilungslehre, da sie den politischen Willensbildungsprozeß


verfolge. Es fragt sich jedoch, ob man den Begriff so weit aufgeben darf, ohne ihn aufzu-
heben.

958
Gleichgewicht, Balance

I. Einleitung. II. 1. Wortgeschichte. 2. Entwicklung des Begriffs in Westeuropa. a) Italien.


b) Frankreich. c) England. III. 1. Balance und Libertät in Deutschland bis zum Ende des
17. Jahrhunderts. a) Zur Frage der Parität. b) Diplomatische Belege bis 1648. c) Durch-
setzung des Sprachgebrauchs nach 1648. d) Publizistik. e) Begriffsverständnis am Ausgang
des 17. Jahrhunderts. 2. 'Gleichgewicht' als Leitbegriff des 18. Jahrhunderts. a) Ver-
bindliche Festlegung in den Friedensschlüssen von Utrecht. b) Auffassung in der völker-
rechtlichen Literatur. c) Deutsches Gleichgewicht. 3. Handelsbilanz und Gleichgewicht der
Handlung. 4. Verständnis des Begriffs im späteren 18. Jahrhundert. a) Ungebrochene
Tradition in Publizistik und diplomatischer Benutzung. b) Erste ausführliche Kritik vom
Standpunkt des Rechts und der Staatsklugheit. c) Gleichzeitige geschichtsphilosophische
Vertiefung. 5. Wendung des Prinzips gegen die Revolution. a) Diplomatische Belege.
b) Gleichgewicht und Prinzip des Beharrens. c) Wiener Kongreß. d) Romantfsch-
universalistische Ablehnung. 6. Rückwendung zu einem allgemeinen politischen Ver-
ständnis. 7, Gleichgewicht und wachsendes nationales Selbstbewußtsein. IV. Ausblick.

I. Einleitung
Die Vorstellung von einem Gleichgewicht vcrsohicdc.ncr Kräfte hnt in dor Nmrnoit
eine außerordentliche Wirkung gehabt. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert ist
das Bild der Waage, das schon im Altertum uls Symbol der Gerechtigkeit gedient
hatte, auf die politischen Verhältnisse übertragen und in breiter Fächerung ent-
wickelt worden, Orientierung am physikalischen Denken hat dabei allenfalls an-
regend gewirkt, aber kaum einen großen Einfluß gehabt. Von den vielerlei Aus-
prägungen, afa Harnleli;Lila11z, als _puliLisches Gleichgewicht oder als Gleichgewicht
der inneren Machtverhältnisse, hat die Vorstellung eines Gleichgewichts der Staaten
die weitreichendste Bedeutung erlangt. Es galt dem 17„ vornehmlich aber dem 18.
und frühen 19. Jahrhundert als wichtiger, wenn nicht zentraler Leitbegriff außen-
politischen Handelns, vielen Autoren sogar als fester Bestandteil des Völkerrechts.
Wesentlichste Voraussetzung für die Entstehung dieser Vorstellung war die end-
gültige Ausprägung des neuzeitlichen Staates. Die Staaten mußten zu in sich ge-
festigten Flächem1t:i.11.tlm h1m1.ne11w11.chRAn 1mo alR Tnoivionalitäten begriffen worden
sein. Zwischen ihnen mußten regelmäßige politische und wirtschaftliche Beziehun-
gen bestehen, die überall das Interesse am Geschehen anderwärts nötig machten und
zugleich, nachdem die mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen verblaßt waren,
nach neuer begrifflicher Ordnung des Zusammenlebens verlangten1 . Ohne vorher-
gehendes Souveränitäts- und Machtdenken ist die Idee des politischen Gleich-
gewichts nicht vorstellbar. Eine ausführliche Geschichte des Begriffs müßte deshalb
darauf zurückgreifen und zugleich den ständigen Zusammenhang mit der Staats-
raison2 und mit einer Vielzahl von Begriffen aus dem Zusammenleben der Staaten
und dem werdenden Völkerrecht beobachten.

1 Zum Fehlen jeden GleichgewichtsdeiJ.kens. im Mittelalter WALTER K:rENAST, Die Anfänge


des europäischen Staatensystems im späten Mittelalter, Rist. Zs. 153 (1936), 271; zu den
Voraussetztmgen des Gleichgewichts vgl. CART, SoHMITT, Der Nomos der Erde (Köln 1950),
137 f. 160 IT.
2 FRIEDRICH MEINECKE, Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte, 2. Aull.

959
Gleichgewicht n. 1. wortgeschichte
II.

1. Wortgeschichte

Das ursprünglich hauptsächlich verwendete Wort 'balance' hat sich im 4. Jahr-


hundert durch die Verbindung mit 'ballare' „tanzen" aus dem vulgärlat. 'bilanx'
„zwei Schalen habend" entwickelt. Die Bedeutung „Waage" ist allmählich über
die Verwendung für die Gewichte, die man auf der einen oder anderen Seite hinzu-
fügen muß, um den ausgeglichenen Stand der Schalen wiederherzustellen, zu der
abstrakten Vorstellung von einem rechten Verhältnis von Kräften erweitert wordena.
Mit diesem Inhalt fand das Wort im 15. Jahrhundert über Frankreich Eingang in
Deutschland. Gleichzeitig kam aus Italien die Form 'bilancia', die sich dort durch-
gehend behauptet hatte. Eine ähnliche Bedeutungserweiterung erfuhr das deutsche
Wort 'Waage'. Neben 'balance' und 'bilancia' wurde im Deutschen seit dem 16. Jahr-
hundert auch das Wort 'Gleichgewicht' verwendet, gebildet zur Übersetzung von
aequilibritas, aequipondium und aequilibrium, zunächst also eher in der Bedeutung
„Gleichheit des Gewichts'', bald aber auch für den Gleichstand der Waagschalen.
Diese Lehnsübersetzung begegnete allerding11 hi11 ?.1m1 F.111111 r1AR 17. J ahrhundertl!
nur sehr selten 4 • Erst als man mit dem Ausdruck hauptsächlich die übertrageri.e Be-
deutung meinte und vom Wiegcvorgnng _a.bsah, verdrängte es rlim li.lteren Ausdruuk
'Balance'. Das war endgültig gegen Mitte des 18. Jahrhunderts der Fall. Jetzt trat
'Gleichgewicht' auch als politisches Schlagwort an die Stelle von '.Balance'. 17 41 er-
schien die „Historie der Balance von Europa" des Göttinger Staatsrechtlers JOHANN
JAOOB ScHMAUSS. Im Text sind noch durchgehend 'Balance' oder 'aequilibrium' be-
nutzt, dagegen iAt in der Widmung von cfar jetzigen Crisi des sinkenden Gleich-
gewichts der europäischen Machten die Rede 5• 1742 Achreiht ,JoHANN MICHAEL VON
T.olilN, die These vom europäischen Gleichgewicht sei ein seltsamer mathematischer
Einfall. Das europäische Gleichgewicht will . . . nicht mehr sagen als das brabandische
Ellenmaß 6 • Weitere Belege aus diesen Jahren sind mit Leichtigkeit beizubringen 7 •
Frühere Verwendungen von 'Gleichgewicht' sind dagegen Ausnahmen; immerhin
begegnet das Wort schon 1673und167 4 in zwei Pamphleten8 • Auch nach der Durch-
setzung des Wortes 'Gleichgewicht' hält sich 'Balance' noch sehr lange und ver-
schwindet erst im 19. Jahrhundert aus der LiLeratur.

(München 1960), 100: die Lehre vom europäischen Gleichgewicht sei nichts anderes als ein
Ausschnitt aus der Lehre von der Staatsraison.
3 FEW Bd. 1 (1922,----28; Ndr. 1948), 363.
4 GRIMM Bd. 4/1,4 (1949), 8088 ff., bes. 8098 ff.; vgl. auch 5714 ff., s. v. Gewicht.
5 JoH. JACOB ScHMAuss, Die Historie der Balanoo von Europa (Leipzig 1741), BI. 2.
6 JoH. MICHAEL v. LoEN, Untersuchung, ob die genaue Freundschaft mit den Franzosen

dem Reich vorteilhaft sei (1742), Ges. kl. Sehr., hg. v. J. E. Schneider, 2. Aufl., Tl. 2
(Frankfurt, Leipzig 1751), 236.
7 Vgl. ERNST KAEBER, Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Li-
t.eratur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (Berlin 1907), 90.
8 Zit. PAULINA HAv.11lLAAH, Der deutsche Libertätsgedanke und die Politik Wilhelms 111.

von Oranien (Berlin, Bonn 1935), 89. 92.

960
b) .l<'rankreich Gleichgewicht

2. Entwicklung des Begriffs in Westeuropa

a) Italien. Wie die Ausdrücke 'Staat' und 'Staatsraison' hat Deutschland auch den
Gedanken des Gleichgewichts von Westeuropa empfangen. Ausdrücklich ist er erst-
mals in Florenz in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts als Ergebnis der großen
politischen Krise mit ihrem Zusammenfall von inneren Erschütterungen und Be-
drohung von außen formuliert worden. Als erster scheint BERNARDO RucELLAI ihn
entwickelt und in seinem „De bello italico Caroli VIII. commentarius" verwendet
zu haben: Ferdinand von Neapel und Lorenzo von Medici haben durch ihr Handeln
bezweckt, daß res ltaliae starent, ac (ut illorum verbis utar) examine aequo pen-
derent9. Den Epochencharakter von 1494 stellte FRANCESCO GurccrARDINI in
seiner „Storia d'ltalia" mit aller Deutlichkeit heraus und konfrontierte das Italien
der tranquillita vorher mit den unruhigen Zuständen seitdem111 • Das Gleichgewicht
der italienischen Staatenwelt im 15. Jahrhundert war das verlorene Ideal, um das
die Gedanken kreisten. Von .l!'lorenz aus fand die Formel Eingang in die politisch-
historische Sprache des 16. Jahrhunderts. Der Begriff begegnet bei Botero und Cam-
panella, bei Ammirato und Paruta, schließlich bei Boccalini und natürlich in den
venetianischen Relationen. Entwickelt angesichts der bedrohten liberta der italieni-
schen Stadtstaaten, meint er rückschauend verwendet die einstige Harmonie der
italienischen Staatenwelt; für die eigene Gegenwart, in der die wirklichen Ent-
scheidungen außerhalb der Landesgrenzen fallen, erscheint er als geeignetes Mittel,
den Rest der Freiheit durch eine kluge Politik zwischen den Großmächten zu be-
haupten. Mit der Vorstellung verbindet sich deshalb primär die Absicht einer Politik
der freien Hand und der Allianzen je nach Opportunität bei sorgfältiger Beobach-
tung der europäischen Machtverhältnisse.

b) Frankreich. Zu wirklichem politischen Leben ist der Begriff erst in Frankreich im


ersten Drittel des 17. Jahrhunderts entwickelt worden. Ausgangspunkt war das in
der Publizistik als unbestreitbar angenommene Streben Habsburgs nach der Uni-
versalmonarchie. Bei den Überlegungen, wie Frankreich sich der habsburgischen
Uri:Jklammerung entziehen könne, hat das Gleichgewichtsdenken früh eine Rolle
gespielt. 1584 empfahl der „Discours au Roy Henry III. sur les moyens de diminuer
l'Espagnol", Frankreich müsse sich bemühen, die Waage in der balance zu halten,
wie alle weisen Fürsten gegen ihre Nachbarn ein contrepoids bildeten, um in Frieden
leben zu können. Habe vordem zwischen Frankreich und Spanien ein Gleichgewicht
bestanden, so sei Habsburg nun wesentlich erstarkt, tellement que la balance est sans
doute trop chargee d'un cote11 • Frankreich müsse deshalb auf die andere Schale
drücken und eine antispanische Liga bilden. Sicher seien alle europäischen Fürsten
bereit, an seiner Seite gegen die unverhältnismäßige Größe und den zügellosen Ehr-

9 Zum italienischen Gleichgewichtsdenken RUDOLF v. ALBERTINI, Das florcntinischc Staats-

bewußtsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat (Bern 1955), 74 ff.; KAEBER,
Idee des Gleichgewichts, 5 ff.; ebd„ 12 das Zitat von Rucellai.
10 FRANOEsoo GurnoIARDINI, Storia d'Italia, c. 1 (Venedig 1565), 14.

11 Zit. KAEBER, Idee des Gleichgewichts, 23. Vgl. auch die Bemerkungen von RUDOLF v.
ALBERTINI, Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Marburg 1951 ), 141 ff.;
weiter EBERHARD v. VIETSOH, Das europäische Gleichgewicht. Politische Idee und staats-
männisches Handeln (Leipzig 1942), 47 ff.

61-90386/1 961
Gleichgewicht ll. 2 •. Entwicklung des Begriffs in Westeuropa

geiz Habsburgs zu kämpfen. Der Diseours zeigt die Grundelemente des späteren
Gleichgewichtsdenkens in größerer Klarheit als alle früheren Belege. Hier geht es
nicht mehr um eine Politik der freien Hand, sondern um die präventive Bildung
einer Koalition der europäischen Staaten gegen die drohende Übermacht des
Stärksten. Die Initiative dazu soll von der zweitstärksten Macht ausgehen.
Diese Vorstellung zeigt sich in fast allen Flugschriften des beginnenden 17. Jahr-
hunderts gegen Spanien. Eng damit verbunden wird die Idee einer Befreiung von
der Tyrannei mit Hilfe Frankreichs: Il faut . . . liberer les peuples de la tyrannie,
les remettre en leur premiere liberte, faisant demeurer cliacun dans les limites de son
devoir 12 • Von solchen Positionen ist der Weg zu einem Führungsanspruch Frank-
reichs nicht mehr weit; der Gedanke des Gleichgewichts bekommt damit taktischen
Charakter. Aber das ist nur ein Aspekt des französischen Gleichgewichtsdenkens.
Daneben steht, bei SuLLY, das völlig unhistorische System der fünfzehn annähernd
gleich großen Staaten mit ihrer me'me e.galite de pitissancern, und daneben steht eine
Vielzahl von Äußerungen, die das politische Gleichgewicht rein defensiv verstehen.
Die abschließende Formulierung hat der HERZOG VON RoHAN dieser defensiven Auf-
fassung gegeben. Von den beiden großen Mächten Frankreich und Rpanien hänge
Krieg und Frieden ab, die anderen Mänl1f.A 111iißl,e11 dei,ilutfü Llkrauf achtlm, daß keine
der beiden großen Monarchien das Obergewicht bekomme: in diesem Gleichgewicht
bestehe die Ruhe und die Ridrnrlrni1; all1.ir anderen 14 .

c) England. Auch in England taucht der Begriff des politischen Gleichgewichts


im Laufe des 16. Jahrhunderts :i.uf, ohne hier zunächst jedoch weitere Verbreitung
zu finden. Es ist eine Konstruktion des 18. Jahrhunderts, daß die Entstehung des
außenpolitischen Gleichgewichtsdenkens in England zu suchen sei. Die Heinrich
VIII. zugeschriebene Formel cui adnaerp,n prae,p,.~t begegnet erstmals vermutlich erst
1764 in der „Staatskunst" des REAL DE CunDAN15. Selbst zu Beginn des 17. Jahr-
hunderts stehen die von FRANCIS BACON angestellten Überlegungen noch vereinzelt.
Bacon hält die Erinnerung daran noch für lebendig, daß Heinrich VIII., Franz 1.
und Karl V. were in their times so provident, as scarce a palm of ground could be gotten
by either of the three, but tliat the other two would be sure to do their best to set the balance
of Europe upright again, wie es schon vor ihnen die Italiener getan hätten 16 • Erst als
in den Verfassungskämpfen der Jahrhundertmitte der Gedanke eines innenpoliti-
schen Gleichgewichts immer häufiger formuliert wird, gewinnt auch das Konzept
einer europäischen Balance schnell an Boden. Dabei wird England bald als das
Ziinglein an <'lAr Waage gesehen. EDMUND WALLER bemerkt: H eav' n That has placed

12 Zit. AL:sERTINI, Politisches Denken, 155.


13 SULLY [d. i. MAXIMILIEN DE BETHUNE], memoires des sages et royales oeconomies d'estat
de Henry le Grand ou Memoires de Sully, Collection des memoires relätifs a l'histoire de
Franco, 6d. Claude Bernard Petitot, t. 7 (Pa.ris 1821), 94.
14 HENRI DE Rmu.N, Le parfait capitaine. Augmente d'un Traicte de l'interest des Princes

(Paris 1639), 1 f., zit. ERNEST NYS, La theorie de l'equilibre europeen, Rev. de droit inter-
national et do 16gislation comparee 25 (1893), 42.
15 So GASTON ZELLER, La principe d'equilibre dans la politique internationale avant 1789,

Rev. hist. 215 (1956), 26; vgl. ALBERT FRJmRRTOK PoLLARD, Wolsey (London 1929), 3 f.
18 FRANCIS BACON, Considerations Touching a Wai· wiU1 Spain (1623), TheLetters and the

Lifo of Fmncii; Bacon, ed. James Spedding, vol. 7 (London 1861), 469 ff.

962
a) Zur Frage der Parität Gleichgewicht

tkis Island to g·i·ve law / to ballance Eu,-ope and its states to awtJ17 • Sehr viel für die Aus-
breitung des Gleichgewichtsdenkens hat JAMES HARRINGTON getan. In seiner
Utopie „ Oceana" wendet er den Gedanken auf alle staatlichen Verhältnisse an, und
es ist ihm selbstverständlich, daß Oceana, d. h. England, der leidenden Welt seine
Gesetze geben müsse 18 • Deutlich feststellbare Auswirkungen auf die Ausbildung der
Vorstellungen in Deutschland hatte das englische Gleichgewichtsdenken nicht.

III.

1. Balance und Libertät in Deutschland bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
a) Zur Frage der Parität. Die Regel, daß ein theil dem andern wegen der gemeinen
sicherheit die Wage hält (1615) 19, war auch in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert
bekannt, wurde in der öffentlichen Diskussion jedoch lange Zeit kaum benutzt,·
während sich die Diplomaten der deutschen Territorien der Gleichgewichts-Termi-
nologie seit den lö~Oer Jahren zunehmend bedienten, ohne daß man deshalb schon
von einer völligen Ein biirgerung sprechen könnte. Der Begriff des Gleichgewichts
wurd1i dureh ilill ProlJlllmB tlur lumlu1:1fU1·1:1Lliuhuu LiLurLilL lWU vur all1:11u cl1:n· ku11-
fessionellen Gleichheit überdeckt. Dabei gingen Libertät und Gleichgewicht bald
eine enge VerLimlung ein. Ob mau dagegen den Begriff 'Parität' vor 1648 als
Synonym für 'Gleichgewicht' sehen darf, erscheint fraglich. Erst seit dem Ausgang
des 17. Jahrhunderts wurden die Ausdrücke 'aequalitas', 'konfessionelle Gleichheit',
'Parität' mehr und mehr im Sinne des GleiChgewichts interpretiert, und im 18. Jahr-
hundert galt das konfessionelle Gleichgewicht als unabdingbarer Bestandteil des
inneril1mtRr.hen Gleir.hgewir.htR. Wesentlkhste Voraussetzung dafür war die recht-.
liehe Fixierung der „aequalitas exacta mutuaque" im Westfälischen Frieden20 ;
'.Parität' bedeutete „Gleichbehandlung", „Gleichberechtigung", „Gleichwertigkeit"
nicht als schematische Gleichmacherei, sondern als differenzierende. Berücksichti-
gung der wesentlich verschiedenen Belange beider Glaubensrichtungen, die in gleich-
mäßiger, gerechter Weise gegeneinander abzuwägen seien 21 • Bei der zunehmenden
Bedeutung des Gleichgewichtsdenkens konnte das Verhältnis der Religionsparteien
jetzt de facto als ein Gleichgewicht verstanden werden. Vorher, im 16. und frühen
17. Jahrhundert, ist das der Terminologie nicht direkt zu entnehmen, zumal ja

17 EDMUND WALJ;.ER, Panegyric to iny Lord Protector (1655), zit. FRIEDRICH BRIE, Im-

perialistische Strömungen in der englischen Literatur, 2. Aufl. (Halle 1928), 51, Anm. 2.
18 JAMES HARRINGTON, Oceana, Works, ed. John Toland, 4th ed. (1711; Ndr. London

1961), bes. 44. 243.


19 Politischer Discurß, Ob sich Frankreich der Protestierenden Chur und Fürsten wieder

Spanien annehmen, oder neutral erzeigen, Aus dem Frantzösischen ins Deutsche gebracht
(Berlin 1615), ziL. KAEDER, IUee ue11 GleichgewichLs, 30 f.
20 Instrumentum Pacis Osnabrugense, Art. 5, § 1, in: KARL ZEUMER, Quellensammlung zur

Geschichte der deutschen Reichsverfassung, 2. Aufl. (Tübingen 1913), 403.


21 MARTIN HECKEL, Autonomia und Pacis .Compositio, Zs. f. Rechtsgesch., kanonist:

Abt. 45 (1959), 240; vgl. ders., Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen
Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ebd., 42 (1956), 117 ff. sowie FRT'l'Z
DwKMANN, Das Problem der Gleichberechtigung der Konfet:u:iionen im Reich im 10. und
17. Jahrhundert, Hist. Zs. 201 (1965), 271.

963
Gleichgewicht m. 1. Bala.ncc und Libertät in Deutschland

umstritten war, ob die Parität schon im Augsburger Religionsfrieden Eingang ge-


funden hatte. Wenn man von der uhralten herrlichen Ordnung und Harmonia des
heiligen Römischen Reichs sprach und darüber klagte, daß sie durch die Neuerungen
der Protestanten zerrissen werde 22 , so stand dahinter eine Ordnungsvorstellung, die
den Gedanken an ein konfessionelles Gleichgewicht noch nicht zuließ. Das galt so
lange, wie die katholische Seite noch hoffen konnte - oder hoffte-, das Kräftever-
hältnis entscheidend zu ihren Gunsten verschieben zu können. Das galt bis weit in den
Dreißigjährigen Krieg hinein. Man wird deshalb den Religionszerfall und den Aus-
gleich der damit entstandenen Spannungen durch die Parität nicht als Wegbereiter
des Gleichgewichtsgedankens in Deutschland ansehen dürfen. Die Vorstellung war
auch hier, wie gerade die frühen, nicht mehr isoliert stehenden Belege für 'aequi-
librium' und 'balance' zeigen, rein politischen Ursprungs.

b) Dipluwatische Belege bis 1648. Erstmals regelmäßig verwandt wurde die Termi-
nologie bei der Besprechung und Berechnung der Kräftekonstellationen in den letz-
ten Jahren vor dem Prager Frieden: Frankreich sei es mit einem Bündnis ernst,
wegen des aequilibrii, welches Frankreich gegen dem haus Österreich suechen tuet 23 ;
es werde· zwischen beeden thcilon die interponende fursten geben 2'; der hiesige Kur-
fürst u111l Hr.ine RüLe 1:1elwn 'Wol, daß vier wigt mehr als anderthalb~ fürchten per majora
übertroffen zu werden, suchen derowegen rernedi1um und 1nm;np,n, mnn sie k~önnen
Dennemark auf die balance heben, solle es nicht allein das aequilibrium machen, sondern
wol weit schwerer wegen 25 ; Nachdem das haus Hispanien, deren spanischen monarchi
begirde zur revenge und anderer gefehrlicher gewohnhe1:ten Wf'{len sich allerhand anhangs
macht . . . dahero wohl darauf zu sehen stehet, wie dessen macht in ein solch aequili-
brium gestellt werde, daß es s·ich m·it den se-in·iyen begnügen~ 6 •
Es trifft deshalb nicht zu, daß die Formeln des politischen Gleichgewichts erst in
dem Zeitraum vou lü3G-1648, „in diesen Jahren des tatsächlichen politischen und
militärischen Gleichgewichts nun auch auf deutschem Boden in wachsendem Maße
Eingang in die politische Terminologie fanden" 27 • Sie waren früher gebräuchlich
und wurden dabei eher auf die gesamteuropäische Situation als auf die besonderen
deutschen Verhältnisse bezogen. In ihnen spricht sich deshalb zunächst noch nicht
aus, daß „der alten Auffassung von der notwendigen Einheit von Haupt und Glie-

22 FRANZ BURCHARD [d. i. ANDREAS Efäl'l'E.N.l!Klt!Hllt], De autonomia 3, 25, zit. HECKEL,

Autonomnia, 165.
23 Denkschrift für MAXIMILIAN 1. VON BAYERN (1629), zit. Die Politik Maximilians 1. von
Bayern und seiner Verbündeten, Tl. 2, Bd. 5, hg. v. DIETER ALBRECHT (München, Wien
1964), 107.
24 Landgraf GF.O:EW VON HESSEN an den Kaiser (1631), in: Politische Corrospondcnz des

Grafen Franz Wilhelm von Wartenberg, Bischof von Osnabrück aus den Jahren 1621-
1631, hg. v. H. FORST (Leipzig 1897), 612.
25 L. NrcoLAI an den schwedischen Gesandten in Braunschweig (1633), in: Die Verhand-

lungen Schwedens und seiner Verbündeten mit Wallenstein und dem Kaiser von 1631-
1634, hg. v. GEORG IRMER, Bd. 2 (Leipzig 1889), 129.
26 Gutachten WILHELMS V. VON HESSEN-KASSEL über den Universalfrieden in Deutschland

(1632), ebd., Bd. 1. (1888), 133.


ll 7 ADAM W ANDRUSZKA, Reichspatriotismus und .i{eichspolitik zur Zeit des Prager Friedens
von 16a5 (Graz, Köln 1955), 107.

964
c) Durchsetzung des Sprachgebrauchs nach 1648 Gleichgewicht

dern ... allmählich eine neue" folgte, „die das Wohl des Reiches und der deutschen
Nation am besten in der Form des Gleichgewichts zwischen Kaiser und Ständen ge-
wahrt glaubte" 28 • Sehr viel häufiger als die Ausdrücke 'aequilibrium', 'balance',
'bilanx', 'balanciren' oder 'bilanciren' waren auch in der Schlußphase des Krieges die
alten Formulierungen: Einigkeit und guete Harmonie des Reichsgebäudes, Tran-
quillirung und Oonservation des Reiches, securitas und quietas Imperii, Ruhe-
stand des Reiches, Restabilirung, altes teutsches Vertrauen zwischen Haupt und
Gliedern, um nur einige der am häufigsten gebrauchten Formeln zu nennen 29 •
Dem Gleichgewichtsdenken nahe standen davon nur 'Ruhestand' und 'Restabili-
rung', weil sie einen Pendelausschlag voraussetzten, der wieder zu korrigieren war.
Anders als in Frankreich war der Gedanke des Gleichgewichts noch nicht so durch-
gesetzt, daß man sich die Gewährleistung der Ruhe und des Friedens, die überall als
oberstes Ziel zum Ausdruek kommt, am besten und zuvedässigsten mit dem Bild
der aw:1geglicheüell Waagschalell vorsLellLe 80 . EüL8prechelld war auch ill deü diplo-
matischen Korrespondenzen und Instruktionen vor Abschluß des Friedens nur
wenig, im Text der VerL1·äge gar nicht vom Gleichgewicht die Ilede 31 • Erst im
18. Jahrhundert wurde das Vertragswerk von 1648 durchgehend unter diesem Ge-
sichtspunkt verstanden. Poetisch· gab JusTUS MösER dem anläßlich des ersten
Zelltenariums Ausdruck: 0 Tag, u größter 'Unsr&r Tage! D·u sckufsl d·ie Gle·icMe,it
jener Waage, die Reiche gegen Reiche wiegt 32 •

c) Durchsetzung des Sprachgebrauchs nach 1648. In den zweieinhalb Jahrzehnten


zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ausbruch des Devolutionskrieges
setzte sich das Gleichgewichtsdenken in Deutschland voll durch. Dabei ging Bran-
denburg voran, nicht zufällig, denn unter den deutschen Ständen war einzig Bran-
denburg zu einer wirklich europäischen Außenpolitik gezwungen, da es mit seinen
niflrlP.rrhfliniRnh1m °RP.Ritz1mgP.n unrl mit, 0Rtp~P.11 ßp,n an P.11ropii.iRnhfl KriRP.ngP.hiflfa~

28 Ebd., 108.
29 Belege ebd., 40. 47. 49. 73.
30 Diese allgemeinen Formeln bleiben auch nach 1648 sehr häufig; vgl. die§§ 1. 3. 4. 178. 180

des „Jüngsten Reichstagsabschieds" (1654), in: ZEUMER, Quellensammlung, 446 f.; Kaiser-
liches Commissionsdekret zur Durchführung der braunschweigischen Kursache (1706),
ebd., 470; Entwurf einer beständigen Wahlcapitulation (1711), Art. 2, ebd., 475: der west-
fälische Friede und darin besfiitigten Religionsfrieden, als ein immerwährendes Band zwi-
schen Haupt und Gliedern und diesen unter sich selbsten; ferner das „Conclusum electorale"
über die abwechselnde Führung des rheinischen Vikariats (1752), cbd., 506: Erhaltung des
inneren Reichs-Ruhe-Standes. Mit sehr viel mehr Sicherheit als das einfache Wort 'Ruhe'
darf 'Ruhestand' natürlich als Synonym für die ausgeglichene Waage, für ein Gleichgewicht
gewertet werden.
31 Vgl. die französische HaupLinsLrncLion v. 30. 9. 1643, Acta Paci~ Westphalicae, hg. v.

MAX BRAUBACH u. KONRAD REPGEN, Ser. 1, Bd. 1 (Münster 1962), 71 über Sicherheits-
systeme in Deutschland und Italien. In Art. 12 des französischen Bündnisvertrags v. 1645
heißt es: que cet ancien et salutaire equilibre qui a servi jusqu'a present de fondement a la
paix et d la tranquillite publique, zit. ZELLER, Principe d'equilibre, 31; es handelt sich dabei
vermutlich um den ersten Beleg aus der Vertragssprache. Auch Schweden sprach von dem
zu Erhaltung gemeiner Ruhe notwendigen aequilibrio (1638), zit. W ANDRUSZKA, Reichs-
pat,riotismus, 107.
32 Zit. FRITZ DICKMANN, Der Westfälische Frieden (Münster 1959), l.

065
Gleichgewicht m. 1. Balance und Libertät in Deutschland
gronzto. Intormmo.nt üit do.boi, do.ß dor Begriff dmi Gloiohgowiohta anfänglich be-
sonders in Verhandlungen mit den Niederlanden auftaucht, offenkundig, weil er
hier -wie in Frankreich - schon sehr viel sicherer gehandhabt wurde als im Reich.
Schon im Sommer 1649 heißt es in der Proposition des brandenburgischen Gesandten
MATTHIAS DöGEN an die Staaten von Holland und Westfriesland, durch das ange-
botene Bündnis werde der Friede im Reich gesichert, allen Fremden die Lust zu
weiteren Eroberungen genommen ende consequentelijk het gansche Christenrijk in
balance ende stilte gebonden 33• Während des Nordischen Krieges übermittelt 1657
der brandenburgische Gesandte im Haag die holländische Ansicht, der Kurfürst solle
durch fürsichtiges Balanciren den Frieden befördern, also seine Waffen von Schwe-
den abziehen und durch die Stellung zwischen Polen und Schweden bewirken, daß
kein Theil des andern Meister werde 34• Weitere Belege, daß die Balance beobachtet
werden müsse, daß andernfalls durch neue Conquesten in der alten Balance Verände-
rung geschaffen werde 33, begegnen hänfigAr. TJiA ArgnmAnfo.tion ist dabei nicht aus-
schließlich auf Brandenburg bezogen: bleibt das Reich in seinen alten Schranken und
stellet die Sache zu seinem eigenen Besten an, so werden sie beide (d. h. Spanien und
Frankreich) das Reich considerieren, und das Heich wird die Balance halten können 36 •
1672 argumentiert das Dündnisangehot an liJngfa.111] 111it. 1lH1· ~.wi~uheu t.leu 1iuru-
päischen Potentaten und Herrschaften so nöthigen Balance 37 • Auch das Gleichgewicht
des Nordens war friih hAkannt, 38 • DAm lhnßen K1(.rfilrsten war der Gedanke des
Gleichgewichts so vertraut, daß er ihn in seinem Politischen Testament von 1667
ausführlich besprach: Der Frembden Chrohnen habt Ihr Euch solchergestaldt zu ge-
brauchen, Das wan etwa ... der Kays,er, Spanien, undt das hauß Osterreich zu weitt
gehen solten, den getroffenen /l'ridenschlilß zit M1tnster und Osnabruck umbstossen,
oder einige neuerung, in geist, und weldtl·iclten sachen ·irn Re·ich, So gegen die Teutsche
freiheitt, undt zu untertruckung, derselben uralten gebreuchen undt verfassungen l-ieUen, ·
beginnen oder anfangen mochten, Selbige Ihnen entgegen zu setzen, deßgleichen auch
da/erne Schweden oder Franckreiclt,. zu weitt gehen wolten, habt Ihr Euch ahn den
Kayser undt dem hausse Osterreich zu halten, damitt Ihr schwischen Ihnen allezeitt
die rechte Balance halten moget, den durch solche weisse manuteniren sich die Italiäni-
schen Fursten, welche wan Sie sehen, das einer oder der ander zunimbt . ~ . undt die
eine partie Der andern uberlegen ist, Sich ahn die schwechste halten 39 • Der Hinweis auf

33 Proposition des brandenburgischen Gesandten Matthias Dögen an die Staaten von

Holland und Westvriesland, 31. 8. 1649, Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des
Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Ild. 8, hg. v. HEINRICH PETER (Bedin
1866), 62.
34 Weimann an den Kurfürsten, 24. 7. 1657, ebd„ Bd. 7, hg. v. BERNHARD ERDMANNS·

DÖRFFER (Berlin 1877), 100.


86 Ebd„ 116; vgl. auch 119.
3 ' GEOR!l FRrnnRTOH v. WAr.nF.CK, Gutachten für den Kurfürsten (1658), zit. BERNHARD

ERDMANNSDÖRFFER, Graf Georg Friedrich v. Waldeok: ein preußischer Staatsmann im


siebzehnten Jahrhundert (Berlin 1869), 289.
87 Instruction für den Gesandren. Lomn:r. von Crockow, 17. 9. 1672, Urkunden und Akten-

stücke, Bd; 17, hg. v. REINHOLD BRODE (Berlin 1901), 11.


38 Nebeninstruction für Johann von Löben, 29. 8. 1655, ebd„ Bd. 7, 418.
89 niA politischen Testamente der Hohenzollern, hg. v. GEORG KüNTZEL u. MARTIN HASS,

Bd. 1 (Leipzig 1911), 53.

966
c) Durchsetzung des Sprachgebrauchs nach 1648 Gleichgewicht

die italienischen Fürsten hat natürlich nur literarische Bedeutung. Festzuhalten ist,
daß die allezeit rechte Balance, d. h. die jeweils den politischen Umständen ent-
sprechende Koalition, vom Kurfürst als das probateste Mittel zur Erhaltung des
1648 geschaffenen Zustandes, insonderheit der Libertät, empfohlen wird. Ein starres
Gleichgewichtssystem kommt ihm dabei nicht in den Sinn; das Gleichgewicht ist
Mittel, nicht Zweck. ·
Sehr viel weniger im Gebrauch stand die Gleichgewichts-Terminologie dagegen bei
den anderen Reichsständen, weil ihr Blick noch stärker auf das Reich gerichtet war.
Wie der Fried- und Ruhestand im Römischen Reich zu des gemeinen Wesen Nutzen
und des Vaterlandes Conservation mit recht gutem Bestand befestigt werden möge4°,
wie die Libertät stabilisiert werden könne, darüber wurde in erster Linie gesprochen,
und hier bot sich alle:r;dings das Gleichgewicht als Mittel an - wie es ja auch Fried-
rich Wilhelm in engste Beziehung zur „teutschen Freiheitt" gesetzt hatte. Wir leben
in der guten Zuversicht, heißt el:l in einer lmtunHehweig-lUnelmrgil:lehen lm;LrukLion
von 1657, die die enge Verbindung von Libertäts- und Gleichgewichtsdenken sehr
schön deutlich macht, daß von gemeldter Chron - gemeint ist Frankreich -Wir
und unser gantzes fürstliches Haus Uns allen guten Willens auch beständiger Coöpera-
tion zur Erhaltung des Aequilibri im Reich (welches meistentheils an Oonservation der
Stände 1lre.1:h.e# 'wrul 1l!,1r 'fih1111n{/P.l'1:.~1:lw.n liii'n11l) 'lll'.'r.~P.lw;n. 41 .
Nur der Wiener Hof bediente sich der Terminologie kaum, selbst Lisola in seinen
diplomatischen 8chriftstücken nicht, obwohl er publizistisch einen erheblichen Bei-
trag zur Ausbreitung des Gleichgewichtsgedankens in Deutschland leistete. Der
Kaiser mußte es aus seiner ganzen Stellung herau8 beklagen, daß ausländische
Chronen ... durch Unserer, Uns und dem lieben Vaterland mit so treuem Eid ver-
p'{f,·icliteter Fürsten selbsteigene Ifräfee bilanziert würden, und FERDINAND III. sah
sehr klar, daß damit tatsächlich ein zu Stabilierung frembden Dominats dienliches
aeq'U'il-i'bri'U'm yem,acltt ... wullte wlfrden (1040)u. Welehe pHychulogischen Schwierig-
keiten in Wien aber auch zu überwinden waren, ist daran abzulesen, daß Leopold
noch bei Abschluß der Großen Allianz ein Gremium von sechs Theologen befragte, ob
es statthaft sei, mit Unkatholischen Bündnisse zu schließen. Offiziell war die Rede
gemeinhin vom Frieden und der Ruhe Europas oder der Christenheit oder von einem
arbitrium pacis. Natürlich ließ sich auch damit die Gleichgewichtsidee umschreiben.
So berichtet GRAF GoEss einmal, zum Frieden und zur Ruhe der Christenheit hätte
meines Erachtens vielmehr gedeuen mögen, wann des Königs in Franckreich Macht
durch Waffenwiderstand wäre geschwächt und gebrochen worden 43 . Mehr zu sagen
hätte bedeutet, das Haus Habsburg als schwächeren der beiden Pole, von denen
Rohan gesprochen hatte, hinzustellen. An dieser Zurückhaltung Wiens liegt es viel-
leicht auch, daß die Formel des Gleichgewichts zunächst noch kein Bestandteil der

40 Bayerischer Bescheid an den französischen Gesandten, 5. 3. 1682, zit. MICHAEL STRICH,


Das Kurhaus Bayern im Zeitalter Ludwigs XIV„ Bd. 2 (München 1933), 435.
41 Instruction für Heyland, 12. 3. 1657, zit. HAvELAAR, Libertätsgedanke, 20.
42 Ferdinand III. an Erzherzog Leopold Wilhelm, zit. W ANDRUSZKA,, Reichspatriotismus,

108; für Lisola vgl. seine Berichte in: Urkunden und Aktenstücke, Bd. 14/1, hg. v . .ALFRED
FRANCIS PR.IBRAM (Berlin 1890). Der Wiener Hof umschrieb 'Gleichgewicht' meist mit
'arbitrium'; viele Belege bei STRIOH, Kurhaus Bayern.
43 Goess an den Kaiser, 4. 7. 1670,.Urkunden und Aktenstücke, Bd. 14/1, 560.

967
Gleichgewicht m. 1. Balance und Libertät in Deutschland
Vertragssprache wurde. Erst nach Utrecht hat sich auch die kaiserliche Diplomatie
der Terminologie häufiger bedient.

d) Publizistik. Dagegen hat die Wiener und die kaiserfreundliche Publizistik den
Gedanken eifrig benutzt. Den Anfang machte 1667 FRANZ PAUL VON LrsOLA; er
bezog sich in seinem „Bouclier d'Estat et de justice" ausdrücklich aufRohan, wies
aber nachdrücklich auf die Gefährlichkeit Frankreichs hin44 • In seinen späteren
Schriften werden diese Gedanken immer wieder aufgenommen. Das einzige Mittel
zur Erhaltung der Sicherheit Europas sei es, die Staaten Europas in der Weise zu
balancieren, daß keiner unter ihnen eine Größe erlange, die ihn den anderen furchtbar
werden lasse. England vor allem falle die Rolle eines „arbiter Europae" zu; ver-
nachlässige es diese Aufgabe, bedeute das eine große Gefahr 45 • Damit hat Lisola
dem politischen Gleichgewicht in Deutschland publizistisch eine breite Bresche ge-
Rr.h lagen; in seinem Gefolge verwendet eine Vielzahl von Autoren diese Argumenta-
tion. 1672 erinnert eine anonyme 8chrift ..lfagland daran, daß der höchste Ruhm des
englischen Könie11 ilarin bestehe, ein Schiedsmann der Strittigl~Ditcn in Europa zu
sein4 6 • EvERARD WASS}]Mß}]lW stellt im selben Jahr fest, alle Gründe, die einst gegen
Spanien geltend gemacht worden seien, sprächen nun geeen Frn.nlm'lieh 47 • Derbe-
<leutencfo Kameralist PHILIPP WILHELM VON HORNIOK ist Frankreich als Franco-
puliLa in verschiedenen Traktaten entgegengctrctcm ; er teilte dabei die bei Leibniz,
l'ufendorf und anderen begegnende Ansicht, daß Deutschland trotz des Verfalls
seiner Verfassung durchaus imstande wäre, frembde Nationen und eben auch Franck-
reich zitternd zu machen, wenn es nur seine noch vorhandenen Kräfte vereinbaren und
mit gleiclirnässigem Eiffer anwenden solte 48 • In seinem kameralistischen Hauptwerk,
„Österreich über alles, wenn es nur will", ist er ga.nr. an cler Iclee des politischen
Gleichgewichts orientiert. Bei weitem nicht jede Flugschrift der Riebziger und acht-
ziger Jahre verwimflflt,e Argumente des politischen Gleichgewichts, wo cs jedoch ge·
schah - und das war keine geringe Zahl - wurde der Terminus völlig selbstver-
ständlich gehandhabt.
Die neben Lisola eindringlichste Formulierung des Gedankens hat LEIBNIZ 1670 in
seiner großen Denkschrift über die securitas publica gegeben. Auch hier wird haupt-
sächlich von der 'Ruhe ganz Europas', der 'Ruhe des Reichs', der wohlfarth des
Reichs und gemeiner Ruhe 49 gesprochen, aber das sind nu1· Synonyme für die Balance.

44 FRAN«;lOis P AQL DE LisoLA, Le Bouclier d'Estat et de justice (Den Haag 1667), 223 ff.;

vgl. A. F. PimRAM, Franz Paul Freiherr von Lisola und die Politik seiner Zeit (I.eipzig
1894), 361 ff.
45 Bes. in den Schriften „Appel de l'Angleterre" (.Amsterdam 1673) und „Considerations

politiques au sujet de Ja guerre present" (.Amsterdam 1673).


· 45 Politische Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand Europä, § 14 (Frankfurt
Hl72), 1>:it. JOHANNES HALLER, Die deutsche Publizistik in den Jahren 1668-74 (Heidel-
berg 1892), Beilage 6, S. 106 f.
47 EVERARD WASSENBERG, Maroboduus in serenissimo et potentissimo Ludovico XIV

(Helmstedt 1672); zit. HALLER, Deutsche Publizistik, 100.


48 Deutschland über Franckreich, wenn es klug seyn will (1684, anonym), 7, zit. LomsE

SOMMER, Die österreichischen Kameralisten in dogmengeschichtlicher Darsfa~llung, Bd. 2


(Wien 1925), 70 ff.
49 LEIBNIZ, Bedenckcn Welchergestalt Securitas publica inte1·na et externa und Status

968
d) Publizistik Gleichgewicht

Leibniz erklärt, daß Deutschland wegen seiner Schwäche und seiner schlechten Ver-
fassung der Ball sei, den einander zugeworffen die umb die Monarchie gespielt, wobei
er unter Monarchie nicht die Universalmonarchie im platten Sinne verstanden wissen
will, sondern schon die Hegemonie : diese Monarchie kann ich nun nicht besser nenen
als Arbitrium Rerum 50• Danach ohne voraussehbaren Nutzen und bei großen eigenen
Risiken zu streben, gegen die wohl stabilirte Einigkeit Europas, sei apparenter ver-
geblich, ja Leibniz hält es schon dann für unmöglich, wenn die deutschen Dinge
wieder ein anderes Ansehen hätten. Wenn Deutschland wieder das „mittel Europae"
sei, werde sich die bellicosität seiner Nachbarn in eine andere Richtung lenken, man
werde sowohl in Frankreich wie im Hause Habsburg an der projektierten Monarchie
verzweifeln, und Europa könne sich dann wieder zur Ruhe begeben51 • Folge man
.seinen Vorschlägen, so werde Teutschland in se1:nen fior, K1m1pa 1:n die. balance daraiis
es verrucket, wieder kommen, und alles in friede und ruhe, zu allgemeinen besten der
Christenheit, erhalten werden 52 • Hier ist zuerst der Gedanke begriinrlet, da.ß einzig
eine starke europäische Zentralmacht (die nach Lage der Dinge ja kaum durch die
von Leibniz vorgeschlagene Einung erreicht werden konnte) zur wirklichen Garantie
eines stabilen Gleichgewichts werden könnte. Erst im 19. Jahrhundert ist das in
Deutschland wieder ausführlich erörl;er(; worden; deu Zeügeuussen Leibniz' war.es
nur eine theoretische Möglichkeit, zumal bei konsequenten .Bestrebungen zu ihrer
Verwirklir,hung das T,ihertii.t.„prinzip nicht unangefochten bleiben konnte.
Auch PuFENDORF war der Begriff des Gleichgewichts völlig vertraut. In den histo-

praesens im Reioh iezigon Umbständon nach auf festen Jfoß zu stellen (1670), AA Bd. 4/1
(1931), 165; 'Vgl. 138.
&o Ji:bd., 166. 181. Leibniz gab dem Wort 'arbitrium' damit oino zwingendere Bedeutung als
sonst damals üblich. Der Ausdruck 'Hegemonie' wurde erst im 19. Jahrhundert von den
Verhältnissen des klassischen Griechenland auf die europäische Neuzeit übertragen, in
Deutschland aber lange nur zurückhaltend benutzt. Erst durch die Kommentare zur Bis-
marckschen Reichsverfassung gewann er erheblich an Verbreitung. Die heute maßgebliche
Bestimmung wurde schließlich 1938 von HEINRICH TRIEPEL, Die Hegemonie. Ein Buch von
führenden Staaten, 2. Aufl. (Stuttgart 1943) gegeben; ERNST RUDOLF HlIBER, Deutsche
Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1 (Stuttgart 1957), 670 bringt sie auf die kurze Formel
„Vorherrschaft bei Rechtsgleichheit". Zur Kennzeichnung dor Vorhormohaft oinc0 Staates
sprach man im 16. und frühen 17. Jahrhundert gewöhnlich von 'Monarchie', später von
'Dominat', 'dominatum absolutum', 'iugum' oder 'Präponderanz', im 19. Jahrhundert von
'Übergewalt', 'Vorherrschaft', 'Vormundschaft', 'Herrschaft', 'Suprematie', 'Präponde-
ranz', nur selten von 'Hegemonie'. Gleichgewicht und Hegemonie werden heute nicht als
volle Gegensätze verstanden; als Beleg verweist man gewöhnlich auf die Kollektivhegemo-
nie des europäischen Konzerts nach 1815 oder auf die Zweier-Hegemonie von Österreich
und Preußen - die selbst zueinander im Verhältnis des Gleichgewichts standen - im
Deutschen Bund. RUDOLF STADELMANN, Hegemonie und Gleichgewicht (Laupheim 1950),
11 f. hat deshalb sogar formuliert, es habe sich „bei allen großen PrulekLoren der Gleich-
gewichtsidee ... als Geheimnis des europäischen Staatensystems enthüllt ... : daß Hege-
monie und Gleichgewicht keine sich ausschließenden Ordnungsbegriffe sind, sondern daß
sie zueinander gehören ... Gleichgewicht ist nur, wo eine behutsame und geachtete, frei-
lich nicht geradezu gefürchtete Macht über die Balance der Kräfte wacht .... Das gelenkte
Gleichgewicht nennen wir Hegemonie."
5 1 LEIBNIZ, Bedencken, AA Bd. 4/1, 167 f.

52 Ebd„ 214.

969
Gleichgewicht ID. 1. Balance und Libertät in Deutschland

rischen Arbeiten seiner späteren Zeit kam er bei der Aktendurchsicht damit in Be-
rührung, und im Fragment „De rebus gestis ·Friderici tertii" stellte er den Kur-
fürsten direkt als Bewahrer des Gleichgewichts im Norden dar 53• In der Vorrede
seiner „Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten" von 1682
unterscheidet er imaginäre und wahre Interessen der Staaten und rechnet zu erste-
ren ehrgeizige Pläne, die nichts weiter bewirkten, als die Welt in Oombustion zu
setzen, worunter man rechnen ka,nn M onarchiam E11.ropae 54 • Daß er Frankreich einem
solchen imaginären Interesse nachgehen sah, geht aus vielen Stellen seiner Schriften
und Briefe hervor, und so wird man denn ohne weiteres schon eine Stelle aus „De
statu imperii" in Sachen des Gleichgewichts auf Frankreich anwenden können:
Quin et obstandum, ne unam atque alteram vicinarum regionum potentior, et dilandorum
finium avidus hostis absorbeat, unde Germaniae latus invasioni nudetur. Si tale quid
tentari adparuerit, mature de/ensio adornanda, et eorum societas quaerenda, quorum
itidem interest, ne unius gliscens nimium potentia caeteris praegravis fiat55. Sein Ideal
war eine Einigung Deutschlands derart, daß es von einem Willen und einem Geist
gelenkt werde. Die Macht des Reiches, durch eine regelmäßige Staatsverfassung zu-
sammengehalten, werde für ganz Europa furchtbar sein (7, § 7)'. Den Ausgangspunkt
der gegenwärtigen Schwäche sieht er in der Wahl Karls V. zum Kaiser. Ein Kaiser
ohne auswärtigen Besitz hätte seine Interessen nicht außerhalb des Reiches gesucht,
sondern zwischen Frankreich und Spanien als ein arbiter gesessen und, wie es die
Sache erfordert, bald den einen, bald den andern balanciret und verhindert, daß keiner
den andern untern Fuß brächte56 • Nun sei es Englands Aufgabe, die Ballance unter
den christli:chen Potentaten zu. halten. Puföndorf ist zugleich 11,hor auch iihcrr.eugt,
daß ein einziges Teutschland ... wohl Frankreich die Waage halten könne 57 •

e) Begriffsverständnis am Ausgang des 17. Jahrhunderts. Seit etwa 1670 häufen sich
die Gleichgewichts-Belege im deutschen Sprachraum; nach zögerndem Eingang
findet die Terminologie jetzt schnell allgemeine Verbreitung und wird vielfältig be-.
nutzt. Man hält eine Balance zwischen den einzelnen Staaten für durchaus nötig,
weiß aber, daß die Interessen momentanea und unbeständig sind 58 und daß sich des-
halb der Idealzustand eines ausgeglichenen europäischen Gleichgewichts und damit
ein wirklicher Friede kaum erreichen lassen wird. So faßt man den Begriff ganz
situationsbezogen. Eine kurze Notiz Leibniz' illustriert das sehr schön. Unter dem
Titel „Jetzige Bilance von Europa" notiert er sich 1669 die lapidare Bemerkung,
Frankreich suche auf der Wage überzuschlagen, bewirbt sich also sein Gewicht zu
mehren folgender Gestalt 59 • Entsprechend formuliert man das Bild sehr oft verbal,
redet nicht von 'aequilibrium', sondern von 'balancieren' und meint damit einen

53 HANS RöDDING, Pufendorf als Historiker und Politiker in den 1,Commentarii de rebus

gestis Fl'idel'ici tertii" (Halle 1912), 36.


64 SAMUEL PuFENDORF, Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten,

so jetziger Zeit in Europa sich befinden (1682), 2. Aufl., Bd. 1, (Frankfurt 1709), Vorrede, 6.
65 Ders., De statu imperii 8, 4 (1667), 3. Aufl. (Leipzig 1708), 453,

66 Ders., Einleitung, Bd. 1, 609.


67 Ebd„ 313. 465.
0 s Ebd., Vunede, 8.

59 LEIBNIZ, Jetzige Bilance von Europa, AA Bd. 4/1, 497 f.

970
a) Verbindliche Festlegung in den Friedensschlüssen von Utrecht Gleichgewicht

ständigen Ausgleich der Kräfte nach allen Seiten, einen je an den eigenen Interessen
orientierten Wechsel der Verbindungen, sei es regional bei der Erhaltung von Unter-
Gleichgewichten, sei es auf gesamteuropäischer Ebene. Man sieht eine Vielzahl von
Balance-Möglichkeiten, jedoch nimmt die Übereinstimmung darin zu, daß England
im europäischen Kräftespiel eine wesentliche Bedeutung zukomme und daß es am
besten die Rolle eines „arbiter" ausfüllen könne. Der Begriff ist noch zu geschmeidig,
als daß man schon von einem festen System sprechen könnte, er gehört noch sehr
stark dem technischen Bereich an, und seine Bedeutung als grundlegender und die
europäische Staatenwelt allgemein verpflichtender Satz bahnt sich erst an. Deshalb
aber zu meinen, man könne für diese Zeit in Deutschland kein Gleichgewichtsdenken
konstatieren 60 , hieße über das Ziel hinausschießen und den Begriff systematischer
nehmen, alR er im 17 ..Tahrhundert genommen werden darf. Richtiger wäre eR, davon
zu sprechen, daß es noch keine Gleichgewichtsdiskussion gegeben habe. Noch fehlt
es an der Kritik, und noch wird nicht danach gefragt, ob das Gleichgewicht politische
Gerechtigkeit verwirkliche. Neben dem taktischen Wert für die einzelnen Staaten
wird die grundsätzliche Bedeutung für das europäische Staatensystem noch wenig
beachtet.

2. 'Gleichgewicht' als Leithegrilf des 18. Jahrhunderts

a) Verbindliche Festlegung in den Friedensschlüssen von Utrecht. Das 18. J ahrhun-


dert ist die große Zeit der Gleichgewichtsliteratur. Mit dem Spanischen Erbfolge-
krieg setzt eine außerordentlich rege Publizistik ein, die die europäische Lage unter
dem Aspekt des Gleichgewichts erörtert. Dabei geht England voran. In allen Schrif-
ten wird die Dreiheit. von „liberty, religion and trade" für das Gleichgewicht gelLend
gemacht: die Verteidigung der Freiheit Englands zugleich mit der Europas, die freie
Ausübung der Religion und die Freiheit des Handels, wobei England stets als Halter
der Waage gesehen wird. Seit 1710 arbeiten die Tories mit dem Hinweis auf das
Gleichgewicht für den Frieden, die Whigs mit Verweis auf dasselbe Prinzip für die
Fortführung des Krieges. 1712 kündigt die Königin den bevorstehenden Friedens-
schluß unter Berufung auf das Gleichgewicht dem Parlament an. In der diplomati-
schen Korrespondenz ist davon allerdings nur selten die Rede, und wenn der Begriff
begegnet, so mit aller 8elbstverständlichkeit und ohne weitere li]rläuterung: 1 should
be glail to have your thoughts for the making such a plan as may be agreeable to the present
situation of affairs and may prove a lasting security to the.whole and a real ballance of
power against France and any one else 61 •

so VIETSCH, Europäisches Gleichgewicht, 218 (s. Anm. 11).


61 LORD OXFORD an Heinsius, 4. 8. 1711, in: ÜTTOCAR WEBER, Der Friede von Utrecht
(Gotha 1891), Anlage 1, S. 404. Welche allgemeine Bedeutung der Terminus inzwischen er-
langt hatte, ist gut zu erkennen an der 1711 von Keyserlingk nach Berlin geschickten Denk-
schrift des JosIAS CEDERHIELM, in: ERICH. HASSINGER, Brandenburg-Preußen, Rußland
und Schweden 1700-1713 (München 1953), 283 ff. Der Verfasser erörtert die gesamte
Situation im Lichte des Gleichgewichts. Er führt u. a. aus: Die See-Machten, welche sonsten
.iederzeit um den Handel und Beibehaltung der Balance sehr bekümmert gewesen, würden,
wenn sie nun etwas zu Schwedens weiterm Unglücke beitragen sollten, glauben machen, daß sie
von ihren alten Principiis abgewichen ... Denn auf solchen Fall würde der Oommercien freier

971
Gleichgewicht W. 2. 'Gleichgewicht' als Leitbegrilf des 18. Jahrhunderts

Mit den Friedensschlüssen von Utrecht setzt sich das europäische Staatensystem·
das Gleichgewicht selbst als Leitbegriff. Frankreich und Spanien sollen getrennt
bleiben ad firmendam stabiliendamq_ue pacem ac tranquillitatem Ohristiani orbis, justo
potentiae aequilibrio ( quod optimum et maxime solidum mutuae amicitiae ·et duraturae
undiquaque concordiae fundamentum est)6 2 • Erstmals rechtlich fixiert hatte man den
Begriff kurz vorher, im Verzicht Philipps V. auf die Erbfolge in Frankreich und
durch Annahme seiner Erklärung in den Cortes im November 1712 sowie die ent-
sprechenden Vorgänge in Frankreich. Die Einfügung dieser Feststellungen in den
eben zitierten Artikel 2 des englisch-spanischen Vertrags vom 13, 7. 1713, in Ar-
tikel 6 des englisch-französischen Vertrags und in die anderen Verträge machte den
Gleichgewichtsgedanken nun zum grundlegenden Satz des völkerrechtlichen Ver-
tragsrechts. Der taktisch-diplomatische Charakter, den er bis zum Ausgang des
17. Jahrhunderts hatte, war damit überwunden. ·
Wohl wird das Gleichgewicht nicht zum obersten Wert der europäiRchen Staaten-
welt erkliirt; das sind nach wie vor pax, concordia, tranquillitas Christiani orbis;
aber man weist dem aequilibrium jetzt doch die zentrale Funktion für die Erhaltung
des Friedens zu - es ist sein fundamentum optimum - und füllt den Begriff so
materiell auf. Um seinen Zweck erfüllen zu können, muß das Gleichgewicht ein
justum aequilibrium sein. Allen Staaten ist die Aufgabe gestellt, über die Wahrung
des gerechten Gleichgewichts, wie man es durch die Utrechter Verträge verwirklicht
glaubte, zu wachen. Folgerichtig war in den ersten Jahren nach dem Friedensschluß
auch der Ansatz zu einem positiven Gleichgewichtssystem sichtbar, das alle stritti-
gen Fragen durch europäische KongresRe entschr.iden sollte. Das „sublime Recht
der Konvenienz" (Jean Rousset) wurde zum Regulativ des Gleichgewichtssystems 63 .
Besonders der Kongreß von Soissons (1728) wurde in der Öffentlichkeit als .euro-
päisches Tribunal aufgefaßt. Aber dem war kaum Erfolg beschieden. Die lnteressen
der Staaten waren nicht genug harmonisierbar, als daß ein stabiles Gleichgewicht
hätte geschaffen werden können, dessen Ruhestand jederzeit am Konferenztisch zu
bewirken war, und so schlug sehr schnell die alte taktisch-politische Färbung des
Begriffs wieder stärker durch. Das im Laufe des Spanischen Erbfolgekrieges er-
reichte vertiefte Verständnis ging dabei jedoch nicht verloren: die Bezugnahme auf
das europäische Staatensystem - oder auf regionale Systeme - blieb erhalten;
„bilateral" (und damit auch verbal) wie so hiiu:fig im 17. Jahrhundert wurde der
Begriff kaum noch verwendet. Allerdings trat bald eine gewisse Mechanisierung der

Lauf bald gehemmet werden, die Bal,ance im Norden auf der einen W aagBchale überwiegen (290).
Oder an anderer Stelle meinte er: Der eine suchet einen Gewinn und dem andern überlegen zu
sein, der andere nichtes als sein Eigenes und eine gleiche Bal,ance (285). 1710 soll König
Friedrich 1. von Preußen nach russischer Ansicht durch Beitritt zur nordischen Allianz
eine Gegenball,ance wider dieae an ganz Europa Gesetze gebende Puissancen, die Seemächte
und Österreich, bilden, zit. ebd., 240, Anm. 85.
62 Vertrag zwischen England und Spanien, Art. 2 v. 13. 7. 1713, zit. JoH. JACOB SCHMAUSS,

Corpus juris gentium academicum, Bd. 2 (Leipzig 1730), 1419.


63 PAUL HERRE, Völkergemeinschaftsidee und Interessenpolitik in den letzten J ahrhunder-

ten, in: Fsehr. GERHARD SEELIGER (Leipzig 1920), 199; vgl. insgesamt .JoH. GusTAV
DnoYSEN, Ein historischer Beitrag zu der Lehre von den Congressen, in: ders., Abhand-
lungen zur neueren GeschichLe (Leipzig 1876), 201 ff.

972
b) Auffassung in der völkerrechtlichen Literatur Gleichgewicht

Auffassung ein, die zweifellos auch aus der gleichzeitigen Naturwissenschaft An-
triebe erfahren hat.
Trotz der Einfügung des Gleichgewichts in das europäische Völkerrecht mehrten
sich in dieser Zeit die Stimmen gegen das Gleichgewicht. Sie kamen zumeist aus
Frankreich, gegen das das System ja in erster Linie gerichtet war. Grundsätzliche
Bedeutung hatte dabei vornehmlich St. Pierres Friedensprojekt: das bisherige
System des Gleichgewichts habe immer nur neue Kriege hervorgerufen, alle Frie-
densschlüsse seien in Wirklichkeit nur Waffenstillstände, die doch wieder nur zum
Kriege führten; es müsse deshalb in einer „union permanente et perpetuelle" eine
bessere und wirksamere Verbindung der europäischen Staaten untereinander er-
reicht werden.

b) Auffassung in der völkerrechtlichen Literatur. Durch die Aufnahme des Gleich-


gewichts in die Utrechter Verträge war die Ausgangsposition und die Notwendigkeit
für eine völkerrechtliche Erörterung gegeben. Naturgemäß wurde diese Diskussion
in die Problematik von Krieg und Frieden eingebaut. Charakteristisch für die vor-
herrschende Fragestellung ist der Titel einer Schrift des Halleschen Juristen NIKO-
LAUS HIERONYMUS GuNDLING, ob wegen der anwachsenden Macht der Nachbarn man
den Degen entblößen könne 64 , ob, konkreter, ein für die Erhaltung des Gleichgewichts
geführter Krieg zu den gerechten Kriegen gerechnet werden dürfe. In den haupt-
sächlich zwischen 1716 und 1723 verfaßten Monographien dazu wird die Frage mit
einander diirchweg sehr ähnlichen Argumenten bejaht. Ausgangspunkt ist der
Naturzustand der Staaten untereinander. Überall wird am; der Grnndforderung des
allgemeinen Interesses, dem Frieden, gefolgert, daß man sich gegen die allzu große
Macht, eines einzelnen Staates wenden dürfe. Das Gleichgewicht garantiere die ge-
rechte Proportion der Völker und Kräfte 6 1i, es bestehe deshalb ein natürliches Recht
ad bilancem gentium custodiendam, selbst wenn damit die Rechte einzelner Staaten
verletzt würden 66 • Aber man meint, daß schon die Existenz eines zur Erhaltung des
Gleichgewichts aufgerichteten Bündnisses inter eos ... quos idem periculum eadem-
que studia et eadem ratio status connectit den Frieden sichern werde. In eo aequilibrii
inter gentes tuendi summa ratio sita est. Dadurch bekommen die Verbündeten das
arbitrium Europae, das man auch lancem Europae nenne 67 • Wer als „arbiter" auf-
treten will, muß sich unbedingt am allgemeinen Wohl als dem höchsten Gesetz
orientieren68 . Ein offenes Bekenntnis zum Präventivkrieg für das Gleichgewicht
wird tunlichst vermieden. CHRISTIAN WOLFF, der durch die große Zahl seiner Schü-
ler wie durch die große Zahl seiner Veröffentlichungen eine außerordent.liuh breit.e
Wirkung hatte, konzediert im „Ius gentium" von 1749 zwar, daß eine Bedrohung
des Gleichgewichtes der Völker, wie er 'aequilibrium' in der Anmerkung übersetzt,

0 ~ NICOLAUS HIERONYMUS GuNDLlNG, Erörterung der Frage, ob wegen der anwachsenden

Macht der Nachbarn man den Degen entblößen könne (Halle 1716).
65 JoH. JACOB LEHMANN, Trutina vulgo bilanx Europae, norma belli pacisque hactenus a

summis imperantibus habita, § 4 (Jena 1716), 6 f.


66 Jon. CHRISTOPH MUHRBECK, Dissertatio de bilance gentium, § 1(Greifswald1722), 5 u.

passim.
67 E. G. WITTICH, Dissertatio de tuendo aequilibrio Europae (Gießen 1723), 32 f. 58 f.
88 LUDWIG ERASMUS v. HULDENBERG, Dissertatio de aequilibrio (Helmstedt 1720), 172.

973
Gleicbgewiehl m. 2. 'Gleichgewicht' als Leitbegriff des 18. Jahrhunderts
die Freiheit bedrohe, hält aber die Bewahrung des Gleichgewichts nicht für einen
gerechten Kriegsgrund. Die anderen Staaten dürfen vielmehr erst dann zu den
Waffen greifen, wenn ihnen ein Unrecht zugefügt ist 69 •
Ausführlicher als Wolff setzte sich EMER DE VATTEL mit dieser Frage auseinander 70 •
In Übereinstimmung mit der Tradition sieht er Europa als ein Staatensystem, in
dem alles durch die Beziehungen und die verschiedenen Interessen der diesen Erd-
teil bewohnenden Nationen untereinander verbunden ist. Europa ist eine Art Re-
publik, deren unabhängige, aber durch die Gemeinsamkeit der Interessen verbun-
dene Mitglieder zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Freiheit zusammenwirken.
Ihr Gleichgewicht bedeutet une disposition des choses, au moyen de laquelle aucune
Puissance ne se trouve en etat de predominer absolument, et de faire la loi aux autres
(§ 47). Das einfachste Mittel zur Aufrechterhaltung Je1:1 Cleiehgewichts sind Bünd-
nisse; es wirkt allerdings nur dann, wenn alle. Mächte ständig ihr Interesse richtig
beurteilen(§ 48 f.}, d. h. sich jeweils der zweitstärksten Macht zugesellen. Die Maeht-
zunahme eines Staates, für sich allein betrachtet, kann den Angriff der anderen
nicht rechtfertigen(§ 43), es können aber Umstände eintreten, die ein anderes Urteil
erlauben: Des qu'un Etat a donne des marques d'injustice, d'avidite, d'orgueil, d'am-
bition, d'un desir imperieux de faire la loi; c' est un voisin suspect, dont on doit se ga-rder:
on peu.t le prendre' a.i1. moment oi'i il eilt 1Ji1.r le point de recevoir im accroissemelflt formi-
a
dable de puissance, lui demander des suretes, et s'il Msite les donner, preveri-ir 8e8
desseins par la force des armes(§ 44). Vattel entschließt sich also zu einem wenn auch
vorsichtig formulierten Recht des Prävenire und steht damit zu dem von ihm selbst
erstmals a1isdrücklich vorgebrachten Verbot der Intervention in einem gewissen
Widerspruch 71 • Seine Ansicht ist in der 2. Jahrhunderthälfte herrschende .Mei-
.nung: man ist überzeugt, daß die Staaten zur Erhaltung des Gleichgewichts berechtigt
und verbunden seien 72 , daß deshalb die Glieder der Völkergemeinschaft durch
Zwangsmittel zur Einhaltung ihrer Pflichten veranlaßt werden könnten. Aber der
Krieg wird überall nur als ultima ratio angesehen. Insofern wirken die älteren
iustum-bellum-Vorstellungen fort.
Mit Entschiedenheit auf den Boden der völligen Unabhängigkeit und Handlungs-
freiheit der Staaten stellte sich nur DIETRICH HEINRICH LUDWIG VON ÜMPTEDA.
Er verfocht die Ansicht„ daß kein Staat befugt sei, dem anderen Grenzen der Er-

ee CHRISTIAN WoLFF, Jus gentium methodo scientifica pertractum, § 646, Anm. § 650
(Ausg. 1764; Ndr. London, Oxford 1934).
10 EMER DE VATTEL, Le droit des gens 3, 3, §§ 42 ff. (Leyden 1758); dt. 1763; neue dt. Ausg.
v. Wilhelm Euler (Tübingen 1959).
71 Ebd. 1, 3, § 37; Rechtsgrund ist ihm die Unabhängigkeit der Staaten. Mit ähnlichen Argu-

menten vertritt auch Christian Wolff das Prinzip der Nichtintervention; zum Ganzen
KARL MARIA HETTLAGE, Die Intervention in der Geschichte der Völkerrechtswissenschaft
und im System der neuen Völkerrechtslehre, Niemeyers Zs. f. Internationales Recht 37
(1927), bes. 26 ff.
72 KARL GOTTLOB GÜNTHER, Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten, Bd. 1 (Alten-

burg 1787), 361. Schon 1752 erklärte Joir. JACOB MOSER, Grund-Sätze des Europäischen
Völcker-Rechts in Kriegs.Zeiten 1, 1, 4 (Tübingen 1752), 2 ohne weiteren Kommentar,
die Erhaltung der Freiheit und des Gleichgewichts sei als rechtmäßige Ursache angesehen
worden, zu den waffen zu greifen.

974
m. 3. Handelsbilanz und Gleichgewicht der Handlung Gleichgewicht

weiterung seiner Macht vorzuschreiben und ein System des Gleichgewichts der euro-
päischen Staaten gegeneina7ider zu bestimmen 73 •

c) Deutsches Gleichgewicht. In einer Flugschrift des Jahres 1675 findet sich die
Klage, daß es kaum eine abenteuerlichere Regierungsart geben könne als die
deutsche, sei es doch fast unmöglich, diese zwei Stücke Imperatoris Auctoritas und
Statuum libertas recht zusammen in einer Bilance zu halten74 • Etwa gleichzeitig trat
innerhalb des Reiches allgemein die Neigung hervor, die deutschen Verfassungs-
zustände als ein Gleichgewicht anzusehen. Einen der ersten Ansätze zur theoreti-
schen Erörterung der Balance zwischen Kaiser und Ständen machte LunoLPH HUGO,
als er die „summa potestas" in zwei Aufgabenkreise aufteilte und dem Oberstaat, dem
Reich, die Sorge für die allgemeine, den Ständen dagegen die Sorge für die spezielle
Wohlfahrt ihrer Gebiete zuwies. Eine Generation später nahm WoLRAD Bonmus
den Komplex in seiner Dissertation nochmals auf 75 • Darauf ist hier nicht weiter ein-
zugehen, weil das nicht eigentlich zum politischen Gleichgewicht gehört, sondern
ehor zur hfotoriaohon Entwicklung. drn1 Bogri:ffG dcG BundcGoto.atco. Daß man das
Reich gelegentlich schon vor 1648 als regionales Gleichgewichtssystem ansah,
wurde bereits erwähnt. Von einem ,,te11tRr.h1m" G-leir.hg11wir.htRpmr.h man r11g11lmäßig
jedoch erst im 18. Jahrhundert; man sah es in§ 2, Art. 8 des Instrumentum Pacis
Osnabrugense begründet 76, man kannte neben dem Gleichgewicht von Kaiser und
Ständen ein Gleichgewicht der Reichsstände unter sich77 , und man verstand- zurück-
greifend auf Pufendorf - die heilsame Harmonie des Reiches 78 als deutsche Staats-
raison. So kam es zu einer innigen Verbindung von politischen und verfassungs-
rechtlichen Anschauungen; das deutsche Gleichgewicht war qualitativ mehr als nur
ein Regional-Gleichgewicht.

3. Handelsbilanz und Gleichgewieht der Handlung

Handelsargumente hatten in der englischen Gleichgewichtspublizistik während des


Spanis'chen Erbfolgekrieges eine erhebliche Rolle gespielt und waren auch in
Deutschland verbreitet worden; sie blieben fortan mit der Gleichgewichtsdiskussion
verbunden. Es ist deshalb angezeigt, einen Blick auf die Benützung der Vorstellung

73 DIETRICH HEINR. Lunw. v. ÜMPTEDA, Litteratur des gesammten sowohl natürlichen

als positiven Völkerrechts, § 192, Tl. 1 (Regensburg 1785), 224.


74 Der Abgesandte Mercurius in das Heilige .l:tömische Reich (1675), zit. HAVELAAR,

Libertätsgedanke, 64 (s. Anm. 8).


75 LunoLPH HUGO, De statu regionum Germaniae (Helmstedt 1661); Jusrus WoLFRAD

Bonmus, Bilanx justae potestatis inter principes ac status imperii cum imperatore et
electoribus (Rinteln 1689).
76 ÜlIRISTOrH Lunwm PFEIFFER, Das teutsche Gleichgewicht (Frankfurt, Leipzig 1788),

4. 11 f.
77 JoH. JACOB MosER, Von denen Teutschen Reichsständen der Reichs-Ritterschaft und

denen übrigen unmittelbaren Reichs-Glidern, in: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 3/1
(Frankfurt 1767), zit. PFEIFFER, Gleichgewicht, 49 ff.
78 ZEDLER Bd. 43 (1745), 196 ff., Art. TeutAohe f\fa,a.tR-R.a,iRon. PuFENDORF, De statu im-

perii 8, 4 formulierte das Problem mit der Frage, wie trotz der Ungleichheit der Macht
die gleiche Sicherheit und Freiheit aller hergestellt werden könne.

975
Gleiehgewicht m. 3. Handelsbilanz und Gleichgewicht der Handlung
vom Gleichgewicht in der nationalökonomischen Literatur zu tun. Hier hatte das
Gleichgewicht sein einziges Feld ursprünglich im Zusammenhang mit der Handels-
bilanzlehre, die aus der (schon dem Spätmittelalter .vertrauten) Geschäftsbilanz
entwickelt wurde. Klar formuliert wurde die Handelsbilanzlehre erstmals zu Reginn
des 17. Jahrhunderts, ist der Sache nach jedoch älter und reicht bis in das 14. Jahr-
hundert zurück 79 • Auch sie ist somit nicht Ergebnis der Mechanisierung des Denkens
im 17 .•Jahrhundert, ebenso ist sie nicht in Analogie zum politischen Gleichgewicht
entwickelt worden, vielmehr war sie im wesentlichen schon vor der Durchsetzung
des politischen Gleichgewichtsdenkens fertig. Beide Theorien sind jedoch später,
vor allem im 18. Jahrhundert, in sehr enge Verbindung gebracht worden, so daß das
Gleichgewicht der Handlung schließlich einen integrierenden Bestandteil der Vor-
stellungen vom Gleichgewicht der Macht bildete.
Der einfachste Grundsatz der Handelsbilanz besagt, daß ein Volk im Handel das
VP.rliim\ wa.s ein ande.res gewönne, weil· jedes Defizit durch Edelmetallo 11uozu
gleichen sei. So is ... this Ballance of Trade, an excellent and politique invention,
to show us the difference of waight in the Oommerce of one kingdom 11n:th another:
that is whether the Native Commodities exported, and all the forraine Commodities
imported, doe ballance or overballance one another in the Scale of Oommerce heißt es
1623 bei JOHN M1ssELDEN80. Die grundlegende Formulierung hat jedoch nicht
Misselden, sondern THOMAS MuN der englischen Handelsbilanzlehre gegeben8 1 . Es
kann hier weder darum gehen, seine Ansichten im einzelnen zu referieren, noch die
Handelsbilanzdiskussion der folgenden anderthalb Jahrhunderte zu verfolgen. Ins-
besondere in Engl11nd ist sio in nllor Breite geführt worden, wobei der urRpriinglich
einfache Gedanke außerordentlich variiert wurde 82 . Die Grundförderung, daß es ein
Gleinhgewicht der Ein- und Ausfuhr geben müsse und daß es gegebenenfalls mit
Zwangsmaßnahmen durchzusetzen sei, blieb dabei natürlich unverändert.
Die deutschen Kameralisten standen anfangs merklich ziirück. Ausgeprägt liegt die
Lehre erst in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts vor, wobei der englische Einfluß
unverkennbar ist. So ist WILHELM VON SCHRÖDER an J osiah Child orientiert. Auch er
unterscheidet zwei Bilanzen, eine allgemeine Bilanz, die Gewinn und Verlust des
Staates vergleicht und feststellt, ob ein Passivsaldo entstanden ist und nun in Geld
ausgeglichen werden muß, und eine besondere Bilanz, die ausweist, aus welcher
Warenkategorie Verlust und Gewinn resultieren. Es ist bekannt und allbereit erwiesen,
daß die Ein- und Ausfuhr des Geldes in einem Lande mit den Oommerm:en mü.~.~e
balanciret werden, dergestalt, daß ein Land, welches mehr verkauft als kauft, so viel

79 ELI FILIP HECKSCHER, Der Merkantilismus, Bd.2 (Jena 1932), 225ff. Das Wort 'balance

of trade' taucht r.mmit, im 16. ,fahrhundert auf. Vgl. zu dem Abschnitt insgesamt KARL
PiIBRAM, Die Idee des Gleichgewichts in der älteren nationalökonomischen Theorie, Zs. f.
Volkswirtschaft, Sozialpolitik u. Verwaltung 17 (1908), 1 ff.; EDMUND v. HEYKING, Zur
Geschichte der Handelsbilanztheorie, Tl. 1 (Berlin 1880), 14 ff. u. SOMMER, Kameralisten,
Bd. 1, 75 ff. (s. Anm. 48).
80 JOHN MissELDEN, The Circle ofCommerce (London 1623), 116 f., zit. FRIEDRICH RAFFEL,

Engfa1che Freihändler vor Adam Smith (Tübingen 1905), 12.


81 THOMAS MUN, England's Treasure by Forraign Tmdo or thc Balance of our Forraign

Trade is the Rule ofour Treasure (1664; Ndr. London 1952).


82 PiIBRAM, Idee des Gleichgewichts, 9 ff.

976
m. 3. Handelsbilanz und Gleichgewicht der Handlung Gleichgewicht

Ge7iies einzunehmen habe, als die verkaufte Waren mehr wert sein, denn die, welche es
gekauft habe. Hingegen wo ein Land mehr einkauft, als es wieder verkauft, so muß es
den Überfluß mit barem Geld ersetzen, und gut machen 83 • Jedes Volk wird soviel ärmer,
wie Geld aus dem Lande läuft, gleichwohl verbietet die „Natur der Commercien"
Geldausfuhrverbote, wie Schröder überhaupt eine weitgehend freie Wirtschafts-
politik betrieben wissen will. Das Geld ist das „Pendulum Commercii" und darf in
seinem Gang nicht aufgehalten werden, sollen nicht Handel und Wandel ins Stocken
kommen. Bei PHILIPP WILHELM HoRNIGK geht die Handelsbilanz die erste innige
Verbindung mit dem politischen Gleichgewicht ein, wie es ja schon der Titel seines
Buches „Österreich über Alles" ausdrückt 84• Ein Land, das von der Natur so gütig
angesehen ist, daß es neben Gold und Silber auch alle anderen menschlichen Bedürf-
nisse erfüllen kann, das mag sich wohl das Vollkommenste preisen, weilen es eine kleine
Welt für sich selbst und von andern allerdings independent darstellet 85 • So kann der
fü1t11rmir.hii;mh11 KaiRArf\t,aat iliA 11in11 Rr.h11.l11 i111r W11.11.g11 il11.rAt11ll11n, il11.A iihrig11 F.nrop11.
die andere: Öilterreiuh balanuiert Europa - wenn es nur will. Den Weg dazu will
Hornigk zeigen. Was Osterreich ermangele, sei leicht zu ersetzen, meint er, es müsse
erröten, wenn es gegen den Überfluß auf die Waagschale gelegt werde. Deshalb ist
eine Bilancia der in denen Kayserlichen Erblanden fallender und abgehender Güter
aufzustellen. Hornigk weiß dabei, daß Macht und Reichtum immer relative Begriffe
sind. Denn mächtig und reich zu seyn, ist zu einem Relativa geworden, gegen diejenige,
so schwächer und ärmer seynd. Unsere Voreltern konnten, verglichen mit Frankreich,
England und Holland, zufrieden sein, jetzt aber müsse Österreich sich bemühen,
daß wir in Gegenhaltung unserer Nachbarn wieder auf den alten Fuß, das ist, wenigst
auf einen mit der Wohlfahrt unserer Nachbarn gleichen, wo nicht höheren Grad kom-
m;m. 86. Hi11r Rinn di11 kl11.RRiRr.h11n 'l'11nd11mmn deR merkantilen Gleichgewichtfldenk11nR
ausgeformt, die wirtschaftliche und machtmäßige Aufrechnung der Staaten gegen
einander und das Bestreben, die Bilanz für das eigene Land günstiger zu gestalten.
Die Handelsbilanz tritt als technisch selbstverständlich hinter die staatspolitische
Diskussion zurück.
Das 'Gleichgewicht der Handlung', wie das 18. Jahrhundert den Komplex durchweg
bezeichnete, mußte aus den Prämissen des merkantilen Denkens une influence
essentielle et 1Mme decidee sur la balance du pouvoir haben, denn eine Nation, die
sowohl eine entwickelte Landwirtschaft wie ein entwickeltes Gewerbe besitzt et qui
par suite une naturelle de ces avantages jouit d'une balance de commerce egalement
favorable et assuree . . . peut aspirer au titre et au role de puissance respectable ...
Elle peut et elle doit meme selon ses grands interets prendre toujours part l' equilibre a
a
et la balance politique du pouvoir pour s' assurer une existence permanente et floris-
sante, so hat der preußische Minister EwALD VON HERTZBERG 1786 den Zusammen-

83 W.LLHJ!JLM v. SC.IU{ÜU.l!JR, Fürstliche Schatz- und Rentkammer (1685; Ausg. 1752), 136 f„

zit. SOMMER, Kameralisten, Bd. 2, 89, Anm. 1.


84 PHILIPP WILHELM v. HoRNIGK, Österreich über alles/ wann es nur will. Das ist: wohl-

meindener Fürschlag/ Wie mittelst einer wohlbestellten Lands-Oeconomie die Kayserl.


Erbland in kurzem über alle andere Staat von Europa zu erheben (0. o. 1684); vgl. SOM-
MER, Kameralisten, Bd. 2, 141 ff.
85 HoRNIGK, Österreich, 39.
ss Ebd., 65. 29 f.

62-90386/1 977
Gleichgewicht m. 4. Verständnis im spiiteren 18. Jahrhundert
hang formuliert 87 • Hier wie bei den meisten anderen Autoren der 2. Jahrhundert-
hälfte ist der Einfluß des französischen Merkantilisten Forbonais spürbar, der 1767
den innigen Zusammenhang beider Gleichgewichte ausführlich dargelegt hatte.
Erwähnenswert ist aus dem deutschen Schrifttum hauptsächlich JOSEPH VON
SoNNENFELS. Er denkt ganz populationistisch. Als der Grundsatz die Oberhand
gewonnen habe, daß die Gückseligkeit des Staates in der Menge seiner Bürger be-
stehe, habe man den Wert der Handlung erkannt. Der Außenhandel werde nur mit
den Überschüssen der Produktion betrieben, also mit dem, was die N ationalverzeh-
rung selbst entbehren kann 88 • Je weniger eine Nation an eigenen Bedürfnissen von
anderen Staaten empfange, und je mehr sie anderen Nationen verkaufen könne,
desto vorteilhafter sei ihre Handlung. Der Staat habe darauf zu achten, daß bei der
Einfuhr der „größere Verlust" vermieden wird. Die Vergleichung der Einfuhr und
Ausfuhr wird Bilanz genannt, sie ist die Richtschnur, um zu ermessen, in welchen Teilen
die Handlung vorzüglich Hülfe erwartet. Eine aktive Handelsbilanz (Sonnenfels unter-
scheidet sie als numerische Bilanz strikt von der Bilanz des Vorteils, die festzustellen
hat, auf welcher Seite die größere Zahl von Menschen beschäftigt ist) ist nötig, um
nicht den Wechsel mit einem Staat so sehr wider sich zu haben; sie trägt auch dazu bei,
das Gleichgewicht der Macht, welches gewissermaßen auf dem Gleichgewichte der II and-
lung beruhet, zu erhalten 89 • Gegen diese enge Verbindung erhob vor allem JOHANN
HEINRICH GOTTLOB VON J USTI entschieden Widerspruch und bemühte sich, beide
Gleichgewichte als „Chimäre" hinzustellen. Auch ihm ist der Gedanke der Handels-
bilanz der große und einzige Grundsatz aller Commercien90 , und so fordert er mit aller
Eindringlichkeit, daß der Export den Import übertreffe; nur so könne der Staat
seiner obersten Pflicht wirklich nachkommen, der Beförderung der Glückseligkeit.
F.r wnrnt, jedoch davor, dM Wort vom Uleic:hgewicht der Handlung zu wörtlich zu
nehmen, strikt genommen bedeute es nämlich nichts anderes als den schließlichen
völligen Stillstand des Handelsverkehrs unter den Nationen und widerspre0he damit
der innersten NaLur des Handels, der vor allem Freiheit brauche. Anerkennen will
er deshalb nur ein Gleichgewicht des Fleißes, der Arbeitsamkeit und Geschicklichkeit91 .

4. Verständnis des BegrUfs im späteren 18. Jahrhundert


a) Ungebrochene Tradition in Publizistik und diplomatischer Benutzung. In den vor-
hergehenden Abschnitten wurde dargelegt, wie sich das Gleichgewichtsdenken auch
in Spezialfächern ausbreitete. Das gilt ebenso für die Geschichtsschreibung; hier ist
insbesondere die Göttinger Schule der Staatenhistorie mit ihrer regelmäßigen Ver-
wendung des Begriffs zu nennen, von JOHANN JACOB ScHMAuss' „Historie der
Balance von Europa" (1741) bis zu ARNOLD HERMANN LUDWIG HEERENS „Hand-

87 EDW.ALD GRAF V. Hl<l1t'l'Zßl<J1tU, Sur la veritable riohesse des etats, In balanco du commcrcc

et celle du pouvoir (Berlin 1786), 7. 9, Oeuvres poiit„ t. l (Riirlin 1Wfl), 27ß.


88 JOSEPH v. SoNNENFELS, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft,

2 .. Aufl.., Dd. 2 (Wie.ll 1771), 17.


89 Ebd., 28 f. 508; die „numerische Bilanz", ebd., 501.
90 JoH. HEINR. GOTTLOB v. JusTI, Von Manufakturen und Fabriken, Tl. 1(Berlin1780), 11,

zit. SOMMER, Kameralisten, Bd. 2, 291, Anm.


91 Ders., Die Chimäre des Gleichgewichts der Handlung und Schiffahrt (Altona 1759), 63.

978
a) Publizistik und diplomatische Benutzung Gleichgewicht

buch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien", erst-
mals 1809. Auch lexikalisch wurde der Begriff früh erfaßt: einem die Waage halten,
so in Staats- und anderen politischen Händeln gebraucht wird92 , heißt es 1717 noch
sehr nichtssagend. Oder 1727 und 1729 heißt es: Balance, Bilanx, eine Waage, und
wird dieses Wort in Staatssachen gleichnisweise also gebrauchet, daß in der Balance hal-
ten, so viel heißet, als verhüten, daß ein Potentate oder Staat nicht mächtiger wird denn
der andere, lat. vires partium in equilibrio tenere, in wörtlicher Übereinstimmung bei
HüBNER und SPERANDER93 . In ZEDLERS „Universallexikon", das der „teutschen
Staatsraison", d. h. dem deutschen Gleichgewicht, ausführliche und interessante Be-
merkungen widmete, wird das politische Gleichgewicht erstaunlich kurz abgehandelt.
Es wird nur lapidar vermerkt, es komme auch das Wort Balance in der Staatsklugheit
vor, da gelehret wird, daß die Balance derer Reiche wohl zu beobachten, das ist, daß ein
Reich nicht mächtiger als das andere werde94 • Diese lexikalischen Aussagen sind, ver-
glichen mit der 8clbstverstiindlich.keit und Diffcrcnzicrthcit, mit der die üleichge·
wichtsterminologie überall verwendet wurde, nur dürftig zu nennen; sie erlauben
kaum den Schluß, daß das Gleichgewicht hier tatsächlich als zentraler politischer Be-
griff verstanden wurde. Das ist angesichts der umfangreichen Gleichgewichtspublizi-
HLik lilJetTusuhewl. Di.e P11l.tli:t.i.1:1Li.k wur 1uil. ulluu Spu:t.i1lkul.iu11u11 ÜL\S GuLhu1ke11s wuhl
vertraut und wandte ihn auf alle großen ]fragen der ieit an; auch beschäftigte sie
sich dabei eingehend mit dem Aspekt der „Commercien", mit der wirtschaftlichen
Entwicklung der einzelnen Staaten.
Die Haltung der meisten Autoren zum Gleichgewicht war fraglos positiv. Im Grund-
sätzlichen bestand Übereinstimmung: die Ruhe von Europa gründe sich hauptsäch-
lich auf dem weisen Gleichgewicht, da der Stärke einer Monarchie die vereinigte Macht
anderer Kronen entgegengestellet wird. Wenn dieses Gleichgewicht aufgehoben würde,
so wäre zu besorgen, daß eüie allgemeine Staatsverändemng er/olgete und wu/ den
Ruinen der Fürsten, welche ihre Uneinigkeit zu sehr geschwächet, eine neue Monarchie
aufgerichtet werden möchte95 • Man unterschied sich nicht in der Auffassung und Be-
wertung des Prinzips, sondern darin, wie es politisch einzusetzen sei. Es war nur
natürlich, daß sowohl der polnische wie der österreichische Erbfolgekrieg und später
der Siebenjährige Krieg in Propaganda und öffentlichen Diskussionen unter dem Ge-
sichtspunkt des Gleichgewichts erörtert wurden96 • Jede Seite versuchte, das Gleich-
gewicht nach ihrem eigenen Interesse anzurufen. FRIEDRICH ließ unmittelbar nach
Antritt der Regierung diplomatisch und publizistisch gegen Wien ins Feld führen,
Österreichs Politik gefährde die „liberte germanique", das „systeme de l'Empire",
die Ruhe inpeutschland und Europa; Wien wolle boulverser la balance des pouvoirs97 •

92 NEBRING 7. Aufl. (1717), 129.


93 HÜBNER 13. Aufl. (1720), 181; SFERANDER (1727), 62 f.
94 ZEDLER Bd. 3 (1733), 177.

°
9 FRIEDRICH II. VON P.REUSSEN, Anti-Machiavell oder Versuch einer Critic über Niccolo

Machiavells Regierungskunst eines Fürsten, nach des Herrn von Voltaire Ausgabe ins
Deu~che übersetzt (Frankfurt, Leipzig 1745), 388.
es Zur Gleichgewichtspublizistik des 18. Jahrhund~rts vgl. bes. KAEBER, Idee des Gleich-
gewichts, 77 ff.
97 EntwwfF1·iedl'ich dtll! Großen zu dem Expu!!e des motifä qui ont oblige le Roi de donner

des troupes auxiliaires a l'Empereur (1744), in: Preußische Staatsschriften aus der Re-
gierungszeit König Friedrichs II., hg. v. REINHOLD KosER, Bd. 1 (Berlin 1877), 448.

979
Gleichgewicht m. 4. Verständnis im späteren 18. Jahrhundert
Nach Meinung Preußens war es ein Gebot der gesunden Staatskunst, daß jeder die
preußische Macht als das Gleichgewicht und den Damm ansehen müßte, welcher die
österreichische Obermacht im deutschen Reiche in Schranken hält98 , eine Auffassung,
die schließlich konsequent zum Deutschen Fürstenbund führte 99 • Umgekehrt spranh
Wien davon, daß man, auf daß aber das Gleichgewicht von Europa gerade bleibe und
nicht einige, so von dem Souveränitätsgeiste aufgeblasen und von der Süßigkeit des
Regiments trunken gemacht sind, die Autorität des Reiches an sich ziehen, solche Gren-
zen setzen müsse, welche die Macht eines oder des andern mäßigen, unter ihnen das
Gleichgewicht in dem Maße, worinne es bleiben soll, halten und das nötige Gegengewicht
geben 100 • Erst in zweiter Linie interessierte innerhalb Deutschlands das europäische
Gleichgewicht: Trete man Preußen nicht entgegen, heißt es 1761 in einer offiziösen
österreichischen Schrift, so könne es selbst noch dahin kommen, daß England die
Haltung des Gleichgewichts in Europa verliere und Preußen das System reguliere 101 •

b) Erste ausführliche Kritik vom Standpunkt des Rechts und der Staatsklugheit.
Zur Entwicklung des Begriffs über den in Utrecht erreichten Stand hinaus trugen
alle diese Schriften nichts bei. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist es, daß die
Kriege der J ahrbundertmitte jet>:t a.uch in De11tR0h land w11.0hi1ende Zweifel an Sinn
und Wirksamkeit des Prinzips aufkommen ließen und zu den ersten entschiedenen
Ablehnungen führten 102 , Damit verbanden sich naturrechtliche Argumente. Es darf
aber nicht übersehen werden, daß diese Äußerungen - jedenfalls nach der Quanti-
tät - nicht die herrschende Meinung darstellten. Sehr viel häufiger blieben nach wie
vor die fraglosen Verwendungen des Gleichgewicht!!gedankens.
Der zunehmende Zweifel aus realistischer Sicht der Dinge läßt sich an FRIEDRICH
DEM GROSSEN gut delllornitrieren. Seine Gleiehgewieht~definition de~ „Antimaehia-

98 Das wahre Interesse des Teutschen Reiches (Berlin 1761) zit. KAEBER, Idee des Gleich-

gewichts, 114 f. Interessant ist, daß die Schrift wohl ein deutsches aber kein europäisches
Gleichgewicht anerkennen will.
99 HERTZBERG, Sur Ja veritable richesse, Oeuvres polit„ t. 1 (Berlin, Paris 1795), 300:

cette association ... pourra servir a ... renouveller l'idee de l'ancien equilibre de l'Empire
Germanique (1786); ders„ Dissertation sur !es Revolutions des Etats, ebd., 157: L'Empire
Gerrnwniq·ue . . . pu.ruU cree pur lu 'IUJ.t•ure pu·ur tenfr lu bulunce dunl:J cette purtie d·u 'ffW'tule et
pour y empecher toute subvention de l' equilib~e entre les autres Puissances et taute revolution
trup yrurule et dunyere·u11e a lu lfttrete et alu lilJerte yenerule (1783). Vgl. WILHELMINE PILLEN,
Die Publizistik des deutschen Fürstenbundes (phil. Diss. Frankfurt 1925); für Johannes v.
Müller vgl. PAUL STAUFFER, Die Idee des europäischen Gleichgewichts im politischen
Denken Johannes v. Müllers (Basel 1960), 36 ff.
100 Das entlarvte Frankreich (1745), zit. KAEBER, Idee des Gleichgewichts, 90.
101 Zit. ebd„ 108 (anonym): Staatsbetrachtungen über gegenwärtigen preußischen Krieg in

Teutschland (Wien 1761 ), 53.


102 Vgl.. KAEBER, Idee des Gleichgewichts, 94 ff.; zuerst C. FRIEDRICH STISSER, Freymüthige

und bescheidene Erinnerungen wider des berühmten Göttingischen Professors Herrn Dr.
Kahle Abhandlung von der Balance Europens (Leipzig 1745). Trotz aller Kritik blieb die
herrschende Meinung der Ansicht, die 'Idee des europäischen Gleichgewichtes sei groß uml
wohltätig. Wie dem gewaltigsten so dem geringsten Staat, werden durch die Teilnehmung der
zunächst interessierten und, ferners der übrigen Staaten seine Rechte gesichert, JOHANNES v.
MÜLLER, Darstellung des Fürstenbundes (1787), · SW hg. v. Joh. Georg Müller, Bd. 9
(Tübingen 1811), 52.

980
h) Erste Kritik Gleichgewicht

vell" wurde vorstehend zitiert; sie entsprach der allgemeinen Auffassung.Fünf.Jahre


später, im Avant-propos der „Histoire de mon temps" hieß es dagegen sehr des-
illusioniert: Les passions des princes n'ont d'autre /rein que le terme ou leurs forces
se trouvent impuissantes: ce sont les lois constantes de la politique europeenne, auf die
immer Rücksicht zu nehmen sei1 0 3 • ·Bei einer derartigen Einschätzung des gegen-
seitigen Verhaltens konnte das Gleichgewicht kaum noch positive Bedeutung haben,
sondern allenfalls ein dürftiges Regulativ sein.
Die Kritik der Aufklärung am Gleichgewicht fonnulierLe am ausführlichsten JusTI;
er versuchte sogar nachzuweisen, daß die Universalmonqrchie für wie W ohl/altrt
Europas und überhaupt des menschlichen Geschlechts die größte Glückseligkeit wirken
würde 104 ; nicht auf die Wahrung des Besitzstandes der einzelnen Fürsten komme es
an, sondern darauf, daß die Bewohner Europas in vollkommener Ruhe und Sicher-
heit in ihren Hütten leben könnten, daß der Frieden auf jeden Fall gewahrt bleibe.
Allerdings müsse eine solche Universalmonarchie auch im lnnern richtig aufgebaut
sein und die Freiheit garantieren. So gingen in seiner Argumentation Ablehnung des
außenpolitischen und Forderung nach einem innenpolitischen Gleichgewicht eine
enge Verbindung ein, die später modifiziert von Kant wieder aufgenommen wurde
und im 19. Jahrhundert eine gewisse Rolle spielt.e. Der OptimiRmm1 OCR frühen
Liberalismus glaubte die Möglichkeit des Krieges auf ein Minimum reduziert, wenn
oiA Völker iihcr Rieb selhRt hcRtimmcn könnten100 ••Tusti war realistüich genug, um
103 FRIEDRICH 11., Histoire de mon temps, Avant-propos, in: Politische Testamente der

Hohenzollern, Bd. 2 {Leipzig 1911), 86. Der Satz findet sich in der zweiten Redaktion von
1746 nioht mehr; vgl. Werke Friedrichs d. Gr., hg. v. CusTAV BERTHOLD VoLZ, Bd. 2
(Berlin 1912), 2. In der dritten Redaktion von 1775 ist die Bemerknng dann ganz zurück~
genommen. Hier spricht Friedrich sogar von dem unter den ]j'ürsten .ll:uropas so nöt.igen
Gleichgewicht, ebd., 96. Ähnliche Schwankungen lassen sich auch beim Vergleich der poli-
tischen Testamente feststellen: 1752 eine ausführliche Würdignng und die Bemerkung, das
System empeche les grarules conlzuetes et rerul les guerres infructueuses, 1768 der Satz, nur ihre
ehrgeizigen Pläne verbänden die Fürsten untereinander, ders., Politische Testamente. v.
1752 u. 1768, in: Die politischen Testamente Friedrichs d. Großen, hg. v. GusTAV BERTHOLD
VoLz (Berlin 1920), 47. 192.
104 Vgl. seinen Aufsatz unter diesem Titel v. 1748, Gesammelte Politische und Finanz-

schriften, Bd. 2 (Kopenhagen, Leipzig 1761), 236 ff. J\1st.i war der erste entsehiedenA VAr-
treter der Ideen Montesquieus in Deutschland; vgl. seine „Abhandlung von dem Gleich-
gewichte der Hauptzweige der obersten Gewalt, worauf die Glückseligkeit und FreyhP.it
des Staats hauptsächlich ankommt", ebd., 3 ff. Die Anwendung des Gleichgewichtsdenkens
auf die Innenpolitik war allerdings auch in Deutschland schon wesentlich älter. Darinnen
besteht der Larulschaft Deputierten Amt urul Pfiicht, nämlich ihre Herren urul die Untertanen
in einer Bilanz zu halten, schrieb JoH. JOACHIM BECHER, Politischer Diseurs (1668), zit.
HERBERT HASSINGER, Johann Joachim Becher 1635-1682. Ein Beitrag zur Geschichte des
Merkantilismus (Wien 1951), 78. Im 18. Jahrhundert lassen sich wiederholt Belege für die
Forderung nach einem sozialen Clcichgcwicht (der Stände) aufweisen. Das 'Gleichgewicht'
i. S. von „Gewaltenteilnng'' nahm jedoch erst Justi auf, ohne bis zum Ausbruch der Fran-
zösischen Revolution sonderlich viele Nachfolger zu finden.
105 So meinte KANT, daß •.. das Volk, dem er selbst kostet, die entscheiderule Stimme habe, ob

Krieg sein solle oder nicht ..• Denn dieses wird es wohl bleiben lassen, aus bloßer Vergröße-
rungsbegierde ••• sich in Gefahr persönlicher Dürftigkeit ... zu versetzen, Über den Gemein-
spruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), AA
Bd. 8 (1912), 311.

981
Gleichgewicht m. 4. Verständnis im späteren 18. Jahrhundert

zuzugeben, daß der Krieg nie ganz zu vermeiden sein werde, er lehnte es aber ab,
deshalb ein politisches Lehrgebäude zu entwickeln, das den Krieg ohne Grund er-
laube, wie es das berühmte System des Gleichgewichts tue 106 • Das Gleichgewicht
habe in Europa genug Blutvergießen, Elend und Unglück gebracht, es sei deshalb
an der Zeit einzusehen, daß es weder mit der Natur, dem Wesen und Endzweck der
Staaten - der Vermehrung der Glückseligkeit - übereinstimme, noch mit der ge-
sunden Vernunft, dem Völkerrecht, der Gerechtigkeit, der natürlichen Billigkeit und
der wahreri Staatsklugheit, erlaube es doch, einzelnen Staaten den inneren Ausbau
ihrer Kräfte zu verbieten und notfalls dagegen mit Gewalt einzuschreiten107 •
Im 5. Satz seiner „Ideen einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"
(1784) bezeichnete KANT die Schaffung einer vollkommen gerechten bürgerlichen
Verfassung als höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung und fügte (am
Beginn des 7. Satzes) hinzu, die Lösung dieses Problems sei von dem Problem eines
gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig. Es müsse ein Völkerbund ge-
schaffen werden, in dem die Sicherheit und die Rechte auch des kleinsten Staates
nicht von eigener Macht oder eigener rechtlicher Beurteilung, sondern von einer
vereinigten Macht und von der.Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens
abhängen108 • Den hier formulierten Zusammenhang zwischen innerer und äußerer
rechtlicher Gestaltung besprach er ausführlicher in der Schrift „Ühflr rlfln Gflmflin-
spruch" und vor allem in der Schrift „Zum J!jwigen Frieden" (1795), in der er im
1. Definitivartikel seine Forderung nach republikanischer, d. h. gewaltenteilender
Staatsform und im 2. Definitivartikel die Forderung nach einem Völkerbund (der
kein Völkerstaat sein müßte) begründete 109 • Vom Gleichgewicht. hielt er nichts,
denn ein dauernder allgemeiner Friede durch die sogenannte Balance der Mächte in
Europa i.~t, wü~ Swift.~ Hf1,11..~, wefoh.e.s von ei:nem Bau.mei:ster so vollkommen nach allen
Gesetzen des Gleichgewichts erbauet war, daß, als sich ein Sperling drauf setzte, es sofort
einfiel, ein bloßes Hirngespinst 110 • In der Rechtslehre bezeichnete er den Krieg als

10 &J. H. G. v. JusTI, Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa (Altona 1758), 9 f.
107 Ebd., 116. Stark an Justi angelehnt ist der erste ausführliche Lexikonartikel „Gleich-
gewid1t der Völker", Dt. Enc., Bd. 12 (1787), 551 ff. Der Verfasser verbarg seine Vorbehalte
gegon das Gleichgewicht nicht; er kam wie Justi zu dem Schluß, daß dieses ganze System
sich von Seiten der Gerechtigkeit nicht vertei.digen "lasse und daß es auch der vernünftigen
StaatBklughcit nicht gemäß sein könne, denn .es erfordere den wirkliche1i Gebrauch der Gewalt
(554). Das Glück des Krieges sei ungewiß, der Krieg zudem immer ein Übel. Bündnisse
seien zum Schutz gegen einen zu mächtig anwachsenden Staat sicher hilfreich, besser sei es·,
durch eine vollkommene Reg,ier~ng sebie innerlichen Kräfte auf alle mögliche Art zu vermehren
(555). Während Justi den Präventivkrieg zugunsten des Gleichgewichts konsequent ab-
lehnte, wurde die Frage hier mit Vattel beantwortet.
108 KANT, Ideen einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. 8 (1912),

24; vgl. ebd., 22.


109 Ders., Zum Ewigen Frieden, AA Bd. 8, 349 ff. 3fi4 ff. Vgl. 11,11m gan7.An KomplAx VF.T'I'

VALENTIN, Geschichte desVölkerbundgedankens in Deutschland (Berlin 1920); JACOB TER


MEULEN, Dei· Gedanke der InLe1·11aLionalen Organisation in seiner Entwicklung, 2 Bde.
(Den Haag 1917-1940); HEINZ GoLLwri·z.1.ai,, Europabild und Europagedanke (München
1951); KURT v. RAUMER, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renais-
sance (Freiburg, München l\J53).
no KANT, Über den Gemeinspruch, AA Bd. 8, 312.

982
e) Gesehiehtsphilosophisehe Vertiefung Gleichgewicht

das auf den Naturzustand gegründete Recht des Gleichgewichts aller einander tätig
berührenden Staaten 111 • Einen ewigen Frieden hielt Kant zwar für eine unausführ-
bare Idee, er betonte jedoch, daß die darauf abzielenden politischen Grundsätze es
nicht seien, nämlich solche Verbindungen 'der Staaten zu schaffen, die zur kon-
tinuierlichen Annäherung an den ewigen Frieden dienen.

c) Gleichzeitige geschichtsphilosophische Vertiefung. Verwarf Kant das Gleich-


gewicht vom Rechtsstandpunkt als ungenügend, so wurde es von seinem Zeitgenos-
sen HERDER geschichtsphilosophisch vertieft. Herder nahm eine optimistischere
Haltung ein.· Er hielt dafür, daß nicht Krieg, sondern Friede der Naturzustand des
unbedrängten Menschengeschlechtes sei und daß sich langsam das Wachstum der
wahren Humanität vollziehe. Jedes humanitätswidrige Handeln sah er auf einem
gestörten Gleichgewicht beruhen. Es sei aber ein Naturgesetz, daß die in einer Ge-
MellMchaft wirkenden Kräfte Molange gegeneinander liefen, bi!I die widrigen Regeln
sich gegenseitig einschränkten und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Be-
wegung werde. Das Gleichgewicht der Leidenschaften, das Shaftesbury formuliert
hatte, begegnet, wenn es wenig später heißt: Eine Leidenschaft hob das Gleichgewicht
dP.r V P.rt1.11m,ft a11,f, P.inP. rrmi/,p,rp, .~türmt 1:hr P.nf{JP{fP.n, RO hahf\ Rnm. dP.r W P.lt rr.11,f m.P.h.r al.~
ein Jahrtausend den Frieden genommen und eine halbe Welt wilder Völker ward zur
Wiederherstellung des Gleichgewichts erfordert 112 • Ein Gleichgewichtsdenken in dieser
grundsätzlichen Ausprägung steht den dialektischen Anschauungen des 19. Jahr-
hunderts nicht fern. Es weist zurück auf die besonders zu Beginn des 18. Jahrhun-
derts entwickelten Ansichten von einer Einheit in der Vielzahl und von einer vorher-
bestimmten Harmonie; erst jetzt, fast drei Generationen später, beginnen sie, auf
das politische Gleichgewichtsdenken einzuwirken.
Am deutlichsten wird das bei dem Mainzer Historiker NIKLAS VoaT, einem der
akademischen Lehrer Metternichs. Vogt betrachtete das ganze menschliche Leben
unter dem Gesetz von Anziehung und Abstoßung, dem Gegensatz von Liebe und
Haß, verbunden mit einer ständigen Tendenz zum Ausgleich. Die Vorsehung habe,
meint er, einen besseren Plan mit dem Menschengeschlecht als bloß jenen eines
immer vor- und rückwärts gehenden Schattenspiels. Und dieser ist vielleicht der Sieg
der echten Aufklärung: das feste und glückliche Gleichgewicht menschlicher und bürger-

111 KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre,§ 56. AA Bd. 6 (H107), :$46. In§ 60 führt er
aus, daß das Recht des Staates gegen einen ungerechten Feind keine Grenzen habe, und
greift in dem Zusammenhang das alte Problem des ungerechten Feindes neu auf. Es ist der,
dessen öffentlich (es sei wörtlich oder tätlich) geäußerter Wille eine Maxime verrät, die - als
allgemeine Regel - einen Friedenszustand unter den Völkern unmöglich machen würde.
T>e.r(JlP.fohen sei dif V P.rlp,tz:u.n(J öfjwn.tliche.r V e.rträ{Je, mn wP.khM' man 11nrau.~8P.tzp,n kann,
daß sie die Sache aller Völker betrifft, deren Freiheit dadurch bedroht wird und die dadurch
aufgefordert werden, sich gegen einen solchen Unfug zu vereinigen und ihm die Macht dazu zu
n~hmen; - aber doch auch nicht, uni sich in sein Land zu teikn, einen Staat gleichsam auf der
Erde iw.r.~c.hwindr.n Z!f, m,ac.hen. Für den Naturzust.a.nd verweist. Kant. damit selbst. aufMit.t.el
der Gleichgewichtspolitik, ebd., :!49.
112 HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 15. Buch. SW Bd. 14
(1909), 227. 233.

983
Gleichgewicht m. 5. Wendung des Prinzips gegen die Revolution
Zieher Kräfte und Massen 113• So ist ihm das System des Gleichgewichts ein nützliches
·und praktisches Resultat der Geschichte der Philosophie oder Erfahrungen; der Mensch
müsse wegen der ihm innewohnenden Ungleichheit in die Harmonie eines Kunst-
gesetzes gestellt werden, damit er wieder zur allgemeinen Harmonie der Schöpfung
stimme 114 . Diesen Grundgedanken führte er in seinem fünfbändigenWerk „Über die
europäische Republik" (1787/8) breit aus und untermauerte ihn in seinem „System
des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit" (1802) nochmals philosophisch.

5. Wendung des Prinzips gegen die Revolution


a) Diplomatische Belege. Daß das Gleichgewicht trotz der zunehmenden Kritik nicht
abgelebt war, erwies sich bei Ausbruch der Französischen Revolution. Das Prinzip
wurde wiederum für mehr als eine Generation der zentrale politische Leitwert. Zwar
war in den diplomatischen Korrespondenzen anfänglich noch mehr die Rede von
'öffentlicher Ruhe', 'Ruhestand', von der 'cause commune', dem 'Interesse aller',
von dem 'punctum securitatis publieae' 116, aber das waren alles selbstverständliche
Synonyme, und so bedeutet es auch nichts, daß die Verträge von 1793 beim Zu-
standekommen der 1. KualiLiun nur VOll der tranquillite et la sarete de l' Europe
sprachen. Die Abmachungen zu Beginn der 2. Koalition setzten als Ziel fest, une
pm:x sot1:de a.i1ec le reta.blissement de la ballance de l'Europe herbeizuführen116. Spätere
Verträge und Proklamationen äußerten sich genauer: es gehe um eine „ligue gern~­
rale des-Etats de l'Europe", die „une barriere solide contre des usurpaLiurn; futures"
darstelle; nur ein allgemeiner Kongreß dürfe den Frieden schaffen, er habe das Ver-
tragswerk auf eine festere Basis als das bisherige Völkerrecht zu stellen. In der De-
klaraLiun von Frankfurt versicherten die RiindniRp11.rt,ner am 1. 12. 1813, sie er-
strebten un etat de paix qui, par une sage repartition des forces, par un fuste equilibre,
preserve les peuples de.~ calamitß.~117.
b) Gleichgewicht und Prinzip des Beharrens. Blieben die Formeln äußerlich auch
unverändert, so stand dahinter doch ein grundlegender Wandel der Bewertung.

113 Zit. MAGDALENE HERRMANN, Niklas Vogt, ein Historiker der Mainzer Universität

(phil. Diss. Münohen IIH 7), 8.


114 So der Titel einer Sohrift von 1785: NIKLAS VoGT, System des Gleichgewichts als nütz-

liches und praktisches Resultat dor Gosohichto der Philosophie oder Erfahrungen (Mainz
1785); vgl. HERRMANN, Niklas Vogt, 39. 120, Anm. 104.
115 Vgl. d_azu die Korrespondenzen in: Quellen zur Geschichte der Deutschen Kaiserpolitik

Österreichs während der französischen Revolutionskriege, hg. v. ALFRED RITTER v. V1vl!:-


NOT, Bd. 1 (Wien 1873). Die anfängliche Zurückhaltung bei der Verwendung des Terminus
'Gleichgewicht' ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, daß man i;ehr wohl wnßt.fl, 11s
handle sich um mehr als nur eine Störung des Gleichgewichts.
llß Vgl. ,JoAClfTM v. ELBE, Die WiedeI"heI"~Lelluug uer Gleichgewichtsordnung in Europa
uuruh uen Wiener Kon"rl'lß, Ze. f, ausländisches offentlrnhAR KN:ht 11. Viil k11rmr.ht, 4 ( 1HM ),
226 ff.; die beiden Zitate sind aus der enp;lisch-preußischen Konvention von 1793 und den
englisch-russischen Verträgen vuu 1798/1799, in: Reuueil ues princlpaux traltes conclus
par l11R puissances de l'Europe, 2.Aufl., hg. v. CARL v. MAR'l'l!:NS, Bd. 5 (Göttingen 1826),
483 u. Bd. 6 (Göttingen 1829), 557. 561.
117 Declaration de Francfort (1813), zit. CoMTE o'ANGEBERG, Le Uongres de Vienne et !es

traites de 1815, t. 1 (Paris 1864), 79.

984
h) Gleichgewicht und Prinzip des Beharren& Gleichgewicht

Es handelte sich nicht einfach um die Anwendung des überkommenen Prinzips


gegen einen Staat, der eine Kräfteverschiebung zu seinen Gunsten versuchte,
sondern um die Verteidigung der bisherigen staatlichen und gesellschaftlichen Zu-
stände. Das Gleichgewicht erhielt damit einen ganz anderen, sozial vertieften Stel-
lenwert. Sehr deutlich macht diese Gewichtsverlagerung eine Briefstelle von
FRIEDRICH GENTZ. Er glaube, so heißt es dort, daß zwei Prinzipien die moralische
und intelligible Welt konstituieren, das des ständigen Fortschritts und das der not-
wendigen Beschränkung dieses Fortschritts. Regiere dieses allein, so würde alles
versteinern. Die besten Zeiten der Welt sind immer die, wo diese beiden entgegengesetzten
Prinzipien im glücklichsten Gleichgewicht. stehen. In solchen Zeiten muß dann auch
jeder gebildete Mensch beide gemeinschaftlich in sein Inneres und in seine Tätigkeit
aufnehmen . ... In wilden und stürmischen Zeiten aber, wo jenes Gleichgewicht wider
das Erhaltungsprinzip gestört ist, muß ... auch der einzelne Mensch eine Partei er-
greifen ... um nur der Unordnung, d1:e außer 1:hm 1:.~t, m:ne Art 1mn Gegengeun:cht z1t
halten 118 • Ähnlich ging das METTERNICHsche Gleichgewichtsdenken von der Über-
zeugung aus, daß ein erhaltendes und eii+ zerstörendes Prinzip gegeneinander stün-
den und daß dem Ideal der Einheit der gegenwirkenden Kräfte in der Form des
Oleichgewichts zuzustreben Pflicht sei; der ewige Dualismus müsse paralysiert
werden119 • Diese breitere Auffassung des Prinzips kam freilich erst nach Beendigung
tler Kampfe mit dem revolutionaren Frankrefoh nnfl mit Napol11on voll imr Am~­
wirkung und wurde auch dann nur selten formuliert; gleichwohl darf man sie von
Anfang an als die tragende Grundhaltung ansehen, auch wenn die meisten Äuße-
rung11n traditionell anf d11n außenpolitischen Bereich beschränkt blieben. Diese Be-
schränkung ist selbst bei der bekannt11sten Gl11iohg11wiohtRRohrift <for Zeit, bei
G.KN'l'z' „l!'ragmenten aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts",
zu beobachten. Hier findet sich die im 19. Jahrhundert als klassisch aufgefaßte und
oft zitierte Definition, das politische Gleichgewicht sei diejenige Verfassung neben-
einander bestehender und mehr oder weniger miteinander verbundener Staaten, vermöge
deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines anderen
ohne wirksamen Widerstand von irgendeiner Seite und folglich ohne Gefahr für sich
selbst beschädigen kann 120 • Dabei sei nicht an eine möglichst vollständige Anglei-
chung äer Kräfte zu denken, auch sollten nicht alle Staaten gleich an Rechten sein,
wohl aber gleich im Recht und gleich vor dem Recht. Die wahre Gleichheit bestehe
darin, daß dem Kleinsten wie dem größten „sein" Recht gesichert sei. Dieser Rechts-
standpunkt sei mit den polnischen Teilungen verlassen worden; so ist das Jahr 1772
das Anfangsdatum für den Untergang Ufä alten Gleichgewicht1:n;yi;tewi;.
Da es zwischen den Staaten weder eine richterliche noch eine vollziehende Macht
gebe, entwickelt Gentz einige Maximen, mittels deren fortlaufend für Ordnung zu

118 CENTZ an Johannes v. Müller, 28.12.1805, Sehr., hg. v. G1111ta.v SohlARiAr, Bd. 4 (Mann-

heim 1840), 176 f.


119 METTERNICH, Mein politisches Testament (1849-1855), Nachgel. Papiere, Bd. 7 (1883),

636; dors., Übor dio Ungo.rischcn Zustände (1844), cbd., 5!l; dcrs., Profession de foi (1820),
ebd., Bd. 3 (1881), 402; METTERNICH an Lebzeltern in Petersburg (1817), ebd., 51.
12 ° FRIEDRICH GENTZ, Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleich-

gewichts in Europa (1806), Ausg. Sohr., hg. v. Wilderich Weick, Bd. 4 (Stuttgart, Leipzig
1838), 39 f.

985
Gleichgewicht m. 5. Wendung des Prinzips gegen die RevoluLion
sorgen sei. Die wichtigste ist, daß schon die Furcht vor gemeinsamem Widerstand
in der Regel hinreichend sein müsse, jeden in seinen Schranken zu halten. Wer sich
trotzdem zur Übermacht aufschwinge, sei als gemeinsamer Feind des Gemeinwesens
zu behandeln. Das sind die Argumente der völkerrechtlichen Literatur unmittelbar
nach Utrecht. Sie erinnern stark an die oben zitierten Bemerkungen Kants, dessen
Hörer Gentz ja war und über den sie vermittelt sein dürften. Gentz denkt freilich
stärker politisch, d. h. nicht so rechtsbezogen. Als höchstes der Resultate des Gleich-
gewichtssystems erwartet er ein ständiges Schwanken und möchte deshalb lieber,
wie JOHANN PETER FRIEDRICH ANCILLON 121 , von einer'Theorie der Gegengewichte'
sprechen. Anders als Kant will er sich fili:t seinen Wirkungen zufrieden geben. Die
Meinungen über den besten Weg zur Wiederherstellung des europäischen Gleich-
gewichts schwankten naturgemäß auch bei Gentz mit den wechselnden politischen
Verhältnissen. Bis 1806 hoffte er noch, daß eine treue Verbindung Österreichs und
.l'rcuticns .Napoleon zurückdrängen könnte. Wäre Deutschland nicht zerstückelt,
so könnte es wohl dem politischen Weltsystem die Gesetze seiner Bewegung und seines
Gleichgewichts vorschreiben 122 • Nach dem Frieden von Tilsit richteten sich seine
Hoffnungen verstärkt auf England. Von England erwartete er insbesondere, daß es
1l 11 rt1l1 Mn.flmt.111111:111. in Übllr~1::11::1 ~llinen Beitrng .zur Wiederhcr11tcllung des europäÜJehon
Gleichgewichts leisteteU 3 • Endziel war ihm bei allem die Erhaltung d'une societe
cii,ilise124, d. h. die Zurückdrängung der demokratischen Kräfte. In sein Gleioh-
gewichtsdenken gehören deshalb auch seine innenpolitischen Vorstellungen. Das
Prinzip der Volkssouveränität war ihm der Angelpunkt, um den sieh alle revolutio-
nären Systeme drehen, und so war es auch der Ausgangspunkt der Bedrohung
Europas. Er hielt deshalb die Anerkennung des Interventionsrechtes für unabding-
bar. Ein Interventionsverbot wäre nicht nur rnwh dem Recht des Krieges, sondern
auch nach dem der Selbsterhaltung, endlich nach dem aus der höchsten Gemeinschaft

121 .JoH. PETER FRIEDRH1H "Awcn.T.(l"N, Tableau des revolutions du systeme politique de
l'Europe, t. 2 (Berlin 1804), u04: La tranq·uillite de l'Europe et la S'O,rete des ewts ne peuvent
resulter que d'un systeme de cont~efarces; GENTZ, Politisches Gleichgewicht, Ausg. Sohr.,
Bd. 4, 43, Anm.
122 GENTZ, Denkschrift an Erzherzog Johann (1804), in: AUGUST FoURNIER, Gentz und

Cobenzl (Wien 1880), 242.


123 Vgl. dazu ADOLF REIN, Über dio Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das

europäische Staatensystem, Hist. Zs. 137 (1928), 75. Den Gedanken eines künftigen Welt-
gleichgewichts vertrat in Deutschland besonders ARNOLD HERMANN LUDWIG HEEREN,
dessen „Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien" (1809) bis 1830
viermal aufgelegt wurde. Andererseits zeigte Heeren in der Einleitung (§ 11 u. 12) noch ein
ganz konventionelles Verständnis des Prinzips und hielt in Europa das nördlir.hA und Aüd-
liche Staatensystem noch getrennt, wie es in der Literatur des frühen 18. Jahrhunderts
üblich war. Nach REIN, Ausdehnung, 76 wurde der Terminus 'Welt-Gleichgewicht' 1813
von Simon Bolivar geprägt: Neben dem Gleichgewicht, welches Europa da sucht, wo es an-
scheinend am wenigsten gefunden werden kann: inmitten von Krieg und Umsturz - besteht
noch ein anderes Gleichgewicht; nur d·ieses ist f'ür wns Amer·ikuner 'V<m Bedeutung: es ist das
Gleichgewicht der Welt, ebd., 77. In Deutschland fehlte es vorerst freilich noch ziemlich all-
gemein an dAr Bereitschaft, diese Erweiterung des Terminus zu übernehmen.
124 GENTZ an Lord Harroby, 27. 12. 1805, hg. v. Alfred Stern, Mitt. d. Inst. f. Österr.

Geschichtsforsch. 21 (1900), 140.

986
b) Gleichgewicht und Prinzip des Heharrens Gleichgewicht

•.. zwischen den sämtZ.ichen lnliabem der sou-ve1·änen Macht l~rvMgehende1t rechtliclten
Verhältnissen unbereclitigt 125 .
Die Stellung zur Intervention macht den inneren Abstand des neuen Gleichgewichts-
denkens zu dem des 18. Jahrhunderts sehr deutlich. Die völkerrechtliche Literatur
vor der Revolution hatte unter Hinweis auf die Freiheit und Unabhängigkeit der
Staaten ein Interventionsrecht konsequent abgelehnt und eine Einmischung nur als
das Anerbieten guter Dienste anerkennen wollen. Gegen Störer des Gleichgewichts
hatte sie nur sehr gewunden, gleichsam als ultima ratio, das Recht zum Präventiv-
schlag zugestanden und sich dabei auf das Recht der Selbsterhaltung berufen. Gentz
zog das Recht der Selbsterhaltung jetzt zur Rechtfertigung der Intervention heran;
dahinter stand - hier nur indirekt ausgesprochen - die Auffassung, daß die nicht
der Gemeinschaft der Inhaber der souveränen Macht zugehörigen, sondern auf dem
Prinzip der Volkssouveränität beruhenden Staaten eo ipso Störer des Gleichgewichts
seien. lm Gleichgewichtsdenken des frühen 19. Jahrhunderts war das Problem eines
Gleichgewichts zwischen Staaten verschiedener innerer Ausprägung-das sich dem
18. Jahrhundert nicht gestellt hatte - noch nicht bewältigt.
Ganz wie Gentz war auch METTERNICH der Überzeugung, daß nur eine Ruhepolitik
uie FluLe11 uer Revolution zurUekh:ilte11 kl.l1111e. Er gab jedoeh zu, daß der Mernieh
nur die natürliche Entwicklung mitmachen, nichts selber schaffen könne. Bisweilen
etwas resigniert, notierte er oft, nichts bleibe stehen. So verstand er äuch seine
Stabilisierungspolitik als eine Politik der Bewegung. La stabilite n'est pas l'immo-
bilite'126. Die Aufgabe der Herstellung eines europäischen Gleichgewichts und damit
der allgemeinen Ruhe, von der er - 1801 in der Selbstinstruktion für Dresden -
ausgegangen war, trat im Laufe der Zeit immer stärker zurück hinter die Bemühun-
gen um le salut du corps social127 . Die eigentliche Aufgabe wurde das 'soziale Gleich-
gewicht', ein Terminus, den Metternich nur recht gelegentlich verwendete, offen-
sicihtlicih, weil er ihm wie der ganze Bereich der Gleichgewichtsvorstellungen zu
selbstverständlich war. Wie dem politischen, so muß auch de1U sozialen Ruhestörer
eine Koalition entgegengestellt werdenl28: nur eine Politik des Beharrens dient dem
wohlverstandenen Interesse der Völker. Seine .Politik ein System zu nennen, lehnte
er in der Rückschau empört ab. Das sogenannte MeUernichsche System war kein
System, sondern eine Weltordnung. Revolutionen ruhen auf Systemen, ewige Gesetze
stehen außer und über dem, was mit Recht den Wert eines Systems hat129 .
Im Sinne dieser ewigen Gesetze glaubt er zu handeln, und so ist sein Gleichgewichts-
denken nur sehr vordergründig bezeichnet, wenn man es als Frucht des rationalisti-
schen 18. Jahrhunderts, als praktikables Mittel der deutschen und europäischen

121 GENTZ an Metternich, 15. 2. 1814, abgedr. in: Aus der alten Registratur der Staats-

kanzlei, hg. v. CLEMENS v. KLm:KowsTRÖM (Wien 1870), 61. Zum Verteidiger des Inter-
ventionsrechts aus Gründen der inneren Entwicklung einzelner Staaten machte sich vor
allem CARL ALBERT CHRISTOPH HEmRICH VON KAMPTz mit seiner Schrift „Völkerrechtliche
Erörterung des Rechtes der europäischen Staaten, in die Verfassung eines Staates sich zu
mischen" (1821).
128 METTERNICH, Profession de foi (1820), Nachgel. Papiere, Bd. 3 (1881), 415.
127 Ders. an Baron Werner, 23. 10. 1824, ebd„ Bd. 4 (1881), 139.

1 28 Ders. an Canitz, 29. 2. 1848, ebd„ Bd. 7 (1883), 593.


129 Ders., Autobiographische Denkschrift über seinen Rücktritt (1852), ebd., Bd. 7, 628.

987
Gleichgewicht m. 5. Wendung des Prinzips gegen die Revolution
Politik ansehen wollte. Nicht die politische Gleichg_ewichL;;iuee, ;;u11uern ilie prin-
zipielle Vorstellung eines generellen Gleichgewichts stand im Mittelpunkt seines
Denkens. So gelangte hier die Harmonielehre des 18. Jahrhunderts zu eminenter
politischer Bedeutung. Zugleich waren seine Gleichgewichtsvorstellungen durch und
durch konservativ gebunden; letztlich waren ihm Gleichgewicht und Konservation
identisch.

c) Wiener Kongreß. Den in der Deklaration von Frankfurt ausgesprochenen Grund-


gedanken versuchte man in Wien konsequent durchzuführen. Während des Kon-
gresses von Chatillon trat der Gedanke einer institutionalisierten Führung Europas
durch die vier Verbündeten, wie er dann in der Quadrupel-Allianz vom 1. 3. 1814
:fixiert wurde, hinzu, modifiziert in Wien durch den allgemeinen Grundsatz, daß
immer die Zustimmung jedes betroffenen Staates für die Rechtsgültigkeit der über
ihn ausgesprueheueu EuLt:iuheiuungeu 11üLig Hei1 30 • Die 11·w1:N.wv1we1:1 principales de
l' Europe 131 erhielten so eine dirigierende Stellung zugewiesen. Damit war der seit
dem 18. Jahrhundert selbstverständliche Begriff der Großen Mächte definitiv be-
stimmt und genau festgelegt, wer dazu gehörte. Als Ergebnis der „sage repartition
dell forces", dil1- erklärlich aus einem weit atiirkor auf <lon St1111t bozogonon Denken
als 100 Jahre zuvor - auf Arrurnlieruug und. gute Verteiiligungsfähigkeit der Ge-
bieLe ;;ah .und durch Neutralisierungen und Präzisierung des Begriffs der Unab-
hängigkeit die Konfliktsmöglichkeiten verringern wollte, trat an die Stelle der alten
europäiRch1m Balance und ihrer Waaghalter das concert europeen als Garant des
politischen Gleichgewichts. Die Aufgabenstellung des Konzerts wurde bei der Er-
neuerung des Vierbundes am 20. 11. 1815 ausführlich formuliert: zur Befestigung
des Freundschaftsbandes, das die vier Souveräne zum Wohle der Welt verbindet,
haben sie sich geeinigt, zu bestimmten Zeiten selbst oder durch ihre Minister zu-
sammenzukommen, um diejenigen Fragen zu prüfen, die zu jedem dieser ZeiLpunkte
im Tntfiresse der Ruhe und Glückseligkeit der Völker und zur Aufrechterhaltung des
Friedens in Europa erörtert werden müssen132 ,
Es ist unnötig, Äußerungen der handelnden Staatsmänner hier eingehend zu zitieren.
Die ehrwürdigen Grundsätze, worauf das Gleichgewicht Europas beruhte - so
FREIHERR VOM STEIN 133 -waren ihnen trotz aller Uneinigkeit in den Einzelheiten
gemeinsame Überzeugung. Auch die deutschen Verfassungs- und Gebietsfragen
sollten von den verbündeten Höfen . . . nach den Grundsätzen des europäischen Gleich-
gewichts beurteilt werden 134 ; dabei mußte man eingestehen, daß ein einziges, selb-
ständiges Deutschland wohl wünschenswert, aber nicht ausführbar sei. So beschied
man sich damit, dem Deutschen Bund die Aufgabe zu stellen, die Ruhe, die Erhal-
tung .des Gleichgewichts durch innewohnende Schwerkraft zu bewirken, zumal die Be-

130 ELBE, WierlerherRfailhmg, 244 f.


131 Ebd., 246, Anm. 83.
132 Erneuerung des Vierbundes 1815, Art. 6, in: Noveau recueil general des traites des

puissanccs et 6tats de l'Europe, hg. v. GEORG FRIEDRICH V. MARTENS, Ild. 2 (Göttingen


1818), 734.
1 33 STEIN an Reden,~. 7. 1807, Rr. u. Sehr., Bd. 2/1 (1959), 404.
134 Ders., Denkschrift für Alexander I., 17. 9. 1814, ebd., Bd. 5 (1964), 150 (Übers. aus

dem Franz.).

988
d) Romantisch-universalistische Ablehnung Gleichgewicht

füruhLung nichL unterdrückt werden könne, daß Deutschland als Dcutsohland ein
erobernder Staat sein werde 135 •

d) Romantisch-universalistische Ablehnung. Die Gleichgewichtspublizistik unmittel-


bar vor und nach 1815 benutzte den Begriff zustimmend oder ablehnend in herkömm-
licher Weise und stellte z. T. umfangreiche Gleichgewichtsberechnungen an. Ge-
richtet waren diese Überlegungen zumeist gegen Frankreich, wenn auch kaum je-
mand die weitere Notwendigkeit eines starken Frankreich bezweifelte. Daneben gab
es Stimmen, die den Gedanken gegen England wenden wollten, das Europa durch
das Gleichgewicht nur am Narrenseil halte 136 • Die Friedens- und Völkerbunds-
projekte der Zeit erörterten das Prinzip zumeist nur kursorisch als nicht zureichend
oder gingen gar nicht darauf ein 137 • Ebenso konnte die Romantik nichts damit an-
fangen, obwohl die Verknüpfung mit bestimmten innenpolitischen Ansichten ihren
Ammhauuugeu uuch euLgegenkam; das Gleichgewicht Mhien ihr nur formale Be-
ziehungen zwischen den europäischen Völkern, nicht aber eine wirkliche Gemein-
schaft Europas zu ermöglichen. So setzte FRIEDRICH SCHLEGEL den Gedanken eines
toten künstlichen Gleichgewichts scharf ab von seinem Begriff eines wahren Kaiser-
tums und einer europäischen Eidgenossenschaft fii.r a.llgeme1'.ne GP.!T'e.chtü1ke.it wnd
Staaten/re-i!teü 138 , ein Gegensatz, den er später in der „Signatur des Zeitalters" (1820)
noch verschärfte. Ein selten gegen das Gleichgewicht vorgebrachter Kritikpunkt
war die Feststellung, der Grundsatz der gemeinschaftlichen Ausgleichung durch die
gemäßigte Befriedi{Ju,ng allr,r - eine recht treffende Umschreibung des Prinzips -
könne wohl eine Weile nützlich sein, er führe aber auf die Dauer nur dazu, daß die
kleineren Staaten durch die größeren aufgeteilt würden 139 ; Säkularisationen, Media-
tisierungen und Partagen waren ja in der Tat häufige Mittel der GleichgewichLt:i-
politik.
ADAM MÜLLER beklagte, daß die Rechtsidee, nachdem sie die Einheit Europas ab-
gelöst habe, erstarrt sei zum Begriff des a.nf den Rnchsfaben der Traktate gegrüuue-
ten Völkerrechts, eine Gegenüberstellung, die durch Müllers Unterscheidung zwi-
t:ichen Idee und Begriff noch verschärft wird. Um hier einen Wandel zu schaffen und
die Beziehungen zwischen den Staaten wieder mit wirklichem Leben zu erfüllen,
gilt es, zur Religion zurückzukehren. Vor ihr schließen sich die freie Behauptung der
Nationalität und die innigste Gemeinschaft unter den Staaten nicht aus. Das alte
System des Gleichgewichts war ihm nur das armselige Bild der schwankenden Waage.
Eine Operation, die die Staaten durch neue Verteilung der Gewichte entwaffnete,
zum Stillstand oder · wie sie es nannten - in' s Gleichgewicht brachte, erschiene den
Kabinetten unbedingt rechtlich; als ob das Völkerrecht nichts anderes wäre als das
Fazit politischer Rechenkunst, habe man das allgemeine Streben nur auf arithme-
tische Vergrößerung gerichtet. Positiv setzte er dagegen ein gleichmäßiges Wachs-

185 w. v. HUMBOLDT, Über die Behandlung der Ap.gelegenheiten ueoi Deuischen Bundes

durch Preußen, 30. 9. 1816, AA Bd. 12 (1904), 74.


136 ERNST LUDWIG PossELT, Europäische Annalen 3 (1806), 102.

137 Vgl. TER MEULEN, Internationale OrganiRation, Bel. 2 (Hl29), bes. 144 ff.
138 F. ScHLEGF.L, Über diA nAnAm GARohichtA (1810/11), SW 1. Abt., Bd. 7 (1966), 394.
139 Ebd., 379 f. Man empfand damals weithin die polnischen Teilungen als eine unaufheb-

bare Versündigung am Geist des Gleichgewichts.

989
Gleichgewicht m. 6. Rückwendung zu einem allgemeinen politischen Verstindnis
turn, gegenseitiges Sich-Steigern und Erheben der Staaten; denkt man sich unter
dem Resultat dieses Gleichgewichts eine große, gewaltige und wachsende Hechtsidee ...
so bin ich vollkommen damit einverstanden140• El;>enso forderte ERNST MORITZ ARNDT,
der sich allerdings auch positiver über das Gleichgewicht ausgesprochen hat, statt
der Gaukelei des alten politischen Gleichgewichts ein Gleichgewicht der Gerechtig-
keit141.

6. Rückwendung zu einem allgemeinen politischen Verständnis

So leicht politischer Grundsatz und Prinzip der Gerechtigkeit einander gegenüber-


zustellen waren, so schwer war doch die präzise Beschreibung dessen, was in diesem
Zusammenhang als gerecht gelten konnte. So blieben die lexikalischen und wissen-
schaftlichen Definitionen des Gleichgewichts in dieser Zeit, die alle die erhabene Ver-
nunftidee der unbedingten Herrschaft des Rcclits auf dem ganzen Erdboden142 als we-
sentlichen Grundsatz des Prinzips herausstellten, in diesem Punkt Leerformeln.
KARL HEINRICH Lunwm PöLITZ erachtete das nach Grundsätun der Recht.~- und der
Staatsklugheit begründete Gleichgewicht als das höchste Ziel der Staatskunst für die
Wechselwirkung und den gegenseitigen Verkehr der nebeneinander bestehenden Staa-
ten143. Anderen Autoren war die Gleichheit im Rechte die. einzig haltbare Grundidee
des politischen Gleichgewichts, so daß jeder Staat, auch der schwächste, mit gleicher
Sicherheit seines wohlerworbenen Rechtes genießt 144. Von der Heiligen Allianz er-
hoffte man, sie werde die Betonung des Gleichgewichts der Machtverhältnisse zu-
gunsten des der ReohtsvcrhiiltniAAc ?.Ul'iickdrängen. Noch 1872, als da11 Ilegriff.<>-
verständnis nur mehr rein politisch war, hielt RonEitT VON MoHL das Gleichgewicht
für einfiirmlichR..~ Rechtsi1erhältnis, dessen Aufrechterhaltung jeder andere Staat ver-
langen und erzwingen kann und in dessen Verletzung ein Rechtsgrund zu einer all-
gemeinen Verbindung aller übrigen Staaten gegen die einseitig vorgehende Macht
liege1' 6 • Ähnliche Definitionen finden sich bei einer Vielzahl anderer Autoren.
Zweifellos erlaubte es die Unterstreichung des Rechtsstandpunktes den fortschritt-
lichen Kräften, sich das Prinzip bald ebenfalls wieder zu eigen zu machen. Der
Abbau der Parteifärbung wurde freilich auch durch die politische Entwicklung be-
günstigt. Schon als während des Aachener Kongresses Frankreich, dessen Über-
wachung es ursprünglich gedient hatte, in das Konzert aufgenommen wurde, wurde
der erste Abstrich an der gegenrevolutionären Ausrichtung de11 Prinr.ip11 vorgenom-
men und das Gleichgewicht bekam wieder allgemeineren Charakter, das concert
europeen wurde - so darf man formulieren - wertneutral. Auch die 0 berzeugung,
den Mächten stehe das Recht zu, gemeinschaftliche Maßregeln gegen Staaten zu er-

140 ADAM MÜLLER, Elemente der Staatskunst (1808), hg. v. Jakob Baxa, Bd. l (Jena 1922),
204. 201.
141 ERNST MORITZ AliNDT, Gei·Jllu11iu11 uml Euruµ11. (1803; Ndr. Stuttgart, Berlin 1940), 321.
142 KARL HEINR. Luow. PöLITZ, Grundriß für encyclopädische Vorträge über die gesamm-
ten Staatawilmonoohafton (Leipzig 1825), 205.
143 Ebd., 208.
144 Rhein. Conv. Lex., Bd. 5 (1825), 687.
146 ROBERT v. Mom., Encyclopädie der Staatswissenschaften (1859), 2. Aufl. (Freiburg
1872), 481 f.

990
m. 7. Gleichgewicht und wachsendes nationales SeJhsthewuBtsein Gleichgewicht

greifen, deren Umformung durch Aufruhr erzeugt sei146, verlor schnell an Kraft.
Dafür begann die Völkerrechtswissenschaft, eine Interventionslehre zu entwickeln 147.
Sie versuchte damit in Rechtsformen zu bringen, was METTERNICH (mit Bezug auf
die Ruhepolitik der Großmächte, aber der Satz kann ja ohne weiteres allgemeiner
verstanden werden) einmal so formulierte, daß kleine, kaum aufrecht stehende Staaten
sich den Wünschen der Großmächte freiwillig oder gezwungen fügen müßten 148 -
wenn, so kann man hinzusetzen, sich unter den Großmächten Übereinstimmung
über das Vorgehen erzielen ließ. Die auswärtigen Verhältnisse bilden ein Reich nicht
der Konvenienz, sondern der wesentlichen Macht, konstatierte RANKE 1835. Aber er
konzedierte dabei doch auch, daß in großen Gefahren die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt .
enger werdende Verbindung der Gesamtheit Europa letztlich doch immer vor der
Herrschaft einer einseitigen und gewaltsamen Richtung beschützt, jedem Druck von
der einen Seite noch immer Widerstand von der anderen entgegengesetzt habe, so daß
die aUgemeine Freiheit und Sonderung glücklich gerettet wurde 149•

7. Gleichgewicht und wachsendes nationales Selbstbewußtsein

Erst in der 2. Hälfte des Jahrhunderts wurde der Begriff in Deutschland unter neuen
Aspekten durchdacht. FICHTES Einstellung zum Gleichgewicht Anfang des Jahr-
hunderts hatte freilich die spätere Haltung in manchem schon vorweggenomm1m, sie
sei deshalb kurz skizziert. In den „Grundzügen" von 1804 bemerkt er, die Staaten
hielten sich nur deshalb ans Gleichgewicht, weil sie sich zur alleinigen Vcrgrößcrung
zu schwach fühlten. Bei zunehmender Stärke würden sie den Versuch dazu aber
ohne Zweifel unternehmen160. 1808 konstatiert er in den „Reden" wiederum, daß
jeder Staat nm rlarauf sinne; den anderen zu berauben. Ruhe einer, so sei das nur
Schwäche. Somit sei das einzige Mittel zur Erhaltung der Ruhe dieses, daß niemals
einer zu der Macht gelange, d?:eselbe 8tiiren zu können. Die Begierde nach Raub und
die tätig sich regende Raubsuch~ setzten das System des Gleichgewichts somit ge-
radezu voraus, und es würde sich wohl bewähren, wenn nur erst das zweite Mittel ge-
funden wäre, jenes Gleichgewicht hervorzubringen, und es aus einem leeren Gedanken in
ein wirkliches Ding zu verwandeln 161 • Gleichwohl ist das System des Gleichgewichts
für Fichte nicht nur eine Fiktion; gerade auf Deutschland hat es in seinen Augen
vielmehr außerordentliche Wirkungen gehabt: Deutschland war der Tummelplatz
für die Verrückungen des Gleichgewichts, die deutschen Staaten waren nur Zulagen
zu den Hauptgewichten auf der europäischen Waage, deren Zügen sie blind und

ue METTERNICH, Circular-Depesche der drei nordischen Höfe an ihre Missionen, 8. 12. 1820,
Nachgel. Papiere, Bd. 3 (1881), 392; vgl. auch ders. an Esterhazy, 21. 10. 1830, ebd„ Bd. 5
(1882), 46: der Kaiser werde nie das Prinzip der Nichtintervention anerkennen, er rechne
sich nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zu, de preter a taute autorite legale
attaquee par l'ennerrii w1wm'un, wus les genres de sewitrs dont les circonstance8 l1ti pp,r-
mettront l' empwi.
147 Vgl. HETTLAGE, Intervention (s . .Anm. 71) u. BERNER, Art. Intervention (völkerrecht-

liche), BLUNTSCHLI/BB.ATER Dd. 5 (1860), 341 ff.


148 METTERNICH an Kaiser Franz, 17. 8. 1817, Nachgel. Papiere, Bd. 3, 61.

1 49 RANKE, Die großen Mächte, SW 2. Aufl„ Bd. 24 (1877), 11.


uo 1liOHTE, Grundzüge des 'gegenwärtigen Zeitalters (1804), SW Bd. 7 (1846), 203.
ui Ders„ Reden an die deutsche Nation, 13. Rede. Ebd„ 462.

991
Gleichgewicht m. 7. Gleichgewicht und wachsendes nationales Selbstbewußtsein

willenlos folgten. Dies also ist der wahre Ursprung 'Und d'ie Bede'utung, dies der Erfolg
für Deutschland und für die Welt von dem berüchtigten Lehrgebäude eines künstlich zu
erhaltenden Gleichgewichts der Macht unter den europäischen Staaten 152 • Hinter dieser
Kritik steht nun nicht nur ein anwachsendes Nationalgefühl und die Unzufrieden-
heit mit dem deutschen Schicksal, dahinter steht auch die romantisch-universalisti-
sche Gedankenwelt. Fichte ist überzeugt, daß der Gedanke des Gleichgewichts nicht
nötig geworden wäre, wenn das christliche Europa eins geblieben wäre, wie es ur-
sprünglich war. .Nur für das unrechtlich gewordene und zerteilte Europa habe der
Gedanke eine notdürftige Bedeutung gewonnen. Dagegen ruht das Eine . . . auf
sich selbst und trägt sich selbst und zerteilt sich nicht in streitende Kräfte, die miteinander
ins Gleichgewicht gebracht werden müßten153• Wäre wenigstens Deutschland - ein
Abbild Europas im kleinen - davon unberührt geblieben, so hätte es ohne alle
künstliche Vorkehrung, allein durch sein bloßes natürliches Dasein, allen sein
Gleichgewicht gegeben .. Für das Auslarnl möge dal:! Gleichgewicht immerhin ein
tröstlicher Traum sein, die Deutschen müßten es dagegen in seiner Nichtigkeit
durchdringen.
Von den idealistischen Einschlägen in Fichtes Gleichgewichtsdenken und von der
Betonung des Rechtsstandpunktes ist ein halbes Jahrhundert später wenig mehr
zu merken. Symptomatisch dafür sind die umfangreichen Erörterungen von ÜARL
·HERMANN SoHEIDLEit in Ensorr/GnunERS Lexikon. Die Definition von 'Gleich-
gewicht' ist hier -wie in anderen Nachschlagewerken - durchaus die allgemeine
del:! 19. Jahrhunderts und greift auf Gentz zurück. Das System des Gleichgewichts
besteht darin, daß die Staaten sich hinsichtlich der gegemmitig 7.ll schützenden
Sicherheit als ein zusammengehöriges Ganzes betrachten, wobei der Bestand der
kleineren Staaten dadurch garantiert ist, daß das Interesse der Großmächte keine
Vergrößerung zuläßt. Basis des Gleichgewichts muß die Anerkennung der Rechts-
gleichheit aller sein. Im Anschluß an diese Begriffsbestimmung und einen instruk-
. tiven historischen Abriß bringt Scheidler dann seine eigene Beurteilung des Prin-
zips. Er geht davon aus, daß es offenbare Bestimmung der Menschheit sei, im Kampf
mit der Natur und untereinander die Kräfte zu üben. Eben deshalb verdiene das
System des Gleichgewichts weitaus den Vorzug vor dem des ewigen Friedens, eben
darum, weil es den Krieg nicht ausschließt, vielmehr zeitweilig verlangt 154•• Allerdings
müsse der Krieg immer als Mittel zum Frieden angesehen werden. Das auf die
Geltendmachung des gleichen RechtR gerichtet!\ RyRtRm ORR Gleichgewicht,s sei dann
das echt national-politische Ideal, das.die gebildete Menschheit hinsichtlich der inter-
nationalen Beziehungen anzustreben habe.
Auf die Situation Deutschlands angewandt, bedeutet diese martialische und das
Eindringen des Darwinismus in das politische Denken vorwegnehmende Philosophie
die ständige Sorge um die größtmögliche Wehrtüchtigkeit des Volkes; anders könn-

102 J!Jhrl., 4ö4.


153 Ebd. Trotzdem blieb Fichte der Hoffnung, man könne beides, europäiimhe li:inheit, und
Nationalstaat, allgemeine Gerechtigkeit und eigenes Recht der Völker, miteinander ver-
binden. Er gab den Glauben nie ganz auf, daß die alte christliche Verfassung sich wieder
unter den Völkern verbreiten werde, ders., Vorlesungen von 1813, SW Bd. 4 (1845), 600.
154 CARL HERMANN ScHEIDLER, Art. Gleichgewicht, politisches, ERSCH/GRUBER 1. Sect.,

Bd. 69 (1859), 332 f.

992
m. 7. Gleichgewicht und wachsencles nationales Selbstbewußtseio GleicLgew icLL

t.P.n nie Deutschen ihre Mission, die ·wäc.h.te.r d.e.s europäischen Gle.ichgew,foh.ts zu sein,
nicht erfüllen. Der Wahlspruch der Deutschen müsse notgedrungen sein „Feinde
ringsum", es wäre deshalb ein wahres Unglück, wollten sie der leidigen Qtt.äker-
ansich.t des Lebens huldigen: nicht obwohl es den Krieg nicht verhindert, sondern
weil es ihn nicht verhindert - eine stärkere Entfremdung von dem Ziel des Gleich-
gewichts, die Ruhe möglichst zu wahren, läßt sich nicht denken. Immerhin, was
Scheidler über das Verhältnis von Gleichgewicht und Krieg sagt, steht durchaus ver-
einzelt und fiele neben den vielfältigen traditionellen Verwendungen des Begriffs in
der politischen Diskussion kaum ins Gewicht, wenn es nicht an repräsentativer
Stelle sich fände . .Argumente wie die des „Wochenblattes" in der Kontroverse mit
der „Kreuzzeitung~' oder später BISMARCKS gelegentliche Hinweise auf das Gleich-
gewicht sind von solchem vermeintlich überhöhenden Ballast ganz frei. Andererseits
wäre eine Äußerung wie die Humboldts von 1816 jetzt undenkbar. Ein solcher Ver-
zichL häLLe clem wiwl11;e111le11 Relli1;l;hew11 ßtsein in Deutschland vl:lllig widersprochen;
schon zur Zeit des Wiener Kongresses entsprach Humboldts Meinung nicht der all-
gemeinen Stimmung. Jetzt, annähernd 50 Jahre später, gewann die Ansicht zu-
nehmend an Boden, daß Deutschland nicht nur mit den beiden Großmächten
Österreich und Preußen wichtige Bestandteile des Gloichgcwichtssystcms stelle,
sondern das zentrale Element bilden müsse. Angeklungen war das schon in der
Paulskirche.
Ausführlich legte es zehn Jahre danach CoNSTANTIN FRANTZ dar. Die zentrale These
seines Buches ist, der „Weltberuf" der deutschen Nation bestehe in der Entwick-
lung eines neuen internationalen Systems, gruppiert um die Zentralmacht Deutsch-
land. Sein stabiles Gleichgewicht ist eindeutig gegen Rußland und Frankreich ge-
richtet; gegen Slawen und Romanen werden die „germanischen Staaten der Mitte"
gesetzt (ein Gedanke, der im Zeitalter der Nationalitätenkämpfe häufiger ausge-
sprochen wird und auch als 'Rassen-Gleichgewicht' 155 begegnet). Rußland und
Frankreich dürfen zusammengenommen nichts gegen die starke deutsche Zentral-
macht tun können. Die Behauptung, Deutschland sei am ehesten berufen, die abend-
ländische Völkergemeinschaft wiederherzustellen, wird nur durch den Hinweis auf
das alte Kaisertum und mit der These gestützt, die Universalität sei der tatsächliche
Charakter der Deutschen. Das ist geistiger Nationalismus. Eine deutsche Macht-
politik liegt Frantz dagegen fern, und so will er seine Zentralmacht denn auch nach
dem Vorbild des Deutschen Bundes organisieren, weil damit eine Garantie gegeben
sei; daß sie nicht zum Angriff neigeiss.
Auch im RoTTECKjWELCKERschen Staatslexikon ist der Gedanke des Gleich-
gewichts gleichsam nationalisiert. Folge man den Gleichgewichtsvorstellungen der
vorrevolutionären Zeit, begehe man den Grundirrtum, das organische Leben leblos
und mechanisch zu sehen. Wolle die Politik keinem Phantom nachjagen, sondern
wirklich nach Realität streben, so müsse sie sich zu dem Gedanken eines organischen
Gleichgewichts erheben, orientiert an der durch Abstammung und Sprache beding-
ten Nationalität und an dem natürlichen Recht der Nationen auf ein selbständiges
politisches Dasein. So liegt für die Autoren des .Artikels die entscheidende Voraus-

1 55 Ebd., 329.
109 CoNSTANTIN FRANTZ, Untersuchungen über· das Europäische Gleichgewicht (Berlin
1859), 351 ff.

63--90386/1 993
Gleichgewicht IV. Ausblick

setzung für ein neues politisches Gleichgewicht denn darin, daß überall innerhalb
bestimmter Grenzen bestimmte Nationalitäten herrschend werden. Zudem darf
nicht mehr einzelne Laune über die Nationalkräfte gebieten, es muß der National-
wille tun. Nur auf dem doppelten Boden der politischen Freiheit und der Nationali-
tät erscheint ein wahrhaft organisches Gleichgewicht möglich107 • Dahinter stand die
Ansicht, daß die Auseinandersetzungen zwischen Völkern weniger tiefgreifend seien
als die zwischen Dynasten, daß es sich eher um Familienzwiste handle (650).
Immerhin gaben die Bearbeiter ~u, daß auch das von ihnen geforderte organische
Gleichgewicht nicht den ewigen Frieden garantieren könne. So wirkt die Konfron-
tation mit der „Chimäre" des alten Gleichgewichts sehr gekünstelt; eine begriffliche
Weiterentwicklung über den schon bei Gentz eingenommenen Stand bringt die hier
gegebene Definition nicht.

IV. Ausblick
Sie wurde auch in der Folge nicht gegeben, mochte es auch oft als unbefriedigend
empfunden werden, daß die Definition Gentz' und alle an sie anschließenden Be-
stimmungen über eine leere Allgmneinheit nicht hinuu1:1ktunen. Allgemein ging in
der 2. Hälfte des Jahrhunderts das Interesse am Gleichgewicht zurück. Die un-
erf11llten na.t.iona.lim Wünsche ließen das Prinzip in Deutschland nach 1848 zuneh
mend diskreditiert erscheinen. Die Überzeugung breitete si11h aus, daß die euro-
päische Mitte das hauptsächliche Opfer des Systems sei, und die Fesseln, die man so
fühlte, schienen dem Kraftbewußtsein der Nation nicht mehr kongruent. Wenn man
das Gleichgewicht nicht überhaupt als roh und unpolitisch ablehnte ·-- so HEINRICH
VO.N 'l'.itElTSCHKE in seiner „Politik" 15 8 - , forderte man in seinem Namen wenigRtens
eine bedeutende Stellung Deutschlands in Europa oder bezeichnete den Begriff als
zweideutig. Man verlor den Blick dafür, daß das Glei11hgflwicht nur ein System der
europiiischen Gesamtheit sein konnte, und bezog es immer ausschließlich auf Eng-
land, dessen eigensüchtiges politisches Mittel es sei. Diese Tendenz wurde verstärkt,
je deutlicher die künftige Weltpolitik sich abzeichnete. Schon 1856 wies J. WER-
NARDSKI daraufhin, daß d!lr Begriff von England nie auf das eigene Land angewandt,
sondern immer. nur anderen Mächten entgegengehalten werde, und forderte dazu
auf, das Gleichgewicht im Lichte der Weltpolitik zu betrachten159 • Damit machte er
deutlich, daß das ·Prinzip zunehmend dazu benutzt wurde, von anderen etwas zu

107 W. ScHULz-BODMER u. H. MARQUARDSEN, Art. Gleichgewicht, politisches, RoTTECK/

WELCKER 3. Aufl., Bd. 6 (1862), 649. Der Artikel ist in den grundsätzlichen Passagen gegen-
über der 1. und 2. Auflage, in der Schulz allein zeichnete, unverändert. Sehr viel deutlicher
spricht BERNER, Art. Kongresse, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 5, 668 denselben Gedanken aus:
Grundschaden der alten Gleiohgowichtspolitik war, daß sie m1,r dyna8tische lnfR.r~.11.~e.n mul
Menschenmassen kannte, die yeyeneinander abgewogen werden. • . • Sobald die Nationen sich
als unverletzliche Persönlichkeiten erfassen, wird die alte Maschinerie des Gleich!Jewichts von
ihnen zerbrochen und zur harmonischen KowiBtcni: nationaler oder doch national zusammen-
yehöriger Staaten umgestaltet.
168 HEINRICH v. TREITSCHKE, Politik, Bd. 2 (Leipzig 1898), 527.
169 J. WERNADSKI, Die Welthen'Schaft Englands und das politische Gleichgewicht (Leipzig,
Mitau 1856), 4. 138 u. ö., aus dem Russischen übers.

994
IV. Ausblick Gleichgewicht

fordern, aber nicht selbst etwas zu geben. Charakteristisch dafür sind - neben vie-
len Belegen aus der englischen Diplomatie - etwa die stetigen Hinweise Napoleons
III. auf das Gleichgewicht, während die Terminologie in Deutschland sehr zurück-
trat160, Bismarck wollte den Begriff gelegentlich sogar gänzlich ins 18. Jahrhundert
verweisenl 61. Die häufige Anrufung des Prinzips durch England bestärkte natur-
gemäß die Ansicht, London halte die Welt damit nur am Narrenseil. Von hier aus
führt ein gerader Weg zu den publizistischen Positionen des Ersten Weltkrieges.
ÜTTO HINTZES Formulierung von dem soufflierten Gleichgewicht, aus dem nur Eng-
land Nutzen ziehe, möge die Einschätzung in breiten Kreisen illustrieren. Wenn
FRIEDRICH MEINECKE gleichzeitig postulierte, nicht Niederwerfung, sondern Gleich-
gewicht müsse die Losung der Zukunft sein, deshalb Bereitschaft zur Verständigung
bestehen (1916), so war das nur eine vereinzelte Stimme 162. Den meisten Beobach-
tern schien die Kraft des Gedankens erschöpft. Wohl konnte die Formel sich über
den Zusammenbruch des klassischen europäischen Staatensystems 1917/18 hina.m!
behaupten, aber sie mußte jetzt anachronistisch wirken und wurde tatsächlich
kaum noch benutzt. Zumal nach dem Zweiten Weltkrieg schien angesichts der Po-
larisierung der Macht jeder Gedanke an ein Gleichgewicht im klassischen Sinne
sinnlos 108. Stattdessen wurde das 'Gleichgewicht des Schreckens' zum Schlagwort:
daß keine der beiden Weltmächte den status quo ohne tödliche Gefahr für sich selbst
verändern könne. Darin spricht sich zweifellos der alte Grundgedanke des Prinzips
aus: Druck Gegendruck entgegenzusetzen und damit eine Verschiebung der Macht-
positionen zu verhindern oder doch zu modifizieren. Auch die Definitionen des klas-
sischen Gleichgewichts hatten von der „Gefahr für sich selbst" (Gentz) gesprochen.
Gleichwohl ist hier ein qualitativer Unterschied festzustellen: käme es zur Probe,
so wäre beim Gleichgewicht des Schreckens die Gefahr wirklich tödlich - bei der
alten europäischen Balance war sie es nicht. In der jüngsten Zeit ist eine stetig zu-
nehmende Benutzung von Gleichgewichtsformeln zu beobachten; man spricht auch
ganz selbstverständlich von Unter-Gleichgewichten - etwa für Südostasien. Es ist
nicht von der Hand zu weisen, daß die Vorstellung eines mehrgliedrigen Gleich-
gewichtssystems mit der weiteren Entwicklung des Weltstaaten-Systems noch an
Boden gewinnen wird. Als Leitwert europäischer Politik hat der Gedanke dagegen
seine Kraft in den Erschütterungen dieses Jahrhunderts verloren.

Literatur

Umfassende begrlffsgeschichtliche Untersuchungen liegen nicht vor. Einzig die Publizistik


ist bisher einigermaßen ausführlich unter dem Aspekt des Gleichgewichts durchgesehen,

180 Zum diplomat. Sprachgebrauch der 2. Jahrhunderthälfte vgl. Fontes juris gentium,

Ser. B, Sect. 1, hg. v. VICTOR BRUNS (Berlin 1932-1937).


181 M. DE CoUROEL a M. Jules Ferry, 23. 9. 1884, Documents diplomatiques fram;ais,

1e ser., t. 5 (Pa.ris 1933), 424.


162 ÜTTO HINTZE, Imperialismus und deutsche Politik (1917), zit. H. 0. MEISNER, Vom eu-

ropäischen Gleichgewicht, Pi:euß. Jbb. 176 (1919), 242. Meisner selbst bezeichnet S. 245
das Gleichgewicht als andern AU8druck für des Angelsachsentums Herrschaft (1919);
vgl. FRIEDRIOII MEINEOKE, Probleme des Weltkrieges (München 1917), 134.
183 JOHN H. HERZ, Macht, Mächtegleichgewicht, Machtorganisation im Atomzeitalter,

Die Friedenswarte 51 (1951/53), 61.

995
Gleichgewicht IV. Ausblick

besonders bei ERNST KAEBER, Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publi-
zistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (Berlin 1907); vgl. er-
gänzend dazu PAULINA HAVELAAR, Der deutsche Libertätsgedanke und die Politik
Wilhelms IIL von Oranien (Berlin, Bonn 1935). Stärker ideengeschichtlich (mit einem
etwas starren Gleichgewichtsbegriff) EBERHARD v. VIETSCH, Das europäische Gleich-
gewicht. Politische Idee und staatsmännisches Handeln (Leipzig 1942). Viele Hinweise bei
ERNEST NYs, La tMorie de l'equilibre europeen, Rev. de droit international et de legis-
lation comparee 25 (1893), 34 ff.; H. 0. MEISNER, Vom europäischen Gleichgewicht, Preu ß.
Jbb. 176 (1919), 222 ff.; KARL JACOB, Die Chimäre des Gleichgewichts. Vorläufige Betrach-
tungen, Arch. f. Urkundenforsch. 6 (1918), 341 ff.; GASTON ZELLER, Le principe d'equilibre
dans la politique internationale avant 1789, Rev. hist. 215 (1956), 25 ff.

HANSFENSKE

996
Gleichheit

1. Einleitung. 1. Vorbemerkungen zum Begriff. 2. Zur Etymologie und Wortgeschichte.


II. Die Tradition des Gleichheitsdenkens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. 1. An-
tike. 2. Mittelalter. 3. Die Herausbildung des bürgerlichen Gleichheitsbegriffs der Neuzeit.
a) Sozio-politische Grundlagen. b) Theoriebildung. 4. Deutschland im 18. Jahrhundert.
III. Die Entwicklung des Gleichheitsbegriffs im Zeitalter der bürgerlichen Revolution
(1790-1870). 1. Die revolutionäre Zuspitzung des Gleichheitsdenkens in Frankreich
in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. 2. Der Umbruch in Deutschland um 1800. a) Das
Gleichheitsdenken im Zusammenhang von Französischer Revolution und Transzenden-
talphilosophie. b) Die sozialpolitischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 3. Die
konservative Reaktion gegen das moderne Gleichheitsprinzip seit 1790. 4. Das deutsche
Bürgertum im Vormärz. 5. Die deutsche Arbeiterbewegung im Vormärz. 6. Die deutsche
Revolution von 1848/49. '/. Karl Marx und die F!OzlA,llRtfR!lhA ArbelterhAwegung. 8. Der Anti-
egalitarismus im deutschen Bürgertum nach 1850. IV. Ausblick.

I. Einleitung

l, Vorbemerkungen zum Begriff

1) 'Gleichheit' (lu6-r:11r;, aequitas, aequalitas, egalite, equa.lity) bedm1t1it „fJh1ir-


einstimmu11g einer Mehrzahl von Gegenständen, Personen oder Sachverhalten in
1iinom bm1timmtcn Merkmal, bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen" (a ---.,, b).
'Gleichheit' ist damit sowohl von 'Identität' abzugrenzen, der „Übereinstimmung
eines Gegenstandes mit sich imlbst, in all1in Merkmalen" (a = a}, als auch von 'Ähn-
lichkeit', dem Begriff für nur annähernde Übereinstimmungl.
2) 'Gleichheit' ist ein Verhältnisbegriff. Er bezeichnet keinen Sachverhalt an ein-
zelnen Gegern;Länden oder Personen, sondern eine Beziehung zwischen ihnen. Diese
Beziehung wird allein durch den urteilenden Verstand, durch dessen vergleichende
Tätigkeit hergestellt. Eine Gleichheitsaussage enthält also stets ein Gleichheitsurteil;
sie ist damit von der Situation des Urteilenden abhängig.
3) Gleichheit ist immer nur Gleichheit in einer bestimmten Hinsicht. Jeder Ver-
gleich setzt ein tertium comparationis voraus, ein konkretes Merkmal, in dem die
Gleichheit gelten soll. Gleichheit ist also niemals eine generelle, sondern stets eine
partielle Aussage über die verglichenen Objekte. Sie bezieht sich auf deren gemein-
samen Anteil an dem vergleichsentscheidenden Merkmal2.
4) Ein Gleichheitsurteil setzt die Verschiedenheit des Verglichenen voraus. Da es
als partielle Aussage auf bestimmte Merkmale bezogen ist, impliziert es Ungleich-

1 Vgl.ALBERTMENNE,ldentität, Gleichheit, Ähnlichkeit, Ratio 4 (1962), 44ff.; ADALBERT

PODLECH, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Clcichhoitssutzos


(Berlin 1971 ), 29 ff.
2 Vgl. WILHELM Wrnmi:r.1\A ND, Über Gleichheit und Tdentität (Heidelberg 1910), 8. 10 :ff.;
KONRAD HESSE, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, Arch. d. Öffentlichen Rechts
77 (1951/52), 172 f.

997
Gleichheit I. 1. Vorbemerkungen

heit in anderen Merkmalen. „Völlige" oder „absolute" Gleichheit sind in sich wider-
sprüchliche Aussagen a.
5) Der vorgegebene Horizont aller Aussagen über Gleichheit im zwischenmensch-
lichen Bereich ist die durchgängige Verschiedenheit der Menschen, sowohl in ihrer
natürlichen. wie ihrer gesellschaftlichen Verfassung. Ein auf diesen Bereich be-
zogenes Gleichheitsurteil beinhaltet deshalb stets eine kritische Auseinandersetzung
mit jener Ungleichheit, bezweckt deren Relativierung oder partielle Aufhebung 4 •
6) Natur und Gesellschaft sind die beiden sachlichen Bezugssysteme, in denen
Gleichheitsaussagen über Menschen möglich sind. Deshalb ist grundsätzlich zwischen
den Begriffen von natürlicher und sozialer Gleichheit zu unterscheiden. Ein sach-
notwendiger kausaler Zusammenhang dieser Begriffe besteht nicht 5 •
7) Die folgende Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf Begriffe sozialer und
politischer Gleichheit. Diese stehen gewöhnlich im Sachzusammenhang von Rechts-
verhiiltnifumn; cfonn br.i jr.ilfim Vr.rel11iflh 11m:i11.l11r Poflit.ionf.ln geht c>1 um 4'1in Ab-
wägen von bestimmten Rechten. Überhaupt gilt Gleichheit von jeher als ein konsti-
tutives Merkmal der Gerechtigkeit; sie ist der unmittelbar einleuchtende Maßstab
für eine rechtliche Beziehung zwischen Personen und Gruppen 6 •
8) Wird er jedoch als ein abstraktes und allgemeines Rechtsprinzip verwandt, so
stellt der Begriff 'Gleichheit' in seiner logischen Aussage eine Leerformel dar 7 • Kon-
kret und eindeutig wird er erst durch die Angabe seiner näheren Bestimmungen und
Funktionen. Ein Gleichheitsbegriff ist st.ets Ausdruck konkreter sozialpolitischer
Verhältnisse und nur als solcher zu interpretieren8 .
1)) Vie wichtigste gesellschaftliche Funktion des Gleichheitsbcgriifä ist der soziale
und politische Statusvergleich zwischen Individuen und Gruppen, meist im Dienste
der Verbesserung sozialer Positionen. Von daher erklärt sich die besondere emanzi-
patorische Funktion des Begriffs, von der seine größten Wirkungen in der Geschichte
ausgegangen sind.

3 GusTAV RADBRUCH, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (Stuttgart 1950), 126: „Gleichheit ist

immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichts-
punkt".
4 Vgl. HESSE, Gleichheitsgrundsatz, 273; CARL SCHMITT, Verfassungslehre (München 1928),
226. .
5 Vgl. WINDELBAND, Gleichheit und Identität, 9; PoDLECH, Gleichheitssatz, 50 f.; s. S. 19 f.

die Bemerkungen zu Rousseau.


8 Vgl. JÜRGEN v. KEMPSKI, Recht und Politik (Stuttgart 1965), 40; HANS NEF, Gleichheit

und Gerechtigkeit (Zürich 1941), 9 ff.


7 Vgl. HANS KELSEN, Was ist Gerechtigkeit? (Wien 1953), 25 f.; ERNST ToPITSCH, Die

Menschenrechte, Juristenzeitung 18 (1963), 2 f.


8 Vgl. RALF DAHRENDORF, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen

(Tübingen 1961), 26 ff. u. die ideologiekritische Konzeption von TOPITSCH, M;enschenrechte,


3. 6. Die bisher einzige Monographie zur Entwicklungsgeschichte des Gleichheitsbegriffs
(SANFORD A. LAKOFF, Equality in Political Philosophy, Cambridge/Maas. 1964) folgt der
ideengeschichtlichen Betrachtungsweise und läßt sozio-politisohe Bedingungen außer Be-
tracht. Lakoff stellt die Entwicklung des Gleichheitsdenkens ale ein Nebenoinandorher-
laufen von drei verschiedenen „unit-ideas of equality" dar, die als liberale, konservative
und sozialistische „pattern" durch die Geschichte hindurch verfolgt werden können.

998
1. 2. Zur Etymologie und Wortgeschichte Gleichheit

10) Die emanzipatorische Funktion von 'Gleichheit' bedingt seine häufige Zusam-
menstellung mit dem Freiheitsbegriff. 'Freiheit' bezeichnet den sozialen Rechts-
status von Personen oder Gruppen und wird deshalb bei einem Vergleich sozialer
Positionen und dem Wunsch nach deren Veränderung - also bei jeder Gleichheits-
diskussion - aktuell. Gesellschaftliche und politische Gleichheit konkretisiert sich
stets im Besitz von gleichen Freiheitsrechten; gleich sind nur diejenigen, die in
gleicher Weise frei sind. . .
11) Der Anwendungsbereich sozialer Gleichheitsbegriffe ist einerseits die sozial-
politische Diskussion, von der philosophischen Theorie bis hin zur tagespolitischen
Parole, andererseits die Rechtsprechung und Gesetzgebung. Wegen der fehlenden
Vorarbeiten über die Rolle des Gleichheitsbegriffs im Rechtsleben früherer Epochen
muß im folgenden in dieser Hinsicht vieles offen bleiben.

2. Zur Etymologie und Wortgeschichte

Wie in allen Sprachen, so steht auch am Anfang der Wortgeschichte im Deutschen


das Adjektiv und Adverb. Es hat ahd. die Form 'galih', 'gilih' und mhd. 'gelich',
'geliche'; verwandt sind niedr,rländisch 'gr,lijk', Rchwr,rfomh 'lik' und engl. 'like'.
Es handelt sich um eine spezielle Bildung der germanischen Sprachen aus 'ga' und
'lika' (=Körper; vgl. 'Leiche'). Die ursprüngliche Bedeutung von 'gleich' ist dem-
nach „dieselbe Gestalt habend" 9 • Das Substantiv 'Gleichheit' ist seit dem 13. Jahr-
hundert nachweisbar, mhd. in der Form 'gelicheit', 'gleicheit'. Synonyme Bildungen
sind mhd. 'glichcnissc', das dann in 'Gleichnis' eine Sonderbedeutung annahm,
außerdem die früheren Substantive 'gleiche' (mhd. 'geliche') und 'gleichung' 10 . Bei
GRIMM werden als Bedeutungsgehalte für das Adjektiv alle Formen der Überein-
stimmung - von 'idem', 'par', über 'aequus' bis zu 'similis' - angegeben, außerdem
Sonderbedeutungen wie „gerade", „eben"; „gerecht", „billig", Init dem Resü-
mee: „Was die Bedeutungsgeschichte des Wortes betrifft, so ums9hließt schon das
ahd. 'gilih' die verschiedenen Stufen und Grade der Gleichheit .. „ so daß in. der
Geschichte des Wortes eigentliche Entwicklungslinien kaum sichtbar werden".
Im Hinblick auf die temporären Schwerpunkte des Wortgebrauchs wird jedoch eine
bemerkenswerte Tendenz konstatiert: „Die geringe Verbreitung des synonymen
'ähnlich' auf den älteren deutschen Sprachstufen . . . bringt es Init sich, daß auch
im älteren deutschen Gebrauch 'gleich' in dem schwächeren Sinn von 'ähnlich'
häufiger hervortritt, gelegentlich sogar Init ausdrücklicher Eingrenzung auf diese
Bedeutung ... ; im jüngeren Gebrauch tritt an die Stelle von 'gleich' = 'ähnlich'
mehr und mehr das Wort 'ähnlich"' 11 • Für das Substantiv 'Gleichheit' gilt ein ähn-
licher Sachverhalt: Seit dem 15./16 .•Jahrhundert Rind die 7.ehn in GRIMMS Wörter-
buch aufgezählten Hauptbedeutungsgruppen nachzuweisen: .Äußerliche und inner-
liche „similitudo", rechtliche und rangmäßige „paritas", „aequalitas" der Größe
und des Maßes, „identitas"; dazu die Sonderbedeutungen von „Gleichmäßigkeit",
„Gleichnis" und rechtlicher „aequitas".

e Vgl. KLuaEfMrrzKA 20. Aufl. (lll67), 260; GRIMM Bd. 4/1,4 (1949), 7963 ff.
10 Vgl. GRIMM Bd. 4/1,4 8124.
11 Ebd., 7939 f.

999
Gleichheit II. 1. Antike

II. Die Tradition des Gleichheitsdenkens bis zum Ausgang des


18. Jahrhunderts

1. Antike

Der Gleichheitsbegriff wird zuerst in den griechischen Polisstaaten des 6. und 5.


Jahrhunderts historisch faßbar. In der griechischen Naturphilosophie spielte seit
Em.pedokles 'Gleichheit' als ein allgemeines Gesetz des Kosmos und als ein Zentral-
begriff der sich entwickelnden Mathematik eine Rolle. Im Mittelpunkt stand der
Begriff 8µ01oi; (Gleichheit der Art, der Form und Eigenschaften, auch Ähnlichkeit),
der auch als Prinzip menschlicher Freundschaft und Gemeinschaft und dann zu-
nehmend ah Standesbegriff, zur Kennzeichnung der Zugehörigkeit zu einer sozialen
Schicht, im. sozialen Bereich verwandt wurde 12. Zum beherrschenden politischen
Gleichheitsbegriff wurde jedoch iuoc; (Gleichheit als qua,ntitativc lihereinst.imm1mg
an Größe, Besitz, Macht); dieser Begriff erlaubte ein konkretes Vergleichen der
Rechte, des Besitzes, der sozialen Position. Er konnte zum Inbegriff von Hecht und
Gerechtigkeit werden (µ611011 •o luo11 To t'ilurx1011), während die 6µ016TT}t; mehr bei der
Legitimierung von Rechtsansprüchen Verwend11ng fand 13.
Das Kompositum. luo11oµlrx (Gleichheit der Vollbürger nach dem Gesetz und in
den politischen Rechten) wurde ;mm zentralen Begriff des politischen Kampfes der
vollbürgerlichen Besitzschichten Athens um die Durchsetzung einer demokrati-
schen Staatsform. im. 5. Jahrhundert. Vor Ausbildung des Terminus t'iT)µouerxTlrx
hatte es Emgar die Funktion eines politischen Verfassungsbegriffs (- Dem.okra-
tie)14.
Im Rahmen der Aufklärungsbewegung des 5. Jahrhunderts stellten die Sophisten
mit der 6µ016TT}t; aller Menschen als Glieder einer Naturgattung einen Gleichheits-
begriff auf, der in seiner Konsequenz die sozialen Grundlagen der Polis-Demokratie
und deren iuor;-Gleichheiten sprengen mußte; denn in diese Vorform. eines natur-
rechtlichen Gleichheitsbegriffes wurden auch Sklaven und Nichtgriechen ausdrück-
lich einbezogen15.

12 Vgl. ÜARL WERNER MÜLLER, Gleiches ~u Gleiuhew. Ein Prinzip des frühgrieohlschen

Denkens (Wiesbaden 1965); GREGORY VLASTOS, Equality and Justice in Early Greek Cos-
mologies, Olassical Philol. 41 (1940), lGO IT.; KURT v. F.1U·1·~. Gleichheit, Kongruenz und
Ähnlichkeit in der griechischen Mathematik, Arch. f. Begriffsgesch. 4 (1959), 44 ff.; 0.
ScHULTHEISS, Art. Homoioi, RE Bd. 8/2 (1913), 2252 ff.
1 8 Zur Abgrenzung der Wortgruppen iuoi; und öµoioi; vgl. MÜLLER, Gleiches zu Gleichem,

X, Anm. 19; zur allgemeinen Verwendung von iuoi;: RuDOLF HmzEL, Themis, Dike und
Verwandt.es (Leipzig 1907), 228 ff. 421 ff.
14 - Demokratie, Bd. 1, 823. Vgl. z. B. HERODOT 3,80; EuRIPIDES, Hiket. 407 f.;
die Aufsätze in: lsonomia, hg. v. JÜRGEN MAu u. ERNST GÜNTHER Scmm>T (Berlin 1964);
CHRISTIAN MEIER, Die Entstehung des Begriffs Demokratie (Frankfurt 1970), bes. 36 ff.
Vgl. auch Begriffe wie luouerx-rla (z.B. HERODOT 5, 92, 1) und luT}yoetrx (Gleichheit des
Rechts auf Rede und Abstinlmung in der Agora; z. B. HERODOT 5, 78; EURIPIDES, Hiket.
438 ff.); die 1uo-Bildungcn durchziehen den ganzen politisclien Sprachbereich, schlagen
sich auch in Namensbildungen wie Isokrates, Isodike nieder. Das Substantiv luoTT}t; zu-
erst bei EuRIPIDES, Phoin. 535 ff. (als Prinzip bürgerlicher Gerechtigkeit).
16 Vgl. .PLATON, Protagoras 337 C und den Satz ANTIPHONS: Von Natur sind wir alle in allen

1000
D. l. Antike Gleichheit

Bei Platon und Aristoteles wurde der Gleichheitsbegriff erstmals zum zentralen Be-
standteil der politischen Theorie. Sie begründeten die Zuordnung von 'Gleichheit'
und 'Demokratie' in der politischen Verfassungslehre 16 • Ebenso traditionsbildend ·
wirkte ihre pejorative Akzentuierung der demokratischen Gleichheit als einer extre-
nten Verfassungsform, insbesondere durch die Unterscheidung zwischen einer pri-
vatrechtlichen „arithmetischen" und einer sozialpolitischen „geometrischen"
Gleichheit, mit der nicht ein sozialer Ausgleich, sondern die Wahrung bestehender
Verhältnisse gemeint war 17 . Auf Aristoteles geht auch die Lehre von einer naturge-
gebenen Ungleichheit der Menschen in ihren sozialen und politischen Funktionen
zurück 18 .
Die römische 'aequitas' war vorwiegend ein Begriff der Rechtsprechung und der
philosophischen Ethik. Sie diente als Prinzip der Gerechtigkeit und der natürlichen
Billigkeit zur Korrektur positiver Rechtsprechung in der Rhetorik und der präto-
rialen Praxis und konnte von daher - besonders in der Kaiserzeit - mit natur-
rechtlichen Anschauungen verbunden werden 19 •
Seit Cicero traten neben 'aequitas' die Begriffe 'aequalitas' und 'aequabilitas' auf,
von denen 'aequalitas' als Begriff der Übereinstimmung ('similitudo', auch bald im
übertragenen Sinn von 'paritas') eine zunehmend grllßere Bedeutung im ~mzialen
Bereich erlangte, je mehr 'aequitas' sich zu einem ausschließlichen Rechtsterminus.
zurückbildete. 'Aequalitas' spielte auch in der Stoa eine Rolle, in der der Begriff
einer Gleichheit aller vernünftigen und tugendhaften Menschen a.ls Glieder des Kos-
mos und Teilliaber des göttlichen Logos ausgebildet wurden, der jedoch nicht sozial-
jOlitisch, sondern individuell-moralisch akzentuiert war 20 •
Mit dem Christentum trat in. der Spätantike der Begriff der Gleichheit aller Men-
schen vor Gott auf, der durch die Erlösungstat Christi neu begründet wurde und
in der sozialen Vorstellungswelt der frühen Christenheit eine große Wirksamkeit
entfaltete. Er wurde mit den naturrechtlichen Gleichheitsvorstellungen der grie-
chisch-römischen Welt verbunden und in einen heilsgeschichtlichen Rahmen einge-
ordnet, in dem eine Gesellschaft von Gleichen den Ausgangs~ und Endpunkt der
Weltgeschichte bildete 21 .

Beziehungen gleich (öµotw,) gescliafjen, Barbaren wie Hellenen (Fr. 44B, 612). Vgl. FELIX
FLüCKIGER, Geschichte des Naturrechts, Bd. 1 (Zürich 1954), 86 ff.
18 Vgl. .Aru:sTOTELES, Pol. 1317 a 40 ff.; 1318 a 1ff.;1291 b 30 ff.; PLATON,Mcncxcnos

239a.
17 Vgl. PLATON, Nomoi 757 u. Pol. 8, 557-63; ARISTOTELES, Eth. Nie. H30b30ff.;

1131 a 22 ff.; Pol. 1318 a 10 ff.


18 Vgl. bes. Pol. 1254 f. Dazu FLÜCKIGER, Naturrecht, Bd. 1, 167 ff., bes. 172 ff.
18 Vgl. Rhetorica ad Herennium :!, 2, 3 und Dig. 1, l, 1 pr. u. 50, 17, :!2; FRITZ PRINGS-

HEIM, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1 (Heidelberg 1961), 131 ff. 154 ff. u. ö.; FLÜCKIGER,
Naturrecht, Bd. 1, 267 ff. Zum öffentlich-rechtlichen Begriff der aequa libertas vgl. CHAIM
WmszUBsKI, Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen
Prinzipats (Darmstadt 1967), 12 ff.
20 Vgl. CICERO, Rep. 3, 22; Top. 9.; SENECA, De benef.18, 2; Ep. 95, 52; EPmTET, Diss. l,

12, 27; 1, 13, 3-5; auch MARo AUREL 4, 4.


21 Vgl. Römer 2, 11; Galater 3, 28; Matthäus 20, 8 ff.; Lukas 7, 1 ff.; LAKTANZ, Div.

lnst. 5, 15 u. lRENÄUS, Adv. haer. 4, 41, 2; GUSTAV STÄHLIN, Art. iao,, lach:17,, Theologi-
sches Wörterbuch zum Neuen 'l'estament, .Bd. 3 (Stuttgart 11)38), 348 ff.; FLücKIGER,

1001
Gleichheit ll. 2. Mittelallel'

Mit Hilfe des Dogmas von der Erbsünde und der Aufnahme neuplatonischer Ordo-
und Hierarchievorstellungen sind die Theologen der nachkonstantinischen Epoche
dazu übergegangen, bestehende soziale Ungleichheiten theologisch zu legitimieren.
Seitdem galt in Theologie und Kirche nicht mehr die Gleichheit, sondern die Un-
gleichheit (diversitas, disparitas, praelatio) als der der göttlichen Schöpfung ad-
äquate Begriff. 'Ungleichheit' war der der spätantiken und frühmittelalterlichen
Welt angemessene Strukturbegriff; die Kirche war nicht mehr Kritiker dieser Ge-
sellschaft, sondern deren positiver Theoretiker 22 •

2. Mittelalter

Im von antiken Ullu tipeziell von kirchlichen Traditionen beherrschten Mittelalter


sind 'aequitas' und 'aequalitas' weiterhin die einschlägigen Begriffe. Him1ichtlich
ihrer Bedeutungsfelder gibL es kaum llUch Ouel"tlchneidungen. Die Tendenz, die sich
in der Spätantike abzeichnete, setzte sich bei der Ausprägung der Begriffsinhalte
verstärkt fort: 'aequitas' wurde fast ausschließlich zu einem Spezialterminus der
Rechtsprechung. Sie wurde synonym mit 'iustitia' und 'ius' gebraucht und als In-.
hegriff der „iustitia distributiva" verstanden. Zusätzlich wurden GmiichtApnnkte
christliohor miaorioordia geltend gemacht: 'aequitas' wurde alR 'evieikeia' (epi-
cheia) interpretiert2 3 •
'Aequalitas' wurde demgegenüber im Mittelalter zum beherrschenden Begriff jegli-
chen Verglei~hens. Grundbedeutung bleibt das gleiche Verhältnis meßharer rprn.n-
titativer Größen. Aequalitas est relatio quaedam fundata supra unitatem quantitati6',
definiert THOMAS 24 • Erst im übertragenen Sinn kann der Begriff auch für qualitative
Vergleiche im Bereich der sozialen Theorie w1d Jeti gesellschaftlichen Lebens ver-
wandt werden. Im Zusammenhang der Aristoteles-Rezeption wird la6n1' stets
mit 'aequalitas' wiedergegeben; die Unterscheidung zwischen „aequalitas arithme-
tica" und „aequalitas geometrica" ist seitdem ein geläufiger Topos.
Einen festen Platz hatte der Begriff im Rechtsleben überall dort, wo es um die Auf-
teilung eines Sachobjektes unter rechtsfähigen Personen g.ing . .Vorwiegend also in
vertrags-, handels- und erbrechtlichen Zusammenhängen wurde 'aequalitas' zur

Naturrecht, Bd. 1, 284 ff. 327 ff.; R. W. u. A. J. CARLYLE, A History of Mediaeval


Political Theory in Lhe We1:1t, vol. 1 (London 1927), 111 ff. Zur aequalitas als christologi-
schem Lehrbegriff vgl. HIERONYMUS, Commentarium in Ezechielem 9, 28, M!GNE, Patr.
Lat., t. 25 (1884), 269.
22 Vgl. AuGUSTINUB, De civitate Dei 11, 22; 19, 15; GREGOR I., Moralium libri, M!GNE,

Patr. Lat., t. 76 (1849), 203 u. Epistola LIV, ebd„ t. 77 (1896), 785 f.; FLÜCKIGER, Natur-
recht, Bd. 1, 360 ff.; CARLYLE, History, vol. 1, 117 ff. 147 ff.
23 Zur aequitas-Rechtsprechung bei den fränkischen Königen vgl. EKKEHARD KAUFMANN,

Aequitas iudicium. Königsgericht und Billigkeit in der Rechtsordnung de1:1 frühen Mittel-
alters (Frankfurt 1959). Vgl. THOMAS, Summa theologiae 2, 2, qu. 120, art. lc. Zur
Rechtsprechung der Glossatoren vgl. CARLYLE, History, vol. 1, 7 ff. u. NORBERT HORN,
Aequitas in den Lehren des Baldus (jur. DiBB. Köln 1968).
24 TrroMAs VON AQUIN, Scriptum in IV libros sententarium magilltri Petri Lombardi 1, 31,
1, zit. Thomas-Lexikon, hg. v. LUDWIG SCHÜTZ, 2. Aufl. (Paderbom 1895), 24. Zum Fol-
genden: Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, hg. v.
OTTO PRINZ, Bd. 1 (München 1967), 301 ff.

1002
II. 2. MitteWter Gleichheit

Charakterisierung eines gerechten Verhältnisses zwischen ebenbürtigen Rechts-


personen verwendet. Da zwischen privatem und öffentlichem, zwischen personen-
und sachenrechtlichem Bereich im Mittelalter nicht geschieden werden kann, haben
diese Rechtsvergleiche meist zugleich einen sozialpolitischen Akzent; der Begriff
'aequalitas' meinte nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Ver-
hältnis. Diese Verwendung von 'aequalitas' setzte jedoch stets voraus, daß die ver-
glichenen Personen sozial gleichwertig und vergleichbar waren, daß sie demselben
Stand oder Beruf und damit demselben Rechtskreis angehörten: „aequalem statum
habuere" war die entscheidende Voraussetzung. Der Gleichheitsbegriff konnte so
zum gruppeninternen Identifizierungsbegriff der mittelalterlichen Standesgesell-
schaft werden, was u. a. in der Umformung des Adjektivs 'aequalis' zum Substantiv
in der Bedeutung „Gleichgestellter", „Standesgenosse" zum Ausdruck kommt.
Das Nebeneinander der Begriffe 'aequitas' und 'aequalitas' hat sich über das Alt-
frA.n r.öRiRr.hP. im "FrA.nr.öRiRr.hP.n ('P.'111iM' 1mil 'egalitP.') 1mil vor allP.m im F.ngli1mhP.n
('equity' und 'equality') fortgesetzt. Im deutschen Sprachbereich fielen die beiden
Begriffe wieder in einem Wort zusammen: dem Begriff 'Gleichheit'. Nach DIEFEN-
BACHS „Lexikon" wurde sowohl 'equalitas' wie 'equitas' mit 'glicheit', 'glichlig-
keit', 'ebenmaßigkeit' etc. wiedergegeben; nur für 'equitas' ist zusätzlich die Son-
derbedeutung „rechtlichkeit" festgehalten 25 . Noch in Krnscns „Wörterbuch" von
1729 werden für 'Gleichheit' angegeben: aequitas, conformitas, parilitas, paritas,
unitas, proportio, congruentia, similitudo, aequiparatio, aequalitas, analogia, indif-
ferentia26.
Auch der deutsche Begriff 'gleich' mit seinen Komposita und Weiterungsformen,
zu denen seit dem 16. Jahrhundert auch das Substantiv 'Gleichheit' zählte, war ein
zentraler Begriff des Rechtslebens; er wurde im Mittelalter in einer nicht wieder
erreichten Häufigkeit und Bedeutungsvielfalt gebraucht. Ausgestorbene Wortfor-
men und -komposita, wie 'Gleichbietung', 'Gleiche', 'Gleicher', 'gleichge~ippt',
'gleichhalb', 'Gleichkauf', 'gleichparten', geben davon Zeugnis 27 • Zwei Bedeutungs-
richtungen lassen sich unterscheiden: einerseits der Gebrauch im Sinne von 'aequi-
tas' (Gerechtigkeit, Billigkeit, Recht): Die richtere sal gelilc richter sin allen lüden
(Sachsenspiegel); ein Schultheiss soll ... dem armen gleich dem reichen recht und gleich
lassen widderfaren (1490); andererseits der Gebrauch im Sinne von 'aequalitas',
der ein größeres Spektrum an Bedeutungen umfaßt; so neben dem breiten Feld
von quantitativer Übereinstimmung auch die Bedeutung von sozialer Ranggleich-
heit: wann ... ich oder mein eriben des haus ... verkaulfen, so sullen wir das geben
ainem geleichen pawman (1416). In der Sentenz eine gantz durchgehende paritäl,
aequalitet und gleichheit aller ... viederumb eingeführt (1749) ist das Nebeneinander
der lateinischen Ulld deutschen Begriffe festgehalten. Zum Vergleich ist hier auch
der alte Ausdruck 'seinesgleichen' und das Substantiv 'der Gleiche' in der Bedeutung
von „Standesgenosse" heranzuziehen 28 • Wie 'aequalitas' ist also auch 'Gleichheit'

n LORENZ DIEFFENBACH, Glossarium Latine-Germanicum (Darmstadt 1968).


28 ADAM FRIEDRICH KmscH, Cornu copiae linguae Romanae Germanico-Latinum, im An-
hang von HÜBNER 13. Aufl. (1729).
27 RWB Bd. 4 (1939/41), 926 ff., auch das Folgende. Vgl. auch GRIMM Bd. 11/3 (1936),

971.
as Vgl. GRIMM Bd. 10/l (1899), 353 f.

1003
Gleichheit II. 2. Mittelalter

im Mittelalter als Begriff des sozialen Statusvergleichs stets auf einen konkreten
Stand oder eine Gruppe bezogen; 'gleich' bedeutete „standesgleich". Bei dieser
Verwendung als gruppeninterner Identifizierungsbegriff wurde die gegebene Sozial-
ordnung vorausgesetzt, ihre Abgrenzung nicht überschritten, sondern bestätigend
festgehalten 29 •
In der offiziellen Sozialtheorie des Mittelalters spielte 'aequalitas' kaum eine Rolle.
Das durch den Ordo-Gedanken bestimmte hierarchische Gesellschaftsbild enthielt
dagegen die Gegenbegriffe 'inaequalitas' und 'disparitas' als positive Charakteri-
sierungsbegriffe. Folgender Zusammenhang aus einer Abhandlung von 1693 belegt
zugleich die ungebrochene Geltung ä.ieser Anschauungen bis in die frühe Neuzeit 3 0:
Ex inaequalibus dissonis plane et contrariis Deus hoc totum universum composuit, in
qua inaequalium compositione et conjunctione mira Dei sapientia elucet, so allgemein
zur göttlichen Schöpfung; und speziell zur menschlichen Gesellschaft: Postquam
hflmo 1.1ecca.i11:t, expulms e pa.rad·z:so . . . van:ac lzorn·inii.m societates ·instü·utae sunt.
Neque in tam varia hominum societate omnes possunt esse aequales, quod non patitur
genius multiplex hominum; etenim natura . . . hos . . . imperare, parere illos iussit ...
Sie humana societas regitur inaequalüate; liaec inaequalüas nüvil est aliud, quam con-
cors quaedam discordia, et concordia discors ... ; nihil enim consistere potest sine ordine,
ubi autem est ordo, ibi superius et inferius, maius et minus. Ideoque hanc inaequalita-
tem inter cives h<JJrmonica politiarum ratio exigit. Als das Natürliche und Vernünftige
in Kosmos und Gesellschaft galt eine Ordnung der gestuften Rechte und Vollkom-
menheiten 31.
Der antike naturrcchtlichc Gleichheitssatz war zwar im Mittelalter als Traditionsgut
nicht unbekannt, das natürliche Recht wurde jedoch mit dem göttlich geoffenbarten
G11R11tz gleichgesetzt, und als dessen Inbegriff galt der biblische Satz von der gleichen
Vergeltung, die sog. „Goldene .Regel", die lediglich eine formale und subjektiv
variierbare Klugheitsmaxime des individuellen Verhaltens beinhaltet 32 •
Neben den hemmhenden Soziallehren war die biblisch-frühchristliche Anschauung
von der Gleichheit der Christen vor Gott während des Mittelalters nicht vergessen;
sie wurde überall dort, wo sich soziale Unzufriedenheit entwickelte und artiku-
lierte, als Ideal- und Legitimierungsbegriff aktualisiert. Das Mönchtum, in dem der
urchristliche Gleichheitsbegriff besonders wachgehalten wurde, bildete den Aus-
gangspunkt solcher Bewegungen33 • Hier wäre an Joachim von Fiore zu erinnern,
an den Franziskanerorden, insbesondere dessen Spiritualenstreit, an halb- oder
außerkirchliche Bewegungen wie die Waldenser, an die spätmittelalterlichen Frau-
enorden, an die „Brüder und Schwestern vom Heiligen Geist" oder an die Hus-
siten, schließlich an die theologische Rom-Kl'itik seit dem 14. Jahrhundert, insbe-
sondere durch Marsilius von Padua, Wiclif und die Konzilstheologie des 15. Jahr-

29 Vgl. W.ALTER ULLMANN, The Individual and Sooioty in tho Middlo Agos (London 1967),

53 f. u. ö.
30 GERHARD HAGEMANN, De omnigena hominis nobilitate libri quattuor (Hildesheim

1693), 480 f.
31 Vgl. FLÜOKIGEU, Naturrecht, Bd. 1, 411 ff„ zu Thomas speziell ebd., 447 ff.
32 Vgl. ebd„ Bd. 1, 396 ff.; HANS v. VoLTELINI, Der Gedanke der allgemeinen Freiheit in

den deutschen Rechtsbüchern, Zs. f. Rechtsgesch., germanist. Abt. 57 (1937), 189 ff.
aa Vgl. Regeln Benedikts, Kap. 2. 33.

1004
II. 2. Mittelalter Gleichheit

hunderts 34 • Auch bei den außerkirchlichen sozialen Protestbewegungen des späten


Mittelalters war die biblisch-urchristliche Gleichheit vor Gott der maßgebende Legi-
timationsbegriff. Für Deutschland wäre die Reformatio Sigismundi heranzuziehen,
deren Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft mit dem Satz begründet wird:
kein adel, kein gewalt, kein gut hilft zu einem erheben vor got. Alle stehen in glicher
fryheit zu hymel3 5 •
Im deutschen Bauernkrieg von 1525 wird ein neuer sozialpolitischer Begriff 'Gleich-
heit' greifbar, so in der Landesordnung MICHAEL GEISMAYRS vom Januar 1526:
Zum 5. sollen alle Ringmauern in den Städten, desgleichen alle Schlösser und Befesti-
gungen im Lande niedergebrochen werden und hinfür nimmer Städte, sondern Dörfer ·
sein, damit kein Unterschied der Menschen werde, also daß einer höher oder besser wie
der andre sein soll, daraus dann im ganzen Land Zerrüttung und Aufruhr entstehen
kann. Sondern es sei eine ganze Gleichheit im Lande 36 • 'Gleichheit' ist hier zu einem
Rm:iah1topiRr.hAn ZiAlhAeriff eflWOT'Ofln. Mit, ihm wiril iliA hAITRflhAnilA Ror.ialorilrnmg
negiert und das Ideal einer Gesellschaft von Gleichen auf agrarisch-dörflicher
lirundlage entworfen. Ver Begründungszusammenhang, m dem dieser sozialrevo-
lutionäre bäuerliche Gleichheitsbegriff mit der Gleichheit der christlichen Tradition
steht, geht aus dem dritten der zwölf Artikel der Bauern vom März 1525 hervor 37 •
Von den umfassenden, die sozialen Probleme der ländlichen und städtischen Unter-
schichten aufnehmenden Gleichheitsvorstellungen der als „Täufer und Schwärmer"
bezeichneten Gruppen sind keine direkten Zeugnisse erhalten 38 •
In der Reformation kam LUTHER aus der Erkenntnis, daß alle Menschen in gleicher
Weise Sünder und Gerechtfertigte vor Gott sind, zu der Folgerung, daß es keine
theologische Rechtfertigung von Unterscheidungen und Vorrechten innerhalb der
Kirche geben könne, daß alle Christen sein warhafttig geystlichs stands, unnd ist unter
yhn kein unterscheyd ... das macht allis, das wir eine tauft, ein Evangelium, eynen
glauben haben, unnd sein gleyche Christen . . . Dem nach so werden wir allesampt
durch die tauft zu priestern geweyhet 39 • Durch diese These von Priestertum aller
Gläubigen wurde der biblische Begriff von der Gleichheit vor Gott in einer Weise
aktualisiert, daß er auf dem Hintergrund der sozialen Spannungen des frühen 16.
Jahrhunderts sofort in kirchen- und sozialpolitische Aktivität umgesetzt werden
konnte. So konnte der noch relativ junge deutsche Begriff 'Gleichheit' im ersten
Jahrzehnt der Reformation bereits im Mittelpunkt einer Diskussion stehen, in der
es um die Frage ging, ob und wie sich die neue christliche Gleichheitserfahrung im

a4 Vgl. bes. NoRMAN CoHN, Das Ringen um das Tausendjährige Reich (Bern 1961), 187 ff.
204 ff.; HERBERT GRUNDMANN, Studien über Joachim von Fiore (Leipzig 1927), 104 .IT.;
BERNHARD TÖPFER, Das kommende Reich des Friedens (Berlin 1964), 48 ff. 104 ff. 283 ff.;
GoRDON LEFF, Heresy in the Later Middle Ages (Manchester 1967).
36 MANFRED STRAUBE, Die Reformatio Sigismundi, in: Die frühbürgerliche Revolution

in Deutschlaml (Berlin 1961), 114. Vgl. Sachsenspiegel, Landrecht 3, 42.


36 ÜTTO HERMANN BRANDT, Der große Bauernkrieg (Jena 1925), 172.

37 Vgl. Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs, hg. v. GÜNTHER FRANZ (1963), 176.
38 Vgl. lediglich [KLEMENS LÖFFLER], Die Wiedertäufer zu Münster 1534/35 (Jena 1923),

96 f.; THOMAS MüNTZER, Bekenntnis, 16. Mai 1525, Sehr. u. Briefe, hg. v. Günther Franz
(Gütersloh 1968), 548.
39 LUTHER, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes

Besserung, WA Bd. 6 (1888), 407; vgl. ebd., 409 u. Bd. 11 (1900), 271.

1005
Gleichheit D. 3. Herausbildung des bürgetlichen Gleichheitsbegriffs

sozialpolitischen Bereich auswirken sollte. Die Anschauungen, die Luther in diesem


Zusammenhang entwickelte, hatten für die weitere Begriffsentwicklung in Deutsch-
land eine schwer zu unterschätzende Bedeutung. In den Wochenpredigten von
1530 findet sich eine komprimierte Zusammenfassung: Das ist ja so klar, ... das
inn dem stück daher wir Christen heissen, gar kein ungleicheit noch forzug der personen
ist, sondern einer wie der ander, man, wib, jung, alt .. ·. fürst und bauer, her und
knecht. . . . Aber darnach, wenn man beginnet zu komen inn das eusserlich wesen und
unser thun . . . Da wird es nu ungleich und gehet an die mancherley unterscheid unter
den Christen, nicht als Christen noch nach dem Christlichen wesen sondern nach den
fruchten des selben 40 • Die dualistische Grundstruktur von Luthers Denken, seine
Unterscheidung von innerem und äußerem Wesen, von Christ und Weltbürger
prägt auch seinen Gleichheitsbegriff. 'Gleichheit' wird von ihm ausschließlich auf das
innere, geistige Sein bezogen, während 'Ungleichheit' das äußerliche Wesen, das
T,P.h1m in der bürge.rlichen Geselliichaft kennzeichnet. Begriff und Gegenbegriff
werden hier zugleich festgehalten und stehen in einer latenten Spannung zueinan-
der. Uer religiös aktualisierte Gleichheitsbegriff bleibt auf das Innere ~eschränkt
und darf sich nicht auf die sozialen Lebensverhältnisse auswirken. Obrigkeitslehre
und bewahrend-patriarchalisches ·Sozialdenken sind seitdem für den deutschen
Protestantismus kennzeichnend geblieben 41 , während die praktische soziale An-
wendung protestantischer Gleichheitsvorstellungen in Deutschland zum Spezifikum
meist außerkirchlicher religiöser Bewegungen, Sekten und Gemeinschaften wurde.

3. Die Herausbildung des bürgerlichen GleichheitshegriJfs der Neuzeit

a) Sozio-politische Grundlagen. Mit der Entstehung bürgerlicher Schichten und


deren gesellschaftlicher Durchsetzung war die Herausbildung eines neuen Gleich-
heitsbegriffs verbunden, der als sozialpolitischer Korrektiv- und Erfüllungsbegriff
wesentlich zur Überwindung der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur beigetragen
hat und zu einem der zentralen sozialpolitischen Leitbegriffe der Neuzeit wurde.
In der Entwicklung der Städte spielte Gleichheit als Prinzip und Forderung
eine wichtige. Rolle, so schon bei deren Entstehung, den Kaufmannsgilden, die
Schwurverbände von Gleichen waren, an die sich neue Personengruppen, vor allem
Unfreie vom Lande, angliederten und den Bürgern gleichgestellt werden konnten.
Die Einwohner fler Rt.a.dt waren - unbeschadet ihrer sozialen und politischen Un-
terschiede - gleich in der Freiheit vom Feudalsystem, sie waren „cives", nicht
„subditi"; das ius civile faßte alle zu einer Rechtsgemeinschaft zusammen. Concor-
d,iae studium inter cives est, schreibt ALTHUSIUS, quo inter cives amicitia, aequitas,
iustitia, pax, honestas conservatur ... H anc concordiam f01iet et tu,etu,r a,equabilitas ...
Civem enim, opportet aequo et pari cum civibus jure 'V'ivere. Und in einer Hamburgi-
schen Zeitung von 1724 heißt es: Wir handhaben Gerechtigkeit im Gerichte, Treue und
Glauben im Handel und Gleichheit unter den Bürgern 42 • In den Städten entwickelte

40 LUTHER, Wochenpredigten über Math. 5-7, WA Bd. 32 (1906), 536 f. Vgl. ebd„ Bd. 18

(1908), 327. 357 f.


u Vgl. ERNST TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Tübin-
gen 1912), 473 ff. 491 :lf. 532 ff. 541. .
u ALTHUSIUS, Politica methodice digesta 6, 46 f„ 3. Aufl. (Herborn 1614) u. Der Patriot

1006
a) Sozio-politische Gmndlagen Gleichheit

sich ein verfassungsrechtlicher Begriff von der Gleichheit aller Bürger als Rechts-
personen einer sich selbstverwaltenden politischen Gemeinschaft. Dabei darf nicht
übersehen werden, daß diese Bürgergleichheit noch nicht den Rahmen der mittel-
alterlichen Standesgesellschaft sprengte; sie umfaßte nur diejenigen, die das Bür-
gerrecht erworben hatten. So kam es auch in den Städten zu Gleichheitsforderungen
der benachteiligten Gruppen, wie in den sog. Zunftrevolutionen des 14. Jahr-
hunderts und bei den Aufständen der Stadtarm:ut im ausgehenden Mittelalter 43 •
Bedeutsamer für die Herausbildung des neuzeitlichen Gleichheitsbegriffs war die
Entstehung von souveränen Territorialstaaten. Zunächst dadurch, daß hier - be-
gleitet von der Rezeption des Römischen Rechts - Rechts- und Verwaltungsre-
formen durchgeführt wurden, die im Zeichen der Vereinheitlichung und Gleichbe-
handlung standen 44 • Nicht zuletzt zur Bewältigung dieser Aufgaben entstand im
Dienste der Höfe eine Schicht von Beamten, die_ den Kern einer neuen Kategorie
von Riirgerlid1en hilc1ete. Deren geHellHd1aftliche urn1 politiHcl11i Rrnanr.ipation
ist der eigentliche Hintergrlll?-d für die Herausbildung des neuzeitlichen Gleich-
heitsbegriffs: 'Gleichheit' wurde zum leitenden lntegrationsbE'.griff bei der Assozi-
ierung der neuen bürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zur öffentlichen, ständisch
goprägton Stn,11,tf\ und Hofgmmllf1ohaft. Daß oo im,tor uri.gloiohori, Stari,dooporoori,on
eine Gk,ichheit 'und Ge11ell11chaft gef!roUen würde, heißt es in der Gründungsurkunde
einer Spracligesellschaft des 17. Jahrhunderts 46 •
Charakteristisch für die neue Schicht ist deren Spitzengruppe, die aufgeklärte In-
telligenz. Sie verstand sich über die Staatsgrenzen hinweg als eine „Gelehrte Repu-
blik" von Gleichen. In PIERRE BAYLES „Nouvelles de la Republique des Lettres''
von 1684 heißt es im programmatischen Vorwort: Entre ce seus za tous les Scavans se
doivent regarder comme freres, ou comme d'aussi banne maison les uns que les autres.
Ils doivent dire: Nous sommes tous egaux, nous sommes tous parens, comme enfans
d' Apollons 46 • 'Gleichheit' bezeichnet das interne Verhältnis der Mitglieder der
„Gelehrten Republik" zueinander und dient der Abgrenzung gegenüber der Masse
der Ungebildeten. Analog dazu ist die Charakterisierung der Universität als Aus-
bildungsstätte der neuzeitlichen Intelligenz: Adl,icher, unmittelbarer Re,ichs-Adliclier
und Bürgerlicher, vornehmer Bürgerlicher und der Niedrigste, dem man einmal die
Matrikel gegeben hat, sind gleich. Hier ist also einmal die Gleichheit des menschlichen
Geschlechts wieder eingeführt, heißt es in einem Urteil aus dem 18. Jahrhundert 47 • -
Daß eine auf interner Gleichheit beruhende Gesellschaft sich im 18. Jahrhundert

49 (7. Dezember 1724). Vgl. HANS PLANITZ, Die deutsche Stadt im Mittelalter, 2. Aufl.
(Graz, Köln 1965), 75 ff. 87 ff. 100 f. 251 ff.
43 Vgl. ERICH MAsCHKE, Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten

Mittelalters, Vjschr. f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch. 46 (1959), 289 ff. 433 ff.


44 Vgl. FRANZ WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. (Göttingen 1967),

124 ff.
45 Zit. JÜRGEN HA.BERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 3. Aufl. (Neuwied 1968),

46. Vgl. ebd„ 33 ff. 45 ff.


46 Zit. MAX KmscHSTEIN, Klopstocks deutsche Gelehrtenrepublik (Berlin, Leipzig 1928),

46 f., Anm.; vgl. ebd., 62.


47 JoH. DAVID MICHAELIS, Raisonnement über die protestantischen Universitäten in

Deutschland, Tl. 4 (Leipzig 1776), 167 f.

1007
Gleichheit D. 3. Herausbild"'1Jlg des bürgerlichen Gleiehheitsbegrift's

noch nicht öffentlich, sondern nur abgeschirmt oder geheim konstituieren konnte,
zeigt das Phänomen der Freimaurerei, wo die gesellschaftlichen Unterschiede in-
nerhalb der Logen durch eine Gleichheit aller Mitglieder als „Brüder" überwunden
bzw. verdeckt werden sollten. Ein Logenschriftsteller schreibt: Das Geheimhalten ...
schien mir deswegen eingeführt ... , um die weite Kluft auszufüllen, die zwischen den
verschiedenen Ständen des Staates sich befindet und befinden muß, um hierdurch eine
Gleichheit unter den ungleichen Gliedern, welche bei einer gemeinschaftlichen Arbeit zu
einem gemeinsamen Zweck nötig zu sein scheint, herstellen zu können, welches bei
publiken Gesellschaften unmöglich ist 48 •
In der Frühphase der bürgerlichen Emanzipation hat 'Gleichheit' also allgemein die
Funktion eines sozialen Integrationsbegriffs für die private bürgerliche Gesellschafts-
bildung. Dabei ging es vor allem in Deutschland nicht nur um eine Gleichstellung
unter den verschiedenen bürgerlichen Gruppen, sondern ebenso um eine soziale
Annäherung zwischen den arrivierten Bürgerlichen und dem Adel; die interne
Gleichheit sollte die gesellschaftliche Kooperation der durch Standesgrenzenge-
trennten Schichten ermöglichen. Deshalb darf auch die strenge Abgrenzung dieser
Gleichheitsgesellschaft nach außen, gegenüber dem „Volk", den Mittel- und Unter-
schichten, nicht übersehen werden; sie ist charakteristisch und konstitutiv, auch wenn
ideologisch von einer „Gleichheit des menschlichen Geschlechts" die Rede ist.

b) Theoriebildung. Die über diese Grenzen weit hinausgehende Wirkung des bür-
gerlichen Gleichheitsbegriffs im 18. und 19. Jahrhundert kann nur von seiner mrnen
theoretischen Grundlegung her zureichend verstanden wel'den. Schon bei der Her-
ausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaften rückte der Gleichheitsbegriff in
einen neuen Bedeutungszusammenhang. Man ging bei de!' Erforschung der Natur-
phänomene nicht mehr von Schöpfungsindividualitäten aus, sondern erkannte den
Grundvorgang alles natürlichen Geschehens in gleichförmigen Bewegungsabläufen,
die quantitativ gemessen und deren Gesetzmäßigkeit berechnet werden konnte. Die
Mathematik als Wissenschaft des Gleichförmigen und Meßbaren wurde zur führen-
den Wissenschaft und bestimmte das Denken der Zeit. In diesem Zusammenhang
wurde 'Gleichheit' einschließlich neu gebildeter Komposita zu einem mathematisch-
naturwissenschaftlichen Spezialbegriff, der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auch
im Sprachgebrauch des lesenden Publikums einen führenden Platz einnahm; die
traditionellen rechtlich-ständischen Bedeutungen traten demgegenüber in den
Hintergrund. So sind in ZEDLERS „Universallexicon" von 1735 folgende einschlä-
gigen 8tiClhworte enthalten: 'Gleiche Zahlen'; 'gleichförmige Bewegungen'; 'Gleich-
heit, lat. similitudo' (mit scholastischer Begriffsaufgliederung); 'die mathematische
Gleichheit, lat. aequalitas'; 'Gleichheit mit Gott, siehe Mensch'; 'Gleichheit derer
Menschen, siehe Mensch'; 'Gleichmachung' (mit mathematischer Erklärung) 49 •
Auf sozialpolitischem Gebiet war grundlegend das seit der Renaissance sich durch-
setzende nmrn Bild vom Menschen als eines autonomen Subjekts im Rahmen natür-
licher Zusammenhänge. 80 konnte P.R im 16. Jahrhundert bei den Gelehrten zu einer

48 FERDINAND FRH. v. MEGGENHOFEN, Meine Geschichte und Apologie (Nürnberg 1786),

70; Vgl. REINHART KoSELLECK, Kritik und Krise (Freiburg 1959), 55 ff. 179 f.
49 ZEDLER Bd. 10 (1735), 1634 ff.; vgl. auch JABLONSK.I 2. Au:O.. (1748), 399; HÜBNER

13. AuJl. (1729) (jeweils zum Stichwort).

1008
b) Theoriebildung Gleichheit

Wiedererweckung des antik-stoischen Begriffs von der Gleichheit aller Menschen


als vernunftbegabter Naturwesen kommen. Beispielhaft ist hier das Kapitel „De
l'inequalite qui est entre nous" in MoNTAIGNES Essais 50, wo Ungleichheit weiterhin
als eine gesellschaftliche Notwendigkeit gilt, jedoch deren traditionelle Maßstäbe
wie Geburtsstand, Rang oder Reichtum in Frage gestellt werden; denn in ihren
natürlichen Lebensbedingungen seien alle Menschen gleich. 'Ungleichheit' ist hier
nicht mehr der theoretische Wertbegriff einer statisch festgelegten Seinsordnung,
sondern zur variablen Funktion der persönlichen Leistung und des individuellen
Verhaltens geworden.
Erst in Verbindung mit der modernen Naturrechtstheorie jedoch konnten jene
Anschauungen zu einem sozialkritischen Gleichheitsbegriff ausgebildet werden.
Bei HOBBES, dem konsequentesten Vertreter einer empirisch-rationalen Gesell-
schaftswissenschaft in den Spuren des neuen naturwissenschaftlichen Denkens,
kommt die Rolle des GlcichhciLsbcg1ilfä im neuzeitlichen Naturrecht besonders
klar zum Ausdruck. Hobbes geht von der „natural condition of mankind" aus und
stellt fest: Nature has made men ... equall, in the faculties of body, and mfr1,d. Rnt-
scheidend ist für ihn der Gesichtspunkt, daß trotz -individueller Unterschiede jeder
Mensch dazu in der Lage ist, das Leben seines Nachbarn zu bedrohen: Aequales
sunt, qui aequalia contra se invicem possunt. At qui maxima possunt, nimirum occi-
dere aequalia possunt. Sunt igitur omnc8 hominc.~ inter .~e aequ,a,le8. Daraus folgt die
Gleichheit aller im Interesse an der Erhaltung des eigenen Lebens: From this equa-
l-ity uf ab-il-ily, ar-iseth eq'uality of hope in the attaining of our ends ... which is princi-
pally thcir own con„~ervati:on. Hob bes nennt dieses Interesse ein „natural right":
es umfasse alle Maßnahmen, die zur Wahrung der Selbsterhaltung dienen; er
definiert es als natttral right of every man to every thing, even to one anothers body 51 •
ln dieser äußersten Konsequenz des „natural right" wird der Unterschied zum tra-
ditionellen Naturrecht signifikant. Hier geht es nicht um theologische oder moral-
philosophische Grundsätze, sondern allein um die Proklamierung des gleichen Rechts
eines jeden Menschen auf eine gesicherte Existenz und deren freie, eigenverant-
wortliche Entfaltung. Dieser Gleichheitsbegriff hatte eine korrektive bzw. kritische
Funktion; er war gegen die auf Aristoteles zurückgehende Lehrtradition von einer
naturgegebenen sozialen Ungleichheit gerichtet 52 und damit gegen jeden Versuch,
bestehende soziale Unterschiede zum Ausgangspunkt der sozialpolitischen Theorie-
bildung zu machen und sie dadurch zu legitimieren. Von da.her iRt-gp,g1miihP.rninP.m
bis heute verbreiteten Mißverständnis - festzuhalten, daß der naturrechtliche
Gleichheitssatz nicht die Aussage enthält, alle Menschen seien in ihren natürlichen
Anlagen und Fähigkeiten gleich, selbst wenn bei seiner Formulierung mitunter die-
ser Eindruck entsteht. Er besagt vielmehr, daß alle Menschen unter naturgegebenen
Bedingungen, d. h. unter Abschung von den geRchichtlichen Rnt.wir,khmgP.n, in
ihrem Verhältnis zueinander gegenseitig gleichen Wert und gleiches Recht haben.
Der naturrechtliche Gleichheitsbegriff ist ein sozialer Rechtsbegriff, kein anthro-

&o Mwa.i.:L u.i.: MoN'l'AWN.1':, Essais 1, 42. Vgl. WILHELM DILTHEY, Ges. Sehr., 2. Aufl..,
Bd. 2 (Leipzig H:l21), 16 ff. 29 f. 259 ff.
51 HOBBES, Leviathan 1, 13 f. EW vol. 3 (1839), 110 f. 117; De cive 1, 3. Opera, t. 2 (1839),

162.
02 Vgl. ders., De cive 3, 13. Opera, t. 2, 189; Leviathan 1, 15, EW vol. 3, 130 ff.

64-90386/1 1009
Gleichheit D. 3. Herausbildung des bürgerlichen Gleicbheitsbegrift's

pologisch-naturkundlicher Lehrbegriff. Die traditionelle philosophisch-moralische


Anschauung von der natürlichen Gleichheit wurde hier zu einer Rechtsposition um-
gewandelt, die als Anspruch geltend gemacht werden konnte. 'Gleichheit' war zu
einem operationablen Rechtsbegriff geworden, zu einem sozialrechtlichen Postulat,
das auf seine Einlösung wartete.
Im Rahmen der Naturrechtstheorie geschah dies in der Lehre vom Vertrag. Die
Rechtsform des Vertrages enthält als Institution des Privatrechts und des Völker-
rechts die rechtliche Gleichwertigkeit der beteiligten Partner als ein konstitutives
Element. In contractibus natura aeqimlitatem imperat, heißt es bei GROTIUs 53 . Die
Übertragung dieser Rechtsform auf die Gesellschaftstheorie, die seit Üem ausge-
henden Mittelalter einsetzt, stand deshalb von Anfang an im Zusammenhang von
Gleichberechtigungsbestrebungen54 . Im 17. und 18. Jahrhundert war das Anschau-
ungsmodell des Vertrages dominierend in der sozialpolitischen Theoriebildung; alle
gesellschaftlichen Institutionen wurden als eine vertragliche Abmachung von ur-
sprünglich autonomen und gleichberechtigten Individuen verstanden. Der Ge-
sichtspunkt der rechtlichen Gleichwertigkeit stand dabei im Vordergrund: without
mutuall acceptation, there is no Oovenant, heißt es bei HoBBES über den Gesellschafts-
vertrag55. Men ... wi:ll not p,r1,tp,r into condüion.~ of Pp,acp,, but 1tpon eqimll termes, such
equalitie must be admitted. Mit dieser Gleichheit ist kein natürliches Faktum ge-
meint; hier geht es um einen deklaratorischen Willensakt: Sive iyitur natura homines
aequales inter se sint, aynoscenda est aequalitas; sive inaequales, quia certaturi sunt de
imperio, neccessarium est ad pacem consequendam ut pro aequalibus habeantur. Die
Gleichwertigkeit der Partner ist demnach in einem solchen Maße konstitutiv für die
Gültigkeit des Gesellschaftsvertrags, daß sie postuliert werden muß, auch wenn
eine Gleichheit faktisch nicht gegeben ist. Im Unterschied zum „natural right"
nennt Hobbes diese Gleichheit ein „law of nature" und formuliert sie mit dem Satz:
That every man acknowledge other for his Equall by Nature.
In der naturrechtlichen Theorie sind demnach zwei Begriffe von Gleichheit zu un-
terscheiden: der von der natürlichen Gleichheit der Menschen und der von der
Rechtsgleichheit aller als soziale Vertragspartner. Es ist jedoch charakteristisch, daß
beide kausal miteinander verschränkt sind: Innerhalb der Lehre voni Gesellschafts-
vertrag findet der naturrechtliche Gleichheitsbegriff seine konkrete Anwendung und
zugleich seine vernunftrechtliche Legitimierung. Erst hier wird vollends deutlich,
daß nicht eine Theorie über natürliche Gleichheit von Menschen, sondern die For-
derung nach sozialer Gleichberechtigung den Kern des naturrechtlichen Gleichheits-
begriffs ausmacht.
Folgerichtig angewandt, lag in dem naturrechtlichen Gleichheitsbegriff eine Ten-
denz zu einem egalitären Gesellschaftskon.r.ept und einer demokratisch-republika-
nischen Verfa1>sung1>form 56 . Die Interesi>en des aufsteigenden Bürgertums im 17.
und 18. Jahrhundert, insbesondere in England und Deutschland, gingen jedoch
nicht in diese Richtung; für dessen Theoretiker kam es··somit darauf an, den An-
spruch des naturrechtlichen Gleichheitsbegriffs mit der gesellsohaftlichen Wirklich-

63 Huoo GRO'l'lUS, De iure pacis ac belli 2, 12, 8.


51 Vgl. ÜTTO GIERKE, Joha1mel! Althu!!iUI!, 3. Aufl. (Dresden 1913), 39 ff.
66 HOBBES, Leviathan 1, 14; Vgl. De cive 2. Das Folgende: Leviathan 1, 15 u. De cive 3, 13.
66 Vgl. SPINOZA, Theologisch-politischer Traktat 16.

1010
II. 4. Deutschland im 18. Jahrhundert Gleichheit

keit zu vermitteln. SAMUEL PuFENDORF, der den Ansatz von Hobbes umsichtig
mit der traditionellen Gesellschaftstheorie verbunden hat, ist hier bespielhaft, be-
sonders für' die Urteilsbildung in Deutschland. Er leitet aus dem naturrechtlichen
Gleichheitssatz auch die moralischen Kategorien der Gleichachtung und Wohlge-
sonnenheit als Maximen des gesellschaftlichen Verkehrs ab und definiert ihn deshalb
in doppelter Hinsicht: Oonsistit autem isthaec hominum aequalitas non in eo solum,
quod hominum ... vires fere sint aequales ... sed et in eo, quod legis naturalis praecepta
adversus alios sint exercenda 57 • Grundlegend für die Absicherung der Gleichheits-
theorie wurde jedoch die Unterscheidung zwischen einem „status naturalis" und
einem „status civilis" in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Während
im „status naturalis" eine „aequalitas potestatis seu libertatis" herrschte, heißt es
vom „status civilis": Quae aequalitas deinde per statum civilem fuit sublata, ...
dum unus aut plures potestatem iubendi in .alios acceperunt . . . maxime sane
·inaequa.z.ita.s ·inter ünperantes et s-i1.b-iectos res'lllla'l'-il 58 • Beilll Üuergang d1:1r G1:11:11:1ll-
schaft in den „status civilis" verwandelt sich also die gesellschaftliche Gleichheit in
eine für das Bestehen der bürgerlichen Gesellsch~ft notwendige Ungleichheit.
Men ... wlten tltey enter ·inlo soC'iety, y·ive ·up tlte 13q•uality ... only wit'}_i an intention in
every one ... the better to preserve himself, his liberty and property, betont JorrN
LocKE 59 •
Zugunsten der Sicherung des privaten Eigentums wird das Recht auf soziale
Gleichheit aufgegeben bzw. eingeschränkt; nicht nur bei Locke ist dies der ent-
scheidende Gesichtspunkt. Der als zeitlos gültige Wahrheit konzipierte Gleichheits-
satz wird hier historisiert, indem er auf eine Frühphase der menschlichen Gesell-
schaft :fixiert wird. Damit war in der Tat seine potentielle sozialpolitische Spreng-
kraft aufgehoben, und der Begriff einer gesellschaftlichen Ungleichheit konnte inner-
halb der Naturrechtstheorie selbst als positiver Gegenbegriff verankert werden.
Wenn Pufendorf abschließend betont, verum ista inaequalitas civilis nihil obstat illis
praeceptis, quae ex aequalitate naturali iam deduximus, dann be,stätigt er nur die
latente Spannung, die zwischen den beiden Konzeptionen vorhanden blieb. Das
Nebeneinander eines sozialkritischen Gleichheitsbegriffs und dessen historischer
Relativierung unter Anerkennung der bestehenden Gesellschaftsstrukturen ist
kennzeichnend für die klassische Naturrechtstheorie, die in das vorrevolutionäre
Stadium der bürgerlichen Emanzipationsgeschichte gehört.

4. Deutschland im 18. Jahrhundert

Der naturrechtliche Gleichheitsbegriff, den die Theoretiker des 17. Jahrhunderts


entwickelten, ist im Verlauf des 18. Jahrhunderts in die Vorstellungswelt des gebil-
deten Publikums eingegangen und auch in Deutschland zu einem Ilegriff der allge-
meinen Diskussion über politische und gesellschaftliche Fragen geworden. Hier ist
jedoch zunächst auf eine verfassungspolitisch und konfessionell bedingte Besonder-
heit hinzuweisen: auf den deutschen Spezialbegriff der konfessionellen Gleichheit
im Sinne von „Parität", der in der reichsrechtlichen Literatur eine wichtige Rolle

57 SAMUEL PuFENDORF, De officio hominis et oivis 1, 7, § 2 (1673).


5a Ders„ De iure naturae et gentiun;i 3, 2, 9.
&9 LOCKE, Second 'l'reatise 9, 131. Vgl. 123.

1011
Gleichheit II. 4. Deutschland im 18. Jahrhundert

spielt: Inter utriusque religionis electores, principes, status omnes et singulos sit
aequalitas exacta mutuaque . . . ita ut, quod uni parti iustum est, aUeri quoque sit
iustum, heißt es im Westfälischen Frieden 60 • Noch ein Kqmmentar von 1795 doku-
mentiert den Stolz über diesen teuer erkämpften Rechtszustand: Der Natur der
Sache und jedem echten Grundsatz von VerhäUnissen verschiedener Religionen in einem
Staat konnte ... nichts angemessener sein als die Feststellung einer völligen gegensei-
tigen Gleichheit zwischen den beiden Religionsteilen61 .
Die allgemeine Situation des deutschen Begriffsgebrauchs im 18. Jahrhundert ist
zunächst durch ein Vorherrschen mittelalterlich-ständischer Anschauungen gekenn-
zeichnet. Eine über die ständisch eingegrenzte Verwendung hinausgehende An-
wendung des Gleichheitsbegriffs wurde weitgehend abgelehnt, auch in den Kreisen
des städtischen Bürgertums. Schon ALTHUSIUS hatte erklärt: Quod si vm:o omnes
aequales, singulique pro arbitrio vellent alios regere et alii recusarent regi, hinc facilis
esset discordia, dissolutio societatis: nullus esset gradus virtutis, null·us •ffwr-itur·um, et
sequeretur, ut ipsa aequalitas esset summa inaequalitas. Der aequalitas-Begriff wird
in diesem Zusammenhang- in Abgrenzung gegenüber der aequabilitas - ausdrück-
lich zurückgewiesen: Contraria huic aequabilitati est aequalitas, qua singuli cives in
omnibus . . . inter se aequantur. Unde certissima 1ha~ta et rerum perturbatio62,
Eine Verwirklichung gesellschaftlicher Gleichheit erscheint als rfa.s Rnrl1111in11r e11orrl-
neten bürgerlichen Gemeinschaft. Mit der um 1700 einsetzenden Rezeption natur-
rechtlicher Denk- und Darstellungsformen waren diese Anschauungen nicht in
Frage gestellt. Wie an Pufendorf gezeigt wurde, hatten sie innerhalb des natur-
rechtlichen Lehrschemas ihren Platz in der Lehre vom „Atatm1 !livilis". So meinte
F. G. A. SorrMIDT noch am Ende des 18. Jahrhunderts 63 : Vollkommene Gleichheit des
Standes läßt sich nur 1:m Stande der N at?tr u.nd gewissermaßen mwh noch in der bürger-
lichen Gesellschaft gedenken. Mit dem Wesen des Staates aber ist sie unvereinbar. Die-
.~er kann nicht ohne Ordmtng itnd Gehorsam stehen ... Gleichheit der Menschen im
Staat ist also eine bloße Chimäre und Ungle·icldte-it derselben in Rücksicht ihres Standes
notwendig! Chamktcristisch hierfür ist eine in Deutschland verbreitete Lehrtradi-
tion, derzufolge ein Staat als eine „societas inaequalis", eine durch „imperium"
und „subiectio" ausgezeichnete vollkommene Gesellschaft galt, dem die „societas
aequalis" des Naturstandes als eine unvollkommene Gesellschaftsform gegenüber-
gestellt wurde 64 . Fiir d11n „st.a.t.llS naturalis" bürgerte sich die Bezeichnung 'Stand
der natürlichen Gleichheit' ein; der naturrechtliche Gleichheitsbegriff war zu einem
stereotypen, eine vergangene Stufe gesellschaftlicher Entwicklung bezeichnenden

6 ° Friede von Osnabrück, Art. 5, § 1; vgl. zusammenfassend MAR•riN Hl!lOK.l!lL, Parität,

Zs. f. Rechtsgesch„ kanonist. Abt. 49 (1963), 261 ff.


61 JoH. STEPHAN PüTTER, Der Geist des WeRtfälifmhen Friedens (Göt.t.ingen 1795), 366.

Vgl. ebd„ 361 ff. 493 ff. 502 ff.


62 ALTHUSIUS, Politica 1, 37; 4, 47. Vgl. oben S. 1006.
63 FRIEDRICH GEORG AuousT SCHMIDT, FortgeAet:r.te Reitrii.ge :r.nr GARr.hir.ht~ rlAR Anels

und Kenntnis der gegenwärtigen Verfassung derselben in Teutschland (Leipzig 1795),


21. Vgl. A. ScHL1.NGE.NSLl!Jl'l!l.N-Pu1fül!l, Das Sozialethos der lutherischen Aufklärungs-
theologie am Vorabend der industriellen Revolution (phil. Diss. Göttingen 1967), 144 ff„
bes. 152 ff. ·
64 Vgl. ÜTTO v. GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 4 (Berlin 1913), 424 ff.
502 ff. -

1012
II. 4. Deutschland im 18. Jahrhundert Gleichheit

Lehrtopos zurückgebildet. Als solcher konnte er sogar in der Prinzenerziehung der


Aufklärung seinen PlaLz .fiude11 60 •
Auf diesem Hintergrund setzt etwa seit 1760 in Deutschland eine Diskussion über
die Berechtigung der sozialen Ungleichheit ein, die das Ende des gesellschaftlichen
Kompromisses zwischen Bürgertum und altständischer Welt signalisiert. Die Unter-
scheidung des „Menschen" vom „Bürger", die in der reformatorischen Unterschei-
dung von Christ und Amtsperson vorgebildet ist, war der Ansatzpunkt- eindrück-
lich festgehalten im Pathos des jungen SoHlLLKK: Wenn die Schranken des Unter-
schiedes einstürzen, wenn von uns abspringen alle die verhaßten Hülsen des Standes,
Menschen nur Menschen sind 66 •
Christliche und naturrechtliche Vorstellungen fließen in diesem Menschheitsdenken
zusammen : Dem Wesen nach sind alle Menschen einander gleich, man 'mag ihre physi-
sche ode.r moralische Natur ansehen . . . Denn es stehen alle und jede Menschen unter
dem Gesetz der N at1tr . . . Nach dem Stand der finade findet sich eben eine solr:lu>,
Gleichheit in wesentlichen Stücken, daß ordentlicherweise die Menschen auf einerlei Art
wiedergeboren in ihrem geistlichen Wachstum erhalten und durch einerlei Mittel, das ist
den Glauben, ohne Unterschied des Geschlechts, der Macht, Reichtum usw. selig wer-
den67. Dieser idealtypische Begriff von der Gleichheit aller als Menschen und Chri-
sten, ein kritischer Gegenbegriff zur Ungleichheit der ständischen Welt, gewann in
1far 7.flit,gimössischen J,itemtur eine breite Popularität. Dies geschah jedoch ohne
eine politische oder revolutionäre Akzentuierung. Als einzig möglicher Weg zur
Realisierung s~lcher Gleichheit galt der Prozeß der Aufklärung und die moralische
Einsicht. Ich sehe im liei8te al/.gemeü1,e A1tfklärwng .~ich iiher aUe Stände 11erbrm:ten;
ich sehe den Bauer seinen P-(f,ug müßig stehn lassen, itm dem Fürsten eine Vorlesung
zu halten über Gleichlte·it der Stände, so 1788 eine Vision KNIGGES 68 .
In der Durchsetzung dieses Begriffs der Menschengleichheit kommt ein emanzipa-
torischer Anspruch des bürgerlichen Publikums zum Ausdruck, der sich in der Zeit
zwischen 1770 und 1790 bereits in konkreten sozialpolitischen Forderungen nieder-
schlug. N ~ben dem alten Thema der Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen
wurde in den achtziger Jahren auch die Forderung nach Gleichberechtigung der
Juden als Staatsbürger erstmals allgemein diskutiert: Die Juden müßten erstlich
vollkommen gleiche Rechte rn'it allen übrigen Untertanen erhalten, lautet DoHMS gene-
reller Vorschlag. Sie sind fähig, die P-P,ichten derselben zu erfüllen, und dürfen also auf
gleiche unparteiische Liebe und Vorsorge des Staates gerechten Anspruch machen 69.
Für die Gleichheit aller Bürger in der Belastung durch Staatsabgaben hat sich u. a.
SvAREZ eingesetzt: der Souverän solle bei der Verte-ilung der Auflagen die möglichste
Gleichheit beobachten und iede unbillige Prägravation einer Klasse der Untertanen zu

65 Vgl. Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Thcrcsias, hg. v. HERMANN
CoNRAD u. a. (Külu, Oplat.leu 1904), 104. 191.
66 SCHILLER, Kabale und Liebe, SA Bd. 3 (o. J.), 307.
87 W ALOII 4 . .Aufl., Tl. 1 (1775), 1701 f., ll. v. Cloiohhoit der Monoohon; vgl. Lmmrna, Ernot
und Falk, 2. Gespräch.
68 ADOLF FRH. v. KNIGGE, Ueber den Umgang mit Menschen,Bd. l (Hannover 1788), 104.
6 0 CHRISTOPH WILHELM DoHM, Über die bürgerliche Verbesserw1g der Juden (Berlin 1783),
118. 123.

1013
Gleichheit m. 1. Revolutionäre Zuspitzung in Frankreich

Begünstigung einer anderen vermeiden 70 • Über den Adel und seine Stellung im
gesellschaftlichen Leben gab es in diesen Jahren eine breite Diskussion, in der der
Gleichheitsbegriff eine zentrale Rolle spielte. Charakteristisch ist hier die „Ge-
schichte der Ungleichheit der Stände" von Hofrat CHRISTOPH MEINERS, der die
Adelsprärogativen als gemeinschiidliche Vorrechte kritisiert, aber dabei keineswegs
ein Verfechter allgemeiner Gleichheitsprinzipien ist 71 •
Die genannten Gedanken und Vorschläge münden ein in die allgemeine Forderung
nach einer Gleichstellung aller Staat:;bürger gegenüber dem Gesetz und im Rahmen
der Rechtsprechung .. Diese als 'Rechtsgleichheit', 'Gleichheit der Rechte' oder
'Gleichheit vor dem Gesetz' formulierte Forderung wird in Deutschland in den
Jahren nach 1770 zum ersten Male laut. Dem Rechte nach ... sind sie dennoch als
Untertanen al~ einander gleich, weil keiner irgend jemanden anders zwingen kann als
durch das öffentliche Gesetz, heißt es bei KANT, und in SVAREZ' „Vorträgen": Die
GP..~P.tze de~~ Staa.tes tlerbinden alte Mitglieder desselben ohne Unterschied des StandP.R,
Ranges und Geschlechts 72 • Die Vorstellung von einem Gesetz, das für alle Einwohner
eirn:11:1 SLaaLe1:1 gleichermaßen gilt, dem sich kein Stand und keine Person entziehen
kann, ist die Grundlage dieser Idee einer staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit. In
diesem Begriff, der bald zur bürgerlichen Hauptforderung wurde, war ein An:;pruch
an den Souverän enthalten, der auf eine Veränderung der traditionellen Gesell-
schaftsstruktur hinauslief. Damit war eine neue Phase in der Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft erreicht. Das Bewußtsein davon war jedoch in Deutsch-
land zunächst nur schwach entwickelt. Man war allgemein der Überzeugung, hier
nur eine Rechtsforderung für Bürgerliche zu stellen, ohne aHgemeingesellschaftliche
Folgen. Die Gleichheit der RP.chtP., worauf das Glück und die Sicherheit des Bürgers
beruht, so schreibt F. G. A. SCHMIDT, ist unabhängig von der_ Gleichheit der Stände, die
er für eine „Chimäre" hält 73 •

m. Die Entwicklung des Gleichheitsbegrift"s im Zeitalter der bürgerlichen


Revolution (1790-1870)

1. Die revolutionäre Zuspitzung des Gleichheitsdenkens in Frankreich in der


2. Hälfte des 18. Jahrhunderts
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt - mit Phasenverschiebungen in den
einzelnen Ländern - ein neuer Abschnitt in der Verwendung des sozialpolitischen
Gleichheitsbegriffs. Aus den naturrechtlichen Gleichheitsvorstelhmgen, die bisher
weitgehend theoretische Lehrbegriffe geblieben waren, wurden nun konkrete For-
derungen abgeleitet, die populäre Verbreitung fanden und zum politischen Pro-
gramm wurden: Das europäische Bürgertum trat in eine neue, revolutionäre Phase
seiner Entwicklung. ·

7 ° CARL GOTTLJEB SvAREZ, Vorträge ~her Recht und Staat, hg. v. Hermann Conrad u.

Gerd Kleinheyer (Köln, Opladen 1960), 251 f.; vgl. 118 ff.
71 CmtISTOPH MEINERS, Geschichte der Ungleichheit der Stände unter den vornehmsten

europäischen Völkern, Bd. 2 (Hannover 1792), 597; vgl. 575 ff. 639.
72 KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für

die Praxis (1703), AA Bd. 8 (1912), 292; SVAREZ, Vorträge, 246.


73 SCHMIDT, Geschichte des Adels, 20.

1014
m, 1. Revolutionäre Zuspitzung in Frankreich Gleichheit

Die entscheidenden Impulse zur Begriffsentwicklung sind hier von Frankreich


ausgegangen. Wichtig wurde ein Satz MoNTESQUIEUS, der bei seinen Zeitgenossen
viel Beachtung gefunden hat: Dans l' etat de nature, les hommes naissent bien
dans l'egalite; mais ils n'y sauraient rester. La societe la leur fait perdre, et ils ne
redeviennent egaux que par les lois 74 • Dieser Satz enthält in seinem ersten Teil die
traditionelle naturrechtliche Theorie; in seinem zweiten Teil aber wird ein Weg
aufgewiesen, auf dem die verlorene Gleichheit zurückgewonnen werden kann: über
die Gesetze. Hier ist ein neuer Gesetzesbegriff gemeint, der von Montesquieu selbst
mitgeprägt wurde. Allgemeingültigkeit, Gleichbehandlung und Rationalität sind
seine konstitutiven Merkmale 75 • Ihm gegenüber werden alle berechtigten Einwoh-
ner, ungeachtet ihres Standes, in gleicher Weise zu Bürgern: on n'est egal que comme
citoyen 76 • Das Ideal der bürgerlichen Gleichheit hat nun einen konkreten Bezugs-
punkt. Die Forderung nach einer Verfassung als dem Grundgesetz, das solche
Gleichheit verwirklicht und garantiert, ist die unmittelbare Konsequenz.
Der eigentliche Theoretiker des neuen revolutionären Gleichheitsbegriffs war Rous-
l'lEAU. Seine zentrale Bedeutung, nicht nur für das französische Olcichhcitsdcnken,
beruht vor allem auf folgenden Punkten:
1) Rousseau ist der erste, der eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen der
'egalite (bzw. inegalite) physique' und der 'egalite morale ou politique' einführt.
Er betont außerdem, daß die „inegalite physique" kein sinnvoller Gegenstand
sozialpolitischer Fragestellungen sein könne. Damit Wird gegenüber der mißver-
stehenden Vermengung der beiden Gesichtspunkte, zu der landläufige naturrecht-
liche Formulierungen oft Anlaß gegeben hatten, ausdrücklich erklärt, daß natür-
liche Ungleichheit ui:J.d soziale Gleichheit keinen Widerspruch bilden77 •
2) Er stellt die Geschichte der menschlichen Gesellschaft als einen negativen „pro-
gres de l'inegalite" dar. Ausgehend von der „egalite naturelle", die als Unabhängig-
keit und Selbstgenügsamkeit (amour de soi) der ungeselligen einzelnen verstanden
wird, entsteht durch Vergesellschaftung, Arbeitsteilung und Eigentumsbildung
eine soziale Ungleichheit, die sich durch die Schaffung von Staat und Gesetz im
Interesse der Reichen weiter vergrößert und schließlich im Despotismus als dem
äußersten Grad gesellschaftlicher Ungleichheit gipfelt 78 • Soziale Ungleichheit wird
damit nicht mehr, wie in der Naturrechtstradition, als notwendige und sinnvolle
Einrichtung erklärt, sondern als „inegalite funeste" zum zentralen Problem sozial-
politischen Fragens erhoben. Alle Kritiker der bestehenden Verhältnisse hatten nun
einen ätiologischen Schlüsselbegriff zur Hand: Die gesellschaftliche Ungleichheit
konnte als der wahre Grund aller zeitgenössischen Mißstände erkannt werden.
3) Rousseau zeigt zugleich, daß es einen Weg zur Beenp.igung des „Systems der
Ungleichheit" gibt: Durch die Konstituierung und Herrschaft der „volonte gene-

74 MONTESQUIEU, De l'esprit des lois 8, 3; vgl. 5, 4.


75 Vgl. HARF.RMAS, Strukturwandel, 65 ff.; ERNST WOLFGANG BöcKENFÖRDE, Gesetz und
gesetzgebende Gewalt (Berlin 1958), 33 ff; ->-Gesetz, Bd. 2, 863.
76 MoNTESQUIEU, Esprit des lois 8, 3.
77 Vgl. RoussEAU, Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi les hommes.

Oeuvres compl., t. 3 (1964), 131. Trotzdem bleiben auch in Rousseaus Begrifflichkeit Un-
klarheiten, bes. hinsichtlich des Begriffs 'egalite naturelle', den er einerseits mit der 'egalite
physique' gleiol;tgesetzt, andererseits als moralischen Begriff verwendet.
78 Vgl. bes. ebd., 164 ff. 187 ff.

1015
Gleichheit m. 1. Revolutionäre Zuspitzung in Frankreich
rale". Sie geschieht durch die alienation totale de chaque associe avec tous ses droits a
toute la communaute: ... chacun se donnant tout entier, la condition est egale pour
tous 79 • Die Gleichheit aller als Konstituanten und Teilhaber der „volonte generale"
(egalite morale) schlägt sich nieder in der Gleichheit als „citoyen" (egalite civile),
in der Gleichheit aller vor dem Gesetz und durch das Gesetz (egalite legitime), in der
Gleichheit im Staatsanspruch, in der Gleichheit der Erziehung. Trotz vieler Un-
klarheiten bezüglich ihrer Konstituierung wurde die „volonte generale" bei den
Zeitgenossen zu einem Leitbegriff für die Verwirklichung von gesellschaftlicher
Gleichheit durch die Konstituierung einer souveränen Volksrepräsentation.
4) Rousseau hat die Zuordnung von 'Freiheit' und 'Gleichheit', der zentralen
Begriffe der bürgerlichen Emanzipation, neu begründet und populär gemacht. Si
l'on recherche en quoi consiste precisement le plus grand bien de tous, qui doit etre la
a
finde tout systeme de legislation, on trouvera qu'il se reduit deux obfets principaux ...
la liberte et l' egaliti: lrJ, l1:bP-rte, parce qiie toute dependance partim~liere est autant de
force otee au corps de l'Etat; l'egalite, parce que la liberte ne peut subsister sans elle 80 •
Entscheidend war hitir tiitltl utiue Fa88ung des Freiheitsbegriffs. Traditionell als freies
Willkürhandeln verstanden, das sich im Eigentumsbesitz dokumentiert, hat Rous-
seau daneben eine Definition eingeführt, die de~ Emanzipation~a.lisiehlen der bür-
gerlichen Geselll:lehafl ue88er gerecht wurde: 'Freiheit' als „Unabhängigkeit von der
Willkür und der Herrschaft anderer". ErsL von dieser Freihflit = Unabhängigkeit
kann man sagen, daß sie die soziale Gleichheit zur notwendigen Voraussetzung hat.
'Freiheit' und 'Gleichheit' treten infolgedessen in Rousseaus System stets parallel
nebeneinander auf: der „egalite naturelle" entspricht ein11 „liberte naturelle", der
„egalite morale" eine „liberte morale", d11r „egalite civile" eine „liberte civile" usw.
Bei Rousscau ist die klassische naturrechtliche Gleichheitstheorie in entscheiden-
den Punkten durchbrochen. Wenn seine Anschauungen weiter als naturrechtlich
bezeichnet werden sollen, dann muß zwümhen einem klassischen und einem durnh
ihn eingeleiteten revolutionären Naturrecht unterschieden werden 81 • Durch Rous-
seaus Grundlegung konnte der Gleichheitsh11gri:ff zum Schlüsselbegriff einer revo-
lutionären Entwicklung werden; er war von den Beschränkungen der klassischen
Tradition dazu befreit.
Die öffentliche Diskussion im vorrevolutionären Frankreich ist mit einer inneren
Folgerichtigkeit in dieser Richtung verlaufen. In der außergewöhnlichen Verbreitung
der Schriften des ABBE MABLY in den achtziger Jahren, in denen eine Gleichheit
des Grundbesitzes für alle gefordert wurde, erreichte sie'ihren Kulminationspunkt.
Alle Sachgebiete des gesellsoh11ftlichcn Lebens waren in ihr erfaßL wonlen: der Be-
reich der gesellschaftlichen H11chtsverhältnisse, die politische Organisation, die Fra-
gen der Erziehung, schließlich die Besitzverhältnisse und die gesamte ökonomische
Struktur 82 •
Während der Revolution selbst hat sich der Begriff in einer geradezu explosiven
Entwicklw1g als Schlagwort verbreitet. Im Zusammenhang mit 'liberLe' war er der

79 Ders., Du contract social 1, 6, ebd., 360 f. - Zum Folgenden vgl. ebd., 177. 373 f. 391.
80 Ebd., 391; vgl. ebd., 168. 171 f. 178. 364 f.
8l Vgl. JÜRGEN HABERMAS, Theorie und Praxis (Neuwied 1963), 53 ff.
82 Vgl. GASTON JouET, De l'evolution de l'idee d'egalite dans le droit public francais (Diss.
Paris 1909), 83 ff. u. ANDRE LrcIITENBERGER, Le socialisme au 18° siecle (Paris 1895).

1016
m. 1. Revolutioniire Zuspitzung in Frankreich Gleichheit

zentrale Integrationsbegriff aller revolutionären Gruppen und bezeichne,te dal'ilber-


hinaus das die Revolution weitertreibende, radikalisierende Prinzip. Die bisher nur
in bestimmten Logen verbreitete Formel „liberte, egalite, fraternite" wurde zur
allgemeinen Parole 83 • In der Entwicklung der Gleichheitsf9rderung im Verlaufe der
Revolution können drei Phasen unterschieden werden:
1) Die Verwirklichung der rechtlichen und staatsbürgerlichen Gleichheit vor dem
Gesetz als Forderung aller bürgerlichen Gruppen (1788~90). Der Kampf darum ist
in seiner ersten, entscheidenden Phase ein Kampf um die Vertretung des dritten
Standes in den Etats generaux gewesen, zunächst um den gleichen Stimmenanteil
des dritten im Verhältnis zu den priviligierten Ständen, dann um die gleiche Gültig-
keit der Stimmen und die Aufhebung der Standestrennung (vöte par tete )84 . Nach dem
Konstituierungsakt des 17. Juni folgte auf dieser Basis dann die in der Nachtsitzung
vom 4./5. August ihren ersten Höhepunkt erreichende Aufhebung der wichtigsten
Privilegien. Deren legislatorischer .N icdcrschlag ist die in die Verfassung von 1791 ein-
gegangene „Declaration des droits de 1'homme et du citoyen" vom 16. August 1789.
Les hommes naissent et demeurent libres et egaux en droits heißt es in Art. 1. Dieser
Satz ist in Anlehnung an Sect. 1 der Virginia-Bill von 1776 formuliert: That all men
are by nature equally f'ree und ·independent. Dennoch besteht zwischen den Gleich-
heitsvorstellungen, die sich in den beiden Verfassungen niedergeschlagen haben,
ein tiflfgrnifonder Untersc.hied: Das „equally free" der Virginia-Bill entspricht dem
seit dem 17. Jahrhundert geläufigen Natnrrfüihtstopos; der Gleichheitsbegriff tritt
sonst in der Bill nicht auf und spielt auch in ihr sachlich keine Rolle. Dagegen ist die
Aussage des Art. 1 der Declaration von 1789 nur der Auftakt zu einer Rcihfl von
weiteren konkreten Gleichheitsbestimmungen, aus denen hervorgeht, daß sich hier
eine revolutionäre Gleichheitsauffassung auswirkt 85 , so z. R in Art. 6: La loi doit
~tre la meme a
pour tous ... Tous les citoyens, etant egaux ses yeux, sont egalement
a
admissible toutes dignites, places et emploi.~ p11hl1:q1te.s. Mit dem 8atz L' assemblee na-
tionale ... abolit irrevocablement les institutions, qui blessaient la l·iberte et l'eyalite des
drm:t.~ wird die Gesamtintention in der Verfassungspriiambcl noch einmal verdeut-
licht. Mit diesen hier zum ersten Mal in einem Verfassungsgesetz festgelegten
bürgerlich-emanzipatorischen Gleichheitsforderungen wurde die Verfassung von
1791 das Vorbild aller späteren in Europa.
2) Die Verwirklichung der politischen Gleichberechtigung als demokratische For-
derung der mittel- und kleinbürgerlichen Schichten (1791-93). Gegen den Wahl-
zensus, der in der Verfassung von 1791 eingeführt worden war, organisierte sich seit
dem Sommer 1790 eiue Vulk1:1bewegung für die Gleichheit des Wahlrechts, an deren
Spitze sich die Jakobiner stellten. Seit dem Zusammenstoß auf dem Marsfeld am
17. Juli 1791 stand diese Gleichheitsbewegung im offenen Gegensatz zur National-
versammlnng; sifl erreichte ihr Ziel am 10. August 1792. Wenige Tage später lautete
das Datum auf den Dekreten der Pariser Stadtverwaltung L'an IVe de la liberte et

83 Vgl. ARTHUR GRF.IVFJ, Dill "Rntstehung der Französischen Revolutionsparole Liberte,

Egalit6, Fratcrnite, Dt. Vjschr. f. LiteraLurwil:!I:!. u. Geil:!Lel:!gei,wh. 43 (1969), 726 :ff.


84 Vgl. EBERHARD ScTFTMTTT, Repräsentation und Revolution (München 1969), 147 :ff.
85 Vgl. HABERMAS, Theorie und Praxis, 57 :ff. u. zum amerikanischen Gleichheitsbegriff des

18. Jahrhunderts neuerdings: WILLI PAUL ADAMS, Das Gleichheitspostulat in der ameri-
kanischen Revolution, Hist. Zs. 212 (1971), 59 :ff.

1017
Gleichheit W. 2. Der Umbmch in Oeutschland um 1800

l' an I er de l' egalite86 • Die Verfassung· von 1793 ist der Niederschlag dieser neuen
Stufe der Gleichheitsverwirklichung.
3) Die Gleichheitsfrage war damit jedoch nicht gelöst. Eine radikal-demokratische
Gruppe wies auf das Problem der sozialen Ungleichheit hin und auf die Fragwürdigkeit
einer demokratischen Republik, in der die sozialökonomischen Unterschiede weiter
wirksam sind. Si l'egalite est le drmt, l'ingalite est le fait, sagte PIERRE LERRoux,
a
l'egalite devant la loi, meme etendue l'ordre politique, n'est pas la vraie egalite. „Ega-
lite reelle" wurde die Hauptforderung dieser Gruppe um Babeuf, in der der Gleich-
heitsbegriff zur Parteibezeichnung wurde („Manifest des Egaux" von 1795) 8 7. Die
führenden Gruppen des Bürgertums aber waren schon zur Rücknahme des politi-
schen Gleichheitsrechtes übergegangen.
Beispielhaft an der französischen Entwicklung ist einerseits die Abfolge der Gleich-
heitsbegriffe im Zusammenhang der revolutionär-emanzipatorischen Entwicklung,
von der hiirgerli11h1m R1111htRel11i11h h11it iiher ilio Oloir.h hnit <lnr 8tnntRhiirenr, ilifl
politische Gleichheit bis hin zur Eigentumsgleichheit; zum anderen, daß es jeweils
bestimmte soziale Schichten des Bürgertums sind, die einen der Gleichheitsbegriffe
politisch vertreten; schließlich, daß mit dem Begriff der ökonomischen Gleichheit
die Grenze der vom Bürgertum vertretenen Gleiehlwitl:!fo1·derWlgun eneichL h1L. FUr
die Beurteilung der deutschen Begriffsentwicklung sind damit wichtige Vergleichs-
punkte gegeben.

2. Der Umbruch in Deutschland um 1800

a) Das Gleichheitsdenken im Zusammenhang von Französischer Revolution und


Transzendentalphilosophie. Der gravierende Einschnitt, den· das Erlebnis der
Französischen Revolution für das politische Denken des deutschen Bürgertums be-
deutete, wirkte sich besonders in dessen Anschauungen über Gleichheit aus. Das
deutsche Publikum wurde hier mit einem revolutionären Gleichheitsbegriff und mit
vielfältigen Formen seiner konkreten Verwirklichung konfrontiert, dessen Entwick-
lung es kaum zur Kenntnis genommen hatte und den es nicht rezipieren konnte.
Um so mehr stand das Denken über Gleichheit nun zunächst ausschließlich im Zei-
chen der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. Die begriffsge-
schichtliche Zäsur ist bereits an der Wortgeschichte abzulesen: Neben dem deutschen
Begriff treten jetzt Fremdwörter und Lehnwörter aus dem Französischen auf, ·wie
'Egalite,' 'Egalisateur', 'Egalist', 'Egalisation', 'egalisieren' 8 8. Der allgemeine Ge-
brauch des Wortes im zeitgenössischen Schrifttum schwillt stark an. Außerdem wird
das Wort durch verschiedenartige Zusammensetzungen und stereotyp angefügte At-

88 Zit. HEINZ KLÄY, Zensuswahlrecht und Gleichheitsprinzip (phil. Diss. Bern 1956), 105;
vgl. bes. 87 ff.
87 Zit. JouET, L'idee d'egalite, 168 f.
88 Vgl. CAMPE, Fremdwb., 2. Aufl. (1813), 278. Die Grundwörter 'Gleichheit' und 'egalite'

h11#,p,n Ri11h hiRh11r lrnum hflriihrt. Tn 1fon zeitgenössischen Übersetzungswörterbüchern ist


auffällig, aber_ unbeeinflußt durch die Revolution, daß 'egalite' hauptsächlich als gesell-
schaftliche Gleichheit übersetzt, für 'Gleichheit' dagegen stets eine brflit.e. Palette von Be-
deutungen angegeben wird, wie egalite, parite, ressemblance, rapport, relation, conformite,
uniformite, convenance, proportion, analogie.

1018
a) Französische Revolution und Trlllllzendentalphilosophie Gleichheit

tribute zu einem Begriff, mit dem man Personen und Meinungen klassifiziert und be-
urteilt (vgl. Komposita wie 'Gleichheitsfreund', 'Gleichheitsliebe', 'Gleichheitsphan-
tasten', 'Freiheits- und Gleichheitsevangelium', 'das verführerische Gleichheits-
system')89. 'Gleichheit' kann jetzt zu einem Begriff der politischen Polemik werden.
Charakteristisch ist auch das Auftreten der revolutionären Trias „Freiheit, Gleich-
heit und Brüderlichkeit" 90.
Welche Tendenz in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution vor-
herrschend war, läßt sich bereits aus dem Charakter der neuen Wortzusammen-
setzungen ablesen. In einem zeitgenössischen Tagebuch heißt es: Das Schloß wurde
von den Gleichheitsmännern aus Frankreich abermals niedergebrannt. Französische
Truppen werden als 'Gleichheitsmänner', an anderer Stelle als 'Gleichheitstruppen'
bezeichnet91 . 'Gleichheit' wird zu einem pejorativen Identifizierungsbegriff für
die Franzosen und das politische System, das sie vertreten. Der Begriff bezeichnet
hier nichts allgemein Gültiges inehr: Gleichheit ist französisches Nationalattribut
und damit für die Deutschen etwas Fremdes. Ein ähnlich pejorativer Akzent
kennzeichnet die Mehrzahl der neuen Komposita (vgl. z. B. 'Gleichheitsfanatiker',
'Gleichheitstyrannei', 'Freiheits- und Gleichheitssophismen'). Die letztgenannte
Wortbildung stammt von WIELAND, dessen Haltung für viele charakteristisch isL:
Nach anfänglicher Begeisterung für die Revolution fixierte er schon 1789 seinen
Standpunkt, daß Unqleichh.eit der Stände, des Vermögens, der Kräfte, der Vorteile, die
man von der bürgerlichen Gesellschaft zieht, ... nicht nur etwas Unvermeidliches, son-
dern auch zur Wohlfahrt des Ganzen Unentbehrliches ist. Von daher konnte er eine
positive Inanspruchnahme des Gleichheitsbegriffs, vor allem im Zusammenhang
einer Revolution, nur als eine demagogische Machenschaft anprangern: Was waren
denn die mächtigen Zauberwörter Freiheit und Gleichheit ... was waren sie anders als
Losungswörter des Aufruhrs, als bloße Vorspiegelungen, wodurch eine ... Bande
ehrgeiziger Egoisten ... eine Umkehrung der bisherigen Ordnung der Dinge herbei-
führen wolltc92 ~ ·
Ähnliche Äußerungen, etwa von Herder oder Schiller, sind vielfältig zu belegen93 .
Dabei ist ein Unterschied im Gebrauch der Begriffe 'Gleichheit' und 'Freiheit' zu
beachten: 'Freiheit' hatte, auch im Zusammenhang mit der Französischen Revo-
lution, einen wesentlich positiveren Klang als 'Gleichheit'. Dazu wiederum Wie-
land: Man kann ... sagen, daß die Gleichheit, an welcher alle Menschen gleichen An-
spruch haben, in der Freiheit schon enthaUen sei; und das große Losungswort der Jako-
biner ... und Anarchisten, Freiheit und Gleichheit ist ein ganz unnötiger oder vielmehr
e·in bloß z·u ·ihren gelie·imen Fact·ionsabs·icliten nüt·iger Pleonas-m·us; denn m-it dem Wurte

89 GRIMM Bd. 4/1, 4, 8137; FELDMANN, 261.


90 Zu deren Übernahme ins Deutsche und den damit verbundene~ Übersetzungsproblemen
vgl. FELDMANN, 260; ~Brüderlichkeit, Bd. 1, 567 ff.
91 GRIMM Bd. 4/1, 4, 8137; die folgenden Belege ebd. u. bei FELDMANN, 261; MEINERS,

Ungleichheit der Stände, Bd. 2, 625 u. KARL FRIEDRICH MosER, Politische Wahrheiten,
Bd. 1 (Zürich 1796), 72.
92 WIELAND, Kosmopolitische Adresse an die Französische Nazionalversammlung, AA

1. Abt„ Bd. 15 (1930), 333.; ders., Göttergespräche, SW. Bd. 31 (1857), 487.
93 Vgl. z.B. aus SCHILLERS „Glocke": Freiheit und Gleichheit! hört man schallen /Derruh'ge

Bürger greift zur Wehr,/ Die Straßen füllen sich, die !lallen,/ Und Würgerbanden ziehn um-
her, SABd.l (o.J.), 57.

1019
Gleichheit m. 2. Der Umbruch in Deutschland um 1800

Freiheit ist schon alles gesagt94 • Die Grundüberzeugung des aufgeklärten deutschen
Bürgers gegenüber dem Gleichheitsbegriff der Französischen Revolution bringt
ERNST BRANDES zum Ausdruck: Die Idee von völliger bürgerlicher Gleichheit, wie sie
in Frankreich eingeführt wurde, stört und beleidigt die . . . politischen und gesellschaft-
lichen Verhältnisse. Und FRIEDRICH KARL VON MOSER erklärt die Theorie von
Gleichheit der Stände für die größte Strafe vor die zivilisierte Menschheit 95 • Für den
gebildeten Bürger in Deutschland ist das Gleichheitspostulat der Französischen
Revolution eine politische und gesellschaftliche Gefahr. Sein Bild von der französi-
schen Gleichheit ist das negative Gegenbild zur gesicherten eigenen Welt. Nur selten
wurde diese Abwertung von 'Gleichheit' zum Schlagwort und zum politischen
Extrembegriff von Zeitgenossen - wie z.B. LICHTENBERG - kritisiert: In
keiner Streitigkeit, deren ich mich erinnere, sind je ... die Begriffe so verstellt worden
als in der gegenwärtigen über Freiheit und Gleichheit ... Und es ist betrübt zu sehen,
daß !Jogwr be'l"iihmte Sqhrif Meller ·in d·iesen Ton m·1'.teinst1'.mmen . .. Ich müchte wuhl w-iM-
sen, ob· alle, die wider die Gleichheit der Stände schreiben und dieselbe lächerlich fin-
den, recht wissen, was sie sagen96 •
Die JeuLsche Begri1IsenLwicklung ist, wie sich hier zeigt, nach 1789 Jurcham; nicht
einlinig in die Richtung zum pejorativen Schlagwort gelaufen. Es gab auch eine
positive Aufnahme des französischen Begriffs und daneben nicht zuletzt eine eigen-
ständige Diskussion des Gleichheitsproblems, die nur direkt von der Auseinander-
setzung mit Frankreich berührt war. JOACHIM HEINRICH CAMPE hat noch im Jahre
1802 in einer Zusammenfassung dessen, was Frankreich durch seine Revolution ge-
wonnr,n ha.be, a.ls .~chön8tp, Rrobcrim.g düJ Gl.c1:chhm:t der Stände ... , die vor dem Gesetz
gilt, genannt, an zweiter Stelle die ebenso kostbare Gleichheit der Ansprüche auf jeden
Ehrenposten im Staate und an dritter die Gleichberecht1:gung aller Religionen in jeder
Hinsicht 97 • lm Zusammenhang mit der territorialen Ausbreitung .l!'rankreichs trat
der Gleichheitsbegriff in Südwestdeutschland in einer breiten, meist anonymen
Flugblattliteratur auf, oft in direkter Übersetzung oder etwas unbeholfener Adap-
tion des französischen Begriffs. Charakteristisch, daß ein Ulmer Handwerker jetzt
in einem Flugblatt als natürlichen Grundsatz jeglicher Gesellschaft aufstellt: Alle
Menschen werden frei geboren und bleiben frei und einander an Rechten gleich, um
daraus konkrete Kritik an der Politik des Ulmer Magistrats abzuleiten98 • WEDE-
KIND erklärte in einer Rede im republikanischen Mainz: Die Gleichheit bringt also
mit sich, daß der Adel und alle Vorrechte und Privilegien aufhören, daß alle vernünfti-
gen Menschen gleichen Anteil an der Gesetzgebung haben. Allein es gehört nicht mit zur
Gleichheit, daß alle Leute gleich viel in Vermögen hätten ... Gleichheit ist also das Ver-
mögen, nach Maßgabe unserer natürl·ichen Anlagen uns möglichst glückt-ich rnacheii zu

94 WIELAND, Gespräche unter vier Augen, SW Bd. 31 (1857), 130.


95 ERNST BRANDES, Über einige bisherige Folgen der französischen Revolution, in Rück-
sicht auf Deutschland (Hannover 1792), 129; MOSER, Politische Wahrheiten, Bd. 1, 72.
96 GEORG CHRISTIAN LICHTENBERG, Zur Zeitgeschichte, GW, hg. v. Wilhelm Grenzmann,

Bd. 1 (Baden-Baden 1949), 474. 482.


97 - JOACHIM HEINRICH CAMPE, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, hg. V. Helmut

König (Berlin 1961), 351 f.


98 Abgedr. in: Jakobinische lflugschriften aus dem deutschen i::lüden l!:nde des 18. Jahr-

hunderts, hg. v. HEINRICH SCHEEL (Berlin 1!:165), 64 f. Vgl. U4. 108 ff. 12U. 136 u. ö.

1020
a) Französische Revolution und Transzendentalphilosophie Gleichheit

können 99 • Es war also der Begriff von der bürgerlichen Rechtsgleichheit; der Leit-
begriff der ersten Phase der Französischen Revolution, der hier positiv aufgenom-
men wurde. Das entsprach der bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in
Deutschland eingeleiteten Begriffsentwicklung. Charakteristisch dafür ist Wede-
kinds Zurückweisung einer auf die bürgerlichen Besitzverhältnisse ausgedehnten
Gleichheit.
Neben den Ereignissen der Französischen Revolution war die Durchsetzung der
Transzendentalphilosophie KANTS im gebildeten Bürgertum das Ereignis, von dem
entscheidende Impulse für die weitere Entwicklung des Gleichheitsbegriffs in
Deutschland ausgingen. Kant hatte gelehrt, daß die Freiheit des Menschen nicht
eine Naturanlage ist, sondern in der Unabhängigkeit besteht, die sich der vernünfti-
ge Mensch gegenüber der Natur durch sittliche Autonomie erringt. Die Fähigkeit
dazu kommt allen Menschen in gleicher Weise zu, in ihr besteht die Würde des
Mcmichcn, auf rlic alle glciohcn Arn1pruoh haben. Und .~o war der Mcn.~ch 1:n ci:np,
Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen,
getreten: nämlich, in Ansehnung des Anspruchs, selbst Zweck zu sein, von Jedem ande-
ren auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken
gebraueht Z'U werden. H'ierin ... _steekt de1r Grund de1r so wnbesd11ränkten Gle-ichheit des
Menschen 100• Kant hatte damit die 'l'heorie von der Gleichheit der Menschen auf
eine neue Grundlage gestellt. Nicht mehr die Berufung auf einen angenommenen
Naturzustand oder auf eine gleiche Natur aller Menschen, wie in der klassischen
Naturrechtstradition, war jetzt entscheidend, sondern der allen Menschen zukom-
mende autonome Vernunftwille, ihre sittliche Würde und der gemeinsame End-
zweck.
Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen: 1) Es war nun nicht mehr möglich,
den Gleichheitssatz durch den Hinweis auf die natürlich-faktische Ungleichheit der
Menschen in Frage zu stellen. Vielmehr konnte der Begriff einer natürlichen Un-
gleichheit mit dem einer vernünftig-sittlichen Gleichheit jetzt gleichzeitig festgehal-
ten werden. 2) Gleichheit konnte nicht mehr als Naturrecht bezeichnet werden; sie
war jetzt ausschließlich und im eigentlichen Sinne ein Vernunftrecht. 3) Gleichheit
wurde ein Gebot oer prnkt,ischen Vernunft,; ihre Hespekt,ierung und praktische Ver-
wirklichung war zu einer sittlichen Aufgabe geworden.
Aus der neuen Grundlegung des Gleichheitsbegriffes konnten praktische Folgerungen
verschiedener Art abgeleitet werden. Die Betonung der Vernunftbegabung des Men-
schen als Grundlage seiner Gleichheit verleitete dazu, den Gedanken einer idealen
Menschheitsgleichheit weiter auszubauen, was dem Rückgang des öffentlich-poli-
tischen Interesses unter den deutschen Gebildeten seit 1794 entsprach: So über-
nahm SCHILLER den Gleichheitsbegriff in die Schilderung seiner ästhetischen Welt:
Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, heißt es prononciert am Schluß der
„Briefe über die ästhetische Erziehung", wird das Ideal der Gleichheit erfülU, welches
der Sehwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte ... In dem ästheti-
schen Staate ist alles, auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem edel-

99 GF.ORG WF.nl':KTND, Über Freiheit und Gleichheit, eine .Anrede an seine Mitbürger,
30. Oktober 1792 (Mainz 1792), 8.
ioo KANT, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, AA Bd. 8, 114.

1021
Gleichheit m. 2. Der Umbruch in Deutschland um 1800

sten g"leiche Rechte hat 101 • Auch der junge FICHTE entwarf das Ideal einer all~ „ Ver-
nunftgeister" umfassenden Menschheitsgesellschaft und gab dabei als „letzten
Zweck einer Gesellschaft" an: Völlige G"leichheit al"ler ihrer Mitglieder. Es fällt unter
Voraussetzung einer solchen Übereinstimmung (der Geister) die Unterscheidung weg
zwischen einem ge"lehrten und einem unge"lehrten Publikum ... Alle haben die g"leichen
Überzeugungen, und die Überzeugung eines jeden ist die Überzeugung al"ler. Es fällt
weg der Staat als gesetzgebende und zwingende Macht. Der W ill,e eines jeden ist wirklich
allgemeines Gesetz, weil alle dasselbe wollen 102 • Die Funktion des Begriffs der Men-
schengleichheit für die Entgegenstellung von 'bürgerlicher Gesellschaft' - hier als
Kultur- und Gesinnungsgesellschaft - und 'Staat' kommt hier noch einmal beson-
ders klar zum Ausdruck.
Die bedeutsamste Anwendung des transzendentalphilosophisch fundierten Gleich-
heitss~tzes geschah jedoch auf dem Gebiet der Rechtslehre. Hier mußte sich, wenn
man von einer Trennung von Legalität und Moralität ausging und die Menschen nur
als gleichwertige Vernunftwesen betrachtete, als Grundregel für deren Zusammen-
leben das Prinzip der Gleichheit notwendig als oberste Rechtsidee ergeben. Der
Kantianer JAKO:H Fitrns hat diesen Zusammenhang mit besonderer Stringenz ent-
wickelt: Jeder Person kommt ein absoluter Wert als Würde zu, sie existiert als Zweck
Rr:hlP.r:hthi:n, wnd i:hrP. W ii.rtlP. (Ji'.bt jP.tlP.r Perrson den gleichen a.bsoliiten Wert mit jeder
anderen ... Persönliche Würde kennt keinen Grad, der größer oder kleinm· se·in könnte,
sondern sie läßt nur das Verhältnis der Gleichheit schlechthin zu. Von daher bestimmt
sich das leitende Prinzip im Rechtsverhältnis der Menschen: So ist auch in der
Re.chts"lehre die Idee der Gleichheit der Personen das einzige reine Prinz·ip, und zwar ah1
eine vernunftnotwendige Idee. Fries faßte seine Definition des Rechts in dem Satz
zusammen: Die Antwort auf die Frage: Was ist Recht? wird sein: G"leichheit ist
Recht 103• Ein Satz aus FRIEDRICH VON CöLLNS „Neuen Feuerbränden" mag zeigen,
daß Fries mit diesem Gleichheitsverständnis im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhun-
derts in Deutschland kein Einzelgänger war: Die Vernunft kennt kein anderes Recht
an, als was sich auf Gleichheit gründet ... Das vollkommene Recht geht von.der Gleich-
heit aus. Wo keine G"leichheit ist, sind wir noch fern vom rechtlichen Zustand, - wo das
Recht in al"len Beziehungen entwiclcelt ist, entsteht die Gleichheit von selbst104 •
ln der konkreten Anwendung dieses rechtlichen Grundprinzips können zwei Rich-
tungen unterschieden werden: Zunächst, daß daraus die Forderung nach einer
Rechtsgleichheit aller Staatsbürger vor dr,m Gr,Rr,tr. nncI dr,r Gleichheit als Verfas-
sungsprinzip abgeleitet wurde. In dieser Richtung hat KANT selbst argumentiert.
Die nach dem Gesetze der Gleichheit gestiftete Verfassung ist für ihn die einzige, welche
aus der Idee des wrsprünyl,iehen Vertrages hervorgeht, auf der all,e rechtliche Gesetzge-
bung eines Volkes gegründet sein muß. Ebenso müsse in der Rechtsprechung die

101 SCHILLER, Briefe über die ästhetische Erziehung, SA Bd. 12 (o. J.), 119 f.
102 FICHTE, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, SW Bd. 6 (1845),
315; ders., Das System der Sittenlehre nach den Prinoipion dor Wimmnooho.ftalohro, SW
Bd. 4 (1845), 253.
103 JAKon Fnrns, Philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung

(Jena 1803), 7. 33. XVII. .


iu 4 Über Recht und Unrecht, Neue Feuerbrände 6, H. 17 (1808), 118; vgl. ebd., 119.

1022
a) Französische Revolution und Transzendentolphilosophie Gleichheit

Gleichlieit oberstes Prinzip sein105 • Charakteristisch für diese Position ist die Abgren~
zung der intendierten „formalen" von einer „materialen Gleichheit", die über den
Begriff der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit hinausgeht: Die formale rechtliche
Gleichheit kann gar nicht bezweifeU werden . . . eine nur mögliche materiale rechtliche
Gleichheit der moralische Wesen zu behaupten, das heißt allen Rechte von gleichem In-
haU zu geben, ist eine ganz h?:rnlose, sich selbst zerstörende Idee, ... sie führt auf die Zer
störung alles Rechts (L. H. JACOB) 106 . Die Forderung nach „formaler" Rechts-
gleichheit, d. h. nach der Aufhebung der ständisch begründeten Rechtsungleich-
heiten, hatte sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt.
Welche Forderungen hier im einzelnen gemeint waren, zeigt eine Stelle aus den
„Neuen Feuerbränden": Fort mit dem Unterschied der Stände, wenn es einmal er-
wiesen ist, daß daraus nicht Gesundes hervorgehen kann! Fort mit allen den Privilegien,
welche an diesen Unterschied hangen. Will man Kraft und Gesundheit, so wolle man
auch die Mittel. Sie heißen: gleiche Besteuerung, gleiche Gerechtigkeitspflege, gleiche
Konskription. Es gebe im Staate nur Untertanen, nicht zugleich auch Sklaven 107 •
.l!:s lag aber in der 'l'endenz des transzendental begründeten H.echtsprinzips der lHewh-
heit, daß seine konkrete Anwendung auf weitere Gebiete des gesellschaftlichen Le-
bens ausgedehnt wurde. Die junge, vom Revolutionserlebnis geprägte Generation
der Kantschüler hat diesen Schritt vollzogen. Aufschlußreich ist hier bereits eine
Stelle in FRIEDRICH SCHLEGELS Kant-Rezension von 1796: Was Kant für äußere
rechtliche Gle1:chheit überha,11,pt p,rklärt, i.st nnr da.5 M1:nim11,m h?, der 11mBndl1:chp,n Pro
gress,ion zur unerreiclibaren Idee der politischen Gleichheit. Das Medium besteht darin,
daß keine andere Verschiedenheit der Rechte und Verbindlichkeite"! der Bürger stattfinde
als eine solche, welche die V ollcsmehrheit wirklich gewollt hat ... Das Maximum würde
m:ne ah.~olute Gleichheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Staatsbürger sein und also
aller Herrschaft und Abhängigkeit ein Ende machen 108 • Der Begriff der politischen
Gleichheit wird hier alR <'laR F:n<'lziel einer progreRRiven geRr,hir,ht,Jir,hen Rnt,wir,khmg
aufgestellt, die mit der Forderung nach bürgerlicher Rechtsgleichheit bereits einge-
leitet ist. Daneben wird der Begriff einer „absoluten" gesellschaftlichen Gleichheit
eingeführt - eine Vorstellung, die bisher nur Gegenstand von Utopien und religiö-
sen Erwartungen war. In beiden Fällen ist 'Gleichheit' zu einem säkularisierten
geschichtsphilosophischen Zielbegriff geworden.
Die Anwendung des Gleichheitsbegriffs unter den jüngeren Kantschülern ging nach
1795 bezeichnenderweise jedoch nicht in politischer Richtung weiter, sondern kon-
zentrierte sich auf sozialökonomische Fragen, speziell auf das Eigentumsproblem.
Beispielhaft ist hier FICHTE, der in seinen öffentlichen Vorlesungen von 1804 er-
klärt: Seinen Rechtsanspruch auf Eigentum hat jeder Mensch, dieser Rechtsanspruch
aller ist gleich; das Vorhandene .·.. mußte daher von Rechts wegen unter alle gleich ge-
teiU werden; diese gleiche Teilung dessen, was Natur und Zufall ungleich verteiU hat,
allmählich zu vollziehen, treibt ... den Staat die Not und die Sorge für seine Selbster-

105 KANT, Zum ew:igen Frieden, AA Bd. 8, 350; ebd„ 291 f. 295 f.; Bd. 6 (1907), 313 ff.
106 LUDWIG HEINRICH JACOB, PhilullU.Phillche RechL!:!leh!'IJ uue1· NaLunechL, 2. Auil. (Halle
1802), 56.
10 7 Über den Geburtsadel, Neue Feuerbrände 5, H. 13 (1808), 42.
108 SCHLEGEL, Versuch über den Begriff des Republikanismus, SW 1. Abt., Bd. 7 (1966),

12 f.

1023
Gleichheit m. 2. Der Umbruch in Deutschland um 1800
haltung. Die Eigentumsgleichheit wird hier als ein Rechtanspruch dargetitellt, der
sich notwendig aus der Gleichheit aller als Rechtspersonen ergibt. Besonders deut-
lich ist wiederum FRIES: Die rechtliche Tendenz aller politischen Einrichtungen muß
die Gleichheit in der Verteilung des Eigentums sein109 • Für die Realisierung dieser
weitgehenden Gleichheitsvorstellungen spielt· der Staat als „Zwangsanstalt" bei
FICHTE eine zentrale Rolle; im „absoluten Staat" kommt das Gleichheitsprinzip
zur Vollendung 110•
Deshalb ist es ebenso charakteristisch wie auffällig, daß der Gleichheitsbegriff in
Deutschland kaum in politischer Hinsicht angewandt wurde. Fichte und Fries, die
hier vor allem herangezogenen Vertreter eines konsequenten Gleichheitsdenkens,
haben eine politische Gleichberechtigung der sozial und rechtlich gleichgestellten
Gesellschaftsmitglieder abgelehnt. Es soll schlechthin bürgerliche Freiheit, und zwar
Gleichheit derselben sein; der politischen Freiheit aber bedarf es höchstens nur für einen,
heißt es bei J!'ichtc 1 ll. Die Diskrepanz zwischen dem rechtlich-sozialen und dem
politischen Denken ist kennzeichnend für die Situation der bürgerlichen Intelligenz
in Deutschland. Man erhoffte die Verw1rkhchung der eigenen Gleichheitsvorstellun-
gen, zu deren politischer Durchsetzung man selbst nicht in der Lage war, von den
fürstlichen Regierungen uuu uei·ei1 aufgeklärLen Beamten.

b) Die sozialpolitischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In der gesell-


schaftlichen und politischen Umbruchsituation der napoleonischen Zeit kam die
Aufstellung der Gleichheit als oberstem Rechtsprinzip einer allgemeinen emanzi-
patorischen Tendenz im deuttichen Bürgertum entgegen und war deren Ausdruck.
Im Jahre 1808 Rchrnibt FRIEDRICH VON CöLLN: Die Tendenz des jetzigen Zeitalters
sche·int es zu se·in, ·in ganz E·uropa das Recht an die Stelle der Gewalt zu setzen ...
Die Gewalt ist auf Ungleichheit ... basiert, das Recht auf Gleichheit ... Das Recht
fordert ein Gleichgewicht zwischen dem Starken und Schwachen ... Wir sehen daher
in den neueren Instü·utiorwn, welche der Gei8t der jetzigen 7,p,i:t gescha.ffen hat, über-
all die bisherige Gewalt des Adels über seine übrigen Mitmenschen vernichtet und
durch Konstitutionen die Gleichheit al/,er Menschen gesichert. Alle haben gleiche
Rechte, gleiche P-(f,ichten gegen den Staat - alle gehorchen denselben Gesetzen 112 •
Wenn jemals, dann war in Deutschland in diesem ersten Jahrzehnt des 19. Jahr-
huuuerLti 'Gleichheit' die Parole der öffentlichen Meinung, repräsentiert von den
bürgerlichen Intelligenz- und Besitzschichten. Die Abschaffung der Adelsprivilegien
und eine konstitutionelle Verankerung der Gleichheit aller vor dem Gesetz waren die
wichtigsten Forderungen.
In den Reformgesetzgebungen der deutschen Staaten zu Beginn des 19 .•Jahrhun-
derts wurden diese Forderungen aufgegriffen und durch aufgeklärte Beamtengrup-
pen in gesetzgeberische Praxis umgesetzt: Der neuzeitliche Gleichheitsbegriff tritt

10° Fw11.•1•J!l, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW Bd. 7 (1846), 210; .l!'RIER,

Rechtslehre, 102.
110 Vgl. FICHTE, Orundzüge, sw Dd. 7, 14:1 r.
111 Ebd., 155. Vgl. FRIES, Rechtslehre, 80 ff.
112 Über Recht und Unrecht, Neue Feuerbrände 6, H. 17, 100 f. Aus dem zahlreichen Be-

legmaterial vgl. allein JoH. GOTTFRIED SEUME, Prosaschriften (Köln HJ62), 1177. 1179.
1186 u. ö. .

1024
h) Sozialpolitische Reformen Gleichheit

damiL en;Lrnam iu DeuLschlaml auch iu tler Sprache tler Verwaltung und Gesetzge-
bung auf. ALTENSTEIN legt in seiner Denkschrift vom September 1807 als erste
Maßnahme fest: es muß die möglichste Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger in
Beziehung auf ihr Verhältnis zu dem Staat hergestellt werden. Die Hauptregel der Poli-
tik dabei ist, die Ungleichheit durch Heraufhebung des Unterdrückten zu mindern 113 .
In den preußischen Reformgesetzen zwischen 1807 und 1814 tritt der Gleichheits-
begriff meist in adjektivischer Form auf oder wird durch die Negation eines kon-
kreten Gegenbegriffs umschrieben. So lautet die Bestimmung über die Gleichheit
aller Bürger im Zugang zu den Offiziersstellen: Aller bisher stattgehabter Vorrang des
Standes hört beim Militär ganz auf, und jeder ohne Rücksicht auf Herkunft hat gleiche
Pflichten und gleiche Rechte114.
In den Verfassungsurkunden der süddeutschen Staaten, die in ihren konkreten
Gleichstellungsbestimmungen mit den preußischen Verordnungen vielfach über-
einstimmen, ist die Situation der Begriffsverwendung ähnlich. Die neuen Ver-
fassungen hatten jedoch für die Funktion des Gleichheitsbegriffes eine besondere
Bedeutung, weil hier ein Grundgesetz geschaffen wurde, das für alle Personen
des Staates einschließlich des Souveräns gleichmäßig gültig war.War die Gleichheit
aller Staatsbürger vor dem Gesetz so schon indirekt mit diesen Verfo1:J1:Jllllgcn ge-
geben, so war sie darüber hinaus auch deren besondere MattwiA; in ihnAn wnrde
der Grundsatz staatsbürgerlicher Gleichheit ausdrüoklioh formuliert, so zuerst auf
dAutschem Boden 1807: Le Royaume de W estphalie sera regi par des constitutions,
qui consacrent l'egalite de tous les sujets de-vant la lo'i 115 • In einer der süddeutschen
Verfassungen heißt es dann: Alle Württemherger hab1:n gleiche staatsbürgerliche
Rechte, und ebenso S'ind sfr Z'U gleichen staatsbürgerlichen Pflichten und gleicher Teil-
nahme an den Staatslasten verbunden, so weit nicht die V er/assung eine ausdrückliche
Ausnahme enthält; auch haben sie den gleichen verfassungsmäßigen Gehorsarri zu lei-
sten116. Es geht hier um die Gleichstellung aller Bürger als Rechtspersonen, die damit
in ein unmittelbares Verhältnis zum Staat und <1ei11er Verwaltung treten. Wie weit
sich diese Rechtsgleichheit aber konkret erstrecken soll, bleibt offen. Die ausdrück-
lichen Ausnahmeklauseln, die jedem diesbezüglichen Paragraphen beigefügt wur-
den, ermöglichten es, die bisherigen Ungleichheiten in vielen Bereichen faktisch bei-
zubehalten. Diese Ambivalenz und Unsicherheit im legislatorischen Umgang mit
dem Gleichheitsbegriff zeigt am deutlichsten die Bayerische Verfassung von 1818,
in deren Präambel es zunächst allgemein heißt: Gleiches Recht der Eingeborenen Z1J,
allen Graden des Staatsdienstes . . . Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetze. In den
konkreten Gesetzesformulierungen ist der Gleichheitsbegriff dann aber nicht mehr
zu finden.
Zusammenfassend läßt sich sagen: In der deutschen Gesetzgebung der Jahre 1806
bis 1820 steht der Gedanke der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit an erster Stellß,

113 Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenherg, '1'1. l hg. v.

GEORG WINTER (Leipzig 1931), 396 f.; vgl. 313 (Hardenberg) u. 389 f.
114 ERNST IlunOLF HUBER, Deutsche Verfassuugsgetichichte, Bd. 1 (Stuttgart 1967), 235.

Vgl. ders., Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (Stuttgart 1961 ), 40. 46.
115 Art. 10 der Konstitution vom 5. November 1807.
116 Württembergische Verfassung von 1819, § 21. Vgl. als Vorbild die Charte von 1814,

§§ 1-3.

65--90386/1 1025
Gleichheit m. 3. Konservative Reaktion seit 1790
wenn auch seine konkrete Auslegung vielfach noch offen und unbestimmt bleibt.
Im einzelnen sind damals vor allem die Gleichheit der christlichen Konfessionen im
öffentlichen Leben, die Gleichheit im Zugang zu den Staatsämtern, die Gleichheit
der W ehrpßicht, die Gleichheit in der Berufswahl und die Gleichheit der Steuer-
pflicht und allgemein die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz eingeführt
worden. Bei der legislatorischen Konkretisierung dieser Gleichheiten fand jedoch
das Substantiv 'Gleichheit', das die zeitgenössische Diskussion beherrschte, kaum
Verwendung. Damit tritt ein allgemeines Problem egalisierender Gesetzgebung
zu Tage: In der Gesetzessprache erweist sich der Gleichheitsbegriff selbst als nicht
geeignet. Er ist hier in seinem Bedeutungsgehalt offensichtlich zu allgemein und
läßt keine sachnotwendigen Ausnahmen zu117 • Zur sozialpolitischen Funktion
dieser Gleichheitsgesetzgebung bleibt zu betonen, daß es dabei vor allem um die
legislatorische Ermöglichung einer freien Entwicklung der bürgerlichen Wirtschafts-
gesellschaft ging. Die Gleichheitsbegrifflichkeit diente zur Beseitigung hemmender
altständischer Institutionen und sollte eine rechtlich-staatsbürgerliche Gleich-
stellung aller Untertanen herbeiführen. Nur auf der Grundlage einer solchen Rechts-
gleichheit konnte sich eine liberale Wirtschaftsgesellschaft ungehindert entfalten.

3. Die kouservative Reaktion gegen das moderne Gleichheitsprinzip seit 1790

Die Durchsetzung von 'Gleichheit' als rechts- und sozialtheoretischem Leitbegriff


im gebildeten Bürgertum mußte eine Gegenreaktion hervorrufen, deren natürliche
soziale Träger die durch die neuen Tendenzen benachteiligten Gruppen waren, in
erster Linie Adel und Grundbesitz. Deren .Äußerungen bestanden entweder in
konkreten Protesten gegen egalisierende Maßnahmen - charakteristisch hier das
Stichwort 'Gleichmachung', z. B. in der von F. A. A. VON DER MARWITZ formulierten
„Eingabe der Stände des lebusischen Kreises" - oder in einer grundsätzlichen
ideologischen Kritik des Begriffs, wenn z. B. FRH. VON LoE, der Sprecher des
rheinischen Landadels, das zerstörerische Prinzip der Gleichheit zu den pseudophiloso-
phischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts rechnet, mit denen die Negation alles
Positive wegzuschaffen bemüht war 118 • Die theoretische Fundierung und publizisti-
sche Propagierung dieser grundsätzlichen Reaktion gegen das moderne Gleichheits-
prinzip wurde jedoch weniger von der Aristokratie selbst als von bürgerlichen
Intellektuellen geleistet.
Es begann mit Polemik, pejorativer Umdeutung und formal-dialektischer Ver-
drehung des Begriffs. So in grober Form in den antirevolutionären Propaganda-
schriften der frühen neunziger Jahre durch Verunglimpfung der französischen Auf-
klärungsphilosophie ebenso wie der Kantschen Philosophie und z. B. Fichtes als
„Erz-Gleichmacher" 119 • Ein Beispiel meisterhaften dialektischen Umgangs mit dem

117 Vgl. zum Problem PoDLECH, Gleichheitssatz, 44 ff. u. ö.


118 In: Quellen zur Gei;chichte der deutschen Bauernbefreiung, hg. v. WERNER CoNZE
(Göttingen 1957), 132 f. u. JOSEPH HANSEN, Rheinische Briefe und Akten, Bd. 1 (Essen
1919), 796.
119 Vgl. MAX BRAUBACH, Die Eudä~onia, Hist. Jb. 47 (1927), 320.

1026
m. 3. Konservative Reaktion seit 1790 Gleichheit

Gleichheitsbegriff bietet ADAM MÜLLER: Er läßt ihn zwar als Ziel der gesellschaft-
lichen Entwicklung weiterhin gelten, interpretiert ihn aber als einen subjektiven
Faktor des Ausgleichens und Empfindens. Durch eine Verschränkung von objek-
tiven und subjektiven Aspekten kann er Begriff und Gegenbegriff in derselben
sachlichen Hinsicht zugleich festhalten: Gegenseitiges freies Anerkennen der Un-
g"leichheit von Seiten aller, also wahre gesellschaftliche Gleichheit bei individuel"ler V er-
schiedenheit. Aus dem Zustand sozialer Gleichheit wird ein dialektisches „Aus-
gleichen", bei dem die Ungleichheit der gesellschaftlichen Gruppen Voraussetzung
bleibt. Der Begriff ist manipulierbar geworden, z. B. auch im Dienst des neuen
Nationalismus, wenn Müller die viel konsequentere, tüchtigere, rea"lere G"leichheit der
Deutschen gegen die französische ausspielt1 2 o.
Zur Begründung einer antirevolutionären Konzeption mit 'Ungleichheit' als posi-
tivem Gegenbegriff hat in erster Linie EDMUND BURKE beigetragen, dessen „Re"
flexions" seit 1793 in Deutschland durch Gentz' ÜbcrseLzung wirksam waren.
Burke demonstriert am Beispiel der englischen Geschichte, daß sich in Staat und
Gesellschaft als geschichtlich gewachsenen Gebilden, die nicht durch vernunft-
rechtliche Theorien erklärt werden können, eine reel"le, unvermeidliche Ung"leichheit
entwickelt und daß eine Gesellschaft, die diese mißachtet, ihre eigenen Grundlagen
vernichtet121 • GENTZ hat in seinen eige:r;ien Schriften diesem geschichtlichen Erfah-
rungsbegriff von sozialer Ungleichheit einen noch schärferen Ausdruck gp,geben.
Die Natur bekunde, allen abgeschmackten Gleichheitsprätentionen zum Trotz, die
wahrhafte Ung"leichlieit der Mensclten ... Man mag a'uf den faktischen Ursprung der
Gesellschaft oder auf den rechtlichen (idealen) zi1,rück(Jfllum, immer ist es die Ungleich-
heit, nicht die Gleichheit der Rechte, was man im Fundament ihrer Entsteliung antriUt.
Deshalb sei es die höch8te Pfiicht des Gesetzgebers, auf diese Ungleichheit ... die streng-
ste Rücksicht zu nehmen122 • Die Reaktion gegen den revolutionären bürgerlichen
GlP.ichheitsbegriff läuft also darauf hinaus, daß ein Begriff von naturgegebener
sozialer Ungleichheit als ein positiver gesuhiuhtliuher Erfahrungsbegriff entwickelt
wird und dieser dann dem naturrechtlich begründeten Postulat der Rechtsgleich-
heit entgegengesetzt wird. Dabei tritt der postulatörische Charakter der natur-
rechtlichen Gleichheit zu Tage, so daß ihr pejorative Epitheta wie 'abstrakt', 'leer',
'inhaltlos' beigegeben werden können. F. J. STAHL, der in seiner umfassenden Kritik
des Naturrechts, in dail er Kant und Fichte als dessen Höhepunkt einbezieht, nach-
zuweisen versucht, daß die Losungsworte des Naturrechts Freiheit und Gleichheit m:n
logischer Widerspruch sind, spricht von einer G"leichheit der leeren Möglichkeit und
von einer bloßen Gleichheit des Begriffs 123• Die theoretische Schwäche einer natur-
rechtlichen Begründung der bürgerlichen Gleichheitsforderung wurue uarnit noch
einmal überzeugend nachgewiesen. Andererseits ist offensichtlich, daß hier die Be-
griffe der natürlichen und der rechtlichen Gleichheit, auf deren notwendige Unter-
scheidung bereits Rousseau hingewiesen hatte, wieder niiteinander vermengt und
120 Av.ui MÜLLER, Ober Frir,rlrich TT. ("R11rlin 1810), lfi3 ff. 157.
121 EDUUD Bumrn, Betrachtungen über die Französische Revolution, dt. v. FRIEDRICH
GENTZ, hg. v. Diele1· Helll'ich (Frankfurt 1967), 74.
12 2 FRIEDRICH GENTZ, Ober die Deklaration der Rechte, Ausg. Sohr., hg. v. Wildefich

Weick, Bd. 2 (Stuttgart 1837), 87; vgl. Bd. 5, 236 f.


123 FRIEDRICH JULius STAHL, Philosophie des Rechts, Bd. 1 (Heidelberg 1830), 188 f.;

vgl. 196f.

1027
Gleichheit m. 3. Konservative Reaktion seit 1790
in pqlemischer Absicht gegeneinander ausgespielt werden, so daß diese konservative
Kritik nicht das Niveau der Gleichheitsdiskussion in der Kantschule erreicht, in
der diese Differenz stets berücksichtigt wurde.
Der Gleichheitsbegriff wurde jedoch auch hier nicht negativ ausgeschieden. Er besaß
offensichtlich noch eine solche Valenz, daß Stahl z. B. der „revolutionären Gleich-
heit" eine „wahre Gleichheit" entgegenstellte, die nur durch christliche Gesinnung
zu erreichen sei 124 : Nur hier in der Demut vor Gott, in der gl,eichen Hoffnung auf das
zukünftige Reich, in der christlichen Liebe verschwindet der Unterschied ... Nur hier
und sonst nirgends ist wahre Gleichheit. Selbst im Verhältnis zwischen Herrschaft und
Dienstboten, dem ungleichsten von allen menschlichen Verhältnissen . . . wird durch
fromme Gesinnung die Ungleichheit aufgehoben, ohne das Ansehen der Herrschaft zu
entfernen. Die modernen Gleichheitsanschauungen werden demgegenüber als die
negativen Derivate jener wahren christlichen Gleichheit bezeichnet: Die Gkich-
heitslehre in der modernen Welt ist lediglich eine l{arikatur jene; christl-iclien W aln·-
heiten125. Zugleich kann der emanzipatorische Gleichheitsbegriff als ein negativer
Perspektiv begriff dargestellt werden: l!'ol,gerichtig durchgeführt verbietet sie (die
vernunftrechtliche Gleichheit) Vorzüge der Geburt und Majestätsrechte, schreibt
Stahl1 26 • Sie filhrt dahin, den Frauen gleichen Anteil an der Staatsverwaltung zu ge-
statten wie den Männern, und selbst Kinder im Alter des Denkens . . . müßten gleiche
Stellung mit den übrigen erhalten.
An dieser Stelle muß auf TocQUEVILLE eingegangen werden, den bis heute bekannte-
sten Geschichtstheoretiker der Gleichheit, dessen Schrift „De la democratie en
Amerique" bereits seit ihrem Erscheinen 1835, verstärkt jedoch erst im 20. J ahrhun·
dert, in Deut8chland Beachtung fand. Tocquevillc rei8te in die Vereinigten Staaten,
um die Grundprinzipien einer modernen GeRellRchaft zu beobachten, und 1mtdeckte
dort eine egalite des conditions als le fait generateur dont chaque fait particulier semblait
descendre 127 . In dieser Gleichheit erblickt er das eigentliche Prinzip der modernen
Demokratie. Er meint damit aber nicht eine bestimmte Form der politischen Ver·
fassung, sondern einen zentralen Tatbestand des gesellschaftlichen Lebens: die
Gleichheit der sozialen Lebensbedingungen (egalite des conditions). Deren Merk-
male sind: die Nivellierung aller individuellen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die
Tendenz zur Massengesellschaft und zum Despotismus, die Zentralisierung der
öffentlichen Verwaltung und der Verlust von persönlicher Freiheit nnd Antono-
mie128. 'Gleichheit' bezeichnet bei Tocqueville also weniger ein Faktum als vielmehr
eine Entwicklungstendenz. Sie ist das innere Prinzip der „grande revolution sociale",
der „revolution democratique" der modernen Geschichte. Von ihr heißt es: Le deve-
loppement graduel de l' egalite des conditions est donc un fait providentiel ... il est uni-
versel, il est durabl,e ... tous l,es evenements, comme tous les hommes, servent son deve· a
124Ebd., Bd. 2/1 (München 1839), 292 f.
125C.wr. ERNST J.A.BCKE, Die staatsbürgerliche Gleichheit, Vermischte Sehr„ Bd. 3 (Mün-
chen 1839), 130.
ua R'l'Am., PJiil11H11pl1iH 1lHH R.Hlllil.H, R11. 1, 1111 r.
127 TocQUEVILLE, De Ja democratie en Amerique, Oeuvres compl., t. 1 (1951 ), 1; vgl. ebd.,
52. 202. 263. Zur Wirkungsgeschichte EcKHART FRANZ, Das Amerikabild der deutschen
Revolution von 1848/49 (Heidelberg 1958), 15 ff.
128 Vgl. TooQUEVILLE, La democratie, Oeuvres compl., t. 1, 11 f. 34. 51 ff. 96 ff. 263 ff. 429 f.

1028
m. 4. Deutsches Bürgertum im Vormärz Gleichheit

lupp1mtent 120 • Gleiehheit ist hier zu einem dynamischen Geschichtsprinzip, zu


einem geschichtsphilosophischen Tendenz- und Perspektivbegriff geworden -
jedoch mit pejorativer Akzentuierung; denn der Aristokrat Tocqueville entnimmt
seinen positiven Gegenbegriff von Freiheit aus der Welt des· ancien regime. Als
Anhänger der Juli-Monarchie muß Tocqueville von den Ideologen der Restauration
im deutschen Vormärz unterschieden werden; mit seiner Gleichheitstheorie war
jedoch allen Kritikern des modernen Demokratisierungsprozesses seitdem ein wir-
kungsvolles Modell an die Hand gegeben.

4. Das deutsche Bürgertum im Vormärz

In den Reformgesetzen der ersten zwei Jahrzehnte des Jahrhunderts war die Gleich-
heit aller männlichen, mündigen Einwohner vor dem Gesetz und gegenüber dem
Staat eiugeführt worden. Ilestehen blieben weiterhin die Ungleichheiten der poli-
tischen Verfassung und vor allem die der sozialökonomischen Verhältnisse. Nimmt
man hinzu, daß auch die staatsbürgerliche Rechtsgleichheit noch ungleichmäßig in
den deutschen Staaten verwirklicht war, so wird verständlich, daß in der fortschrei-
tenden Emanzipationsbewegung der Gleichheitsbegriff noch weitere Anwendungs-
bereiche fand. Die nach 1815 einsetzende Differenzierung des deutschen Bürger-
tums in verschiedene Interessenschichten fand hier ihren charakteristischen Nieder-
schlag.
Fiir das liberale Bürgertum von Besitz. und Bildung, dessen gesellschaftliche Posi-
tion l>Hstäl;igL Ulll1 verbessert, worden war und das politisch zu einem liberal-monar-
chischen Kompromiß neigte, ist eine ambivalente Stellung gegenüber dem Gleich-
heitsbegriff charakteristisch. CARL RoTTECK beginnt den Artikel „Gleichheit" in
seinem „Staatslexikon" mit der Betrachtung: Kein Wort, selbst jenes der Freiheit
nicht, mit welchem soviel Mißbrauch getrieben und welches - irrtümlich oder absicht-
lich - so arg mißverstanden, so schwankend oder falsch, so abgeschmackt oder arglistig
gedeutet worden wäre als jenes der Gleichheit 130• Hier existiert kein unbefangenes Ver-
hältnis mehr zu dem Begriff. Rotteck sieht ihn zuerst in seiner Geschichte, die für
ihn mehr negative als positive Züge trägt. Er muß sich von einem „falschen", „ab-
geschmackten" Gebrauch des Begriffs abgrenzen, kann ihn also nur noch partiell für
sein politisches Denken in Anspruch nehmen.
Der Gleichheitsbegriff erscheint bei den liberalen Theoretikern einerseifai wAitArhin
als Lehrtopos in der Grundlegung ihres Rechtsdenkens, etwa wenn von einer Gleich-
heit des Rechts überhaupt, welches allen Menschen als Personen, d. h. als vernünftigen
und freien Wesen ursprünglich zukommt, ausgegangen wird 131 . Deren konkrete Ein-
lösung als staatsbürgerliche Rechtsgleichheit gilt als Aufgabe eines Rechtsstaats.
Im Staate soll nun die Gleichheit des itrspriinglichen Rechts ... ditrch da.s Ge.setz sa.nk-
tioniert werden, heißt es im BROCKHAUS von 1822. Das Gesetz soll nämlich nach der
"/i'nrderwng der Vern11,nft ... jedem fm: geborenen Men8chen gl,m:clum. An.~pruch auf die

129 Ebd., 4 f.
13 ° CARL RoTTECK, Art. Gleichheit, RoTTECK/WELCKER 2. Aufl„ Bd. 6 (1847), 43. Der
Artikel „Gleichheit" ist durch alle 3 Auflagen des Lexikons unverändert geblieben, stammt
also aus der Zeit der 1. Aufl. von 1835.
131 KRUG 2. Aufl., Bd. 2 (1833), 288 ff., Art. Gleichheit.

1029
Gleichheit m. 4. Deutsches Bürgertum im Vormärz
Erwerbung aller der Rechte erteilen, die im Staate erworben werden künnen, und
jeden auf gleiche Weise bei seinen wohlerworbenen Rechten schützen 132 . Im Sinne sol-
cher Prinzipien haben Liberale weiterhin für deren verfassungsrechtliche Veranke-
rung und gegen noch bestehende feudalstaatliche Ungleichheiten gekämpft, beson-
ders gegen die Bevorzugung der Grundeigentümer und des Adels!'!tands, wofür die
Denkschrift DAVID HANSEMANNS vom 31. Dezember 1830 gute Beispiele liefert.
Derselbe führende rheinische Liberale äußert jedoch in seiner August-Denkschrift
von 1840 wärmste Besorgnisse über die starke und außerordentliche Zunahme des demo-
kratischen Elements. Er ist der Meinung, daß das Prinzip der Gleichheit ... in seinen
endlichen Erfolgen nicht nur eine VerP,achung und Vergemeinerung der Ideen, sondern
auch die Gefahr des Umsturzes herbeiführt133 . Hier dokumentiert sich die andere
Seite im Verhalten dieser Liberalen zum Gleichheitsprinzip: die Besorgnis, daß
es, besonders wenn es in den „Massen" Verbreitung findet, zur „Nivellierung" der
biirgerlichen Gesellschaft und zum Verlust von deren Freiheit führt. Das positive
Verständnis des Begriffs wandelt sich also in scharfe Ablehnung, wenn es um
dessen Anwendung auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse geht. Wer sich
hier zum Gleichheitsproblem äußert, ist deshalb in erster Linie darum bemüht,
die positive Funlüiun lle1:1 Begri.IT1:1 vuu tler negativen genau abzugrenzen. Dazu
diente die Unterscheidung zwischen „formaler" und ,,materialer" Gleichheit,
bzw. zwifmh1m der „Gleichheit des Rechts" und der „Gleichheit der Rechte". Die
Menschen behalten ... die formale Gleichheit immer bei, schreibt RoTTECK 134, aber
die materielle hört, nach dem natürlichen Gange der Wechselwirkung und der gesell-
.~chaftlichen Verhältnisse, sehr frühe und unausbleiblich auf. Dieser negativen Be-
urteilung des Gleichheitsbegriffs entsprach eine positive Verwendung des Gegen-
hegriffs: Eine ganz notwendige Folge der naturrechtlich schon he.~f,ehenden, daher
auch vom Staat anzuerkennenden und zu schirmenden Eigentumsrechte ... ist die Ver-
mögensungleichheit oder die Teilung der Bürger fr1, zwe1: Ola.~.~en, der Reichen und Ar-
men135. Neben diese naturrechtlich sanktionierte Eigentumsungleichheit stellt Rott-
eck die „bloß statuierten oder politischen Ungleichheiten", - · z.B. dio des aktiven
Wahlrechts. Charakteristisch auch, daß man in dem ehemals einheitlichen Begriffs-
paar 'Freiheit und Gleichheit' jet7.t mehr und mehr entgegenlaufende Tendenzen
wirksam sieht: Eine solche Allgemeinheit der Freiheit, welche die Rechte aller Staats-
angehörigen gänzlich oder beinahe gleichstellt, betrachte ich nü;ht al.~ wahre, dauerhaft
begründete Freiheit, schreibt HANSEMANN, denn die Herrschaft der Massen ist nicht
die Freiheit 136 . 'Gleichheit' ist für die liberal-konservativen Bürgerlichen also zu
einem problematischeu EnLi:!eheitlungsbegriff geworden, der der sozialen Mittelstel-
lung dieser Schicht entspricht: Er dient als positiver Theoriebegriff zur Begründung
liberaler Verfassungswünsche gegenüber der Restauration und als pejoratives
Schlagwort 7.llr Abgrenzung gegenüber politischen und sozialen Demokratisierungs-
tendenzen.
Angesichts dieser SituaLion, in der 'Gleichheit' bei theoretisch-grundsätzlicher An-

132 BROCKHAUS 5. Aufl., Bd. 4 (1822), 272.


13 3HANSEN, Briefe und Akt.en, 221 f.; vgl. 26 f.
134 ÜARL ROTTECK, Lehrbuch des Vernunftrechts, Bd. 1(Stuttgart1829), 15L
136 Ders., Art. Aristokratie, ROTTECK/WELCKER 2. Aufl., Bd. 1 (1845), 635.

rne HANSEN, Briefe und Akten, 228.

1030
10. 4. Deutsches Bürgertum im Vormärz Gleichheit

erkennung und praktisch-politischer Ablehnung geradezu zu einem Angstbegriff


werden konnte, war eine theoretische Klarstellung notwendig, die nur auf eine Ver-
absqhiedung des naturrechtlichen Traditionsgutes hinauslaufen konnte. HEGEL war
hier bespielhaft. Schon 1802 spricht er von solchen wesenlosen Abstraktionen und po-
sitiv ausgedrückten Negationen als Freiheit, Gwichheit ... , mit denen sich der Ver-
stand wichtfertig über die Empirie hinwegsetzt. In der „Enzyklopädie" destruiert er
dann ebenso den alten Lehrsatz von der natürlichen Gleichheit wie das Postulat
von der Gleichheit vor dem Gesetz : Der geläufige Satz, daß all,e Menschen von Natur
gwich sind, enthielte den Mißverstand, das Natürliche mit dem Begriffe zu verwechseln;
es muß gesagt werden, daß von Natur die Menschen vielmehr nur ungwich sind ...
Daß die Bürger vor dem Gesetz gwich sind, enthäU ... so ausgedrückt eine Ta,utologie;
denn e.~ i.~t damit nur der gesetzliche Zustand überhaupt, daß die Gesetze herrschen, aus-
gesprochen. Die Gesetze . . . setzen die ungleichen Zustände voraus und bestimmen die
daraus hervorgehenden 1ingle1:che1n. rech!Jich.en 7,11,>:tändi(Jkeiten und Pfiichten 187 • So ist
für Hegel 'Ungleichheit' der leitende Begriff einer realistischen Rechts- und Staats-
philosophie, ilie vuu Jeu uaLw·gegelieueu gesellsehafLlichen Unterschieden ausgeht.
Er hat damit entscheidend zur Kritik des bitrgerlich1m Gleicihheitsbegriffs beigetra-
gen und seine Entideologisierung eingeleitet. Für eine bürgerliche Schicht, die sich
in ihrer nachrevolutionären Phase befand, hatte der GleiuhheitsbegriIT als politi-
sches Schlagwort seinen Sinn verloren; er ,konnte nun in kritischer Analyse als ein
abstraktes Postulat erkannt und als ehemaliger Theoriebegriff ausgeschieden wer-
den. Von der „Abstraktheit" und „Leerheit" des Gleichheitsbegriffs ist bei den
Liberalen verbreitet die Rede gewesen 138 •.
Bei denjenigen Gruppen jedoch, die auf eine konsequente Weiterführung des seit
1815 politisch blockierten Emanzipationsprozesses drängten, die bestehende poli-
tisch-gesellschaftliche Verfassung ablehnten und deren demokratische, z. T. auch
schon republikanische Umgestaltung im Rahmen eines Nationalstaats forderten,
stand der Gleichheitsbegriff in ungebrochener Geltung. Auf dem Hambacher Fest
1832, erklärte L. P1sToR: Unsere Gwichheitsbestimmungen, die all,e Einwohner auf
dieselbe St·ufe der Bürgerrechte stellen, sind unvergwicliliche Denkmäl,er der Weisheit ...
Frankreichs. Und GusTAV STRUVE schreibt in Erinnerung an die vierziger Jahre:
Die wiedererweckten Erinnerungen an die Französische Revolution ... , die Formel
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wirkten el,ektrisch auf all,e Völker Europas 139 • Hier
wurden die Leitbegriffe der Französischen Revolution bewußt aufgegriffen. Freiheit
und Gleichheit, bei den Liberalen schon als divergierende Postulate empfunden,
werden zu Losungswortcn demokratischer Organisationen. Freiheit und Gleichheit
ist das Höchste, wonach wir zu streben haben, heißt es in den Grundsätzen der deut-
schen Burschenschaft, und§ 1 der Satzung des „Jungen Deutschland" lautet: Das

137 HEGEL, Wissenschaftliche Behandlungsarten des Naturrechts, SW 4.Aufl„ Bd. l (1965),

455; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,§ 539. SW,


hg. v. Georg Lasson, fortgeführt v. Johannes Hoffmeister, 5. Aufl., Bd. 5 (Leipzig 1949), 436.
Zum Folgenden auch ders., Rechtsphilosophie, § 200.
138 Vgl. z.B. PAUL AcHATIUS PFizER, Briefwechsel zweier Deutscher, hg. v. Georg Küntzel

(Berlin 1911), 220. 240.


189 Das Hambacher Fest, hg. v. KuRT BAUMANN (Speyer 1957), 126; OusTAV STrtUVE,

Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden (Bern 1849), 3.

1031
Gleichheit m. 4. Deutsches Bürgertum im Vormärz
junge Deutschland konstituiert sich, um die Ideen der Freiheit, der GT,eichheit und der
Humanität in den zukün~igen republikanischen Staaten Europas zu verwirklichen140•
Am Vorabend der Revolution von 1848 waren diese Leitbegriffe bis in die unteren
Volksschichten verbreitet. Ein hessischer Arbeiter erklärt auf dem Heidelberger
Turnfest von 1847: Freiheit, Gleichheit ist die Losung der Zeit: es gibt nur einen Stand,
das Volk ... Es ist stark, fürchtet sich nicht und hat Fäuste. Eine Losung für uns alle:
Tod den Tyrannen, Freiheit, Gleichheit/ 141 •
Charakteristisch für diesen Begriffsgebrauch ist es, daß man nicht bei der formalen
Rechtsgleichheit stehen bleibt, sondern den Anwendungsbereich des Begriffs aus-
dehnt, insbesondere auf das Gebiet der politischen Rechte: das unveräußerlichte
Recht alkr im Staat Vereinigten und Lebenden auf staatsbürgerliche Gleichheit oder
da.~ RP.r:ht jedes e?:nzelnen, an der Bildung des Gesamtwillens gleichen Anteil wie
jeder andere zu nehmen. Das mündet ein in die konkrete Forderung nach Gleich-
heit im aktiven Wahlrecht 142 • Mit der Zuspitzung der iior.inlfm Rit.1mt.ion in den
vierziger Jahren wurde die Gleichheitsforderung auch auf das soziale Gebiet aus~
gedehnt: Daß alle Menschen ... gleichmaßig ein Recht auf Leben, d. h. auf die
Sicherung von dessen Erhaltung haben, wird bei STRUVE 1847 zum ersten der
Menschenrechte. Deshalb ist im Offenburger Programm von der Ausgleichung des
MißverhäUnisses zwischen Arbeit und Kapital die Rede 143 • Daß der Gleichheits-
begriff mit dem Begriff des Demokratischen zusammengehört und für diesen
charakteristisch ist, entsprach einer politischen Lehrtradition, die bis auf das antike
Griechenland zurückgeht. In dieser Tradition trug 'Gleichheit' jedoch meist eine
pejorative Akzentuieru'ng und diente zur Abwertung der Demokratie als eines
möglichen Verfassungsmodells. Erst indem jetzt bestimmte Gruppen sich mit dem
Begriff des Demokratischen identifizierten und den Gleichheitsbegriff als posit.iven
verfassungsrechtlichen Leitbegriff aufgriffen, fand die alte Lehrtradition, die noch
in den Lexika des Vormärz vorherrscht144, ihr Ende.
Schließlich ist noch auf einen Bereich besonders hinzuweisen, in dem für die bürger-
lichen Schichten des deutschen Vormärz Gleichheitsvorstellungen eine Rolle spiel-
ten: die nationale Vereinsbildung. Im organisierten Verein erlebten die :Bürger eine
Gleichheit der Überzeugung und lnteressen, hier vollzogen und erfuhren sie die
Überwindung ihrer 1:1tändischen, beruflichen und lokalen Unterschiede. In SARTO-
RIUS „Turnleben" heißt es: Über jede Schicksalsbeugung schwingt uns 1m„wmi t!ber-
zeugung. Diese macht uns alk gleich, stiftet unser neues Reich145 • Auch in den

140 Quellen und Darstellungen zur Geschichte der .Burschenschaft und der deutschen Ein-

heitsbewegung, hg. v. PAUL WENTZCKE, 2. Aufl„ Bd. 4 (Heidelberg 1966), 121, vgl. 126;
Lunwrn BRÜGEL, Geschichte der Österreichischen Sozialdemokratie, Bd. 1 (Wien 1922),
13, Anm.
141 NORBERT HEISE, Die Turnbewegung und die Burschenschaften als Verfechter des

Einheits- und Freiheitsgedankens in Deutschland (phil. Diss. Halle 1965), 223 f.


142 PFIZER, Art. Urrechte, RoTTECK/WELCKER 2. Aufl., Bd. 12 (1848), 700 f. Vgl. ebd„ 693.
143 GusTAV v. STRUVE, Art. Menschenrechte, RoTTECK/WELCKER 2. Aufl„ Bd. 9 (1847),

70 u. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 262.


144 Vgl. BROCKHAUS 5. Aufl„ Bd. 4 (1822), 94.
146 Zit. TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 3. Aufl„ Bd. 2 (Leipzig

1886), 391; PAUL WENTZCK.l!l, Geschichte der deutschen Burschenschaft (1919; Ndr. Hei-
delberg 1965), 288. 263.

1032
m. 5. Deutsche Arbeiterbewegung im Vormärz Gleichheit

Satzungen der Vereine schlug sich der Gleichheitsbegriff nieder. Einen besonderen
politischen Akzent erhielt die Vereinsbewegung des Vormärz durch die nationale
Ideologie, die ebenfalls von Gleichheitsvorstellungen, wenn auch meist indirekt,
geprägt war (Gleichheit der Patrioten in Sprache, Abstammung, gemeinsam erlebter
Geschichte, Religion, Kultur). KARL FoLLEN konstatiert, daß erst das Vaterland
durch Gleichheit der Sprache, Erziehung, Sitte und Volksgesinnung dem politisch
Tätigen einen sicheren Standpunkt für sein Wirken geben könne. Die Gleichheit in
der patriotischen Gesinnung war das Thema ungezählter Reden auf Vereinstagen,
so bei TH. GEORGII 1845 auf dem Reutlinger Turnfest: Eins aber ... dünkt mir das
Höchste an unserer Sache, es ist das Gleichmachende, wenn Ihr wolU, demokratische
Element, daß alle sich fühlen als Brüder, als Kämpfer für eine große Sache, fürs Vater-
land146. P. PFIZER hat in seiner Grundschrift des liberalen Nationalismus dem
sozialpolitischen Gleichheitsprinzip ein nationales gegenübergestellt. Er wendet
sich dagegen, daß nicht Gl,cfr:hJwit dr-r 8prrwhr- wnd A h.~t1:m.m.wng, mnhl n.bP.r Gle.ü:11./1e#
der Ansichten und Gesinnung das Bindemittel der einzelnen wie der Nationen sein soll.
Als ob es keine anderen Ansichten und Gesinnungen gäbe, worin man sich gleich sein
lcönnte, außer den politisch-bürgerlichen! Als ob die Nationalunterschiede bloße Miß-
yr·ifje und Ab·irr·ungen der JJcltafjenden Naturkraft wären 147 .

5. Die deutsche Arbeiterbewegung im Vormärz

Der soziale Charakter der deutschen Auslandsvereine, in denen sich demokratisch-


bürgerliche Intelligenz und wandernde Handwerksgesellen zu politischer Tätigkeit
zusammenfanden, bedingte die Herausbildung einer eigenständigen Ideologie, in der
der Gleichheitsbegriff eine zentrale Funktion einnahm. Die Einflüsse der jeweiligen
Gastländer, in erster Linie die der französischen Frühsozialisten, spielten dabei eine
wichtige Rolle. Der Begriff 'egalite', der in Frankreich während der Restauration
in den Hintergrund getreten war und auch noch bei Saint-Simon und Fourier
kritisch behandelt wird, rückte seit Mitte der dreißiger Jahre wieder an die erste
Stelle der sozialpolitischen Diskussion. Seit der Wiedererweckung der Ideen Babeufs
durch Buonarotti war der soziale Charakter dieser Phase des französischen Gleich-
heitsdenkens entschieden im bewußten Gegensatz zum rechtlich-politischen Charak-
ter der ersten Phase. So sieht z. B. PROUDHON seit der Großen Revolution drei
Gleichheitsprinzipien nar,heina.ncfar wirksam: zunächst die „egalite des personnes",
dann die „egalite civique et politique" und schließlich in seiner Zeit die „egalite des
conditions et des fortunes" 148 . .b:ine zunehmende soziale Akzentuierung und revo-
lutionäre Zmipitzung kennzeichnet auch den Begriffsgebrauch in der frühen deut-
schen Arbeiterbewegung. Die Entwicklung begann mit der Aneignung des demo-
kratischen Gedankenguts der Fra.m:ösischen Revolution: In der ersten Programm-

146 RICHARD PREZIGER, Die politischen Ideen des Karl Folien (phil. Diss. Tübingen;
Stuttgart 1912), 37 u. GÜNTER ERBACH, Der Anteil der Turner am Kampf um ein einheit-
liches und demokratischeR fämtschland 1843-52 (Diss. Leipzig 1956), 43.
147 PFIZER, Briefwechsel, 153.
14s Vgl. JuuE·r, L'idee d'egalite, 177 f. 182. Vgl. 173 (Cabet).

1033
Gleichheit W .. 5. Deutsche Arbeiterbewegung im Vormärz

schrift des „Deutschen Volksvereim1" in Paris wird in Art. 3 ausdrücklich erklärt,


daß Gleichheit das Grundgesetz dieser Gesellschaft sei,· was auch bereits auf den so-
zialen Bereich angewandt wird, wenn in Art. 15 als Ziel der gesellschaftlichen Ent-
wicklung gefordert wird, die Güter der Bürger der Gleichheit näher zu bringen149• Die-
ser Aspekt wurde in der Folge zum beherrschenden Thema.
Ausgangspunkt war eine Kritik an dem bisherigen Stand der Gleichheitsverwirk-
lichung durch den Nachweis, daß trotz der Einführung der rechtlichen und staats-
bürgerlichen Gleichheit die Ungleichheit unter den Menschen nicht behoben, sondern
noch drückender geworden sei; denn sie habe sich jetzt auf den sozialen Bereich,
speziell die Besitzverhältnisse verlagert. Herrscht dort Gleichheit, wo der eine als Mil-
lionär geboren wird und der andere als Bettler? fragt TH. ScHUSTER160 • Wer eine solche
Gleichheit sucht, der wende sich nach Deutschland ... ihr Antlitz ist hold, ihr Wesen
sanft,' ihr Name lieblich, ihre Verbrechen nennen sie nur 'Gleichheit vor dem Gesetz'.
Die Anklage solcher „schreienden Ungleichheit" führt zur Aufdeckung der .IJ'ragwür-
digkeit der liberalen Gleichheitskonzeption. Infolgedessen wird die Beseitigung der
sozialen Ungleichheit als unerläßliche Voraussetzung einer guten Staatsverfassung
erkannt: Annähernde Gleichheit in Güterbesitz und öffentliche, auf Gleichheit aller Bür-
yer yeyr'Ü1ulele Erz·ielvuny 1J•ind d·ie M-iltel ... ohne il·1:ese keüi Ife.il, ke·ine Wtdirhe·it ·in der
vollkommensten Volksverfassung 1 ~ 1 • Die ~·~rderung der deutschen Handwerksgesel-
len lautet deshalb: Herstellung einer „wirklichen", „tatsäc.hlichen", „wahren"
und „vollen" Gleichheit 152 . Dabei stand bald der Begriff der Gütergemeinschaft im
Mittelpunkt: Wir halten nämlich dafür, daß Gütergemeinschaft den Begriff von
· Gleichheit am genauesten und schärfsten bezeichnet, schreibt der junge MosEs HESS.
Nur da, wo gemeinschaftlicher Besitz aller Güter, der inneren sowohl als auch der äuße-
.ren, wo der Schatz der Gesellschaft jedem geöffnet, . . . nur da herrscht völlige Gleich-
heit153. Mit dieser Folgerung war. der Schritt zu einem sozialistischen Begriff von
Gleichheit vollzogen; er ist mit der These verbunden, daß seine Verwirklichung
nicht durch Reformen, sondern nur durch eine umfassende politisch-soziale Revo-
lution möglich ist 154 . 'Gleichheit' wird hier zu einem universalen sozialpolitischen
Leit- und Zielbegriff, der sich auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens er-
streckt.
Der moderne emanzipatorische Gleichheitsbegriff ist also in den Jahren nach 1830
erstmals auch von einer nichtbürgerlichen Schicht aufgegriffen worden und erhielt
hier einen betont sozialökonomischen Akzent. Deutsche Brüder! Fahrt fort in Eurem
Streben nach sozialer Emanzipation, nach Gleichheit an allen Gütern, - in dieser
Grußadresse kommt der Zusammenhang von Gleichheit und sozialer ErnanzipaLion

149 Vgl. WOLFGANG ScmEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung (Stuttgart 1963),

316 f., dessen umfassende Untersuchung für die folgenden Zusammenhänge maßgebend ist.
150 WERNER KoWALSKI, Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten (Berlin

1962), 204.
161 Glaubensbekenntnis eines Geächteten, zit. Kow ALSKI, Bund der Gerechten, 187.
152 Vgl. KowALSKI, Bund der Gerechten, 205; FRIEDRWH ENGELS, Das Fest der Na-

tionen in London, MEW Bd. 2 (1962), 618; ScmEDER, Arbeiterbewegung, 200.


153 MosEs HEss, Die heilige Geschichte der Menschheit (1837), Philos. u. sozialistische

Sehr. 1837-1850, hg. v. August Cornu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961), 51.
154 Vgl. dazu bes. WILHELM WEITLING, Garantien der Harmonie und Freiheit (Vivis 1842),

229 ff.

1034
m. 6. Die deutsche Revolution von 1848/49 Gleichheit

unmittelbar zum Ausdruck~ 55 . Auffällig ist der grundsätzliche und idealisierende


Charakter dieses Begriffsgebrauchs. Das Substantiv steht dominierend als ideales
Postulat im Mittelpunkt aller Aussagen. WILHELM WEITLING feiert z.B. die gesell-
scooftliche Gleichheit als <las höchste Ideal und die festeste Basis irdischen Glücks und
gottähnlicher V ollkommenheit 156 • In zahlreichen Liedern wird die Gleichheit hym-
nisch gepriesen. Auch die Aufnahme christlich-biblischen Gedankenguts ist in die-
sem Zusammenhang bemerkenswert: Das Prinzip J esu ist dq,s Prinzip der Freiheit
und Gleichheit, lautet eine Überschrift ~ei Weitling 157 •

6. Die deutsche Revolution von 1848/49

Unter den gesellschaftlichen Gruppen, die im März 1848 mit gemeinsamen Forde-
rungen an die bestehenden Regierungen herantraten, hat es hinsichtlich der Gleich-
heit~frage niemals eine Übereinstimmw1g gegeben. Die divergierenden Prnütiunen
des Vormärz hielten sich durch. Der Gleichheitsbegriff hat - das gilt es als erstes
festzuhalten-als allgemeiner Integrationsbegriff der revolutionären Gruppen in der
deutschen Revolution keine Rolle spielen können, wie dies etwa in Frankreich 1848
noch cinmoil lrurllfriotig möglich w11r. Vor 11llcm d110 liberale Bmiitll und Bildungo
bürgertum ist ohne eine Gleichheitsforderung in die Revolution hineingegangen; die
Volksbewegung f'iir difl OlP-ich hP-it dflR Wa.h lrechts war für sie sogar der Anlaß, bereits
im März 1848 den Kompromiß mit den bestehenden Regierungen zu suchen.
Die Wahlrechtsforderung (Gleichheit des aktiven Wahlrechts für alle erwachsenen
männlichen Staatsangehörigen) war die wichtigste konkrete Cleichheitsforderung,
die in der Revolution von 1848/49 erhoben wurde - eine neue, über die bisherige
politische Verfassung hinausgehende und diese weitertreibende Forderung, deren
Realisierung zum Gradmesser für den Erfolg und den demokratischen Charakter
der Revolution überhaupt wurde. Ursprünglich von den bürgerlichen Demokraten
getragen, wurde sie seit den ersten Märztagen zur allgemeinen Volksforderung.
Gleiche politische Berechtigung aller, ohne Rücksicht auf religiöses Bekenntnis und
Besitz, heißt es in der ersten der vielen Berliner Zeltenversammlungen; charakte-
ristisch ist die Formulierung 'gleiche politische Berechtigung', die sich in den zahl-
losen Adressen, Petitionen und Volksversammlungen der Monate März und April
ähnlich wiederfindet. Allen gleiche Rechte, gleiches Gesetz, gleiches Gericht, gleiche
Teilnahme an der Gesetzgebung verkündete der Demokrat GEORG JUNG als das Testa-
ment der Berliner Märzgefallenen. Mit den Wahlgesetzen für die Maiwahlen erreichte
diese Bewegung einen ersten Erfolg 158 . „Gleiche Berechtigung aller als Menschen

155 Zit. KowALSKI, Bund der Gerechten, 210.


1 56Zit. ebd„ 224. Vgl. ScmEDER, Wilhelm Weitling und die politische deutsche Hand-
wArkerlyrik im Vormärz, Internat. R.Av. of Sonial Hi11t. f) (1960), 26f> ff.
157 W. WEITLING, Das 'Evangelium eines armen Sünders, in: Der Frühsozialismus, hg.

v. THILO RAMM 2. Aufl. (Stuttgart. 1968),421. Dazu umfassend ScmEDER, Arbeiterbe-


wegung, 220 ff.
158 Anor.F Wor•FF, Rerliner Revolut.ions-Chronik, Rd. l (Berlin 1851), 17. 326. Vgl. ehd„

Bd. 2 (18f>2), 66 ff. 209 ff.; dazu GlillUTARD SCHILFERT, Sieg und Niederlage des demokra-
tischen Wahlrechts in der deutschen Revolution 1848-49 (Berlin 1952), 34 ff. 40 ff.;
HEINZ BuBERACH, Wahlrechtsfragen im Vormärz (Düsseldorf 1959), 117 ff.

1035
Gleichheit m. 6. Die deutsche Revolution von 1848/49

und Staatsbürger" z. B. erscheint auch danach als Grundsatz in demokratischen


Erklärungen. Weitere Gleichheitsforderungen wurden aber nur noch selten erhoben.
Für den „vierten Stand" standen 1848 die sozialen Forderungen nachLohnverbesse- ·
rungen, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitsbeschaffung und allgemeiner Volksbildung
eindeutig im Vordergrund. Der Gleichheitsbegriff konnte - wie die Forderung der
Wiener Arbeiter nach Gleichheit des Arbeitslohns zeigt - damit konkret verbunden
sein. Ein politisches Schlagwort war der Begriff jedoch auch bei diesen Gruppen
nicht; allenfalls trat er weiterhin als Verbrüderungssymbol und gesellschaftspoliti-
scher Idealbegriff aufI59.
Im Vergleich mit dem Begriff 'Freiheit', der während der Jahre 1848/49 in aller
Munde war, spielte der Gleichheitsbegriff in den Auseinandersetzungen dieser Zeit
also nur eine untergeordnete Rolle. Für eine Verwendung des Substantivs 'Gleich-
heit' als politische Parole konnte in den zahlreichen Quellen kein Nachweis gefunden
werden, wenn man einmal von seinem Vmkummen in der traditionellen Triasformel
absieht. Selbst die sachlich bedeutendste Gleichheitsforderung dieser Zeit, die nach
der Gleichheit im Wahlrecht, wurde meist unter Umgehung des Gleichheitsbegriffä
formuliert 160 • Das Mißtrauen aller bürgerlichen Gruppen gegenüber dem sich
emanzipierenden vierten Stand schlug sich in einer instinktiven Unsicherheit gegen-
über dem Gleichheitsbegriff nieder. In diesem Zusammenhang ist auf einen beson-
deren wortgeschichtlichen Befund hinzuweisen: das auffällig häufige Vorkommen
der Formulierung 'gleiche politische Berechtigung' oder 'gleiche Berechtigung' in
den einschlägigen Texten. Es kann nur so interpretiert werden, daß das zeitge-
nössische Publikum in seiner Unsicherheit gegenüber dem traditionellen allgemeinen
Gleichheitsbegriff bei der Formulierung von Gleichheitsforderungen zu dieser kon-
kreteren und sinnentsprechenderen Umschreibung überging. Unschwer ist darin
eine Vorform des Begriffs 'Gleichberechtigung' zu erkennen, der sich damit als neuer
Leitbegriff ankündigt.
Nachdem das erste Nahziel der deutschen Revolutionen, die Konstituierung von
verfassungsgebenden Nationalversammlungen in Frankfurt, Berlin w1d Wien, er-
reicht war, wurden die weiteren Schritte, auch hinsichtlich der Realisierung von
Gleichheit, von diesen Parlamenten erwartet. Die Gleichheitsfrage war hier vor
allem in drei Zusammenhängen akut: bei der Definition der staatsbürgerlichen
Rechtsgleichheit, der Diskussion über das Nationalitätenrecht und der über das
Wahlrecht. Bei der Formulierung der Grundrechte war die Aufnahme des allgemei-
nen Grundsatzes von der Gleichheit vor dem Gesetz eine Selbstverständlichkeit, die
von keiner Partei bestritten wurde. Der österreichische Verfassungsausschuß stellte
in seiner ersten Sitzungsphase dem Katalog der Grundrechte darüber hinaus noch
eine naturrechtliche Deklaration voran, die mit dem Satz beginnt: Alle Menschen
haben gleiche, angeborene und unveräußerliche Rechte. In der zweiten Lesung in Krem-
sier, nach dem Sieg der Reaktion, ließ man diese Erklärung jedoch wegfallen, weil
diese Grundsätze durch deren falsche J nterpretation gefährlich werden können161 . Im

169 Vgl. ERNST VICTOR ZENKER, Die Wiener Revolution 1848(Wie~1897), 125 ff. 164 ff.

175ff.; FROLINDE BALSER, Sozial-Demokratie 1848/49-63, Bd. 2 (Stuttgart 1962), 679.


160 Vgl. die Zusammenstellung bei SoBJLFERT, Demokratisches Wahlrecht, 38 f.
161 ALFRED FISOHEL, Die Protokolle des Verfassungsausschusses über die Grundrechte

(Wien, Leipzig 1912), 182. 74.

1036
m. 6. Die deutsche Revolution von 1848/49 Gleichheit

Frankfurter Verfassungsausschuß wurde ein entsprechender Vorschlag von WIGARD


bereits in der ersten Beratung verworfen, weil man nicht „doktrinär sein" woll-
te1s2.
Die Unsicherheit gegenüber der ursprünglichen Begründung des bürgerlichen
Gleichheitspostulats schlug sich auch in den Diskussionen über die konkrete Fassung
des Gleichheitsparagraphen nieder. Zu Beginn der Debatte in der Paulskirche über
den § 137 der künftigen Reichsverfassung wurde der Ausspruch: Das neue Licht der
bürgerlichen Gleichheit soll hell leuchten und sich nach allen Richtungen verbreiten
noch mit Bravo! bedacht; gegen deren Ende aber heißt es: Wir, meine Herren, sind
heutzutage über diesen abstrakten Standpunkt hinaus . . . und fassen daher diesen Satz
nicht wie ein bloßes Menschenrecht 163 • Im österreichischen Verfassungsausschuß
wird die Befürchtung geäußert, daß man aus diesem Paragraphen ... Konsequenzen
kommunistischer Art ziehen könnte 164 • In die gleiche Richtung gingen die wieder-
holten Abgrenzungen gegen ein „materiales" Verständnis des Begriffs in der .Pauls~
kirchen-Debatte: Es handelt sich hier allein um die bürgerliche Gleichheit, nicht um
jene rohe materialistisch-communistische Gleichheit, welche alle natürlichen Unter-
schiede in den geistigen und physischen Fähigkeiten aufheben und auch die Folgen
derselben in bi!Z'tUJ auf Arbl1Ü uruJ, Vl~rrnlJy1Jn1wrwlirb 't'1Jrtüy1Jn 'w-illl6°. Muu wullLc
einerseits über das allgemeine und abstrakte Gleichheitsprinzip hinauskommen,
hatte aber andererseits Angst vor einer sozialpolitischen Konkretion des Grund-
sa.t:r.es. Die Pm1ition des liberal-konservativen Bürgertums gegenüber dem Gleich-
heitsbegriff :findet hier ihre Bestätigung. Daß sozialpolitische Entscheidungen jedoch
bei der Formulierung des Paragraphen über die Gleichheit gar nicht zu umgehen
waren, zeigen die weiteren Debatten, in denen es vor allem um das Problem der
Abschaffung des Adels ging166.
Ein für die deutschen Verhältnisse spezifisches Gleichheitsproblem stellte sich 1848
<lnrr,h <len beginnenden nationalen Emanzipationskampf der nichtdeutschen Völker
innerhalb des Reiches. Schon im Siebzehner Entwurf vom April 1848 war deshalb
als Grundrecht formuliert: Freiheit volkstümlicher Entwicklung, insbesondere auch
der nichtdeutschen Volksstämme durch Gleichberechtigung ihrer Sprache in Rücksicht
aitf Unterricht 1ind innere VerwaUwng. Der Terminus 'Gleichberechtigung' tritt hier
bereits als konkreter Sachbegriff auf. Er hielt sich auch durch über die Dahlmann-
sche Bearbeitung des Antrags Mareck in der Paulskirche bis in den § 188 der
Reichsverfassung, wo jedoch statt von einem „Recht" nur noch von einer
„Gewährleistung" der Gleichberechtigung die Rede ist 167 • In der Nationalitäten-
diskussion von 1848 erscheint 'Gleichheit' also überhaupt nicht mehr als abstraktes
Substantiv. Statt dessen ist der Sachbegriff 'Gleichberechtigung' das beherrschende
Schlagwort.

162 J OH. GusTAV DROYSEN, Die Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses der deutschen
Nationalversammlung (Leipzig 1849), 4 f.
163 Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 2 (1848), 1293. 1314.
164 F1sCHEL, Protokolle, 35.
165 Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 2, 1293. Vgl. ebd., 1314. 1300.
166 Vgl. als beispielhaft die Etappen in der Formulierung des§ 4 der Preußischen Verfas-

sung: GERHARD ANSCHÜTZ, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, Bd. 1
(Berlin 1912) 107 f. 597. 608. 614. 624. 633.
1e 7 Vgl. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 290. 323.

1037
Gleichheit m. 7. Marx und die sozialistische Arbeiterbewegung
In de~ Debatten der Paulskirche über das Wahlrecht im Februar 1849 bestätigt
sich schließlich noch einmal die Abneigung der bürgerlichen Liberalen gegenüber
dem Gleichheitsbegriff als einem sozialpolitischen Prinzip. Sie konnten im Ausschuß
einen Ausschluß der Arbeiter, Handwerksgesellen, Dienstboten und Armen vom
aktiven Wahlrecht durchsetzen. Die Frage des allgemeinen Wahlrechts sei nicht
eine triviale, sondern eine der hohen Politik, eine Frage der Existenz. Und diese
nach den Gemeinplätzen von allgemeiner Gleichheit . . . zu entscheiden, ist das Aller-
verderblichste, hebt BESELER hervor. Gleichheit sei nur ein abstrakter Gedanke, in
Wirklichkeit seien die naturgegebenen Ungleichheiten des gesellschaftlichen Lebens
maßgebend168 •
Das Jahr 1848/49 markiert also einen wichtigen Einschnitt im Gebrauch des sozial-
politischen Gleichheitsbegriffs. Wider Erwarten hat dieser BegriIT in der deutschen
Revolution als Schlagwort oder Leitbegriff kaum eine Rolle gespielt, obwohl die
Möglichkeit dazu gegeben war. Das ist zuniiohat kennzeichnend für den Charakter
dieser Revolution selbst: Für die Uneinigkeit unter den revolutionären Gruppen
und die Ausklammerung der sozialpolitischen Fragen durch das libP-rale Bürgertum.
Aber auch die demokratischen und sozialrevolutionären Gruppen haben den sub-
stantivischen Gleichheitsbegriff kaum verwendet; erst dieser Sachverhalt macht es
notwendig, von einer allgemeinen und grundsätzlichen Zäsur in der Geschichte des
Begriffs zu sprechen. Der abstrakte, substantivische Gleichheitsbegriff hatte seine
Strahlkraft verloren; er wird mehr von konservativer Seite her kritisiert und abge-
wertet als von progressiver Seite her proklamiert. Der Kulminationspunkt seiner
Verwendung als Leitbegriff em1J,nzipatorischer Bestrebungen war offensichtlich
überschritten. Anstatt von 'Gleichheit' ist jetzt zunehmend von 'Gleichberechtigung'
die Rede. Damit ist an die Stelle eines pauschalen und vieldeutigen Schlagworts ein
konkreter Sachbegriff getreten. Mit dem neuen Leitbegriff 'Gleichberechtigung'
wird diejenige Gleichheit, die von jeher mit der Verwendung des Gleichheitsbe-
griffs im sozialpolitischen Bereich gemeint war, jetzt konkret angegeben: eine ge-
setzgeberisch zu :fixierende Gleichheit an bestimmten Rechten für je konkrete
Personengruppen. Damit war der Übergang von der Epoche des ideologischen An-
spruchs zur Phase des konkreten Kampfes um bestimmte Gleichstellungen auf dem
Wege der Gesetzgebung begrifflich angezeigt.

7. Karl Marx und die sozialistische Arbeiterbewegung

Mit der Phase des Niedergangs des neuzeitlichen Gleichheitsbegriffs war der Zeit-
punkt seiner analytisch-kritischen Bewältigung und historischen Einordnung ge-
kommen. Dies ist im wesentlichen durch KARL MARX und die von ihm beeinflußten
sozialistischen Theoretiker geleistet worden. Marx hat behauptet, daß die neuzeit-
liche Theorie von der Gleichheit aller Menschen das spezifische Postulat des Bürger-
tums in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung gewesen ist. Diese historische
Einordnung basiert auf einer ideologiekritischen Analyse des Begriffs. Schon in dem
Aufsatz „Zur Judenfrage" stellt Marx die These auf, daß das naturrechtlich begrün-

16 8 Aktenstüoke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversamm-

lung aus dem Nachlaß von J. G. Droysen, hg. v. RUDOLF HÜBNER (Stuttgart 1924), 374;
Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7, 5247 f.; vgl. ebd., 5222. 5252.

1038
m. 7. Man: und die sozialistische Arbeiterbewegung Gleichheit

dete Menschenrecht der Gleichheit nicht die allgemeine menschliche Emanzipation


intendiere, die es vorgibt, sondern nur eine rechtlich-politische. Die Ungleichheit
solle nur ;,ideell", in der Sphäre des Rechts und der Politik, aufgehoben werden 169 .
Im „Kapital" wird dann gezeigt, daß die rechtliche Gleichheit der Menschen als frei
über sich verfügender Subjekte die notwendige Voraussetzung für das Funktionie-
ren der kapitalistischen Marktgesellschaft ist. Für den Austausch von Waren, ins-
besondere von Lohn und Arbeitskraft, müssen Käufer und Verkäufer juristisch
gleiche Personen sein1 7°. Deshalb sei die Gleichheitsforderung das spezifische Postu-
lat des Bürgertums in seiner emanzipatorischen Entwicklungsphase.
Die rechtlich egalisierte Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches sei jedoch
nur die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft; in der gesellschaftlichen Wirklichkeit
dagegen ----' und darin besteht der kritische Akzent der Marxschen Analyse - seien
die Ungleichheiten nicht aufgehoben. Der Staat hebt den Unterschied der Geburt, des
Standes,. der Bildung·, der Beschltftigung in seiner Weise auf . . . wenn er ohne Rück-
sicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Teilnehmer der
V olk.~.~omieränität au.~ruft . . . Nichtsdestoweniger läßt der Staat das Privateigentum,
die Bildung, die Beschäftigung auf ihre Weise ... wirken und ihr besondres Wesen
geltend machen. Weit entfernt, diese faktischen Unterschiede aufzuheben, existiert er
vielmehr nur unter ihrer V oraussetzung171 • So führt Marx in „Zur Judenfrage" aqs,
wo er seine Kritik der bürgerlichen Menschenrechte mit Hilfe der Unterscheidung
von „citoyen" und „bourgeois" expliziert: Der rechtlichen und staatsbürgerlichen
Gleichheit der Menschen als „citoyen" steht deren faktische sozialökonomische Un-
gleichheit als „bourgeois" gegenüber, bzw. diese liegt jener zugrunde. Damit wird
nicht nur die historische Bedingtheit. des naturrechtlich-liberalen Gleichheits-
postulats, sondern zugleich dessen instrumentaler,· ideologischer Charakter nach-
gewiesen; die Forderung des Bürgertums nach rechtlicher Gleichheit für alle diene
faktisch nur den eigenen Klasseninteressen.
Fragt man nach den geistigen Anregungen zu dieser Theorie, so ist vor allem Hegels
Kritik der „abstrakten Menschenrechte" zu nennen 172 • Hinzuweisen ist auch auf
die von LORENZ VON STEIN 1842 aufgestellte These, daß die Idee der Gleichheit keine
ewige Wahrheit, sondern eine historische Tatsache im Prozeß gesellschaftlicher
Emanzipation darstelle 173 • Mehr aber als über die Herkunft von Marx' Theorie ist
über deren Wirkung zu sagen: Sie erstreckt sich auf alle wichtigen sozialistischen
Theoretik-P.r in Dentsohlanrl nnrl war von rlaher fiir rlie Programmatik rler Arbeiter-
bewegung nach 1850 von grundlegender Bedeutung. So ist bei Mos:Es HEss, in
dessen früheren 8chriften der ideale Gleichheitsbegriff eine zentrale Rolle spielte,
nach seiner Bekanntschaft mit Marx nur noch von republikanischen Gleichheits-

s Vgl. MAID:, Zur Judenfrage, MEW Bd. 1 (1957), 354. 351. 365. ,
1 9
170 Ders., Das Kapital, MEW Bd. 23 (1971), 182. Vgl. 737. 189 f. und zum Folgenden:
MEW Bd. 1, 367.
171 Ders., Kapital, MEW Bd. 23, 189; Marx an Engels, 2. April 1858, MEW Bd. 29 (1963),

317; Zur Judenfrage, MEW Bd. 1, 354. Zum Folgenden vgl. 355 f. 366 ff.
17 2 Vgl. oben S. 1031.

1 73 LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf
unsere Tage (3. Aufl., 1850), hg. v. Gottfried Salomon, Bd. 1 (München 1921), 132. Vgl.
unten S. 1042.

1039
Gleichheit m. 7. Marx und die sozialistische Arbeiterbewegung
sclvfi-urren die Rede 174 • Die neue Beurteilung des Gleichheitsbegriffs war damit be-
reits in die populäre Agitation eingegangen. Auch FERDINAND LASSALLE 1 7 5 hat dazu
etwa in seinen Vorträgen von 1850 wesentlich beigetragen. Schließlich muß FRIED-
RICH ENGELS genannt werden, der in seinem „Anti-Dühring" die ausführlichste
Darstellung der marxistischen Gleichheitstheorie und damit ihr Resume geliefert
hat. Wir wissen jetzt, heißt es dort, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war
als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; . . . daß die Gleichheit hinauslief auf die
bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz 176 • Mit dieser Betrachtungsweise wurde dem
Gleichheitsdenken in der Arbeiterbewegung eine neue Richtung gegeben: In deren
Frühstadium stand der Gleichheitsbegriff in hohem Kurs, ebenso wie vordem
bei den sich emanzipierenden bürgerlichen Schichten. Diese traditionelle Funktion
des neuzeitlichen Gleichheitsbegriffs ging nun zu Ende; eine direkte Benutzung des
Gleichheitspostulats war nicht mehr möglich. In den Dokumenten der deutschen .
Arbeiterbewegung der zwciLcn HälfLe dei; rn. Jahrhunderts findet sich der allge-
meine Gleichheitsbegriff in der Tat erstaunlich selten; er war als solcher kein
gesellschaftspolitischer Leitbegriff mehr 17 7.
Die Rolle von Gleichheitsvorstellungen innerhalb der Arbeiterbewegung war damit
jedoch nicht beendet. Da Gleichheitsforderungen von jeher ein unmittelbarer Aus-
<4uck emanzipatorischer Bewegungen waren, konnte die Arbeiterbewegung auf
deren Gebr11uch nicht verzichten. So gab es hier eine instrumentale, agitatorische
Verwendung des Begriffs, die ENGELS am klarsten ausgesprochen h11t: Die Gkich-
he-itsf<Yrde'f'ung irn M'unde des Proletariats hat ... eine doppelte Bedeutung: Entweder
i.~t .~ÜJ ... die natttrwiich.~ige Reaktion gegen die schreienden sozialen U ngleicliheiten ...
Oder aber sie dient als Agitationsrnittel, urn d·ie Arbeiter mit den eigenen Behwuptungen
der Kapitalisten gegen die Kapitalisten aufzuregen ... Die Proletarier nehmen die
Bourgeoisie beim Wort: die Gleichheit soll nicht bloß scheinbar, nicht bloß auf dem Ge-
biet des Staats, sie soll auch wirklich, auch auf dem gesellschaftlichen, ökonomischen
Geb,iel dwroltgefültrt werden 178 • Solche agitatorische Verwendung von konkreten
Gleichheitsforderungen läßt sich in der deutschen Arbeiterbewegung seiL 1863 viel-·
fach nachweisen, z. B. in der Forderung nach gleichem und direktem Wahlrecht,
die nach ihrem Scheitern 1848/49 als die Hauptforderung der neu sich organi-
sierenden Arbeiterbewegung wieder aufgegriffen wurde 179 • Insbesondere ist auf den
Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen hinzuweisen; „Gleichheit" hieß die

174 Gesellschaftsspiegel, hg. v. MosEs HEss, Bd. 2 (Elberfeld 1846), 32.


17 5 Vgl. LASSALLE, Nachgel. Br. u. Sehr„ Bd. 6 (1925), 129 f. 136 f. 149 f. 154 f.
178 ENGELS, Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft, MEW Bd. 20 (1962),

17, vgl. 124 ff. 426 ff.


177 Es läßt sir.h nachweisen, daß MARx auch konkret in dieser Richtung gewirkt hat: Die

1864 von ihm entworfenen Statuten der „Ersten Internationalen" enthielten keine Er-
wähnung des Gleichheitsbegriffs. Die Mohrhcit des „Provisorischen Komitees" plädierte
jedoch gegen Marx für die Formulierung für (JlP.iche llechte. um.d Pflich.te.n. Noch 1870 bezeich-
net Marx diesen Passus als all.gemeine Phrase, die man in fast allen demokratischen M ani-
/Mti;:n 1:1e.# e.ine'm. J11h.rh1tndert fi.ndd, MEW Bd. 16 (1962), 11f.1.181 vgl. 608, Anm. 11.
178 ENGELS, Anti-Dühring, MEW Bd. 20, 99.
179 Vgl. Programme der Deutschen Sozialdemokratie (Hannover 1963), 26 u. LASSALLE,

Offenes .Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen


.Arbeiterkongresses zu Leipzig, Ges. Red. u. Sehr„ Bd. 3 (1919), 47. 88 ff.

1040
ID. 8. Antiegalitarismus im deutschen Bürgertum Gleichheit

Zeitschrift der Frauenrechtsbewegung, die Klara Zetkin seit 1891 herausgab. Wäh-
rend in der reichsdeutschen Sozialdemokratie nur an dieser Stelle das ausgelaufene
Schlagwort 'Gleichheit' wieder auftauchte, hat es sich im Austromarxismus stärker
durchgehalten 180 •
Der Gleichheitsbegriff war schließlich beim Entwurf einer „klassenlosen Gesell-
schaft" von Bedeutung. MARX unterscheidet in der „Kritik der Gothaer Pro-
gramms" zwei Entwicklungsphasen, deren erste, die sozialistische, durch das Prin-
zip des „gleichen Rechts", das Leistungsprinzip, gekennzeichnet sei. Er weist darauf
hin, daß dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet ist;
denn dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine
Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andere; aber es erkennt
stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit als
natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalte nach,
wie alles Recht181 • Marx spricht schließlich die Ho:ITnung aus, daß 'in elirter höheren
Phase der kommunistischen Gesellschaft dieser enge bürgerliche Rechtshorizont ganz
überschritten werden könne. ENGELS behauptet darüber hinausgehend, daß dann
Gle·ichheit und Gerechtigkeit . . . in der Rumpelkammer der historischen Erinnerung
landen 1 s~. LENIN spricht l!H 7 in seiner lnterpretation der Marx-Htelle von einem
Übergang von der formalen zur tatsächlichen Gleichheit. Er nimmt also den Gleich-
heitsbegriff wieder positiv auf183 . Damit ist jedoch die Grenze der mar.xii,;Li:,;chen
Gleichheitstheorie erreicht, an der sich zwischen den einzelnen Theoretikern wieder
erhebliche Differenzen in den Aussagen einstellen.
Das Verhalten der deutschen marxistischen RoY.ialiHfarn wrn Gleichheitsideal be-
ruht auf der theoretischen Leistung von Karl Marx, der den neuzeitlichen sozialpo-
litischen Gleichheitsbegriff einer umfassenden Ideologiekritik unterzogen und ihn
historisch in die Entwicklung der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft eingeord-
net hat. 'Gleichheit' wurde damit bei den deutschen Sozialisten zu einem negativen
Abgrenzungsbegriff gegenüber der politischen Theorie und Praxis bürgerlicher,
i,;peziell delllokraLüieher Gruppen; sie spielte als sozialpolitischer Idealbegriff in der
deutschen Arbeiterbewegung keine wesentliche Rolle mehr, im Unterschied bereits
zu Österreich. Bei der Verfolgung konkreter emanzipatorischer Ziele konnten aber
weiterhin Gleichheitsvorstellungen in agitatorischer Funktion verwandt werden,
meist jedoch in Form des neuen Begriffs 'Gleichberechtigung'.

8. Der Antiegalitarismus im deutschen Bürgertum nach 1850

'Rei der Mehrheit der deutschen Schriftsteller wurde der Gleichheitsbegriff nach
1850 zu einem pejorativ akzentuierten Abgrenzungsbegriff. Bei der Vcrfolgung
konkreter politischer Ziele konnte zwar weiterhin der Begriff 'Gleichberechtigung'
verwandt werden; in den Parteiprogrammen der Zeit bleibt das aber auf die

180 Vgl. Die Presse der Arbeiterklasse und der sozialen Bewegungen, hg. v. ALFRED

EBERLEIN, Bd. 2 (Berlin 1969), 656 ff.


1s 1 MARX, Kritik des Gothaer Programms, MEW Ild. 19 (1962), 20 f.
182 ENGELS, Anti-Dühring, MEW Bd. 20, 428.
18 3 LENIN, Staat und Revolution (Berlin 1959), 105.

66--90386/l 1041
Gleichheit m. 8. Antiegalitarismus im deutschen Bürgertum
Beseitigung feudalstaatlicher Institutionen beschränkt. Die Wiederaufnahmedemo-
kratischer Gleichheitsforderungen, speziell der nach gleichem Wahlrecht, in den
Jahren nach 1859 blieb Episode 184 • Der Umschwung im Verhalten zum Gleich-
heitsbegriff beim bisher demokratisch denkenden deutschen Bürgertum, der sich
hier vollzogen hatte, wird bei JuLIUS FRÖBEL exemplarisch deutlich: Dieser Demo-
krat der vierziger Jahre bekannte sich jetzt, 1864, zum Prinzip der „Macht", das
auf der „Tatsache der Ungleichheit" beruht, und konstatierte: unsere Zeit ist zum
Glück über die platten Raisonnements der Gl,eichmacherei hinaus. Er wendet sich ent-
schieden gegen eine Gleichheit des aktiven Wahlrechts; für ihn ist die Ungl,eichheit
eine Voraussetzung der Oivilisation. Wenn Fröbel sich dabei auf das Recht der
vollendeten Tatsache oder „das Recht des Schicksals" beruft, dann offenbart sich
darin nur die Schwäche und Unsicherheit in der theoretischen Bewältigung der
durch die Gleichheitsfrage gestellten sozialen Rechtsprobleme 185 •
Dabei war diese Diskussion in Deutschland durch LORENZ VON STEIN schon in den
vierziger Jahren mit fruchtbaren Ansätzen eröffnet worden. Stein hatte noch vor
·Marx eine geschichtliche Theorie der Gleichheitsidee entwickelt, in der diese erst-
mals als ein Ausdruck von Emanzipationsbestrebungen gesellschaftlicher Klassen
interpretiert wird186 • Das Gleichheitsprinzip trete immer dann auf, wenn eine bisher
abhängige Klasse der Gesellschaft eine gleiche Bildungsftihigkeit entwickle und nach
Gleichheit in der Bildung strebe. Aus der Gkichheit in geistigen Gütern erwachse dann
der Anspruch auf Gleichheit in den materiellen Gutem und i,;ehließlieh d'ie Aner-
lcenn1,ng diese;r Gkichheit in StaatR- 11,nd GeRellschaftsrecht. Stein betrachtet· ah10 die
Gleichheitsidee als ein revolutionäres Prinzip, das die Auseinandersetzung zwischen
den Gesellschaftsklassen artikuliert, mspitzt und damit die Rntwickhmg weiter-
treibt. Dieser geschichtlichen Entwicklungslinie wird jedoch die Spitze abgebro-
chen, wenn er erklärt, daß jenes Gesetz für die Emanzipation der Arbeiterklasse
nicht gelte: Während frfiher di:e wirkliche persönliche Gl,eichheit durch den Besitz der
Güter der rechtlichen Ungl,eichheit gegenüberstand und eben dadurch die letztere zum
Unrecht inachte, entsteht hier durch die Unmöglichkeit des Erwerbs der Kapitalien für
die Arbeiter diese wirkliche Gleichheit nicht, und die Abhängigkeit der nicht besitzenden
Klasse von der besitzenden ist mithin eine natürliche, notwendige, unabwendbare. Die
soziale Reform bestehe nicht 1'.n de.r Ve.rwirklichwng dP.r Tde.P. dp,r GlP.1:chhP.Ü. Obwohl
bei Stein der Gleichheitsbegriff ali,; eine progrei,;i,;ive Idee dargei,;tellt wird - in die-
sem ideengeschichtlichen Ansatz liegt der Unterschied zum idcologickritischen von
Karl Marx-, für die eigene Situation wird diese Idee als untauglich und gefährlich
abgelehnt.
In den Äußerungen zum Gleichheitsproblem seit Mitte der sechziger Jahre herrscht
eine besondere polemische Schärfe. TREITSCHKE spricht vom Wahngebilde der
natürlichen Gl,eichheit der Menschen; in GRIMMS „Wörterbuch" sind die pejorativen
Komposita, wie 'Gleichheitsfanatismus', 'Gleichheitsfieber', 'Gleichheitswahn',

184 Vgl. die Belege bei HA.NS ROSENBERG, Die n~tionalpolitische Publizistik Deutschlands,

Bd. 1 (München 1935), 162. 177 ff.


186 Juuus FRÖBEL, Theorie der Politik, als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokrati-

scher Lehrmeinung, Bd. 2 (Wien 1864), 55. 73; Bd. 1 (1861), 26 ff. Vgl. Bd. 2, 65 ff.
186 Vgl.oben S.1039. Zum Folgenden LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung,

Bd. 1, 86. lll. 99.

1042
III. 8. Antiegalitarismus im deulllchen Bürgertum Gleichheit

'Gleichheitsbrei', 'Gleichheitsraserei' verstärkt für die Zeit nach 1850 belegt 187 •
In der theoretischen Argumentation treten kaum neue Gesichtspunkte auf, es
überwiegen die moralisch akzentuierten Beschwörungen der bestehenden Ver-
hältnisse und Werte. An erster Stelle steht dabei die Befürchtung, daß eine
mangelnde Unterscheidung der wahren Gleichheit von der falschen ... voll Gefahr
für die Freiheit und die Kultur sei 188 • Die soziale Gleichheit würde ein „allge-
meines Nivellieren" bedeuten und die „Herrschaft der Masse" zur Folge haben.
Demgegenüber beruft man sich auf eine „natürliche Aristokratie", die sich in dem
„Kampf ums Dasein" herausbilde, und kann sogar von einer „aristokratischen
Gleichheit" sprechen. Die Rezeption von darwinistischen Anschauungen spielt hier
eine wichtige Rolle 189 • Auf NIETZSCHES Schriften und ihren außerordentlichen Ein-
fluß auf das zeitgenössische Denken sei nur wiL eimm1 charakLeriHtiHchen Zitat hin-
gewiesen: Heute, wo in Europa das Herdentier allein zu Ehren kommt ... wo d?:e
Gleichheit der Rechte allzu leicht sich in d·ie Ungkiclilie·it der Uwrec/1te w1nw1111uleln
könnte . . . in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Bevorrechteten, des höheren 1J1en-
schen, der höheren Seele, der höheren Pfiicht, der höheren Verantwortlichkeit, der
Herrscha~lichkeit - heute gehört das Vornehmsein, das Anderssein-Können ... zum
Begriff Größe190 . Von dieser Grundhaltw1g her wurden bestimmte gesellschaftliche
Ungleichheiten, die von bürgerliohon Domokmton früher bereits kritisiert wurden,
jetzt ausdrücklich poi;iLiv festgehalten. Dazu gehören vor allem die Ungleichheiten
des Vermögens, des Bildungssystems und des aktiven Stimmrechts. Auch rassisti-
sche Aspekte konnten sich schon in die Argumentation einmischen: Die absolute
Gk·ichlu-:-it (/,llf!r 1:.~t e?:n u.na.rischer Gedanke, erklärt BLUNTSCHLI 1857, die Arier be-
kennen und beachten die Unterschiede 19 1 •
Obwohl der abstrakte Gleichheitsbegriff nach 1860 in der Arbeiterbewegung schon
nicht mehr als Schlagwort in Gebrauch war, wird er im bürgerlichen Schrifttum in
der Gestalt eines negativen sozialpolitischen und geschichtstheoretischen Gegen-
begriffs noch verbreitet als solcher verwendet. Die allgemeine Zeittendenz zur Ega-
lisierung der bürgerlichen Lebensbedingungen und die weiteren Forderungen nach

187 HEINRICH TREITSCHKE, Der Sozialismus und seine Gönner (Berlin 1875), 8; GRIMM

· Bd. 4/1, 4, 8136 f.


188 BLUNTSCHLI, Art. Rechtsgleichheit und Rechtsverschiedenheit, HLUNTSCHLI/ HRATER

Bd. 8 (1864), 503.


189 Vgl. GEORG LUDWIG MAURER, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, Bd. 4

(Erlangen 1871), 94; J!'RÖBEL, Theorie der Politik, Bd. 2, 78 f.; FRIEDRICH v. RAUMER,
Historisch-politische Briefe (Leipzig 1860), 7; TREITSCHKE, Sozialismus, 11 f. Zur sachli-
chen Parallelitiit im Gleichheitsdenken des englischen Biirgertnm~, vgl. S. LA'KOFF, Equa-
lity, 126 ff. (s. Anm. 8).
190 NIETZSCHE, JenseiLs von GuL uml Böse, Werke, Bd. 2 (Ausg. 1963), 678. Vgl. Bd. 3,

428. 472; Bd. 2, 358.


1 9 1 BLUNTSCHLI, Art. Arische Völker und arische Rechte, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. l (1857),

328; vgl. 331. In dem Pamphlet von WILHELM SPARK, Die Gleichheit aller Menschen vor
Gott und ihre Beziehungen zur Sozialdemokratie (Freiburg 1907) sind dann in Verlänge-
rung dieser Linie alle typischen Assoziationen beieinander: das „Gleichheitsdogma" sei
„ungermanisch", stamme von den Juden, führe zur Demokratie und werde von der Sozial-
demokratie propagiert, die von Juden beherrscht sei.

1043
Gleichheit IV. Ausblick

politischer und sozialer Gleichberechtigung wirkten im Bürgertum beunruhigend,


lösten ein bisher unbekanntes ängstliches Klassendenken aus und trugen zum Ab-
bruch der demokratischen Traditionen bei. Der Gleichheitsbegriff wurde jetzt
innerhalb des Bürgertums von Besitz und Bildung das, was er bis 1848 bei den
Konservativen gewesen war: ein negativer Abgrenzungsbegriff und ein pejoratives
Schlagwort.

IV. Ausblick

1) Um 1870 etwa ist ein Abschnitt in der Geschichte des Gleichheitsbegriffs erreicht:
Der abstrakte Begriff 'Gleichheit' tritt seit dieser Zeit in Deutschland kaum noch
in der Form eines positiven Schlagwortes in sozialpoliLischell Amieimuulersetzungen
auf. In der Zeit zwischen 1650 und 1850 hat er seine eigentliche Geschichte gehabt,
deren Kulminationspunkt in den Jahren um 1800 liegt. Der soziale 'l'räger ilieses
Begriffsgebrauchs war das Bürgertum in seinen verschiedenen Gruppen. Mit dessen
gesellschaftlichem und politischem Aufstieg ist die Geschichte der abstrakt-univer-
sellen Gleichheitsforderung aufs engste verknüpft. Sie ist der direkte ideologische
Ausdruck der Flm11.nzipa.Lion:;phase dieser Gesellschaftsschicht. Ohne die antike und
mittelalterliche Tradition des Begriffsgobmuoho 11lo Thooricbcgriff wie 11ls kon-
kreter RechLtsLegriIT- wäre diese Elltwicklung nicht möglich gewesen. Sie hebt sich
jedoch als ein geschlossener Entwicklungszusammenhang von ihr charakteristisch
ab: durch die neue rationale Grundlegung des Theoriebegriffs der Gleichheit in den
Naturrechtslehren des 17. und 18. Jahrhunderts, deren allgemeine Verbreitung,
sozialkritische Zuspitzung und verfassungspolitische Durchsetzung in der revolu-
tionären Phase um 1800; schließlich die Verteidigung dieses Emanzipationsgewinns
gegenüber der sich herausbildenden Arbeiterbewegung, in deren Verlauf der Be-
griff in seiner sozialen Bedingtheit erkannt, kritisiert und aufgegeben wurde. Der
Aufstieg und Niedergang des abstrakt-universellen Gleichheitsbegriffs als eines
sozialpolitischen Schlagworts in der Phase der bürgerlichen Emanzipation war da-
mit das eigentliche Thema dieser Untersuchung.
Für die Begriffsentwicklung in Deutschland war die VerfiechLung mit der frallzötsi-
schen Begriffsgeschichte ein zentraler Faktor: Beginnend mit den Theoretikern des
18. Jahrhunderts, über das Erlebnis der Großen Revolution und der Napoleonischen
Verwaltung bis hin zu den Frühsozialisten sind die wesentlichen Anstöße zur sozial-
politischen Verwendung des Begriffs von Frankreich ausgegangen. Darüber hinaus
war die Auseinandersetzung mit Frankreich, speziell mit dessen Revolution, ein
Element des deutschen Begriffsverständnisses selbst; aus ihr resultierte u. a. die
Ablehnung des auf eine Demokratie hinzielenden politischen Gleichheitsbegriffs im
deutschen Bürgertum.
Es war jedoch charakteristisch, daß das deutsche Bürgertum aufgrund seiner be-
sonderen sozialen und ökonomischen Bedingungen auch eine eigene positive
Tradition des Begriffsgebrauchs ausbildete. 'Gleichheit' war zwar in Deutschland
kein populärer Kampf- und IntegratioU:sbegriff, um so mehr aber ein zentraler
Begriff der sozialtheoretischen Argumentation. Aufgrund der religiösen und der
transzendentalphilosophischen Bildungstradition der deutschen Intelligenz ent-
wickelte sich eine vernunftrechtliche Begründung des Begriffs der Menschen-
gleichheit, die dazu :führte, daß 'Gleichheit' an erster Stelle als Inbegriff von Gerech-

1044
IV. Ausblick Gleichheit

tigkeit verstanden und bevorzugt auf sozialökonomische Probleme angewandt


wurde. Der Rückgang des abstrakten Gleichheitsbegriffs zur Zeit der Revolution
von 1848 war verbunden mit dem Aufkommen des konkreten Begriffs 'Gleichbe-
rechtigung', der in Deutschland eine bedeutend größere Popularität erreichte. „Von
der Gleichheit zur Gleichberechtigung" könnte der letzte Abschnitt der Begriffs-
entwicklung in Deutschland überschrieben werden. Die umfassende Ideologiekritik
des abstrakten Gleichheitsbegriffs war das besondere Verdienst von Hegel, Marx
und den deutschen Sozialisten.
2) Auch für die Entwicklung nach 1870 ist der Gebrauch der Gleichheitsterminologie
ein aufschlußreicher Indikator der sozialpolitischen Auseinandersetzungen. Hier
könnte u. a. gezeigt werden, wie der abstrakte Gleichheitsbegriff in der politischen
und sozialtheoretischen Diskussion der antidemokratischen bürgerlichen Gruppen
weiterhin - und in den Jahren der Weimarer Republik verstärkt- als pejorativer
Ahgrem:ungAhegriff gebraucht wurde; sowohl zur negativen Charakterisierung <leA
„Massenzeitalters" als auch zur Abgrenzung gegenüber der „westlichen Demokra-
tie". Auch das Theorem eines Gegensatzes von liberalistisch verstandenem Frei-
heits- und sozialistisch verstandenem Gleichheitsprinzip spielte hier - oft in An-
knüpfung an Tocqueville - eine besondere Rolle 192 •
In den sich verstärkt fortsetzenden Auseinandersetzungen um die Verwirklichung
von politischer und sozialer Gleichheit wurde in erster Linie der Begriff 'Gleichbe-
rechtigung' verwandt, z. B. im Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen.
Auch Begriffsbildungen wie 'Gleichstellung' oder 'Chancengleichheit' sind charak-
teristisch für <lie allgemeine Entwicklungsten<lenz unseres .Tahrhun<lerts mit seinen
organisierten sozialen Klassen- und Gruppeninteressen. Seit mit Art. 109 der
Weimarer Verfassung die „Gleichheit vor dem Gesetz" erstmals in ganz Deutsch-
land geltendes Recht wurde, schlagen sich diese Auseinandersetzungen speziell in
der juristischen Diskussion über die Auslegung des Gleichheitssatzes und die Be-
deutung des Rechtsstaatsprinzips nieder. Diese in den letzten Jahren neu belebte
Diskussion dokumentiert im Zusammenhang mit ähnlichen Tendenzen im gesell-
schaftlichen Bereich die ungebrochene Aktualität des sozialen Gleichheitspro-
blems193.
3) Das Verschwinden von 'GleichheiL' als absLraktem so~ialpoliiischem Schlagwort
ist also keinesfalls identisch mit dem Ende der geschichtlichen Rolle von sozialen
Gleichheitsvorstellungen. Es hat sich vielmehr gezeigt, daß Gleichheitsvorstellungen
zu allen Zeiten im Zusammenhang von emanzipatorischen Bestrebungen gesell-
schaftlicher Gruppen als gedankliches Modell für deren ideologische Legitimierung

192 Vgl. bes. WERNER HILL, Gleichheit und Artgleichheit (Berlin 1966), 205 ff.; RALF

DARRENDORF, Reflexionen über ~·reiheit und Gleichheit, in: ders„ Gesellschaft und ~'rei­
heit (München 1962), 363 ff.
193 Vgl. 11us jüngster Zeit bes. HEINRIOH SoHOLLER, Die Interpretation des Gleiohheits-

satzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit (Berlin 1969); NIKLAS LUH-
MANN, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, rechtspolitisch betrachtet (Berlin 1965);
PoDLECH, Gleichheitssatz (s. Anm. l). Zur Interpretation der Weimarer Verfassung und
des Bonner Grundgesetzes: GERHARD LEIBHOLZ, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl.
(München 1959); HILL, Gleichheit und Artgleichheit, 105 ff.; WERNER BöcKENFÖRDE,
DeI' allgemeine Gleichheitssatz und die Aufgabe des Richters (Bedin 1957); HESSE, Gleich-
heitsgrundsatz (1952).

1045
Gleichheit IV. Ausblick

auftraten und dabei vornohiodon begrifflich artikuliert wurden. Der Begriff 'Gleich-
berechtigung' steht nicht ·zufällig am Anfang der. Entwicklung ('Isonomie' im 5.
Jahrhundert v. Ohr.) und an deren Ende. Die spärlichen Überlieferungen über die
Vorstellungswelt und den Sprachgebrauch der unteren Volkss_chichten früherer
Zeiten lassen darauf schließen, daß auch hier seit dem Mittelalter Gleichheitsan-
schauungen und -begriffe als kompensatorische Idealvorstellungen, meist in religiö-
ser Form, eine bedeutende Rolle spielten194•
4) Der Zusammenhang Init der Idee der Gerechtigkeit ist ein dem Gleichheitsbegriff
seit seinem ersten Auftreten immanenter Sachbezug. In der Rechtspraxis einer Ge-
sellschaft konkretisierte und realisierte sich jeweils deren Gl~ichheitsvorstellung,
auch in ihrer begrifflichen Form. Mit der Herausbildung des allgemeinen Gesetzes-
begriffs und des Verfassungsgedankens im Verlaufe des 18. Jahrhunderts war in der
Verwirklichung von Rechtsgleichheit ein neuer Abschnitt erreicht. Der Begriff von
der Gleichheit aller Menschen ah1 autonome Glieder ihrer natürlichen Gattung war
der theoretische Hintergrund dieses bleibenden Gewinns der bürgerlichen Emanzi-
pationsbewegung. Seitdem ist der allgemeine verfassungsrechtliche Gleichheitssatz
ein nicht mehr fortzudenkendes Element unseres gesellschaftlichen Lebens und ein
bloibondcs Gebot öffentlich-rechtlichen Handelns. Seine Einlösung führt zu einer
zunehmenden sozialen Differenzierung in der rechtlichen Behandlung von Personen
und Gruppen195 •
Nimmt man die sozial-emanzipatorische und die rechtspolitische Funktion des
Gleichheitsbegriffs in ihrer geschichtlichen Entwicklung zusammen, dann läßt sich
unschwer ein geschichtlicher Trend zu immer umfassenderer &ozialer Gleichstellung
feststellen 196 • Die hier verfolgte Methode und die genügend belegte Erfahrung, daß
stets nur konkrete gesellschaftliche Auseinandersetzungen zur Realisierung von
sozialer Gleichberechtigung geführt haben, verbieten es jedoch, hier von der positi-
ven Teleologie eines Begriffs zu reden.
ÜTTO DANN

194 Vgl. ERic J. HoBSBAWM, Sozialrebellen (NeuwiAfl 1962), 36 ff. 240.


190 Vgl. zum Differenzierungsproblem PoDLECH, GleichhAitsRa.t'l., 53 ff. 103 ff.
196 Vgl. ähnlich KEMPSKI, Recht w1d Politik, 40; HESSE, Gleichheitsgrundsatz, 170 ff.;

PODLECH, Gleichheitssatz, 172 ff. 179 IT.

1046
Grundrechte
Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte

I. Einleitung. II. 1. Herrschaftsverträge und .Freiheitsgewährungen im dualistischen


Staatswesen. 2. Freiheitsrechte und Grundgesetze (leges fundamentales). 3. Naturrecht
und Absolutismus. 4. Die „Rechte" in den Aufklärungskodifikationen. 5. Die Virginia
Bill of Rights von 1776. 6. Die Declaration des droits de l'homme et du citoyen von
1789. 7; Die „Rechte" im deutschen Frühkonstitutionalismus. 8. Die „Grundrechte des
deutschen Volkes" von 1848. III. Ausblick.

I. Einleitung
Der Zentralbegriff des gegenwärtigen Vcl'formungodonkem1 findet erstmals 1848
Aufnahme in eine deutsche Verfassungsurkunde. Die Grundrechte des deutschen
Volkes wurden am 20. Dezember 1818 in der Paulskirche zu Frankfurt von der
Nationalversammlung beschlossen und am 28. Dezember desselben Jahres im
Reichsgesetzblatt bekanntgP.m1wht. Sie sollten am 17. Januar 1849 in ganz Deutsch-
land in Kraft treten. nifl nP.ne Bezeichnung, vorher nur sehr selten in literarischen
Äußerungen anzutreff1m unu keineswegs als Terminus fest eingehiil'gfll't, WfliRt
durchaus nicht auf eine ebenso neue Rechtsidee hin. Wurzeln der Gruntlrechte-
erklärung von 1848, die 1849 Aufnahme in Abschnitt 6 uer Frankfurter Heichs-
verfassung fanu, scheinen zurückzureichen über die Bürger- und Vulki;rnchLc-
kataloge dfll' frühen deutschen Territorialkonstitutionen, die französische Erklä-
rung der Mernichen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 und die amerikanischen
Freiheitserklärungen zu einigen der „Reichsgrundgesetze" des Heiligen Römischen
Reiches und den Herrschaftsverträgen des Spätmittelalters und des frühen 16. Jahr-
hundertM mit ihren „Freiheits"-Verbriefungen; von einigen 1 wird die Linie mit
guten Gründen bis zu den mittelalterlichen Städteprivilegien zurückgezogen. Die
Ideengeschichte wäre noch wesentlich weiter zurückzuverfolgen 2 , doch wird der
zeitliche und gegenständliche Rahmen dieser Untersuchung bestimmt durch ein
Wesensmerkmal, das auch die Frankfurter „Grundrechte" kennzeichnet: die Nie-
derlegung der Rechte in verfassungsrechtlicher Urkunde. Stets ermöglichte ja erst
die Aufzeichnung dieser Rechte ihre Umsetzung in die politische Wirklichkeit,
ohne sie freilich schon damit auch sicherzustellen.
Kaum eines der Frankfurter „Grimdreohte" von 1848 ist in seinem Gehalt wirklich
neu, wenn auch die Entwicklung, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Gegebenheiten entsprechend, jeweils unterschiedlich weit zurückreicht. Die Zusam-
menstellung des Frankfurter Grundrechtskatalogi; isL nur eine historische Moment-

i KONRAD BEYERLE im Weimarer Verfassungsausschuß, Berichte und Protokolle des 8.


Ausschusses der deutschen Nationalversammlung (Berlin 1920), 366; ROBERT v. KELLER,
Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter (Heidelberg 1933), bes. 261 ff.
2 GERHARn ÜESTREICH, Die Entwicklilng der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in:

DiA Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, hg. v. FRANZ L.
NEUMANN u. a., Bd. 1/1(Berlin1966), 1 IT., bes. 14 ff.; ERWINHÖLZLE, Die Idee einer alt-
germanischen Freiheit vm· Montesquieu (München, Berlin 1925).

1047
Grundrechte II. 1. Herrschaftsverträge und Freiheitsgewährungen

aufnahme. Andere, vor allem spätere Kataloge sind umfangreicher, frühere Kata-
loge teils beschränkter, teils anders gewichtend. Immerhin gestattet der klassische
Katalog von 1848 das Aufsuchen von Analogien in früheren Rechteverbriefungen,
die den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Grundrechtsbegriffes bieten
können.
Die Bezeichnung 'Grundrechte' in der Frankfurter Verfassung weist in zwei Rich-
tungen: Mit Grund rechten werden solche Positionen angesprochen, denen ein
besonderes Gewicht, eine fundamentale, das Übrige tragende Rolle zukommt. Mit
Grundrechten wird eine Mehrheit von Einzelpositionen gekennzeichnet, die nach
dem Verfassungswortlaut dem deutschen Volke und nach ihrer eigenen Ausgestal-
tung den einzelnen Angehörigen dieses Volkes zukommen soll. Es geht also um die
Zubilligung oder Anerkennung von Individualpositionen, und zwar durch den
Verfassungsgeber, die Gemeinschaft. Das Verhältnis von Individuum und Gemein-
schaft, Staat und Dürger ist daH Tl11m111, der Gmndrechte. Dieses Verhältnis ist
aber nicht umfassend angesprochen, sondern unter dem Aspekt des Individual-
schutzes, möglicherweise noch der Individualförderung.
'Grundrechte' setzen begrifflich oiA prinzipiell unbeschränkte Unterwerfung unter
die Gewalt der Gemeinschaft, die St1111fogown.lt, vomuB, gewinnen sogar möglid11H'-
weise ihre volle Iledeutung er:;!, da, wo der einzelne gegenüber einer durch den
Mehrheitswillen besonders legitimierten Staatsgewalt in seiner Individna.lpmiition
besonders geschwächt erscheint. So werden Grundrechte auch in einer demokrati-
schen Verfassung nicht durch die staatsbürgerlichen Mitwirkungsrechte absorbiert,
gewinnen dort vielmehr als Schranke für Mehrheitsentscheidungen die Funktion des
Minderheitenschutzes: Der Identifizierung des Mehrheitswillens mit dem Gesamt-
willen entspricht auf der anderen Seite die Gewährleistung eines Freiraumes für
jedermann, der durch die von ihm nicht gebilligte Mehrheitsentscheidung betroffen
werden kann.
Wie die Grundrechte gegenüber einer prinzipiell umfassenden Staatsgewalt einen
Bestand persönlicher Freiheit sichern sollen, so ist der den Grundrechtskatalog
tragende Gleichheitsgedanke Ausdruck des Umstandes, daß gegenüber einer um-
fassenden Staatsgewalt die Rechtspositionen der einzelnen prinzipiell gleich sein
müssen, wenn, wie die Grundrechte aussagen, diese Rechtsbeziehung zwischen dem
einzelnen und dem Staat eine unmittelbare ist.
Gleichheitsgedanke und unmittelbare individuelle Freiheitsgewährung gegenüber
einer umfassenden 8taatsgewalt prägen demgemäß den Begriff der Grundrechte
von 1848.

II.

1. Herrschaftsverträge und Freiheitsgewährungen im dualistischen Staatswesen

Für die Entwicklung des Gedankens der Menschen- und Grundrechte wird der
„Magna Charta" von 1215 besondere Bedeutung zugemessen. Diese Einschätzung
wird gerechtfertigt durch die kontinuierliche Fortentwicklung dieses sich selbst nur
als Bestätigung hergebrachter Rechte und Freiheiten verstehenden DoknmentR,
das nach zahlreichen früheren Bestätigungen durch die Petition of Right von 1627,
die Habeas-corpus-Akte von 1679 und die Bill of Rights von 1689, schließlich auch

1048
II. 1. Herrschaftsverträge und Freiheitsgewährungen Grundrechte

die Act of Settlement von 1701 bekräftigt und ergänzt wurde und mit geringen
Abstrichen geltendes englisches Verfassungsrecht geblieben ist. Ein Einfluß dieser
englischen Verfassungsgesetze auf die amerikanischen Rechteerklärungen und von
da her oder unmittelbar auf die festlandseuropäischen Menschenrechtserklärungen
und Grundrechtskataloge des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts liegt nahe. Für die Geschichte des Grundrechts-Begriffs mag die Magna
Charta oder Great Charta of the Liberties of Engl,and, wie die Petition of Right von
1627 sie bezeichnet (Art. 3), auch wegen der darin mehrfach angesprochenen
„Rights" und „Liberties", die wenigstens teilweise auf individuelle Positionen sich
zu beziehen scheinen, von Bedeutung sein.
Mit der Magna Charta von 1215 ist jedoch nur ein Typ von Freiheitsverbriefung
angesprochen, der für das ständisch-dualistische Staatswesen schlechthin charak-
teristisch wird und in Festland-Europa wohl etwas später als in England, jeden-
fa.llFI a.ber seit dem 14. Jahrhundert, in zunehmender Häufigkoit o,nzutreffen ist.
Unter diesen in der Literatur als 'Herrschaftsverträge' 3 bezeichneten Urkunden
sind hervorzuheben etwa die Goldene Bulle Andreas' II. von Ungarn 1222, die
Confirmatio fororum et libertatum Aragonie von 1283 und das aragonische Privi-
legio de la Union von 1287, die Joyeuse Entree von Brabant von 1356, die .Bayeri-
schen Freiheitsbriefe und LandesfreiheitiR11rklärime1m F111it 1311, der Brandenburgi-
sche Vergleich von 1472 und der Tübingcr Vertrag von 1514; in diesen Kreis
gehören aber auch die in den geistlichen und weltlichen Wahlfürstentümern üblich
werdenden Wahlkapitulationen, insbesondere die zwischen dem Kaiser und den
Kurfürsten, beginnend mit der Wahlkapitulation Karls V. von 1519. Nach der
Glaubensspaltung wird auch das Religionsproblem Gegenstand vertraglicher Rege-
lung zwischel! Herrscher und Ständen; wie im Augsburger Religionsfrieden von
1555 so findet auch in der englischen Bill of Rights von 1689 die Religionsfrage
ihren Niederschlag, wenn Schutz der Religion neben dem der „Rights" und
„Liberties" versprochen wird.
Die Herrschaftsverträge enthalten oft Zusagen des Herrschers auf der Ebene des
Gesamtstaatswesens, die auf einer anderen Ebene, nämlich in den mittelalterlichen
Städteprivilegien, meist schon viel früher anzutreffen sind. Handelt es sich dort
auch um Privilegien und damit begrifflich um Zusagen des Herrschers, die eine
Rechtsposition gegenüber anderen Gliedern des Gemeinwesens hervorheben, so
wenden sich diese Privilegien doch an einen bestimmten Person11nkr11iR, nämlich
die Bürger einer Stadt, in gleicher Weise; auch hier sind es „iura et libertates",
die diesen Gruppen und teilweise damit auch deren einz.elnen Mitgliedern zuge-
sprochen werden; einzelne dieser Rechte werden in den Städteprivilegien sogar
wesentlich stärker hervorgehoben als in den Herrschaftsverträgen auf Territorial-
ebene, vor allem die persönlichen Freiheitsrechte, die der Auflösung alt11r hofrecht-
lieher Bindungen galten, so die Freizügigkeit und der Satz „Stadtluft macht frei" 4 •
Diese Richtung gegen Zwischengewalten ist für die Städteprivilegien weithin kenn-
zeichnend, während die Regelung der unmittelbaren Beziehungen zur Zentral-

3 Vgl. vor allem WERNER NÄF, Herrschaftsverträge und Lehre vom Herrschaftsvertrag,

Schweizer Beitr. z. Allg. Gesch. 7 (1949), 26 ff.


4 Zu den Städte-Privilegien und ihrer Bedeutung für die Grundrechtsentwicklung: KEL-
LER, Freiheitsgarantien.

1049
Grundrechte Il. 1. Herrschaftsverträge und Freiheitsgewährungen

gewalt zwar nicht fehlt 6 , aber doch in den Hintergrund tritt 6 • Das sowie die Er-
fassung eines nur begrenzten Personenkreises hindert jedenfalls, die Städteprivile-
gien als typische Vorläufer der Grundrechteerklärungen anzusprechen, wenn auch
der materielle Inhalt der Grundrechte in den Städteprivilegien zahlreiche Ent-
sprechungen findet; in erster Linie ist hier an einen mittelbaren Einfluß zu denken,
da die Städteprivilegien auch in den Herrschaftsverträgen Niederschlag fanden 7 ;
daneben schufen aber auch gerade die Städteprivilegien die Grundlagen für die
Entstehung des dritten Standes, der sich in den bürgerlichen Revolutionen
durchsetzte 8 •
Herrschaftsverträge und Freiheitsverbriefungen erstrecken sich nun auf Einrich-
tungen unterschiedlicher Qualität und insbesondere auch auf solche Rechte
(„libertates" und „iura"), die ihre Fortsetzung jedenfalls nicht in den Grund-
rechten gefunden haben. Dies gilt zunächst für jene in fast allen Herrschaftsver-
Lrägeu auftauchenden Destimmungen, die die Vcrwcndung Einhcimim:ihcr im
Dienste des Landesherrn (Indigenat) und die Beschränkung der Untertanenpflich-
ten auf das Inland betreffen; eiri häufiger Anlaß zur erstmaligen Errichtung von
Herrschaftsverträgen, die Anerkennung eines landfremden Regenten, kommt in
diesen Bestimmungen zum Ausdruck, deutlich vor allem in der Joyeuse Entree
von Brabant von 1356 und in der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 (bes. Art. 7.
13-15. 30). Solche Beschränkungen der landesherrlichen Gewalt entsprangen nicht
individualrechtlichen Vorstellungen, sondern sollten der Verhütung von uner-
wünschten Konsequenzen des dynastischen Prinzips dienen; sie finden eine Ent-
sprechung etwa in den modernen Vorschriften über den Indigenat der Beamten,
nicht aber in grundrechtlichen Normen.
Ist die eine Gruppe von Herrschaftsverträgen durch die Anerkennuµg eines land-
fremden Rp,g1mten veranlaßt, so spiegelt sich in anderen die Auseinandersetzung
um die Steuer und das Schuldenwesen wider. Die Landesherren sehen sich zu-
nehmend vor Probleme gestellt, die sich nur durch den Rückgriff auf das bis dahin
außerordentliche Finanzierungsmittel der Steuer lösen lassen. So bildet die Zu-
sicherung des Landesherrn an die Landstände, hinfort „Landt-Behde" nur noch
im Kriegsfall oder als Heiratssteuer zu. verlangen, den wesentlichen Inhalt des
brandenburgischen Vergleichs von 1472, und auch der Tübinger Vertrag von 1514
beschäftigt sich eingehend mit der Bindung herzoglicher Ausgaben an die Zustim-
mung der Landschaft. Die Goldene Bulle Andreas' II. von Ungarn von 1222 be-
schränkt die Steuerpflicht der Servienten und ihrer Eigenkirchenleute (3), aber
auch die Magna Charta bindet Umlagen und Beihilfen mit wenigen Ausnahmen an

5 Vgl. etwa die Urkunde Heinrichs VII. für die Bürger von Frankfurt, Wetzlar, Friedberg
und Gelnhammn vum Hi. Januar 1232, abgedr. bei KARL ZEUMER, Quellensammlung zur
Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in MittelalLer und Neuzeit, Tl. 1 (Leipzig 1904),
46f.
6 Vgl. etwa das Privileg Friedrichs II. für Nürnberg vom S. November 1219, abgedr. bei
Z1mMER, Quellensammlung, Tl. 1, 3G f.
7 Vgl. schon die Fl·eiheitsgarantie für die Stadt London und andere Städte in Art. 13 der

Magna Charta.
8 KELLER, Freiheitsgarantien, 271.

1050
II. 1. Herrschaftsverträge und Freiheitsgewährungen Grundrechte

die Zustimmung eines commune consilium regni nostri 9 • Auch in die kaiserlichen
Wahlkapitulationen finden entsprechende Bestimmungen Aufnahme 10 •
Diese von den Ständen durchgesetzten Zusagen wurden stets als 'Rechte' oder
'Freiheiten' bezeichnet: Die Magna Charta zählt sie zu den Libertates (Art.1. 13),
die Petition of Right zu den Rights and Liberties of the Subjects, die Bill of Rights
zu den ancient rights and liberties (Art. 1), die ungarische Goldene Bulle (1222)
sieht sie als Bestandteile der libertas tam nobilium regni nostri quam ·etiam aliorum
(Vorwort) an, der Brandenburgische Vergleich von 1472 nennt sie Freyheit von der
Landt-Behde, und der Tübinger Vertrag (1514) faßt alle Zusicherungen unter die-
selben fryhait zusammen. Mit einer einzigen bemerkenswerten Ausnahme in Art. 15
der Magna Charta, der die Besteuerung freier Untertanen auch durch andere ein-
schränkt, handelt es sich bei diesen „Freiheiten" um korporative Zusicherungen
an die Ständeversammlungen, meist ergänzt durch Mitwirkungsbefugnisse bis hin
:.1u1· Einrichtung landständischer Steuerverwaltungen. Der Einzcluntortan iot 1mhon
deshalb darin nicht angesprochen, weil die Steuer von den Ständen bewilligt und
dann auf die Untertanen repartiert wurde. So setzt sfoh diese Gruppe von „Frei-
heiten" in den individuellen Verfassungsgrundrechten nicht fort, sondern ist allen-
falls in den parlamentarischen Mitwirkungs- und Kontrollrechten, insbesondere
dem Budgetrecht, im weiteren Sinne auch den parlamentarischen Rechten im
Gesetzgebungsverfahren wiederzuerkennen. Schon deshalb verbietet es sich, die
„Rechte und Freiheiten" des Ständestaats, die auch politisch-dualistische Mit-
wirkungsrechte der Stände umfassen, mit den 'Grundrechten' gleichzusetzen, die
solche korporativen Mitwirkungsrechte gerade nicht umfassen.
Bei den die Gestaltung der Rechtspflege betreffenden Freiheitsgarantien stände-
staatlicher Herrschaftsverträge ist zu differenzieren. Soweit - und dies ist eine
durchgehend anzutreffende Forderung - die „standesgemäße" Besetzung der
Gerichte zugesagt wird, kommt eine Beziehung zu den Justiz-Grundrechten des
egalitären Verfassungsstaates nicht in Betracht. Die Zusicherung des Art. 45 der
Magna Charta, nur gesetzeskundige Personen in der Rechtspflege einzusetzen,
ist schon deshalb aus den Verfassungen des 19. Jahrhunderts verschwunden, weil
auf Grund der Bemühungen des 18. J ahrhundcrts um Vcrbesscrung der Rechts-
pflege die Justizausbildung bereits fest etabliert und selbstverständlich war. Nahe
Beziehungen zu individuellen grundrechtlichen Bestimmungen zeigen sich aber bei
der häufigen Garantie eines ordnungsmäßigen GeriCJhtsverfahrimR alR VoranRRetr.ung
für peinliche Strafen, dem Grundsatz des gesetzlichen Richters und des rechtlichen
Gehörs und dem Habeas-corpus-Grundsatz. Schließlich erinnern an das .Petitions-
recht der modernen Verfassungen Art. 31 des Privilegio General von Aragon von
1283 und Art. I 5 der Bill of Rights von 1689, während das Freizügigkeitsrecht in
Art. 5 und 6 der Joyeuse Entree von Brabant von 1356 NiederRCJhla.g gefunden hat„
Das Auswanderungsrecht ist als „fryer zug" im Tübinger Vertrag von 1514 aus-
führlich geregelt und zeigt sich nach der Glaubensspaltung im Augsburger Reli-
gionsfrieden von 1555 in neuer Dimension.

9 Bekräftigt durch das „Statutum de tallagio non concedendo" Eduards I. (1297), durch

die Petition of Right (1627), Art. 1. 2 rmd die Bill of Rights 1, 5 (1689).
io Art. 12 der Kapitulation Karls V. (1519), ·in den späteren Kapitulationen stets wieder-
holt.

1051
Grundrechte II. 1. Herrschaftsverträge und Freiheitsgewährungen

Das Auftauchen grundrechtlicher Freiheitsvorstellungen in einigen der herrschafts-


vertraglich bekräftigten „Freiheiten und Rechte" des späteren Mittelalters hat
gelegentlich zu einer weitgehenden Identifizierung beider geführt. Sie verbietet
sich jedoch neben den schon genannten aus folgenden Gründen:
1) Die Herrschaftsverträge sind Strukturelemente eines dualistischen Staats-
wesens. Der Widerspruch zwischen wachsenden Aufgaben des Gemeinwesens, vor
allem auf dem Gebiete der Rechtspflege und der Strafverfolgung, aber auch im
wirtschaftlichen Bereich (Münzwesen) einerseits, dem Interesse d!;ls Landes oft zu-
widerlaufenden dynastischen Interessen des Herrschers andererseits, verlangte nach
einem Ausgleich zwischen den beiden Faktoren territorialer Machtentfaltung:
Landesherren und Landständen, der regelmäßig im Wege der Selbstbindung des
Regenten in Vertragsform zustande kam. Der Person des Herrschers trat das
„Land" in den Landständen korporativ gegenüber. Dementsprechend richteten
sich die Zusagen in den Herrschaftsverträgen auch korporativ an die Landstände,
so daß die mittelalterlichen „Freiheiten", anders als die Grundrechte, jedenfalls
regelmäßig nicht individualrechtlich angelegt sind. Eine unmittelbare Beziehung
zwischen Einzeluntertan und Landesherrn wird in den Herrschaftsverträgen weder
vorausgesetzt noch geschaffen 11 • Der in einigen Bereichen sich ergebende Indivi-
dualschutz erweist sich oft nur als Reflex der den Landständen erteilten Zusage;
so etwa auf dem Gebiete der Steuererhebung 12 •
2) Nicht zu verkennen ist dabei, daß auch individualrechtliche Normen früh er-
scheinen. Hierher gehören jene „Freiheiten", durch die ihrer Art nach nur Indivi-
duen begünstigt sein können, wie das Recht auf Freizügigkeit, der „freie Zug",
oder die Unverletzlichkeit der Person. Zusagepartner sind aber auch insoweit
jeweils die Landstände. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts bringt man diese Zusagen
dann mit dem Souveränitätsgedanken in Einklang, indem man ihnen Bindung
„ex pacto" zumißt13 . Inwieweit bei diesem „pactum" die Einzeluntertanen, durch
die Landstände vertreten, repräsentiert erscheinen, ist eine nur im Einzelfall und

11 Dem entspricht es, wenn CALVIN, lnstitutio christianae religionis 4, 20, 30 den popu-

lares magistratus das Widerstandsrecht zubilligt, wie auch die Monarchomachen ein aktives
Widerstandsrecht der einzelnen im allgemeinen ablehnen und sich am positiv-rechtlich ge-
sicherten ständischen Widerstandsrecht orientieren; dazu KuRT WoLZENDORFF, Staats-
recht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige
Ausübung der Staatsgewalt (Breslau 1916), 75 ff. 95 ff. Bei ALTHUSIUS ist den „Ephoren"
das WiderstandSrecht übertragen, Politica methodice digesta 19, 69; 38, 29 ff„ 3. Aufl.
(Herborn 1614), 361 f. 894.
12 Eine Individualbegünstigung der Untertanen bietet freilich Art. 11 des Augsburger

Religionsfriedens mit dem Auswanderungsrecht; auch dieses erweist sich jedoch letztlich
als Ventil gegenüber dem in diesem Instrument in erster Linie garantierten Religionsbe-
stimmungsrecht der Territorialherren: cuius regio, eius religio.
13 ANTON CoLER, De iure imperii Germanici ... sectiones inaugurales (Frankfurt 1615),

32, 5; DANIEL ÜTTO, De iure publico imperii Romani (Jena 1616), 148 f. 193; ders„ De
maiestate imperii et imperatoris (Straßburg 1623), 23; MATTHIAS BoRTIUS, De legationibus
et legatis, in: Discursus academici, hg. v. DoMINicus ARUMAEUS, 1 (Jena 1616), 336;
FRIEDRICH HoRTLEDER, Decades quatuor excerptarum ex Sleidano, in: ARUMAEUS, Dis-
cursus academici 1, 740; ANTON BuLLAEUS, Disputationes et orationes juridico-politicae
(Gießen 1618), 347; CHRISTOPH ScHAPER, De imperatore (Jena 1619); Th. 54. 55.

1052
D. 1. Herrschaftsverträge und Freiheitsgewährungen Grundrechte

deswegen schwer zu entscheidende Frage, weil die Stände ihre Repräsentations-


funktion politisch auch zur Beseitigung oder Verhinderung einer unmittelbaren
Beziehung Landesherr - Untertan einsetzen konnten14 • Die Entwicklung verlief
unterschiedlich: Während in England der Repräsentationsgedanke sich durch-
setzte, stand im Reich am Ende die. „ständische Libertät" als Grundlage des
landesherrlichen Absolutismus. Sieht man aber einmal von der Frage der Reprä-
sentation ab, so bleibt festzuhalten, daß die Zeit die individualrechtlichen Zusagen
der Herrschaftsverträge selbst nicht als eine eigene Spezies gegenüber den korpo-
rativ gewährten Rechten erkannt und auch keinen eigenen Begriff entwickelt hat;
beide erscheinen undifferenziert unter der Sammelbezeichnung 'Rechte', 'Frei-
heiten', 'Libertät' 15 • Es fehlt also ein dem 'Grundrecht' entsprechender Begriff.
3) Korporative und individuelle Freiheiten beschränken den Landesherrn in der
Ausübung seiner hoheitlichen Rechte - nicht den Staat. Die Einbeziehung des
einzelnen in den Verband der Landschaft und damit seine Zuordnung zu einer Jer
dualistisch einander gegenübertretenden Gewalten im Ständestaat beschränkte die
Funktion der Freiheitsrechte auf das Verhältnis zum Landesherrn. Hierin liegt
eine der Wurzeln des englischen Grundrechtsverständnisses. Als Beschränkungen
der Befugnisse der Krone werden sie nicht auch als Schranke für den parlamenta-
risr,hr,n GflRflt7.gflhflr angr,sr,hr,n 16 . Rinr, Korrr,ktm r,re;iht Rir-h allr,rfline;R IWR nr,m
Selbstverständnis des Parlaments, das historisch als Hüter auch der individuellen
Freiheitsrechte erscheint. Das kontinentaleuropäische und das amerikanische
Grunureehfa;verstän<l.ni;; setzt hingegen ein Gegenüber von Staat und Individuum
voraus, wie es spiitmittclaltcrlich-11tänflc11tfl.atlichcm Denken nicht cnt,11pricht.
4) Drei Freiheitsbegriffe werden in den Herrschaftsverträgen verwandt. Neben den
Freiheiten im Sinne von Einzelrechten (iura et libertates) erscheint der Begriff
'libertas' als Inbegriff aller dieser lfänzelfreiheiten in der ungarischen Goldenen Bulle
von 1222 als libertas tam nobilium regni nostri quam etiam aliorum und, sehr viel
später, als 'Libertät' der Stände Jes Heiligen Römisehen Reiehe;;. Daneben er-
scheint 'Freiheit' als ständische Qualität etwa in der Magna Charta, die von
omnibus liberis hominibus regnis nostri (Art. 1), liberis hominibus suis (Art. 15),
einem liber homo (Art. 20. 39) spricht. 'Freiheiten' stellen sich als relative, auf be-
stimmte Hoheitsbetätigungen bezogene Reservate dar, sind nicht Ausdruck eines
allgemeinen Prinzips menschlicher Freiheit, wie es den Rechteerklärungen seit der
Virginia Bill von 1776 zugrunde liegt. 'Freiheit', als Inbegriff von Freiheiten
'Libertät', bezeichnet eine komplex verdichtete Vorzugsstellung eines oder meh-
rerer Stände. 'Freiheit' als ständische Qualität erweist sich als Mindestvorausset-
zung der in den Herrschaftsverträgen gewährten oder garantierten Freiheiten,

14 Ein Beispiel aus dem Verhältnis Kurfürsten - sonstige Stände bei der Königswahl bei
GERD KLEINHEYER, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen (Karlsruhe 1!:168), !J:J f.
15 Der Begriff 'Freiheit' eignet sich andererseits zur Bezeichnung von landesherrlich ge-

währten Rechten und Schutzpositionen jeder, nicht nur verfassungsrechtlicher Art, wie
etwa die bei kaiserlichen Druckprivilegien anzutreffende „Freyheit nicht nachzudrucken",
häufig abgekürzt als „Kaiserliche Freiheit und Privileg" bezeichnet.
16 GEORG JELLINEK, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 4. Aufl. (München

1927), 35, jetzt in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, hg. v. RoMAN
SCHNUR (Darmstadt 1964).

1053
Gnmdreehte II. 2. Freiheitsrechte und Grundgesetze

deren Erstreckung auf Unfreie damit ausgeschlossen wird 17 • Solche Differenzierung


zeigt zugleich die Ferne zum naturrechtlichen Gleichheitsgrundsatz, wie er die
konstitutionellen Rechteerklärungen beherrscht.
Trotz dieser Einwände gegen eine schlichte Herleitung der Grundrechte aus den
mittelalterlichen Freiheiten müssen jedoch einige der Elemente mittelalterlicher
Rechteerklärungen hervorgehoben werden, die aus der Entwicklung des Grund-
rechtsbegriffes nicht fortzudenJrnn sind.
1) Diese Erklärungen bedeuten die prinzipielle Beschränkbarkeit hoheitlicher
Machtausübung auch zugunsten einzelner. Mag dieser Gedanke auch wesentlich
älter sein, ohne seinen Niederschlag in den Freiheitserklärungen wäre er für die
Souveränitätslehren des 17. Jahrhunderts nicht ein letztlich unbewältigtes Pro-
blem geblieben.
2) Unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsgarantie werden in den Herrschaftsver-
trägen zw11r nioht 11lle', 11bor doch mohroro Gruppen von Untcrt11ncn llU~~mmenge­
faßt. Die Qualität, Träger von - wenn auch unterschiedlichen - Freiheitsrechten
sein zu können, kam damit dieE1en Untertanengruppen in gleicher Weise zu: ein
Schritt hin zur „Gleichheit vor dem Gesetz". ·
ö) Die neuentwickelte Uarantieform in Gestalt der .l.!'reiheitsverbriefungen heht
Rich, wenn auch wohl daran anknüpfend, ab von den im Mittelalter auch zur Ver-
fassungsfortbildung eingesetzten Privilegienverleihungen18 . Noch wird zwar die
subjektiv-rechtliche mittelalterliche Vcrfassungsstruktur nicht durchbrochen, aber
die Freiheitsgewährung an das korporative Verfassungssubjekt der „Landschaft"
bedeutet doch einen Schritt hin zu objektivem Verfassungsrecl1t. Gltiicl1förmige
Rechteverleihung schafft Rechtsgrundsätze: objektives Recht.

2. Freiheitsrechte und Grundgesetze (leges fundamentales)

Das Verständnis der Grundrechte als unmittelbarer herrschaftsbeschränkender


Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, dem Staat, fmt,zt
nicht nur die Entwicklung einer verallgemeinerten Individualebene, sondern auf
der anderen Seite die eines einheitlichen, nicht mehr dualistischen und damit das
Individuum nicht mehr mediatisierenden Gemeinwesens voraus. Auf diesem Wege
von der den Herrschaftsverträgen zugrunde liegenden Horizontalbeziehung Landes-
herr - Landstände zur Vertikalbeziehung Staat - UnLerLan (Bürger) uezeichnet
die Entwicklung des Begriffes 'Grundgesetz' eine wichtige Epoche. Diese Bezeich-
nung, nur in ihrem Bestandteil 'Grund' eine Beziehung zu den 'Grundrechten'
andeutend, während der zweite Wortbestandteil 'Gesetz' eher einen Gegensatz,
jedenfalls keine Beziehung zu den den Individuen zukommenden Grundrechten
bezeichnet, wird ausgangs des 16. Jahrhunderts ein Begl'i1I, für den gerade die
HerrschaftE1vertrii.ge als Paradigmata in der Staatsrechtsliteratur angeführt wer-

17 Die Sonderregelung des Auswanderungsrechtes für Leibeigene in Art. l l deR A11gRh11rger

Religionsfriedens bietet einen mit der in diesem Instrument im übrigen respektierten Ge-
wissensfreiheit schwer vereinbarenden weiteren Beleg für dieses ständisch-differenzierende
Denken im ßereich der. Freiheitsrechte.
18 HERMANN KRAUSE, Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und sali-

schen Herrscher, Zs. f. Rechtsgesch., germanist. Abt. 82 (1965), 1 ff„ bes. 65 ff.

1054
II. 2. Freiheitsrechte und Grundgesetze Grundrechte

den1 9 , Neben der allgemeinen Bedeutung von Gesetzen, welche entweder von dem
gesamten Volke oder doch von denen vornehmsten Ständen desselben zu besserm Auf-
nehmen des gemeinen Wesens mit dessen Fürsten und Regenten verabredet und er-
richtet werden 20 , werden mit 'Reichsgrundgesetzen' gewisse zwischen dem Kaiser und
den Ständen getroffene Konventionen und Vergleiche, wodurch der Staat des Römischen
Reichs ganz oder zum Teil formiert und erhalten wird 21 , bezeichnet. Allgemein also
ist die Form des Zustandekommens, auf Reichsebene auch der Charakter als Ver-
fassungsgesetz, wesentlich für die Grundgesetze. Nicht gehört es jedoch zu deren
Wesen, daß sie „Freiheiten" garantierten. Die Freiheitserklärungen wurden nun
zwar den „Grundgesetzen" zugerechnet 22 , aber nicht wegen ihres freiheitsver-
briefenden, sondern allenfalls wegen ihres verfassungsrechtlichen Charakters oder
ihres Zustandekommens. Es ergibt sich hier also kein begrifflicher Zusammenhang
zwischen 'Freiheiten' und 'Grundgesetzen', der zu 'Grundrechten' hin verlängert
w1m'IAn könnt.11.
Eine Beziehung ergibt sich jedoch in anderer Hinsicht. Die Verwendung des Be-
griffes 'Grundgesetz', zunächst nur in der lateinischen .lform '!ex fundamentalis'~ 3 ,
seit 1645 auch deutsch 24 , fällt zeitlich und literarisch zusammen mit der deutliche-
ren rechtlichen Erfassung staatlicher Gewalt, wie sie in der zweiten Hii.lfte de1:1 16.
Jahrhunderts vor sich geht. Sie ist in einem Zusammenhang zu sehen mit der .b:nt-
wicklung anderer staatsrechtlicher Begriffe wie 'Souveränität' oder 'Majestas'. Die
Unterstellung vor allem der Herrschaftsverträge unter die Sammelbezeichnung 'leges
fundamentales' verrät ein die Partner des Vertrages selbst übergreifendes Denken.
Grundgesetze sind nur da denkbar, wo sie etwas auf ihnen aufbauendes Gemein-
sames tragen. Noch erscheinen zwar die Partner des Vertrages als wesentliche poli-
tische Faktoren, aber was sich auf dem von ihnen gelegten Fundament, der lex
fundamentalis, erhebt, greift über sie als Handelnde hinaus, wird zu einem recht-
lich Gemeinsamen und damit nicht mehr dualistisch Strukturierten. So verrät die
Bezeichnung 'lex fundamentalis' die Ansätze eines Verfassungsdenkens, das es
gestattet hätte, den einzelnen in ein dialektisches Verhältnis zum Gemeinwesen,
zum Staat, zu setzen.

19 CHRISTOPH BESOLD, De majestate in genere (Straßburg 1625) c. 7, n. VIII. IX, 65 ff.

verweist auf den Tübinger Vertrag; 'Leges fundamentales' weiter bei JOHANNES ALTHU·
SIUS, rolitica, 1. Aufl.. (Herborn 1603), §§ 29 ff.; ÜTTO, De iure publico, 193. 457; ARu-
MAEUS, An alius quam Germanus "in regem Romanorum eligi possit ?, in: ders., Discursus
academici 1, 64 f.; MATTHIAS BoRTIUS, De natura jurium majestatis et regalium, in:
ARUMAEUS, Discursus academici 1, 853 ff. 1007 f.; ScHAPER, De imperatore, Th. 54. 56;
GEORG BRAUDL.ACHT, Epitome jurisprudentiae publicae universae (Erfurt 1622), 5; REIN·
HARn KöNTNGS, DA ma.jARta.fai et juribus irnperatori specialiter reservatis, in: ARUMAF.TTR,
Discursus academici II (Jena 1620), 555 spricht von 'leges status'.
20 ZEDLER Bd. 31 (1742), 83, Art. Reichsgrundgesetze.
21 Ebd.; CHRISTIAN Go'l'TLIEB Rrncrns, Repertorium locupletissimum in Johannis ]'ri-

derici Pfeffingeri corpus juris publici (Gotha 1741): pacta specialia, quibu.s summus impe-
rans ad certam regiminis formam et modum adstringitur ..
2 2 Vgl. den Hinweis bei BESOLD (s. Anm. 10) auf den Tübingor Vertrag.
23 Vgl. Anm. 19. .
24 Jon. GOTTFRIED v. MEIERN, Acta pacis Westphalicae, Bd. 1 (Hannover 1734), 625;

GRIMM ßd. 4/1,6 (1!)35), 817.

1055
Grundrechte II. 2. Frelheltsrechte und Grundgesetze

In der Publizistik des 17. Jahrhunderts wurden allerdings die leges fundamentales
regelmäßig im .Rahmen der Aµseinandersetzung mit dem Bodirischen Souveräni-
tätsbegriff behandelt; es ging dabei um eine Begründung der unbezweifelten Bin-
dung an die Reichsgrundgesetze, die es gestattete, den Kaiser gleichwohl als
„princeps legibus solutus" anzusprechen, dem die „Majestas" zukomme. Der hier
entwickelte Gedanke, daß der Fürst zwar „legibus solutus", an die Grundgesetze
jedoch gleichwohl „ex pacto" gebunden sei, sollte seinen Niederschlag noch in dem
Ringen der konstitutionellen Bewegung des 19. Jahrhunderts um „paktierte" und
in der negativen Bewertung von „oktroyierten" Verfassungen finden.
Zur Entwicklung des eine unmittelbare Beziehung von Staat und einzelnem voraus-
setzenden Grundrechtsverständnisses konnte freilich eine Staatslehre, die auf Legi-
timation der Abhängigkeit des obersten Repräsentanten von Zwischengewalten
zielte, wenig beitragen. Den Weg frei gab vielmehr jene in ganzer Konsequenz
zuerst von JEAN IlonIN 2 1> entwickelte Idee des 1muveränen, d. h. in seiner Gewalt
von keinerlei äußeren oder inneren Mächten abhängigen, Zwischengewalten daher
auch nicht mehr anerkennenden Staates. Der Monarch, Träger aller Hoheitsgewalt,
als deren vornehmster Bestandteil das Gesetzgebungsrecht erscheint, ist selbst
,,legibus solutus" und darin von allen Untertanen unterschieden. Deren aller Bin-
dung an das fürstliche Gesetz beilimtet, ilie :;mm K11rnb1m1id1 auch der späteren
Grundrechte gehörende prinzipielle „Gleichheit vor dem Gesetz". Gegenüber der
Staatsgewalt, im Monarchen vereint, ist für Grundrechte der Untertanen gleich-
wohl kein Raum. Wohl kennt Bodin, hierin der Tradition verbunden, die Bindung
des Fürsten an göttliches und natürliches Recht und die Beschränkung obrigkeit-
licher Gewalt durch Eigentum der Untertanen und natürliche Freiheit26 , aber die
Entsr,h11iilnng iiber Recht oder Unrecht steht allein dem Souverän zu - ein Wider-
standsrecht ist ausgeschlossen 2 7.
Und doch sind die Wesenszüge des modernen Grundrechtsverständnisses durch die
neue Staatstheorie geprägt:
1) Gegenüber einer allgemeinen, alle Zweige staatlicher Betätigung umfassenden
Staatsgewalt konnten nur allgemeine, alle Zweige staatlicher Tätigkeit bindende
Grundrechte entwickelt werden.
2) Seit gegenüber dem Souverän als dem alleinigen, alle genuinen Zwischengewal-
ten ausschließenden Träger der Staatsgewalt nur der einzelne „Untertan" 28 als
rechtlicher Faktor in Betracht kam, konnten solche Grundrechte nur sämtlichen
Untertanen gerade in dieser Eigenschaft allgemein zugeschrieben werden'.
3) Gegenüber dem Absolutheitsanspruch, der sich mit dem Begriff der Souveränität
verband, stellte sich die Frage nach der Rechtfertigung und, da äußere Grenzen
verneint wurden, der inneren Begrenzung der Staatsgewalt.

25 JEAN BODIN, Les six livres de la republique (Paris 1576).


20 Ebd. 1,8. 2,3 (Ausg. Paris 1583; Ndr. Aalen Hl61), 12\l. 27\l: car elle n'a autre cond„itfon
que la loy de Dieu et de nature ne commande ••. : le monarque RqJal est celuy, qui se rend aussi
obeissant aux loix de nature, comme il desire les subiects estre envers luy, laissant la liberte
naturelle et la propriete des biens a chacun.
27 Ebd. 2, 5, S. 300 ff., bes. 307. Zum Souveränitätsbegriff Ilodins jetzt ausführlich HEL-
MUT QuARITsorr, Staat und Souveränität, Bd. 1 (Frankfurt 1970), 243 ff.
28 Zur Entwicklung des Untertanenbegriffs vgl. QuARITSCH, Staat und Souveränität,

Hd. 1, 202 ff.

1056
Il. 3. Naturrecht und Absolutismus Grundrechte

Noch trat diese Frage jedoch nicht in aller Schärfe hervor, und sie ist von Bodin
auch nicht gestellt worden. Bodins Lehre von der Herrschersouveränität stand in
deutlichem Widerspruch zum positiven Verfassungsrecht der meisten Staaten des
damaligen Europa. Auch für Frankreich war diese Lehre als politisches Kampf-
mittel für die Erhaltung der staatlichen Einheit in den Auseinandersetzungen des
Königtums mit den Ständen und den Konfessionsparteien konzipiert.
Während im Reich -die Lehre Bodins eine Modifikation in der Lehre von der dop-
pelten Majestas fand, leistete sie der Entwicklung des landesherrlichen Absolutis-
mus in den Territorien Vorschub. Sie stand zwar im Widerspruch zum positiven
Verfassungsrecht der meist ständisch organisierten Territorien, jedoch weithin im
Einklang mit den politischen Ergebnissen der Glaubenskriege; das Religionsbe-
stimmungsrecht der Landesherren nach dem Augsburger Religionsfrieden, landes-
herrliches Kirchenregiment in den lutherischen, Gegenreformation mit Entmachtung
rlcr oft zum nouon Glo.ubon üborgotretenen Landstände in den katholischen Terri-
torien waren der Entwicklung des Absolutismus gleichermaßen förderlich. Schon
setr.te aber auch mit der Forderung nach Gewissensfreiheit der Versuch einer Be-
stimmung der Grenzen staatlicher Gewalt aus der Natur des Menschen ein, der zu-
nächst zwar nur im Ausweichbehelf des religiösen Auswanderungsrechtes des Augs-
burger Religionsfriedens zur Anerkennung gelangte, sich aber für die Zukunft als
tragfähig erweisen sollte. Andererseits ließ die Anerkennung des Religionsbestim-
mungsrechts durch den Augsburger Religionsfrieden und die anerkannte Existenz
mehrerer Konfessionen im Reich den Anspruch auf Gewissensfreiheit nicht zu sol-
cher politischen Durchschlagskraft gelangen wie in Westeuropa, insbesondere Eng·
land; er war daher auch nicht geeignet, in Deutschland zur Keimzelle individueller
Freiheitsrechte zu werden.

3. Naturrechi und Absolutismus

Für das neue Staatsdenken wird die Frage nach dem Zweck des Staates zum Ansatz-
punkt, die positivrechtlich garantierte Stellung der Zwischengewalten (unter dem
Gesichtspunkt der Staatsräson) zur Diskussion zu stellen. Die Frage nach dem
Zweck des Staates aber enthielt immer auch die Frage nach der Stellung des einzel-
nen zum Staate; eine Frage allerdings, die darauf abzielte, gerade die Beschränkung
der natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen (libortas und aequalitas) zu
bestimmen, wie sie sich durch deren Eintritt in den Staat als Bürger zufolge des
Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages und des dadurch festgesetzten Staats-
zwecks ergab. So blieben zwar ~'reiheit und Gleichheit als Prinzip gewahrt, doch
geriet der durch sie geprägte Naturzustand in einen Gegensatz zum Staat, der der
Anerkennung innerstaatlich wirkender Freiheitsrechte meist nicht günstig war.
Das kommt besonders deutlich zum Ausdruck bei THOMAS HoBBES. 'Jus naturale'
wird definiert als libertas, quam. habet unusquisque potentia sua ad naturae suae con-
servationem suo arbitrio utendi et per consequens illa omnia, quae eo videbuntur ten-
dere, faciendi. 'Jus' aber wird 'lex' gegenübergestellt: Uonsistit enim jus in faciendi
vel non faciendi libertate; sed lex ad faciendum obligat vel ad non faciendum. Itaque jus
et lex differunt ut libertas et obligatio 29 • Ausgehend vom Prinzip der gleichen Frei-

29 HoBBES, Leviathan 1, 14. Opera, t. 3 (1841; Ndr. 1966), 102.

67-90386/l 1057
Grundrechte II. 3. Naturrecht und Absolutismus

heit aller im Naturzustand - per naturam homines libertatem aequalem omnes ha-
bent - und von dem Grundsatz, daß dem Bürger beim Abschluß des Gesellschafts-
vertrages die Freiheit insoweit verbleiben müsse, als er seine Rechte· nicht durch
Vertrag übertragen könne - libertatem civi manere circa res illas omnes, quarum
jus per pactum transferr"i vel abjici non potest - , läßt Hob bes die Freiheit des Bür-
gers im Staat vom Staatszweck der Sicherheit ( securitas) bestimmt sein. Wo dieser
Zweck andernfalls gefährdet würde, hat die natürliche Freiheit zurückzutreten:
Quando ergo. negatio oboedientiae finem institutionis civitatis frustaneum facit, libertas
recusandi nulla est; alioqui libertate sua naturali uti potest. Die Freiheit der Bürger
hängt ab vom Schweigen der Gesetze: Reliqua civium libertas dependet a legum silen-
tio. Die Freiheit des Bürgers steht also grundsätzlich zur Disposition des staatlichen
Gesetzgebers, der eine Schranke nur im Verbot des Befehls zum Selbstmord findet
(libertas recusandi) 30 • Diese libertas ist kein Inbegriff von Freiheitsrechten, sondern
Gic bc!lcichnct die Vcrhö,ltniooc dco Mcnochcn und ocinc Stellung gegenüber anderen
Menschen im Naturzustand - ein Recht gegenüber dem Staat ist sie nicht, sie
folgt gerade aus dem Fehlen des Staates. Rin Vertrag, desRen nat.urrecht.liche Ver-
bindlichkeit Hobbes an sich bejaht, bindet den Herrscher nicht: der einzelne hat
nur mit andern einzelnen durch Vertrag den „populus" begründet, der sich alR
Rechtsperson aber in dem Augenblick wieder auflöst, in dem er den Herrscher ein-
setzt31. Auch auf das staatliche Gesetz selbst kann der Bürger sich gegenüber der
„summa potestas" nicht berufen; denn er gilt selbst als Autor der Handlungen des
Herrschers, der damit ihm gegenüber immer auf die gesellschaftsvertragliche Zu-
stimmung verweisen kann; because eve·ry subject is by this institut·ion author of all tlie
actions and judgments of the sovereign instituted; it follows, that whatsoever he doth, it
can be no injury to any of his subjects 32 • Weder Naturrecht noch positives Recht ver-
mag also den Herrscher bindende Kraft zu entfalten - aber immerhin erwähnt
schon Hobbes die „unveräußerlichen" Rechte, wenngleich diese noch kaum kon-
krete Gestalt gewinnen.
Für SPINOZA33 scheiden Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat aus, da er sich
durc;:h den Eintritt in die Gesellschaft seiner ganzen Macht begeben und sie auf die
Gesamtheit übertragen hat; diese hat daher die höchste Regierungsgewalt inne, ist
an kein Gesetz gebunden, kann unbedingte Befolgung aller Befehle, auch der wider-
sinnigen, verlangen und daher kein Unrecht gegenüber dem Bürger tun 34 . Doch
hat niemand von dem Rec.ht, zu denken und zu urteilen, Abstand nehmen können,
wenn er Mensch bleiben wollte. Das ist freilich keine normative Schranke staatlicher
Macht, sondern eine tatsächliche, da es niemals eine höchste Gewalt gibt, die aus-
führen kann, was sie will. Das Recht, ihre Meinung auch zu äußern und zu lehren,
ist den Bürgern zwar nicht ebenso verblieben, doch wird dem Staat empfohlen, es
ihnen, mit Ausnahme aufrührerischer Ansichten, zu gewähren; die Gedanken- und
Meinungsfreiheit der Bürger erscheint geradezu als Voraussetzm,ig eines mensch-

ao Ebd. 1, 21, S. 164 ff.


31 Ders„ De cive 7, 12.
32 Ders„ Leviathan 2, 18. EW vol. 3 (1839; Ndr. 1966), 163.
33 SPINOZA, Tractatus theologico-politicus 16 (Hamburg 1670). Dazu HERMANN S·rEFFEN,

Recht und Staat im System Spinozas (Bonn 1968).


3 4 SPINOZA, Tractatus 16.

1058
II. 3. Naturrecht und Absolutismus Grundrechte

liehen Staates: non, inquam, finis Reipublicae est homines ex rationalibus bestias vel
automata facere, sed contra ut eorum mens et corpus tuto suis functionibus fungatur,
et ipsi libera ratione utantur, et ne odio, ira vel dolo certent, nec animo iniquo invicem
ferantur. Finis ergo Reipublicae revera libertas est 35 • 'Libertas' gewinnt hier den Sinn
von Entfaltungsfreiheit, deren Gewährung zwar nicht Rechtserfordernis, aber
zweckmäßig ist.
PUFENDORF 36 bejaht die Bindung des Herrschers einerseits an leges fundamentales,
der politischen Wirklichkeit im Reiche entsprechend37 , andererseits sieht er den
Herrscher gebunden an den Zweck des Staatswohls und an das Naturrecht 3 8,
Anders als bei Hobbes ist dadurch auch das Verhältnis gegenüber dem Bürger ge-
prägt; denn dieser ist und bleibt Partner des Gesellschaftsvertrages und kann daher
in Reinem j11,.~ 1ml pec11,liari ex pacto, 11el ex communi humanitatis lege quaesitum ver-
letzt werdena11• Das Unrecht gegenüber dem Bürger wird dann allerdings nicht von
dessen Recht, sondern von den Pflichten des Herrschers her ~esehen, die dieser als
Fürst oder als Mensch hat40 ; dabei werden Pflichten gegenüber der Gesamtheit und
solche gegenüber den einzelnen Bürgern untimmhieueu; jener schulueL er u. a.
Bewahrung der leges fundamentales ... nulla urgente necessitate, diesen hat er Genuß
ihrer Rechte gcmcinßam mit den übrigen ihrcß Stllindco, Verteidigung und Juotiz
zu gewähren, quatenus id salva civitate fieri potest41 • So steht die Herrscherpfilcht
unter dem allgemeinen Vorbehalt der Staatsräson. Die libertas hingegen bleibt dem
Naturzustand überlassen, und wo sie, wie bei der Notwehr 42 , zur Begründung von
Rechten im Staat herangezogen wird, da handelt es sich um Rechte gegen andere
Bürger, nicht gegen den Staat, dessen Abwesenheit gerade Voraussetzung für das
Aufleben der libertas ist. Freiheitsrechte spricht Pufendorf auch nicht im Zusammen-
hang mit den officia summorum imperantium an 43 ;nicht um sie geht es, sondern um
Ratschläge für die Erlangung der salus populi als der suprema lex.
Individualistisch ist der Ansatz jener Schrift Pufendorfs, deren Titel zur Pflicht
hin gewendet jene Formel vorwegnimmt, die den Doppelstatus des einzelnen auch
in der „Declaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 anspricht: „De
officio hominis et civis" (1673). Auch hier erweist sich aber nur im Naturzustand
die Pflicht als Quelle von Rechten, doch nur für den Inhaber der Staatsgewalt leiten
sich daraus Rechte her44.
Auch bei CHRISTIAN WoLFF kennzeichnen Gleichheit und Freiheit den Naturzu-

05 Ebd. 20.
36 Dazu HANS WELZEL, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (Berlin 1958).
37 PuFENDORF, De jure naturae et gentium libri octo (1672) 7, 6, § 10,
38 Ebd. 7, 6, § 13: Ergo cogere jure cives ad omnia summus imperans potest, quae ipsi ad
bonum publicum aliquirl facere judicantur. Ad illa autem cogere cives, quae saluti civitatis
repugnant, aut legibus naturalibus adversantur, ne velle quidem debet. Et si tale quirl conatus
fuerit, sine dubio potestatis suae limites transgreditur.
39 Ebd. 7, 8, § 2.
40 Ebd. 7, 8, § 4: officium principis vel officium hominis.
u Ebd. 7, 8, § 4.
42 Ebd. 2, 5, § 4.
43 Ebd. 7, 9.
44 Ders., De officio hominis et civis (1673) 2, Ii ff.

68-90386/1 1059
Grundrechte D. 3. Naturrecht und Absolutismus

stand 4 5; aus der Natur des Menschen ergeben sich „angeborene Pflichten" ( obligatio
connata) und daraus „angeborene Rechte" (iura connata), nämlich aequalitas,
libertas und das jus securitatis mit dem jus defensionis und dem jus puniendi 4 6. Im
Staat ergibt sich die Beschränkung dieser Rechte aus dem Staatszweck; dabei
bleibt zwar die libertas naturalis als Grundsatz erhalten 47, aber die weitgefaßten
Staatszwecke48 lassen den Grundsatz verblassen: nullus ... actus ad imperii exer-
citium spectans ab.ullo homine irritus fieri potest 49• Nur die leges fundamentales binden
die höchste Gewalt 60, und sie bieten, wie am Auswanderungsrecht sich zeigt, auch
die Möglichkeit, Rechte einzelner gegenüber dem Herrscher festzulegen6 1 .
Das Anliegen der großen Naturrechtssysteme eines Pufendorfund Christian Wolff,
die die deutsche Naturrechtslehre bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus
beherrschten, sind nicht die Rechte des Bürgers im Staat; der Mensch erscheint
zwar als grundsätzlich gleich und frei, aber Gleichheit und Freiheit bleiben in den
Naturzustand verbannt, werden nicht zur Forderung an den Staat. Der Bürger i~t
im wesentlichen nicht als Rechtssubjekt, sondern als Objekt obrigkeitlicher Für-
sorge gesehen, deren Modalitäten mit Vernunftgründen entwickelt werden. Damit
entsprachen diese Systeme nur dem gesellschaftlichen Zustand in Deutschland; mit
einem zu politischem SelL~Luewußt~eiu erwachten Bürgertum hatten sie noch nicht
zu rechnen.
Die GP.g1mposition hat auf der Grundlage des Naturrechts JOHN LOCKE entwickelt.
Ebenfalls vom Naturzustand ausgehend, läßt er diesen als Grundlage für die Ent-
wicklung der Rechte des Bürgers im Staat dienen. Die naturrechtliche Fundierung
nicht nur von Freiheit und Gleichheit, sondern auch des Eigentums verhilft da?.u;
denn wenn der Mensch auch Equality, li,berty and Executive Power in die Hände der
Gesellschaft legt, die darüber ihrem Wohl entsprechend zu disponieren hat, so ge-
schieht das doch with an intention in every one the better to preserve himself his Liberty
and Property - denn niemand wolle seine Daseinsbedingungen ~um schlechteren
wenden° 2 • Auch die Legislative ist an die li,berties and Properties of tlie S·ubject 53
gebunden, deren Schutz im übrigen die Teilung der Gewalten dient. Hier erinnert
die Pluralform noch an die Tradition der englischen Rechteerklärungen, während
die Bindung auch der Geset?.gebung an die Untertanenrechte ihr nicht mehr folgt.

45 CHRISTIAN WoLFF, lnstitutiones juris naturae et gentium (Halle, Magdeburg 1750):


jura, quae homini competunt, quatenus h<Ytno est, omnis hominis eadem sunt (§ 69); homines ...
qua homines natura aequales sunt (§ 70); natura ... homines omnes liberi sunt (§ 77).
46 Ebd., § 95.
47 Ebd., § 980.
48 Ebd., § 972: m:tae 8'11.jfici:e.ntia, abundant·ia eorwm, quae ad vitae necessitatem, commoditatem

et jucunditatem requiruntur, ac mediorum felicitatis, tranquillitate civitatis, vacuitate a metu


injuriarum, seu a violatione juris sui et securitate seu vacuitate metus a vi praesertim externa.
49 Ebd„ § 981.
&o Ebd., §§ 984. 1079.
61 Ebd., § 1107.
68 LouKE, Two Treatises on Government (London 1690), 2, § 131.
68 Ebd., § 149.

1060
ll. 4. Die „Rechte" in den Aufklärungskodifikationen Grundrechte

4. Die „Rechte" in den Aufklärungskodifikationen

Schon vor den ersten kontinentaleuropäischen Konstitutionen wurde in der Auf-


klärungskodifikation des, ,Allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten'' von
1791 („Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten" 1784)
der Versuch unternommen, das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger ge-
setzlich zu bestimmen. Gerade die Nichtaufnahme der betreffenden Bestimmungen
in das Allgemeine J,a.ndrecht von 1794 als Reaktion gegen die Aufklärung unter Hin-
weis auf die Erfahrungen der Französischen Revolution 54 zeigt die Qualität, die die
Zeitgenossen diesen Normen zumaßen. Ob sie Grundrechtscharakter hatten, ist um-
stritten55. Verfassungsrechtlich und rechtstechnisch wohl deshalb nicht, weil die
Kodifikation gerade nicht den Anspruch erhob, Konstitution zu sein, und weil das
Gesetzgebungsrecht des Landesherrn dadurch im Prinzip ebensowenig eingeschränkt
wurde wie seine sonstigen obrigkeitlichen Befugnisse. Aber einige Herrscherakte
werden doch als Unrechtshandlungen gegenüber den Bürgern gewertet. So sind
Mac.htsprti.che. als Unrec.ht.sakte qualifiziert, entweder direkt: d11.rch Ma.e.h.tsprii.che
soll niemand an seinem Rechte gekränkt werden 56 , oder mittelbar: Machtsprüche oder
solche Verfügungen der obern Gewalt, welche in streitigen Fällen ohne rechtliche Er-
kenntnis erteilt worden sind, bewirken weder Rechte noch Verbindlichkeiten 67 •
Ähnlich ist es bei der Sanktion, die vorgesehen wird, wenn ein neues Gesetz der
Gesetzkommission nicht zur Begutachtung vorgelegt wurde. Ist dies einmal nicht
geschehen, so soll die Gesetzkommission von Amts wegen darüber höheren Orts An-
zeige machen; inzwischen aber soll mit der Publikation Anstand genommen werden 58 ;
und noch deutlicher: Ein ohne dergleichen Prüfung bekannt gemachtes Gesetz 1'.st, in
Ansehung des dadurch beeinträchtigtenStaatsbürgers, unverbindlich und ohne Wir-
k1tng69.
Während § 20 Einleitung des Entwurfs noch eine Rückwirlnmg von Gesetzen, wenn
auch unter Einschränkungen, zuließ, fehlt eine entsprechende Bestimmung ganz in
AGB undALR.
Der Entwurf enthält dann einen Abschnitt: All.gemeine Grundsätze des Rechts. Rechte

H UWE-JENS HEUER, Allgemeines Landrecht und Klassenkampf (Berlin 1960), 193 ff.;
IIANs TmEME, Die preußische Kodifikation, Zs. f. Rechisgesch., germanist. Abt. 57 (1937),
406; HERM:ANN CONRAD, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts von 1794
(Köln, Opladen 1958), 32 f.
66 Bejaheml CONRAD, GeisLige Gmndlagen, 85 Ir.; REINJIAitT KosELLECK, Staat und Ge-

sellschaft in Preußen 1815-1848, in: Staat und Gesellschaft im Deutschen Vormärz 1815-
1848, hg. v. WERNER CoNZE (Stuttgart 1962), 80. Verneinend ÜEBTREICH, Menschen-
rechte, 45 (s. Anm. 2); GüNTER BmTSCH, Zum konstitutionellen Charakter des preußischen
Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Fschr. Theodor Sehleder, hg. v. KURT KLuxEN u.
WoLFGANG J. MoMMBEN (München, Wien 1968), 103 ff.; PAULLöDEN, Zur Vorgeschichte und
Geschichte der preußischen Grundrechte (Hamburg 1929), 11 ff.
6& § 6, Einleitung d. Entwurfs.

67 § 6, Einleitung AGB.
68 § 15, Einleitung d. Entwurfs. ·
69 § 12, Einleitung AGB. Zur Funktion der Gesetzkommission GERD KLEINHEYER, Staat

und Bürger im Recht (Bonn 1959), 75; kritisch dazu BmTSCH, Allgemeines Landrecht,
105 f.

1061
Gnmdrechte II. 4. Die „Rechte" in den Aufklärungskodifikationen

und Pflichten des Staats gegen seine Bürger 60 • Wenn auch dasAGB den entsprechen-
den Abschnitt nur noch mit Verltältnis des Staats gegen seine Bürger bezeichnet, so
gehören diese Regelungen doch auch zu den allgemeinen Grundsätzen des Rechts.
Obwohl abgeschwächt in der Bezeichnung durch Vermeidung des Wortes 'Pflich-
ten', wird hier in der Sache doch dasselbe ausgesagt, nämlich eine verpflichtende
Rechtsbeziehung des Staates zu seinen Bürgern. Auch das ALR hat diese Abschnitts-
überschrift beibehalten.
Der freiheitsverbürgende Charakter dieses Abschnitts tritt in§§ 56. 57 des Entwurfs
hervor: Der Staat kann die natürliche Freiheit seiner Bürger nur insofern einschrän-
ken, als das Wohl der gesellschaftlichen Verbindung solches erfordert . . . Sowohl dem
Staat als seinen Bürgern müssen die wechselseitigen Zusagen und Verträge heilig sein.
niA letzte Bestimmung ist im AGB und damit auch im ALR nicht mehr enthalten,
aber dafür bringt § 79 AGB: Die Gesetze und Verordnungen des Staats dürfen die
natürliche llreiheit und Rechte der Bürger nicht weiter cintwhränkr-n, al.~ P.~ if.p,r (Jf!.m.e.in-
schaftliche Endzweck erfordert, - eine erste positivrechtliche, wenn auch schwer zu
konkretisierende Bindung der staatlichen Gesetzgebungsgewalt an den 8taats-
zweck; deren Einschränkbarkeit zu Gunsten der natürlichen Freiheit und Rechte der
Bürger wird damit anerkannt~ Nicht vArw11nderlich, daß das ALR diese Bestim-
mung nicht mehr enthält. § 77 AGB normiert darüber hinaus den Staatszweck
selbst: Das Wohl de.~ Staat.~ iibP.rha11.pt und seiner Einwohner insbesondere ist der
Zweck der bürgerlichen Vereinigung und das allgemeine Ziel der Gesetze. Diese Norm
bedeutet die Verneinung staatlicher Allgewalt und die Berücksichtigung des Indi-
vidualwohls. Sie finoAt sich im ALR nicht mehr.
Stärker als der Entwurf61 - der Staat ist verpflichtet, für die innere und äußere Ruhe
und Sicherheit seiner Mitglieder zu sorgen - heben§ 83 Einleitung AGB bzw. § 76
Einleitung ALR das Individualrecht hervor: Jeder Einwohner des Staats ist den Schutz
desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern berechtigt. Der Aufopferungs-
ansprucli der§§ 74. 75 Einleitung ALR (§§ 81. 82 Einleitung AGB) schließlich ist das
Vorbild sämtlicher Entschädigungsregeln in deutschen Verfassungen geworden.
Mit jener .natürlichen Freiheit und Reckten der Bürger setzt sich ÜARL GoTTLIEB
SvAREZ näher auseinander. Sie erscheint ihm durch oiA posit.iven Gesetze des
Staats einschränkbar im Rahmen des Staatszwecks, dessen Einhaltung aber nur
der Beurteilung diirch den Regenten unterliegt 62 • Aber für Eingriffe in die unver-
außerlichen Rechte der Menschen, auf die der Mensch auch bei seinem Eintritt in die
bürgerliche Gesellschaft nicht verzichten kann, findet der Staat eine Legitimation
nur aus dem Notrecht, nicht aus der Einwilligung Jei,; Bürgers. Zu diesen Rechten
zählt das Leben; die moralische Freiheit, also das Vermögen, sein Handeln vernunft-
gemäß zu bestimmen, das Recht zur Selbstvervollkommnung. Daneben werden
einzelne Aspekte der Freiheit hervorgehoben, so das Recht der Mitteilung als eines
unserer ersten und natürlichsten Rechte68 und die Pressfreiheit, der weitere Grenzen

so §§ 50 ff., Einleitung d. Entwurfs.


61 § 51, Einleitung AGB.
82 ÜART, GoTTUEB SvAREZ, Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Hermann Conrad u. Gerd
Kleinheyer (Köln, Opladen 1960), 219.
83 Ebd., 43; ferner im Vortrag „Über den Einfluß der Gesetzgebung in die Aufklärung",

ebd., 635.

1062
II. 4. Die ,,Rechte" in den Aufklärungskodifikationen Grundrechte

zu ziehen seien64 , der freie Gebrauch seiner Fähigkeiten und Kräfte zur Beförderung
der PrivatgWckseligkeit65 ; gegen Monopolien spreche, daß der Zweck des Staats die
Sicherheit und möglichste Freiheit aller sei und dieser unmöglich durch Beeinträchti-
gung der Freiheit zum Besten eines einzelnen oder einer Ges"ellschaft zu erreichen
sei 66 ; nicht nur die Denk- und Gewissensfreiheit als inalienables Recht67 , sondern
auch die freie Religionsübung sei zu gewährleisten68 • Das Machtspruchverbot er-
scheint Svarez als die Schutzwehr der bürgerlichen Freiheit eines preußischen Unter-
tanen69.
Einige Male wird der Gleichheitsgedanke von Svarez angesprochen. So erscheinen
die Monopolien als ungerecht wegen der Ausschließung anderer von den entspre-
chenden Gewerben 70 , also wegen des Verstoßes gegen die möglichste Freiheit aller;
das Besteuerungsrecht unterliegt dem Grundsatz, daß bei Verteilung der Abgaben
die möglichste Gleichheit unter den Einwohnern des Staats beobachtet werden müsse 71 •
Als hmmndcrcr Vorzug monarc:hiRnhllr Rlleillr1me,Rformp,n uni! ilamit, 11.11r.h flp,r preu-
ßischen wird gepriesen, daß nicht ein Stand, eine Klasse der Nation die Rechte der
anderen schmälere, daß der Ärmere und .Niedrigere von seinem reichen und mächtigeren
Mitbürger nicht unterdrückt werde 72 • Die Monarchie sichert am meisten die bürger-
l,iche Fre,ilteit der Untertanen, weil zwischen dem Regenten und dem Volke keine Mittel-
macht da ist, die durch ihre Teilnahme an der Regierung Gelegenheit hätte, die anderen
Volksklassen zu drücken 73 • Diese Stoßrichtung der Monarchie gegen die politischen
Zwischengewalten führt dann auch zu dem für das Verständnis der Kodifikation
des ALR wesentlichen Schlüsselbegriff 'Gleichheit vor dem Gesetz': Die Gesetze des
Staats verbinden alle Mitglieder desselben, ohne Unterschied des Standes, Ranges und
Geschlechts 74 •
Dazu sagt Svarez: Dem Gehorsam gegen die Gesetze kann also kein Einwohner de88el
ben, er sei von noch so hohem Range, sich entziehen. In dieser Rücksicht sind daher alle
Untertanen in den Augen des Souveräns völlig gleich, und der Fürst, der unmittelbar an
seinem Throne steht, ist seinen Gesetzen ebensosehr unterworfen als der niedr·igste
Landbewohner und Tagelöhner 75 • Ungleichheiten, besonders ständischer Art, wie sie
das ALR vielfältig widerspiegelt, rühren so vom Gesetzgeber her und gewinnen nur
naher ihre T.egitimation. Damit haben die Vorrechte einzelner Stände ihren poli-
tischen Charakter verloren und sind zu Privilegien und wohlerworbenen Rechten
geworden, die zur Disposition des Gesetzgebers stehen, wenn auch gegen Entschä-
digung; Gleichbehandlung ist zwar noch keine gesetzgeberische Pflicht, aber schon
eine gesetzgeberische Möglichkeit. Politische Zwischengewalten sind nicht mehr

64 Ebd„ 44.
85 Ebd„ 37. 46.
88 Ebd„ 46.
67 Ebd„ 218.
68 F.bd „ 53 ff.
89 Ebd„ 616.
70 Ebd„ 46.
71 Ebd„ 118.
72 Ebd„ 89.
73 Ebd„ 47fi.
74 § 26, Einleitung AGB; § 22, Einleitung ALR.
75 SvAREZ, Vorträge, 246.

1063
Grundrechte II. 4. Die ,,Rechte" in den Aufklärungskodifikationen

anerkannt. Ein letzter Nachklang davon in§ 57 Einleitung Entwurf- sowohl dem
Staat als seinen Bürgern müssen die wechselseitigen Zusagen und Verträge heilig sein -
wurde dann auch im AGB und ALR nicht mehr aufgenommen.
Ob und inwieweit sich in der preußischen Kodifikation der Gedanke einer Bindung
staatlicher Gewalt an Rechte der Menschen und Bürger niedergeschlagen habe, ist
umstritten. Immerhin bedeutet schon die Verwendung der Begriffe 'natürliche Frei-
heit' und 'Rechte der Bürger' eine gesetzliche Anerkennung dieser Kategorien. Die
Kodifikation verstand sich als naturrechtlichen Prinzipien verpflichtete, der Ver-
nunft als Maßstab folgende und damit am Wesen des Menschen sich orientierende
Gesetzgebung. Im ALR wie in den Vorträgen Svarez' erscheint zwar die „natürliche
Freiheit" zunächst, der naturrechtlichen Tradition entsprechend, als Beschreibung
des Naturzustandes. Aber diese Freiheit wird der staatlichen Gesetzgebung doch
als Orientierungspunkt entgegengehalten, die Wahrung der Freiheit sogar als
Staat.$zwer..k erachtet und da.mit.11.lt1 dP.n GAf>At,r.gP.bAr binrfonil, wenn aur..h $tets ohne
Einschränkung von dessen Beurteilungsspielraum, der sich vor allem aus der Kom-
bination mit anderen Staatszwecken ergibt. Der freiheitssichernde Charakter der
Kodifikation wird aber auch sonst von Svarez angesprochen 76 : Anders als Zeitgesetze,
die die Freiheitsrechte kranken, soll die Kodifikation den Fortbestand der Freiheit
garantieren; dann orientiert sich die Kodifikation aber auch an der Freiheit.
Auf die Kodifikation bezieht sich auch die Empfehlung Svarez', daß der Souverän
aitsdrücklich erklärt, er wolle seine Macht nur zur Erreichung der Zwecke des Staats,
d. h. zum Wohle seiner Untertanen, anwenden1 7 • Diese Empfehlung findet sich um-
gesetzt in§§ 77 und 79 Einleitung AGB, die in das ALR freilich nicht übernommen
wurden. Und welchen Charakter Svarez dieser gesetzlichen Aussage beimißt, er-
gibt sich aus seinem Hinweis, die Furcht vor Verletzung der Grundgesetze deR
Staats werde dann die Staatsdiener abhalten, dem Regenten Maßregeln vorzu-
schlagen, die seinem feierlichen Versprechen, alle seine Rechte nur zum Wohl der
bürgerlichen Gesellschaft anzuwenden, entgegenliefen78 • Grundgesetz steht hier
also für eine nicht durch Vertrag, sondern Gesetzgebung bewirkte Selbstbindung
des Regenten.
78 Ebd., 635 f.: Es können allerdings UrMtände sich ereignen, wo der Gesetzgeber überwie-

gende Gründe hat oder wenigsten8 zu haben 1Jermeint, die if.ußerung 1Jon Meinuii,gen und Urtei-
len über gewisse Gegenstände i'll- engere Schranken, als es jene allgemeine Theorie erlaubt, einzu-
1Jchließen. Aus diesem Gesichtspunkt können sich manche Gesetze, die auffallende Ein8chrän-
kungen der Freiheit in diesem Stück zu enthalten scheinen, als bloße Zeitgesetze noch wohl ver-
teidigen lassen . .Aber die alf,gemeine Gesetzgebung, deren Werk es ist, feste, sichere und fO'Ttdau-
ernde Grundsätze über Recht und Unrecht festzustellen, die besonders in einem Staat, welcher
keine eigentliche Grundverfassung hat, die Stelle derselben gewissermaßen ersetzen soll, die also
für den Gesetzgeber selbst Regeln enthalten muß, denen er auch in bloßen Zeitgesetzen nicht zu-
widerhandeln darf, die sich den stolzen Gedanken erlauben darf, die Wohlfahrt nicht bloß der
gegenwärtigen, sondern auch künftiger Generationen zu befördern - diese kann und darf sich
bei allen dergleichen Nebenrücksichten nicht aufhalten. Ihr Geist und ihre Grundsätze müssen
gleichsam die Feste (sein}, in welche sich die durch Zeitgesetze gedrängte Freiheit zurückziehen
und aus der sie unter günstigeren Umständen zur Wiedererlangung ihrer gekränkten. Rechte mit
gestärkten Kräften zurückkehren kann. Der Gedanke nimmt die „verfassungsdurchbrechen-
den" Gesetze der Weimarer Verfassung von 1919 vorweg.
77 SVAREZ, Vorträge, 229. 609.
78 Ebd., 230; ebenso 610.

1064
II. 4. Die ,,Rechte" in den Aufklärungskodifikationen Gmndrechte

Das Verhältnis von Freiheit und Staat ist schließlich ausgedrückt in dem Grund-
satz der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns. Dieser Satz, schon bei Hobbes er-
wähnt, hat seine Ausprägung erfahren durch das wohl auf Pufendorf zurückgehende
Verständnis des Gesetzes als Norm menschlichen Handelns. Das schließt begrifflich
eine Rückwirkung von Gesetzen und auch ihre rückwirkende Anwendung aus79;
andererseits bedarf die Einschränkung der natürlichen Freiheit des Gesetzes.
Das AGB verwendet wie sein Verfasser Svarez nfil den Begriff der natürlichen Frei-
heit, die als in der bürgerlichen Freiheit sich fqrtsetzend erscheint. Mit dem Eigen-
tum zusammen gilt sie als vom Staat zu bewahrendeei Gut, während die Gleichheit
noch nicht als Forderung an den Gesetzgeber oder gar als Verpflichtung für ihn, .
sondern als Möglichkeit erscheint. Aber auch 'Freiheit' hat noch nicht jene die
politische Freiheit umfassende Bedeutung, die der Begriff in den Verfassungen der
Revolutionszeit schon gewonnen hatte 80 ; die Streichung auch dieses Begriffes im
ALR zeigt freilich, daß er durchaus als politisch brifmnt empfunden wurcfo 81 •
Bei Svarez selbst findet sich noch keine Freiheit, Gleichheit und Eigentum, ja nicht
einmal eine Freiheit und Eigentum umgreifende, deren typische Beziehung zum
Staat hervorhebende Bezeichnung; weder die „angeborenen" noch die „unveräu-
ßerlichen Rechte" umschließen beide Bereiche. Abtir Svarez mußte einerseits mit
den hergebrachten naturrechtlichen Kategorien arbeiten, andererseits ergab sich
für ihn nicht die Notwendigkeit, eine die politischen Forderungen des Bürgertums
vereinende Kampfformel zu finden, vielmehr mußte er sich sogar schon von den
revolutionären Begriffen absetzen, wollte er sein kodifikatorisches Werk retten. So
spricht er vom Mißbrauch des Ausdrucks 'unveräußerliche Menschenrechte' 8 ~.
Als nach dem Regierungsantritt Leopolds II. die Vorbereitungen zu einem politi-
schen Codex für Österreich wieder aufgenommen wurden 83, wurden die Menschen-
rechte auch hier nur noch mit größter Behutsamkeit angesprochen. In einem Vor-
trag der Hofkanzlei an den Kaiser vom 26. März 1791 baute JOSEPH VON SoNNEN-
FELS vor: Man ist ferne, von den Rechten der Menschheit und des Bürgers mit einiger
Besorglichkeit zu sprechen, weil diese Wörter den Gewalttätigkeiten einer Revolution zu
Loseioörtern gedient haben. Vielmehr dürfte hier ängstliches Stillschweigen für ein er-

79 Dazu GERD KLEINHEYER, Vom Wesen der Strafgesetze in der neueren Reohtsentwiok

lung (Tübingen 1968), 13 ff.


80 Zum Verhältnis von „bürgerlicher" zu „politischer" Freiheit vgl. bes. ERNST FERDI-

NAND KLEIN, Freiheit und Eigentum, abgehandelt in 8 Gesprächen über die Beschlüsse der
französischen Nationalversammlung (Berlin, l::ltettin 1790), 117 ff.
81 ERNST GOTTLOB MoRGENBESSER setzt der Fassung des ALR in seiner anonym erschie-

nenen Schrift „Beiträge zum republikanischen Gesetzbuche, enthalten in Anmerkungen


zum allgemeinen Landrechte und zur allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen
Staaten" (Königsberg 1800), 16 eines jeden angeborenes Recht zur Freiheit entgegen, das dem
Staat auch die Ert.eilung von Privilegien verbiete, weil sie einen vor dem andern begünsti-
gen und den gleichmäßigen Genuß.der Freiheit aufheben (ebd., 17). Gleichheit der Rechte
erscheint Morgenbesser mit dem Wesen der Republik untrennbar verbunden (ebd.) ; ange-
boren ist das allen Menschen gleiche Recht zur Freiheit (ebd., 23).
82 SvAREZ, Vorträge, 217.

83 Dazu SIGMUND Am,F.R, Die politische Gesetzgebung in ihren geschichtlichen Beziehungen

zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, Fschr. zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen


Bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. 1 (Wien 1911)~ 85 ff., bes. 99 ff.

1065
Grundrechte II. 5. Die Virginia Bill of. Rights von 1776

niedrigendes Geständnis mißgedeutet werden. Die Heiligkeit dieser Rechte soll dailurch
nicht vermindert werden, weil ihr Name in dem Munde einer Rotte entweihet ist84.
Gleichwohl entschied Leopold II. am 3. August 1791, daß bei der .Ausarbeitung nicht
von den Rechten der Menschheit, sondern nur von jenen des Bürgers zu sprechen sei.
Die Menschenrechte waren zu dem archimedischen Punkt geworden, von dem her
die alte Ordnung in den mitteleuropäischen Monarchien aus den Angeln gehoben zu
werden drohte; die revolutionäre Färbung dieses Begriffes war schon zu stark, als
daß er hier weiterhin unbefangen hätte benutzt werden können.

5. Die Virginia Bill of Rights von 1776

ErsLlllah1 in tleu alllerikanischeu Rechteerklärungen fanden die Menschenrechte


einen positiven verfassungsrechtlichen Niederschlag. Die Wurzeln dieser Erklärun-
gen ho.t mo.n im „Urreeht" der Roligionß und GcwißßOnGfroihcit8 1i, in den englischen
Freiheitserklärungen86, schließlich im europäischen profanen Naturrechtsdenken 87
ge11ehen o<ler 11ie a.1111 <ler revolutionären Sit,ua.tion88 erklärt. Schlagen sich auch alle
diese Wurzeln in den amerikanischen Bills nieder, so ist doch ein Vorwiegen der
naturrechtlichen Terminologie wenn nicht in den einzelnen Artikeln, so doch in <len
die Grundlagen hervorhebenden Teilen dieser Erklärungen festzustellen: .All men
are by nature equally free and independent and have certain inherent rights, o/ wkich,
when they enter into a state of society, they cannot by any compact deprive or divest
their posterity; namely the enjoyment of life and liberty,. with the means of acquiring
and possessing property and pursuing and obtaining hwppiness and sa/ety.
In diesem ersten Abschnitt der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 verbindet
sich die Vorstellung natürlicher Freiheit und Gleichheit als angeborener und unver-
äußerlicher Rechte, wie sie die europäische Naturrechtslehre entwickelt hatte, mit
der Lockeschen Trias von Leben, Freiheit und Eigentum; daß Glückseligkeit und
Sicherheit als menschliche Daseinszwecke nicht fehlen, weist ebenfalls eher auf fest-
landseuropäisches Gedankengut hin.
Auch sect. 16 zielt mit der Begründung der Religions- und Gewissensfreiheit aus der
Unmöglichkeit, Religion und Ehrfurcht gegen den Schöpfer durch Gewalt und
Zwang zu bestimmen, auf außergesetzliche Legitimation. Schließlich stützen sich
auch sect. 2 und 3 auf die Volkssouveränität und damit allf eine gegebene Prämisse.

84 Ebd., Bd. 1, 101, Anm. 32.


ijoJELLINEK, Menschen- und Bürgerrechte, 4. Aufl. (1927), 50 ff.; ERNST TROELTSCH, Die
Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, Hist. Zs. 97
(1906), 39 ff.
86 Zum Verhältnis zum „Agreement of People" v. 28. Oktober 1647 vgl. JELLINEK, Men-

schen- und Bürgerrechte (1927), 45ff.; JOSEF BOHATEC, Die Vorgeschichte der Menschen-
nnd Dürgerrechte in der englischen PublizisLik cler efäten Hälfte cleB 17. JahrhunclertB, in:
ders., England und die Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte (Graz, Köln 1956), 13 ff.
87 JusTus HASHAGEN, Zur Entstehungsgeschichte der nordamerikanischen Erklärungen

der Menschenrechte, Zs. f. d. gesamte Staatswiss. 78 (1924), 461 ff.; HANS WELZEL, Ein
Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte (John Wise
und Samuel Pufendorf), in: Fschr. RUDOLF SMEND (Göttingen 1952), 387 ff.
88 GERHARD RITTER, Ursprting und Wesen der Menschenrechte, Hist. Zs. 169 (1949),
233 ff. .

1066
II. 5. Die Virginia Bill of Rights von 1776 Grundrechte

Daneben aber umfaßt die Virginia Bill eine Vielzahl von Rechten, die zum über-
kommenen Bestand zählen, von denen man deshalb allerdings auch sagen kann, daß
sie „dem Volk von Virginia zustehen" - which rights do pertain to them and their
posterity (Präambel) - , also nicht erst durch die Bill geschaffen werden. Das
Anknüpfen an beide Quellen 89 der Rechte des good people of Virginia (Präambel)
prägt den Charakter dieser Bill. Andere Rechte erscheinen als Garantie der
vorangestellten Grundsätze; so die an Montesquieu erinnernde Gewaltenteilung
(sect. 5) oder die Pressefreiheit, one of the great bulworks of liberty (sect. 12).
Es entspricht englischer Tradition, daß politische und bürgerliche Freiheit als die
beiden Seiten einer Sache angesehen werden, nicht, wie nach der absolutistisch-
naturrechtlichen, auf dem europäischen Kontinent vorherrschenden Auffassung,
als zwei Bereiche, die zwar kombiniert, aber ebensogut auch getrennt bestehen
können90. Die Mitwirkungsrechte haben dabei gleichwohl dienende Funktion; im
Vordergrund steht die Garantie der persönlichen, individuellen Freiheitsrechte.
Den Naturrechtstheorien entsprechend sieht auch die Virginia Bill die Menschen-
rechte im Zusammenhang mit dem Staatsir.w1mk. Aber anders als nach der absoluti-
stischen Naturrechtstheorie, vielmehr Locke folgend, stehen die Menschenrechte
zum Staatszweck nicht in einem Gegensatz, sondern der Staatszweck isL Llurch
die Wahrung der inhp,rwnt ri:ght.~ (Präambel) bestimmt; diese Rechte sind dio
Grundlage der Regierung. Daher kommt eine Begrenzung der Mtim;chenreehte
durch den Staatszweck nicht in Betracht. So wird die Virginia Bill auch nicht durch
den Gegensatz Staat-Individuum geprägt, nicht der Staat - the community -
bedroht die Freiheitsrechte des einzelnen, sondern dessen Orga111:1 oder, noch kon-
kreter, deren Angehörige: die Regierung (sect. 3), Beamte, Gesetzgeber oder Rich-
ter (sect. 4), the members of the legislative and executive powers (seet. 5). As the basis
and foundation of government werden die Rechte verstanden. Dem Volk von Virginia
zugesprochen, werden sie zum einigenden Band unter den Angehörigen dieses
Volks, zum Kennzeichen der Zugehörigkeit. Diese Rechte machen the good people
of Virginia zum Verfassungssubjekt. Erster Ausdruck der Selbstverwirklichung
dieses neuen Rechtssubjekts ist die Verfassung selbst, die erforderlich wird, weil
das Eigenleben des neuen Gemeinwesens auch eigene Lebensprinzipien erfor-
dert91.

89 Auf eine andere Quelle, die Verleihung durch Gott, scheint die amerikanische Unabhän-

gigkeitserklärung hinzuweisen: W e hold, these truths to be self -evident, that all men are created
equal, that they are endowed by their Ore.ator with certain unalienable rights, that among these
are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. Auf die Verwandtschaft zu den native rights
des Agreement of People v. 1647 weist hin HELMUT COING, Der Rechtsbegriff der mensch-
lichen Person und die Theorien der Menschenrechte, in: Beiträge zur Rechtsforschung,
hg. v. ERNS'l' WoLFF (Berlin, Tübingen 1950), 194; aber die .l!'ormulierung erinnert doch
sehr an den Deismus der Anfklii.nmg, wenn statt „Gott" der „Schöpfer" zitiert wird, der ja
auch von den profanen Naturrechtstheorien selten ganz außer Betracht gelassen wurde.
eo Vgl. dazu die Darlegung der Begriffe 'politische und bürgerliche J!'reiheit' bei KLEIN,
Freiheit und Eigentum, 117 ff.
91 Zu den Gründen für die Verfassungsbewegung des ausgehenden 18. Jahrhunderts w1d

allgemein WERNER NÄF, Staatsverfassungen und Staatstypen 1830/31, Schweizer Beitr.


z. Allg. Geseh. 3 (1945), 179 ff.

69-90386/l 1067
Grundrechte II. 6. Die Declaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789

Es scheint ein Paradoxon darin zu liegen, daß auf die Menschenrechte zurückge-
griffen wird, wo es doch um die Organisation eines sich abgrenzenden Gemeinwe-
sens geht. Aber dies ist die unausweichliche Folge der Entstehungsmodalitäten: die
revolutionäre Lösung aus den bisherigen Bindungen kann mit den Menschenrechten
nur dann gerechtfertigt werden, wenn diese Rechte zugleich zur Grundlage des
neuen Gemeinwesens werden.

6. Die Declaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789


Die „droits de l'homme" erscheinen auch in der Declaration vom 26. August 178992
als natürlich, unveräußerlich und heilig und damit vorstaatlich begründet. Ihr Wir-
ken auch im Staat wird vorausgesetzt; öffentliches Unglück und Verderbtheit der
Regierungen werden auf die Mißachtung dieser Rechte zurückgeführt. So werden diese
Rechte „dargelegt" und „orltlö.rt"9ll. Dor Zwook des Staatl! - le b'ut de tuut institu·
tion politique - besteht in der Wahrung dieser Rechte: Freiheit, Eigentum, Sicher-
heit, Widerstand gegen Unterdrückung.
Man hat den Gedanken, eine gesonderte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
7.ll schaffen94 , auf das Vorbild der amerikanischen Bills of Rights zurückgeführt96.
Dieses Problem muß hier zurücktreten hinter dP.r Fra.ge, ob. und inwieweit sich aus
der Tatsache einer gesonderten Erklärung Schlüsse auf die Einschätzung des Cha-
rakters dieser Erklärung ergeben. Zwei Feststellungen lassen sich unmittelbar tref-
fen: Die Erklärung geht von der Bindung der gesamten staatlichen Gewalt, sogar
des Verfassungsgesetzgebers aus - sie bekräftigt so den vorstaatlichen und über-
staatlichen Charakter der Menschenrechte, rückt diese damit freilich auch ins Ab-
strakte. Zum anderen aber nimmt die Erklärung nicht konkrete Verfassungsgeltung
für sich in Anspruch, darin von den amerikanischen Erklärungen sich unterschei-
dend, sondern will die Konkretisierung ihrer Grundsätze dem Verfassungsgeber
überlassen. Dieser will 1791 etablir la Oonstitution frangaise sur les principes, qu'elle
vient de reconnaUre et decwrer und schafft deshalb nicht nur die gleichheits- und
freiheitsverletzenden Vorrechte ab, sondern konkretisiert auch die Menschen- und
Bürgerrechte in den dispositions fondamentales garanties par la Oonstitution, nun als
droits naturels et civils.
Dieses Verständnis der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte bedeutet ein
weiteres: Zwar sind es die VP.rtrP.t,P.r deR französischen Volkes, die die Erklärung ver-
künden, aber sie verkünden diese Rechte nicht nur für die Franzosen, sondern
daneben für alle Menschen und Staaten. Les malheurs publics werden angesprochen,
la corruption des gouvernements, les hommes sind frei und gleich (Art. ,1), das Ziel de

92 Bei GÜNTHER FRANZ, Staatsverfassungen (München 1964), 302 ff.


93 Zur Wahl von 'rappeler' statt des von Mirabeau vorgeschlagenen 'retablir !es droits'
BERNHA.ltJ>'l' SüfilCKH.ARDT, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789-91
in den Debatten der Nationalversammlung (Berlin 1931), 78.
94 Zu den Auseinandersetzungen über diese ScmCKHARDT, Erklärung, 113 ff. 131 ff.
95 ScmcKHARDT, Erklärung, lOff.; FRITZ KLÖVEKORN, Die Entstehung der Erklärung

der Menschen- und Bürgerrechte (Bedin 1911 ), 92; J ELLINEK, Menschen- und Bürgerrechte,
8 ff. 29 hat darüber hinaus sta1·ke inhaltliche Entlehnungen behauptet; dagegen vor allem
EMILE BOUTMY, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek,
in: SCHNUR, Menschenrechte, 78 ff. (s. Anm. 16).

1068
II, 6. Declaration des droits de l'bomme et du citoyen von 1789 Grundrechte

toute association politique ist der Schutz der Menschenrechte (Art. 2), toute souve-
rainete geht vom Volk aus (Art. 3). Und die positive Wertung des Begriffs der
Konstitution wird eingesetzt zu der Feststellung: Toute societe, dans laquelle la
garantie des droits n' est pas assuree, ni la separation des pouvoirs determinee, n' a
point de constitution (Art. 16). Auch die Aufzählung von „Bürgerrechten" vermag
nicht zu verbergen, daß zwar zunächst nur der französische Bürger gemeint ist,
daneben aber jeder Mensch in seiner Eigenschaft als Bürger.
Die französische Nationalversammlung verabschiedete also mit der „Declaration
des droits de l'homme et du citoyen" nichts Geringeres als das Modell nicht nur der
französischen, sondern der Verfassung schlechthin96 • Damit wurde diese Deklara-
tion Ausdruck einer expansiven Ideologie, in deren Dienst sich die französische
Nation stellen konnte.
Auch die Deklaration verzichtet nicht darauf, ein Ziel de toute association politique
zu konRtat,itmm, nii.mlir..h die Erhaltung uer natürlichen und unveräußerlichen
Menschenrechte. Damit wird der Staat in den Dienst des Individuums gestellt. Die
Unlösbarkeit der bürgerlichen von der politischen Freiheit kommt, hier Rousseau
folgend, in der Schlüsselstellung zum Am1uruck, die dem Gesetz als expression de la
'Oulonte generale in der Menschenrechtserklärung zugewiesen ist.
La Loi wird geradezu selbst zum Rechtssubjekt.97 , das Gesetz befiehlt und verbietet,
setzt Strafen fest. Damit erfährt das Gesetz eine ideologische Verselbständigung ge-
genüber seinem Urheber, die getreu der Rousseauschen Gleichsetzung von Mehr-
heitswillen mit der volonte generale98 verbergen mußte, daß das Gesetz die µarla-
mentarische Durchsetzung der Mehrheit gegenüber der. Minderheit bedeuLeLe. Und
doch erkannte entgegen der Lehre Rousseaus von der völligen Aufgabe vorstaatlicher
Rechte im GesellschaftsvP.rtrag99 und der Bindungslosigkeit des Souverainsloo die
Deklaration von 1789 gesetzlichem Zugriff entzogene Rechte der Individuen und
damit einen Minderheitenschutz an 101 • Die naturrechtliche Vorstellung unveräu-

96 Nachweise bei ScmcKRARDT, Erklärung, 112. 115.


07 ala societe, Art. 5.
La loi n'a le droit de defendre que les actions nuisible
98 RoussEAU, Contrat social 4, 2. Oeuvres compL, t. 3 (1964), 441: Du cakul de,~ imix .se tire
la declaration de la volonte generale. Quand donc l'avis contraire a1t mien l'emporte, cela ne
prouve autre chose sinon que je m'etois trompe, et que ce que j'estimois ~tre la volonte generale
ne l'etoit pas.
99 Ebd. 1, 6. Oeuvres compl., L. 3, 360 f.: Ces clauses bien entendues se reduisent toutes a une

seule, savoir l' alienation totale de chaque associe avec tou~ ses droits a toute la communaute .•.
Gar s'il restoit quelques droits aux particuliers, comme il n'y auroit aucun superieur commun,
q·wi put prononcer entre eux et le public, chacun etant en quelque point son propre juge preten-
droit bientOt l'etre en tous, l' etat de nature subsisteroit et l' association deviendroit necessairl'.-
ment tiranniq1te ou. vaine ... Ohacun de nous met en commun sa personne et toute .~a 'f>'ll.1:88rm.ce
sous la supreme direction de la volonte generale; et nous recevons en corps chaque membre com-
me partie indiviBible de tout.
100 Ebd., 1, 7. Oeuvres compl., t. 3, 362: 1l est contre la nature du corps politique que le

Souverains'imposeune loiqu'il ne puisse enfreindre ... par üU l'on voit qu'il n'y a ni ne peut
y avoir nulle espece de loi fondamentale obligatoire pour le corps du peuple, pas ~me le con-
trat social.
101 Diese neue Funktion der Rechtegarantien als Minderheitenschutz ist bereits bei KLEIN,

Freiheit und Eigentum, 70 angesprochen: Kriton: Können die übrigen Mitglieder des Volks
üher das Recht jedes einzelnen nach Gutbefinden verfügen? ..• Kleon: ... das abgerechnet, was

1069
Grundrechte II. 7. Die „Reehte" im deutsehen Frühkonstitutionalismus

ßerlicher Rechte wirkte hier - unmittelbar oder über das Vorbild der amerikani-
schen Rechteerklärungen - ebenso fort wie überkommene „Freiheiten", deren
Verletzungen, etwa durch die lettres de cachet, zuviel revolutionären Zündstoff
abgegeben hatten, als daß sie der neuen Volkssouveränität im revolutionären Pro-
gramm der Deklaration hätten geopfert werden können.

7. Die „Rechte" im deutschen Frühkonstitutionalismus

Schon in der französischen Verfassung von 1799 finden sich Menschenrechte nicht
mehr. Nur unter den Dispositionsgenerales (7. Abschn.) sind noch den einzelnen
Bürger begünstigende Anordnungen getroffen, aber nicht in Gestalt von Rechts-
gewährungen, sondern von Verboten an Amtspersonen und Dritte. Diesem Vorbild
enLsprachen _auch die meisten Verfassungen der Rheinbund-Staaten. Die Charte
Constitutionelle Fran~aise vom 4. Juni 1814 wird mit dem Droit public des Fran-
Qaio, einem Katalog von Rechten, eingeleitet, der diA ARpAk-tA nf\r 'hiireflrlir.hf\n
Freiheit' berücksichtigt, aber jede Bezugnahme auf vorstaatliche Rechte ver-
meidet.
Dieser Katalog blieb nicht ohne Einfluß auf den deutschen Frühkonstitutiona.lis-
mus. Art. 18 der Bundesakte vom 8. Juni 1815 enthielt eine Zusicherung von
Rechten für die Untertanen der deutschen Bundesstaaten. Dieser hinter den preu-
ßischen Vorstellungen weit zurückbleibende 1 0 2 Katalog stellte schon durch das
Wort 'zusichern' klar, daß diese Rechte als positiv gesetzt, also nicht als bereits
bestehend und nur anerkannt gelten ~ollLen. Sie zogen zudem nur die Konsequenz
aus der Anerkennung der eimrnlRtaatlichen Souveränität und der Bestätigung der
Staatsgrenzen und sollten den daraus fließenden Nachteilen für die Untertanen
entgegenwirken. Der Begriff der 'Untertanenrflchte' hatte vor den von Hardenberg
und Stein vorgeschlagenen 'deutschen Bürgerrechten' 1 0 3 den Vorzug, die Souverä-
nität der Einzelstaaten zu respektieren.
In den Verfassungen der deutschen Bundesstaaten 104 wird, sofern nicht überhaupt

sich von selbst versteht, daß die Mitglieder der Nationalversammlung nicht das ganze Volk aus-
machen und also auch nicht die Privatrechte der einzelnen vergeben dürfen, so Täninen nicht
einmal alle einzelnen, aus welchen die Nation besteht, durch ihren Beschluß dem einzigen, der
ihnen widerspricht, sein Privatrecht nehmen, wenn nicht etwa der Ji'all des Notrechts eintritt.
102 Vgl. demgeg1mii her: WILHELM v. HUMBOLDT, Expose des droits de tout sujet allemand

en general et des princes et comtes mediatises en particulier, AA 2. Abt., Bd. 11 (1903),


217 ff.; HARDENBERGS Entwurf der Grundlagen der deutschen Bundesverfassung v. Som-
-mer 1814, 1. u. 2. Fassung, Art. 28 bzw. Art. 6, abgedr. bei STEIN, Br. u. Sehr., Bd. 5 (1~64),
843 sowie die Kritik S•1•1.aI-1s: Les droits des ·individues ne sont prntiuP.11 que par la declaration
vague qu'il doit y avoir des etats provincwux, mais rien n'est statue sur leurs attributions
( art. 13), et une serie de maximes ( art. 18) sur les droits de chaque allemand dans laquelle on a
omis l'habeas corpus, l'abolition de la servitude, et qui ne sont garantis par aucune institution
protoctrico, Denkschrift v. 24. 6. 1815, Br. u. Sehr., Bd. 5, 39fi (Nr. 328).
1oa Ebd., Bd. 5, 70. 843.
104 Zwei 8erien von Verfassungen sind dabei zu unterscheiden: eine Gruppe, die iw Zu-

sammenhang mit Art. 13 BA geschaffen wurde: Schaumburg-Lippe 15. 1. 1816; Waldeck


19. 4. 1816; Sachsen-Weimar-Eisenach 5. 5. 1816; Baden 22. 8. 1818; Lippe-Detmold
8. 6. 1819; Württemberg 25. 9. 1819; Hannover 7. 12. 1819; Großherzogtum Hessen 17. 12.

1070
II. 7. Die „Rechte" im deutschen Frühkonstitutionalismus Grundrechte

von der Aufnahme eines Kataloges von Individualrechten abgesehen wird 105 , über-
wiegend der Begriff der Untertanenrechte übernommen 106 , daneben finden sich
Rechtsverhältnisse der Staatsbürger 107 , Rechte der Staatsbürger 108 , Rechte der Landes-
angehörigen109, auch einfach Rechte110 , oder es wird die den staatlichen Zusammen-
halt betonende Stammesbezeichnung aufgenommen: Staatsbürgerliche und politische
Rechte der Badener, Re.chte ... der Hessen 111 . In Nassau, das bereits am 2. September
1814, also vor Inkrafttreten der Bundesakte, eine Konstitution erhielt, werden die
einzelnen Rechte zwar in der Präambel aufgeführt, es erscheint auch die Berufung
auf die bürgerliche Freiheit 112 und politische Gleichheit, aber eine Sammelbezeichnung
findet sich nicht.
Diese Rechte werden in der Regel als 'allgemeine' bezeichnet, gegenüber den „be-
sonderen Vorzügen" einzelner Stände, des Adels, der Standesherren, usw.
Nicht in einer einzigen Verfassung findet sich mehr ein Anklang an naturrechtliche
Begriffe, die uurch die RevuluLiurn;zeiL kunumpiel'L el'!lchienen. Die Bel'ufung auf
'Menschenrechte' wird völlig vermieden 113 . Aber auch die Bürgerrechte spielen
keine Rolle; nur gelegentlich werden in den Materialien noch die persönliche Freiheit
und die bürgerlichen Rechterv. angesprochen. Häufiger ist von den Rechten der
„StaatBbürger" die Rede, die freilich mit den revolutionären abstrakten „Bürger-
rnr.htr.n" nir.htR mr.hr e;r.mr.in hahr.n, Rflt,r.r.n Rifl rlor.h rlr.n Rtr.tR r.ine;ane;R rlr.r hr.trr.ffän-

1820; Sachsen-Coburg-Saalfeld 8. 8. 1821; Sachsen-Meiningen 4. 9. 1824 u. 23. 8. 1829; zu-


vor schon Nassau 2. 9. 1814; eine zweite Gruppe, die nach den Unruhen des Jahres 1830
zugestanden wurde: Schwarzburg-Sondershausen 28. 12. 1830; Kw·hessen u. 1. 1831;
Sachsen-Alt.enburg 29. 4. 1831; Sachsen 4. 9. 1831; Braw1schweig 12. 10. 1832; Hannover
26. 9. 1833. Sämtliche Texte bei KARL HEINRICH LUDWIG PÖLITZ, Die eurnpäischen Ver-
fassungen seit dem Jahre 1789, Bd. 1/1 u. 2 (Leipzig 1832). ·
105 So in Hannover 1819, Sachsen-Hildburghausen, Sachsen-Meinigen 1824 (anders 1829),
Schwarzbw·g-Sundershausen, Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe, Waldeck.
108 Sachsen, Hannover 1833, Kurhessen, Sachsen-Meiningen 1829, Sachsen-Altenburg,
Sachsen-Weimar-Eisenach (im Anhang: Landständische Rechte der Unterwnen und Rechte
der einzelnen Swatsbürger), Braunschweig.
107 Württemberg: Verfassungsurkunde v. 25. September 1819, Kap. 3.
108 Sachsen-Coburg-Saalfeld: Verfassungsurkunde v. 8. August 1821, Tit. 2.
109 Hohenzollern-Sigmaringen: Entwurf der Verfassungsurkunde v. Jahre 1832, Tit. 2.
110 Dayern.
111 Großherzogtum Hessen.
112 Patent vom 1./2. September 1814 des Großherzogtums Nassau, PÖLITZ, Verfassungen,
Bd. 1/2, 1009. Diese wird auch sonst angesprochen: Präambel des Kurhessischen Staats-
grundgesetzes v. 5. 1. 1831; Sachsen-Coburg-Saalfeld, .Dekret v. 16. 3. 1816 (Vernünftige
Freiheit im Handeln, Reden und Schreiben); Griindung und Entwicklung der wahren bürger-
lichen Freiheit durch die württembergische Verfassung, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/2, 373.
11 9 Auch in der zeitgenössischen Literatur werden 'Menschenrechte' kaum noch angespro-
11h1m; rliA „Ribliot.hr,r,n inrklirn1." ffrr 1750 bis 1876 von 'J'm11onoR. ClIB.TRTTAN FRrnnR.
ENSLIN /WILHELM ENGELMANN / GusTAV WILHELM WuTTIG /LUDWIG Rossl!ERG (Ndr.
Aalen 1968) verzeichnet bis 1848 keine Monographie über Menschenrechte; BROUKHAUS
bis 9. Aufl. (1844), Ensorr/Gnumm, Rhein. Conv. Lex., WmsKE enthalten kein Stichwort
„Menschenrechtc", bei RoTTEOK/WELOKER erscheint es erstmals im SuppL z. 1. Aufl., 1847.
114 Rede König FRIEDRIOHS I. von Württemberg v. 15. 3. 1815, PöLITZ, Verfassungen,

Bd. 1/1, 366.

1071
Grundrechte II. 7. Die ,,Rechte" im deutschen Frühkonstitutionalismus

den Kataloge geregelten Indigenat voraus11 5 • Auch die Stellung der Untertanen-
rechte in den Verfassungen kann nicht mehr den Eindruck hervorrufen, als baue sich
auf ihnen das Staatswesen auf116 • Nirgends erscheinen sie an der Spitze, vielfach117
erst in späteren Abschnitten 118 , in Sachsen-Weimar erst im Anhang. Auch die Aus-
sagen über das Verhältnis des jeweiligen Verfassunggebers zu den Untertanenrech-
ten lassen nicht den Schluß auf die Anerkennung von deren vorstaatlicher, natur-
rechtlicher Legitimation zu. Am ehesten läßt sich eine solche noch aus der Nassauer
Verfassung herauslesen, wo immerhin von der möglichsten Sicherung der bürgerli-
chen Freiheit der Untertanen und der Aufrechterhaltung der politischen Gleichheit
derselben die Rede ist. Doch wird daran anschließend gleich auf die gesetzgeberische
Enthaltsamkeit hinsichtlich der einzelnen Freiheitsaspekte hingewiesen, der An-
spruch auf die Zulässigkeit von Beschräukungen also aufrechterhalten. Überdies
hat das Beispiel von Nassau keine Nachfolge gefunden. In den meisten Staaten er-
sc.heinen die UuLurtanenrechte erat o.lo durch die Verfo.ßßung gcwährt 1 rn oder z·uge-
sichert120. Auch wo die Verfassung nur aussagt, daß die Untertanen jene Rechte
haben 121 , kann darin allenfalls ein Kompromiß gesehen werden. Einige Verfassungen
anerken.nen Jie Untertanenrechte 122 oder sprechen davon, diese nicht beschränken
oder sie aufrecht erhalten1 23 , bewahren 12 4, sichern 125 zu wollen. Hier wird 11war eine
Bindung des Verfassungsgebers angesprochen, die aber nicht naturrechtlicher, vor-
staatlicher Herkunft ist, sondern das „alte Recht", die „Rechte und Freiheiten" 126
des dualistischen Ständestaats meint. Diese „alten Rechte" wurden gegen das mo-
narchisch-absolutistische Prinzip ins Feld geführt, das vor allem in den Rheinbund-
Staaten durch die napoleonische Bundesgenossenschaf(, kompromittiert war 127 •

115 Gleichwohl erseizie Großherzog KARL VON BADEN den von seinem Vorgänger ver-

wandten Begriff 'Staatsbürger' rlurr.h 'Untertanen', PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 460.
116 Eine Ausnahme macht Nassau, wo bürgerliche Freiheit und politi8che Gleichheit als die

beiden St-ützpunkte der Verfassung bezeichnet werden, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/2, 100!:1.
117 Anders nur in Baden (II), Sachsen-Coburg (Tit. 2), Sachsen-Meiningen (1829, Tit. 2),

Braunschweig (Kap. 2, 3), Nassau (Präambel); eine hervorragende Stellung ist den Unter-
tanenrechten in Sachsen-Altenburg (Abt. 2) eingeräumt.
118 Bayern, Tit. 4; Sachsen, Abschn. 3; Hannover 1831, Kap. 3; Württemberg, Kap. 3;

Kurhessen, Abschn. 3; Gi·ußherwgtum Hessen, Tit. 3.


119 Bayern, Tit. 4, § 8; Sachsen, § 29; Sachsen-Coburg-Saalfeld, Dekret v. 16. 3. 1816,

PöLITz, Verfassungen, Bd. 1/2, 795; Braunschweig,§§ 29. 32.


120 Großherzogtum Hessen, Art. 22.
121 So im Entwurf einer Verfassung f. Württemberg v. 1815; Baden, Sachsen-Altenburg.
122 Sachsen-Weimar-Eisenach, Anhang: anerkennen und geBetzlich begründen; Hannover,

Deklaration v. 11. 5. 1832 (PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 336), während die Pressefrei-
heit bei1,illiut wird.
123 Hannover 1833, Kap. 1, § 3.

124 Kurhessen, Präambel.


125 Kurhessen, Präambel; Württemberg, Rede des Königs v. 15. 3. 1815, PÖLITZ, Verfas-

sungen, Bd. 1/1, 366.


126 Diese Formel findet sich in Hannover, Deklaration v. 11. 5. 1832, PöLITZ, Verfassungen,

Bd. 1/1, 336; Württemberg, 1819, Präambel.


127 Vgl. dazu SOLMS-LAUBACH an Stein (13. 8. 1814): Von allen Seiten kommt da8 Gerücht,

als wollten die deutschen Souveräne vor dem Gewitter läuten und ihren Untertanen noch vor
ZU8ammenberufung des Wiener Kongres8es Verfassungen geben. Andere Umstände machen

1072
II. 7. Die „Rechte" im deutschen Frühkonstitutionalismus Grundrechte

Besonders nachdrücklich beriefen sich die Stände des Herzogtums Württemberg


auf die durch die Weisheit der Väter aufgerichtet und ausgebildet, ... Jahrhunderte
hindurch bewährt gefundenen ... constitutionellen Verhältnisse 128• Das nicht nur in
Württemberg, hier aber mit Erfolg 129, von den Ständen geltend gemachte Mitwir-
kungsrecht bei der Errichtung einer „paktierten" Verfassung war Ausdruck eines
am Dualismus Herrscher-Stände festhaltenden Staatsverständnisses 130.
Eine solche Verfassung schien zunächst im Einklang zu stehen mit Art. 13 der Bun-
desakte, der landständische Verfassungen für alle Bundesstaaten angeora:net hatte.
Tatsächlich wurde auch vielerorts versucht, an die alten Landstände bei der Ein-
führung neuer Verfassungen anzuknüpfen. Dafür sind nicht nur die „paktierten"
Verfassungen ein Beleg, sondern auch die in einigen Verfassungen angedeutete
Respektierung alter „Rechte und Freiheiten". Schließlich kann auch die überall
entweder im Verfassungstext selber oder aber wenigstens in den Materialien anzu-
LniJiernle Bezeichnung 'Grwidgesetz' die Ableitlmg von· 'le:x: fundament.aliß' 131
nicht verleugnen. Der Begriff 'landständische Verfassung' erwies sich j!:idoch sehr
bald als mehrdeutig. Eine einfache Wiederbelebung der altständischen Verhältnisse
konnte wegen der großen Gebietsveränderungen, die zu Staaten unterschiedlichster
landschaftlicher Vorgeschichte geführt hatten, auch in der Bundesakte nicht ge-
meint sein. Nach Rheinbundzeit, Bauernbefreiung und Befreiungskriegen kam eine
auf einzelne Untertanengruppen beschränkte Ständevertretung nicht mehr in Be-
tracht. Ein entsprechender Begriffswandel zeigt sich in den Verfassungen der deut-
schen Bundesstaaten. An di\l Stelle des Dualislllus Herrscher - Landstände ist nun
die Beziehung Staat - Untertan getreten. Der Staat gewährt oder sichert die Un-
tertanenrechte132. Diese Rechte sind „allgemeine", sie stehen allen Untertanen zu,
allen Hessen, Bayern, Württembergern usw., 'jeder', 'niemand' sind überall wieder-

diesen Machiavellismus wahrscheinlich, und so scheint es mir keinem Zweifel unterworfen, daß
man unter dem Schein der Freiheit das alte Werk so vi!',l als möglich erhalten und den Usur-
pationen des Rheinbundes noch durch Heuchelei die Krone aufsetzen wolle ... Wer die Theo-
rien unserer Staatsrechtslehrer kennt, wird gl',wiß solchen silßklingenden Worten nicht trauen!
Alle lehren mehr oder weniger die Veränderlichkeit des St,aatszwecks und eignen dem Regenten
das Recht zu, nach den Umständen die Verfassung zu modifizieren, STEIN, Br. u. Sehr., Bd. 5,
111 f. (Nr. 118).
128 C. H. PFAFF, Actenmäßige Geschichte der Verhandlungen der .württembergischen
La11dstände, nebst einigen politischen Detrachten, Kieler Dll. 1 (1815), 177. Zum Kampf
um das alte, gute Recht W .ALTER GRUBE, Der Stuttgarter Landtag 1457-1957 (Stuttgart
1957), 489ff.; ERWIN HöLZLE, Das Alte Recht und die Revolution (München 1931).
129 Das königliche Verfassungsprojekt v. 15. 3. 1815 blieb unausgeführt, ebenso wie das
v. 3. 3. 1817. In Kurhessen führte der ständische Mitwirkungsanspruch zur Suspension des
Projekt.es v. 16. 2. 1816, PÖLITZ, Verfassungen, Brl. 1/1, 559 ff.; „Pakt.ierte" Verfassungen
erhielten Sachsen-Weimar-Eisenach 1816, Waldeck 1816, Sachsen-Hildburghausen 1818;
nach 1830: Sachsen 1831, Kurhessen 1831, Sachsen-Altenburg 1831, Braunschweig 1832,
Hannover 1833.
130 In Kurhessen verband sich damit der Protest der Altständischen gegen die „Ein-
impfung" des Bauernstandes als dritte Kurie und gegen die Aufhebung der Patrimonial-
gerichtsbarkeit, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 555 f.
131 Staatsgrundgesetz (lex fundament,alis) bereits bei GOTTLIEB HuFELAND, Institutionen
des gesammten positiven Rechts oder systematische Encyklopädie, § 157 (Jena 1803).
132 Bayern, 'l'it. 4, § 8; Württemberg, § 24.

l073
Grundrechte II, 7. Die „Rechte" im deutschen 1''rühkonstitutionalismus

kehrende Termini. Dem Inhalte nach ist jedenfalls die „Gleichheit vor dem Gesetz"
kein Vermächtnis des dualistischen Ständestaates, aber auch „bürgerlir.he Freiheit"
und „Denk- und Gewissensfreiheit" haben ihre Ausprägung erst in der Zeit des
A bimlutismus. erfahren. Die Landstände selbst werden nun als Vertreter der sämt-
lichen Untertanen 133 , aller Klassen 134 , aus allen Klassen der ... Staatsbürger hervor-
gehende135, allgemeine Ständeversammlung 136 angesprochen. Auch die Verwendung
des Begriffs der Repräsentation 137 in bezug auf die Landstände 138 weist in diese
Richtung. Die Wahl von Abgeordneten auf Zeit, jedenfalls wo sie auf alle Kurien
erstreckt wird 139, entspricht nicht altständischen Prinzipien und noch weniger die
Zusammenfassung des Landtages in einer Versammlung unter Beseitigung der
Kurien140, die mit der Vertreterfunktion jedes einzelnen Landtagsmitgliedes für die
Gesamtbevölkerung begründet wird141 . Drückt sich hier das Repräsentationsprinzip
aus, so ist daneben auf einen zwar auch der Zeit des „ancien regime" geläufigen, nnn
aber in einigen Verfassungen eine politische Dimension gewinnenden Begriff hinzu-
weisen, nämlich den des Volkes. Zunächst freilich erscheint das Volk nur als Adres-
sat monarr.hiRr.her Rrklä.rnngen, wenn in den Präambeln süddeutscher Verfassungen
von Unserm V olk142 oder dem Volk der Bayern die Rede ist. Doch sehr bald schon
gewinnt der .Hegriff politisch-rechtliche Dedeutung: Rn, wenn der König von Würt-
tf'1mberg am 15. März 1815 die versammelten Stände als Fü.rr.tnlfl„ Grafen„ Edle, Die-
ner der Religion, gewählte Stellvertrete:r des Volkes anrede L143 • Wird hier 'Volk' zur
Bezeichnung des dritten Standes, so heißen die Landstände in Schwarzburg-Ru-
dolstadt gemeinsam Repräsentation des Volkes 144 , und in Sachsen-Weimar145 wie in

133 Sachsen-Coburg, Dekret v. 16. 3. 1816, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/2, 71:!6.
184 Bad1m, R.eskript v. 16. 3. 1816, PÖLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 460.
135 Bayern, Präambel.
136 Hannover, Deklaration v. 11. 5. 1832, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 343; ähnlich

Braunschweig, Verordnung v. 25. 4. 1820, § l, PÖLITZ, Verfassungen, Bd. 1/2, 914.


137 Waldeck, Abschn. 2: Die Repräsentation unserer Untertanen.
138 Zum Begriff der Repräsentation grundlegend KARL v. RoTTECK, Ideen über Landstii.n-

de (Karlsruhe 1819).
139 So teilweise in Baden, §§ 27. 33. 34.
140 Sachsen-Coburg 1821, §§ 34. 35; Sachsen-Meiningen 1824, § 48; Schwarzburg-Rudol-

t!Laut, Verordnung v. 8. 1. 1816, Art. 1; Kurhessen, Entwurf 1816, Kap. 3, 1 ff.; nach 18aO
vor allem Sachsen-Altenburg1831, § 162; Braunschweig 1832, § 60.
141 So schon in Kurhessen, Entwurf 1816, Kap. 3, 1; noch deutlicher Sachsen-Altenburg

1831, § 199: Die Landstände sind im allgemeinen verpfiichtet, die Interessen aller Klassen und
Stände der Untertanen zu vertreten und nicht das Interesse des einzelnen Standes oder Bezirks,
dem sie nach ihrem sonstigen Verhiiltnis angehören. Ähnlich Braunschweig, Motive zur revi-
dirten Landschaftsordnung v. 30. 9. 1831, Tit. 1, Abschn. 1, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/2,
951.
l42 Württemberg, Manifest v. 11. 1. 1815, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 362; Baden 1818;
auch Großherzogtnrn Hessen, Edikt v. 18. 3. 1820, Art. 16, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/2,
674; später Kurhessen 1831, .Präambel.
143 PÖLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 366.
14 4 Verordnung v. 8. 1. 1816, Art. 1, PöLITZ, Verfassw1geu, Bu.1/2, 1064f., später auch in

Sachsen, Dekret v. 1. 3. 1831, PöLITZ, Verfassungen, Bd. 1/1, 201 belegbar.


145 1816, § 6.

1074
D. 8. Die „Grundrechte des deutschen Volkes" von 1848 Grundrechte

Sachsen-Meiningen146 erhalten sie die bereits juristisch-technische Bezeichnung als


Volksvertreter.
In Kurhessen scheint mit dem Versprechen, dem Volke seine bürgerlichen Freiheiten
zu bewahren, der auch der zeitgenössischen Literatur nicht fremde Begriff 'Volks-
freiheit'147 angesprochen; damit werden verfassungsmäßige Freiheitsgarantien an
die Bürger bezeichnet, gelegentlich mit archaisierender Tendenz. Neben 'Volksfrei-
heit' erscheinen aber bereits 'Re<;ihte des Volkes' 148, 'Volksrechte'. Dabei ist nicht
ausgeschlossen eine Anlehnung an die rights made by the representation of the good
people of Virginia 149 , the People of the United States 150 , auch den peuple fram;ais der
Präambel der Declaration von 1789151 . Die neue politische Bedeutung des Begriffs
'Volk' in der Verbindung mit 'Rechte' aber definiert RoTTECK 1819152 : Dagegen sind
die Stände selbst, ihrem Begriff und Wesen nach, immer demokratisch, weil sie eben die
Volksrechte (die ausdrücklich oder stillschweigend vorbehaltenen und die unveräußer-
iiclten) gegenüber der Regierung vertreten müssen.
Ist hier auf der einen Seite die Menschenrechtsdoktrin mit dem neuen Begriff
'Volksrechte' verbunden, so liegt auf der anderen Seite damit eine Wurzel für das
demokratische Verständnis der „Grundrechte des deutschen Volkes" von 1848 zu
'l'age.

8. Die „Grundrechte des deutschen Volkes" von 1848

Mit der Berufung rles „rleutschen Volkes" in den Frankfurter Grundrechten von
1818 wurde neben dem demokratischen Ansatz auch das Strobon naoh nationaler
Ji]in heit, 11.ngeRpror,hen, rleRRen UnterRtiitzung man sich vom Grundrechtskatalog
erhoffte. Daher wurue ilie ÜberschrifL zu Art. 4 des „Entwurfes des deutschen
Reichsgrundgesetzes" vom Siebzehner-Kollegium statt der von seinem Verfassungs-
11.1rnsch11ß vorgeschlagenen <hundzüge der Verfassung der einzelnen Staaten auf An-
trag DHLANDS in Grundrechte des deutschen Volkes geändert153 ; auch die Präambel
(§ 130 RV) unterstrich das, wenn sie die Grundrechte zur Norm für die Verfassungen
der deutschen Einzelstaaten erhob. Wieder dienen diese „Rechte" zur Konstitu-

146 1824, Abschn. 4 (Überschrift),§§ 15. 54.


147 Vgl. etwa PF.AFF, Verhandlungen der württembergischen Landstände, Kieler Bll. 1
(181.'S), 201, bezogen auf die Rechte der württembergischen Landstiirn.le; BROCKHAUS lii1:1
9. Aufl. (1844), in der 10. Aufl. verschwunden; ferner Rhein. Conv. Lex. (1830).
148 PF.AFF, Verhandlungen der württembergischen Landstände, Kieler Bll. 1, 201.
149 Von GÜNTHER FRANZ, Staatsverfassungen, 2. Aufl. (München 1964), 7 ganz unzuläng-

lich übersetzt mit „Bevölkerung von Virginia".


160 Verfassung der USA v. 17. 9. 1787, Präambel.
151 Auch bei BROCKHAUS (bis 9. Aufl. 1844) ist unter 'Volksfreiheiten' auf die Verfassungen

l!Jngtands, lt'rankreichs und vieler deutscher Staaten mit ihren Rechtegarantien verwiesen,
z.B. ebd., 7. Aufl., Bd. 11 (1827), 767.
~ 52 R.0•1"r1mK, TnAAn ilhAr T.ann11fä,nnA, fl. 7.n R.ot.t.er.k R. HoRR'I' °RRMKF., Karl von Rotteck,
der „politische Professor" (Karlsruhe 1964).
153 RUDOLF HÜBNER, Der Verfassungsentwurf der siebzehn Vertrauensmänner, Fschr.

EDUARD RosENTHAL,hg. v. d. Jur. Fakultät der Universität Jena (Jena 1923), 132;JonANN
GUSTAV DROYSEN, Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Na-
tionalversammlung, aus dem Nachlaß hg. v. Rudolf Hübner (Berlin, Leipzig 1924), 7~ ff.

1075
Grundrechte II. 8. Die „Grundrechte des deutschen Volkes" von 1848

ierung des einen Volksganzen als Ve:rfass11ng111mhjekt, hir,r frnilir.h mit de.r be.son-
deren Aufgabe, die gliedstaatlichen Schranken zu überwinden.
Weniger eindeutig läßt sich die Wahl der Bezeichnung 'Grundrechte' erklären. Daß
dieses Wort 1818 bereits eine allgemein geläufige Bedeutung gehabt hätte, ist aus-
zuschließen. Im deutschsprachigen Bereich gebrauchte es 1824 MITTERMAIER,
später Präsident des Vorparlaments; einmal mit Bezug auf jene Rechte, _die den
Bürgern in den Bundesstaaten zugesichert seien und ihnen wegen der Verankerung
in Art. 18 Bundesakte nicht entzogen werden könnten 154 , aber er kommt später
selbst nicht darauf zurück 165 • Lexikalisch nachweisbar wird der Begriff einmal
184615 6 • Auch der Rückgriff auf einen in Frankreich oder im angelsächsischen Be-
reich gebräuchlichen Terininus ist wenig wahrscheinlich. Zwar ist der Ausdruck
'droits fondamentaux' in Frankreich bereits 1770 anzutreffen 157 , er gewinnt aber
dort selbst keine verfasi:mngsrnr.htlichr, Relevanz und spielt bei den Verhanillnngr,n
über die „Declaration" von 1789 keine Rolle. Auch die dispositions fondamentales
der Constitution von 1791 finden in 'Grundrechte' keine zutreffende Übersetzung:
Größere Verwandtschaft besteht zu den rights . . . as the basis and foundation of
government der Virginia Bill von 1776; aber auch hier ist ein direkter Zusammenhang
nicht nachweisbar, wenn auch gelegentlich auf die amerikanischen Rechteerklärun-
gen bei den Vcrhandlungc.n von 1848 Bezug genommen wurde 168 •
Erstmals VENEDEY gebrauchte am 3. April 1848 im Vorparlament den Ausdruck
'Grundrechte' 169, ohne daß iliet:ier Terminut:i damals schon vön einem anderen Mit-
glied aufgenommen worden wäre; vielmehr werden nebeneinaniler verwandt die
Bezeichnungen Feststellung und Grundlage von Freiheit und Sicherlieit160 , Rechte des
Volkes 161 , Rechte einer Nation 162 , Menschenrechte, frilrgerb:che nni/, politische Rechte163 ,
deutsche Bürgerrechte164 , Grundgesetz für Freiheit und S·icherhe-it 165 ; t:ichon vorher
hattr, JAUP die Rechte als das geringste Maß der wesentlichen Volksrechte 166 bezeich-
net. Das Vorparlament empfahl schließlich jedoch, unter dem Titel „Grundrechte

rn 4 C.A.RL JOSEF ANTON MlTTERMAIER, bezeichnenderweise zum Stichwort „Bürgerrecht",


ERScH/GRUBER 1. Sect., Bd. 13 (1824), 366 f.
166 Bei der Erörterung der politischen Freiheit in§ 45 seiner „Grundsätze des Privatrechts"

spricht er nur noch von ue11 Vvrrecltten e·ines Staatsb·Urgers, der Mchsten Rechtsfti,higkeit,
stciatsbürgerlicher Freiheit, M!TTERMAIER, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts
mit Einschluß des Handels- Wecluiel- unu Seerechts, 3. Aufl. (Landshut 1827), 115 f.
166 WIGAND Bd. 2 (1846), auch dort aber unter 'Bürgerrecht'.
167 Bei dem Physiokraten LE MERCIER DE LA RIVIERE, L'interet general de l'etat ou la

liberte du commerce des Bles (Amsterdam, Paris 1770), 27 f.; ÜESTREICH, Menschen-
rechte und Grundfreiheiten, in: Die Grundrechte, Bd. i/1, 1 ff., bes. 55 (s. Anm. 2).
168 z.B. VON LEUE im Vorparlament, FRIEDRICH SIEGMUND JucHo, Verhandlungen deR

deutschen Parlaments, 2. Aufl. (Frankfurt 1848), 1. Lfg., 147.


m Ebd., 141 f.
10 " 1lor,m-nus, ebd., 14.4..

161 BLUM, ebd., 145.

lOE MORIZ MOlIL, ebd., 146.


163 HELDMANN, ebd., 147.
164 GAGERN. cbd., 160.
165 CoLONrus, ebd., 170.
168 JAUP, ebd., 134.

1076
Il. 8. Die „Grundrechte des deutschen Volkes" von 1848 Grundrechte

und Forderungen des deutschen Volkes" bestimmte Grundrechte als geringstes Maß
deutscher Volksfreiheit aufzustellen 167 . Die Grundrechte werden dann auch im Ver-
fassungsentwurf der 17 Vertrauensmänner erwähnt168, und auf Antrag Uhlands
erhielt am 20. April 1848 Art. IV des Entwurfs die Überschrift „Grundrechte des
deutschen Volkes" 169. Neben den ebenfalls häufig verwandten Begriffen Volksfrei-
heit't70, Volksrechte171 und Freiheitsrechte 172 erlebten die 'Menschenrechte' eine Re-
naissance173; als einige und unveräußerliche Menschenrechte 174 , allgemeine Menschen-
rechte175, Rechte der Menschen und Bürger 17 6 spielten sie eine nicht unerhebliche
Rolle in den Verhandlungen177 , auch unter Bezugnahme auf die amerikanischen
und französischen Rechteerklärungen 178, und auch die Vorstellung unveräußerlicher
Volksrechte1 79 war naturrechtlich geprägt18 0. Der Mehrheitsauffassung entsprach
freilich der nachdrückliche Widerspruch, den die vorstaatliche Herleitung der als
zu doktrinär und abstrakt erscheinenden „Rechte" bei Beseler, Michelsen und Ve-
ncdcy fond 181 .
Doch bedeutete die Verwendung der Bezeichnung 'Grundrechte' auch nicht bereits
die Verneinung vorstaatlicher Legitimation 182 , sondern besagte nur etwas über die

lOT Ebd., 173 f.


168 § 2, Abs. 2: gewisse Grundrechte und Einrichtungen, § 24.
1 6 9 DROYSEN, Aktenstucke und Aufzeichnungen, 72 ff.

170 JucHo, Verhandlungen, Einführung z. 1. Lfg., III. V.


171 BIEDERMANN: Rechte des Volkes, eine Art Magna charw für das deutsche Volk, ebd.,

1. Lfg., 130; JAUP: Wesentliche, allgemeine VollcBrechte, ebd., 134. 143; WELCKER, ebd.,
138; Proklamation des Fünfziger-Ausschusses v. 6. 4. 1848, ebd., 2. Lfg., 503.
172 HAirlAlh11rg11r Progra.mm, TV, fi: Verbür(J1tn(J der nationalen Freiheitsrechte, zit. JUCHO,

Verhandlungen, 1. Lfg., l; MITTERM.AIER, ebd., 136.


173 Auch in den Lexika schlägt diese sich nieder; während BROCKHAUS 9. Aufl. (1844) das

Stichwort nicht bringt, taucht es in der 10. Aufl. wieder auf; ähnlich bei ROTTECK/
WELCKER: erst seit dem Suppl. zur 1. Aufl. (1847) aufgenommen.
174 STRUVE im Vorparlament, zit. JucHo, Verhandlungen, 1. Lfg., 7; vgl. auch die „For-

derungen des Volkes von Baden", zit. RuvoLJf RoSK.lll, Die Entwicklung der Gi·undt·echte
des deutschen Volkes (phil. Diss. Greifswald 1910), 17 ff.; Offenburger Programm v. 10. 9.
1847, Art. 1, abgedr. in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hg. v. ERNST
RUDOLF HUBER, Bd. 1(Stuttgart1961), 261.
176 M. MoHL, zit. JucHo, Verhandlungen, 1. Lfg., 146.
17 R LEUE, ebd., 147.

177 Dazu ERNST EcKHARDT, Die Grundrechte vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart

(Breslau 1913), 85 ff.


178 LEUE, zit. JucHO, Verhandlungen, 1. Lfg., 147.
179 Proklamation des Fünfziger-Ausschusses v. 6. 4. 1848, zit. ebd., 2. Lfg., 503; vgl. auch

Anm. lfi8. 171.


180 Von KARL DAVID AUGUST RÖDER, Mitglied des Vorparlaments, erschien noch 1860

„Grundzüge des Naturrechts", 2. Aufl. (Leipzig, Heidelberg) und von HEINRICH AHRENS,
Mitglied der PaulRkirchenversammlung, 1870 (Wien) in 6. Aufl. „Naturrecht"; zu letzte-
rem auch ÜESTREICH, Menschenrechte und Grundfreiheiten, 75.
181 EvKHAlW'l', Grundrechte, 94 ff.; zu Beseler Ü'1"1'0 Pül:'l:'.lllLMANN, Geurg Beseler und seine

Tätigkeit für die Grundrechte des deutschen Volkes im Jahre 1848 (Greifswald 1907).
182 Vgl. die gelegentliche Identifizierung von Grund- und Menschenrechten, wie MANZ

Suppl. Bd. 1 (1849), 703, s. v. Grundrechte: in der ersten französischen Revolution nannte man
die Grundrechte „M enschenrechte". Im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung

1077
Grundrechte II. ß. Die „Grundrechte des deul!!ehen Volkes" von 1848

iumm1LaaLliuhe FuukLiuu, :;u uaß.'Grurn.lreuhte' allen Seiten als Bezeichnung an-


nehmbar sein konnte 183, was die schnelle Akzeptierung dieses Ausdrucks erklären
mag.
Der ebenfalls oft gebrauchte Terminus 'Volksrechte' ging ohnedies in die „Grund-
rechte des deutschen Volkes" ein. Dabei mochte die syntaktische Hervorhebung
der Worte 'deutschen Volkes' wohl schon stilistisch dazu veranlassen, auch den
Rechten eine stärkere Betonung zu verleihen, eben durch die Bezeichnung als
'Grundrechte'. .
Über die Vorstellungen, die sich mit dem .Begriff 'Grundrechte' verbanden, läßt sich
nur undeutlicher Aufschluß gewinnen. In einer THEODOR MoMMSEN zugeschriebenen
Erläuterung von 1849 184 werden die Grundrechte bezeichnet als solche Rechte, welche
notwendig erachtet sind zur Begründung einer freien Existenz für jeden einzelnen deut-
schen Bürger, eines fröhlichen Aufblühens all der großen und kleinen Gemeinschaften
innerha./.b der deutschen Grenzen.
Dieses Verständnis der Grundrechte als Basis freier Existenz und Entwicklung ge-
stattete es, auch Gemeinden „Grundrechte" zuzusprechen, wie das in Art. XI § 184
RV geschah185.
A11kli11gtm uürfLe iu ueu Gruudrechten daneben die herkömmliche und in allen Bun
desstaaten üblich gebliebene Verfassungsbezeichnung 'Grundgesetz' 186. Darauf deu-
tet hin, daß die Rechteerklärung einmal auch Grundgesetz, welches die Freiheit und
Sicherhei,t der Personen und ihres Eigentums ... verbürgt 187 , genannt wurde. Nicht
rührt die Bezeichnung 'Grundrechte' her von dem Bestreben, ilie1:1e Rechte zum
Fundament der Reichsverfassung zu machen, das Reich etwa auf rlen Zwmik der
Individualrechtssicherung zu beschränken. Insoweit sind die Grundrechte mit der
Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 nicht zu vergleichen. Auch
die Vorabverkündigung der Grundrechtserklärung vom 27. Dezember 1848 ent-
sprach allenfalls einem prin7.ipiellen Anliegen der Linken, das von der Mehrheit nicht
geteilt wurde 188 ; die Gegner einer Grundrechtserklärung sahen dariu uur Pupulari-
tätshascherei189. Die Einbeziehung des Grundrechtskatalogs in Abschnitt VI der

bedeuteten die Grundrechte für Welcker und die Linke Menschenrechte, wahrhafte leges
sacratae, unzerstörbare Unrechte des Volkes, DRoYSEN, Verhandlungen des Verfassungsaus-
schusses der deutschen Nationalve!'samrulung (Leipzig 1849), 4 f.;. H.l!:ltßJ!llt'l' A:it'l'HUlt
STRAUSS, Staat, Bürger, Mensch (Aarau 1947), 33.
183 HEINRICH KüNSSBERG, Gegne!' de!' G!'unu!'echl.e, wa1-f allerdings der Linken vor, mit

ihrem Satz, der moderne Staat wolle „statt der Freiheiten die Freiheit, statt der Rechte das
Recht gewähren", setze sie sich in argen Widerspruch zu der Überschrift „Grundrechte",
Das deutsche Verfassungswerk 1848 (Frankfurt 1849), 23.
184 Erstausgabe anonym: Die Grundrechte des deutschen Volkes. Mit Belehrungen und

Rrlii.ut.erungen (1849; Ndr. Frankfurt 1969), 7 mit Nachwort v. LoTILIB WICKERT.


185 In der Erklärung der Grundrechte v. 27. 12. 1848 fehlten dieser und die folgenden Art.

XII bis XIV.


186 Auch das Hutacht,im· der Siebzehner-Kommission an die Bundesversammlung legte

einen „Entwurf des deutschen Reichsgrundgesetzes" vor.


187 Abg. CoLONIUS, zit. JucHo, Verhandlungen, 1. Lfg., 171, der die Rechte allerdings auch

als Grundlage von Freiheit und Sicherheit anspricht, ebd., 144.


188 Dazu im einzelnen PÖPPEILMANN, Bcsclcr, 13 ff;. EcKHARDT, Grundrechte, 37 ff. 51.

58 f.; STRAUSS, Staat, Bürger, Mensch, 32 ff.


i•u KÜNSSBERG, Verfassungswerk, 20.

1078
II. 8. Die „Grundrechte des deut.11ehen Volkes" vou 1848 Grundrechte

Verfassung bedeutete schließlich eine Distanzierung von vorstaatlicher Legitima-


tion dieser Rechte und von llim1r flienenden Funktion der Reichsgewalt gegenüber
den Individualrechten. Zugleich wurde der Grundrechtskatalog damit der Möglich-
keit der Verfassungsänderung nach§ 196 RV mit unterworfen 190.
Die Bezeichnung 'Grundrechte' hat sich auch in den von Frankfurt beeinflußten
Verfassungsentwürfen durchsetzen können. Während die sog. Pillersdorfsche
Verfassung für Österreich vom 25. April 1848 nur staatsbürgerliche und polit1'.sche
Rechte der Staatseinwohner kannte, sprach der Kremsierer Entwurf von staatsbürge;-
lichen Grundrechten, die im Verlaufe der Beratungen zu Grundrechten des Österreichi-
schen Volkes wurden191 . Hier und bei der endgültigen Beschlußfassung im Reichs-
tage obsiegte die positivistische Auffassung; die naturrechtliche Herleitung, von
einer nicht unbedeutenden Minderheit gefordert, die Verankerung angeborener,
unveräitßerlichp,r Rechte, die ihre natürliche und notwendige Beschränkung in dem
gleichen Rechte jedes andern fänden und die nur im Rahmen des Staatszweck[,! au
den Staat übertragen seien, vermochte sich nicht durchzusetzen 192.
Der Entwurf der Erfurter Unions-Verfassung vom 28. Mai 1849 193 übernahm weit-
hin wörtlich die „Grundrechte des Deutschen Volkes" aus der Frankfurter Reichs-
verfassung. Allllrdings ww:de deren vereinheitlichende Wirkung erheblich abgo
schwächt. Die Modifikation nach den besonderen Verhältnissen blieb der einzel-
staatlichen Gesetzgebung vorbehalten(§ 128).
Die demokratisch-einheitsstaatliche Prägung, die der Grundrechtsbegriff im Revo-
lutionsjahr 1848/49 gefunden hatte, zeigt sich am deutlichsten in der Reaktion nach
dem Scheitern der Revolution. Hinfort wur<h1 dieser Degriff auch in solchen Ver-
fa.RR1mgen vermieden, die noch Rechte der Staatsbürger aufnahmen. Preußen
knüpfte mit den „Rechten der Preußen" der oktroyierten Verfassung vom 5. De-
zember 1848/31. Januar l 8fl0 wieder an die Terminologie des Vormärz an. Von den
flog. Grundrechten spricht der Bundesbeschluß über deren Aufhebung vom 23. August
1851 194, ebenso die österreichische Beitrittserklärung vom 13. Mai 1850 zum Vier-
königsbündnis, die diese Rechte als unvereinbar mit dem üOentlichen Wohle bezeich-
net195. Die Reichsverfassung für das Kaisertum Österreich vom 4. März 1849 hatte
bereits nur noch der Gemeinde Grundrechte (§ 33) zugesprochen, im übrigen ein all-
gemm:np,.~ ii.~tp,rreü:hisches Reichsbürgerrecht(§ 23) geregelt; durch Patent vom gleichen
Tage war ein Katalog von politischen Rechten in Kraft gesetzt worden. Diese Rechte
wurden am 31. Dezember 1851 wieder aufgehoben; nun erst, in flieRem negativen Zu-
sammenhang des Aufhebungspatentes, wurden sie als 'Grundrechte' bezeichnet.

190 Zum Verhältnis der Reichsgewalt und der Einzelstaaten zu den Grundrechten im ein-

zelnen.ECKARDT, Grundrechte, 96 ff.


191 So im Entwurf de~ KonstitutionsausschnRRAR nach der zweiten Lesung, veröffentlicht im

Extrablatt zur Abendbeilage der Wiener Zeitung vom 23. Dezember 1848 zu den öster-;
reichischen Grundrechten: OSWALD GSCHLIESSER, Zar Geschichte uer Grundrechte in der
österreichischen Verfassung, Fschr. zur Feier des 200jährigen Bestandes des Haus-, Hof-
und Staatsarchivs, hg. v. L. SANTIFALLER, Bd. 2. (Wien 1951), 44 ff.
192 Gegenüberstellung von Beschluß und Minderheitsvoten bei ALFRED FISCHEL, Die Pro-

tokolle des Verfassungsausschusses über die Grundrechte (Wien, Leipzig 1912), 187.
193 Abgedr. bei HUBER, Dokumente, Bd. 1, Nr. 177, S. 435 ff.

194 Ebd., Bd. 2 (Stuttgart 1964), Nr. 2, S. 2.


195 Ebd., Bd. 1, Nr. 180, S. 446 f.

1079
Grundrechte lli. Ausblick

III. Ausblick

Erst die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Bismarck.reiches bot wie-
der Veranlassung zu Initiativen, auch die Gliedstaaten übergreifende Grundrechts-
normen in die Verfassungsurkunden aufzunehmen. Nun zeigte sich aber, daß nur
noch wenig Neigung bestand, durch die Aufstellung abstrakter Grundrechte, deren
unmittelbare Anwendung durch die Gerichte nicht zu erwarten war, das Einigungs-
werk zu erschweren 196 • Ohnehin erschienen Grundrechtsgarantien von Reichs wegen
in Anbetracht der einzelstaatlichen Grundrechtsverbürgungen nicht als so dringend
wie 1848, und die Durchsetzung liberaler Forderungen in der Gesetzgebung des
Reiches 19 7 ließ auch hinfort die Aufstellung eines Grundrechtskataloges nicht mehr
als ~ordringlich erscheinen. Die letzte vergebliche Initiative unternahm 1871 rlas
Zentrum, das entsprechend der dem Reich zugefailenen Gesetzgebungskompetenz
auf dem Geliiet 11er Presse und des Vereinswesens. .Pressefreiheit, VersammlungR-
und Bekenntnisfreiheit sowie die Freiheit der Religionsgesellschaften in der Reichs-
verfassung verankert sehen wollte. Abgesehen von den Vorbehalten gegenüber
„ultramontan1m" Zügen der Zentrumsvorlage wurde dieser entgegengehalten, daß
damit nur ein kümmerlicher Teilbereich herausgegriffen werde, zudem für eine sol-
che Regelung kein Anlaß bestehe: ebenso wie man die Zensur verbiete, könne man
auch die Wiedereinführung der Folter grundrechtlich ausschließen 198 •
In der literarischen Behandlung der Grundrechte zeigt sich ein Zurücktreten natur-
rechtlicher Legitimation gegenüber der positivistischen Begründung, wenn auch
nicht selten eine private Freiheitssphäre als mit dem Wesen deR Staates oder des
Menschen notwendig verbunden betrachtet wird199 • Kennzeichen der positivisti-
schen Begründung ist das nun einsetzende Ilemühen um die juristische Einordnung
der Grundrechte 200 • Im Vordergrund steht dabei die Frage nach dem Rechtsschutz,
die der fortschreitende Ausbau der Verwaltungsrechtspflege nahelegte. Werden
dabei die Grundrechte von den einen als „objektive, abstrakte Rechtssätze über die

196 So der national-liberale Abg. TWESTEN im Norddeutschen Reichstag; vgl. ERNST BE-
ZOLD, Materialien der deutschen Reichsverfassung, Bd. 1 (Berlin 1873), 443. Zu den Grund-
rechtsverhandlungen des Norddeutschen Reichstages im übrigen EcKHARDT, Grund-
rechte, 12G IT.
197 Dazu ECKARDT, Grundrechte, 132 ff.
19 8 So dei· Abg. H. v. TREl'l'SU.HK.t.i am 1. 4. 1871 im Reichstag; Sten. Ber. Dt. Reichstag,

Bd. 1 (1871), 108.


199 ÜARL FRIEDRICH GERBER, Über öffentliche Rechte (Tübingen 1852), 75 f.; nach

FRIEDRICH JuLrus STAHL, Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/2: Die Staatslehre, 3. Aufl.
(Heidelberg 1856), 229 ergibt sich als absolute Anforderung an die Verfassung aus dem Wesen
des Staates die bürgerliche Freiheit, d. i. der Schutz und die Unabhängigkeit der Staatsbürger in
der Sphäre des individuellen Lebens, also der Schutz der Rechte, der allgemeinen Menschen-
rechte sowohl als auch der erworbenen Rechte. ]'erner JOSEPH HELD, Syl:!tem <l.es Verfassungs-
rechts der monarchischen Staaten Deutschlands, Tl. 1 (Würzburg 1856), 251 f. LuDwm
v. RÖNNE, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, 2. Aufl., Bd. 1/2 (Leipzig l 804 ), l ff„
Anm. 2 (§ 86) muß in Anbetracht der positiven Aussagen des ALR sich mit den allgemeinen
Menschenrechten auseinandersetzen, begreift darunter abei', wenn nicht positiv-gesetzlich
anerkannt, nur sittliche Normen ohne äußere Geltung (ebd„ 3, Anm. 1).
200 Vgl. die Zusammenstellung bei KuRT PFEIFER, Die Idee der Grundrechte in der deut-

schen Literatur von 1790 bis Georg Jellinek [1892] (Jena 1930).

1080
m. Ausblick Grundrechte

Ausübung der Staatsgewalt" charakterisiert201 , so sehen die anderen darin subjek-


tive öffentliche Rechte der Bürger 202 • In GEORG J ELLINEKS „System der subjektiven
öffentlichen Rechte" 203 erscheinen die Grundrechte dem status libertatis zugeord-
net, die Justizgrundrechte dem status civitatis.
Ob der Staat dem einzelnen Unrecht tun könne, jene alte Frage nach der öffentli-
chen Rechtsfähigkeit des Staatsbürgers, war der eigentliche Gegenstand dieses Mei-
nungsstreites, der sich noch vor dem Hintergrund der positiven Grundrechtsrege-
lungen in den deutschen Gliedstaaten entfalten konnte.
Einen umfassenden Grundrechtskatalog enthält wieder die Weimarer Reichsver-
fassung von 1919, Art. 109-165. Im Entwurf von HUGO PREUSS zunächst nur im
Ansatz vorgesehen, von anderen nicht. mehr für erforderlich gehalten, da man
Grundrechten eine Funktion nur im Obrigkeitsstaat, nicht aber in einem demo-
kratischen Staat zusprechen könne 204 , wurden die Grundrechte, deren Formulierung
vor 11llom o.uf Friedrich Nitunuwn, Konrad Haußmann, Adolf DüringP.r 1mfl K onrafl
Beyerle zurückgeht, schließlich doch aufgenommen. Herkömmliche Individual-
grnnflrer,hte stehen in diesem Katalog neben Festlegungen kulturpolitischer Z.iele
und sozialen Grundrechten. Diese Kombination entsprach der dem Grundrechts-
katalog zugedachten neuen Aufgabe: Im Zeichen der Volkssouveränität galt es
nicht mehr, in erster J,inie dem Individuum einen Freiraum gegenüber der Obrig-
keit zu schaffen - daher werden erstmals auch „Grundpflichten" aufgenommen-,
sondern gegenüber dem nun aufbrechenden parteipolitischen Pluralismus war eine
Interpretationsebene zu sichern, die als Grundlage eines neuen Staatsverständnisses
dienen konnte 205 • So stehen posit,ivn Rnnhtssiitze neben allgemeinen Staatsgrund-
201 GERBER, Öffentliche Rechte, 79; HETNRTCH AT;11F.R'l' 7.AOHARIAE, Deutsches Staats-
und Bundesrecht, 3. Aufl., Tl. 1 (Göttingen 1865), 443, Anm. l; PAUL LABAND, Das
St,aa.tsmcht des deutschen Reiches, Bd. 1 (Tübingen 1876), 149 (§ 15): Sie sin<l keine Rech-
te, denn Bie haben lcein Objekt; PmLIPP H. ZORN, Das Staatsrecht des deutschen Reiches,
2. Aufl., Bd. 1 (Berlin, Leipzig 1895), 371 ß'. (§ 13); CoNRAD BoitNHAK, Preußisches Staats-
recht, Bd. 1 (Freiburg 1888), 269 ff.; gegen den Schluß von der Klagebefugnis auf ein
subjektives Recht RUDOLF GNEIST, Der Rechtsstaat und die VerwaHung1:1gedchte in
Deutschland, 2. Aufl. (Berlin 1879), 271.
262 GEORG MEYER, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, § 217 (Leipzig 1878), 566 ff.;

ÜTTO v. GniRKE, Laband's Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Jb. f. Gesetz-
gebung, f. Verwaltung u. Volkswirtschaft, NF 7/4 (1888), 1133 ff. (Ndr. Darmstadt 1961,
36 IT.) uuu ~u Gierkes Kritik an Laband IluGo SrnzHEIMER, Jüdische Klassiker dor deut-
schen Rechtswissenschaft (Frankfurt 1953), 155 ff.; EDGAR LoENING, Lehrbuch des deut-
schen Verwaltungsrechts (Leipzig 1884), 12 ff.; THEODOR DANTSCHER v. KoLLESBERG, Die
politischen Rechte der Unterthanen, 1.-3. Lfg. (Wien 1888-92). Entwickelt wurde
der Begriff der öffentlichen Rechte parallel zu den Privatrechten erstmals von Gerber 1852.
263 GEORG J ELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Rechte (Heidelberg 1892);

2. Aufl. (i905; Ndr. Aalen 1964).


204 Vgl. dazu dio Ausführungen des Abg. KooH (Kassel) v. 11. 7. 1919, Die Deutsche Na-

tionalversammlung im Jahre 1919, hg. v. EDUARD HEILFRON, Bd. 6 (Berlin 1920), 3663.
265 Dazu KONRAD BEYERLE, Wesen und Entstehung der Grundrechte in der Reichsverfas-

sung von Weimar, in: Deutsche Einheit - Deutsche Freiheit, Gedenkblatt der Reichsre-
gierung zum 10. Verfassungstag 2. 8. 1929 (Berlin 1929), 149: Die Weimarer Verfassung
stellt dabei in einem an<ieren neuen Sinn einen Staat1mertrag dar, in dem sich die einan<ler wi-
derstrebenden Parteien un<i Weltanschauungen zur Rettung DeutschT.an<ls aus schwerster Not
gefun<len un<l verstän<ligt haben.

1081
Grundrechte m. Ausblick

sätzen und Richtlinien für die weitere Gesetzesarbeit; als klagbare Rechte der Indi-
viduen sollten dabei selbs;t die alten Normen des Individualschutzes nicht ausge-
staltet werden 206 . Auch als Mittel zur staatsbürgerlichen Schulung und Gesinnungs-
pflege war der Rechtekatalog gedacht 207 . Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten
(Art. 48 WRV), die Möglichkeit der Verfassungsänderung, die auch die Grundrechte
betraf, und die der Verfassungsdurchbrechung (Art. 76) erweisen die Grundrechte
als staatlich, wenn auch unter erhöhter Geltungsgarantie, gesetztes Recht.
Vom Weimarer Verständnis der Grundrechte setzt sich das Bonner Grundgesetz in
mehreren Punkten ab. Art. 1 kehrt zurück zu unverletzlichen und unveräußerlichen
Menschenrechten als GruruJ:lage jeder staatlichen Gemeinschaft, damit zurückgreifend
hinter die Paulskirchen-Verfassung auf die französische Deklaration von 1789;
durch Art. 79 Abs. 3 GG ist dieser Grundsatz folgerichtig der Verfassungsänderung
entzogen. Die Grundrechte erscheinen - an die französische Verfassung von 1791
crinncrnrl - alR Konlrn~til'1ifmmg d1:1r Mensc.henrcc.htc für da!! innersto,atlicho
Rechtsleben und sirnl verfassungsgesetzlich modifizierbar, vielfach.auch durch ein-
fache Gesetzgebung inhaltlich zu begrenzen. Statt unverbindlicher Verfai:iimngi:i-
maximen sind diese Grundrechte für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und
ReehLsprcehung unmittelbar geltendes Recht. Damit wird wieder dus Verhältnis des
einzelnen zum 8taat in seiner obrigkeitlichen Funktion ZentrnlthP.ma dP.r Grund-
rechte208. An ihrem Charakter als subjektive öffentliche Rcohtc besteht, da die Ver-
fassungsbeschwerrle (Art. 93 Ziff. 4a GG) ihre Durchsetzung gewährleistet, kein
Zweifel mehr. Die Voranstellung der GrundrechLe unterstreicht noch die Bedeu-
tung, die das Grundgesetz dem individuellen Freiheitsschutz beimißt.
Eine gewisse Rückkehr zu Weimarer Vorstellungen deutet sich in der weithin ver-
tretenen „Drittwirkung" der Grundrechte a.n. Da.mit wird die Lösung der Grund-
rechte aus ihrer Fixierung auf das Verhältnis Staat- Individuum angestrebt, sei es
durch Übernahme der grundrechtlichen Wertordnung auch in die nicht staatsho-
heitlich geprägten Gebiete der Gesamtrechtsordnung, etwa im Rahmen der auf die
Sittenordnung verweisenden Rechtsnormen, oder durch Erstreckung des Grund-
rechtsschutzes auch auf das Verhältnis zu nichtstaatlichen oder halbstaatlichen
Zwischengewa.lten, insbesondere zu Verbänden, Tarifpartnern, Kirchen. Gewährung
von Grundrechten bedeutet dann Gewährung staatlichen Individualschutzes gegen-_
über Zwischengewalten als Korrelat zur Freistellung dieser Gewalten von staatli-
cher Kontrolle, mag diese Freistellung selbst - wie bei der Garantie freier Gewerk-
schaften und Arbeitgeberverbände durch Garantie der Koalitionsfreiheit oder der
Anerkennung der kirchlichen Autonomie - auch in Grundrechtsform erfolgt
sein 209 . Das Spannungsverhältnis zwischen 'Freiheit' und 'Freiheiten' deutet sich
hier wieder an.
GERD KLEINHEYFJR
206 Ebd., 154.
2o 7 Ebtl., 153. 154.
208 Vgl.Bericht desAbg. v.MANGOLDT in der 9. Sitzung des parlamentarischen Rates vom
6. 5. 1949, 5.
2o9 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch schon die Bemerkung des Abg. DR. LöwE vom

3. 4.1871 im Reichstag, Frankfurter Grundrechte der Glaubens- und Gewissensfreiheit seien


solche, die notwendig dem Individuum gesichert werden mil88en, wenn Bie (die Freiheit) nicht
in Gefahr sein soll, durch die einzelnen Korporationen unterdrückt zu werden; Sten. Ber.
Dt. Reichstag, Bd. 1 (1871), 117.

1082

Das könnte Ihnen auch gefallen