Jackpott: Zwei Nieten und ein Trostpreis

Applaus für Wagemut und einen logistischen Herkulesakt, Applaus für die bestimmt über 300 Busfahrerinnen & Schauspieler, Garderobenbetreuer & Bühnenarbeiterinnen, Dramaturgen und Putzkräfte, Applaus für eine sehr gute Idee. Am 1. Oktober Applaus für die RuhrBühnen und ihre gemeinsame Spielzeiteröffnung Jackpott.


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Elf Bühnen - ein Spektakel

Alles fängt so schön an: Der Himmel über der Jahrhunderthalle strahlt in tiefem spätsommerblau, 1100 aufgeregte Menschen füllen den Platz, der Busfahrer verfährt sich eine Runde in Stahlhausen, steuert dann Richtung Bochumer Schauspielhaus und verkündet lokalkoloritös: “die Sachen, die se nicht brauchen, können se gern im Bus lassen, ich geh dann damit auf den Trödelmarkt.”

Elf Bühnen feiern heute auf vier verschiedenen Bustouren mit jeweils drei Aufführungsbesuchen das neue Kulturnetzwerk RuhrBühnen mit einem 430.000 Euro-Spektakel: Wo es jeweils hingeht, wissen nur die Planer und die außergewöhnlich freundlichen Busbegleiterinnen.


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Ein Kurztrip durch das alte Testament

Die erste Fahrt ist kürzer als gedacht: Die Reiseleitung kommt durch die Reihen und reicht mir eine Karte - “Hagar”, Reihe 1, Platz 1, Schauspiel Bochum, sonst nicht meine Preisklasse. Erst nach der Veranstaltung werde ich merken, dass das garnicht Hagar ist, sondern eine unter “Lecture Perfomance Konzert” laufende Multimedia-Lesung mit Kinderchor. Neben ausladenden Passagen aus dem Alten Testament, natürlich mit Endlosgenealogie, gibt es linksselbstverständliche und etwas moralinsauere Plattitüden über Globalisierung und Fluchtbewegungen und beeindruckenden Gesang von Issam Bayan und Kerstin Pohle, der das Ganze dann auch über das Niveau einer experimentellen Einführung übereifriger Dramaturgen hebt. Der Hagar-Stoff ist jedenfalls nach einer langen revuehaft-unzusammenhängenden Stunde halbwegs verstanden und der sonntägliche Kirchenbesuch gefühlt auch abgehakt. Lustvoll ist dieser Theatergang nicht und ein Teil des Publikums spiegelt sich in dem einzigen Jungen des Kinderchores, der hibbelnd gleichsam sein Gähnen kaum unterdrücken kann. Trotzdem: Der Applaus ist mehr als freundlich.

Doppelt gemoppelt und die Kunst des Kürzens

Wieder im Bus geht es auf die A40 und in die Netzwerke in denen erste positive Kurzkritiken aus Dortmund und Hagen auflaufen. Es geht Richtung Mülheim: Moers, Theater an der Ruhr oder Ringlokschuppen, denke ich, und blättere in das inhaltlich etwas auseinander fallende Booklet. Hagar wird auch im Ringlokschuppen Ruhr gespielt? - Plötzlich wird mir klar, dass es auf meiner Route erst jetzt zum Hauptgang kommt und sich zwei Stücke mit dem gleichen Stoff beschäftigen und von der gleichen freien Gruppe gestaltet werden. Schade, eigentlich hätte ich mir drei selbstständige Positionen gewünscht.

Ein Bekannter aus Schauspielkreisen beschwert sich derweil über den “kunstfeindlichen Trailercharakter” und Jackpott als “Theaterlego”, sowie die Kürzungen, die der Gesamtplanungswillen der Inszenierung von Hagar angetan wurde. Ein anderer Bekannter betont dagegen, dass Kainkollektiv ein strenge Kürzung manchmal ganz gut täte. Und siehe da: Die folgende Stunde aus 2:10h destillierte Hagar-Essenz wirkt erstaunlich reif - vielleicht aber auch weil man sonst problematische Kürzungen logisch überbrückt, weil man dank Intro im Schauspielhaus mit dem Stoff schon vertraut ist. Der ist schnell erzählt: Die Ehe zwischen Abraham und Sara bleibt kinderlos, stattdessen zeugt Abraham mit der Magd Hagar einen Sohn. Als Sara unerwartet doch noch schwanger wird, werden beide verstoßen - sowohl inhaltlich im Text als auch folgend ganz praktisch aus der christlich-jüdischen Überlieferungstradition: Stattdessen wird der Sohn Hagars Ismael zu einem Propheten im Islam.

Klar, dass dieser Mythos zu Aktualisierungen und Assoziationen einlädt. Bei Kainkollektiv fließen die Grenzen zwischen den Schauspielern und ihren “performten” Rollen, beim Einlass lümmeln sie sich auf zwei Bänken herum, sie stellen sich mit Namen vor und beleuchten in einigen Kurzmonologen ihre persönlichen Beziehungen zu dem Stoff. Hagar ist multiethnisch vierfachbesetz, verbunden durch ein blaues Kleid, das alle Darstellerinnen tragen. Dieser sprunghaften Theaterform gemäß, angetrieben auch durch eine Drehbühne, die mal an die Kaaba, dann an ein Designmöbel, dann ein - ausgiebig genutztes - Klettergerüst erinnert, ist das Stück übervoll an erinnerungswerten Momenten. Wenn die Kinderlosigkeit zeitgemäß über die Anzahl der Versuche einer künstlichen Befruchtung, die die Krankenkasse übernimmt, erläutert wird, wenn es in einer seltenen Sequenz ungebrochenen Schauspiels gelingt überzeugend zu zeigen, dass im alttestamentarischen Ägypten der Monotheismus eine Zumutung und staatsfeindliche Bedrohung war, wenn sich der durchweg überzeugende Gesang aus arabischen, afrikanischen und westlichen Traditionslinien in den Elektrosoundflächen berühren, zeigt sich was in diesen Theatermischformen gelingen kann.

Hohe Erwartungen bei PACT Zollverein

Keine große Strecke legt unser Bus anschließend zur letzen Station zurück: PACT Zollverein, eines der spannendsten Produktionshäuser der Freien Szene nährt mit einem großen Namen die Vorfreude: Forced Entertainment spielt “Tommorow’s Parties”.

Das Programm von PACT ist anspruchsvoll, auch einem neugierigen Publikum wird hier manchmal Einiges abverlangt. In meinen Augen funktioniert PACT im Kleinen ein bisschen wie die Ruhrtriennale im Großen: Oft verlässt man das Haus in einem Zwischenstadium von Beglücktheit und Irritation nach Arbeiten von chelfitch, Mette Ingvartsen oder halt Forced Entertainment - manchmal aber auch einfach ratlos. Wie bei dem großen Festival werden hier Wagemut und Experiment goutiert, denn nur an dieser Grenze kann ästhetisch Neues entstehen.

Ein Theaterreise-Unfall

Doch genau an diesem Ort passiert dann leider der größte Unfall der Theaterreise und der hat eigentlich nichts mit dem Stück zu tun, sondern mit einer planerischen Unachtsamkeit gegenüber dem Publikum: Ja, man darf auf einer Veranstaltung, die neue Menschen an das Haus heranführen soll, gern auch überfordern, das passt tatsächlich zu PACT. Aber einem unvorbereiteten Publikum mit ganz unterschiedlichen Englisch-Kenntnissen einen very britishen Zwei-Personen-Dialog über abgedroschene Zukunftsfiktionen, gegeben auf zwei Europaletten vor einer bunten Lampionkette ohne jegliche Aktion zuzumuten, ist so problematisch, wie das Gerede von Ruhrtriennale-Intendanten vom voraussetzungsfreien Theater und ihr pseudoeinladend-umschlingender Gestus.


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Ohne die sonst immer präsenten vorlachenden Forced-Entertainment-Groupies wirkt das Ganze plötzlich weit weniger lustig und hier wenn überhaupt schmerzlich unfreiwillig komisch. Einer der gut 50 Gäste, die mit den Füßen abstimmen, fällt fast auf der Treppe, die direkt auf der Bühnen endet. Während sich Schnäuzer, Tuscheln und helle Handybildschirme in den Reihen mehren, gibt es auf der Bühne Passagen über Menschen, die nicht mehr zuhören können und Zeit, die sich quälend zieht. Die beiden Performer können einem Leid tun. Ein solchen Publikumsverhalten haben sie nicht verdient, vor allem weil es die besondere Qualität der Produktion, ihren ruhig-fließenden, hypnotischen Sprachrhythmus, empfindlich stört.

Das Argument, das sei halt die Blind-Date-Logik des Formats, zieht bei einem Stück, dass ausschließlich aus 150 Sprechakten und ein bisschen Mimik und Gestik besteht, nicht: Auch bei einem Blind Date weiß man in der Regel vorher, welche Sprache das Gegenüber spricht. Da hätte man sich etwas anderes aussuchen müssen - und im Sinne der Distinktion gegenüber der anderen Häuser am besten etwas Tänzerisches oder Performatives gewählt, das sich gleich direkt über den Körper und nicht die Sprache vermittelt.

Was spielen?

Die gelungene oder weniger gelungene Stückauswahl ist dann wohl auch entscheidend für die Sinnhaftigkeit des Gesamtprojekts und die Werbewirksamkeit für jede einzelne Bühne. Im Vorwort des Begleithefts steht: “Jedes Haus steht für ein künstlerisches Profil.” - Dann sollte im besten Fall jeder Beitrag auch in irgendeiner Weise Botschafter dafür sein.

Das gelingt in meinem Fall im Ringlokschuppen als Produktionszentrum für die Freie Szene - in Bochum, wo man neugierig gewesen wäre auf einen Sneak Peak auf Johan Simons erste Post-Triennale-Spielzeit, gelingt das nicht. Zudem ist es absurd, die gleiche (eigentliche freie) Truppe und den gleichen Stoff an zwei Häusern den Gästen als Visitenkarte zu präsentieren. Verpasst ist auch die Chance, den Besuchern zumindest durch 3min-Einführungen (vielleicht als Video im Bus?) kurz zu verdeutlichen, wo man hier auch künstlerisch gerade zu Gast ist.

Ein Glückspielfazit

Jede Lotterie hat Gewinner und Verlierer, das gehört zum Spiel, deswegen fällt das Urteil für meine einzelnen Stationen deutlich härter aus, als für das gesamte Projekt, das in herausragend schöner Gestaltung hier seine Premiere feiert. Andere Touren führen zu einer Roberto Cuilli-Inszenierung ans Theater an der Ruhr, zu Dokumentartheater von Kay Voges nach Dortmund oder zum Intendantendebut nach Oberhausen, meine Theaterreise war dagegen fast schauspielfrei. Wenn man die Häuser auch in der Differenzierung zur Freien Szene programmatisch vorstellen möchte, ist das nicht repräsentativ und nach bestem Wissen eingeschätzt auch nicht verkaufsfördernd.


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Das Mahl der 1100 am Ende dagegen mit einer Art Live-Radio-Show von Stefan Keim ist eine wunderbare Premiere. Den Übergang vom Festivalsommer in die Spielzeiten so jährlich zu begehen, wäre gerade in der Unaufgeregtheit ein tolles neues Ruhrgebietsritual. Fazit nach zwei Nieten und einem Trostpreis: Neues Spiel - neues Glück 2018? Dem Format wäre es zu wünschen!