Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus: Studien zur Sophokles-Rezeption in Deutschland vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts [Reprint 2019 ed.] 9783110952049, 9783484365551

This monograph is devoted to the reception of Sophocles in German Humanism and early Baroque. It explores the paths take

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Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus: Studien zur Sophokles-Rezeption in Deutschland vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts [Reprint 2019 ed.]
 9783110952049, 9783484365551

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Bemerkung
1. Einleitung
2. Aneignung und Kanonisierung
3. Die Bedeutung des Sophokles für die Dichtungstheorie zwischen Humanismus und Barock
4. Bearbeitung Sophokleischer Stoffe im nachreformatorischen Humanismus
5. Ausblick: Die Sophokles-Rezeption im deutschen Barock
6. Literaturverzeichnis
7. Register

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Frühe Neuzeit Band 55 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Anastasia Daskarolis

Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus Studien zur Sophokles-Rezeption in Deutschland vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Die Deutsche Bibliothek - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e Daskarolis, Anastasia: Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des H u m a n i s m u s : Studien zur Sophokles-Rezeption in Deutschland vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. J a h r h u n d e r t s / Anastasia Daskarolis. Tübingen: Niemeyer, 2000 (Frühe Neuzeit; Bd. 55) Zugl.: M ü n s t e r (Westfalen), Univ., Diss. ISBN 3-484-36555-2

ISSN 0934-5531

© M a x Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2000 D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung a u ß e r h a l b der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. G e d r u c k t auf alterungsbeständigem Papier. Satz: M a r c H o u b e n , Aachen D r u c k : A Z D r u c k und Datentechnik G m b H , K e m p t e n Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort

IX

Bemerkung

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1. Einleitung

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2. Aneignung und Kanonisierung

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2.1. Anfange einer Sophokles-Rezeption bei den Frühhumanisten 2.1.1. Sophokleische Autorität zur Begründung des christlichen Humanismus (Reuchlin) 2.1.2. Sophokleische Weisheit als praktische Philosophie (Hutten) 2.2. Kanonisierung des Sophokles als Musterautor des Humanismus 2.2.1. Die Entdeckung der moralpädagogischen Qualität (Erasmus) 2.2.1.1. Sophokles im Schulunterricht 2.2.1.2. Ajax: »insania« und »splendor« eines Sterblichen 2.2.1.3. Antigone als Tragödie des fragwürdigen Widerstands 2.2.2. Die Entdeckung der theatralisch-forensischen Qualität (Melanchthon) 2.2.2.1. Sophokles in Melanchthons Tragödienauffassung 2.2.2.2. Antigone als Muster staatstheoretischer Reflexion 2.2.2.3. Ajax und die Mäßigung der Affekte 2.2.2.4. Ödipus: Sünder ohne Erlösungsglauben 2.2.2.5. Philoktet und die Belohnung der Tugend

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3. Die Bedeutung des Sophokles für die Dichtungstheorie zwischen Humanismus und Barock 3.1. Stilistisches Vorbild - Sophokles in der humanistischen Poetik 3.1.1. Rhetorische Bewertungsmuster 3.1.1.1. Joachim Vadian 3.1.1.2. Euricius Cordus 3.1.1.3. »Sophocleus cothurnus« (Hermann von dem Busche, Helius Eobanus Hessus) 3.1.2. Dramenbezogene Stilwertschätzung 3.1.2.1. Theodor Rhodius 3.1.2.2. Michael Virdung 3.1.3. Sophokles und die Rezeption der griechischen Tragödie 3.1.3.1. Theaterfeindliche Tendenzen 3.1.3.2. Seneca versus Sophokles 3.1.3.3. Das Griechische als Sprachbarriere 3.1.3.4. Einschränkung auf die »exempla morum« 3.1.3.5. Aufwertung durch die Aristoteles-Rezeption 3.1.4. Muster für einzelne Aspekte der humanistischen Tragödie 3.1.4.1. Jacob Micyllus 3.1.4.2. Georg Fabricius 3.1.4.3. Julius Caesar Scaliger 3.1.4.4. Moritz von Hessen 3.2. Dramaturgisches Vorbild - Frühbarocke Tendenzen in der Poetik der Jesuiten 3.2.1. Sophokleischer Klassizismus und jesuitisches Schuldrama (Jacob Pontanus) 3.2.2. Sophokleische Tragödien als Märtyrerdramen (Alexander Donati) 3.2.2.1. Ödipus als Muster für die standesübergreifende Nobilität des Helden 3.2.2.2. Ajax und die Trachinierinnen als Muster für die »constantia« des Märtyrers 3.2.2.3. Ödipus als Muster für den besten »error tragicus« des Märtyrers 3.2.2.4. Antigone als Muster für den Märtyrer ohne »error tragicus«

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VII 3.2.2.5. Sophokles versus Euripides 3.2.3. Ausblick auf das Drama des Barock (Jakob Masen) .. 3.2.3.1. Ödipus als Modell für die Tragödie und das Mischdrama 3.2.3.2. Dramatischer Aufbau und Wirkung

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4. Bearbeitung Sophokleischer DramenstofFe im nachreformatorischen Humanismus 201 4.1. Ödipus als mythologischer Stoff 4.1.1. Deutungsmuster der Ödipus-Figur in der frühen Neuzeit 4.1.1.1. Proverbialisierung unter Erasmischem Einfluß (Sebastian Franck, Rudolf Agricola) 4.1.1.2. Mythologische Handbücher der Renaissance (Natalis Comes, Francis Bacon) 4.1.1.3. Johannes Agricola 4.1.1.4. Handbücher des protestantischen Späthumanismus (Reiner Reineccius, Georg Fabricius, Michael Neander) 4.1.1.5. Ausblick auf die Mythographie des Barock (Paul Aler, Magnus Daniel Omeis, Johann Christoph Männling) 4.1.2. Oedipi tragoedia als Schuldrama der »impietas« und »pietas« (Wolfgang Waldung) 4.1.2.1. Episierung und klassizistisches Vorbild 4.1.2.2. Der Sündenfall des Ödipus 4.1.2.3. Der Bruderstreit nach dem Sündenfall 4.1.2.4. Antigones Sühnetod 4.1.2.5. Waldungs Deutungstypen der »impietas« 4.2. Wandlungen eines Sophokleischen Dramenhelden: Ajax 4.2.1. Frühe Beliebtheit des Ajax im Schuldramen-Repertoire 4.2.2. Held oder Sünder - Vergleich zweier Übersetzungen (Joseph Scaliger, Thomas Naogeorg) 4.2.3. Die Straßburger Aufführung im Jahr 1587 4.2.3.1. Der Held als Opfer 4.2.3.2. Leidensweg und Läuterung 4.2.3.3. Im Kräftespiel zwischen »fatum« und »fortuna«

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VIII

4.3. Martin Opitzens Antigone( 1636) 4.3.1. Richard Alewyns Bewertungskriterien 4.3.2. Opitzens Gründe für seine Sophokles-Übersetzung . . . 4.3.3. Die Tyrann-Märtyrer-Konfiguration 4.3.3.1. Antigones Handlungsmotive 4.3.3.2. Kreons Tyrannis 4.3.4. Opitzens Sophokles-Rezeption und ihre ausbleibende Resonanz 4.3.4.1. Kulturpatriotische Befreiung von der Antike 4.3.4.2. Wandel des Stilgeschmacks in Richtung des Manierismus

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5. Ausblick: Die Sophokles-Rezeption im deutschen Barock

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6. Literaturverzeichnis

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7. Register

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Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die von der neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Frühjahr 1993 angenommen wurde. Die Druckfassung war im Sommer 1999 fertiggestellt. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der die Arbeit förderte, möchte ich an dieser Stelle ebenso danken wie meinen Eltern und Verwandten, die mir stets Unterstützung gewährten. Zu besonderem Dank bin ich Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) und Prof. Dr. Achim Aumhammer (Freiburg) vepflichtet, die die Arbeit mit Rat und Tat betreut haben. Herzlich danken möchte ich ferner Prof. Dr. Peter Michelsen, PD Dr. Bernhard Buschendorf und Dr. Robert Seidel, die mir während der Niederschrift wertvolle Anregungen sowie fachliche und bibliographische Hinweise gaben. Großen Dank für wichtige Verbesserungsvorschläge schulde ich Dr. Stefan Buck, Thomas Diecks, M. A. und Dr. Maria Wolf.

Athen, im Sommer 1999

Anastasia Daskarolis

Bemerkung Die im Haupttext zitierten längeren lateinischen Passagen werden im Anmerkungsapparat übersetzt und in Klammern mit dem Vennerk Ü gekennzeichnet. In den Anmerkungen vorkommende fremdsprachige Zitate werden nicht übersetzt.

1. Einleitung Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Erforschung des Humanismus und ist gleichermaßen komparatistisch wie ideengeschichtlich orientiert. Wie Erwin Panofsky und Paul Oskar Kristeller in ihren wegweisenden Studien gezeigt haben, zeichnet sich der Humanismus des Nordens gegenüber der italienischen Renaissance dadurch aus, daß sein Rückgriff auf die Antike zunächst von einem gelehrten Interesse geleitet war.1 Dieses vornehmlich philologische und rhetorische Interesse manifestiert sich u. a. in einer verstärkten Rezeption antiker Lyrik, Epik und Prosa.2 Vor allem aber äußert sich dieses Interesse im entschiedenen Rückgriff der Humanisten auf das antike Drama. Während die griechischen und lateinischen Komödiendichter wie Aristophanes, Plautus und Terenz bereits im Frühhumanismus als Dramatiker rezipiert wurden - das zeitgenössische Schuldrama leistet hier die maßgebliche Vermittlung - , 3 wurden die antiken Tragiker, also

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Vgl. R. Benz, Wandel des Bildes der Antike in Deutschland. Ein geistesgeschichtlicher Überblick, München 1948, S. 47ff.; P. O. Kristeller, The Classics and Renaissance Thought, Cambridge/Massachusetts 1955, hier S. 35; E. Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt am Main 1979, (Renaissance and Renasances in Western Art, Stockholm 1960), hier bes. S. 210-213; F. Heer, Die dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters, Frankfurt am Main 1959, hier bes. S. 80-127; K. O. Conrady, Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts, Bonn 1962, S. 32; N. Hammerstein, »Humanismus und Universitäten«, in: A. Buck (Hg.), Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance, Hamburg 1981, S. 23-33, hier S. 32; G. Böhme, Bildungsgeschichte des Europäischen Humanismus, Darmstadt 1986, hier S. 291-346. Vgl. etwa M. Rubensohn (Hg.), Griechische Epigramme und andere kleinere Dichtungen in deutschen Übersetzungen des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Weimar 1897. Zur Rezeption der Antike in der gesamteuropäischen neulateinischen Lyrik vgl. etwa F. J. Nichols, »Introduction«, in: ders. (Hg.), An anthology of Neo Latin Poetry, New Haven usw. 1979, S. 1-84, hier bes. S. 14ff. Vgl. O. Francke, Terenz und die lateinische Schulcomoedie in Deutschland, Weimar 1877; O. Günther, Plautusemeuerungen in der deutschen Literatur des XV.-XVII. Jahrhunderts, Leipzig 1886; P. Dittrich, Plautus und Terenz in Pädagogik und Schulwesen der deutschen Humanisten, Leipzig 1915; J. Maasen, Drama und Theater der Humanistenschulen in Deutschland, Augsburg 1929; H. Hoffmann, Das Görlitzer barocke Schultheater, Königsberg 1932; F. A. Baron, »Plautus und die deutschen Frühhumanisten«, in: Studia humanitatis. E. Grassi zum 70. Geburtstag. Humanistische Abhandlungen und Texte, I, 16 (1973), S. 89-101; J. A. Parente, Religious drama and the humanist tradition. Christian theatre in Germany and in the Netherlands 1500-1680, Leiden usw. 1987, hier bes. S. 9-30.

2 Aischylos, Sophokles, Euripides und Seneca, zunächst jeweils gewissermaßen nur chrestomathisch gewürdigt: Ihre Werke dienten als Steinbruch, aus dem sich die Humanisten nach Maßgabe ihrer rhetorischen und moralischen Interessen geeignete Sinnsprüche und Sentenzen holten. Zwar lagen die griechischen Tragödien schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Editionen und teilweise sogar in Übersetzungen vor,4 doch erfuhren die griechischen Tragiker ihre eigentliche Wertschätzung als Dramatiker erst durch die Rezeption der Aristotelischen Poetik, die im Laufe des Jahrhunderts deutlich an Bedeutung zunahm. Aufführungen und Adaptationen der Tragödien sind denn auch erst seit der Jahrhundertmitte häufiger bezeugt. Anders als Seneca, der in allen europäischen Zentren des Humanismus häufig ediert, kommentiert, aufgeführt und nachgeahmt wurde,5 fanden die griechischen Tragiker - wohl aufgrund der sprachlichen Barriere - am Anfang des Jahrhunderts eine deutlich schwächere Resonanz.6 Im deutschen Humanismus kam es bekanntlich zu keiner nennenswerten Aischylos-Rezeption. Wie Lachmann, Cranz, Mund-Dopchie und Gruys gezeigt haben,7 fand sie vornehmlich in Frankreich und in den Niederlanden statt und beschränkte sich auch dort zunächst auf die sogenannte byzantinische Triade, also auf die drei bereits in Byzanz kanonisierten Stücke: Prometheus, Die Sieben gegen Theben und Die Perser. Die Rezeption des Euripides war dagegen im gesamten europäischen Humanismus beträchtlich, da die prägnante Affektendarstellung dieses Tragikers die Zeitgenossen entfernt an Seneca erinnern mochte. Verschiedene italienische Übersetzungen und 4

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Vgl. R. Hirsch, »The printing tradition of Aeschylus, Euripides, Sophocles and Aristophanes«, in: Gutenberg Jahrbuch 1964, S. 138-146; F. J. Worstbrock, Deutsche Antike-Rezeption. 1450-1550. I. Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren, Boppard am Rhein 1976. Vgl. P. Stachel, Seneca und das deutsche Renaissancedrama. Studien zur Literaturund Stilgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1907; Ch. Wanke, Seneca, Lucan, Corneille. Studien zum Manierismus der römischen Kaiserzeit und der französichen Klassik, Heidelberg 1964; J. Jacquot (Hg.), Les tragédies de Sénèque et le théâtre de la Renaissance, Paris 1964; E. Lefèvre (Hg.), Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, Darmstadt 1978; I. Opelt, »Seneca bei den Humanisten«, in: Res publica litterarum, 10 (1987), S. 253-256. Vgl. J. E. Sandys, A history of classical scholarship. From the sixth century B. C. to the end of the middle ages, Cambridge 1906, hier S. 607; K. Heinemann, Die tragischen Gestalten der Griechen in der Weltliteratur, Leipzig 1920, hier S. 9; U. von Wilamowitz-Moellendorf, Geschichte der Philologie, Leipzig und Berlin 1921; R. Pfeiffer, History of classical scholarship. From 1300-1850, Oxford 1976, hier S. 87; L. D. Reynolds und N. G. Wilson, D'Homère à Erasme. La transmission des classiques grecs et latins, Paris 1984, hier S. 99ff. Vgl. V. R. Lachmann und F. E. Cranz, »Aeschylus«, in: P. O. Kristeller (Hg.), Catalogus translationum et commentariorum: medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaries, Washington 1971, Band 2, S. 5-25; M. Mund-Dopchie, »Histoire du texte d'Eschyle à la Renaissance: Mise au point préliminaire«, in: L'Antiquitée Classique, 46 (1977), S. 169-179; J. A. Gruys, The early printed editions (1518-1664) of Aeschylus. A chapter in the History of Classical Scholarship, Nieuwkoop 1981.

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vor allem die beiden Übersetzungen des Erasmus bereiteten in Deutschland die große Übersetzungsleistung des Melanchthon vor,8 die durch die späteren Übersetzungen des Caspar Stiblinus und des Georgius Calaminus ergänzt wurde9 und zu einer breiten Rezeption dieses jüngsten der griechischen Tragiker führte. Was Sophokles betrifft, so nahm dieser mittlere der griechischen Tragiker auch in der humanistischen Rezeption gewissermaßen eine Mittelstellung ein: Seine Rezeption ist im Frühhumanismus zwar schwächer als die des Euripides, aber deutlich intensiver als die des Aischylos. Da Sophokles wegen seines hohen Stils bereits von Quintilian gepriesen wurde, feierten ihn auch die frühhumanistischen Poetiken als Inbegriff von Klassizität. Dennoch ist die humanistische Rezeption des Sophokles noch weniger erforscht als die humanistische Aneignung der anderen attischen Tragiker. Die bisherigen Studien zur deutschen Sophokles-Rezeption in der frühen Neuzeit befassen sich vor allem mit Martin Opitz.10 In den einschlägigen Abhandlungen aus dem letzten Jahrhundert werden Opitzens Vorläufer zwar gelegentlich erwähnt, und Richard Alewyns grundlegende Arbeit Vorbarokker Klassizismus und griechische Tragödie (1926) widmet der deutschen Sophokles-Rezeption vor Opitz immerhin einige höchst aufschlußreiche Passagen. Eine monographische Behandlung der Sophokles-Rezeption im deutschen Humanismus steht jedoch noch aus. Die vorliegende Arbeit stellt einen ersten Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke dar. Sie konzentriert sich auf die drei wichtigsten Stadien oder Aspekte der humanistischen Sophokles-Rezeption in Deutschland. Daraus ergibt sich ihr dreiteiliger Aufbau. 8

Vgl. J. H. Waszink, »Einige Betrachtungen über die Euripidesübersetzugen und ihre historische Situation«, in: Antike und Abendland, 7 (1971), S. 70-90; J. H. Waszink, »Euripidis Hecuba et Iphigenia. Introduction«, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Rotterodami, Amsterdam 1969, Band 1/1, S. 195-212 (weiterhin zitiert als AMS mit zugehöriger Bandzahl); W. O. Schmitt, »Erasmus als Euripidesübersetzer«, in: J. Harmatta und W. O. Schmitt, Übersetzungsprobleme antiker Tragödien, Berlin 1969, S. 129-166; ders., »Zwei lateinische >Hekabe Jtpoaecmv aiox^vii 0' öjiou, ocoxTipiav EXOVTCC xöv8' eTtiaxaoo 2 6 ). Reuchlin mochte zudem gewußt haben, daß in beiden Tragödien schließlich nicht nur die vemunftgeleiteten Kontrahenten, sondern gerade auch die tragischen Helden gerechtfertigt werden. Doch ist dies für seine Argumentation nicht von Belang; Elektras Beteiligung am Muttermord und Ajaxens Selbstmord als Folgen von Rebellion sind abschreckend genug, um zu Gehorsam und Disziplin zu ermahnen. Die Diskrepanz zwischen einerseits der ungewöhnlichen Moral jener mythischen und freiheitlichen Welt, in der sich zuweilen das positive Recht als unzulänglich erweist, und andrerseits der alttestamentarisch begründeten Ethik war Reuchlin wohl bekannt. Beide Vorstellungen konnte er in den Tragödien von Sophokles finden, und um die letztere geht es ihm in diesem Zusammenhang. Nicht zufallig wird Sophokles in den Kreis jener Gelehrten (»hominibus doctis eisdemque bonis«) aufgenommen, deren Autorität die Gesprächspartner Reuchlins zum Konsens verpflichtet. So wird denn auch der Jude Baruchius im weiteren Verlauf des Gespräches den Beweisführungen von Sidonius zustimmen, aber das Schwergewicht auf die Tugendhaftigkeit der Gewährsmänner legen; neben der Gelehrtheit und Eleganz antiker Traditionen fordert er zusätzlich die Gewißheit der göttlichen Offenbarung (»divinae revelationis autoritate«),27 wie sie gerade von den »bonis« vermittelt wurde, nämlich den Propheten und anderen Gestalten aus dem Alten Testament. Mit einer Zusammenführung der griechischen und jüdischen Tradition schließt somit das erste Buch; diese Kongruenz erweist sich als notwendige Vorbereitung für die Enthüllung des Wortes im letzten Buch, welches die von Natur aus Sterblichen Übernatürliches vollbringen läßt, »quo nos mortales in natura constituti supra naturam dominaremur«.28 Ohne den Gehorsam, der den Menschen an Gott bindet, und ohne den Einklang von menschlichem und göttlichem Willen ist die Einweihung des Menschen in 25

Sophokles, Elektra v. 1014. Sophokles, Ajax v. 1079f. 27 J. Reuchlin, De verbo miriflco, S. 33. 28 Ebd. 26

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die Geheimnisse der Wunder Gottes nicht möglich. Die Berufung auf die griechischen Dichter und nicht zuletzt auf Sophokles konnte diese Gewißheit herstellen und konsolidieren. Die Wertschätzung, die Sophokles in Reuchlins Frühschrift erfahrt, verdient besondere Beachtung, da sie im zeitgenössischen Deutschland ohne Beispiel ist. Es lagen damals noch keine Sophokles-Editionen in Deutschland vor, ja nicht einmal die editio princeps von Aldus Manutius (1502) war erschienen. Zudem sind alle drei Sentenzen nicht in der Stobäus-Sammlung enthalten. Es ist wohl anzunehmen, daß der deutsche Gräzist seine Sophokles-Kenntnisse entweder seinem Griechisch-Studium in Paris verdankt,29 oder seinen Aufenthalten in Italien in den Jahren 1482 und 1494. Entscheidend kann hierbei die Begegnung mit Gräzisten des Florentiner Humanismus gewesen sein. Zweifelsohne hat er synkretistische Anregungen von den Neoplatonikem Marsilio Ficino und dem »wolgebornen und hochgelerten herm« Giovanni Pico della Mirandola erhalten.30 Denn mit dem neu geweckten Interesse für die hebräische Mystik geht auch ein verstärktes Interesse für die griechische Literatur einher: Es liegen Übersetzungen Reuchlins aus der Ilias (1491), aus den Dialogen Lucians (1495), die Übersetzung und Edition der Apologia Xenophons (1520) und die Übersetzung dreier Demosthenes-Reden (1495) vor, sowie Editionen des Urtextes einiger Demosthenes- und Aischines-Reden.31 Parallel dazu verfaßte Reuchlin die Rudimenta Hebraica (1506), eine Grammatik des Hebräischen, die später durch die Abhandlung De accentibus et orthographia Judeorum sermone (1518) ergänzt wurde. In der Widmungsvorrede zu dieser letzten Schrift an den Kardinal Hadrian von Utrecht (1454-1523), den späteren Papst Hadrian VI., liefert Reuchlin einen Rückblick auf seinen eigenen wissenschaftlichen Werdegang.32 Seine intensive Hingabe an das Studium von Fremdsprachen begründet er mit dem

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Den Pariser Griechisch-Studien sind auch die Micropaedia (1478) und die Abhandlung De quatuor linguae differentiis (1477-78) zu verdanken, vgl. H. Rupprich, »Johannes Reuchlin und seine Bedeutung im Europäischen Humanismus«, S. 23. Eine Anthologie griechischer Texte widmete Reuchlin dem Bischof von Dalberg; zu den griechischen Studien Reuchlins vgl. die Forschungsberichte von S. Rhein, »Reuchliniana I. Neue Bausteine zur Biographie Johannes Reuchlins«, in: Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen, 12 (1988), S. 84-94, und ders., »Reuchliniana II. Forschungen zum Werk Johannes Reuchlins«, ebd., 13 (1989), S. 23-44, hier besonders S. 2731, und ders., »Johannes Reuchlin (1455-1522): ein deutscher >uomo universalem, in: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hg. von Paul Gerhard Schmidt, Sigmaringen 1992, S. 59-75. J. Reuchlin, Gutachten über das jüdische Schrifttum, S. 75. Vgl. H. Reinhardt, Freiheit zu Gott: der Grundgedanke des Systematikers Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), Weinheim 1989. H. Rupprich, »Johannes Reuchlin und seine Bedeutung im Europäischen Humanismus«, S. 22f. Die Vorrede ist abgedruckt in: L. Geiger (Hg.), Johannes Reuchlins Briefwechsel, Tübingen 1875, S. 282-289.

13 Ziel, sich die Weisheit anderer Kulturen anzueignen, »externarum linguarum Studium [...] ad externae sapientiae cognitionem«.33 Das Erlernen der Sprachen ermögliche, die bonae artes zu pflegen und Bücher sowie Denkmäler der alten Kulturen gegen deren Vernichtung zu erhalten und zu schützen, »contra furiosos et rabidos canes omnis bonae artis osores, contra luem et pestem vetustatis, contra librorum incendiarios, monumentorum antiquissimorum cladem et orbitatem sitientes«.34 Als Motivation der Sprachstudien gibt Reuchlin den Dienst an den Menschen an, womit er das humanistische Ideal zum Ausdruck bringt: »in omnium bonorum hominum commoda, sudores et labores nostros convertere«.35 Die Argumente der Feinde, die ihm seine Sorge für den Gebrauch eines reineren Lateins (»purius«) und seine Bemühungen um die griechische und hebräische Sprache vorwarfen, entlarvt Reuchlin einerseits als lächerliche Sophistereien (»vetemosi sophistae, mirum et ridiculi«); denn mit dem Vorwand, daß die zeitgenössischen Griechen Schismatiker seien, meinten die Gegner der griechischen Studien das gesamte griechische Schrifttum verwerfen zu können.36 Andererseits hätten Reuchlins Gegner so wenige Argumente, um seine Judenverteidigung anzugreifen, daß sie ihn der Bestechung durch die Juden bezichtigten. Auf dem Höhepunkt seines Streits mit den Kölnern versäumt es Reuchlin nicht, sich auch im Rahmen dieser kurzen Vorrede für die humanistischen Ziele der Toleranz und Wahrhaftigkeit einzusetzen. Dem einen Vorwurf begegnet er mit dem Verweis auf die Unverzichtbarkeit des Hebräischen für das Verständnis der Heiligen Schrift: »nulla prorsus ingenii sunt humani munia interpretandae sacrosanctae legi tarn necessaria quam est linguarum peritia«.37 Gegen den zweiten Vorwurf, der offenbar so verbreitet war, daß er auch in den Dunkelmännerbriefen (1515-17) wiederholt wird,38 wendet er ein, daß das philosophische Studium der Kenntnis des griechischen Schrifttums und der griechischen Gelehrten nicht entbehren könne: »Hisce ad philosophiam revocabamur aristotelicam, quae non nisi a graecis hominibus proprie ac rite tradi solet«.39 Diese aufklärerische Aufgabe, fahrt Reuchlin in seiner Vorrede fort, habe ihn dazu bewogen, trotz seines fortgeschrittenen Alters erneut ein Sprachlehrwerk für die Jugend vorzulegen. Die Freude über den 33

Ebd., S. 282f. Ebd., S. 282 (Ü: Wider die rasenden und tollen Hunde, die Hasser aller schönen Kunst, gegen Untergang und Verderb des Altertums, gegen die Bücherverbrenner, die nach Vernichtung und Verlust der altehrwürdigen Denkmäler dürsten.). 35 Ebd. 36 Zu ähnlichen Argumenten gegen das Studium der griechischen Autoren im Mittelalter, vgl. J. E. Sandys, A history of classical scholarship, Cambridge 1906, S. 607. 37 L. Geiger (Hg.), Johannes Reuchlins Briefwechsel, S. 282 (U: Femer sind keine Gaben des menschlichen Geistes so notwendig für die hochheilige Auslegung des Gesetzes, wie es die Kenntnis der Sprachen ist.). 38 Vgl. A. Börner (Hg.), Epistolae obscurorum virorum, 2 Bände, Aalen 1978 [ N Heidelberg 1924], S. 178. 39 L. Geiger (Hg.), Johannes Reuchlins Briefwechsel, S. 283 (Ü: Eben dadurch werden wir zu der aristotelischen Philosophie zurückgerufen, welche ausschließlich von Griechen recht eigentlich weitergegeben wird.). 34

14 Abschluß des schwierigen Unternehmens drückt er, sich selbst einen »grammaticus« nennend, mit einer Sophokles-Sentenz aus: Iatnque gaudeo plurimum eo ventum esse, ut mihi liceat gravia cum levibus et seria cum ludis mutare quod ad Philoctetis Sophoclis sententiam proxime accedit, II TOI vaipioi; OJIO'ÜST] jtövou Xfi^avTO^ ünvov KävöiJta'uA.av fiyayEv. 4 0

Philoktets Enttäuschung über die Intrigen der Atriden, die der Troja-Held im ersten Episodion durchschaut hat, und sein Wunsch, sich von ihnen schnellstens zu entfernen und Ruhe zu finden, bezieht Reuchlin auf sich selbst. Die Sophokles-Sentenz reflektiert zwar Reuchlins Bedürfiiis nach Distanzierung vom aktiven Leben: »ut nuper abdicato triumvirato et secularibus negociis subito exactis in ocio literario quiescerem«.41 Doch indem Reuchlin die Verse des Philoktet auf sich projiziert, findet zugleich eine Identifizierung mit der tragischen Figur des Leidens und der Schmerzen statt, die die Feinde im eigenen Lager als Geisel für ihre ehrgeizigen Absichten festhielten. Durch die Projektion des Sophokleischen Helden auf sich selbst nimmt Reuchlin die Angriffe seiner Kritiker vorweg; nicht zuletzt bietet ihm die Folie der griechischen Tragödie die Möglichkeit, sich zum selbstlosen Heroen zu stilisieren, durch dessen Unrechterleiden und Ausharren das große Ziel der Griechen, nämlich die Einnahme von Troja, erreicht werden konnte. Die Anführung des griechischen Urtextes im Gegensatz zu den lateinischen Sophokles-Zitaten in dem frühen Dialog von 1497 läßt eine Beschäftigung mit dem Sophokleischen Original-Text annehmen, der Reuchlin mittlerweile in der Edition des Freundes Aldus Manutius von 1502 vorlag, denn auch diese Philoktet-Sentenz findet sich nicht in der Sammlung des Stobäus. In mehreren Briefen der Korrespondenz zwischen Reuchlin und dem berühmten Verleger antiker Texte teilt Manutius dem deutschen Gelehrten, der an griechischen Texten interessiert war, sein Editionsprogramm mit; so dürfte die Nachricht vom 18. August 1502 über den Abschluß seiner Sophokles-Ausgabe Reuchlins Interesse an dem Tragiker sicher belebt haben: »Imprimuntur et quasi absolutae sunt Sophoclis tragoediae Septem cum commentariis.«42 In der Tat bezeugt das erhaltene Inventar der Bibliothek Reuchlins, daß er die Sophokles-Ausgabe von Aldus Manutius besaß. 43

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Ebd., S. 287f.; vgl. Sophokles, Philoktet v. 639f. (Ü: Es freut mich gar am meisten, soweit gekommen zu sein, daß es mir vergönnt ist, Bedeutendes mit Leichtfertigem und Ernst mit Scherz abzuwechseln, was sehr nahe an eine Sentenz aus dem Philoktet des Sophokles herankommt: Mühst du dich eifrig ab zu rechter Zeit, bringt es Schlaf und Muße, wenn das Werk getan.). L. Geiger (Hg.), Johannes Reuchlins Briefwechsel, S. 287 (Ü: Damit ich einst nach meinem Austritt aus meinem Dreimännerkollegium und plötzlicher Beendigung der weltlichen Geschäfte in der Beschäftigung mit dem Schrifttum zur Ruhe komme.). Clarorum virorum epistolae [...] missae ad Joannem Reuchlin, Tigurien 1558, S. 58 (Universitätsbibliothek Heidelberg: H 795). Neben rhetorischen, historiographischen, philosophischen und philologischen Werken aus der griechischen Antike und Spätantike werden mehrmals poetische Werke ange-

15 Von dem frühen Werk bis zu den späten Arbeiten ist für Reuchlin die Beschäftigung mit griechischem Schrifttum einerseits ein Schlüssel für die Philosophie, so daß auch die Dichter und Tragiker unter solchem Aspekt betrachtet werden. Andererseits wurde bereits in den Dunkelmännerbriefen wiederholt die Überzeugung ausgedrückt, daß das Studium des Griechischen sowohl der Poesie als auch dem Ansehen der Poeten förderlich sei. 44 Die zur lehrhaften Sentenz komprimierte griechische Dichtung büßt jedoch in der Überhöhung des poetischen Wortes und in seiner Gleichrangigkeit mit der philosophischen Wahrheit keineswegs die rhetorische Funktion des ornatus ein; die mehrdeutige Verwendung der Sophokleischen Verse in Reuchlins Vorrede zu der Hebräischen Grammatik vermag dies gezeigt zu haben.

2.1.2. Sophokleische

Weisheitals praktische Philosophie

(Hutten)

Eine vergleichbare Funktion als rhetorisches Argument besitzt Sophokles auch im Werk Ulrichs von Hutten (1488-1523), der unter dem Einfluß Reuchlins auf die griechische Antike aufmerksam wurde. Hutten sah sich selbst als »Reuchlinist«45 und setzte sich mit dem Triumphus Capnionis (1514) und seiner Beteiligung an der Redaktion der Dunkelmännerbriefe für die Ziele des Reuchlinschen Humanismus ein.46 Seit seinen philologischen Studien in Erfurt (seit 1503), Köln (seit 1505) und Frankfurt an der Oder (1506) und dem Griechischunterricht, den er in Leipzig erteilte (1508), ist die Wertschätzung der griechischen Antike als biographische Konstante präsent.47 Huttens Aufenthalte in Pavia (1512) und Bologna (1515) dienten nicht nur der juristischen Ausbildung, sondern auch dem Studium des Griechischen; für den Aufenthalt in Bologna sind der Unterricht bei dem Griechen Tryphon und die Lektüre von Lucian und Aristophanes belegt, die nachweislich Huttens späteres dichterisches Werk beeinflußt haben. 48 Die Verbindung zu Gelehrten wie Crotus Rubeanus, Mutianus Rufus, Nikolaus Marschalk, Willibald Pirckheimer sowie die Bewunderung für Erasmus haben Hutten wahrscheinlich in seinen Bemühungen um die griechische Antike

44 45 46

47 48

führt, zu denen auch die Sophokles-Ausgabe gehört, vgl. K. Preisendanz, »Die Bibliothek Johannes Reuchlins«, in: M. Krebs (Hg.), Johannes Reuchlin, S. 35-82. Vgl. A. Börner, Epistolae obscurorum virorum, S. 190. Brief an Pirckheimer 13. I. 1517, in: Ulrichi Hutteni Opera, hg. von E. Böcking, 5 Bände und Suppl., Leipzig 1859-1870, hier Band I, S. 129f. D. F. Strauß, Ulrich von Hutten, 2 Teile, Leipzig 1858, Buch I, S. 189; W. Frey, »Multum teneo de tali libro. Die epistolae obscurorum virorum«, in: P. Laub (Hg.), Ulrich von Hutten, Ritter-Humanist-Publizist 1488-1523. Katalog zur Ausstellung des Landes Hessen anläßlich des 500. Geburtstages, 1988, S. 197-209, hier S. 202. D. F. Strauß, Ulrich von Hutten, Band I, S. 16-39; H. Holbom, Ulrich von Hutten, Göttingen 1968, S. 31-38. D. F. Strauß, Ulrich von Hutten, Band I, S. 62 und 118. H. Holbom, Ulrich von Hutten, S. 76 und 79; O. Gewerstock, Lucian und Hutten. Zur Geschichte des Dialogs im 16. Jahrhundert, Berlin 1924.

16

bestärkt. Auf seine Beschäftigung mit griechischer Dichtung und Historiographie lassen bereits die in den frühen Elegien In laudem Marchiae (1506) und Vir bonus (1513)49 sowie in den Quere/ae-Elegien (1510) evozierten mythologischen Figuren schließen: In der Elegie an die Muse erscheinen Griechenland und seine Landschaften sinnbildlich als Orte der dichterischen Inspiration und der Offenbarung von Weisheit.50 In der Elegie an den Leser sind ihm Piaton und Pythagoras Vorbilder für die eigene Reisefreude.51 Zusammen mit der lateinischen Sprache und Literatur wird bei Hutten stets auch die griechische erwähnt: So etwa, wenn schon der Umstand, daß die Medici in Florenz die griechische ebenso wie die lateinische Literatur wieder zum Leben erweckt hätten, diese Fürsten über die Kategorie der Tyrannen erhebt, einen Stand gegen den Hutten nicht zuletzt seit seinem Streit mit Ulrich von Württemberg andernorts mehrfach polemisiert hat: »cuius alterius beneficio revocatae ab interitu Graecae pariter ac latinae sunt literae? ut soli sint in Italia Florentini quos tanto accepto commodo tyrannorum poenitere non debeat«.52 An Pirckheimer schreibt er, daß die Vertrautheit der Deutschen mit der griechischen und italienischen Sprache diese den Kulturen der beiden Länder annähern solle: »bonae artes reviviscant, utriusque linguae commercium nobis cum Graecis ac Italis conveniat«.53 In der Klage über die Entartung der Deutschen, Quod ab illa antiquitus Germanorum claritudine nondum degeneraverint nostrates (1518), lobt er zwar die »gloria maior quam fuit illa vetus« der Germanen,54 rügt jedoch an den deutschen Geschichtsschreibern das mangelnde Interesse an der eigenen nationalen Vergangenheit und weist auf die »ampla volumina Graiae historiae« hin, die er für vorbildlich hält.55 In zunehmendem Maße reichert Hutten seine Schriften mit Anekdoten und Sentenzen an, deren Quellen Böcking nachgewiesen hat: Plutarch, Athenaeus, Apollonius Rhodius und andere antike und spätantike Werke und Autoren. In dem berühmten Brief an Pirckheimer, in dem er Rechenschaft über sein Leben ablegt und zugleich ein Lebensprogramm für die Zukunft entwirft, erwähnt Hutten den Erhalt des Onomasticon von Pollux und des 49 Ulrichi Hutteni Opera, Band III, S. 5 und S. 13-17. 50 Ebd., S. 36. 51 Ebd., S. 43; vgl. P. G. Schmidt, »Ulrich von Hutten als humanistischer Dichter«, in: P. Laub (Hg.), Ulrich von Hutten, Ritter-Humanist-Publizist 1488-1523, S. 231-236, hier S. 232. 52 »Praefatio in Laur. Vallae de donatione Constantini« (1517), in: Ulrichi Hutteni Opera, Band III, S. 158 (Ü: Durch wessen Verdienst sonst sind griechische und ebenso lateinische Literatur vor dem Vergessen bewahrt worden? Wie einzigartig mögen die Florentiner in Italien sein, die sich, da sie einen solchen Vorteil empfangen haben, wohl kaum über Tyrannen beschweren dürften?). 53 Brief an Pirckheimer, »Epistola vitae suae rationem exponens«, 25. 8. 1518, in: Ulrichi Hutteni Opera, Band I, S. 195-217, hier S. 214. 54 Ebd., S. 331-340, bes. v. 107. 55 Ebd., v. 46; vgl. P. G. Schmidt, »Ulrich von Hutten als humanistischer Dichter«, S. 234.

17 Hesychius-Lexikons, die für den wißbegierigen zeitgenössischen Gelehrten stets Fundgruben im Bereich der griechischen Literatur darstellten.56 Neben Zitaten aus Vergil, Cicero und Seneca ist schon zu Anfang des Briefes auch die griechische Antike mit einer Sokrates-Anekdote in Xenophon vertreten. Zugleich ist jedoch vor allem dieser Brief eine Verteidigung Odysseischer Lebensführung. Huttens Bewunderung für die Odyssee, hinsichtlich der Homer-Rezeption im deutschen Humanismus bereits eingehend untersucht,57 wird nicht nur in den Afemo-Gedichten (1509 und 1515) manifest, sondern auch in den Epigrammen auf Maximilian I. und in dem Klagegedicht über die Ermordung seines Vetters (1518).58 Als Hutten während eines Aufenthalts in Venedig in den Kreis von Latinisten und Gräzisten um Baptista Egnatius aufgenommen wird, beschreibt er sich in einem Brief an Erasmus (21. Juli 1517) als »Ulyssem aliquem«, der bei Alkinoos Zuflucht gefunden habe.59 Dieser antonomastische Selbstbezug erfahrt jedoch in Huttens frühem Dialog Aula (1518) eine entscheidende Bedeutungserweiterung:60 Die abenteuerliche Schiffahrt des Odysseus und die Gefahren und Hürden, die er zu überwinden hatte, parallelisiert Hutten mit dem Leben am Hof. In dem als Nachwort zu diesem Dialog zu verstehenden Brief an Pirckheimer (1518) sind die humanistischen Studien Gegenstand der Reflexion; nicht jedoch primär ihre Nützlichkeit und Ehrbarkeit werden verteidigt, sondern vor allem ihre Vereinbarkeit mit dem tätigen und gesellschaftlichen Leben. Im Vordergrund steht die lebensbejahende und menschenfreundliche Dimension der humanistischen Studien und nicht deren moralischer Nutzen, wie er im reformatorischen Humanismus zu verteidigen sein wird. Dem Menschen in allen lebensnotwendigen Angelegenheiten dienlich zu sein, erklärt Hutten als sein Anliegen. Gegen Einsamkeit und Askese als Voraussetzungen der Gelehrsamkeit rechtfertigt Hutten Wohlstand und materielle Güter als legitime Begleiter geistiger Tätigkeit. Somit bezieht dieser Brief, als innerstes Selbstbekenntnis Huttens erkannt,61 einen Kompromiß zwischen der Ablehnung einer solchermaßen materiell gesicherten Lebensweise in der Aula (1518) und ihrer Anerkennung als eines begehrenswerten, der geistigen Tätigkeit forderlichen Gutes im späteren Werk. In dem darauffolgenden Dialog Fortuna (1520), der um das Streben nach materieller Sicherheit kreist, liefert nun Sophokles ein für diese Gedankenentwicklung entscheidendes Argument. In diesem dritten seiner Dialoge betrachtet Hutten das soziale Ansehen nicht wie in der Aula aus der Perspektive des jungen, nach Erfahrungen und 56 57

58 59 60 61

Ulrichi Hutteni Opera, Band I, S. 195-217, hier S. 214. T. Bleicher, Homer in der deutschen Literatur (1450-1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit, Stuttgart 1972, S. 51-54. Ulrichi Hutteni Opera, Band III, S. 223f., 265, 280, 346 und 4 0 3 ^ 1 2 . Ebd., Band I, S. 147. Ebd., Band IV, S. 45-74. H. Holborn, Ulrich von Hutten, S. 83.

18 sozialem »Emporkommen« trachtenden Castus, nur um es schließlich durch Misaulus als Sklaverei entlarven zu lassen.62 In diesem späteren Dialog tritt Hutten selbst als Hofkritiker auf. Als Gaben verlangt er zwar Reichtum, doch nicht um den höfischen Status zu bewahren, sondern um die auf Muße gegründete dignitas wahren zu können. 63 Die Opposition von Freiheit und Sklaverei in der Aula64 verlagert Hutten hier auf einen Gegensatz zwischen einem bloß materiellem Reichtum geschuldeten Ansehen und geistiger Dignität. Schon zu Beginn des Dialogs erklärt er, daß die dignitas, nach der er strebe, eine andere als jene der Reichen sei: »Quaedam est etiam in otio dignitas, non minus ea, quam illi mordicus tenent locupletes, curanda«.65 Fragt ihn Fortuna später, warum er an den Hof gegangen sei, nennt er im Gegensatz zu Castus als einzigen Beweggrund den Reichtum: »Quod videbam facile ibi locupletari aequales«.66 Im Hofdienst bereits erfahren, ist er Castus einen Schritt voraus und weiß, daß der Hofdienst nicht unbedingt Muße ermöglicht, wie er schon im Brief an Pirckheimer angedeutet hat. 67 Die höfischen Würden sind also für ihn nicht mehr von Belang, durchaus jedoch materielle Sicherheit und Bequemlichkeit, wie Hausbesitz und Ehe sie versprechen. Im Gegensatz zu der Aula, in der schließlich Castus der Hofkritik des Misaulus zustimmt, endet der Fortuna-Dialog, in dem keiner der beiden Gesprächspartner das letzte Wort behält, in einer Aporie. Wie zu dem Zeitpunkt der Aula Huttens persönliche Einstellung zum Hof weder die des Castus noch des Misaulus war, 68 so gibt auch hier keiner der beiden Sprecher die Ansichten Huttens wieder. Darauf verweist schon die Tatsache, daß die entgegengesetzten Thesen nicht wie in dem frühen Dialog eindeutig kontrapunktisch auf die zwei Personen verteilt sind. Die gabenspendende Fortuna vertritt zwar das Prinzip des blinden Zufalls, weist jedoch zuweilen auch auf die übergeordnete Providenz hin. 69 Andererseits plädiert zwar Hutten für das Prinzip der Gerechtigkeit und der Belohnung des Fleißes, die Hoffnung auf das Glück aber will er deshalb nicht aufgeben. 70 Der Dialog, in dem Hutten sich selbst als eine der Fortuna analoge Kunstfigur auftreten läßt, scheint vordergründig ein die Positionen beider Gesprächspartner ver62

63 64 65

66 67 68 69 70

W. Kühlmann, »Edelmann-Höfling-Humanist. Zur Behandlung epochaler Rollenprobleme in Ulrich von Huttens Dialog Aula und in seinem Brief an Willibald Pirckheimer«, in: A. Buck (Hg,), Höfischer Humanismus, Weinheim 1989, S. 161-182, hier S. 172. Ulrichi Hutteni Opera, Band IV, S. 78; vgl. hier auch S. 94. W. Kühlmann, »Edelmann-Höfling-Humanist«, S. 167. Ulrichi Hutteni Opera, Band IV, S. 88 (Ü: Auch in der geistigen Betätigung liegt eine gewisse Würde, die nicht weniger zu pflegen ist als jene, an der die sogenannten Reichen verbissen fethalten.). Ebd. (U: Weil ich sah, daß meine Altersgenossen dort leicht zu Reichtum kommen.) Ebd., Band I, S. 195. H. Holbom, Ulrich von Hutten, S. 80. Ulrichi Hutteni Opera, Band IV, S. 81 und 83. Ebd., S. 81 und 86.

19 tauschendes Rollenspiel zu inszenieren; doch ermöglicht diese ironische Relativierung die ernsthafte Reflexion des dabei in Frage stehenden Prinzipiengegensatzes. Gibt Fortuna den Wünschen Huttens nach, so nur, um letzlich die Oberflächlichkeit, Vergänglichkeit und Relativität dieser Wünsche aufzuzeigen. Sie überspitzt den Jenseitsglauben des Klerus und verwechselt absichtlich Vorsehung und Vorbestimmung, um auf die damit verbundene Gefahr moralischer Indifferenz sowie auf das Problem des freien Willens hinzuweisen.71 In ähnlicher Weise akzeptiert Hutten vorläufig die Alleinherrschaft des Zufalls, was ihm erlaubt, die ungerechten Verhältnisse in der Welt anzuprangern. Er täuscht einen naiven Glauben an die verzerrte Providenzlehre der Theologen vor, um ihre Widersprüche aufzuzeigen und zugleich am Beispiel seiner Person die Treuherzigkeit mancher Gläubigen zu karikieren.72 So enthüllt diese Form der Darstellung ex negativo die moralischen Konsequenzen eines jeden ausschließlichen Glaubens an das eine oder andere Prinzip. Denn nicht bloß von dem zentralen philosophischen Problem der Existenz einer Providenz handelt dieser Dialog, sondern von den praktischen Folgen, die eine auf ihr basierende Moral haben kann. Fortuna negiert keineswegs die Vorsehung, vielmehr stellt sie die ungerechte Verteilung der Güter dar, und zwar aus menschlicher Perspektive. Auf die Frage nämlich, ob es eine Providenz gebe, antwortet sie: »Aliqui putant, ego me esse scio«.73 Anstatt die Vorsehung zu dementieren, legt Fortuna den Akzent auf die eigene Existenz. Den Erfolg der Bösen und das Unglück der Guten, die Ungerechtigkeit in der Welt bestreitet sie nicht, denn sie verkörpert sie selbst. Ihr Gesprächspartner beharrt auf dem Ideal einer gerechten Welt; daß sie zumindest möglich und beispielsweise die Bestrafung der Lasterhaften realisierbar sei, belegt Hutten am Unglück eines grausamen Fürsten, nämlich an der Niederlage des Herzogs von Württemberg; dies jedoch relativiert wiederum Fortuna, indem sie auf die Möglichkeit seiner künftigen Wiedereinsetzung hinweist.74 Was zunächst als unüberwindbarer Gegensatz von Prinzipien erscheint, erweist sich als ein Unterschied von Perspektiven, die sowohl zeitlich als auch räumlich bloß partielle Einblicke in das Weltgeschehen erlauben. Eine globale Perspektive ist nur der Vorsehung beschieden: Sie kann in Zeit und Raum vorauseilen, die Zukunft voraussehen, unter die Oberfläche der Welt schauen. Sowohl am Anfang sowie am Ende des Dialogs verweist Fortuna auf ihren Vater Jupiter, der von seiner olympischen Warte aus die tatsächlichen Zusammenhänge in der Welt überblickt, die Vorläufigkeit der Erfolge kennt, die wahre Tugendhaftigkeit des Einzelnen und seine eigentlichen Absichten ermißt: »sed hoc vetat Iupiter, quemquam praeter se nosse hominum mentes«.75

71 72 73 74 75

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

84. 85f. 83. 83f. 99.

20 Im gelegentlichen Rollentausch der Gesprächspartner spiegelt sich das verhandelte Problem: die Relativität der Perspektiven. Eine einzige Perspektive kann die Realität nicht vollständig erfassen. Vielmehr erfordert sie den Übergang zu einer anderen Sichtweise, die jedoch selbst auch eine eingeschränkte ist und wiederum einen Blickwechsel erfordert. Daß durch den Kunstgriff des Rollentausches das Wesen der dargelegten Problematik erfaßt wird, verdeutlicht auch Fortuna, wenn sie das ihr innewohnende Prinzip der Wechselhaftigkeit als ein Rollenspiel beschreibt: »Atque illa ego sum scena, ex qua alias alii induti personas prodeunt, rursusque intrant atque iterum exeuntes depositis prioribus novas continuo adsumunt«.76 Reflektieren Stichomythie und Gesprächsduktus diesen Wechsel formal, so läßt sich auch makrostrukturell die gesamte Dialogführung im Bilde eines rotierenden Kreises fassen: Gedanken kehren zurück, um von Neuem wieder aufgenommen zu werden. 77 Der Anfang des Dialogs zeigt die Relativität materieller Güter in quantitativer sowie qualitativer Hinsicht: Die reichen Bürger hielten sich immer für ärmer als die noch reicheren; Reichtum verwöhne die Tugendhaften und verführe sie zum Laster, zudem habe er keine dauerhafte Substanz. Als sich Hutten darüber empört, daß trotzdem die Bösen Glück hätten und er die Providenz nirgends wahrnehme, vermittelt Fortuna zwischen Providenz und menschlicher Verantwortung mit dem Hinweis auf Fleiß und Wachsamkeit. 78 Dem vergänglichen Reichtum sei die kluge Bescheidung mit einer »mens sana in corpore sano« vorzuziehen, da ein arbeitsfähiger Körper und ein wachsamer Geist von den guten Gelegenheiten profitieren könne. Der ungeduldige Gesprächspartner zeigt sich zwar einsichtig, weist jedoch ihre weisen Anleitungen als gelehrten Unterricht ab und kehrt zu seiner Forderung zurück: »Literas iam ante didici, ad te ut didiscam venio«.79 Er kritisiert die Spitzfindigkeiten in der Vorsehungslehre der Theologen und entlarvt die sich darauf stützende Doppelmoral des Klerus. Fortuna entgegnet ihm zwar erneut mit einer Vermittlung von Glück und Tugend, die sie jedoch anders als bloße Frömmigkeit versteht. In den weisen Sprüchen der griechischen Dichter findet sie die Verbindung von Kontingenz und Heilsgeschichte:

7(

> Ebd., S. 96 (Ü: Und ich aber favorisiere eine Kulisse, aus der man in der einen Rolle auf die Bühne tritt, wiederum hinter die Kulisse verschwindet und, erneut hervortretend, die alte Rolle abgelegt und fortwährend eine neue angenommen hat.). 77 Das Rotationsprinzip im Dialogaufbau und dessen symbolische und satirische Bedeutung sind als bloße »Widerspruch« und »Unsicherheit« Huttens gesehen worden, vgl. A. Dören, »Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance«, in: F. Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg, Band 2, 1, Leipzig und Berlin 1924, S. 71-144, hierS. 113f., Anm. 78 Ulrichi Hutteni Opera, Band IV, S. 81: »qui per desidiam diligentes parum circa rem parandam cum sitis, oscitantibus vobis bona evenire vultis, magnas interim ac perbonas occasiones praetereundo«. 79 Ebd., S. 83.

21 Fortuna: Mittamus religionem igitur; ad hoc redeamus quod mecum sentiunt theologi, conandum esse, laborandum et desudandum. quod nisi docuissent te illi, ab Epicharmo referi poeta, t ö v itövcov jia>A.otxnv fifiiv, inquit,

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9eoi. Huttenus: Sophocli credidissem, qui dicit, 9e6 itapvoxaxai. Fortuna: Aut Euripidi, fortunas ex laboribus venari oportere monenti, xöv jtovowccov Becx; cuXXajißavei.^O

yap

Wohlweislich wählt der Autor für seinen Gedankengang aus der StobäusSammlung solche Sentenzen, die sich auf das Verhältnis von TUXTI und Mensch beziehen, dabei aber, statt die Fortuna zu berufen, den allgemeineren Begriff öeoq als Bezeichnung einer dem Menschen übergeordneten Kraft verwenden; damit stellt Hutten eine Kongruenz zwischen heidnischem und christlichem Glauben her. Indem Hutten monotheistische Tendenzen in der SophoklesSentenz anklingen läßt, erweist er sich auch hier als Erbe Reuchlins. Sophokles verleiht Hutten besonderes Gewicht, indem er ihn an zentraler Stelle in der Mitte des Dialogs zitiert; wie bereits zu Anfang des Dialogs, wird auch die in der Sophokles-Sentenz enthaltene Lehre thematisiert. Ging es bei der anfanglichen Ermahnung darum, Gott Jupiter bzw. die Vorsehung von der Verantwortung für jedes Unglück zu entlasten und eine passive Ergebung der Menschen in ihr Schicksal zu verhindern, so soll die SophoklesSentenz die Fleißigen des göttlichen Beistands versichern. Die Sophokleischen Begriffe ermöglichen Hutten, die geläufige Opposition von christlicher Frömmigkeit und Glück auf die Korrelation von wachsamem Fleiß und göttlichem Beistand zu verlagern. Ausgehend von einer Kritik an der klerikalen Doppelmoral und gestützt auf der griechischen vita activa, entwickelt Hutten eine an der christlichen Lehre der tatkräftigen Tugend orientierte Moral (»mecum sentiunt theologi«). Den Zusammenhang von Gottes Beistand, eigener Leistung und Fortunas Gunst erläutert der Autor auch in der Widmungsvorrede an den gelehrten Bischof Konrad von Würzburg: Die eigene Tugendhaftigkeit lenke die Zufalle zum Guten, da die Gaben Fortunas mit dem Fleiß der Menschen einhergingen.81 Die zweite Hälfte des Dialogs bezieht sich nicht mehr auf die verfälschten Lehren des Klerus, sondern handelt von der Möglichkeit, durch Fleiß materielle Sicherheit zu erlangen. Hutten nimmt Fortunas Verweis auf die stete Gefährdung des Reichtums durch Naturkatastrophen, Diebstahl und Krankheit zum Anlaß, seine bereits am Anfang gestellten Forderungen zu wiederholen; nicht großen Reichtum verlange er, sondern nur das Notwendige: »quoties dicam non appetere divitias me, sed necessaria petere«.82 Das Prinzip der Wiederholung, das den Aufbau des Gesprächs bestimmt, wird 80

81 82

Ebd.; vgl. Stobäus, Florilegium, 3. Buch, XXX, 6a. Die Sophokles-Zuschreibung dieses Verses aus einem zweifelhaften Sophokles-Fragment ist sehr umstritten (vgl. Tragica Adespota Fragmenta, 527, N 2 ). Ebd., S. 76. Ebd., S. 91.

22 hier von Hutten sogar benannt; einige Zeilen später muß er nochmals seine Wünsche mit dem Begriff der Autarkie umschreiben.83 Auf Huttens Empörung darüber, daß ihm eines ihrer Geschenke vorenthalten und zu Unrecht einem bereits reichen und zugleich untüchtigen Menschen gegeben wurde, antwortet Fortuna: »quia forte plus vigilavit«.84 So nimmt auch die zweite Hälfte des Dialogs den bereits mit der Sophokleischen Sentenz ausgedrückten Begriff der Wachsamkeit nicht bloß wieder auf, sondern illustriert die Fähigkeit zu Wachsamkeit an einem konkreten Beispiel: Die Glücksgöttin schüttet zwar aus ihrem Horn willkürlich ihre Gaben, doch um in deren Besitz zu gelangen, bedarf es steter Wachsamkeit und eines energischen Zugriffs. Neben der zufalligen Verteilung von Glück und Unglück und der dadurch entstehenden sozialen Ungerechtigkeit verkörpert Fortuna auch das Prinzip des Unerklärlichen und Unberechenbaren in der Geschichte. Die Macht des Zufalls gewinnt eine welthistorische Dimension, wenn Hutten die Wahl Kaiser Karls V. als aus dem Füllhorn der Fortuna geworfenes Glückslos darstellt, oder wenn er an die Perikleischen Siege erinnert, die der antike Staatsmann selbst als Glücksgeschenke betrachtete.85 Am Ende des Dialogs verabschiedet sich Hutten von Fortuna, jedoch ohne daß einer den andern vom jeweils eigenen Standpunkt hätte überzeugen können. Beim Abschied zögert Hutten erneut in der Hoffnung, doch noch eines ihrer Glückslose erhaschen zu können, obwohl er weiß, daß Fortunas Gaben keine dauerhafte Dignität garantieren. Damit manifestiert sich auch in Huttens Verhalten das Prinzip der Glücksgöttin, gleicht doch sein Schwanken zwischen Verlangen und Verzicht dem Wankelmut Fortunas. Die sich als Strukturprinzip erweisende Wiederholung ähnlicher Forderungen und Gedanken sowie das offene Ende reflektieren formal das Thema des Dialogs: Sie spiegeln die steten Kreisbewegungen des Rads der Fortuna wider, das immer in Bewegung ist und dessen Rotationen nie enden. Doch liefert der Autor den Menschen solchem willkürlichem Wechsel nicht hilflos aus. Wie das Gespräch zwar immer wieder zu denselben Gedanken zurückkehrt und diese aber aus einer jeweils anderen Perspektive beleuchtet und damit zu neuen Erkenntnissen gelangt, so kann der Mensch mit Wachsamkeit und Fleiß seine Möglichkeiten potenzieren, und aus Fortunas Glückslosen das für ihn beste ergreifen. Seine Fortuna-Konzeption, die menschliche Aktivität und Initiative akzentuiert, hat der Autor am persönlichsten im Brief an Pirckheimer (1518) ausgedrückt: »quanquam non omnia fortunae sint, aliquod illa tarnen ibi momentum habet; ac nescio, an id multum etiam possit. [...]. Atque eo Studium, eo operam adverto ac intendo: diversus opinione ab illis, qui quodcunque est, id satis ducunt«.86 Nachdem ihn die Unterredung 83 84 85 86

Ebd., S. 94. Ebd., S. 94 und 96. Ebd., S. 92 und 98. Ebd., Band I, S. 208f. (Ü: Obwohl nicht alles vom Zufall abhängt, hat er lier doch ein gewisses Gewicht, doch weiß ich nicht, ob er hier auch viel vermag [.. ,.Und darauf

23

mit Fortuna zu diesen Einsichten gefuhrt hat, will sich Hutten an Gott wenden und um einen gesunden, wachsamen Geist in einem gesunden Leib bitten. In der Sophokles-Sentenz fand er denn auch diese Lehre höchst prägnant zusammengefaßt.

2.2.

Kanonisierung des Sophokles als Musterautor des Humanismus

2.2.1.

Die Entdeckung der moralpädagogischen

2.2.1.1. Sophokles im

Qualität

(Erasmus)

Schulunterricht

Reuchlin und Hutten verwendeten nur sporadisch Sentenzen der griechischen Tragiker, die sie vorwiegend aus frühen Anthologien und Sentenzensammlungen bezogen. Dagegen hat Erasmus solche Sentenzen in systematischer Weise rezipiert und in den zahlreichen Auflagen und Neubearbeitungen der ylcfagia-Sammlung (zuerst 1500) ausführlich kommentiert.87 Erasmus stützte sich bei der Auswahl seiner adagia Sophokleischer Herkunft ebenfalls auf antike, spätantike und byzantinische Paroemiographen, auf Lexika und Anthologien, aber auch auf die eigene Lektüre der Sophokleischen Tragödien, die ihm in Manuskripten und in der editio princeps (1502) seines Freundes Aldus Manutius zugänglich waren.88 Auch war für ihn das Werk des Sophokles mehr als nur ein Fundus für Sentenzen und rhetorische Stilelemente; der griechische Tragiker figuriert unter den Autoren, die Erasmus innerhalb seines Bildungsprogramms zur Lektüre empfiehlt. In seiner sprachdidaktischen Abhandlung De ratione studii ac legendi interpretandique auctores (1511) unterscheidet Erasmus zwischen den Auto-

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werfe und konzentriere ich mein Streben und Trachten, darin bin ich anderer Meinung als jene, die jedes Beliebige als ausreichend erachten.). Zur Entstehungsgeschichte der Adagia vgl. M. Mann Phillips, The Adages of Erasmus. A study with translations, Cambridge 1964. Einen Versuch zur Strukturierung der Adagia nach inhaltlichen und alphabetischen Gesichtspunkten unternimmt J. Chomarat, Grammaire et Rhétorique chez Erasme, Paris 1981, Band II, S. 762-765. In der biographischen Skizze seiner Widmungsvorrede an den Kaiser Karl V. in der Frobenschen Edition der Erasmi Opera Omnia (Basel 1540) berichtet Beatus Rhenanus von den Manuskripten der Aldus-Bibliothek und lobt die philologische Sorgfalt der um ihre Emendation bemühten Gräzisten, mit denen Erasmus verkehrte; der Brief ist abgedruckt in P. S. Allen, Opus Epistolarum Des. Erasmi Rotterodami, Tomus I, (1484-1514), Oxford 1906, S. 56-71, hier S. 61: »Patavii doctissimoram virorum Marci Musuri Cretensis et Scipionis Carteromachi Pistoriensis usus est commercio; quorum humanitatem saepe me audiente depraedicare solet, expertus candorem non semel, dum in corruptis Graecorum exemplaribus manu descriptis, quorum magnam partem Aldina bibliotheca suppeditabat, videlicet Pausania, Eustathio, Lycophronis interprete, Euripidis, Pindari, Sophoclis, Theocriti similiumque commentariis, horum exquirit iudicium.«

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ren, die die Lehrer lesen, und denjenigen, die die Schüler studieren sollen: »qui volet instituere quempiam, dabit operam ut statim optima tradat, verum qui rectissime tradat optima is omnium sciat necesse est«.89 Der Lehrer müsse über ein breites Wissen auf allen Gebieten verfügen und sich in allen Fachdisziplinen auskennen,90 was ihm als hermeneutisches Instrument dient, denn: »nulla disciplina est [...] quae non usui sit iis qui poetas aut oratores antiquos susceperint enarrandos«.91 Solche quantitative Vielfalt soll dem Lehrer als Hilfsmittel zur Erläuterung der nach qualitativen Kriterien ausgewählten Autoren dienen, deren Nachahmung das Ziel der Lektüre im Unterricht ist: Die »loquendi facultas« der klassischen Autoren solle angeeignet werden. 92 Diese erlangen die Studenten im Rahmen eines vierstufigen Programms: Nachdem auf den ersten zwei Stufen sukzessiv Aussprache (»formando ore«) und grammatisch korrektes freies Sprechen (»loqui accuratius«)93 in den zwei klassischen Sprachen gefestigt worden sind, wird auf einer dritten Stufe anhand geeigneter Textvorlagen das bereits Erlernte vertieft. 94 Zur Einprägung werden »thematia« einstudiert: Hier geht es um das Abschreiben von Texten aus den »bonis auctoribus«, die eine »historia memorabilis« (aus dem Werk von Livius oder Ennius), eine »sententia« (aus Ovid, Cicero oder Sallust) oder eine »fabula« (aus Äsop), ein »apophthegma«, eine »parabola«, ein »proverbium« oder ein besonders elegantes Stilmerkmal (»exquisitam elegantiam«) enthalten.95 Auf der vierten und höchsten Stufe werden schwierigere Texte aus den »auctores graviores« eingeübt.96 Zugleich steigen die Anforderungen an die Schüler: Das Erlernte soll aktiviert werden. Die nachzuahmenden Texte enthalten auch hier entweder eine Sentenz oder eine besondere rhetorische Figur, die die Schüler abwandeln sollen; oder sie sollen solche Figuren in Übersetzungen aus der Muttersprache ins Lateinische und Griechische einbeziehen. 97 Diese Übung muß der Lehrer mit einer Erläuterung der Muster89

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Erasmus von Rotterdam, Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Recognita et adnotatione critica ins trucia notisque illustrata, Amsterdam 1969ff. (zitiert als AMS mit zugeh. Bandzahl), hier Band 1/2, S. 119 (Ü: Wer jemanden unterrichten will, wird sich Mühe geben, das Beste unmittelbar zu vermitteln, der wisse wohl, daß er dazu allen Wissens bedarf.). Vgl. AMS 1/2, S. 120-123, wo verschiedene Fachdisziplinen genannt werden: »ex omni disciplinarum genere«, »philosophiam«, »in theologis«, »fabularum vis«, »cosmographia«, »de re rustica«, »de re militari, de architectura«, »de plantis, de naturis animantium«, »antiquitas«, »deorum genealogia«, »astrologia«. Ebd., S. 124 (Ü: Es gibt keine Fachwissenschaft, [...] die denen nicht von Nutzen wäre, die es auf sich genommen habne, die alten Dichter und Redner zu kommentieren.). Ebd., S. 115. Ebd., S. 125. Die Unterrichtsmethodologie im De ratione studii erläutert J. Chomarat, Grammaire et Rhétorique chez Erasme, Band 1,412f. AMS 1/2, S. 126-129. Ebd., S. 130. Vgl. J. Chomarat, Grammaire et Rhétorique chez Erasme, Band I, S. 520-523.

25 texte begleiten, so daß die Schüler besser erfahren, was sie nachzuahmen haben - »verborum quoque et figurarum copiam debet indicare«. Zusätzlich solle man den Aufbau der Texte erklären, damit die Schüler selbst eine Rede gestalten können, »ad inveniendi laborem«.98 Nach den Übersetzungsübungen und den zugehörigen Texterläuterungen können die Schüler dann zur freien Komposition übergehen: Sie sollen versuchen, über eine imaginäre causa die entsprechende forensische Rede zu verfassen. Beispiele für solche fiktiven Fälle böten sowohl die Geschichte als auch die Dichtung. Neben Homer, Euripides und Vergil sind auch bei Sophokles hierfür geeignete Topoi zu finden: »Nec mihi displicet illud exercitationis genus quod apud antiquos in usu video fuisse, ut ex Homero, Sophocle, Euripide, Vergilio, aut etiam ex historiis aliquanto legantur thematia.«99 Gewiß sind diese Lernmethode und die angeführten Beispieldichter nicht neu, wie Erasmus selbst zugibt (»apud antiquos in usu video fuisse«); mit gutem Grund aber greift Erasmus auf diese Traditionen zurück: Euripides hatte er bereits 1505 übersetzt, 100 und seine Vorliebe für Homer und Vergil kommt in seinem Werk mehrfach zum Ausdruck. Dieselben Dichter preist er in dem einleitenden Teil dieser Abhandlung, der die sprachdidaktischen Vorteile der Lektüre und Erläuterung der beredsamen Autoren lobt: »ex eloquentium auctorum assidua lectione e quibus ii primum sunt imbibendi, quorum oratio [...] argumenti quoque illecebra aliqua discentibus blandiatur. [...] Rursum ex poetis primas [tribuerim] Aristophani, alteras Homero, tertias Euripidi«.101 Ergänzend werden in diesem Kontext auch Menander, Terenz, Plautus, Vergil und Horaz genannt. 102 Zur Darstellung der Lernziele und -methoden der vierten Unterrichtsstufe rekurriert Erasmus jedoch nicht mehr auf die Komödiendichter; nach Homer wird gleich Sophokles genannt 103 - steter Repräsentant der »graviores auctores«, der dieselben rhetorischen Qualitäten wie Seneca und Cicero aufzuweisen habe und zur selbständigen Entwicklung rhetorischer Eigenschaften anrege. Die Konstellationen der Sophokleischen Tragödien sollen den Schülern als Folien dienen, die zum Wettstreit nicht nur mit dem Vorbild (»ad inventum, tractantum ac imitantum«), sondern auch mit den Mitschülern aufforAMS 1/2, S. 133. " E b d . , S. 135 (Ü: Und gut gefällt mir jene Art der Übung, die bei den Alten in Gebrauch gewesen zu sein scheint, daß nämlich aus Homer, Sophokles, Euripides, Vergil oder sogar in großem Maße aus den Geschichtsschreibern Themen gesammelt werden.). 100 Iphigenia in Aulide und Hecuba, in: AMS 1/1. 101 Ebd., 1/2, S. 115 (Ü: [...] aus der ständigen Lektüre der beredten Schriftsteller, von denen man sich zuerst jene aneignen soll, deren Rede [...] auch durch einen gewissen Reiz des Inhalts die Lernenden besticht [...]. Von den Dichtern wiederum könnte ich Aristophanes den ersten Rang, den zweiten Homer und den dritten Euripides zuerkennen.). 102 Ebd., S. 115. 103 Ebd., S. 135: »ut ex Homero, Sophocle, Euripide, Vergilio, aut etiam ex historiis aliquando legantur themata.«

26 dem: »extimulabit autem praecipue discentium animos, comparatione profectus, velut aemulatione quadam inter ipsos excitata.«104 Für die rhetorische Fertigkeit nennt die Erasmische Studienordnung Cicero als vorbildlichen Prosa-Autor. Nicht nur empfiehlt ihn Erasmus im einleitenden Teil, der zur »eloquentium auctorum assidua lectio« auffordert, an vierter Stelle, nachdem er Plautus, Vergil und Horaz erwähnt hat, 105 sondern er zählt ihn wie auch Demosthenes zu den Autoren, deren »immodica eloquentia« als Musterbeispiel für die »thematia« der dritten Stufe gelobt wird. 106 Zudem empfiehlt er neben den Briefen des Plinius auch die des Cicero als nachahmenswerte Muster für schriftliche Übungen der letzten Unterrichtsstufe: »interim Plinianam aut Ciceronis epistolam verbis ac figuras saepius efferant.« 107 Sophokles als vorbildlichen Dichter und Cicero als vorbildlichen Prosaschriftsteller hat Erasmus in einer späteren Schrift in Beziehung zueinander gebracht: Gemeint ist der Dialog Ciceronianus sive de optimo dicendi genere (1528), der die Vorbildlichkeit der Ciceronianischen Rede behandelt. Im zweiten Teil des Dialogs, der die zuvor vom Dialogpartner Nosoponus befürwortete Allgemeingültigkeit des Ciceronianischen Stils in Frage stellt, wird Ciceros Schwäche in der gebundenen Rede, der Versdichtung (»Carmen«), kritisiert. Zum Beweis solcher Kritik verweist Bulephorus darauf, wie wenig glücklich Cicero Verse griechischer Dichter übersetzt habe, die er als metrische Einsprengsel zitiere: Quam multos versus admiscet scriptis suis ex Homero, Sophocle et Euripide parum feliciter versos, praeter Graecorum exemplum in iambicis eam usurpans libertatem, quam sibi Latini comoediarum scriptores permiserunt [...]. An non dehonestat orationem soluta, qui versiculos, quos vertendo facit suos, parum reliquiae dictioni congruentes admiscet. 108

Diese kritische Bemerkung verdeutlicht, daß Cicero auf dem Gebiet der gebundenen Sprache dem Dichter Sophokles unterlegen ist. Nur als Prosa-

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Ebd., S. 136 (Ü: Sie wird aber besonders durch die Möglichkeit, die Fortschritte zu vergleichen, gleichsam wie durch einen munteren Konkurrenzeifer, die Aufnahmebereitschaft der Schüler fördern.). 105 Ebd., S. 116; vgl. J.-C. Margolins Anmerkung, ebd., S. 116, 3 ^ . Ebd., S. 127. 107 Ebd., S. 132; in derselben Abhandlung wird Cicero fur die »iocandi rationes«, ebd., S. 142, und den Aufbau der Rede Pro Milone, ebd., S. 145, gelobt; zudem empfiehlt Erasmus Ciceros De claris autoribus - neben Quintilian, Senecas Anthologie und des CampanusCensurae - als poetologisches Hilfsmittel für die Texterläuterung und die Entwicklung einer poetischen Urteilskraft (»iudicium«), ebd., S. 145. •08 Erasmus von Rotterdam, »Dialogus cui Titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere«, AMS 1-2, S. 623 (Ü: Wie oft flicht er in seine Schriften viele Verse aus Homer, Sophokles und Euripides ein, die er nicht besonders erfolgreich übersetzt, wobei er gegen die Praxis der Griechischen Dichter in den Iamben sich jene Freiheit nimmt, welche die Lateinischen Komödiendichter erlaubten [...]. Und beeinträchtigt die Qualität der Prosa nicht, wer kurze Verse in eigener Ubersetzung einfugt, die nicht auf derselben Ebene stehen wie der Stil der übrigen Rede?).

27 schrifitsteller behauptet Cicero seinen vorbildlichen Rang. Die anticiceronianische Kritik gilt dem Prinzip, daß jeder Autor in dem ihm eigenen genus und nicht sowohl in der Prosa als auch im Versmaß sich bewähren kann; auf dem Gebiet der Dichtung etabliert Erasmus andere Klassiker als Autoritäten, darunter auch Sophokles. Aufgrund des Problems der »imitatio« entwickelt Erasmus im dritten Teil des Ciceronianus eine Theorie, die sich auf dem Schlüsselbegriff des »aptum« bzw. »decorum« stützt. Daraus ergibt sich im vierten Teil das besondere Problem, wie denn Ciceros Vorstellungswelt mit der neuzeitlichchristlichen zu vereinbaren sei, in der nicht nur andere Begriffe und Symbole, sondern auch andere Werte gelten. Der Kritiker des Ciceronianismus, Bulephorus, bestreitet, daß man vom christlichen Gott mit denselben Worten sprechen dürfe, die Cicero für die antiken Götter verwendet; auch die Anspielungen und Zitate aus heidnischen Autoren können der Rede eines Christen nicht genügen. Damit möchte Bulephorus die Umorientierung von der paganen zur christlichen Antike der biblischen Autoren und Kirchenväter begründen. Die Fülle solcher unaktueller, paganer Zitate im Werk Ciceros illustriert folgende Dialogpassage: Bulephorus: Ad haec norme gratia sermonis bona ex parte pendet ex condituris et allusionibus? At M. Tullius unde sumit haec condimenta? Nonne ex Homero Euripide Sophocle Ennio Lucilio Accio Pacuvio Naevio, tum ex philosophorum et historicorum libris? Nosoponus: Nimirum sine his omamentis sordida ac trivialis est oratio. Haec ceu gemmae flosculive intertexa reddunt admirandum quod scribitur. '09

Noch deutlicher als bei der Kritik an Ciceros Übersetzung metrischer Dichtung stimmen hier die beiden Dialogpartner - sowohl der Kritiker als auch der Verehrer Ciceros - darin überein, daß die »gratia« der Ciceronianischen Rede den »gemmae flosculive« zu verdanken sei, die der Rhetor griechischen und römischen Autoren entlehnt habe. In diesem Vorwurf an Cicero, daß er nur von der poetischen Schönheit anderer Dichter lebe, wird jedoch wenn auch nur indirekt - dem griechischen Dichter Sophokles Reverenz erwiesen. Er gehört zur Reihe der Leihgeber, denen das Werk Ciceros erst seine Schönheit verdankt. Auch wenn zusammenfassend festgestellt werden kann, daß Sophokles nur einer unter anderen Autoren ist, die dazu dienen, die Autorität Ciceros zu relativieren, hatte Erasmus ein differenziertes Bild der Sophokleischen Kunst entwickelt, das gerade an der Sammlung, Kommentierung und selb-

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Ebd., S. 644 (Ü: Bulephorus: Hängt übrigens die Schönheit der Darstellung nicht auch zu einem guten Teil davon ab, daß man sie mit Zitaten würzt? Woher aber nimmt Cicero diese Würze? Doch wohl aus Homer, Euripides, Sophokles, Ennius, Lucilius, Accius, Pacuvius und Naevius, sodann aus den Werken der Philosophen und Historiker? Nosoponus: Gewiß, ohne den Schmuck der Zitate ist die Rede armselig und trivial. Sie aber gleichsam als Juwelen und Blüten machen das, was man schreibt, erst schön und bewundernswert.).

28 ständigen Übersetzung Sophokleischer Verse abzulesen ist. 110 In seiner Einleitung »Quid est proverbium« zu den Adagiorum Chiliades (1508) erklärt Erasmus, auf welchem Weg ein proverbium in den Volkssprachgebrauch gelangt sei: Entweder sei es einem Orakel der antiken Götter entnommen oder Sprüchen der alten Weisen, die in der Antike als den Orakeln gleichwertig galten; oder sie stammten aus den Werken antiker Autoren, überlieferten Fabeln und Apophthegmata: e poeta quopiam maxime vetusto, ut Homericum illud, Pexöev 8e t e vrpticx; eYvco, i. e. Rem factam etiam stultus intelligit. Item illud Pindaricum, ITori KevTpov XotKtiyenevoq, i.e. contra stimulum calcitare. Et illud Sapphus, M T | T E jioi p.eXi, IITITE neXiaaa, i. e. Neque mel mihi, neque apis. Siquidem dum linguae adhuc incorruptae manerent, poetarum versus in conviviis etiam canebantur. vel e scena, hoc est, tragicorum et comicorum actis fabulis, quod genus illud ex Euripide, ävco 7toxa)iuv. Rursum illud ex Aristophane, ßctAX EV auvouoia.« Als SophoklesSpruch zitiert ihn Erasmus in dem Panegyricus ad Philippum Austriae ducem (1504) AMS IV/1, S. 49, in einem Brief an Heinrich VIII. (1517), vgl. P. S. Allen and H. M. Allen Opus Epistolarum Des. Erasmi Rotterodami, Oxford 1938, Tomus III ( 1 5 1 7 1519), S. 78 (»Reges sapientes redduntur sapientum hominum consuetudine«) und in der Vorrede zu seinen Apophthegmata (1531), in der er den Vers als Beispiel für die Umstrittenheit der Quelle einer Sentenz anführt, P. S. Allen and H. M. Allen, Opus Epistolarum Des. Erasmi Rotterodami, Tomus IX (1530-1532), S. 129f. 114 Nr. 34, LB 40; Sophokles, Ödipus Coloneus v. 779. 115 Sophokles, Ajax v. 522. 1 16 Nr. 34, LB 40.

KoXótKcov

30 Kommos, unmittelbar nach der Ernüchterung des Ajax, findet Erasmus in den Versen des Chors ein weiteres adagium, »malum malo medicari«, am prägnantesten ausgedrückt: Eixprina (pcbvei, nf| KCCKÖV KCXKCÜ "AKoq, nXeov tö 7t%xa x' A T R ß Ti8ei, i.e. Bene ominata loquere, ne malum malo Medicans, et hausse adaugeas tibi. 117

Hierzu referiert Erasmus auch den Kontext der zitierten Verse: »Dehortatur Ajacem Tecmessa, ne malo insaniae addat alterum malus malum, spontaneam caedam sui«.118 Das »malum insaniae« ist das Unglück, das Ajax getroffen hat, sein Wahnzustand, den er keineswegs beabsichtigte; dieser Wahnzustand bedeutet die Wendung der Handlung gegen den Vorsatz des Helden. Obwohl die meisten Sophokles-Editionen diese Verse dem Chor zuschreiben, betont Erasmus die Betroffenheit Tecmessas von diesem Unheil, da doch der Selbstmord des Ajax vor allem für sie ein Unglück bedeuten würde. Demselben Kommos bezieht Erasmus ein weiteres adagium, das die Abhängigkeit des Menschen vom göttlichen Willen illustriert: »Cum Deo quisque et gaudet et flet«. Ajax ist darüber entrüstet, daß sein Kontrahent Odysseus über die ihm zugeteilten Waffen, aber auch über seine Rettung vor Ajaxens Zorn sich freuen und lachen kann, während er, Ajax, sich der Lächerlichkeit preisgegeben hat; darauf antwortet ihm der Chor: 5bv TCO 9eö> nac, Kai yeX& k (iiSüpexai, i.e. Deo volente quisque ridet atque flet." 9

Die Vorlagen des Erasmus erwähnen die Quelle dieses Verses nicht; 120 Erasmus dagegen verweist auf den Sophokleischen Ajax und kommentiert den Spruch eingehender: »Admonet adagium rerum humanarum celerem esse commutationem neque in nobis situm, ut res perpetuo secundae sint, verum utcumque fortunae lubitum fuerit, ita vel secundis rebus attolimur vel adversis affligimur«. 121 Erasmus zieht zum Vergleich einen Parallelvers aus Euripides hinzu, der die Veränderbarkeit aller menschlichen Dinge und die rasche Abwechslung von Freude und Leid feststellt und auf den göttlichen Willen zurückführt: xöt öecov ßovXöjieva.122 In der Ausgabe von 1526 fügt er jedoch eine weitere Erläuterung hinzu: »Cum deo fit Graecis, quod fit fa-

117 Nr. 106, LB 71; Sophokles, Ajax v. 362f. "8 Nr. 106, LB 71. 119Nr. 2078 LB 736; Sophokles, Ajax v. 383. I 2 0 Apostolius 12, 26: 'Avil Tov 6eoö ßo-uXonevou Kai zä KaKcc ueöiaxavTai eiq Tep\|fiv. Stobäus Florilegium 3, 84; Suidas 53, 10, 154. l 2 ' Nr. 2078, LB 736 und AMS II/5, S. 566ff. (Ü: Das Sprichwort gemahnt uns an die die rasche Wechselhaftigkeit des menschlichen Lebens und daran, daß es nicht in unserer Macht leigt, daß die Dinge auf immer glücklich stehen, sondern daß wir je nachdem, wie es dem Schicksal beliebt, im Glück emporgehoben oder im Unglück zu Boden geworfen werden.). 122 vgl. Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio, übersetzt und eingeleitet von W. Lesowsky, in: W. Welzig (Hg.), Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden, lateinisch und deutsch, Darmstadt 1969, Band 4, S. 9.

31 vente numine. Contra sine deo, quod absque deorum favore.« 123 Somit wird der göttliche Beistand mit einer positiven Glückswendung gleichgestellt. Den Gedanken des göttlichen Beistands, den er als bestimmende Kraft des menschlichen Alltags beschrieben hat, erweitert allerdings Erasmus in der Ausgabe von 1528 auf den geistigen und künstlerischen Bereich, indem er ihn als Inspiration erläutert. Aus den religiösen Oden Pindars und aus Vergil fugt er in der Ausgabe letzter Hand (1536) noch Zitate hinzu, die über die günstige Glückswendung hinaus alles Unverhoffte und Unerwartete dem göttlichen Willen zuschreiben: »Ita quod praeter spem ultro obtingit divinitus fieri dicitur.«124 Damit wird die Abhängigkeit Fortunas von den unbegrenzten Möglichkeiten des Göttlichen betont. So signalisiert zwar Erasmus durch Ausdrücke wie »fit Graecis« oder »veteres« sowie durch passivische Konstruktionen die Distanz zur Antike, doch in seinem Kommentar zu der Redewendung »cum Deo« ist der Gedanke der christlichen Gnade als einer dem Menschen Beistand und Unterstützung gewährenden Kraft präsent. So hatte er sie ja auch in der Abhandlung De libero arbitrio (1524) beschrieben: »ita voluntas quamvis libera nihil tarnen potest, si se subducat gratia«.125 Mit der Einsicht in die Abhängigkeit allen menschlichen Tuns vom Göttlichen Willen ist auch die Forderung nach Respekt vor Gott verbunden. Aus demselben Klagelied, das um das Unheil des Ajax trauert, bezieht Erasmus den Vers des Chores, mit dem er ein anderes adagium kommentiert: »Ne magna loquaris, Mt| ^leyatax X.eye.«126 Als griechischen Ursprung des adagium gibt Erasmus die Sammlung von Diogenianus an. Der Spruch fordere dazu auf, große Worte und Prahlerei zu mäßigen, da sie von den Göttern nicht geduldet werden. Insbesondere Cicero habe auf diesen Spruch großen Wert gelegt. Erasmus beruft sich auf Pindar und Theokrit, um zu erinnern, daß die Griechen »jactantia« als großes Vergehen betrachteten: »Antiquitas enim finxit Deam Nemesin, jactantiae ultricem«.127 Vor allem erhelle diese Aufforderung aus den griechischen Tragikern, unter anderem aus Sophokles: Sophocles in Aiace flagellifero: MT|8ev NEY' eijct|% opaq W e i KOKOO; i.e.

Ne magna loquere, non vides, quo insis malo? 1 2 8

In Anbetracht seiner in Wahn begangenen Tat ruft Ajax den Himmel an, daß er ihm den Tod gewähren möge. Der Chor jedoch ermahnt Ajax, daß er nicht leichtsinnig mit großen Worten umgehen dürfe, sondern sich dem Göttlichen zu fügen habe; das Unglück, das Ajax anblicke, sei ein Resultat solcher Prahlerei. Der Chor greift damit die Verurteilung des Stolzes im Prolog auf 123

Nr. 2078, LB 736. 1 2 4 Ebd. 125 Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio, S. 9. 126 Nr. 1152, LB 465. 127 Ebd. 128 Ebd.; Sophokles, Ajax v. 386; Cicero, Epistolae ad familiares, zitiert Aristophanes, Aischylos, Euripides.

4, 8; es werden zudem

32 und verdeutlicht dabei den eigentlichen Grund der Mißgunst der Athena; der kräftige und tapfere Kämpfer Ajax hatte nämlich bei seinem Kampf gegen die Troer den Beistand der Götter verachtet.129 Eine ähnliche Bedeutung habe auch der Ausdruck \ikya cppoveiv, wie derselbe Dichter, Sophokles, ihn in seinem Ödipus Tyrannus verwendet. Als der Protagonist vermutet, daß lokaste seine vermeintlich niedere Herkunft verachte, wertet er ihren Stolz als weibliche Eitelkeit ab: OpovEi yap cbq y w f ) jiEyot, i.e. Sentire enim altum ut foemina. '30

Von der religiös-moralischen Färbung des Spruches in Ciceros Briefen gelangt Erasmus über Zitate aus den griechischen Tragikern zu einer poetologischen Deutung dieses adagium. Er kommentiert: »loqui tragice, pro eo quod est, magnificis verbis efferre.« 131 Nicht zufallig schöpft er seine sinnverwandten Sentenzen aus den griechischen Tragödien. Vor dem Laster der »grandiloquentia« wird insbesondere in den Tragödien gewarnt, denn es charakterisiert die meisten tragischen Figuren; die tragischen Personen meinen, mehr zu wissen und behaupten zu können, als ihnen die Umstände und ihre menschliche Kondition erlauben. Somit kann Erasmus das Laster der »grandiloquentia« als einen gattungsspezifischen Zug darstellen, wie ihn bereits Horaz in seiner Poetik konstatiert hat.132 Das Unglück und Elend des Ajax, wie sie in der Stichomythie des Prologs von Athena und Odysseus thematisiert werden, verwendet Erasmus als Beispiel, um das adagium »Optimum aliena insania frui« zu illustrieren. Obwohl Erasmus zur Erläuterung dieses Plinianischen adagium zusätzlich Parallelstellen aus den Werken von Cicero, Plautus und Terenz heranzieht, meint er den eigentlichen Ursprung dieses Spruchs doch bei Sophokles wiederzuerkennen: Sumptum videri potest proverbium ex Sophoclis tragoedia Ajax Flagellifer, apud quem, Ajace per insaniam gloriamte, quod hostes sustulisset, cum saevisset in pecudes, Pallas Ulyssem da hoc spectaculum invitat his verbis, O V K O Ö V YEXOX; RIÖICXOQ ei8uvov KOCKÖV, i.e. Suavissima haec est vita, si sapias nihil. Nam sapere nil, doloris expers est malum.' 65

Erasmus fugt hier in Anlehnung an Suidas und die byzantinischen Scholien den zweiten Vers hinzu, den auch die Edition von Aldus Manutius enthält und dessen Echtheit seit Brunck bestritten wird. Diesen Lobpreis eines nicht von Vernunft beherrschten Lebens hat Erasmus wohl wegen der geistigen Nähe zu seiner eigenen satirischen Schrift Mcopiag ¿yKcbßiov sive Laus stultitiae (1511) zitiert. Erasmus hat sie in den Mund der Stultitia gelegt: Nachdem diese sich selbst als übergreifendes Lebens- und Weltprinzip gepriesen hat, zitiert sie den Sophokleischen Vers, um in einer Art quintilianischer interrogatio den griechischen Autor als Zeugen (»testis«) für die Triftigkeit ihres Beweises anzuführen:

162

P. Holt, »The debate scenes in Ajax«, in: American Journal of Philology, 102 (1981), S. 275-288, hier 278f. 163Nr. 3205, LB 1009; Sophokles, Ajax v. 477f. 164 v g l di e Anmerkung der Herausgeber Heinimann und Kienzele AMS IV, S. 377. 165 Nr. 1981 LB, 702; Sophokles, Ajax v. 553f.

41 Sed dicant mihi per Jovem, quae tandem vitae pars est, non tristis, non invenusta, non insipida, non molesta, nisi voluptatem, id est, stultitiae adjunxeris? Cuius rei cum satis idoneus testis esse possit, ille nunquam Sophocles, cuius extat pulcerrimum illud de nobis Elogium, ¿v TÜ> Ht|8ev tiSvaToi; ßtcx;.'66

infestiva, non condimentum satis laudatus cppovetv yotp

Mit dem griechischen Zitat spielt Stultitia auf das sechste Kapitel ihrer expositio an, in dem sie ankündigt, daß sie in ihre Rede mehrere griechische Wörter und Ausdrücke einflechten werde. 167 Damit ist eine Kritik an der Graecomanie der zeitgenössischen Redner und zugleich eine Kritik an deren Hörer verbunden, die sich von solch naiven Mitteln täuschen lassen. Die Kritik Stultitias am unangemessenen Gebrauch griechischer Wörter und Ausdrücke wird damit auf die undifferenzierte Verwendung ganzer Sätze ausgedehnt. Seinen vollen Sinn erhält der Vers erst im Kontext der Sophokles-Tragödie, in welcher er die Bedeutung von Sorglosigkeit vor dem Hintergrund leidvoller Erfahrung hat. Stultitia jedoch benutzt ihn eindimensional, um ihr eigenes Wesen zu rechtfertigen. Zugleich bezeugt sie eine Kenntnis der Bedeutung des Verses in seinem ursprünglichen Kontext, da sie mit diesem Vers zur Schilderung der Vorteile der Kindheit überleitet. Daß Stultitia ausgerechnet den gedankenschweren Sophokles als ersten Dichter namentlich nennt und für sich ins Feld führt, ist ein Mittel humanistischer Satire, konnte doch der gebildete Leser in der Tatsache, daß Erasmus gerade Stultitia einen Tragödienvers als Wahrheitsbeweis im Munde fuhren läßt, eine ironische Verkehrung der wahren Rangordnung der Dichter erkennen. In den Tragödien des »nunquam satis laudatus Sophocles« sucht Erasmus auch die Wurzeln des Terenz-Sprichwortes »Dies adimit aegritudinem«: Eodem spectasse videtur Sophocles in Aiace Flagellifero, Xpövcx; yap ev>napfixv 8txy|ia%T|Téov., i.e.

Sed fata contra, quanto id est perquam arduum, Non reluctandum. 2 0 9

Obwohl Erasmus bedeutungsähnliche adagia mehrfach in seine Sammlung aufgenommen und kommentiert hat, 210 nimmt er nichtsdestoweniger auch den Sophokleischen Vers als Anlaß, um einen Lehrsatz über das Ertragen des Schicksals hinzuzufügen. Wohlweislich ersetzt er hier den Begriff »fatum« mit der Umschreibung »quod deus nobis immittit«, die ihm eine christliche Interpretation ermöglicht. Denn die Notwendigkeit, das Schicksal zu ertragen und nicht anzuklagen (»Quod autem vitari non potest, ferendum est, non culpandum«), setzt einen Sinn voraus, der durch den christlichen Gott heilsgeschichtlich gewährleistet wird. Somit dienen die Sprüche aus der Katastrophe dazu, die Nichtigkeit des Menschen als Folge seiner Unbesonnen207

Ebd., v. 1351. Nr. 4089, LB 1199; Sophokles, Antigone v. 1103f. 2 ° 9 N r . 4090, LB 1199; Sophokles, Antigone v. 1106. 210 Vgl. die adagia Nr. 2853, LB 929, »Fatum immutabile« und Nr. 2886, LB 933, »Fatum inevitabile«. 208

52 heit zu demonstrieren und die menschliche Kreatur von der göttlichen Gerechtigkeit und dem göttlichen Willen abzugrenzen. Antike, Sophokleische Menschenbetrachtung und christlicher Glaube fließen in dem Begriff der »sapientia« zusammen, als welche der Humanist die von der tragischen Person verfehlte intellektuelle und ethische Integrität begreift. Der eigentliche Sinn menschlicher Integrität, wie schon mit dem letzten afifag/en-Kommentar angedeutet, kann für Erasmus nur ein christlicher sein: »absoluta probitas utrisque sapientia nominatur. [...] sapientiae auctor atque ipse adeo sapientia Christus Jesus«.211 In der Fortsetzung der Antigone-adagia beleuchtet Erasmus die Person Kreons in seinem Verhältnis zu Tiresias, dem Vermittler jener göttlichen Weisheit und Ordnung, gegen die Kreon verstoßen hat und dessen Ermahnungen er nicht gehorchen wollte; zunächst entgegnet er Tiresias mit einer Respektformel, die dem Status des Sehers Reverenz erweist und die Erasmus kommentiert: In eadem fabula Creon Tiresiae more vatum incadescendi ac liberioribus dictis impetendi Regem, ita loquitur: Oi) ßoi>Xo|IOTI TÖV nötvxiv ävteuieiv Kax&q, i.e. Vati vicissim nolo proloqui male. 2 1 2

Erasmus beschreibt den Nutzen dieser Formel, die er als proverbiale Handlungsmaxime mit dem Gerundivum »vati non conviciandum« zusammenfaßt: Um den Mißmut oder Zorn einer Respektsperson (»senis aut potentis«) oder eines Gegners aufzuhalten, empfehle es sich, ihr zu schmeicheln oder sich zurückzuhalten, ohne den eigenen Standpunkt zu verlassen (»honoris aut metu causa«). Dabei erinnert er an das bedeutungsähnliche adagium »Ni pater esses«, das die Paroemiographen ebenfalls aus Sophokles überliefert haben. Es entstammt dem Vers, mit dem Hämon trotz des Respekts, den er seinem Vater schuldet, Kreon das Unrecht vorwirft, das er an Antigone verübte: Ei JIT) Tiatfip fjo8\ eijiov ävCT'O\MC (ppoveiv, i.e. Ni esse pater, dicerem haud bene te sapere. 213

Derartig politische Berechnung und Taktik charakterisieren Kreon auch in der Verdächtigung des Sehers, den er der Bestechung bezichtigt; den entsprechenden Vers nimmt Erasmus als adagium auf: In eadem scena Creon ita loquitur Tiresiae: To (lavciKÖv yap Jtäv (piXäpyopov yevoc, i.e. Genus omne vatum est appetens pecuniae. 2 1 4 211

Erasmus von Rotterdam, Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters. Ubersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von W. Welzig, Darmstadt 1968, Band 1, S. 100. 212 N r . 4091, LB 1199; Sophokles, Antigone v. 1053. 213 Apostolius, 6, 78; Diogenianus, 4, 75; Suidas 149; Sophokles, Antigone v. 755. 214 Nr. 4092, LB 1200; Sophokles, Antigone v. 1055, zur Rekurrenz des GelderwerbMotivs in der Antigone und als besonderen Zug in Kreons Charakterisierung seiner

53

Erasmus faßt den Vers in einer kürzeren Prädikation zusammen: »Vatum genus avarum«; er löst den Vers aus dem Kontext der bewegten Stichomythie heraus und erkennt ihm eine Gültigkeit zu, unabhängig davon, ob der Vers für Tiresias zutrifft. Erasmus bezieht Kreons Unterstellung auf seine eigene Zeit und vergleicht die heidnischen »augures et haruspices« mit Geistlichen, deren Bestechlichkeit er kritisiert: »Hoc nomine olim male audiebant divini augures et haruspices. Nunc utinam praeter meritum idem audiant, qui divina tractant. Vera non potest Semper loqui, qui corruptus muneribus ad hominum gratiam loquitur.«215 Gewinnsucht neben Gottlosigkeit hat Erasmus andernorts als einzige Bedingung zugelassen, unter der den Christen die Möglichkeit des Zweifels an den bischöflichen Erlässen eingeräumt werden kann. 216 Mit dem nächsten Artikel »Non movenda loqui« knüpft Erasmus wieder an die Wechselrede zwischen Tiresias und Kreon an und zitiert die Antwort des Sehers auf Kreons Angriffe: Eadem in loco iam irritatior Tiresia sie minatur Creonti: "Opoeiq |X£ T' ctKivT|T(x 8iot (ppevcöv cppaoai, i.e. Tu me excitas, ut, quae latunt in pectore Immota, cogarproloqui. 217

Auf denselben Vers hat sich Erasmus in einem früheren Artikel bezogen, in dem er die metaphorische Bedeutung des Wortes ocidvT|Ta auch als »res sacras« erläutert.218 Zurückhaltung und Vorsicht (»silentio tegere«), die bis hierhin des Tiresias Vorgehen beherrschen und in diesem Vers Ausdruck finden, kontrastieren mit Kreons vorangegangenem Vorwurf; diesen zitiert Erasmus, da er sich zur Charakterisierung kluger und gebildeter, aber bösartiger Menschen (»in hominem prudentem aut eruditum, sed improbum«) eigne: Creon ernm illum convicio retegerat, dicens £o vöv èrti i^opoi) TÓ^ry;, i.e. Sape demo nunc positus in novacula Fortunae. 2 2 7

In seinem Kommentar betont Erasmus die Verantwortung Kreons gegenüber der Fortuna: »Calamitati, quam excitaret Eteocles et Polynicis contentio sucersit haec, quam offensis Diis excitavit Creon«.228 Mit seinem Verhalten habe Kreon das Unglück des bereits mit einem Fluch beladenen LabdakidenGeschlechts noch vergrößert. Somit dient das Sophokles-ai/agi'wm dazu, die 224

Nr. 4095, LB 1200. Nr. 4096, LB 1200; Sophokles, Antigone v. 1031 f. 226 Conveniet cum ilio: »audi quae ex animo dicuntur. Item cum Hesiodo, quo probatur et is, qui paret recta monenti«. 227 Nr. 4097, LB 1200; Sophokles, Antigone v. 996; »quamquam hic versus obiter nobis alibi citatus est, in proverbio: Inanie novaculae«. 22 8 N r . 4 0 9 8 , LB 120. 225

56 Erasmische Auffassung von der Freiheit des Menschen bei der Mitgestaltung seines Glücks zu artikulieren. Der Labdakiden-Fluch entspricht e negativo der Gnade Gottes, und im Kreon des Sophokles erblickt der Verfasser des De libero arbitrio (1524) den freien, synergetisch aufsein Heil oder Unheil hin handelnden Menschen. Mit dem nächsten adagium setzt Erasmus die Zitatenreihe fort, die er der Auseinandersetzung Hämon-Kreon entnimmt: Kreon droht seinem Sohn mit Strafen, sollte dieser versuchen seine Meinung durchzusetzen; die Verbindung von Oxymoron und Paronomasie im griechischen Vers ersetzt Erasmus in seiner Übertragung durch eine Verknüpfung desselben Oxymoron mit einem Polyptoton: Creon Haemoni filio liberius agenti minitans malum, ita loquitur: KXaicov (ppevcboeiq, A>v (ppevcbv avxöq KEVCH;., i.e. Plorando facies mentem ut habeant caeteri, Mente ipse vacuus. 229

Die Aussage des Verses faßt Erasmus in dem Epitheton »Exemplum utile« zusammen und erläutert ihren Nutzen: »Cum improbi luunt stultitiae suae poenas, quamquam ipsi nihilo fiunt meliores, tarnen aliis exemplo sunt, ut per incognitantiam in similes incurrant calamitates«.230 Erasmus begnügt sich jedoch nicht damit, den Vers aus dem Kontext der Tragödie zu isolieren und somit Kreon das letzte Wort zu überlassen; mit dem nächsten Spruch greift er den Ermahnungen des Tiresias vor, der den eigensinnigen Herrscher vor der Bestrafung seiner Unbesonnenheit warnt: »Pervivacice stultitiae dat poenas«. In seiner Übersetzung übernimmt Erasmus den Pleonasmus des griechischen Verses: In eandem Tragoedia Tiresia, Creontem admonens, ne praefractus ac rigidus persistat in sententia, ita loquitur: A ü O d S i a t o i , CTKaiÖTiYta cxpA.iaicävEi., i.e.

Praefracta mens amentiae poenas luit. 231

Erasmus knüpft an das adagium eigene Gedanken über die Gefahren des Eigensinns und die Katastrophen, die daraus entstehen können: »Infractabilis illa ferocia fere solet magnae cujusdam calamitatis esse praeludium [...] Contritionem praecedit superbia, et ante minarn exaltatur spiritus«.232 Das Lob der Flexibilität, das hiermit ausgesprochen wird, führt auf Hämons Monolog zurück:

22

^Nr. 4098, LB 1201; Sophokles, Antigone v. 754. Nr. 4098, LB 1201 (U: Wenn die Lasterhaften die Strafen ihrer Narrheit auf sich nehmen, obwohl sie keineswegs besser werden, dennoch sind sie anderen ein Beispiel, auf daß sie nicht durch Unkenntnis in ähnliche Schwierigkeiten hineingeraten.). 23 1 Nr. 4099, LB 1201; Sophokles, Antigone v. 1028. 232 Nr. 4099, LB 1201 (Ü: Jener fast unzerbrechliche Trotz pflegt fast ein Vorspiel zu jemandes großem Schaden zu sein [...]. Dem Elend geht der Stolz voraus und dem Fall die Überheblichkeit des Geistes.). 230

57 Hoc Tiresiae dictum eleganter expressit Haemon in eadem fabula, duplici metaphora, arborum et nautarum. Carmen sie habet:

'OpQti; Jtapappei9poioi xeinapoii; öaa

ÄevSpcov WTteiKei, KXcbvaq ox; EKoa^etai, •tot 8' ctvtvceivovT' aütörtpenv' ä7t6A,A.UTai.

Attxax; yäp, vaöq 00x15 eyKptxxfi )tö8a Teivaq tmeiKEi HT|8EV, •ÖTttioiq KOCTCO

ZxpEyaq TÖ Xoi7töv aeX^aaiv vautiXA.etai., i.e. Vides ut in torrentium decursibus, Quae cedit arbor surailos servat suos, At quae resistit, Stirpe cum ipsa deperit. Nauclerus itidem, qui tenens davum, nihil Concedit aurae et fluetibus, devolvitur Ac jam supinis navigat nixus foris. 233

Vor allem die zweite Metapher, in der Hämon das Regieren und die Bewältigung von Staatsangelegenheiten - in diesem Fall das Bestattungsverbot und die daraus resultierende Verurteilung Antigones - mit der Lenkung eines Schiffs vergleicht, kam Erasmus sehr gelegen, hat er doch bereits in einem anderen Adagienkommentar den Schiffstopos als eine Metapher für das Staatswesen konstatiert, die bei den Dichtern sehr beliebt sei (»Est autem familiare poetis a navibus ad rempublicam similitudinem mutuari«234). Nicht zuletzt hat Erasmus selbst den Schiffstopos in seiner staatstheoretischen Schrift Institutio prineipis christiani (1515) mehrfach verwendet. 235 An die von Hämon benutzte Staatschiffsmetapher schließt Erasmus eine ähnliche, den Worten der Ismene entnommene Metapher an. Erasmus greift damit auf den zweiten Akt zurück, in dem Antigone dem Herrscher Kreon Rede und Antwort stehen muß, da sie gerade bei der Übertretung von Kreons Verbot ertappt wurde; da Kreon seine Familienangehörigen von diesem Verbot nicht ausnimmt und mit Entschiedenheit auf Antigones Bestrafung beharrt, eilt Ismene zur Unterstützung ihrer Schwester herbei und erklärt sich bereit, ihren Leidensweg mit ihr zu teilen. Aus dem Bildfeld des Schiffes, das als Sinnbild des Lebens und seiner Gefahren gilt, leitet Ismene die Genitivmetapher ^i)(i7tX.o'uv toi) nä(k>x>q ab. Erasmus prägt das bildspendende Metaphemglied zu einem adagium: »Navigationis socius«; dabei behält er die Genitivkonstruktion bei, kehrt jedoch das syntaktische Verhältnis von Bildempfanger und -Spender um: Nicht mehr das Prädikatsnomen ist Bildspender (Sophokles: ^x)p.JtXo\)v; Erasmus: »socius«), sondern der >genitivus obiectivus< (Sophokles: TtctÖoDq; Erasmus: »navigationis«). Dadurch gelingt es ihm, die der Sophokleischen Metapher zugrundeliegende Prädikation in deutlicherer Form wiederzugewinnen und die Gleichstellung von Unglück (rcaöoq)

233

Sophokles, Antigone v. 712-717. 234 Ygi adagium »i n eadem es navi« Nr. 1010, LB 410: »riepi xfìq TtcAecai; yàp Kai TOS aKÓupoix; öXov«. 235 Beispielsweise AMS IV/1, S. 170: »Nullum mare tarn graves habet tempestate unquam quam omne regnum assidue« oder ebd., S. 182: »In gravi tempestates quamtumvis docti nautae patiuntur sese a quovis admoneri.«

58

und Seefahrt (»navigatio«) zu erreichen. Denn Erasmus geht es vornehmlich darum, die Sophokleische Metapher an ein anderes adagium aus demselben Metaphemfeld zurückzubinden; dieses weitet er zu einem Kommentar über die politischen und moralischen Implikationen des Ineinandergreifens von Einzel- und Gemeinschaftsleben aus, wie es ihm für ein Staatswesen notwendig erscheint: Ante retulimus: »In eadem esse navi« qui communi tenentur periculo. ad hoc allusit Ismene, in eadem fabula, dicens se non recusare, quo minus subiret idem periculum, quod subiret Antigone soror: 'AXV ev tcaKoiq TOVv ctviä TCU; cppEva^, t a 5e cota eyco., i.e. Qui fecit, animum discruciat, aures ego. ejusdem nuncii versus est: ZxepyEi ydp oi>8eiCR 17, S. 662. 287 Quintilian, Institutio oratoria 6, 2, 20.

69 sammenhang liegt es doch wohl Quintilian fern, über die dichterische Qualität der beiden attischen Tragiker zu urteilen. Nachdem Melanchthon die Vorteile der Euripideischen elocutio in seiner Phoinissai-Vonede (1558) als »ornamenta« beschrieben hat, faßt er sie in seinem Quintilian-Kommentar mit dem Epitheton »dulcis« in gesteigerter Form zusammen. Das iucundum und suave hatte Quintilian allerdings als Eigenschaften des medius modus beschrieben,288 dessen Aufgabe das delectare sei. Hatte Cicero den ornatus als virtus dem genus grave zugeschrieben, 289 so vollzieht sich in der weiteren rhetorischen Tradition eine Verschiebung: Bei Augustin entspricht das órnate dem mittleren Stil 290 und Isidor schreibt in Anlehnung an Gellius291 den stilus mediocris und dulcis gar der Komödie zu. 292 Wie auch immer diese Traditionen Melanchthons Verständnis von dulce beeinflußt haben mögen, seine Bewertung des Eurípides bleibt in den rhetorischen Kategorien des mittleren Stils befangen und zieht die tragödienspezifischen virtutes des Erhabenen nicht in Erwägung. Melanchthons Orientierung an Eurípides mag unbezweifelbar sein, doch schließt er sich durchaus der traditionellen Bewunderung für Sophokles an. Auch darin folgt er Quintilian, der zögerte, ein Urteil darüber zu treffen, welcher unter den beiden der »poeta melio« sei, und der an den Dramen des Eurípides zunächst deren rhetorische Elemente hervorhob. Seine Hochschätzung der Sophokleischen gravitas, cothurnus und sonus artikuliert Quintilian in unparteiischer Absicht. Doch die Phoinissai-Vorreát Melanchthons vermittelt in ihrer verallgemeinernden Formulierung sehr wohl den Eindruck, daß die Erhabenheit der Sophokleischen Tragödienkunst unübertroffen sei: »sed vulgo Sophoclis iudicatur grandior«.293 Um zu erfahren, wie Melanchthon Sophokles als Tragödiendichter wirklich bewertet hat, ist es aufschlußreich, seine Vorrede zu der 1546 erschienenen Terenz-Ausgabe des Freundes Joachim Camerarius (1500-1574) heranzuziehen, da sich Melanchthon hier intensiver mit Bestimmung und Mitteln der Tragödie auseinandersetzt.294 In dieser Vorrede erläutert er den pädagogischen Nutzen des antiken Dramas. Zunächst behauptet er, daß die Griechen dem Volk Tragödien vorstellten, nicht wie gewöhnlich angenommen werde, nur um das Publikum zu vergnügen, sondern um die rauhen und ungezähmten Gemüter durch Betrachtung der grausamen exempla und 288

Ebd., 12, 10. 289 Vgl. F. Quadlbauer, Die antike Theorie der generta dicendi im lateinischen Mittelalter, Wien 1962, S. 9 und 20. 29 ® Ebd. 291 Aulus Gellius, Nolles Atticae, 6, 14. 292 F. Quadlbauer, Die antike Theorie der generta dicendi im lateinischen Mittelalter, S. 18 und 62; vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 242 und 1079. 293 CR 18, 395(1558). 294 CR 5, S. 567-572. Vgl. H. Scheible (Hg.), Melanchthons Briefwechsel, Stuttgart-Bad Canstatt 1977, Brief 3782 (weiterhin zitiert als MBW mit zugehöriger BriefNummer).

70 Schicksalsfalle zur Mäßigung und Zügelung der Begierden anzuleiten. Denn in den vorgeführten Ereignissen, an denen Könige und Städte beteiligt seien, erkenne man die »imbecillitas« der menschlichen Natur und die Unbeständigkeit der Fortuna, und man finde Beispiele für die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen. Daß die Tragödie eine imago des höfischen und politischen Lebens sei, in der Fürsten und Tyrannen, Gute und Schlechte vorkämen, wird Melanchthon in der Phoinissai-Vonede wiederholen (15 5 8). 295 Hier jedoch nennt er über die bloße Abbildungsfunktion hinaus noch das Moment der poetischen Selektion, die die erstrebte Wirkung bestimmt: Die Griechen wußten, daß besonders geartete Stoffe die Gemüter prägen und Mitleid erregen: »Non enim movetur populus levium aut mediocrium miseriarum cogitatione, sed terribilis species obiicenda est oculis, quae penetret in animos et diu haereat et moveat illa ipsa commiseratione, ut de causis humanarum calamitatum cogitent, et singuli se ad illas imagines conférant«. 296 Melanchthon schließt seine Rekonstruktion von Ziel und Verfahren der griechischen Tragödie, indem er die besondere rhetorische und dramaturgische Kunstfertigkeit betont, mit der die Griechen die Größe der Ereignisse darstellten.297 Hat Melanchthon zunächst an die moraldidaktische Intention der Tragödie in der Antike erinnert, so beschreibt er nun ihren aktuellen Nutzen. Dabei setzt er bei seiner persönlichen Leseerfahrung an: Schon beim Lesen schaudere er am ganzen Körper, und das gelte vor allem für die Euripideischen und Sophokleischen Tragödien. Die tragischen Bilder jenes menschlichen Unglücks, das sich durch die bösen Begierden vermehrt, könnten auch bei den unsensibelsten Menschen eine physiologische Wirkung ausüben, unabhängig von ihrem Bildungsgrad. Somit habe das vorrangige Ziel aller Tragödien darin bestanden, den Zuschauer für jene auch von Pindar und Vergil ausgesprochene Wahrheit zu öffnen: »Hanc sententiam volunt omnium animis infigere, esse aliquam mentem aetemam, quae Semper atrocia scelera insignibus exemplis punit, moderatis vero et justis plerunque dat tranquilliorem cursum«.298 Um zu Gerechtigkeit und Gottesfurcht zu ermahnen, verweist Melanchthon nicht nur auf die unmittelbare Bestrafung bzw. Belohnung im Diesseits, sondern auch auf solche Fälle, in denen das Schicksal Gerechte schlug. Diese würden durch 29

5 C R 18, S. 395. CR 5, S. 567 (Ü: Das Volk nämlich wird nicht durch den Gedanken an leichte oder mittlere Unglücksfälle gerührt, sondern man muß den Augen einen solch erschreckenden Anblick darbieten, daß er bis in die Seele eindringt und dort lange vorhält und gerade durch dieses Mitleiden rührt, so daß sie über die Wechselfälle menschlichen Unglücks nachdenken und sich jeder für sich in dessen Vorstellung vertieft.) 297 CR 5, S. 567: »Nec fiiit exigua facultas et ars, grandiloquentia sermonis et gestuum varietate magnitudinem rerum utcumque exprimere«. 298 CR 5, S. 568 (Ü: Folgende Ansicht wollen sie allen Gemütern einprägen, daß es gewissermaßen einen ewigen Geist gibt, der abscheuliche Verbrechen immer mit unerhörten Strafen ahndet, den Maßvollen und gerechten dagegen aber meistens einen rahigeren Lebenslauf gewährt.). 296

71 die unerforschten Gründe jener »mens aetema« gerechtfertigt: »Et quamquam hos etiam interdum fortuiti casus opprimunt, sunt enim multae arcanae causae tarnen«.299 Solch scheinbarer Ungerechtigkeit in der Welt zum Trotz, gilt die Regel, daß Schrecken und Unglück oder, mythologisch gesprochen, die Erinnyen den Verbrecher verfolgen. Die Vermittlung dieser Sentenz auf der Bühne vergleicht Melanchthon mit der deutlichen Stimme Gottes, der in der ecclesia die Menschen zur Mäßigung aufruft. In der Erläuterung des griechischen Dramas spiegelt sich Melanchthons eigene Interpretation der griechischen Tragödie. Auf der Folie seiner Interpretation entwickelt er einen durch die Kategorien der Wirkung, der Handlung und des Charakters bestimmten Tragödientypus: Die beschriebene Wirkung ist »commiseratio« durch Identifikation mit dem vorgestellten Leid: »et singuli se ad illas imagines conferant«. Ihr geht jedoch die physiologische Wirkung voraus, nämlich das Schaudern, »cohorresco«.300 Um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu erwecken, muß demnach die Handlung besonders furchterregend sein. Die letzlich vom Zuschauer zu ziehende Schlußfolgerung enthält eine doctrina de gubernatione vitae: »Quia [...] sese ad cogitationem de vitae humanae miseriis, remediis, et gubernatione exsuscitant«.301 Zum Zweck der moralischen Erbauung, nämlich des docere, wird das flectere eingesetzt. Die Fabel besteht in einer Staatshandlung, »regum et urbius eventibus«, die durch das Zusammenspiel von Fortuna und menschlicher »imbecillitas«, von unbeständigem Schicksal und begierdegeleiteter Aktivität zustandekommt. Bei den Handelnden unterscheidet Melanchthon zwischen Guten und Bösen, die entsprechend belohnt oder bestraft werden. 302 Solche Trennung läßt sich allerdings an der griechischen Tragödie nicht erörtern, da sie die strenge moralische Differenzierung nicht kennt. Obwohl Melanchthon dem Lehrsatz von der Belohnung der Guten im Diesseits ausdrücklich zustimmt, stellt sich auch die Frage nach dem unverdienten Leid der Gerechten. Melanchthon beantwortet sie mit der Unergründlichkeit des göttlichen Ratschlusses. Wenngleich die Theodizee-Problematik an der griechischen Tragödie nicht erörtert werden konnte, so ließ sich an ihr die These vom gerechten Unglück der Bösen erweisen. Die Erinnyen als Allegorie der Gewissensplagen verleihen seinem Lehrsatz zusätzliche Gültigkeit. Ergänzend zur Analyse der für sein Verständnis wichtigsten Züge der Tragödie verfaßt Melanchthon Anweisungen an Erzieher und Schüler für die möglichst wirksame Lektüre der Tragödien. Dabei rekapituliert er deren 299

300 301

302

Ebd. (Ü: Und obwohl Schicksalsfälle diese drücken, dennoch gibt es viele verborgene Gründe dafür.). Ebd. Ebd. (Ü: Weil sie sich dadurch zum Nachsinnen über die Leiden, das Heil und die Führung des menschlichen Lebens anfachten.). Ebd.: »juste factorum et scelerum«; vgl. Phoinissai-Vorrede CR 18, S. 395: »partim bonos partim malos«.

72 doppelten Nutzen für die Heranwachsenden, der zum einen in der Vorbereitung auf die vielen Lebenspflichten und in der Zügelung der maßlosen Leidenschaften, zum andern in der Förderung der Beredsamkeit bestehe. Das eloquentia-Ideal sieht Melanchthon in der attischen Tragödie zweifach verwirklicht: »Summus est enim splendor verborum et gestus maxime incurrentis in oculos ad omnes animorum motus ciendos accomodati. Sunt autem haec duo lumina orationis praecipua«. 303 Der größte Gewinn, den der Schüler aus der wiederholten Lektüre der Tragödientexte ziehen könnte, besteht für Melanchthon in der Aneignung rhetorischer Fertigkeiten und in der Einprägung der Gestalt und Form der Reden; zudem habe das mehrmalige Lesen den Vorteil, daß man die einzelnen Teile besser aufnehmen könne. 304 In dieser programmatischen Vorrede nennt Melanchthon ein weiteres Kriterium zur Beurteilung der griechischen Tragiker: Zu dem Nutzen für die rhetorische Ausbildung kommt noch der moralische Nutzen durch die consilia operum hinzu: »tragoediae [...] sint utiles ad mores regendos«.305 Melanchthon nimmt somit nicht so sehr das dichterische Werk als Ganzes und die ihm eigene tragische Wirkung in den Blick. Die Wirkung, wie sie die physiologischen Reaktionsmuster zeigen, ist nicht um ihrer selbst willen von Belang, sondern sie soll unter Nützlichkeitsgesichtspunkten zur Vermittlung einer Lehre eingesetzt werden. Nützlich sind die Tragödien insofern, als sie in ihren einzelnen Teilen auch exemplarische Verhaltensmuster liefern, morum et eloquentiae exempla. Die achtzehn Tragödien von Euripides boten freilich einen - zumindest quantitativ - reicheren Schatz an solchen Vorbildern als die sieben des Sophokles.

2.2.2.2. Antigone als Muster staatstheoretischer

Reflexion

Die »Erwähnungen des Dichters der Antigone und des Oedipus« sind keineswegs, wie Hartfelder fälschlicherweise behauptet, bei Melanchthon »spärlich«.306 Bevor er sich mit Euripides beschäftigte (1537), hielt Melanchthon Vorlesungen über Sophokles (1534). 307 Obwohl Hartfelder diese zur Kenntnis nimmt, waren ihm nur wenige Nachweise der Sophokles-Rezeption Melanchthons bekannt. Doch bereits seit 1524 findet der in Wittenberg lehrende Humanist zunehmendes Interesse an Sophokles; über die Vorstufen einer intensiven Beschäftigung bis zu der Elektro-Vorlesung im Wintersemester 303

CR 5, S. 568 (Ü: Denn unermeßlich groß ist der Glanz der Worte und der Gestik, die am ehesten ins Auge fällt und am geeignetsten ist, alle Regungen der Gemüter hervorzurufen. Diese zwei aber sind die zwei vorzüglichen Zierden der Rede.). 304 Ebd.: »Ac ut in excellenti pictura non potest ars subito contuito judicari, ita in his operibus sapientissime Scriptis non statim perspici omnia membra possunt«. 305 Ebd. 306 K. Hartfelder, Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae, S. 364. 307 CR 2, S. 791; vgl. MBW 2074.

73 1545-46 informiert sein Briefwechsel mit dem Schüler und Freund Joachim Camerarius,308 der 1534 zum ersten Herausgeber und Kommentator von Sophokles im deutschen Sprachraum werden sollte.309 Anläßlich der Berufung von Jakob Micyllus (1503-1558) als GriechischProfessor nach Frankfurt am Main (1524) berichtet Melanchthon an Camerarius über Ausfuhrungen des Micyllus zum antiken Chor.310 Dabei gesteht Melanchthon, daß er zu diesem Thema nur die Beschreibungen von Julius Pollux kenne, es aber vermutlich noch andere Abhandlungen dazu gebe. Melanchthon konnte offensichtlich aus dem vierten Buch des Onomasticon, das über die Zusammenstellung der dramatischen Chöre berichtet und choreographische Einzelheiten an Beispielen aus Sophokles, Aischylos und Eu-

308 K. Hartfelder, Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae, S. 562. 309 ZcxpoKXeo-uq xpaytoSiav eittä. Sophoclis tragoediae septem cum commentariis interpretationum argumenti Thebaidos Fabularum Sophoclis, authore Ioachimo Camerario Quaestore iam recens natis atque aeditis, Hagenau 1534 (Griechische Nationalbibliothek: E. . 11475) [erschienen bei J. Secer; diese Ausgabe in octavo enthält den griechischen Text aller sieben Tragödien, Camerarius' einleitende Abhandlung De tragico carmine, und seinen Stellen-Kommentar zu Ödipus Tyrannus, Ödipus Coloneus und Antigone]; Sophocles tragoediae Camerarii, Hagenau 1537 (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel: Eth. 8); Sophoclis Aiacem, Antigonem et Electram vertit prosa latina Camerarius, Rotallerus autem carmine, Lyon 1555 (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel: Poet. 120 *230) [enthält Camerarius' metrische Übersetzung des Ajax und Prosa-Übersetzung der Elektro, erschienen bei H. Stephanus]; Commentatio explicationum omnium tragoediarum Sophoclis, cum exemplo duplicis conversionis loachimi Camerarii, Basel 1556 (Griechische Nationalbibliothek: E. . 11716) [erschienen bei Oporinus; diese octavo-Ausgabe enthält Camerarius' einleitende Sophokles-Biographie und poetologische Erörterungen der attischen Tragödie De consilio autoris, De genere scripti. De autore harum tragoediarum, eine eigens zusammengestellte Einleitung zu Ajax, seinen Kommentar zu allen sieben Tragödien, die beiden Übersetzungen von Ajax und Elektro, wie in der Ausgabe von 1555, und ein Sachregister]; Tragoediae selectae Aeschyli, Sophoclis, Euripidis cum duplici interpretatione latina, una ad verbum, altera carmine, Genf 1567 (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel: Alv.: Bb. 289) [erschienen bei H. Stephanus; enthält Camerarius' beide Übersetzungen des Ajax und der Elektro]; Ecxpoickeotx; xpaytpöiai a i kniet, Sophoclis tragoediae Septem, una cum omnibus graecis scholiis, et cum latinis loachimi Camerarii, Genf 1568 (Griechische Nationalbibliothek: E. . 11478) [diese quarto-Ausgabe enthält den griechischen Tragödien-Text, die byzantinischen Scholien, den griechischen Kommentar des D. Triclinius, anschließend den lateinischen des Camerarius]; XotpoicXeovx; a i erexa TpaY TU; ITÖT(iJtav GUCOAXDTOCI, ryvTiva Xaoi itoXXoi (PRPI^COCI, Beöq VO ti? eati Kai CÄTT|.

Indessen benutzt Demosthenes dasselbe Argument, nämlich daß die Wahrheit über seine Person schließlich ans Licht komme, gegen Aischines. Melanchthons Auszug aus der Demosthenes-Rede beginnt mit einer Übersetzung eben dieses Zitats: Publica non prorsus volat irrita fama per auras namque est iudicii divini nuntia saepe. 3 4 1

Hesiods Begründung dafür, daß die Wahrheit über eine Person sich durchsetzen werde, fußt auf der Gleichsetzung des öffentlichen Ansehens mit einer Gottheit. Dieses Argument kann der Christ Melanchthon nicht übernehmen. Bei ihm kann fama nicht selbst Gottheit sein, aber allegorisch das Sprachrohr des einen Gottes darstellen. Die Richtigkeit dieses Zitats, so fahrt Melanchthons Demosthenes-Übersetzung fort, exemplifiziere gerade die Person des Aischines, der für korrupt gehalten werde und es tatsächlich auch sei. Demosthenes setzt seine Beweisführung mit einem literarischen Argument fort: Er beruft sich auf die Sophokleische Antigone. In der Kreon-Rede finden sich die gegen Aischines erhobenen Vorwürfe bereits vorformuliert; denn Kreon verurteilt scharf jene Prinzipien, nach welchen Aischines gehandelt hat: Ego si quis in gravi periclo civium, vere salutarem sciens sententiam, Eam timore victus occultat tarnen, Hunc iudico civem esse malum ac inutilem. Et si quis antefert saluti patriae, Privati amici gratiam atque munera, Hic omnium est mortalium iniustissimus. 342

Im griechischen Urtext wird derjenige, der die Gefahr für das Vaterland verschweigt, als KÖtKiaToq verurteilt. Melanchthon übersetzt dieses Urteil mit malus et inutilis, fugt also damit dem moralischen ein utilitaristisches Argument hinzu. Dieses wohnt allerdings dem griechischen Koocöq bereits inne; denn moralisch schlecht war all das, was der Polis zum Schaden gereichen konnte. Zu Melanchthons Zeiten galt solche Kongruenz nicht mehr. Am eindrücklichsten hat etwa Machiavelli die Diskrepanz von gut und nützlich formuliert. 343 Wer private Beziehungen höher schätzt als Vaterlandsliebe, 341

342 343

CR 17, S. 871; Hesiod, Opera et Dies, v. 761 f., Aischines, Ad Timarchum, 129; zur beflügelten Fama vgl. Ovid, Metamorphosen, XII, 58. CR 17, S. 872. N. Machiavelli, II principe, Amsterdam und New York 1968 [ N London 1640], Kap. 15, S. 120. Vgl. Cicero, De officiis, 3, 7 und 11.

81 den erklärt Kreon in der griechischen Fassung zu einem o\)8a^öq. Antiker Anthropologie zufolge ist der Mensch wesentlich der Polis zugehörig. Verstößt er gegen diese seine Bestimmung, wird er zur Unperson. Melanchthon braucht eine zusätzliche Kategorie, denn für ihn ist der Mensch nicht primär als Staatsbürger bestimmt, sondern als ein Geschöpf Gottes. Ein Vergehen gegen den Staat allein verdammt deshalb den Menschen noch nicht zu vollkommener Nichtswürdigkeit, wohl aber ist er nach moralischen Kriterien als iniustissimus zu verurteilen. Nicht zu übersehen ist, daß Melanchthon die Schiffsmetapher, die in der Rede Kreons sentenzenhaft den Vorrang der Vaterlandsliebe vor den privaten Freundschaften zu unterstreichen sucht, auflöst. Bei Sophokles fehlt das entsprechende Substantiv des Bildfeldes; das Bild des Schiffes, schon bei Alkaios und Aischylos und auch sonst bei Sophokles geläufig, wird hier als Stellvertreter der Polis bloß durch das für die Seefahrt spezifische Verb Tigern angedeutet: fj6' e a t i v r) cwC,ox>ca Kai -cautri«; eni rtXeovteq öpöfjq torx; TT|v v6|ii£e xf|v jtöXiv XP°VCP nore ¿4 oüptcov Spanoüaav ei? ßoGöv jtEaeiv. Ubi petulanter facere quod übet, licet, Legumque vox et ira vindicis Dei Ridentur, ac inane nomen est pudor, Magno ruet ventris secundis impetu Mox in profundum mersa tota civitas. 376

Die Verwendung von Sentenzen im Exordium ist ein traditionelles Mittel des attentum und benevolum parare}11 Mit dem Hinweis auf die Autorität des Sophokles wird eine dem Thema günstige opinio zitiert und somit das Interesse des Publikums geweckt. Doch nicht nur aus rhetorischen Gründen wählt Melanchthon diese Sentenz. In der Narratio entwickelt er ein Gegenbild zu diesem lasterhaften Verheilten, wie es die Sentenz beschreibt und welches die Stabilität der Kirche wie des Staates gefährdet. Vita und Persönlichkeit des Herzogs fügen sich fast zu einer Anti-Ajax-Figur. Bevor Melanchthon das Exordium abschließt, leitet er, Quintilians Modell folgend, in der Form eines transitus zu seiner Narratio über und zählt auf, was im Hauptteil seiner Rede folgen wird: die Lebensgeschichte des Herzogs mit einem vorangestellten Exkurs über die Geschichte der herzoglichen Heimat Braunschweig. Zudem schreiben die Regeln des genus demonstrativum ohnehin den locus ex tempore quod ante eum fuit vor. Die Geschichte der Lüneburger Gegend reiche bis zu Homers Zeiten, und die Familie des Herzogs sei genealogisch vom mittelalterlichen Kaiser Lothar abzuleiten. Schließlich ist von dem Vater des Herzogs, Heinrich, die Rede; gepriesen wird dessen Großherzigkeit und Tu-

37

CR12, S. 231. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 269-271.

377

90 gend. Der Anspruch der panegyrischen Rede, die Person e genere, patria, maioribus, parentibus zu loben, ist damit erfüllt. 378 Melanchthon kommt zu dem ex tempore quo ipse vixerit und beschreibt Erziehung und Ausbildung des Herzogs: das Studium des Griechischen, den fließenden Gebrauch des Lateins, das eingehende Studium der christlichen Doktrin, den Erwerb des Französischen in der gallischen Metropole, verbunden mit der Ausbildung in der französischen Verwaltungskunst. Die laudatio operum leitet zu der Darstellung der Regierungszeit des Herzogs über: Melanchthon betont zum einen die kluge Auswahl von Beratern, zum andern die durch christliche Maximen bestimmte Regierungspraxis. Im Bereich der Außenpolitik unterstreicht er die Friedfertigkeit des Herzogs, im innenpolitischen Bereich die Anwendung des biblischen Dekalogs und die Förderung der lutherischen Reformation (Unterstützung der Confessio Augustana 1530). Melanchthon verbindet mit dem Lob der res gestae das Lob ex tempore quod est insecutum, nämlich ex legibus ab eius latis und ex artibus ab eius inventis: Der Herzog verabschiedete ein Dekret, nach dem die Pastoren ihre Streitfälle nicht den Quaestoren, sondern dem Landesfürsten vortragen sollten; zudem veranlaßte er die Edition einer Rhetorik, der höchstes Verdienst zukommt, denn Melanchthon zufolge beruhen theologische Streitigkeiten letzlich auf den unklaren Gebrauch von Worten und Begriffen. Die Tugenden des Herzogs, iustitia, prudentia, magnitudo animi, beneficientia, prudentia, pietas illustriert Melanchthon mit Beispielen aus dessen Leben. Hinzu kommt sein tugendhaftes Verhalten im familiären Bereich: temperans, castus, sobrius, sind Eigenschaften, die den vorbildlichen Familienvater, Ehegatten und Erzieher seiner Kinder auszeichnen; seine Muße verbrachte er mit historiographischen und theologischen Büchern. Die drei Bereiche, die in Melanchthons Paraphrasierung der Sophokleischen Sentenz ex negativo angesprochen werden, finden ihr positives Gegenstück in den virtutes des Herzogs. Der Willkür (»facere quod libet, licet«) wird durch Erziehung und Ausbildung entgegengearbeitet, und die Konsultation geeigneter Berater verhindert willkürliche Beschlüsse; die Orientierung an den zehn Geboten, das Trachten nach dem Reich Gottes, zudem die gerechte Gesetzgebung bezeugen des Herzogs Achtung vor dem Recht (»legumque vox«), die Unterstützung der ecclesia und seine Bemühungen um die rechte Doktrin beweisen insbesondere seine Gottesfurcht (»ira vindicis Dei«), die privaten Tugenden vereinigen sich im Gegenbild zur Schamlosigkeit (»inane nomen est pudor«). Rekapitulierend gibt Melanchthon in der Peroratio die Gründe an, die ihn zur Darstellung der Vita des Herzogs bewegten: »ut plures sciant in nostris Ecclesiis talem fiiisse Principem, cuius vita testatur eum iudicio et vera pietate doctrinam Ecclesiarum nostrarum amplexum esse«. 379 Dabei versucht er seinen Zuhörern die utilitas 378

379

Quintilian, Institutio oratoria, 4, 1, 77 und 3, 7, 10-25; vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 245. CR 12, S. 239.

91 nahezubringen, um deren bewundernde Liebe für die vorgestellte Persönlichkeit zu erregen. In der erneuten invocatio Gottes, daß er weiterhin solch gottesfürchtige Fürsten gewähre, wird die Forderung an seine Zuhörer, des Herzogs Tugenden nachzuahmen, zur frommen Notwendigkeit: »exempla ipsius prosunt omnibus ad commonefactionem. Imitentur singuli suo loco tanti Principi diligentiam in omni officio«. 380 Melanchthon gelingt es, die panegyrische Rede mit einer deliberativen zu verbinden, hatte er doch in seinem eigenen rhetorischen Lehrwerk (1524) empfohlen, daß die Rede des genus demonstrativum ihre loci dem deliberativum entnehme. Er erreicht es, die im Proömium angekündigten Themen »beneficia Dei«, »doctrinarum studii et exempla virtutis« an der Person des Herzogs zu exemplifizieren, und für diese sucht er seine Zuhörer zu gewinnen. Die beliebte Sentenz aus dem Ajax verwendete Melanchthon in Briefen und orationes nicht nur im griechischen Originallaut, sondern er ergänzte die Sophokleischen Verse durch eigene griechische Iamben. Erneut greift er die 4/ax-Stelle in einem Brief an Camerarius (1542) auf, um die Disziplinlosigkeit und Willkür der zeitgenössischen Fürsten zu rügen.381 In diesem Brief lobt Melanchthon den Vortrag seines Freundes über den Krieg gegen die Türken, und zwar sowohl wegen der formalen Nähe zu Demosthenes als auch wegen der Wirkung: Er habe erreicht, beim Lesen sein Mitleid für das Vaterland, für die jungen Studenten und die Kirche zu erregen. Diese Rede sei besonders dazu geeignet, die Uneinigkeit und Trägheit der Verantwortlichen zu kritisieren und zugleich zu intensiveren Studien zu motivieren. Denn wenngleich die Gegner mit solchen geistigen Waffen nicht bezwungen werden, sollten dennoch solche Stimmen in Schulen und Kollegien lautwerden. Melanchthons Zustimmung findet folgender von Camerarius gezogener Vergleich: So wie die Athenische Republik wegen ihrer schlechten Führer unterging, so werde auch heute die Sophistik der Fürsten und ihre Feigheit den Untergang des Staates bewirken. Deswegen, meint Melanchthon, hätte Camerarius auf dem Speyrer Reichstag (1541) seiner Empörung stärkeren Ausdruck geben müssen: Denn gute Vorsätze seien durch listige Kunstgriffe der Fürsten untergegangen. Um diese mißliche Situation und die ihr innewohnende Gefahr zu beschreiben, habe er eigene Verse zu einer Sophokleischen Sentenz »abgewandelt«: Ö7iov

CTCXPIANÖTCOV

y e n o u a i oi

EV T E X E I ,

ex0pHekabePulververschwörung< - eine poetische Epochenbilanz des Späthumanisten Caspar Dornau«, in: Daphnis, 21 (1992), S. 411-434. Horaz, Ars Poetica, v. 280: »docuit magnumque loqui nitique cothumo« und ders., Ad Augustum Florum, v. 163 f.

120 Niederländer, dem gelehrten Publikum bekannt zu werden.27 Beiden Tragikern spricht Rhodius in der Einleitung zu der Gesamtausgabe seiner Dramata Sacra (1625) das Merkmal der »majestas« zu, während Euripides mit seinem stereotypen Attribut der »musa« wiederkehrt: Pulchrum est dedisse fabulam novam in vulgus: Non qualem ineptus scriptitat poetaster. Oratione debili atque plebeia; Sed approbare quam queas viris magnis, Oratione mascula atque limata: Qualem Sophoclis, Aeschylique majestas, Et Euripidis ardui dedit Musa, Altusque Senecae spiritus cothurnati. 28

Um eine Sophokles-Nachfolge bemühte sich Rhodius auch in seinen Dramen selbst; die Gesamtausgabe seiner Dramata Sacra enthält die zwei Tragödien Saulus Rex und Saulus Gelbaeus, die, wie Paul Stachel angedeutet hat, nicht nur dem Titel nach an die zwei Ödipus-Tragödien erinnern.29 Diese Ausgabe widmete Rhodius den Dozenten des Straßburger Akademiegymnasiums, an dem er 1595 studiert und die hier aufgeführten griechischen Tragödien kennengelernt hatte. In der Widmungsvorrede rechtfertigt er seine Beschäftigung mit der Literatur (»musas colam«) und dem Drama trotz der ungünstigen Wirren des Krieges (»inter Martiales tubas«); er vergleicht sich selbst mit Sophokles, der sogar in Kriegszeiten schrieb: Atque adeo cum dramaticum scribendi genus homine ingenuo dignissimum sit: Sophoclem etiam senem et in praefectura, tragoediam scripsisse animadvertam, eo plurimum delector: et sumpto in manus calamo, subinde ad exemplum veterum, in quibus artem, et majestatem, et cultum doctissimus quisque suspicit, ac veneratur aliquid effingo. 30 27

28

29

30

Vgl. M. Mund-Dopchie, »Histoire du texte d' Eschyle à la Renaissance: Mise au point préliminaire«, in: L'Antiquité classique, 46 (1977), S. 169-179; J. A. Gruys, The early printed éditions (¡518-1664) of Aeschylus. A chapter in the history of classical scholarship, The Hague 1981 ; V. R. Lachmann and F. E. Cranz, »Aeschylus«, in: P. O. Kristeller and F. E. Cranz (Hg.), Catalogus Translationum et Commentariorum: Médiéval and Renaissance latin translations and commentâmes, Washington/DC 1971, Band II, S. 525. Zitiert nach: W. Kühlmann, »Zur literarischen Lebensform im deutschen Späthumanismus: Der pfälzische Dramatiker Theodor Rhodius (ca. 1575-1625) in seiner Lyrik und in seinen Briefen«, in: Daphnis, 17 (1988), S. 671-749, hier S. 687 (Seine Übersetzung, S. 688: »Schön ist es, dem Publikum ein neues Stück vorzulegen: Nicht wie es immer wieder ein kunstloser Dichterling schreibt, mit schwacher und vulgärer Rede, sondern womit man bei großen Leuten Beifall finden kann durch straffe und ausgefeilte Rede: wie sie des Sophokles und des Aeschylus Majestät und die Muse des hohen Euripides lieferten und der hohe Geist des tragischen Seneca.«). Allgemeine Deutsche Biographie, 56 Bände, Berlin 1967ff. [ N Berlin 1875ff.], hier Band 28, S. 392f.; vgl. P. Stachel, Seneca und das deutsche Renaissancedrama. Studien zur Literatur- und Stilgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1907, S. 64. Zitiert nach W. Kühlmann, »Zur literarischen Lebensform im deutschen Späthumanismus: Der pfälzische Dramatiker Theodor Rhodius (ca. 1575-1625) in seiner Lyrik und in seinen Briefen«, Anm. 28, S. 704 (seine Übersetzung, S. 703: »Und da nun die

121 Wie schon bei Vadian dient Sophokles hier als historisches Argument für die Verteidigung des Dichterberufes, allerdings bezogen auf eine spezifische Situation, den Kriegszustand. Betonte die Anekdote bei Vadian den gesellschaftlichen und politischen Rang der Dichter, so stehen bei Rhodius persönliche Aspekte im Vordergrund. Der Dichter selbst ist Instanz genug und bedarf keiner gesellschaftlichen Legitimation. Diese zukunftsweisende Rechtfertigung von Dichtung als Anspruch »auf den ästhetischen Freiheitsraum der Poesie«31 kann allerdings nicht absolut aufgefaßt werden, sondern steht in einem direkten Zusammenhang mit den akademischen Widmungsempfängern dieser Vorrede: Die Widmung von Rhodius richtet sich an Gelehrte und nicht an Fürsten, so daß keine betont gesellschaftliche Rechtfertigung zur Verteidigung der Dichtung nötig ist, wie sonst in Widmungen poetischer Werke. Gültig sind Argumente wie »homo ingenuus«, das Rhodius auf sich selbst bezieht, und das Urteil von Gelehrten, »doctissimus quisque suspicit ac veneratur«, mit dem er seine Widmung schließt. Nicht nur weil sich Sophokles in diese Argumentation fugt, wird er hier als einziger Repräsentant der Tragödie genannt. Der Begriff der »majestas« im letzten Satz knüpft anaphorisch an Sophokles an, ist es doch das Stilmerkmal, das er dem Tragiker in den einleitenden Jamben zuspricht. Somit wird über die biographische Anekdote hinaus auf das Werk selbst Bezug genommen, seine Nachahmung, »ad exemplum veterum«, programmatisch postuliert und in der Praxis angestrebt. Ein Jahrhundert nach Vadians Poetik wird Sophokles noch für einen besonderen Redestil geschätzt (»oratione mascula atque limata«), der sich allerdings nicht nur auf die Tragödie beschränkt, sondern auch auf andere Gattungen der Dicht- und der Redekunst anwendbar wäre.

3.1.2.2. Michael

Virdung

So beschrieb auch der Dramatiker und Professor für Poetik und Geschichte an der Altdorfer Akademie Michael Virdung (1575-1637) die griechischen Tragiker mit ähnlichen, klassizistischen Kategorien aus dem Bereich der Rhetorik. In einem Brief an Janus Gruter im Jahr 1602 beklagt er sich darüber, daß nur der Holländer Daniel Heinsius (1580-1655) mit seinem Auriacus eine den antiken Mustern ebenbürtige, ja sogar ihnen überlegene Tra-

31

dramatische Schreibgattung einem begabten Menschen äußerst würdig ist, ich auch bemerke, daß selbst der alte Sophokles sogar während seiner Praefektur eine Tragödie geschrieben hat, habe ich gerade daran meine besondere Freude: Und wenn ich den Schreibgriffel in die Hand nehme, bilde ich etwas nach dem Vorbild der Alten, zu deren Kunst, Majestät und Formkultur alle sehr geehrten Männer in Verehrung aufblikken.«). W. Kühlmann, »Zur literarischen Lebensform im deutschen Späthumanismus: Der pfälzische Dramatiker Theodor Rhodius (ca. 1575-1625) in seiner Lyrik und in seinen Briefen«, S. 705.

122 gödie verfaßt habe. 3 2 In hyperbolischer Überbietungsmetaphorik verweigert er Euripides, Sophokles und Seneca j e n e Eigenschaften, für diejenigen die herkömmliche Kritik die drei Tragiker schätzte. Mit einer Verbindung v o n M e t o n y m i e (der Dichtername steht für die Tragödien) und Prosopopoeia werden j e w e i l s die besonderen Stilmerkmale personifiziert und zu einem Vergleich mit j e n e n in der Tragödie Auriacus ( 1 6 0 2 ) v o n Daniel Heinsius herausgefordert; bei Sophokles wird sein erhabener T o n ins Spiel gebracht: Me quidem ab hoc scribendi genere modo non deterruit visa nuper Heinsii vestri, Auriacus tragoedia, ita me Musae, vel super ipsum antiquorum cothurnum. Friget et iacet apud me Euripides, non satis assurgit Sophocles, nec spirat ac tonat Seneca, quoties illam lego. Is est enim dictionis cultus, nitor, ubertas, ea inventionis felicitas, tanta lux, tanta amoenitas, tanta maiestas orationis, tantum sententiarum acumen, tantum pondus, ita pleraque omnia ex his sibi quam antiquis debent, ut nihil simile in hoc genere, hoc aevo viderim, nihil, visurus, nisi ab ipso credam. 33 D i e gepriesenen Elemente der »dictio« und »oratio« gehören dem Bereich der rhetorischen elocutio an; mit den Eigenschaften der »sententiae« wird hier ein rhetorisch-formales sowie ein inhaltliches Moment angesprochen. D e n n nach Julius Caesar Scaligers Poetik, die die »gesamte literarästhetische Tradition der Renaissance« auch in Deutschland repräsentiert, 34 ist zwar für die Sentenzen die Rhetorik zuständig, doch seien sie die eigentlichen Pfeiler der Tragödie. D i e moralischen Lehrsätze in ihrer doppelten Erscheinungs-

32

33

34

Dieses erste dramatische Werk des Daniel Heinsius, Auriacus, sive libertas saucia, Leiden 1602, behandelt die Ermordung des Wilhelm von Oranien und gilt durch seine »vaterländische Thematik« als wegweisend für die Entwicklung des niederländischen Dramas im 17. Jahrhundert, vgl. B. Asmuth, »Die niederländische Literatur«, in: E. Lefèvre (Hg.), Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, S. 235-275, hier bes. S. 247. »M. Virdungus J. Grutero«, in: A. Reifferscheid (Hg.), Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde, Heilbronn 1889, Brief Nr. 3, S. 6 (Ü: Mich hat von dieser Art des Schreibens die kürzlich gesehene Tragödie Auriacus eures Heinsius fast abgebracht. So mich die Musen sogar über den Kothurnus der Alten. Bei mir friert und liegt danieder der Euripides und nicht erhebt sich Sophokles, nicht atmet und donnert Seneca, sobald ich jene lese. So groß ist nämlich die Formkultur seiner Rede, ihr Glanz und ihre Fülle, so bedeutend die glückliche Fügung der Themenfuhrung, so groß ihr Strahlen, ihr angenehmer Klang, so groß die Gewalt der Rede, so groß die Klarheit der Sentenzen, so groß das Gewicht. Sie verdanken sich selbst mehr als den Alten, so daß ich nichts ähnliches in dieser Art in dieser Zeit gesehen habe und glaube, das ich nichts sehen werde, außer von ihm selbst.). Der Prokanzler des Altdorfer Gymnasiums G. Richter verwendet in einem Brief an Virdung (22.12.1633) eine Sophokles-Sentenz (xaipòi; TOI nötvTcov yvrnnav io^oi), um den schlecht besoldeten Professor zur Geduld aufzufordern, siehe G. Richter, Eiusque familiarum epistolae selectiorae ad viros nobilissimos clarissimosque datae, ac redditae, Nürnberg 1662, S. 320 (Universitätsbibliothek Heidelberg: Sign. D 8676). Zu Virdung vgl. den Artikel von J. Bolte in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 40, S. 10f., der den Einfluß eines Scaligerschen Klassizismus in Virdungs Dramen Saulus (1595), Brutus (1596), Thrasea (1608-1609) feststellt. Vgl A. Buck, »Einleitung«, in: J. C. Scaliger, Poetices libri septem, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561, mit einer Einleitung von A. Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt, S. VII.

123 form, sowohl der apophthegmatischen (»simplex ac praecisa«) als auch der parabelhaften (»picta ac fiisa«), seien die strukturbildenden Elemente, die den inhaltlichen Aufbau der Fabel, die Zusammensetzung einer dramatischen Handlung bestimmen: »res autem ipsae ita deducendae disponendaeque sunt, ut quamproxime accedant ad veritatem«.35 Solche in Anspruch genommene Wahrheit besteht in der Vorführung von Mustern moralischen Verhaltens: »docet affectus poeta per actiones: ut bonos amplectamur atque imitemur ad agendum: malos absternemur ob abstinendum«.36 Obwohl die von Virdung gelobte »inventione felicitas« eher an die rhetorische inventio denken läßt, kann eine Erweiterung auf die dramatische Handlungsstruktur des Auriacus nicht ausgeschlossen werden. Die Kriterien, mit denen hier die Tragödie des Holländers gewürdigt wird, sind jedoch vorwiegend rhetorische.37 Daß Virdung tatsächlich die antiken Tragiker aufgrund der genannten Kriterien schätzte, erhellt sich aus seiner Nachahmung Senecaischer Stilelemente sowie aus seiner Rezeption von Sophokles-Sentenzen in seine eigene Dramenproduktion.38 In den enthusiastischen Zeilen des zitierten Briefes zeichnet sich weniger eine Abwendung Virdungs von den antiken Mustern ab als vielmehr der Wunsch nach eigener, zeitgenössischer Produktion von Tragödien derart gepflegten Stils. Zusätzlich gattungsspezifische Qualitäten verbürgte Sophokles für Rhodius, hat er doch - wie oben erwähnt - versucht, Sophokleische Handlungselemente in seinen Dramen nachzuahmen. Denn seit dem zweiten Drittel des Jahrhunderts wurde Sophokles im deutschsprachigen Raum nicht nur zunehmend in Drucken verfügbar, sondern er wurde kommentiert, ins Lateinische übersetzt und in Vorlesungen behandelt. Somit wurde ermöglicht, allmählich eine Einschätzung des Sophokleischen Werkes zu entwickeln, die sich über den Sprachstil hinaus auf tragödienspezifische Aspekte bezog, wie etwa auf die Handlungsführung, auf die tragischen Charaktere oder die Chöre.

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»M. Virdungus J. Grutero«, Brief Nr. 3, S. 6; vgl. J. C. Scaliger, Poetices libri Septem, S. 18 und S. 145; vgl. S. 18: »Dictio ornatus, aut imitatio rei, aut species. Sententia pars dictionis« und S. 145: »sunt enim quasi columnae, aut pilae quaedam universae fabricae illius«. Vgl. dagegen Aristoteles, Poetik, 1480b und 1450b. »M. Virdungus J. Grutero«, Brief Nr. 3, S. 6; vgl. J. C. Scaliger, Poetices libri Septem, S. 548: »Est igitur actio docendi modu: affectus quem docemur ad agendum. quare erit actio quasi exemplar, aut instrumentum in fabula: affectus vero finis.« Virdung konnte den Aristoteles-Kommentar von Heinsius De tragoediae constitutione (\6\\) nicht kennen und war wohl nicht in der Lage, ein >aristotelisches< Register als literarkritisches Instrumentarium für die Bewertung einer Tragödie anzuwenden. In Virdungs Brutus (1596), II, 2, spricht der gleichnamige Protagonist wie Ajax: »aut pulcre vivere aut mori votum est mihi«, zit. nach P. Stachel, Seneca und das deutsche Renaissancedrama. Studien zur Literatur- und Stilgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1907, S. 47. Virdungs Bewunderung für die klassische Tragödie beeinflußte den späteren Sophokles-Übersetzer W. Spangenberg (Ajax, 1608), der auch Virdungs Saulus 1606 verdeutschte.

124

3.1.3. Sophokles und die Rezeption der griechischen Tragödie Solche gattungsspezifische Aufmerksamkeit indes hatte Sophokles in den Anfangen der humanistischen Dichtungslehre in Deutschland nicht genossen. Nicht zufallig war seine Einschätzung rhetorischen Kategorien verhaftet. Grund dafür ist zum einen die mangelnde Kenntnis des Sophokles-Werkes im Zusammenhang mit der verzögerten Einbürgerung der GriechischStudien an deutschen Schulen und Universitäten;39 dies führte zur Etablierung stereotyper Bewertungsmuster aus sekundären lateinischen Quellen, in denen die griechischen Dichter unter rhetorischen Gesichtspunkten eingegangen waren. Zum andern herrschten in der Poetik des Humanismus Kategorien der Rhetorik vor, die auch nach der Verbreitung der Sophokleischen Tragödien für die Einschätzung von Sophokles in der Tragödientheorie bestimmend blieben.

3.1.3.1. Theaterfeindliche Tendenzen Die ersten Tragödienpoetiken der deutschen Humanisten konzentrierten sich vornehmlich auf die moralische Instruktion und die rhetorischen Elemente der Gattung; detailliertere Ausführungen bezogen sich auf die Ständeklausel und das unglückliche Ende, wie sie Horaz und die spätantiken Grammatiker Donatus und Diomedes (4. Jhdt. n. Chr.) dem Mittelalter überliefert hatten. Das Argument der Moralität war entscheidend, um die Kritik der Kirchen-

39

Vgl. hierzu O. Kluge, »Die griechischen Studien in Renaissance und Humanismus«, in: Zeitschrift fiir Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, 24 (1934), S. 1-54, hier bes. S. 12-24, N. Holzberg, »Olympia Morata und die Anfänge des Griechischen an der Universität Heidelberg«, in: Heidelberger Jahrbücher 31 (1987), S. 77-93, ders., Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland, München 1981, bes. S. 83-86, M. Sicherl, Johannes Cuno. Ein Wegbereiter des Griechischen in Deutschland, Heidelberg 1978, bes. S. 23-33, G. Pfeiffer, Studien zur Frühphase des europäischen Philhellenismus (1453-1750), Erlangen und Nürnberg 1968, Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten. Die Editionstätigkeit der Griechen in der italienischen Renaissance (1469-1523). Unter der Leitung von Dieter Harlfinger bearbeitet von Reinhard Barm u.a. (Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek, 59), Weinheim 1989, J. Hermann u.a. (Hg.), Griechenland-ByzanzEuropa. Ein Studienband, Amsterdam 1988, H. Scheible, »Melanchthons Pforzheimer Schulzeit«, in: H.-P. Becht (Hg.), Pforzheim in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1989, S. 15ff, H. Eideneier (Hg.), Graeca recentiora in Germania. Deutschgriechische Kulturbeziehungen vom 15. Bis 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1994. - Zu den Griechisch-Studien etwa in England vgl. J. W. Binns, »Latin translations from Greek in thé English Renaissance«, in: Humanistica Lovaniensa, 27 (1978), S. 129— 159, hier bes. S. 129-132. Zu dem mangelnden Interesse an der griechischen Sprache im Zusammenhang mit der Rezeption der griechischen Tragödie vgl. D. E. R. George, Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing, München 1972, S. 44.

125 väter und ihrer strengen Befürworter zu widerlegen, die sich gegen die »ludi scaenici« richtete.40 Zum andern war die Hervorhebung der rhetorischen Vorteile der antiken Schriftsteller der sichere Weg, um der paganen Literatur Eingang in den bis dahin eher christlich orientierten Bildungskanon zu verschaffen. Die »eloquentia gentilium« war der einzige Bestandteil der antiken nicht-patristischen Literatur, den sogar der eifrige Minorit und Theologe Thomas Murner (1475-1537) würdigte; in den sechs »Conditiones poetarum theatralium« seiner Schrift De Augustiniana Hieronymianaque reformatione poetarum (1509) weist er unter Anwendung der aristotelischen-scholastischen Syllogistik und unter Berufung auf Piaton die Fiktionen der Dramendichter als Lügen nach, er verwirft ihre Eloquenz als unecht, weil sie den christlichen Inhalten nicht entspreche und die ciceronianische Kongruenz von Person und Rede verletze, wenn Schauspieler mit Maske deklamierten. Er verbietet Theologie-Studenten die Lektüre der Römer als töricht und verderblich; er vermißt bei den antiken Dichtern den Gehalt an Wahrheit, da als einzige die christliche gelten kann, und er rügt unter Berufung auf Cicero und Piaton ihren Mangel an Tugendvorbildem. 41 Nichtsdestoweniger betrachtete er die Beredsamkeit der heidnischen Autoren, wenn auch abwertend, als notwendige Vorstufe der klerikalen Beredsamkeit: Ad hanc igitur eloquentiam iuvenes impellimus; non quod iure fiat / sed quadam pietatis tolerantia: ut ex illis si quid boni capitur / in canonicum usum vertatur / et ecclesiasticetur. haec autem gentilium eloquentia etsi iuvenilis sit / et non perfecta eloquentia: debet nihilominus censeri magna: non quia in se sit gloriosa / sed quia sine ea canonica vel non potest haben / vel difficulter perdisci: ideoque etiam parva iudicari non possunt / sine quibus ad magna vix aut raro pervenitur.42

40

41

42

Augustinus, De civitate Die, VI, 6f., vgl. I, 30-33. Vgl. den Augustin-Kommentar des J. L. Vives, Basel 1522, Band 1, S. 30; andererseits empfiehlt Vives in fortgeschrittenem Stadium der Studien die Sophokles-Lektüre, vgl. ders., Opera omnia, hg. von G. Mayans y Siscar, London 1964 [NVaIencia 1782-90], Band 1, S. 274. Th. Murner, De Augustiniana Hieronymianaque reformatione poetarum, Straßburg 1509, S. V-IX. (Universitätsbibliothek Heidelberg: Sign. G 410=4). Zu Murner vgl. den Artikel von E. Martin, Allgemeine Deutsche Biographie, Band 23, S. 67-69. Zur Klärung widersprüchlicher Begriffe in Murners Verhältnis zu der antiken Literatur vgl. P. Scherrer, Thomas Murners Verhältnis zum Humanismus, untersucht aufgrund seiner Reformatio poetarumHamartia< des Ödipus ist nicht nur für seine Wertschätzung als tragischer Charakter entscheidend, sondern auch für andere Aspekte der Tragödie. Aristoteles betont nämlich, daß den besseren Tragiker (TCOITIXO-Ö äueivovoq) die Fähigkeit auszeichne, seine Wirkung weniger durch die Inszenierung (öyiq) als durch die Handlungsdisposition zu erzielen (ei; ai>xTiv Seiva f| 7toia oiKXpa) stehen in Zusammenhang mit dem Wissen um die Verwandtschaftsbeziehungen, die zwischen den in tödlicher Absicht Handelnden bestehen. Der Ödipus von Sophokles biete die bessere Relation zwischen Handeln und Wissen: Handeln im Unwissen um die Verwandtschaftsbeziehung und das Eintreten der Erkenntnis nach Vollendung der Tat, ixpa^ai p.ev, äyvooövxaq 8e repa^ai

Ebd., Ebd., 7 7 Ebd., 7» Ebd., 7 9 Ebd., 75

76

1448a. 1449b. 1452b. 1453a. 1453b.

135 tö Seivöv, eiö' ijoxepov ävayvfopiaai xt)v cpiXiav;80 denn diese Art von Anagnorisis rufe Überraschung hervor (Kai f) ävayvtbpvon; £K7tA.TiKxuc6v81), insbesondere was das Medium der Anagnorisis betrifft (z. B. Zeichen, Syllogismen, wahrscheinliche Ereignisse), erfolge sie im Sophokleischen Ödipus Tyrannus auf die beste Art (ße^xiaxTi äv(ryva)picnars rhetorica< im Zeitalter der Glaubenskämpfe, S. 243f., Anm. 3, wobei gewöhnlich Dramen zu diesem biblischen Stoff der Komödie oder Tragikomödie zugeordnet werden, vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554-1680). Salut des âmes et ordre des cités, S. 354. 180 J. Pontanus, Institutio poètica, potissimum libris concinnata, breviter eius finem, partes et cuiusque partis proprietates, adhaec quibus rebus vere bonum, omnique numerum absolutum, ac probabile carmen efficiatur, edocens, beigebunden an: J. Buchler, Thesaurus phrasium poeticarum, Köln 1615 (Universitätsbibliothek Heidelberg: D 9959). 181 J . Pontanus zitiert in seiner Institutio poëtica auf S. 117 Quintilians Institutio oratoria, 10, 1 und leitet in die Passage folgendermaßen ein: »Atque hi duo, quemadmodum aetate inferiores, ita scriptionis excellentia superiores Aeschylo iudicati sunt: quamquam pleraque illius quodammodo, labore et studio tantum suo emendata, perpolita et illustrata ederunt [...] Scitum quippe fecerant Athenienses, ut unius Aeschyli fabulae in theatro agerentur.« Vgl. P. Bayle, Dictionnaire historique et critique, Genf 1969, [Nparis 1820-24], Band 6, S. 262.

158 zwischen Sophokles und Euripides knüpft Pontanus an Quintilian und Aristoteles an, wie etwa seine Vorgänger Melanchthon und Camerarius; Quintilians Charakterisierungen und Gegenüberstellungen endeten jedoch in der Aporie, so daß jeder der beiden Tragiker für den ihm eigenen Stil geschätzt werden und der Leser sich nach eigenem Geschmack oder Bedarf entscheiden könnte. Pontanus aber interpretiert die Aussagen des römischen Rhetors als Bevorzugung des Euripides: »Acerrimi vir iudicii Quintilianus, plurimum Euripidi nostro tribuit«. 182 Nach den Zitaten und biographischen Anekdoten aus Gellius, Suidas, Athenaeus, Cicero und Diogenes Laertius 183 über die herausragende philosophische Kompetenz von Euripides, zieht Pontanus als letztes den Tragödienspezialisten heran; gemeint ist die Aristotelische Bemerkung, nach der Euripides als der >tragischste< erscheine, da seine Tragödien ein spektakulär unglückliches Ende hätten (xpayiKcbxocxoq ye xcov JIOTIXCDV cpaivexai), obwohl er die anderen Dinge nicht gut behandele (ei Kai xa aXXa jif) ex> O I K O V O H E I ) . Mitten in die Erläuterung des ambivalenten Aristoteles-Passus, der auch in der neueren Forschung kontrovers geblieben ist, 184 nimmt Pontanus zunächst die Kritikpunkte des Aristoteles an Euripides vorweg, um das anschließende Lob wohl glaubwürdiger zu gestalten. Er nimmt Bezug auf eine deutlichere Aristotelische Gegenüberstellung von Euripides und Sophokles: Hinsichtlich der Wahrheitstreue in der Darstellung habe Sophokles die Menschen dargestellt, wie sie sein sollten (oiow; 8et), Euripides dagegen, wie sie seien (oloi eiaiv). 1 8 5 Was bei Aristoteles als Opposition von gleichwertigen Darstellungsweisen, nämlich dem moralischästhetischen >Idealismus< des Sophokles und dem >Realismus< des Euripides, besprochen wurde, 186 verwendet Pontanus nicht zugunsten des Euripides; ähnlich wie etwa sein Vorgänger und Gewährsmann Victorius, eli182

Quintilian, Institutio oratoria, 10, 1; vgl. P. Steinmetz, »Gattungen und Epochen der griechischen Literatur in der Sicht Quintilians«, in: Hermes, 92 (1964), S. 454-466, hier bes. S. 464. 183 Die meisten biographischen Informationen sind in dem aus verschiedenen hellenistischen Autoren kompilierten révoç Kai ßioRealismus< im modernen Sinn kann bei Pontanus wohl nicht die Rede sein; dieser gehört in die »historia«, welcher wiederum das »verisimile« der Dichtung abträglich sei, wie es Pontanus im allgemeinen dichtungstheoretischen Kapitel erläutert hat: »fabulosa dictio erit tamquam forma et anima poeseos, cum fingere magis quam versificari poetam reddat.« 194 Durch die Übersetzung des Aristotelischen oio-oq Set mit dem Begriff der »verisimilitudo« geht zwar das moralische Moment verloren, und es bleibt nur der darstellerisch-ästhetische Aspekt erhalten. Doch hierdurch kann Eurípides gerettet werden, wäre doch ein Mangel an Moralität in seinen Tragödien ein unverzeihlicher Fehler. 195 Als verzeihlich wiederum stellt sich für Pontanus die weniger vorbildliche Komposition der Euripideischen Tragödien heraus; sie beeinträchtige keineswegs die Einstufung des Eurípides an der Spitze aller Tragiker. Um solche Beurteilung als conclusio im Sinne eines Syllogismus zu unterstützen, unternimmt Pontanus zwei Schlußfolgerungen. In der ersten verwendet er als antecedentia maior die Erläuterung des Begriffes xpayucóv: »factum saevum, praecipuorum malorum, gravissimorumque incommodorum plenum significat«; als antecedentia minor stellt er die Behauptung auf, daß mehrere der Euripideischen Tragödien als jene anderer Autoren solche »acerbos casus« darstellten.196 In der zweiten Schlußfolgerung bedient er sich als antecedentia maior der Aristotelischen Empfehlung des unglücklichen Endes für die Tragödie; 197 als antecedentia minor meint er feststellen zu können, daß der größere Teil (»maior pars«) der Euripideischen Tragödien diese Forde193

Was Pontanus mit Sympathie für Euripides und seine Studien beschreibt, hat Victorius als Fehler erläutert und schließlich Sophokles den Vorrang gegeben, P. Victorius, Commentarii in primum librum Aristotelis de Arte Poetarum, S. 127. 194 J. Pontanus, Institutio poetica, S. 8. Zum Begriff der idealisierenden imitatio der Natur in der italienischen Dichtungstheorie der Renaissance im Gegensatz zum Realismus im modernen Sinn vgl. J. E. Spingarn, A History of Literary Criticism in the Renaissance, New York 1908, 2. Auflage, S. 37. Zu den unterschiedlichen Färbungen und Abgrenzungen, die der Begriff der verisimilitudo in den italienischen Poetiken erfuhr vgl. mehrfache Verweise und Erläuterungen bei B. A. Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2. Band, im Index unter dem Lemma »verisimilitudo«. 195p Victorius, Commentarii in primum librum Aristotelis de Arte Poetarum, S. 127: »mirum non est, si in imitandis postea ipsis lapsus est: nec omnino potuit ea similia veri efficere.« 196 J. Pontanus, Institutio poetica, S. 119. 197 Aristoteles, Poetik, 1453a.

161 rang erfülle. Mit dieser Berufung auf Aristoteles schließt Pontanus seine Gegenüberstellung der zwei Tragiker, aus der Euripides als Sieger hervorgeht. Doch nur scheinbar ist Aristoteles hier Autorität; Pontanus benutzt ihn lediglich, um seine Präferenz für Euripides zu untermauern. Denn zum einen haben weniger als die Hälfte der 18 Euripideischen Tragödien ein unglückliches Ende; 198 zum andern ist für das Tragödienverständnis des Pontanus das unglückliche Ende irrelevant, wie sowohl seine Tragödiendefinition als auch seine Aufstellung von distinktiven Merkmalen zwischen Trauer- und Lustspiel belegen.'99 l m Kapitel über den Aufbau der Tragödie erwähnt Pontanus erstaunlicherweise nur Beispiele aus Euripides, um die Norm des unglücklichen Endes zu relativieren.200 Die Feststellung solcher Präferenz für Euripides kann sich nicht mit der Aufdeckung eigenwilliger Interpretationstechniken der Texte von Quintilian und Aristoteles begnügen, sondern muß eine Begründung dafür suchen. Dabei kann ein Rekurs auf Pontanus' Beurteilung anderer Autoren aufschlußreich sein. Diese liegt in der Gegenüberstellung vor, die Pontanus im einschlägigen Abschnitt über die Komödie zwischen Plautus und Terenz unternimmt. 201 Entgegen der Donatschen Kritik an Plautus, letzterer verstoße gegen die Regeln der reinen Komödie, bevorzugt Pontanus den älteren Komiker, hat er doch gerade seinen Amphitryon als Muster für die Tragikomödie empfohlen. 202 Auch hier beruft er sich, um seine Bewertung zu unterstützen, auf die Urteile anerkannter Autoritäten, schließt jedoch seinen Vergleich mit eigenen Überlegungen ab. Pontanus scheint mit den Komödiendichtern vertrauter zu sein als mit den Tragikern. An Plautus lobt er seine »vis et varietas«, die Tatsache, daß er zwar Laster vorstelle, aber auch ihre Bestrafung vorführe, moralische und politische Gemeinplätze vermische und Scherze einflechte. Verschlüsselt (»reconditior«) erscheine sein Stil nur denjenigen, die über ungenügende lateinische Sprachkenntnisse verfügen; dagegen sei die Sprache des Terenz, obwohl feiner (»mundior«), geglätterter (»politior«) und edler (»nobilior«), doch 198

Ein unglückliches Ende haben Medea, Hippolytos, Hekabe, Herakles, Troades, Phoinissai, Iphigenie in Aulis und die Bakchen. 199 In der Relativierung des unglücklichen Endes für die Tragödie unterscheidet er sich von Scaliger. Vgl. J. Pontanus, Institutio poetica, S. 110: »Tragoedia est poesis virorum illustrium per agentes personas exprimens calamitates, ut misericordia et terrore animos ab iis perturbationibus liberet, a quibus huiusmodi facinora tragica proficiscuntur.« Vgl. auch S. IIS: »[exitus] tragoediae moestus ac funestus plane. Hoc perpetuo verum non est.« 200 Vgl. ebd., S. I I I : »etiamsi felici claudatur exitu, ut Electra Euripidis, ubi caedes Aegisthi multis gaudium creat. Tales item invenantur Ion, Helena, Orestes.« In demselben Kapitel, S. 113, zitiert Pontanus den Orestes des Euripides als Beispiel für die Horazsche Regel über den Eingriff eines Gottes bei der Verwicklung der Handlung sowie die Figur des Polydoros aus der Hekabe als Beispiel für eine »persona protatica« des Tragödienprologs. 20 1 Ebd., S. 106ff. 202 Vgl. ebd., S. 88.

162 arm: »sterilis apparet, parcus certe«.203 Abwechslung in Thematik, Topik und Sprachstil ist schließlich der entscheidende Vorzug des Plautus: »Plautus sibi nunquam similis, semper novus«. 204 Ganz entsprechend kritisiert Pontanus den Sophokleischen Klassizismus als »gravior et simplicior«, während er den Euripideischen wegen seiner Eleganz (»versutior, argutior, disertior«) und seines philosophischen Gehalts lobt (»philosophiae mysteria«, »doctrina et sapientia«).205 Es sind also dieselben Kriterien, aufgrund derer Pontanus den Tragikervergleich entscheidet, wie er sie dem Komikervergleich zugrundegelegt hat. Zwar etablierten schon Frühhumanisten wie Erasmus, Melanchthon oder Camerarius Euripides zum rhetorischen Musterautor, 206 ohne freilich noch offen Sophokles zu kritisieren, geschweige denn, wie im Falle von Pontanus, Euripides gegen Sophokles auszuspielen.207 Gewiß übernimmt Pontanus in frühhumanistischer Tradition die Wertschätzung, die Sophokles in der Antike genoß; doch wenn Pontanus im Rahmen eines Cicero-Zitats Sophokles als Repräsentanten der Tragödie erwähnt, verschweigt er die Tatsache, daß Sophokles in diesem Zitat eindeutig den ersten Rang unter den Tragikern einnimmt.208 Doch es sind weniger tragödienpoetische Gründe, aus welchen Pontanus dem Euripides den Vorzug gibt; entscheidend ist vielmehr eine Schuldramenpoetik, die sich moralpädagogischen Zielen und rhetorischen Regeln verpflichtet weiß: Wegen ihres latenten philosophischen Gehalts und ihres modernen gattungsverwischenden Stils kommen die Euripideischen Tragödien dieser pädagogischen Poetik gelegen. 209 Dieser Absicht entspricht es auch, Seneca, einen Autor der silbernen

203

Ebd., S. 107. Ebd., S. 108. 205 Ebd., S. 118. Vgl. Aristophanes, Frösche, v. 91, 775, 954, 1069, Frieden, v. 534; Dionysius Halikarnasseus, De comparatione verborum, 23 und Veterum scriborum censio, 2, 11; vgl. »Euripidis Vita«, in: Euripidis tragoediae, hg. von A. Nauck, Leipzig 1900, Band 1, S. VIII, v. 127: »pT|TopiKci>TATOÇ xf¡ KataaKEufj Kai HOIKÎXOÇ xfj (ppáaei Kai ùcavôç àvaoKe'uâaai t à eipr|)j.áva.« 206 D i e s schlug sich auch in der quantitativ größeren Verbreitung von Euripides in Form von Editionenen, Kommentaren und Übersetzungen nieder. 207 Vgl p portus, In omnes Sophoclis tragoedias prolegomena, Morges 1584, würdigt eher Sophokles in seiner Gegenüberstellung der zwei Tragiker; L. G. Gyraldus, »Historiae poetarum tarn graecorum quam latinorum dialogi decem, quibus scripta et vitae eorum sic exprimuntur, ut ea perdiscere cupientibus minimum iam laboris esse queat, cum indice locupletissimo«, in: Opera omnia, Basel 1588 [zuerst Basel 1545], 7. Dialog, S. 261-269, läßt die Konfrontation unentschieden; vgl. dazu M. MundDopchie, »Lilio Gregorio Gyraldi et sa contribution a 1' histoire des tragiques grecs au XVIe siècle«, in: Humanística Lovaniensia, 34 (1985), S. 137-147. 208 J. Pontanus, Institutio Poética potissimum libris concinnata, Köln 1615, S. 4 (Universitätsbibliothek Heidelberg: D 9959A); vgl. Cicero, Orator, 1, 4. 209 vgl. Dionysios Halikarnasseus, Veterum scriptorum censio, 2, 11 : »ó 5' EùpiJtûrnç oï>te •i)\|/T|Xc>ç èativ oïite |itiv Xixôç, àXXà KEKpa)iévr| rnç XéÇecoç neaóxriTi KéxpT)tai. xtûv 5e KûJ|xtûôcùv m|iei/rat t à ç XeKtiKâç apexàç ctjtàaaç«. Vgl. die Gegenüberstellung der beiden Tragiker bei dem Gewährsmann von Pontanus, dem Italiener A. S. Minturno in De Poeta, S. 188, in der Sophokles als Autor von »patheticae« und Euripides von sowohl »patheticae« als auch »moratae« beschrieben werden. 204

163 Latinität, als nachahmenswerten Musterdichter zu empfehlen (»pactum imitandi«).210 Mit der vorsichtigen Distanzierung vom Klassizismus und vom glatten, erhabenen Stil des Sophokles zeichnet sich bei Pontanus eine Tendenz zum Manierierten, Verschlüsselten und zum »argutia«-Ideal hin ab.211

3.2.2. Sophokleische Tragödien als Märtyrerdramen (Alexander Donati) Weniger auf rhetorisch-stilistischen als vielmehr auf tragödientechnischen Aspekten beruht die Einschätzung von Sophokles in einer weiteren jesuitischen Poetik, die in der zweiten Auflage 1633 in Köln erschien und für das frühe 17. Jahrhundert in Deutschland die theoretische Begründung der Märtyrertragödie repräsentiert.212 Gemeint ist die Ars poetica sive Institutionum artis poeticae libri tres (zuerst Rom 1631) des Sienesers Alessandro Donati (1584—1640), Rhetorik-Professor in Rom, der selbst Gedichte und eine Suevia Tragoedia verfaßte sowie biographische und archäologische Studien veröffentlichte.213 Das zweite Buch seiner Dichtungslehre nimmt das Drama ein; den weitaus größten Teil der insgesamt etwa sechzig Kapitel widmet Donati der Tragödie (Kapitel IV-L), die restlichen teilen sich in Komödie, Mischdrama und allgemeinere gattungstheoretische Erörterungen. Die Bevorzugung, die der Tragödie bei Donati im Unterschied zu der Poetik seines in Süddeutschland wirkenden Ordensbruders zuteil wird, ist wohl auf den größeren Einfluß von Aristoteles und dessen italienischen Kommentatoren zurückzuführen; dies erhellt sich aus Donatis Vorrede »Ad lectorem« und den zahlreichen Zitaten bedeutendster Dichtungstheoretiker des Cinquecento in den Anmerkungen.214 Obschon auch Donatis Poetik zur Unterrichtspraxis 210 j Pontanus, Institutio poetica, 211

1615, S. 15.

Vgl. B. Bauer, Jesuitische >ars rhetorica< im Zeitalter der Glaubenskämpfe, S. 244. 212 Zum Beitrag Donatis zur Etablierung des Märtyrerdramas in Deutschland vgl. J. Müller, Das Jesuitendrama in den Ländern deutscher Zunge vom Anfang (1555) bis zum Hochbarock (1665), Augsburg 1930, S. 66 und A. Happ, Die Dramentheorie der Jesuiten, (Diss.; Auszug) München 1924, S. 2, welcher betont, daß Donati großen Einfluß von Riccoboni erhielt, während er selbst Harsdörffer und Birken beeinflußte. Fortsetzer Donats sei Masen, während Heinsius sein Berater gewesen sei. Vgl. E. R. George, Deutsche Tragödientheorie, München 1972, S. 82, zu dem Einfluß den J. Pontanus und A. Donati auf Albrecht Christian Rotth ausübten. 213 C h . O.Jöcher, Allgemeines Gelehrten=Lexicón, Band 2, S. 181; vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555-1773), Stuttgart 1984, Band II, S. 1228. 214 A . Donati, Ars Poetica sive Institutionum poeticae libri tres, Köln 1633, S. 3 (Universitätsbibliothek Heidelberg: G 417): »Quod alii profusis commentariis, Dialogis, Libris, ductu, institutoque Aristotelis, de Poetica praecipiunt, Ego brevi Epitome complexus addiscentibus praesertim exposui, sie ut nihil eorum omiserim, quae ad ingeniosissimae artis cognitionem adolescentes iuvare putaverim.«

164 dienen soll, steht die theoretische Behandlung von dramenspezifischen Problemen im Vordergrund: die moralische Disposition des Protagonisten, die tragische Schuld und die Darstellung der Affekte. Daß Donati das Schwergewicht auf die Theorie legt, hängt mit seinem innovatorischen Anspruch zusammen; denn die Begründung der Märtyrertragödie als neuer Gattung und ihre künstliche Ableitung aus den Aristotelischen Tragödienregeln zwangen ihn zu ausfuhrlicheren Reflexionen als dies etwa für Pontanus der Fall war, der für sein Konzept des Mischdramas auf eine bereits vorhandene Gattung, die Plautinische Tragikomödie, zurückgreifen konnte. Der theoretische Charakter des Werkes wird zusätzlich verstärkt, da sich Donati nicht nur als Epitomator seiner Vorgänger versteht, sondern sich mit diesen auch auseinandersetzt. Außerdem fügt er häufig zu einzelnen Kapiteln Exkurse, sogenannte »Additamenta«, hinzu, in denen er einzelne Fragen detailliert erörtert. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Aristoteles und seinen Kommentatoren nimmt Sophokles eine besondere Stellung ein. Doch begnügt sich Donati nicht damit, die Sophokles-Beispiele lediglich aus Aristoteles zu übernehmen, sondern führt darüber hinaus zahlreiche Sophokles-Belege aus eigener Lektüre an. Nach den einleitenden Kapiteln über Namen, Ursprung und Entwicklung der Tragödie, in denen erwartungsgemäß die Sophokleischen Leistungen mitgenannt werden, die seit der Aristoteles-Rezeption die meisten Tragödienabhandlungen begleiten, nämlich die Hinzufügung der dritten Person und des Bühnenbilds, 215 rückt Donati zur Gattungsbestimmung vor. Die Folie liefert ihm Aristoteles, wobei die griechischen Passagen mit Robortellos lateinischer Übersetzung konfrontiert werden.216 Über die Kommentierung einzelner Zentralbegriffe gelangt Donati zu einer eigenen Tragödiendefinition: Repetendo igitur, clarior sie erit definido: Tragoedia est imitatio dramatica actionis illustrium personarum perfecta, ac magna, separatim adhibens metrum, harmoniam, saltationem: et per miserabiles, ac terribiles exitus temperans affectus misericordiae, ac timoris. 217 215

216

217

Vgl. ebd., S. 104; vgl. Aristoteles, Poetik, 1449a. Vgl. A. Donati, auf S. 91 die vierfache Erwähnung von Sophokles innerhalb einer Reihe von antiken Autoren als Beispiel für die Ehren, die den Dichtern in der Antike erwiesen wurden. Vgl. F. Robortello, In librum Aristotele de arte poetica explicationes. Paraphrasis in librutn Horatii, qui vulgo de arte poetica ad Pisones inscribitur, München 1968 [ N Florenz 1548], S. 52, paraphrasiert Donati: »Tragoedia est imitatio actionis illustris, perfecta, magnitudinem habentis, sermone suavi, separatim singulis generibus per partes agentibus; non per enarrationem, per misericordiam vero, atque timorem efficiens huiusmodi perturbationum purgationem.« Vgl. L. Castelvetro, Poetica d'Aristotele vulgarizzata, et sposta, München 1968 [ N Wien 1570], S. 62 v : »per misericordiae e per i spavento purgatone di cosi fatte passioni«. A. Donati, Ars Poetica sive Institutionum poeticae libri tres, S. 106 (Ü: Ich wiederhole nun; so mag die Begriffsbestimmung einsichtiger sein: Die Tragödie ist die vollkommene dramatische Nachahmung des Handelns ausgezeichneter Persönlichkeiten in großem Rahmen, die sich jeweils gebundener Sprache, der Musik, des Tanzes bedient und über den erbarmenswerten und schrecklichen Ausgang die Affekte des Mitleids und des Schauers besänftigt.); vgl. die kürzere Formulierung in Donatis ab-

165 Die Unterschiede zu Robortellos Aristoteles-Übersetzung lassen die Eigenständigkeit von Donatis Tragödienkonzeption erkennen: Nicht als Nachahmung einer Handlung (»actio illustris«), sondern als Nachahmung von Personen (»personae illustrae«) definiert Donati die Tragödie, den allgemeineren Begriff der Reinigung von Leidenschaften (»perturbationum purgatio«) konkretisiert er als Mäßigung der Affekte (»temperans affectus«), und schließlich leitet er die Affekte von dem Ausgang der Tragödie ab, wobei er für die Katastrophe nicht nur einen möglichen Dramenschluß vorschreibt (»per miserabiles ac terribiles exitus«).218 Der Vorrang des Charakters vor der Handlung resultiert aus einer anderen Sichtweise: Der Charakter ist es, der Donati den Grundstoff (»materia«) der Tragödie liefert, Tragoediae materiam definitur persona, quae lapsu foelicitatis primas agit in ea partes, et protagonista dicitur, 219

während die Fabel der Handlung ihm lediglich zur Gestalt (»forma«) verhilft.220 Dazu wertet Donati die Aristotelische Hervorhebung der Fabel als Seele (yoxfi) und Zweck (téA-oq) der Tragödie zum äußeren Rahmen ab, durch welchen sich die Tragödie von anderen Gattungen wie Komödie und Epos unterscheide.221 So kann er unter Berufung auf Aristoteles - tatsächlich aber in Umkehrung seines angeblichen Bürgen - äußern, daß die Beschaffenheit der Charaktere über die Zusammensetzung der Handlung entscheide und nicht umgekehrt: »Res ergo quae exponuntur sint actiones, mores et iudicia hominum de rebus: constituuntque fabulam, moratam oratio-

schließendem Kapitel »Brevis periocha Tragicis artificii« auf S. 236: »Tragoedia est poema dramaticum imitans illustres personas a secunda fortuna transeúntes in adversam, ut mitiget humanos affectus.« 218 Dem glücklichen Ende der Tragödie widmet Donati ein eigenes Kapitel, »XIV. An exitum foelicem Tragoedia excludat« (ebd., S. 134-137), in dem er den glücklichen Ausgang zuläßt, unter der Voraussetzung, daß die übrige Handlung »terror et misericordia« hervorruft, was durch die Ereignisse und das Leiden der Personen erreicht werde, »quo tendit series rerum, dolor, et lamentatio personarum«; so würde die Verhinderung eines Mordes nicht Freude erregen, sondern eher den letzten Grad des Unglücks aufhalten, wie er auf S. 135 schreibt, »quod si infecta caedes est, non tarnen Tragoedia tendit ad laetitiam, sed infoelicitatem non ultimo terminatam«. Die Unkenntnis der Personen, zwischen denen sich Unglückliches ereigne, sei ein entscheidendes Moment dafür, daß die Tragödie mit glücklichem Ende nicht ins Komödienhafte entarte, S. 135: »damnata est actio, se mutua semperque agnoscentium personarum«. Zu der Katharsis-Auslegung A. Donatis vgl. auf S. 106 die Thematisierung der Sicherung des Zuschauers vor den tragischen Affekten. 219 Ebd., S. 112 (Ü: Die Materie der Tragödie definiert die Person, deren Glücksfall diese in ihren Teilen behandelt und welche Protagonist genannt wird.). 220 Ebd., S. 142; vgl. S. 237: »Fabula quae tota inventionem sibi poeticam vendicat, est compositio negotiorum.« 221 Vgl. ebd., S. 140: »anima, quia velut anima hominis, sie fabula est tamquam forma poematis« und »sie fabula imago et imitatio actionis humanae, finis est, ad quem caetera collineant in tragoedia«; zu dem Verhältnis des Charakters zu der Fabel vgl. S. 138: »Hactenus de materia, nunc de Forma, et mole tragoediae.«

166 nem et sententiam.«222 Diese Umdeutung ist nicht singular, sondern bringt den grundsätzlichen Unterschied Donatis zur Aristotelischen Ästhetik und Ethik zum Ausdruck. Die Aristotelische Poetik interessieren nur diejenigen Handlungen, die Menschen bei ihrem Streben nach Glück in ihrer ethischintellektuellen Begrenztheit und Fehlbarkeit erweisen. Als anthropologische Bedingtheiten sind letztere nicht durch moralische oder kognitive Fähigkeiten aus der Welt zu schaffen; vielmehr fallen Tugend und Glück zusammen und sind nur durch Handeln zu erkennen und zu erreichen. 223 Solches Gelingen oder Mißlingen der Fähigkeit zum Glück durch Handeln ist Thema der Aristotelischen Tragödienauffassung. Ethische Disposition und Charakter sind nur insofern relevant, als sie zur Dramatisierung solchen Handelns beitragen. Von Belang ist die Charakterstruktur, soweit sie Aufschluß gibt über die Affinität (Wahl) der rationalen und irrationalen Kräfte des Menschen zu Handlungen, die für die Erreichung des Zieles (Glück) unternommen werden. 224 Für den Jesuiten Donati sind andere Traditionen wirksam und maßgeblich: die heilgeschichtliche Anthropologie des Christentums. 225 Tugend ist nicht wie bei Aristoteles als Entwicklungsprozeß von Naturanlagen erfahrbar, der sich im Gemeinschaftsleben vollzieht, sondern dogmatisch vorgegeben und von Jesus Christus exemplarisch vorgelebt worden. Menschliche Handlungen entspringen der willentlichen Entscheidung zu solchen Tugenden und Lastern. Die Diskrepanz zwischen Donatis Begriff von »mores« und dem Aristotelischen fjGoq manifestiert sich deutlich in seiner Verlegenheit, die Aussage von Aristoteles über die Möglichkeit einer Tragödie ohne Charaktere (aveu 8e fi0tov yevoix' av) zu erklären. 226 Donati erläutert die Tragödie »sine moribus« als Tragödie ohne 222

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Ebd., S. 142 (Ü: Die dargebotenen Dinge aber sind Handlungen, Sitten und Urteile der Menschen über Sachverhalte. Sie ergeben eine Handlung und eine sittliche Rede und Aussage.); vgl. das gesamte Kapitel XVII. »De fabula et quid sit«, S. 139-142. Nach W. D. Ross, Aristotle, Oxford 1956, S. 192, sei die Aristotelische Auffassung von Tugend »that sort of action to which virtue is the tendency.« Der Auffassung von Tugend als Realisation im Einzelfall im Unterschied zum griechischen Stoizismus entspricht Cicero, República, I, 2, 2: »Virtus in usu sui tota posita est.« Vgl. Aristoteles, Poetik, 1450a und 1450b: jté(pwev a m a 8t)o xtov jipáíjecov eívai, S i á v o i a Kai rjöoq und eaxiv 8É fjöo^ ö 8r|Xoí TT)v Ttpoaipeaiv, vgl. ders.: Eudemische Ethik, 1219b und Nikomachische Ethik 1102b. Die christliche Offenbarung über die Fehlbarkeit alles Menschlichen bei der Erreichung des Glückes, das nur die Vereinigung mit Gott sein kann, beinhaltet zugleich die Lehre zur Behebung solcher Fehlbarkeit: Erzielt könne sie werden zum einen durch menschliche Werke und eine rational begründete Sittlichkeit im Aquinatischen Sinn, zum andern durch die göttliche Gnade Augustinischer Prägung. Obliegt letztere dem heilsgeschichtlichen Plan, so ist dem menschlichen Anteil das Korrigieren der Fehlbarkeit auferlegt: Kodifizierte Tugenden und Laster beschreiben Motive alles menschlichen Handelns. Donati zitiert Thomas von Aquin im Kapitel über die Affekte, vgl. ders., Ars Poética sive Institutionum poeticae librí tres, S. 179. Hierzu vgl. C. B. Schmitt und Q. Skinner, The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge, 1988, hier S. 303-386. Aristoteles, Poetik, 1450a.

167

»oratio morata«.227 Er übersetzt den Aristotelischen Begriff fjöoq mit Hervorhebung einer willentlichen Entscheidung, die dem Handeln vorausgehe: »Nam dicuntur a Philosopho esse in nostra potestate, quae sponte eliguntur a nobis, ut agantur, vel fiigiantur. Ex quibus actionibus si ad virtutem spectant, bene morati.«228 Sittlichkeit wird demnach durch die Befolgung verbindlicher Verhaltensmuster bestimmt, die nach kognitiv erfaßbaren Werten normiert sind. Die Erwägung solcher Werte, die Aristoteles jedoch auf den für seine Tragödienauffassung drittrangigen Bereich der Si&voioc abgeschoben hat,229 gehe der freien Entscheidung voraus: morem igitur effecit operatio, electio voluntatis operationem, electionem eligendorum praecedit agnitio, non enim eligimus quod ignoramus; tum consulto est opus, ut certa iudicii aestimatione utilitatem, oblectationem, ac caetera metiamur quae secum actio involvit. Haec sequitur delectus, et operatio; quae si honesta, si cum virtute coniuncta sit, bonos, et honestos mores, si vitiosa et turpis, pravos ac distortos habitus progignit in nobis.230

Somit werden schließlich die »mores« entweder in einer Tat oder in einer Rede ausgedrückt; sie sind das Produkt des Wissens um die moralischen Nonnen und der darauffolgenden Entscheidung: Exprimuntur mores in tragoedia aliisque poematis, vel repraesentando actiones, vel referendo verba personarum cupientium aliquid, aut improbantium. Utrumque enim indicat electionem voluntatis, et utrobique est morata oratio. 2 3 1

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A. Donati, Ars Poelica sive Institutionum poeticae libri tres, S. 141: »Quomodo autem narretur, morata ne, an sententiis, referta oratione minoris negocii est«; vgl. ebd.: »Neque mores fabulae qualitas, sed Tragoediae, quae exprimendo mores morata dicitur.« Vgl. auch S. 238: »morata est oratio, indicans hominum voluntates, quibus vitia virtutesque sectantur; hae enim deinde mores imprimunt.« Ebd., S. 166 (Ü: Nach Aristoteles sollen Entscheidungen in unserer Gewalt stehen, die wir aus freien Stücken zu tun und zu meiden uns erwählen. Wenn sie aus diesen Handlungen heraus auf eine Tugend hinweisen, sind es mit Recht sittliche Entscheidungen.). Vgl. P. Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main 1963, S. 14: »Der Ort, an dem er [= der Mensch der Renaissance] zu dramatischer Verwirklichung gelangte, war der Akt des sich-Entschließens«. Aristoteles, Poetik, 1450a: »Xeyco yctp NÖ8OV toOxov TT)V aüvflecnv xöv Kpay|iäxcov, x a 8E fjöri Kaö' o jcoiou^ xivct? EIVOU Xa TOI KAKTÖV otx>TT) TEXXUTTI T O 6 8 E TOÖ ävßpcx; I)Oiäxr|. Requies malorum, haec finis hominis ultima. 2 5 8

Die zitierten Sophokleischen Verse stammen aus dem letzten Akt, der Exodos, in welcher der von seinen Vergiftungsschmerzen geplagte Herakles sich an das Dodonische Orakel über sein Ende erinnert und in Gehorsam gegenüber dem Willen des Zeus seinem Sohn Hyllus Unterweisungen über seinen Tod auf dem Scheiterhaufen gibt. Doch bedeutet dem Sophokleischen Herakles bereits der Tod eine Rast von den Mühen seines Lebens, auf den keine Senecaische Entrückung in die Sphäre der Götter folgt. Dem Sophokleischen Halbgott, der sich an Deianeira vergangen hat, wird die Apotheosis vorenthalten, die der Senecaische Hercules als Entgeltung für seine

dem suppliciorum representatio commovere potest intuentes. In quo apparet manifesta perturbationum repurgatio. Nam una ex parte horrifici mali aspectus est auctor timoris: ex altera vero constans et charitate roborata fortitudo cruciatum perferentis non timendum docet. Itaque nihil alienum conficitur a Tragoedia«; vgl. L. Castelvetro, Poetica d'Aristotele vulgarizzata, et sposta, S. 65 v . Mit dem Ungerechtigkeitsvorwurf gegen Gott beim Anblick des Leids von Tugendhaften räumt Donati auf, indem er auf die heilsgeschichtliche Vorsehung des christlichen Gottes hinweist, A. Donati, Ars Poetica sive Institutionum poeticae libri tres, S. 120: »nostris vero hominibus in eo spectaculo periculum prave opinionis ingenerali non potest, qui a pueris didicerunt omnia Dei Providentia disponi, ac regi et cuncta sive bona, sive mala de manu Domini suscipienda.« 258 Ebd., S. 120f. (Ü: Desweiteren lesen wir von Herakles in den Trachinierinnen des Sophokles und von Hercules Oetaeus bei Seneca - und stimmen darin zu - , daß er, nachdem der Scheiterhaufen in Brand gesetzt worden war, auf einer Wolke und unter Donnerschlägen in den Himmel gefahren sein soll. Daher folgt nach Meinung der Alten auf den Tod die Glückseligkeit. Das jedoch vermindert nicht die Trefflichkeit der Tragödie; und deshalb verbietet Herakles die Trauer über sein Leichenbegängnis); im ersten Sophokles-Zitat fehlt die Anrede an den Sohn, ohne daß sich jedoch der von Donati in diesem Zusammenhang intendierte Sinn verändert, vgl. Sophokles Trachinierinnen, v. 1199f.: yóox> Se |!T|5èv eiaitto Sccicpu, àXX' àotévaKTCx; Kà5òncpuT0gerechte< Tat, die vor dem Handeln stattfindet und wie sie bei Aristoteles nicht vorgegeben ist. Gerade diejenige Tugend, deren Absolutheit Aristoteles für die Tragödie ablehnt, versucht Donati aufs Spiel zu setzen. 293 Denn die Aristotelische Poetik geht davon aus, daß der tragische Held wohl eher eine »causa iusta« befolgt, genauer noch, sie verwirft, daß er nach einer »causa iniusta« trachte; die Ungerechtigkeit seiner Tat ist erst nach ihrer Vollendung zu überprüfen. Gerade um die Ungerechtigkeit als Begründung für das tragische Unglück auszuschließen - jene Tugend seines Ethik-Systems, die die Relation zu anderen Mitmenschen betrifft 294 - führt Aristoteles den Begriff der ä|Aapxia ein, an dem er seine Ausführungen zu dem Verkennen und Wiedererkennen von Verwandtschaftsbeziehungen als eine Möglichkeit von ä|iapxia anhängt. 295 Dieser Unberechenbarkeitsfaktor trifft indes bei Donati wohl auf Ablehnung; deshalb versucht er ihn abzugrenzen und weitere Möglichkeiten für sein Theater vorzustellen, das Verhaltensmuster zur Überwindung solcher Unberechenbarkeit zu vermitteln sucht. Bei den Beispielen aus der römischen Geschichte, die er zur »causa iusta« bzw. »iniusta« anführt, sind Vorsatz des Handelnden und Identität der Betroffenen bereits vor der Tat bekannt. Ganz entsprechend seinen vorausgegangenen Ausführungen über die moralischen Voraussetzungen des Protagonisten verwirft Donati die willentliche Befolgung von Ungerechtem als Tragödienstoff: Qui injustam operandi causam habet et agnoscit iniustam, negotio tragico est ineptus. prae se quippe crudelitatem; fert et inimicam misericordiae barbariam, neque timorem incutit; cum spectatorum nemo se iniusta facturum in alios putet. 296 290

Ebd., 1110a. Ebd., 1129b. Ebd. 293 Yg] Aristoteles, Poetik, 1453a: ö JIT|TE ctpetfi Suupepwv Kai 8ucaiocrtvr|. 294 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129b und 1130a: äXXa Ttpoi; extpov. 295 Vgl. S. Halliwell, The Poetics ofAristotle, S. 135. 296 A. Donati, Ars Poetica sive Institutionum poeticae libri tres, S. 131 (Ü: Wer einen ungerechten Grund zu handeln hat und ihn als ungerecht erkennt, ist für ein tragisches Stück unpassend, denn er trägt ja Grausamkeit zur Schau und Rohheit, die sich dem 291

292

186 Die Bestrafung einer solchen Tat würde zudem keine tragischen Affekte erregen: »Si meruerunt [morte puniri], ut Thyestes, minus [spectator] habet timoris, et misericordiae illarum [personarum] casus«.297 Demgemäß befürwortet Donati die Befolgung von Gerechtem: »Qui iusta ad agendum causa impellitur, tragoediae aptus est.«298 Was gewinnt jedoch Donati mit der Differenzierung zwischen einer »causa iusta« im Sinne eines präexistenten göttlichen Rechts, bei dem die Gerechtigkeit der Tat erst die Gerechtigkeit des Vorsatzes determiniert, und einem Recht des Ermessens von betroffenen Personen und Situationen, wie es als einziges für die Aristotelische Poetik in Frage kommt? Er kann denjenigen Fall für die Tragödie retten, bei dem eine »causa iusta« als höheres Recht etwa die Ungerechtigkeit an Verwandte entschuldigt: »qui iusta ad agendum causa impellitur, tragoediae aptus est«; 299 dies trifft beispielsweise bei der biblischen Opferung Isaaks zu - ein Stoff, der mehrfach schon ziemlich früh im deutschen Jesuitentheater dramatisiert wurde. 300 Zum andern kann Donati durch die Ablehnung der »causa iniusta« die Eignung des Medea-Falles für die Tragödie relativieren, den er nach Aristotelischem Muster annehmen müßte: Donati warnt vor dem Aristotelischen Fall des Handelns im Wissen um die Strafbarkeit der Tat, ohne ihn gerade zu verwerfen, zumal einige antike Tragödien nach diesem Muster verfaßt sind; denn zu der Entscheidung des Protagonisten für eine »causa iniusta« merkt er an: »si se mutuo agnoscentes caedem aggrediuntur, ac perficiunt, ut matrem Orestes, Medea filis, nihil fit alienum a Tragoedia.«301 Ohne seine Kritik an den etablierten und von anerkannten Autoren, wie etwa Seneca und Euripides, verfaßten Tragödien offen zu äußern, bekundet Donati mit dieser Skepsis gegenüber dem vorsätzlichen Verbrechen des Protagonisten doch wiederum seine Präferenz für den durch gerechte Motive herausragenden Märtyrer. Einen solchen Märtyrer stellt Donati im dritten Fall vor, wobei jedoch aus einer Täuschung - trotz gerechten Vorsatzes - Ungerechtigkeit resultiere:

Mitleid widersetzt, und er flößt keine Furcht ein, da keiner der Zuschauer im Sinn hat, wider andere Unrecht zu tun.). Ebd., S. 133 (Ü: Wenn sie die Todesstrafe verdienten, wie z. B. Thyestes, hat der Zuschauer weniger Furcht und weniger Mitleid mit den Figuren.). 298 Ebd., S. 131 (Ü: Es paßt in die Tragödie, wer durch einen gerechten Grund zum Handeln getrieben wird.). 299 Ebd. (Ü: Es paßt in die Tragödie, wer durch einen gerechten Grund zum Handeln getrieben wird.). 300 Vgl. mehrere Titel in J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555-1773), etwa in Band I, auf S. 8 (ein Titel im Jahr 1567) und auf S. 34 (zwei Titel im Jahr 1590). Vgl. hierzu J. Bolte, »Die Opfer Isaaks«, in: Märkische Forschungen, 18 (1884), S. 204-207, und F. Reckling, Immolatio Isaac, Münster 1966. 301 A. Donati, Ars Poetica sive Institutionum poeticae libri très, S. 132 (Ü: Wenn beide in gegenseitiger Kenntnis übereinander - zu einem Mord voranschreiten und ihn auch begehen, so wie Orestes an seiner Mutter und Medea an ihren Söhne, so ist nichts wie dieses der Tragödie abträglicher.). 297

187 »Qui errore mentís agunt et causam facti non agnoscunt decepti, putantesque se iusta facere, multo miserabiliores sunt: ut Theseus, Hercules, alii.« 302 Sobald Donati diesen Fall aus der Perspektive der betroffenen Personen beschreibt und griechische Tragödienbeispiele heranzieht, ergibt sich die Ungerechtigkeit aus deren verkannten Identität, die erst nach Vollzug der Tat festgestellt werden kann. Doch erhält in Donatis Auslegung die Identitätsentdeckung lediglich eine überraschungs- und mitleidsteigernde Funktion; denn in fast wörtlicher Übernahme der Erläuterungen von Minturno, Viperano und Robortello führt Donati die Ursache des Irrtums letzlich auf die »imprudentia« des Ödipus zurück, so daß er die Begründung der Ungerechtigkeit wiederum in die Subjektivität des Handelnden projiziert: Si agens necessitudinem ignorat et patrata per imprudentiam caede personam agnoscit, nihil miserabilius, praesertim si ad agnitionem personae facti accedat agnitio; ut nimirum factum teneat, quod ante ignorabat et videat causam caedis iniustam, quam ante iustam putabat. In hoc genere Oedipus est et Hercules furens. 3 0 3

Diese Konstellation überschneidet sich jedoch mit dem zweitbesten Aristotelischen Beispiel für die Wiedererkennung (ávayvrópiOK;) und für die tragischste, überraschendste Relation von Handeln und Erkennen.304 In Umkehrung der Aristotelischen Hierarchie ordnet Donati jedoch den ÖdipusFall über das Aristotelische Musterbeispiel für die Wiedererkennung, nämlich über die Euripideische Iphigenie in Tauris;305 treu seiner griechischen Vorlage folgend, umschreibt Donati die Konstellation, bei der das unglückliche Ende aufgrund einer Wiederkennung vermieden wird: Si se mutuo ignorant et alter alterum necaturus est, superveniente agnitione, cessat actio, nec occiditur occidendus; esset enim caedas plena scelere. Sic Merope mater

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Ebd. (Ü: Diejenigen, die aufgrund einer gedanklichen Täuschung handeln und, nachdem sie die Handlung begangen haben, weiterhin in Täuschung verharren, und glauben, Gerechtes gehandelt zu haben, sind noch bemitleidenswerter, wie etwa Theseus, Hercules und andere.) Ebd. (Ü: Wenn der Handelnde die Notwedigkeit verkennt und [erst] nach dem in Unkenntnis ausgeführtem Mord die Person erkennt, ist nichts bejammernswerter [als dies], zumal wenn zum Erkennen der Person das Erkennen der Untat hinzukommt, so daß er sich ohne Zweifel seiner Untat bewußt ist, von der er vorher nichts wußte, und die Ungerechtigkeit des Mordes einsieht, den er vorher für gerecht hielt. In diese Gattung gehören Ödipus und der Rasende Herkules.). Vgl. A. S. Minturno, De Poeta, S. 181: »Oedipus parentem a se imprudenter interfectum agnovit«; I. A. Viperano, De Poetica libri tres, S. 98: »ut Oedipus imprudenter a se patrem interfectum postea sensit«; F. Robortello, In librum Aristotelis de arte poetica explicationes [...], S. 159: »nam Oedipus patrem Laium imprudens peremit«. Aristoteles, Poetik, 1454a. Ebd.: BeXxiov 8e xö oc/vooüvxa jiev icpa^av, repä^avxa 8e ävayvcDpiaai. xö TE yap oi) (iiapöv npöoeoxiv K a i r\ ävayvibpiaK; EKTIXTIKXIICÖV. Kpccxiaxov 8e xö teXevxaiov, Xeyco 8e oiov EV XÖ Kpeacpovxr) r| Mepo7tT| H E X X E I XÖV uiöv ä i t o K X E i v e i v , ä j i o K X E i v E i 8e oi>, ctXX' ä v E y v d j p i o e , K a i EV XFJ 'IAristotelischen< Bestimmungen durch elaborierte Ableitungsverfahren einführte, übernimmt sein deutscher Ordensbruder Jakob Masen (1606-1681) ohne analoge Bemühungen. In viel größerer Unabhängigkeit von Aristoteles als sein italienischer Gewährsmann entwickelt der rheinländische Poetikund Rhetoriklehrer in der Palaestra Eloquentiae Ligatae Dramatica (1664) 312

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Ebd., S. 237 (Ü: Es handelt sich auch dann um ein Erkennen der Tat, wenn jemand sieht, daß er eine schlechte Tat beging, die er für gut hielt. Wenn das Erkennen fehlt, wie im Atreus, ist die Tat widerlich, grausig und empörend.). Vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555-1773), belegt Aufführungen fiir die Jahre 1749 und 1760.

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seine Dramentheorie.314 Außer den bereits in der antiken Dramengeschichte bekannten vier Dramenarten Tragödie, Komödie, Satyre und Mimus und ihren Unterarten prägt Masen neue Formen, zu denen er eigene Musterdramen schrieb und aufführen ließ.315 Dabei überträgt Masen Beobachtungen und Regeln, die Aristoteles der Tragödie bestimmte, auf alle »species« des Dramas: Die ursprünglich tragischen Momente Peripetie und Pathos nimmt Masen für alle Dramenarten in Anspruch. Vorbehaltlos beruft er sich auf Aristoteles, beispielsweise um Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Drama und Epos zu beschreiben, während sein antiker Gewährsmann jedoch nur auf die Tragödie zielte,316 und er überträgt auf den alle Arten implizierenden Oberbegriff »drama« die spezifisch tragische Katharsis des Aristoteles, die er als »pravorum affectuum purgationem« versteht.317 Masen verzichtet darauf, seine Abweichungen von der Aristotelischen Autorität ausführlich zu rechtfertigen, sondern zitiert teils zustimmend, teils 314

Zitiert wird hier eine spätere Ausgabe: J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica. Pars III et ultima, quae complectitur poesin comicam, tragicam, comicotragicam. Praeceptis et historiis rarioribus cum exemplis singulorum poematum illustrata et auctorio elegantiarum Plauti, Köln 1683 (Universitätsbibliothek Heidelberg: D 8706). 315 Masen rechtfertigt mit dem Argument der Abwechslung die Schaffung neuer Arten in der Vorede »Ad lectorem« zu seinen Dramen, vgl. J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 131 : »Varietatem praeter haec sectatus, Comico-Tragica etiam adhibui, et quod sine multorum exemplis essent, fusius tum deinde ex historiis, parabolis, fabulisque, ut potiores rivulos delibarem«; zu Masens Definition der einzelnen Dramenarten vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554-1680). Salut des âmes et ordre des cités, S. 9. Masens Dramen Comoedia historica Ollaria, Comoedia historica Rusticus imperans, Comoedia fabulosa Bacchi schola eversa, Tragoedia Mauritius orientis imperator, Tragico-comoedia historica Josaphatus, Tragico-comoedia parabolica Androphilus und Comico-tragoedia parabolica Telesbius sind als Anhang abgedruckt auf den S. 130-496 seiner Palaestra eloquentiae ligatae dramatica (1683); zur detaillierten Besprechung der Dramen vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (¡554-1680). Salut des âmes et ordre des cités, S. 811-838 und N. Scheid, Der Jesuit Jakob Masen, ein Schulmann und Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, Köln 1898, S. 41-55. 316 Vgl. J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 1: »jtepuiete [t] a ç ac rerum affectuumque perturbationes«; vgl. Aristoteles, Poetik, 1459ff. 317 Vgl. J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 2: »Hoc poema [= drama] ad delectationem simul ac pravorum affectuum purgationem (ut Aristoteles loquitur) instituendum esse«; zwar ordnet Masen der Komödie eigene Affekte zu (»Affectus spei gaudiique praecipuos urget«, ebd., S. 11), doch tendiert er zu einer übergreifenden moralischen Wirkung aller Dramenarten, wie sich dies aus der Berufung der Aristotelischen Katharsis mitten in seiner Vorrede zu seinen Dramen erhellt, vgl. »Ad lectorem«, ebd., S. 131: »In Comicis aliquanto profusiori esse libuit; haec a plerisque aliis, ea fere ratione, quae ad purgationem affectuum, per ridiculum spectaret (qui finis est ab Aristotele praescriptus) adhibita vix fuerint. Sed aut viciis magis propagandis, quam eliminandis usurpata sint, ut factum a veteribus aut certe a novi s invita propemodum Minerva prodierint.« Zur Inanspruchnahme der Katharsis für alle Dramenarten bei Donati und Masen vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554-1680). Salut des âmes et ordre des cités, S. 366.

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ablehnend Aristoteles und seine Vermittler Donati und Heinsius, um schließlich seine eigenen Standpunkte zu behaupten. 318 So besteht er gleichwohl auf der strengen Differenzierung der Dramenarten aufgrund allerdings anderer, eigens von ihm postulierter Kriterien. Relevant ist für Masen der glückliche bzw. unglückliche Ausgang des Dramas. Masen wendet sich gegen Heinsius und Donati, die im Anschluß an Aristoteles für die Tragödie beiderlei Ausgang zugelassen hätten, da ein gutes Ende »non misericordiam ac metum« errege, sondern eher komödieneigene Affekte. 319 Solche Vermischung der Affekte würde die »dignitas« der Tragödie beeinträchtigen (»quae affectiones illas quanto excellentius concitat, tanto censetur nobilior«). 320 Deshalb schließt sich Masen an Scaligers Vorschrift des unglücklichen Endes an und beruft sich auf die Aristotelische Aussage über den Erfolg der Euripideischen Tragödien aufgrund ihres unglücklichen Ausgangs. Masens Beharren auf dem unglücklichen Ende geht soweit, daß er das von Aristoteles geäußerte Lob der Iphigenie in Tauris relativiert: Masen legt die Aristotelische Bewertung zum einen als bloßes Zugeständnis des antiken Theoretikers aus und streitet deren normative Bedeutung ab; zum andern versucht Masen durch ein weiteres Argument das Aristotelische Urteil zugunsten des unglücklichen Ausgangs zu verwenden, indem er die Euripideische Tragödie neu interpretiert: Die unheilvolle Tat sei bereits im Geiste Iphigenies vollzogen, noch bevor sie Orestes erkannte, und könne als stattgefunden gelten: »Postquam illud tarnen animo destinatum est«.321 Solche am meisten mitleiderregende Konstellation von vollendeter Tat (»patratum«) und anschließendem Wiedererkennen (»agnitio«) begegne allerdings gerade im Sophokleischen Ödipus,322 Masen legt somit die Sophokleische Tragödie als Maßstab zugrunde, nach dem er Euripides bewertet und ihn sogar durch Angleichung rettet. Die Gegenüberstellung von Sophokles und Euripides, die schon Donati andeutete, trägt Masen viel deutlicher aus und schlichtet sie zugunsten des Älteren. Den Sophokleischen Ödipus erhebt dabei Masen zum Prototyp der tragischen Handlungsfuhrung.

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Vgl. J. Masen, Palestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 7; vgl. D. Heinsius, Aristoteles de poetica liber. Daniel Heinsius recensuit, ordini suo restituit, latine vertit, notas addidit. Accedit De tragoedia constitutione, Hildesheim und New York 1976 [NLeiden 1611], S. 113. 319 Ein glückliches Ende behält Masen der Tragikomödie vor, vgl. J. Masen, Palestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 12: »nihil enim perinde hominum animos plenos pénétrât terrore ac commiseratione, quam extremae calamitatis conversio«; zu den Widersprüchen Masens in der Differenzierung der Dramenarten vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554-1680). Salut des âmes et ordre des cités, S. 362. 320 J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 7 (Ü: Je gewaltiger die Tragödie diese Affekte erregt, für um so edler wird sie gehalten.). 321 Ebd., S. 8. 322 vgl. ebd.: »Ita enim hanc ultimam statuisset, quae in Oedipo reperitur, ac cum infelicitate coniuncta, inter ornnes potentissima ad commiserationem ciendam. Quis enim non tangatur, cum ignorantem in extremam, quam vitabat, calamitatem prolapsum videat?«

193 Solch vorbildliche Funktion erfüllt bei Masen der Sophokleische Ödipus auch, um den tragischen Irrtum des Helden zu illustrieren, wie ihn Donati in Verbindung von handlungsstrukturellen Elementen und moralischer Schuld der tragischen Figur erwogen hat. Der Irrtum der Sophokleischen Figur hält bei Masen die Mitte zwischen dem tragödientechnisch erforderlichen Fehler des Helden und der erziehungsmoralisch, hagiographisch erforderlichen Unschuld des Märtyrers. Denn auch Masen betrachtet den Märtyrer als unbestreitbare Figur der Tragödie. Die Aristotelische moralische »mediocritas« des tragischen Helden >korrigiert< er zugunsten des tugendhaften Helden, nämlich des beständigen Märtyrers; durch die Vorführung der »constantia« würden Schrecken und Furcht der Zuschauer gemäßigt, bestehe doch der Zweck der Tragödie primär in eben dieser mäßigenden Läuterung.323 Dementsprechend läßt Masen auch den Verbrecher zu, der als Pendant zum Märtyrer die Figur des Tyrannen rechtfertigt: Die durch seine Bestrafung erregte Angst (»horror« und »metus«) könne durch Abschreckung zur moralischen Belehrung beitragen.324 Die Tugendhaftigkeit des Märtyrers jedoch verlange nach einem maximalen Ausschließen der moralischen Schuld für sein Leiden (»quisque supplicio magis indignus«).325 Deshalb müsse der Grund seines Unglücks ziemlich harmlos sein. Hierzu greift Masen auf Donatis Begriff des Irrtums (»error«) zurück; Masen versteht ihn als ein Vergehen, das zwar kein schweres Verbrechen sei, die individuelle Verantwortung

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Vgl. ebd., S. 5: »Definitur ab Aristotele hoc sensu. Est imitatio actionis illustris ac absoluta: metro, harmonia, ac saltu constans; non enarrando, sed Dramatice per misericordiam et metum inducens similium perturbationum purgationem«. Vgl. auch ebd., S. 7: »Finis tragoediae est, ut misericordiam et metum in spectatore ad mediocritatem expurget. [...] vitiorum ac poenarum metu, miserendique afflictorum consuetudine affectiones inordinata, tanquam virtutum remedio, sanabuntur«. Dieser Wirkung unterliegt auch die Bedingung der Ständeklausel im Sinne der schreckenerregenden Fallhöhe, vgl. ebd., S. 5: »personae illustris atque in omnium aestimatione positae, cujus improvisa infelicitas hominum animos percellat, quod hormlium casus non faciunt«. In die Theorie des Märtyrerdramas fügt sich auch Masens Einbeziehung von Geistlichen in das Tragödienpersonal, vgl. ebd., S. 5: »ab Imperatoribus ad comites usque, Episcopos, Belli Duces ac Reipublicae praesides«. 324 Ebd., S. 6; vgl. ebd., S. 25: »Ubi improbitas Tyrannorum alterius virtum subserventum, aut etiam ad execrationem sceleris ac poenam, propositorum non excluditur; sed ille lenorum sordes ac levitas, aliaque audientium corruptioni idonea«. 325 Vgl. ebd., S. 5: »Quam ejus [= Aristotelis, A. D.] opinionem nonnihil moderandam censeo: nam ut rerum fit, lamentantem fortunam suam majorem eiere terrorem: tarnen vir fortis, indignus suppliciorum (quae gravissima fuerunt Martyrum) non territus etiam terrebit spectantes atrocitate poenae propsita: imo ineussum metum, constantia simul viri inspecta, optime purgabit; ne in simili casu terrore nimio deflectamus. Quo deinde quisque supplicio magis indignus virtute sua est factus, eo ad commiserationem promerendam magis est opportunus«. Vgl. ebd., S. 6: »Quare tantum foede peccantem, qualis Aegistus ac Orestes, Tragoedia minus amat«; die Mörder Ägisth und Orest zitiert Masen als Gegenfiguren zu dem standhaften Senecaischen Herakles, womit er seine Vorliebe für den tugendhaften Helden bekundet; denn auch dort, wo Masen vielleicht den Sophokleischen meinen könnte, übersieht er die Untreue des Helden gegenüber Deianeira.

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jedoch einschließe, wie aus dem Verweis auf seine Tragödie Mauritius orientis imperator hervorgeht: Der bekehrte kappadokische Feldherr begeht den Fehler, gegen den päpstlichen Willen den Klerus in einen gerechten Krieg gegen die Avaren mitzuziehen.326 Doch stimmt Masen seinem Gewährsmann Donati darin zu, daß am meisten ein solcher Fehler geeignet sei, der geradezu unvorsätzlich, und noch mehr, der unwissentlich begangen werde, da er Mitleid errege. Das Modell dieses tragischen Charakters liefert der Sophokleische Ödipus: »Melior tarnen hoc errore ille etiam habetur, qui ab invito; optimus qui ab ignorante commititur: qualis in Oedipo et Anthropo nostro Androphilum ad mortem rapientis«.327 Bei dem Vergleich des Ödipus-»CTTOT« mit der eigenen Tragikomödie Androphilus, die er eine »parabolica« nennt, erhält die Sophokleische Tragödie zum einen eine exemplarische Funktion auch für andere Dramenarten außer der Tragödie, zum andern eine parabelhafte, allegorische: Ödipus erscheint als Prototyp allgemeinmenschlicher Fehl- und Erlösbarkeit.328 Denn in Masens Drama steht die Figur Anthropos, wie die Gräzisierung bereits andeutet, stellvertretend für das menschliche Geschlecht, das aufgrund seiner Verblendung in Sünden abgleitet, schließlich jedoch durch die Selbstopferung des Märtyrers Androphilus gerettet wird. Ganz entsprechend dem Donatischen Präzept lastet hier der >ödipodeische< Irrtum nicht auf dem Märtyrer Androphilus, sondern auf der Gegenfigur. An den Beispielen, die Masen im Unterschied zu seinen Vorgängern aus der eigenen Dramenproduktion und aus der Historie anfuhrt, werden die Grenzen einer Applikation des Ödipus-Irrtums deutlich. Auf den historischen Mauritius-Stoff ist der Ödipus-Irrtum im Sinne einer >unwissentlichen Tat< nur bedingt anwendbar, da der Protagonist eine Reihe von Fehlern be326

Ebd., S. 6: »Potiusque error esse debet, aut delictem leve, aut cum ignorantia, vel excusatione conjunctum, propter quod persona tragica in infelicitatem incurrat, quäle in Mauritio imperatore est, specie religionis defendendae Monachos ad bellum cogentis: nec rudimentis captivos milites ignaviae corrigendae gratia«. Als Beispiel dafür, daß der »error« in der Vorgeschichte liegen kann, zitiert er die Sophokleische Elektra: Klytemnestra, die vor Beginn der Tragödie ihren Mann getötet hat und aufgrund dieses Verbrechens bestraft wird. Vgl. ebd., S. 6: »Porro hic error in Dramate non Semper commititur; sed vel praesupponitur: ut in Clytemnestra apud Sophoclem, ab Oreste occisa, quod Agamemnonem sustulisset«. 327 Ebd., S. 6 (Ü: Dennoch ist deijenige Irrtum besser, der unwillentlich begangen wird; der beste ist deijenige, der von einem Unwissenden begangen wird, wie der Irrtum im Falle des Ödipus, und im Falle unseres Anthropus der Irrtum desjenigen, der den Androphilus in den Tod reißt.). 328 J. Masens Androphilus hat der Nürnberger Sigmund von Birken 1656 ins Deutsche zu einem »Heldenspiel« übertragen, Androfilus; dabei veranlaßte er Aufführungen in Lüneburg, Nürnberg und Leipzig (vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555-1773), S. 837). Sigmund von Birken zitierte seinen Androfilus in seiner Teutsche[n] Rede-bind und Dicht-kunst, Hildesheim und New York 1973, [ N Nümberg 1679], S. 324ff., als ein Schauspiel, das »von der Erschaffung / Abfall und Erlösung des Menschen handelt«.

195 geht, die auf seinen Eigensinn zurückzufuhren sind. Masen behilft sich nicht mit dem Begriff einer akzidentellen »imprudentia«, die bei Donati und seinen italienischen Vorlagen die Absolutheit des verantwortungsentlastenden Irrtums relativiert, sondern er erkennt hier eine Übeltat (»facinus«).329 Absolute Anwendung fmdet das Ödipus-Muster signifikanterweise nur auf eine Parabel: Die Unwissenheit des Ödipus entspricht im Androphilus der Verblendung des Menschengeschlechts nach dem Sündenfall, der Tugend mit Lastern verwechseln läßt. 330 Den tieferen Sinn des griechischen Mythos legt somit Masen wiederum in einem weiteren frei, im christlichen >Mythos< des Sündenfalls. Der Mythos der paradoxen >unschuldigen Schuld< des Ödipus ist mit einer anderen Paradoxie austauschbar, die der Heilsplan und Märtyrertod des Sohnes Gottes an sich ist. Besteht die Schuld von Ödipus in einem außergewöhnlichen Verstoß gegen die natürliche Ordnung, so kann seine Erlösung auch nur im Parabolisch-Allegorischen und durch göttliches Eingreifen Zustandekommen. Die Umgestaltung des griechischen Mythos durch das Motiv der Erlösung bedeutet jedoch nicht das »Mißlingen« einer Applikation des -Irrtums, sondern die Ergänzung des Heidnischen vom Christlichen, dessen Kontinuität zu den klassischen humanistischen Werten des Sophokles es zusätzlich beglaubigt.331 Die Dramatisierung von historischen Stoffen jedoch, die Masen wegen ihrer Realitätsnähe den fiktiven ausdrücklich vorzieht, 332 muß verantwortungsbewußte Handlungen und faktische Lösungen zur Behebung solcher Irrtümer vorschlagen, wie es etwa der zum staatsethischen Fehler des Mauritius umgestaltete Ödipus-lntam sein kann. Dem derart für die moralische Disposition des Dramenpersonals zum Muster erhobenen Irrtum des Ödipus widmet Masen ein ausführliches Kapitel, da auf ihn die dramatisch spannungsvolle Wiedererkennung beruht. Wird sie ursprünglich von Aristoteles der Tragödie zugeordnet, so versucht Masen die Wiedererkennung für alle Dramenarten nutzbar zu machen. Entsprechend den Aristotelischen Vorgaben bekräftigt auch er, daß aus der Verknüpfung von Peripetie, Pathos und Wiedererkennung der beste Handlungs-

329

Vgl. J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 260; vgl. auch ebd., S. 6: »delictum leve«; vgl. die ausführliche Besprechung der »imprudentia« des Ödipus bei D. Heinsius, Aristoteles de poetica liber, S. 99. 330 VgL J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 382: »sed evenit misero, quod magnae fortunae proximum est, in magnam ut abiret caecus vitae licentiam«. 331 Anstatt eine »failure« in der abwandelnden Rezeption eines Motivs zu sehen, wie T. W. Best, »On psychology and Allegory in Jacob Masen's >Rusticus imperansars rhetorica< im Zeitalter der Glaubenskämpfe, 326ff. 342 J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 58—78fT. 343 Ebd., S. 82. 344 Ebd. (Ü: Wenn also dennoch der Urheber unwissend und unwillentlich, und weil er nach dem Gegenteil trachtet, da er den Irrtum befürchtet, ihn dennoch begeht; gewiß, niemand begünstigt die Strafen, die er befürchtet; er wird sich sehr wundern und der

199 Masens besondere Anerkennung der Ödipus-Handlung beruht auf der absoluten Eliminierung der moralischen Schuld und der intellektuellen Beschränktheit als Begründung für das Unglück des Sophokleischen Helden; als Kontrastmodell fuhrt Masen das Beispiel des persischen Ministers Amanus (6. Jhdt. v. Chr.) an, der bei seinen Bemühungen, die Juden auszurotten, zum Opfer seiner eigenen Intrigen wurde. Solche Wertschätzung der Sophokleischen Vorlage hindert Masen nicht daran, bei seinen weiteren Beispielen aus der alten und neuen Geschichte als Stoffe für verwickelte Handlungen Abweichungen zuzulassen. Als Grundmuster für Tragödienund Komödienhandlungen bewahrt Masen vom Ödipus-Modell das Motiv der Wendung des Vergehens gegen seinen Anstifter (»in autores suos error redeat«). 345 Dabei liegen die Begründungen des Vergehens bei den herangezogenen Beispielen in der Unklugheit des Handelnden (z. B. die Etablierung des Manicheismus in Persien trotz seiner Verfolgung 346 ) oder in ungerechten Absichten (z. B. der Rachetod des Perserkönigs Hormisdas von seinem Feldherren Baram im 6. Jhdt., 347 die Bestrafung des makedonischen Usurpators Perseus 348 ). Fast wörtlich wird Albrecht Christian Rotth (1651-1701) Masens Ausführungen zu den dramatischen »Irthümern« sowie die Wertschätzung des Ödipus in der Dramentheorie seiner Vollständigen deutschen Poesie (1688) übernehmen, die als eine der elaboriertesten wirkungsbezogenen deutschsprachigen Poetiken des 17. Jahrhunderts zu gelten hat. 349 Mit der Konzentration auf die rezeptionsästhetische Wirkung des Bühnengeschehens bei Masen deutet sich eine dramenpoetische Umorientierung an. Dominierten im Humanismus Kategorien der Rhetorik sowohl in der Aufgabenbestimmung der Tragödienpoetik als auch in der formalen und inhaltlichen Gestaltung des Dramas, so wird hier die Relation von Rhetorik und Dramaturgie verschoben: Zwar noch weit davon entfernt, sich von den Zielsetzungen der Rhetorik zu befreien, wird die dramatische Handlung bei Masen zu einer eigenständigen Kategorie, die nicht länger nur als Realisationsmedium für schematische Moralsentenzen dient, wie etwa noch bei Scaliger. Von solcher Auffassung der Tragödie als bloßer Rezitation wendet sich Masen programmatisch ab. So schreibt er in der Vorrede zu seinen eigenen Dramen:

Erkenntnis des Irrtiims sich hingeben. Wie es bei Ödipus geschieht, der, indem er am heftigsten den Vatermord abzuwenden versucht, gegen seinen Willen durch Unwissenheit auf diesen verfällt.). 345 Ebd. 346 Ebd., S. 83. 347 Ebd. 348 Ebd., S. 85. 349 A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie in drey Theilen [...], Leipzig 1688 (Universitätsbibliothek Heidelberg: von Waldberg 3150), S. 253-255.

200 Sed lege aliquantulum a nonnullis aliis scriptoribus diversa, quos longa saepe dissertatione, velut oratores ad concionem, accedere audias, ut Rhetoris magis facundi partes, quam tragici actoris suscepisse v i d e a n t u r . 3 5 0

Seine Vorrede fortsetzend, plädiert Masen für eine dynamische Dramaturgie, in der sich Rede und Handlung gegenseitig steigern: Ego vero existimo, in scena agendum magis, quam disserendum esse; nisi alicubi vehementiori affectui plusculum indulgeas, aut anxiae consultationi immoreris. Oculis enim hic potissimum non auribus tantum inserviendum est. Stylo tarnen ita moderandum erit, ut solo aurìum judicio discerni verborum sententia, citra laboriosam suspensi animi investigationem possit; secus, quam ab aliis quibusdam tragoediographis factum, qui oculis magis lectorum, quam spectatorum auribus opportuni, tragoedias tantum ut legerentur, dedisse usi sunt. Mihi illud praecipue hac insumendum duxi, ut nec abstrusa magnoque investiganda studio loquerer, nec rursum protrita elocutione prorsus vilescerem: auditori non lectori soli innotescere volui. 351 .

Paralleli zu einer Neubestimmimg der Stilideale für die Beredsamkeit definiert sich auch ein neuer Geschmack für das Drama. Der epigrammatische, wirkungsorientierte Stil entspricht den Überraschungseffekten sinnlicher Art auf der Bühne, die jedoch in der dramatischen Handlung verankert sind. Die humanistisch beglaubigte Tragödie von Sophokles lieferte hierzu ein variationsfähiges Modell.

550 Vorrede »Ad lectorem« im Tyrocinium Poeticum, beigebunden an J. Masen, Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, S. 131 (Ü: Aber in ihrem Prinzip ist diese Tragödie von manch anderen Autoren verschieden, die du häufig in langen Ausführungen wie Redner in der Versammlung auftreten hörst, so daß sie den Anschein erwecken, mehr das Amt eines geschickten Redners als eines tragischen Autors übernommen zu haben.). 351 Ebd. (U: Ich aber glaube, daß auf der Bühne mehr gehandelt als erörtert werden soll. Außer du gibst gelegentlich einem heftigen Affekt nach oder verweilst bei einer vorsichtigen Beratung. Denn es soll am meisten auf die Augen und nicht auf die Ohren gewirkt werden. Dennoch soll der Stil so gemäßigt werden, daß der Sinn nur durch das Urteil der Ohren erkannt werden kann, ohne den Geist in eine mühsame Erforschung einzuspannen; anders als von anderen Tragödienautoren praktiziert worden ist, die, mehr den Augen der Leser als den Ohren der Zuschauer bequem sind, Tragödien zu deren Lektüre zu veröffentlichen pflegten. Ich meine, mich dazu insbesondere verwenden zu müssen, daß ich weder Unsinniges und nur durch große Sorgfalt zu Erforschendes berede noch durch eine unterbewertete Beredsamkeit an Wert verliere: Dem Hörer und nicht nur dem Leser wollte ich bekannt werden.).

4.

Bearbeitung Sophokleischer Stoffe im nachreformatorischen Humanismus

4.1.

Ödipus als mythologischer Stoff

4.1.1.

Deutungsmuster der Ödipus-Figur in der frühen Neuzeit

4.1.1.1. Proverbialisierung unter Erasmischem Einfluß (Sebastian Franck, Rudolf Agricola) Der vorreformatorische Humanismus hatte die Rezeption Sophokleischer Sentenzen eingeleitet, die im protestantischen Humanismus Melanchthon und Camerarius durch ihre philologischen Arbeiten intensivierten. Die Hochschätzung des Tragikers belegen Sophokles-Zitate in Briefen und Reden, sowie in Sprichwörter-, Sentenzensammlungen, mythologischen Handbüchern und Florilegien, die zur allgemeinen Bildung und insbesondere zur rhetorischen Ausbildung und moralischen Erziehung der Jugend zusammengestellt wurden. Dabei waren die Adagia von Erasmus das entscheidende Vorbild, i Das Werk des Rostocker Gräzisten Johannes Posselius (1565-1639), Calligraphia oratorio linguae graecae, Rostock 1590 (Bibliothèque nationale de Luxembourg: 405-4), bietet unter alphabetisch geordneten Hauptschlagwörtern einschlägige Zitate aus 90 griechischen antiken, spätantiken und byzantinischen Autoren, darunter auch Sophokles; unter dem Lemma »Benefacere [...] et contra« führt er an: »NF| 8pâv TOÙÇ TE8VT|K6TOÎÇ KÇ, Ne vim inferas mortuis, Ne male facias mortuis« (Aias, v. 1154), hier S. 189. - Das Kompendium des Elsäßer Gräzisten Joseph Langius (gest. 1610), Loci Communes sive Florilegium rerum et materiarum selectarum praecipue Sententiarum, Apophtegmatum, Similitudinum, Exemplorum, Hieroglyphicorum: Ex sacris literis. Patribus item, aliisque linguam Graecae et latinae Scriptoribus probatis collectum, studio et opera Josephi Langi Caesaromontani, Additus est Index Fabularum, Emblematum ac Symbolorum, Cum nova gratia et privilegio. S. Caesar. Majest. ad annos octo, Straßburg 1613, zuerst 1596 (Universitätsbibliothek Heidelberg: D 8725) liefert zu den verschiedenen alphabetisch geordneten Hauptschlagwörtern griechische und lateinische Zitate oder Paraphrasierungen nach folgenden 9 Gattungen: »Sententiae biblicae, Sententiae patrum orthodoxorum, Flores poetarum, Gnomae philosophorum et oratorum, Apophtegmata, Similitudines, Exempla sacra seu biblica, Exempla profana, Hieroglyphica seu emblemata« (S. 1 0 ) ; unter »mulier« ywauci JTÂAI KÔOJKJV FJ ciyi] (pépei Aias, v. 293, S. 415; unter »homus« ÈJIEI xpôvoç Sivatov âvSpa Seilet (îôvoç Ödipus, v. 614, S. 573; unter »veritas« ta>.r|6fj Aiyeiv, Philoktet, v. 1236 und Xéyeiç ctXrtGfj Ödipus, v. 1141, S. 592; unter »Adulterium« erinnert er als »exemplum profanum« an Clytemnestra und Aegisth und verweist auf Euripides' und Sophokles'

202 Die geistige Nähe des seinerzeit umstrittenen evangelischen Predigers Sebastian Franck (1499-1541) zu Erasmus ist durch seine Übersetzung des Lobs der Thorhait (spätestens 1537) belegt, geht aber auch aus seiner Bibelauslegung und der >erasmischen< Methode in seinen theologischen Schriften hervor.2 Nicht zuletzt bezeugen die zwei Teile seiner Sprichwörter (1541) den Einfluß des Rotterdamers auf die Antike-Rezeption der deutschsprachigen Gelehrtenschicht: Die Sprichwörter haben als Sammlung von griechischen und lateinischen Sprichwörtern mit deutschen Entsprechungen unverkennbar die Adagia zum Vorbild. Der Westfale Eberhard Tappe (ca. 15001550) hatte hierzu Vorarbeiten geleistet; drei Jahre nach Erscheinen der Adagia-Ausgabe letzter Hand (1536) veröffentlichte Tappe in Köln die Adagiorum Epitome (1539), eine auf etwa dreitausend adagia gekürzte Fassung der Erasmischen Vorlage. Ihre Gliederung nach alphabetisch geordneten Hauptstichwörtern machte sie zu einem praktischen Handbuch und Nachschlagewerk.3 Hierin wird Sophokles als Quelle von acht adagia namentlich Elektro. - Der niederländische Philologe und Bibliothekar der Palatina in Heidelberg Janus Gruter (1560-1627), Florilegium Ethico-Politicum nunquam antehac editum; nec non P. Syri ac L. Senecae Sententiae aureae, recognoscente J. Grutero. Accedunt Gnomae Paroemiaeque Graecorum, item Proverbia Germanica, Belgica, Italica, Gallica, Hispanica, Frankfurt am Main 1610 (Universitätsbibliothek Heidelberg: D 8604) widmet etwa hundert Seiten den »Gnomae Paroemiaeque Graecorum ex diversis auctoribus Graecis (lovocmxoi«, S. 191-295; unter den etwa 1400 alphabetisch geordneten griechischen Sentenzen mit ihren lateinischen Übersetzungen finden sich etwa 30 Sophokles-Verse ohne Angabe des Autors, die in Erasmus' Adagia bereits zitiert worden sind: z. B. Zeile 221, 313 und 325 aus der Antigone, 406 aus dem Ödipus Tyrannus, 581, 700, 791 und 905 Aias, 1091 und 1381 Antigone, 1515, 1521, 1527, 1661 und 1951 Aias, 2063, 2103, 2285 und 2325 Antigone, 2673 Aias, 2702 Ödipus Tyrannus, 2753 Ödipus Coloneus. - Der Pfälzer Philologe Daniel Pareus (16051635), Mellificium Atticum, in quo flosculi ex omnium poetarum graecorum, quotquot extant, viridissimis pratis decerptis, in locos communes ordine distribuntur. Opus non tantum philologiae et poesiae graecae: sed et caetreum diciplinarum: ac cum primis elegantiae Atticae studiosis perutilissimus, Frankfurt am Main 1627 (Universitätsbibliothek Heidelberg: T 964), bezieht seine Zitate aus 160 griechischen Dichtern; eine Stichprobe der ersten 142 Seiten, die den etwa 65 Hauptschlagwörtem mit Anfangsbuchstaben A gewidmet sind, ergab, daß die meisten Sophokles-Zitate der Antigone (über 30), dem Ajax (über 30), der Elektro (über 30) und den beiden Ödipus-Dramen (über 20) entnommen sind, während die Trachinierinnen (6) und der Philoktet (7) spärlich repräsentiert sind, eine Reihenfolge, die bereits bei Erasmus festzustellen war. - Christopherus Hegendorph (1500-1540) verfaßte in Anlehnung an Erasmus eine Methodus Conscribendis Epistolas, Basel 1549 (Bibliothèque nationale de Luxembourg: 9-0-3), in deren Vorrede er seinen Schüler auffordert, die Schwierigkeiten der griechisch-lateinischen Studien in Kauf zu nehmen und auf ihren »honor« auszublicken; die Bestätigung dieser Belohnung verbürgt der Autor mit einem SophoklesVers aus Ödipus Coloneus (v. 614) TOÎÇ 8' èv vcrcépct) XP°vtP t à tepjivà nucpà yivexai, Kai aîQiç ippoveiv y a p HT)5EV f|5iaxoErasmischem< Einfluß wird Ödipus' Unglück allerdings vorerst mit Sympathie und Anteilnahme beschrieben und erläutert: Johannes Agrícola (1492-1566), evangelischer Theologieprofessor aus Eisleben (Sachsen),48 beruft sich in der Vorrede seiner Sybenhundert und fiinffzig Teutscher Sprichwörter (1534, zuerst 1529) auf die Adagia des Erasmus als Vorbild für Sprichwörtersammlungen, die aus literarischen Zitaten bestehen; dabei beklagt er jedoch den Mangel derartiger Sprichwörter in der deutschsprachigen literarischen Tradition. Von Autoren wie Sebastian Brant oder den Erzählungen über Eulenspiegel »sei keine hilfe Sprichwörter zu holen«,49 diese schöpfe er aus der mündlichen Überlieferung. Die große Bedeutung der sprichwörtlichen Form sieht er in ihrem praktischen Nutzen. Unter Berufung auf politisch engagierte Epigrammatiker, wie Erasmus, Hutten oder Agrippa, betont er ihre politisch-moralische Funktion: Die sprichwörtlich konzise Wahrheit habe dazu beigetragen, an den Höfen »nicht wenig schaden und unraths« abzuwenden.50 Agrícolas Widersacher, Ludwig von Passavant,51 erkannte dessen Kunstfertigkeit, zu den deutschen Sprichwörtern vorbildliche Auslegungen verfaßt zu haben; da Agrícola sich dabei auf keine entsprechenden deutschsprachigen Vorarbeiten stützen konnte, ordnet ihn Passavant sogar über Erasmus: »Das auch solichen sein fleiß / D. Erasmum von Rotterdam in dergleichen Mühe fürtreffen«. 52 Zwar kritisiert Passavant Agrícolas blasphemischen Gebrauch von Gottesnamen und Bibelzitaten, seine unmoralischen Beispiele und die Vermischung von Dichtung und Wahrheit in seinen Auslegungen, jedoch gesteht er ihm zu, daß seine Sprichwörter »die gantzen Tütschen Sprache« abdecken, und insbesondere die Gesetze, die großen Taten und Tugenden der Deutschen würdigen. Das nationale Selbstbewußtsein ist ein wesentlicher Grundzug in den verschiedenen Vorreden seiner mehrfach herausgegebenen Sammlung.53

48

Ch. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten=Lexicon, 4 Bände und 6 Ergänzungsbände, Hildesheim 1960 [ N 1750ff.], Band I, S. 150. 49 J. Agricola, Die Sprichwörter Sammlungen, hg. von S. L. Gilman, Berlin und New York 1971, Band I, S. 4. 50 J. Agricola, »Vorrede zur Sammlung von 1548«, ebd., Band II, 8. 51 Ludwig von Passavant, treuer Anhänger des Herzogs Ulrich von Württemberg, den der mutige Theologe schon in der frühen Sammlung (1534) als Tyrannen charakterisiert hat und mit dem er schließlich in Streit geriet, verfaßte eine Anklageschrift, in der er heftig gegen den Gegner seines Herzogs polemisierte; vgl. J. Agricola, Die Sprichwörter Sammlungen, Band I, S. 279-301. 52 Ebd., Band II, S. 281. 53 Ebd., Band I, S. 3-6; II, S. 304; II, S. 312f.; zu den verschiedenen Editionen vgl. das Nachwort des Herausgebers, ebd., Band II, S. 319-376.

217 Die Auslegungen, die Agricola zu jedem Sprichwort verfaßt hat, sind nicht einheitlich aufgebaut. Manchmal glossiert er als Marginalien die lateinischen, griechischen oder biblischen Parallelen; Agricola hat sie wahrscheinlich entweder Erasmus (1500), Bebel (1508), Tappe (1545) oder direkt lateinischen Quellen wie Plautus, Vergil, Ovid, Seneca entnommen. Deutsche sinnverwandte Redewendungen oder Paraphrasierungen oder etymologische und semantische Erklärungen der einzelnen Wörter und Begriffe erläutern die Sprichwörter. In dem Hauptteil der Auslegung erinnert er an exempla aus der deutschen Geschichte und den Werken deutscher Dichter des Spätmittelalters, aus der Bibel, aber auch aus der antiken Geschichte und Mythologie: Mit diesen exempla wird die Gültigkeit des Sprichworts verbürgt. Die Auslegung schließt entweder mit einer Schlußfolgerung aus der erzählten »Geschichte« und dem »Märlein«,54 oder mit einem Lehrsatz, der die Bedeutung des Sprichworts zu einer religiös-moralischen oder politischen Aufforderung paraphrasiert. Da Agricola das nationale Selbstbewußtsein und den reformatorischen Glauben zu seinem Anliegen macht, beruft er sich hauptsächlich auf deutsche Quellen. Doch als vorbildlich bewundert er in seiner einleitenden Erklärung »Worzu die Sprichwörter dienen« (1534)55 das Vermögen der Griechen, Tugend und Recht in kurze und schlichte Worte zu fassen und dadurch auf detaillierte Gesetzgebung zu verzichten; neben Homer, Piaton und Aristoteles als meist zitierten griechischen Autoren, dienen ihm auch die Tragiker als Quellen für mythologische exempla. Die Taten von Agamemnon, Ajax und Orestes erwähnt er oft, wobei er allerdings wahrscheinlich auf die Ilias rekurriert, auch wenn er Homer nicht immer erwähnt. Die Geschichte vom Unglück des König Ödipus erzählt Agricola, um ein Sprichwort in der dritten Sammlung (1548) zu erläutern: »Der Hund waißt seins Herren willen wol« (Nr. 153).56 Zunächst umschreibt Agricola die Bedeutung des Sprichwortes: »Es ist der Herr wie der Knecht / und der Knecht wie der Herre«.57 Damit wird die chiastische Verschränkung von Herrschern und Untertanen, Vorgesetzten und Untergeordneten in Gesinnung und Verhalten zum Ausdruck gebracht. Diese illustriert er an Kreons Verhalten gegenüber Ödipus sowie an dem Verhalten des übrigen Personals am Thebanischen Hof, wie es Euripides darstelle: Euripides schreibet vom Oedipo / der etwan ein sehr weiser / mechtiger / glückseliger Küttig seiner Zeit / und sich das glücke nun also wendet / das er von seinem Aydem / Creonte / des Königreichs entsetzt / und des Landes verweiset wird / das er gesagt habe / Drey thun im den Schaden / Ajax die alte Schuld rechen / und doch freunde gewesen seind / und Populus der gemaine böfel. 5 8

54 55 56 57 58

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

Band I, S. 372. S. 4ff. Band II, S. 97. S. 97. S. 97f.

218 In die Beschreibung des Mythos flicht Agricola Motive ein, die in dieser Kombination weder bei Sophokles noch bei Euripides, den er als Quelle angibt, zu finden sind. Die einzige erhaltene Euripideische Tragödie, in der der schicksalsgetroffene Ödipus zu Wort kommt, nämlich die Phoinissai, stellt den Selbstgeblendeten im letzten Episodion vor; hier erfahrt Ödipus die Nachricht von der gegenseitigen Tötung seiner Kinder, von dem Tod seiner Frau und von Kreons Beschluß, ihn auszuweisen. Doch an keiner Stelle erscheint die dreifache Klage über jugendlichen Eigensinn, über die Untreue von Freunden und über das unmündige Volk, die Agricola als Zitate präsentiert. In den Phoinissai bejammert Ödipus lediglich sein Exil, das für ihn soviel wie den Tod bedeute, 59 ohne Kreon jedoch anzuklagen. Eben diese Beschwerden aber lassen sich einzeln in den zwei Sophokleischen ÖdipusTragödien nachweisen. Agricolas willkürliche Kontamination des Troja-Helden Ajax und des thebanischen Mythenzyklus mag schlicht ein Fehler sein; diese Veränderung kann jedoch auch als Antonomasie für Ödipus' junge herrschsüchtige und ehrgeizige Söhne Eteokles und Polynikes verstanden werden, wie Agricolas Erläuterung nahelegt: »Ajax ist zu Hofe der erste / der die sache / allein oder selbander am hefftigsten treibet / und nicht / nachlaßt / mit anderer räthe hülff und beystand / biß er in hab zu Boden getrucket.«60 Im vierten Episodion des Ödipus Coloneus erscheint Polynikes, um die Hilfe seines Vaters gegen den unrechtmäßig herrschenden Eteokles zu erbitten.61 Daraufhin entrüstet sich Ödipus, womit die erste Klage gemeint sein könnte. Die zweite Klage umschreibt Agricola mit einem weiteren deutschen Sprichwort: »Alle Freunde / die im Unglück / wanns aim übel geht / alle alte schuld herführher suchen und wollen sy an im rechen und ire Scharten an ihm außwetzen / wie du lesen magst / im wort / Den todten Löwen raufft mancher beym Bart / der in / wann er lebete / nicht getörste ansehen.«62 Im Ödipus Coloneus beschwert sich Ödipus über die Unbeständigkeit Kreons; 63 als er ihn bat, das Land zu verlassen, wurde ihm dies nicht gewährt, als er bleiben wollte, wurde er vertrieben und mit alten Schulden belastet, obwohl er unschuldig war; dabei habe er an die Verwandtschaft und Freundschaft nicht gedacht. Diesen Vorwurf der unbeständigen Freundschaft hat Ödipus seinem Widersacher Kreon bereits im Ödipus Tyrannus gemacht.64 Die dritte Beschwerde in Agricolas Sprichworterläuterung gilt dem »Böfel / wann der sihet / das der unfal da ist / so tritt man in vollem zu boden.«65 Im Ödipus Coloneus wendet

59

60 61 62 63 64 65

Euripides, Phoinissai, v. 1621; vgl. Seneca, Phoenissae, v. 215, worin zum Ausdruck kommt, daß das Volk den Ödipus auf seinen Wunsch verlassen hat. J. Agricola, Die Sprichwörter Sammlungen, Band II, S. 98. Sophokles, Ödipus Coloneus, v. 1134ff. J. Agricola, Die Sprichwörter Sammlungen, Band II, S. 98. Sophokles, Ödipus Coloneus, v. 765. Vgl. Seneca, Oedipus, v. 668ff. J. Agricola, Die Sprichwörter Sammlungen, Band II, S. 98.

219

sich der exilierte König auch gegen die Bürger der Polis, die sich alter Schulden erinnerten und ihn durch Zwang vertrieben.66 Die Vereinfachung der Episoden wird hier zum Zwecke ihrer leichteren Verständlichkeit unternommen. Sophokleische oder Euripideische Texte kann Agrícola nicht unmittelbar eingesehen haben - die Vertauschungen lassen auf indirekte Quellen schließen, nämlich auf die Benutzung anderer Sammlungen und Wörterbücher, oder auf die Zitierung aus der Erinnerung: In den Adagia berichtet Erasmus unter dem Sprichwort »Oedipi imprecatio« von dem Unglück des tragischen Helden, seiner Empörung über das thebanische Volk und der Verfluchung seiner Söhne; das von den antiken Paroemiographen ohne genaue Quellenangaben übernommene adagium OiSircoSoi; apá belegt jedoch Erasmus mit den einschlägigen Zitaten aus den zwei Sophokles-Tragödien und mit einem Hinweis auf Eurípides.67 Doch Agrícolas Hauptinteresse gilt nicht der Genauigkeit, geschweige denn der philologischen Verpflichtung. Vielmehr zeichnet sich hier der Wille ab, eine exemplarische Konfiguration in die deutsche Kultur einzuflechten, die, frei von mythisch-literarischen Besonderheiten, nachvollziehbar und verallgemeinbar ist. Dieser pädagogisch-moralischen Absicht wird philologische Treue untergeordnet. An Ödipus wird eine menschliche Grundsituation verallgemeinert, die an das Hiob-Schicksal erinnert.

4.1.1.4. Handbücher des protestantischen Späthumanismus (Reiner Reineccius, Georg Fabricius, Michael Neander) Ödipus wird nun nicht mehr bewundert, er ist die elende und bedauernswerte Katastrophenfigur. Der Melanchthon-Schüler Reiner Reineccius (1541— 1595), Geschichtsprofessor in Frankfurt an der Oder und späterer Historiograph im Dienst von Julius Emst von Braunschweig und Lüneburg, verfaßte unter seinen mehrfachen Genealogie- und Dynastiegeschichten auch eine Historia Familiae regum Thebanorum (1572); hier geht er der Geschichte des thebanischen Labdakidengeschlechts nach. Zwar verweist er in seinem Ödipus-Kapitel fast erschöpfend auf die hellenistischen und spätantiken Quellen des Mythos und vermerkt sogar Divergenzen, doch läßt er das 66 67

Sophokles, Ödipus Coloneus, v. 433ff. Vgl. adagium Nr. 661, LB 285: »Alii narrant Oedipum, simul atque cognovisset, se parricidam esse, tum autem cum matre consuetudinem habuisse, suis ipsius manibus oculos sibi eruisse. Quae res ubi eius loci incolis cognita est, Oedipum expulerunt urbe. Ille in exsilium abiens, filios quod patrem in calamitate non defenderent, exsecrationibus devovit. [...] Sophocles in Tyranno fingit Oedipum ignarum etiamnum de quo Phoebus dixisset exigendo, tamquam qui civitatem suis sceleribus pollueret, multa dirae in eum, h. e. in se precantem. Euripides in Phoenissis: 'Apen; otpäxai itaiaiv avoCTvcDTaxai^, i. e. Dirissimas preces precatur libens. Verba Iocastae de Oedipo. Idem in Oedipo Coloneo Oedipum imprecantem facit Polynici ut fraterna manu ocideretur vicissimque occideret« Es folgen auf griechisch die sieben SophoklesVerse aus Ödipus Coloneus, v. 1384-1490. Vgl. Zenobius, V, 43; Macarius, VI, 24.

220 des Mythos und vermerkt sogar Divergenzen, doch läßt er das Motiv der Rätsellösung völlig aus.68 In der Darlegung der abenteuerlichen Vita des ausgesetzten Laius-Sohnes schildert er seine Aufnahme am korinthischen Hof, sein Heranwachsen und das Erblühen seiner leiblichen Stärke (»robore corporis atque firmitate, qua in certaminibus praestabat«), die Erkundung des Delphischen Orakels und dessen leidvolle Erfüllung, verschweigt aber dabei die Rätsellösung; Reineccius beschränkt sich darauf, lediglich die Bezwingung der Sphinx und die damit verbundene Befreiung der Thebaner von dieser Plage in einem kurzen Partizipialsatz zu erwähnen (»liberatis a Sphingis saevitia Thebanis«). Das Verschweigen des Rätsels ist auffallend, da die von Reineccius bibliographierten Quellen dieses Motiv nicht nur erwähnen, sondern manche sogar ihm längere Passagen widmen.69 Weniger lakonisch behandelt er den Vatermord, den er als »facinus impudens« bezeichnet und den Inzest, den er jedoch der antiken Version getreu mit dem Entlastungsargument der nicht vorsätzlichen Tat (»inscius«) neutralisiert. Nichtsdestoweniger werden Ödipus' Taten als »inauditia scelera flagitia sua« bewertet, auf deren Enthüllung die Selbstblendung und seine Vertreibung zur Entsühnung der Stadt erfolgten. Reineccius unternimmt somit eine Gewichtung der Fabelepisoden, die dadurch zum Grundmuster eines Lebenslaufs zusammengefügt werden: Der starke und tapfere junge Prinz begeht einen Mord, befreit das Land von einem Unheil und gewinnt dafür die Königin zur Frau; doch weiß er nicht, daß alle diese Heldentaten eine Kehrseite haben, nämlich sündhafte Vergehen sind (Vatermord wiegt noch schwerer als jeglicher anderer Mord), wie ihm der Priester Tiresias offenbart. Sich selbst bestrafend und von der Stadt verurteilt, endet er in Elend und Unglück. Intellektuelle Fähigkeiten des Ödipus werden nirgends erörtert, sein Werdegang scheint sich ausschließlich auf physische Leistungen zu stützen. Hiermit jedoch kann sein Abstieg leichter gerechtfertigt werden: In der Abkehr vom Individuum, das hier, um seine intellektuellen Fähigkeiten ohnehin verkürzt, fast nur als Körperlichkeit erscheint, wird gezeigt, daß der Mensch in größere Zusammenhänge eingebunden ist, die er weder durch seine Physis noch als Individuum zu durchdringen vermag. Lediglich der Priester Tiresias kann diese Zusammenhänge offenbaren. Die humanistische Sympathie für das Unglück des Ödipus ist zu einer moralischen Bewertung seiner Taten erweitert und im Sinne der Heilsgeschichte interpretiert.

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R. Reineccius, Familiae Regum Thebanorum, Leipzig 1572 (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg: Hist. 168=ag), S. 34: »Pindarus, Herodotus, Euripides, Diodonis, Apollodorus lib. 3, Arrianus, Statius. Pausanias in Boeoticis, Suidas OiSinouq, Palaephatus. variat Hyginus, fab. 67«. Vgl. J. H. Zedier, Grosses vollständiges Universallexikon, Graz 196Iff. [NHalle und Leipzig 1732ff.], hier Band 31, S. 272-274, zählt etwa 35 biographische und historiographische Werke zu griechischen, römischen, slavischen und mitteleuropäischen Genealogiegeschichten auf. Das populäre Sprichwort »Davos sum, non Oedipus« zitiert Reineccius bezeichnenderweise in einem Anmerkungsapparat, ohne es weiter zu erläutern.

221 Zusätzlich beeinflußt von der Senecaischen Gestaltung des Mythos, in welcher der thebanische Held als Schicksalsfigur für seine Verbrechen und für seine Auflehnung gegen das »fatum« bestraft wird, findet Ödipus in Schulbüchern des protestantischen Späthumanismus Eingang. So wurde 1568 einer Baseler Ausgabe von Georg Sabinus' (1508-1560) PoetikLehrbuch De carminibus ad veterum imitationem artificiose praecepta bona (zuerst 1551) die Sammlung Epithetorum opus absolutissimum (zuerst 1510) des Frühhumanisten Jean Tixier de Ravisi (ca. 1480-1524) vorangestellt.70 Der französische Rhetorik-Professor am Pariser Collège de Navarre und ab 1520 Rektor der Universität Paris beschränkte sich in seiner EpithetaSammlung auf römische Charakterisierungen, als er Ödipus ein eigenes Lemma widmete.71 Sein alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk enthält Sachwörter und für die Poetik wichtige Mythologie- und Dichternamen; die Artikel zu den einzelnenen Lemmata liefern eigens verfaßte Begriffserläuterungen, um anschließend in die Anführung von Belegen bei Autoren der Antike, Spätantike und der neulateinischen Renaisssance überzugehen. Ödipus figuriert hier mit dem Epitheton »Miser« aus Statius' (40-96 n. Chr.) Epos Thebais (v. 53) und mit Epitheta aus Senecas Oedipus (»Parricida« v. 1004, v. 1046; »Orbus luminis« v. 998; »Impius« v. 733) sowie aus dessen Phoenmae-Fragment (»Caecus« v. 1; »Infaustus« v. 3). 72 Die römische Vermittlung der Mythologie dominiert in diesem Werk, denn zu keiner der Figuren, denen Sophokles seine Aufinerksamkeit durch das Verfassen ganzer Tragödien widmete, zitiert der französische Kompilator den griechischen Tragiker: Zu »Ajax Telamonis« führt er Vergil, Politian, Mantuanus und Ovid an, 73 zu »Antigona« Ovid 74 und zu »Philotetes« Seneca und Ovid. 75 Für solche Zurückhaltung gegenüber dem griechischen Text sind wohl Sprachbarrieren anzunehmen. Denn die Autorität von Sophokles postuliert der Verfasser gleichwohl, figuriert er doch in seinem Register der auser-

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J. Ravisius, Epithetorum opus absolutissimum. Iam denuo post ipsius autoris recognitionem, et doctissimorum poetarum philosophorumque emendationes, ab innumeris mendis repurgatum, opera Valentini Cherleri Elesterburgensis. Accesserunt De carminibus ad veterum imitationem artificiose componendis praecepta bona, et utilia, collecta a Georgio Sabino, Basel 1568 (Universitätsbibliothek Heidelberg: Reservata 67 B 2927). Zu G. Sabinus vgl. W. Killy (Hg.), Literaturlexikon, Band 10, S. 88f. J. Ravisius, Epithetorum opus absolutissimum, S. 606. Zu Jean Tixier de Ravisi, latinisiert J. Textor Ravisius, vgl. J. H. Zedier, Grosses vollständiges Universallexikon, Band 30, S. 1111, worin auch mehrere Ausgaben seiner Epitheta-Sammlung angeführt werden (Basel 1540 und 1594); eine ausfuhrliche Würdigung dessen EpithetaSammlung liefert I. D. M. Mc Farlane, »Reflections on Ravisius Textors's Specimen Epithetorum«, in: R. R. Bolgar (Hg.), Classical Influences on European Culture. A. D. 1500-1700, Cambridge u.a. 1976, S. 81-90. J. Ravisius, Epithetorum opus absolutissimum, S. 606. Ebd., S. 33. Ebd., S. 64. »Thebana. Ovid. lib. 4. Fratrem Thebana peremptum supposuit tumulore ge vetabte soror.« Ebd., S. 660.

222 wählten Autoren zusammen mit Aischylos und unter Vernachlässigung des Euripides. Die solchermaßen exponierte Wertschätzung des Tragikers löst der Autor auch ein, indem er Sophokleische Verse zu Sachwörtern zitiert, hierzu jedoch dessen Übersetzung in den Werken Ciceros und anderer lateinsprachiger Autoren bemüht.76 Somit erschließen sich für die einseitige, entstellte Aufnahme der Ödipus-Figur in der Literatur der frühen Neuzeit außer den religionsmoralischen auch die sprachlichen Grenzen als maßgebliche Begründung. Als ausschlaggebend sind wohl beide Kriterien bei dem Melanchthon-Schüler und Seneca-Kommentator Georg Fabricius (1516— 1571) anzunehmen; in der Sammlung »De Epithetis nominum propriorum« seines Poetik-Lehrbuches herrscht der römische Einfluß vor, da auch er sich unter dem Lemma »Oedipus« auf die Formeln »Quem sua filia rexit. Expertus scelus est cuius uterque parens« beschränkt.77 Im Nachschlagewerk De re poetica graecorum (1582) des Schlesischen Philologen Michael Neander (1525-1595) ging die Figur des Ödipus mit beiden Gesichtern ein, sowohl in seiner mitleidwürdigen Gestalt als auch in seinem heldenhaften Glanz. Dies jedoch scheint auch nur in der zusammenhanglosen, bloß aufzählenden Lexikonform möglich zu sein, die sich einer kohärenten, sinngebenden Deutung entziehen kann. Das für den Schulgebrauch bestimmte Werk, wie aus der Widmung an Dozenten zu schließen ist, enthält Epitheta (»liber epithetorum graecorum«), Sentenzen (»liber phrasewn poeticarum«) und Mustersätze zu verschiedenen Sachgebieten (»liber descriptionum variarum et elegantiarum«), die aus dem Werk antiker und spätantiker griechischer Autoren verschiedener Disziplinen und literarischer Gattungen zitiert werden (Philosophie, Historiographie, Geographie, Rhetorik, Philologie, christliche Theologie, Tragödie, Komödie, Lyrik, Epik). In der Reihe der genannten Autoren wird Sophokles zitiert, um Attribute zu alphabetisch angeordneten Personen und Themen zu liefern, die entweder hinzugefügt oder antonomastisch verwendet werden können. Zu dem Lemma »Oedipus« werden vier Epitheta aus der Sophokleischen Tragödie herangezogen: Das erste Epitheton resultiert in eine Synekdoche (oiöi7c6ör|q 8t>a7toi:|ioq v. 888), Ödipus wird der Kategorie der Unglücklichen unterge76

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Unter »Aper«, ebd., S. 68f.: »Sophocles apud Cicer. Erymanthiam haec vastificam abiecit beluam«; unter »Clades«, S. 202f.: »Horribilis. Sophocles apud Cicer. Sic corpus clade horribili absumptum extabuit«; unter »Ebur«, S. 280: »Elephantinum. Sophocles apud Theod. Elephantinoque ex ebore, fuluoque ex auro«; unter »Fortuna«, S. 340: »Mutabilis. Sophocles in Aiace scribit, immutabili fortuna nullum esse peius hominibus malum«; unter »Immanitas«, S. 429: »Barabar. Sophocles apud Cicer. Non Graia vis, non barbara ulla immanitas«; unter »Mortales«, S. 562: »Vagi. Sophocl. apud Theod. Cyren. Sed nos sopore corde mortales vagi«. Zur Wertschätzung von Sophokles trägt auch seine Erwähnung unter dem Lemma »Cothurnus«, S. 230 bei. G. Fabricius, De re poetica libri Septem, Leipzig 1574 (Universitätsbibliothek Heidelberg: G 410/6), S. 347-456, hier S. 420. Unter »Aiax Telamonius«, S. 351 führt Fabricius an: »Fortis, invictus. Telamoniades. Telamone natus, satus, creatus. Teucri frater. Cui tegmen septem terga fuere bonum. Dominus clypei septemplicis«; unter »Antigona«, S. 355: »Thebana. Fratrem peremptum supposuit tumulo.«

223 ordnet. Die drei anderen Epitheta ergeben jeweils eine Antonomasie. Das zweigliedrige Epitheton ¿ÄiGpioq ^eyaq (v. 1341) leitet die Reihe der spannungsvollen Charakterisierung durch Antitheta ein; die Antonomasie Geotq ¿XQpöxaxoq ßpoxcov (v. 1345) ist zugleich eine Synekdoche: der Genitivus Separativus ordnet Ödipus den Sterblichen unter, und der Dativus Obiectivus zeigt ihn in seinem Verhältnis zu den Göttern. Das dritte Doppelattribut rundet die Reihe ab, indem es die Leistung des Ödipus bei der Rätsellösung und seine Tugendhaftigkeit superlativisch betont: öq xa KXEIV' aiviyjiaxa 78 fj5ei K a i Kp&xiaxoq ßpoxcov (v. 1525). Von den anderen Autoren wird nur Aischylos zitiert, um ein letztes antonomastisches Epitheton zu liefern: 7iaxpOKx6voc;.79 Die autoptische Zitierung des Sophokleischen Textes ergibt die zwei Gesichter des Ödipus, deren Interdependenz gerade die antike Tragödienauffassung konstituierte. Die philologische Treue des Humanisten folgt der Doppelgesichtigkeit; dabei wird die Verlegenheit des neuzeitlichen Bewußtseins vor diesem Widerspruch in dem summierenden, asyndetischen Sammelcharakter des Lexikons aufgehoben.

4.1.1.5. Ausblick auf die Mythographie des Barock (Paul Aler, Magnus Daniel Omeis, Johann Christoph Männling) Ein Jahrhundert später wird es im deutschsprachigen Raum möglich sein, beide Aspekte des Ödipus nicht nur nebeneinander zu stellen, sondern zu verbinden. Die wachsende Verbindlichkeit der allegorischen Mythos-Deutungen, wie sie im Verlaufeines standardisierenden Handbuchwissens im 17. Jahrhundert festzustellen ist, führte dazu, daß man immer weniger strittige Segmente einer mythischen Figur erörterte und viel mehr die Gesamtheit einer mythischen Figur verstärkt in den Blick rückte. Mit der zunehmenden Bekanntheit der klassischen Texte erwuchs eine ganzheitlichere Mythologie als Erfordernis. In einer polyhistorischen Mythologie, die bedeutungsmäßig weitgehend standardisiert war, konnten die paganen Elemente keine Gefahr mehr darstellen. In einem anonymen jesuitischen deutsch-lateinischen Thesaurus aus dem Jahr 1690, 80 der dem Dramatiker und Philosophie-Professor in Köln Paul 78 79

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Vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 1990, § 678. Neander zitiert Sophokles selbstverständlich auch unter dem Lemma »Ajax Telamonius« (S. 7f.), unter »Echo« (S. 40), unter »Erinnys« (S. 43), unter »Pluto« (S. 100), unter »Sol« (S. 109), unter »Donum« (S. 125), unter »Ensis« (S. 221), unter »Fera« (S. 232), unter »Maritus« (S. 305), unter »Os« (S. 337), unter »Pluvia« (S. 353), unter »Risus« (S. 375), unter »Stellae« (S. 493), unter »Tempus« (S. 411), unter »Victor« (S. 437), unter »Umbra« (S. 458). Vermutlich figuriert Ödipus auch in Neanders Aristologia Euripidea graeco-latina, seu sententiae et doctrinae ex Euripide de vitae gubematione, vgl. Ch. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten =Lexicon, Band III, S. 840f. Novus synonymorum, epithetorum et phrasium poeticarum thesaurus, latinogermanicus. Gradus ad Parnassum, carminibus, historiis etc. Recognitus et a variis

224 Aler (1656-1727) zugeschrieben werden kann,81 vereinen sich die Senecaische und die hellenistische Tradition. Das erst in späteren Auflagen unter dem Namen Alers erschienene Wörterbuch, das sich an Gelehrte und Kunstfreunde wendet, ist alphabetisch geordnet und umfaßt Lemmata aller Wortarten, zu denen der Autor die deutsche Übertsetzung und eine lateinische Begriffsdefinition angibt, Beispielsätze zitiert und deren metrische Analyse liefert. 82 Den literarischen Belegen aus den Werken der »artis poeticae principes« ist nicht immer ein Quellennachweis beigefügt. 83 Sowohl in der anonymen Ausgabe als auch in der zwölften Auflage des Jahres 1752, deren Artikeltexte zwar verschieden angeordnet, aber im Wortlaut identisch sind, schildert der Verfasser die Ödipus-Fabel. Seine Darstellung setzt bei Laius' Erkundung des Orakels an (»pater Apollinem consuluit«); er berichtet das Durchstechen des Fußes vom barmherzigen thebanischen Hirten sowie die Errettung des Kindes durch Phorbas, wobei der Name des korinthischen Hirten auf die Senecaische Quelle hinweist. Auf die unwissende (»nescius«) Ermordung des Vaters folgen das Rätsellösungsmotiv und die damit als Belohnung gekoppelte Besteigung des thebanischen Thrones, womit ein Euripideischer Einfluß erkennbar ist (»statutum fuit, ut quisquis Sphyngis aenigma solveret, Iocastae nuptiis et regno Thebano potiretur«84). Den Euripideischen bzw. Senecaischen Einfluß bezeugt der unmittelbare Vorgriff in die Bruderzwistepisode. Ödipus' Erkennung des Vatermords und des Inzestes

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mendis expurgatus. Ex quo Ravisi Textoris, aliorumque librorum poëticorum subsidio destitutus. Faciliorum carminis pangendi industrìam acquiret. Editio novissima. Accessit Epitome Selectarum Historiarum, Fabularum, Insularum, Regionum, Urbium, Fluviorum, Montiumque celebriorum, ex variis probatis auctoribus collecta. Autore anonymo à Societ. Jesu, Frankfurt am Main 1690 (Universitätsbibliothek Heidelberg: Tschi. 143A). Zu P. Alers Biographie vgl. J.-M. Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentés et des documents conservés (1555-1773), Band II, S. 1019. P. Aler, Gradus ad Parnassum, Elegantias, Flavissas Poëticas, Parnassum poëticum, Thesaurum Virgil», Smetium, Januam Musarum, aliosque id genus libres, ad Poësim necessarios complectens. In quo singulis etiam phrasium syllabis, ac Nominum et Verborum incrementis, appositae sunt notae quantitatis indices, una cum Poëtarum testimoniis, quorum authoritate singularumvocum quantitas comprobatur: accedunt quae ex historia, fabula et geographia ad Poëticam artem conferunt. Inseruntur descriptiones, et comparationes plurimae, ex optimis poëtis excerptae, opus emendatissimum, politiori elegantia excultissimum, et Germanico ad quodvis vocabulum initiale addito auctum. Nunc denuo variis ad Poësim spectantibus locupletatimi, addico praxis poëticae ad facilem, et perutilem studiosae iuventutis usum conscriptae compendio, Köln und Frankfurt am Main 1752, 12. Auflage (Universitätsbibliothek Heidelberg: D 11115=1). Vgl. Vorrede »Ad Lectorem« in der Ausgabe von 1690, P. Aler, Novus synonymorum, epithetorum et phrasium poëticarum thesaurus, latinogermanicus, hier S. 5. Ebd., S. 97, in der beigebundenen Epitome de clarum historiarum fabularum poëticarum, insularum, regionum, urbium, fluviorum, montiumque celebriorum, ex variis probatis auctoribus collecta (in der Ausgabe von 1752, S. 519); vgl. hierzu Euripides, Phoinissai, v. 50.

225 erwähnt Aler anschließend. Er beendet seine Erzählung mit Ödipus' Wunsch, sich zu töten, und mit Antigones Fürsorge: Der Schluß der Fabelerzählung ist deutlich auf Euripides' Phoinissai und Senecas gleichnamiges Fragment zurückzufuhren. Der römische Einfluß ist nicht zufällig, denn auch bei der Aufzählung der Epitheta beschränkt sich Aler auf Seneca:85 Die zitierte Epitheta-Reihe geht auf das Nachschlagewerk von Jean Tixier de Ravisi zurück, den der Jesuit auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe erwähnt. Ganz entsprechend sind auch die Mustersätze den Senecaischen Tragödien entnommen: zum einen dem Oedipus (»Quique neque mos est feris, Fratres sibi ipse genuit« v. 639), zum andern den Phoenissae (»Occidi patrem, sed matrem amavi, proloqui Hymenaeum pudor« v. 261f.). Wertneutral werden die Vergehen des Ödipus referiert und die heroische Errettung der Stadt ausführlich berichtet. Die Betonung von Ödipus' traurigem Ende und seines Drangs nach dem Tod verraten gleichwohl das Bedürfiiis des Erzählers, Ausgleich und Genugtuung anzudeuten. Das Interesse für die Paradoxa der Ereignisse, das die Auswahl der Mustersätze bekundet, drängt sich im Unterschied zu den protestantischen Darstellungen bei Aler vor und geht mit der moralischen Deutung einher.86 Prophylaktisch wurde jedoch mythologischen Nachschlagewerken ein Exkurs über die Zulässigkeit von mythologischen Bildern und Fabeln in christlicher Dichtung vorangestellt. Magnus Daniel Omeis (1646-1708), Mitglied des Pegnitzordens, verfaßte eine »Deutsche Mythologie«, die beigebunden zu seiner Gründlichen Anleitung zur deutschen accuraten Reimund Dichtkunst (1712) erschien.87 In der Vorrede an den Leser befaßt er sich mit der Frage, »Ob ein christlicher Poet in seinen Gedichten sich der heidni85

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P. Aler, Novus synonymorum, epithetorum et phrasium poeticarum thesaurus, latinogermanicus (1690), S. 615 (in der Ausgabe von 1752, S. 519). Eine ähnliche Unbefangenheit gegenüber dem Heroischen bekundet Aler im Lemma »Ajax«, vgl. P. Aler, Novus synonymorum, epithetorum et phrasium poeticarum thesaurus, latinogermanicus (1690), Epitome, S. 11: »Ajax: primus Thelamonii filius, ex Hesione filia Laomedontis, fortissimus Graecorum post Achillem, sed Achille occiso cum illius arma peteret Ajax, et Ulysses eloquentia sua iudicibus illa accepisset, Ajax prae ira insaniens pecora multa occidit, credens Ulyssem cum sociis illius se occidere. Deinde se ipsum occidit, de cuius cruore (ut ait Ovidius) flos Hyacinthus crevit«; vgl. die Synonyme und Epitheta auf S. 42, die identisch mit jenen der späteren Auflage sind; vgl. die Ausgabe von 1752, S. 37: »(Telamonis filius, Dux fortissimus ad expeditionem Trojanam profectus, qui cum Achillis arma frustra petiisset, videssetque aemulo suo Ulyssi concessa, furore percitus se ipsum esse confodit.) Nec quisquam ajacem potuit superare, nisi Ajax. Ovid. Syn.Telamoniades. telamone satus, genitus, natus. Telamonia proles. Telamonius heros. Epit. Audax, magnanimus, Telamonius, invictus, fortis, superbus, generosus, salaminius, insanus, ferox. Phr. Clypei dominus septemplicis ajax. Clypeo interritus. Aemulus Ulyssis. Marte ferox et viribus ajax. Qui clypeus Septem terga fuere boum.« M. D. Omeis, Gründliche Anleitung zur deutschen accuraten Reim- und Dichtkunst [...] samt einem Beitrag von 1. Rechtschreibung, hierauf folget eine Deutsche Mythologie wie eine Zugabe von Ehr=, Lehr= und Leich=Gedichten, Nürnberg 2 1712 (Universitätsbibliothek Heidelberg: v. Waldb. 2883).

226 sehen Götter-Namen und dieser Mythologischen Fabeln gebrauchen könne?« Die Antwort darauf hat er bereits summarisch vorweggenommen. Denn am Beginn der Vorrede erklärt Omeis den Nutzen, den die antiken Fabeln für das Drama und andere literarische Gattungen unter zwei Bedingungen einbringen können: Zum einen, wenn sie mit einem bestimmten Sinn (»sensu specialiore«) gedeutet, und zum andern, wenn sie »mit Maß und Verstand« verwendet werden. In einen auf etwa fünfzehn Seiten sich erstreckenden Bericht der bestehenden kontroversen Meinungen flicht Omeis seine kritischen Bemerkungen ein. Gegen die puristische Meinung des Jesuiten Cuinisius, des Johann Valentin Andraee und Sigmund von Birkens, die die alttestamentarischen Götzenverbote auf jegliche mythologische Anspielung erweiterten,88 plädiert Omeis für eine gemäßigte, dem ornatus verpflichtete Verwendung mythologischer Konfigurationen und Bilder. Dabei distanziert er sich jedoch von Justus Lipsius und gar Daniel Heinsius und Martin Opitz, die »den Heiden nachäffen«; hiermit bezieht sich Omeis auf Heinsius' Bacchus und Opitzens Lob des Kriegesgottes Martis, in denen die beiden Dichter in einer Apostrophe heidnische Götter direkt anrufen. Omeis verwirft diese formalästhetische Antike-Rezeption als Abgötterei. Für Opitzens Buch von der deutschen Poeterey (1624) war allerdings die Kontroverse, die »nahmen der Heidnischen götter betreffendt / derer sich die stattlichsten Christlichen Poeten ohne Verletzung jhrer religion jederzeit gebrauchet haben« abgeschlossen gewesen: Er betrachtet die Götternamen als harmlose »unterschiedene namen« für die »sonderlichen wirckungen« von Gottes unbegreiflicher Allmacht.89 Opitzens Bemühungen um die Bereicherung der deutschen Literatursprache an einer Vielfalt stilistischer Möglichkeiten einerseits und seine antiken, neulateinischen, französischen und niederländischen Renaissance-Vorbilder andererseits verpflichteten zur Verwendung solcher antikisierender Reminiszenzen. Omeis jedoch rügt den freieren Gebrauch von mythologischen Anspielungen zugunsten einer eindeutigen Interpretation: Die Erwähnung von mythologischen Figuren sei erlaubt, nur wenn man durch »alte gewiße Helden und Heldinnen / Tugend- und Lastern verstehet / auch verschiedene menschliche affecten und Gemütsgaben durch eine sogenannte Prosopopeiam in dergleichen erdichtete Personen einkleidet«. Schließlich kommt Omeis auf das Ganze der »Poetischen fabeln« zu sprechen, sowohl als eigene Gattung als auch als Stoff für andere literarische Gattungen. Unter Berufung auf J. C. Scaliger, Verulamius, HarsdörfFer und Athanasius Kircher sieht er den Nutzen der Fabeln darin, daß »unter derer meisten fürtreffliche geistliche Sitten und natürliche lehren verborgen liegen«; zwischen den vorhandenen Deutungstheorien entscheidet er sich für jene, die den »sensum Theologicum, Ethicum, Physicum, Historicum so in 88

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Rekurriert wird auf 2. Moses 20,4 und 23,13; Zacharias 23,2; Hosea 2,16. Omeis beruft sich auf Balthasar Gockelius, Heydnische Poeterei christlich corrigiert und verbessert, Tübingen 1647 (konnte ich nicht einsehen). M. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, hg. von C. Sommer, Stuttgart 1983, S. 17.

227 diesem oder jenem Gedichte verdecket liegt, deutlich eröffnen«.90 Omeis' Bemühung um eine christlich-moralische Deutung kommt insbesondere zum Ausdruck, wenn er nachzuweisen sucht, daß »die heidnischen poetischen gedichte aus dem Alten testament entnommen sind«, wie er in einem Anhang dokumentiert. Derselben Deutungstradition antiker Fabeln ist auch der Schlesier Johann Christoph Männling (1658-1623) verpflichtet, der ein Poetisches Lexicon (1715) herausgab und mutmaßte, daß die »Poesis Mythologica nicht so gar unnöthig und vergebens sey / sondern die Alten damit wie in Windeln was nützliches und verborgen (gleich den Eleusischen Priestern / die das Geheimnüß ihres Gottesdienstes in Bilderschriften versteckt hatten) einhüllen wollen ist gar gewiß«. Die verborgenen Bedeutungen dürfen aber auch nur christliche sein: »denn daß der Satan unter der Finsterniß Heydnischer Erzehlung das Licht des Wortes Gottes versteckt hat, ist gar nicht zu leugnen«.91 Männling gibt die wichtigsten Ereignisse der Ödipus-Fabel wieder und zentriert sie um die zwei Untaten des Ödipus: »Als ein Streit entstand, er tödtete, unwissend, daß er der vater sey / Oedipus den Lajum, hernach heyratet er seine Mutter Jocastam unwissend, mit der er zwei Söhne Eteoclem und Polynicem und eine Tochter Antigonam erzeugte. Wie er aber erfahren, was er gethan, hat er aus Reu ihm beyde Augen ausgestochen«. Männling erinnert an einen weiteren Inzestfall, nämlich des Merophron bei Ovid. Die übrigen Begebenheiten scheinen ihm unwichtiger: er überspringt das Orakel, und bezeugt nur eine Tochter, wohl weil sie für Ödipus' Exilschicksal von Bedeutung ist.92 Ganz zum Schluß und nur beiläufig fugt er das Rätsellösungsmotiv hinzu: »Es löst der Oedipus der Sphynx das Rätsel auf«.93 Weit ausfuhrlicher schildert Omeis den Aufstieg und Fall der tragischen Figur; er beginnt mit dem Orakel des Laius, der Aussetzung, der Erziehimg am korinthischen Hof, fahrt mit der Erkundung des Orakels fort, um zum 90

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M. D. Omeis, Gründliche Anleitung zur deutschen accuraten Reim- und Dichtkunst, S. 15. J. Chr. Männling, Poetisches Lexicon, Darinnen die schönsten Realia und auserlesensten Phrases Aus denen berühmtesten Poeten Schlesiens, Sodann eine vollständige Historia Mythologica Derer heydnischen Götter und Göttinnen, Und endlich ein richtiges Reim=Register Nach Ordnung des Alphabets, Allen Liebhabern der poesie zum vergnügen sonderlich aber der studierenden Jugend zum Nutz enthalten, Frankfurt und Leipzig 2 1719 [erste Auflage 1715] (Universitätsbibliothek Heidelberg: v. Waldb. 2962). In diesem Zusammenhang beruft er sich auf N. Comes, Gyraldus, Vossius, Scaliger, Masen u.s.w., S. 4bf. Vgl. Ath. Kircher, Oedipus Aegyptiacus, Epilogus: »Cum enim quas a Diabolo edocti Aegyptii artes exercuerint, easdem eodem magistro memoratae gentes addicerint«. Vgl. Männlings Artikel zum Lemma »Ajax«, in dem die Kenntnis des gleichnamigen Dramas ersichtlich ist, ohne daß der Autor erwähnt wird. Die Relevanz der Antigone-Figur für den Ödipus-Mythos geht auf Euripides' Phoinissai und Senecas Phoenissae zurück, denn im Sophokleischen Ödipus Coloneus sind beide Schwestern an Ödipus' Schicksal beteiligt; Omeis' Kenntnis von Antigone als Titelfigur in der Geschichte des antiken Dramas ist nicht auszuschließen. J. Chr. Männling, Poetisches Lexicon, S. 283.

228 Vatermord zu gelangen; ungewöhnlich ist jedoch die Begründung des Vergehens: In Phokis habe »sich ein Aufruhr allda erreget / in welche er auch eingemenget / den König Lajus seinen vater / der den Tumult zu stillen angekommen / durch seine Waffen / wiewol unwissend / erleget.« Der tödliche Streit, den Laius gegen die Thebaner führte, nachdem sie Ödipus zum König Thebens berufen hatten, begegnet bei Suidas und anderen byzantinischen Schriftstellern anstatt des Vatermordes.94 Die Kontamination dieser Variante mit dem Parricidium und ihre Umkehrung als »Aufruhr« der Thebaner fügt sich zu einer moralpolitischen Aussage, die im Jahrhundert des von Aufruhr bedrohten Absolutismus ihre Bedeutung hatte: Die Sympathie für das Opfer Ödipus geht mit der Sympathie für das Opfer eines Aufruhrs einher. Nicht nur in der detaillierten Wiedergabe der einzelnen Fabelepisoden (Beschreibung der Sphinx-Gestalt, Wortlaut des Rätsels, Inzest, Offenbarung der Verbrechen und Selbstbestrafung) unterscheidet sich Omeis von Männling, sondern auch in der deutlich abgesetzten moralischen Lehre: »Ferner gibt auch Oedipus in der Ethic ein deutliches exempel eines Menschen der, durch Unwissenheit (per ignorantiam) gesündiget; derer aber eine grose Reue und Betrübnis nachgefolget.«95 Die Vielfalt der Begebenheiten und die Ausführlichkeit der Erzählung verlangen nicht nur nach einer Zusammenfassung auf das Wesentlichste, sondern auch nach einer deutlichen moralischen Einbindung. Das Interesse an der Ödipus-Fabel und ihren verworrenen Episoden ist nicht ein antiquarisches oder ein formales, sondern ein stoffliches; der Stoff wird jedoch nach einem moralischen Raster geordnet. Das Interesse an der paradoxen >unschuldigen Schuld< des Ödipus war ein reizvoller Dichtungsstoff, der sich besonders für das Theater eignete. Die steigende Vorliebe für das Ödipus-Schicksal als dramatischer Stoff schlägt sich, wie zu zeigen sein wird, in der Entwicklung der deutschen Trauerspiel-Poetiken nieder.

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Suidas, Lexicon, hg. von Becker, Berlin 1854, S. 760: »'0 yoüv Aaioi; otyavaKxfiaai; KCXT' atrabv, TOÜTOU; enayei n6A.en.ov, Kai X.i9cp ßX.T|9eiq TT)v Kekorrigieren< sucht: Seine >Korrekturen< entspringen dem Bedürfiiis, der griechischen Ödipus-Gestalt Eigenschaften des christlichen Sünder-Typus abzugewinnen und ihm den Typus der Glaubenskämpferin Antigone gegenüberzustellen. Die zur Bildung dieser Konstellation nötigen Eingriffe in das mythologische Material lösen die Form der Originale, deren Inhalt der neuzeitliche Autor als episches Material gleichsam in eine neue, eigene Form umgießt. Zugleich kommt jedoch das Streben zum Ausdruck, eine der geschätzten klassisch-antiken Dramenform äquivalente Gestalt zu entwickeln. Somit entsteht einerseits eine Mischform mit klassizistischen Zügen, wie etwa dem unglücklichen Ausgang, dem hohen Personal, der Peripetie und Anagnorisis. Andererseits entzieht sich das Drama mit einer Reihe von Elementen der überlieferten klassizistischen Form. Besonders die entgegen dem fünfaktigen horazischen und terentianischen Muster über sieben Akte verteilten Ereignisse, verbunden mit einer Vielzahl von Personen, widerstreben dem horazischen »unum et simplex«, d. h. der Einheit der Handlung. 127 Während die Einheit des Ortes mehr oder weniger durch den 126 Vgl. den Begriff »referentielle Spannung« bei der Aufnahme und Funktionalisierung des Prä-Textes, d. h. der Vorlage, unter dem Lemma »Zitat« in Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begr. von P. Merker und W. Stammler, Bände 1-3, hg. von W. Kohlschmidt und W. Mohr, Bände 4-5, hg. von K. Kanzog und A. Masser, Berlin und New York 1958-1988, hier Band IV (1984), S. 1049-1981, besonders S. 1055. Zur Parodie vgl. F. W. Genthe, Geschichte der Macaronischen Poesie, o. O., 1966 [ N 1836], S. 35. 127 Auf die sieben Akte und das alternierende Prinzip in der Szenenverteilung wird Waldung in seinem späteren Drama Aethiopicus amor castus (1605) zurückgreifen, das sich auf das epische Werk Heliodors stützt, vgl. Chr. Prosch, Heliodors Aithiopika als Quelle fiir das deutsche Drama des Barockzeitalters, S. 130. In der Oedipi tragoedia alternieren mehrszenige mit geringszenigen Akten wie folgt: Akt I: Szenen 6, Akt II: Szenen 3, Akt III: Szenen 6, Akt IV: Szenen 2, Akt V: Szenen 7, Akt VI: Szenen 8, Akt VII: Szenen 5.

237 thebanischen königlichen Hof gegeben ist und obwohl die Versabschnitte der Vorlagen mit den Zeitangaben gekürzt sind, übersteigt die Ereignisakkumulation den Ablauf eines einzigen Tages.128 Um die Ereignisse zu komprimieren, hat der Autor die retardierenden Chorlieder zwangsläufig auf ein Minimum gekürzt. Aus dem gesamten Chorlieder-Repertoire bietet Waldung lediglich zwei Strophen der Sophokleischen sechsstrophigen ¿Wz/ws-Parodos und zwar als abgeschlossene Szene dar (I, 4):129 Zur Heilung des Pestunglücks, des erkrankten Heers und des mangelnden Widerstandssinns appellieren die Bürger an den Orakelgott Apollo; als »vindices« des Unheils beruft Waldung antonomastisch die Götter Artemis und Bacchus sowie die Mainaden, wohl um deren Sophokleische namentliche Beschwörung zu umgehen.130 Lediglich die zur Allegorie der Weisheit christianisierte Göttin Athena wird beim Abschluß der Szene herbeigebeten, auf daß sie mit ihrem Rat den Klagen entgegenwirke. Neben Umfang- und Aufführungszeit spielten weitere Überlegungen eine Rolle, weshalb Waldung alle weiteren Chorlieder strich:131 Die Reduktion des paganen Polytheismus auf die drei Götter Apollo, Minerva und Zeus, die als Allegorien für Eigenschaften des biblischen Gottes legitimiert waren, sowie die Tilgung der mythologischen Anspielungen, die in den Chorliedern als Reste antiken religiösen Rituals ihren besonderen Ort haben, gaben wohl den Ausschlag. Die wechselhafte Sympathie der Chorlieder für die leidenden Figuren, die den Sophokleischen Chor zwar als distanzierten aber unberechenbaren Mitspieler ausweisen, mögen zudem dem überwiegend statischen Konfigurationskonzept Waldungs zuwidergelaufen sein.132 Die gleichwohl durch die vorgenommenen Umformungen gebrochene Einheit der Handlung ersetzt Waldung allerdings auch nicht durch die Dominanz der Titelfigur, die nur zur Hälfte des Dramas präsent ist.133 Waldung substituiert die Einheit der Handlung durch die chronologische Komponente: 128

Vgl. Seneca, Ödipus, v. 1 fehlt. Vgl. I. Oppelt, »Zu Senecas Phoenissen«, in: E. Lefevre (Hg.), Senecas Tragödien, Darmstadt 1972, S. 272-285, nach welcher Senecas Phoenissae auf dem Kithäron sich abspielen; Waldung eliminiert hier Senecas v. 326. Es fehlt Senecas v. 370, dessen zufolge zwischen Odipus' Selbstblendung und der Belagerung Thebens vier Jahre liegen. 129 Sophokles, Ödipus, v. 164-170 und 180-188. Vgl. eine weitere Ausnahme in VI, 6 eine Strophe des Chores in Antigones Klagelied und den unentbehrlichen Schlußchor VII, 5. 130 Ebd., v. 162 und 21 lf. 131 Vgl. Sophokles, Antigone, v. 1348-1353. Vgl. ebd., v. 817-822, die Waldung zwangsläufig als Antwort der Bürger im Antigone-Klagelied VI, 6 funktional einschließt. 132 Vgl. Sophokles, Ödipus, v. 463-511, nämlich die Sympathie des Chors für Odipus. Im folgenden werden bei den von Waldung gestrichenen Verspassagen die Chorlieder nicht eigens erwähnt, da sie Waldung grundsätzlich - mit Ausnahme der oben erwähnten - kürzt. 133 Unter den insgesamt 57 Szenen des Dramas ist Ödipus in 14 gegenwärtig, ebenso wie Kreon.

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Einheitsstiftend für die dramatische Handlung ist die Genealogiegeschichte des Ödipus-Stammes, dessen Ursprünge zwar in die Vorgeschichte verlegt ist, seine Fortsetzung jedoch bis zum unglücklichen Ende seiner Nachkommen und Familienangehörigen den Gegenstand des Dramas bildet. Doch liegt nicht lediglich eine unmotivierte, bloß chronologische Aneinanderreihimg von drei unabhängigen Handlungen vor (Ödipus-, Bruderzwist- und Antigone-Handlung). Der Übergang von der Ödipus-Handlung zur Bruderzwist-Handlung ist nicht nur temporal, wie es im ohnehin nur durch Verbindung der Ödipus- und Antigone-Handlung geknüpften »Argumentum« erscheint, sondern auch kausal und figural-anaphorisch: Der Konflikt zwischen Ödipus und Kreon bzw. Tiresias taucht wieder als Konflikt zwischen Ödipus bzw. Iokaste und Polynikes bzw. Eteokles auf. Ebenso ist der Übergang zu der Antigone-Handlung sowohl kausal (Eteokles hat das Bestattungsverbot vor seinem Tod verordnet) als auch figural-anaphorisch motiviert, indem Kreon und Antigone den Konflikt Eteokles-Polynikes wiederaufnehmen. Solcher Konflikt zwischen den Oppositionsmerkmalen »impietas« und »pietas« wird jedoch nicht gleichbleibend auf dieselben Figuren verteilt. Es bestehen Interferenzen der beiden Oppositionsmerkmale innerhalb einer und derselben Figur, so daß teilweise eine dynamische Charakterveränderung vorliegt. Den mittleren, gemischten Charakter der griechischen Tragödie ersetzt Waldung entweder durch den Typus des absolut guten (etwa Iokaste, Polynikes, Antigone) bzw. bösen Charakters (etwa Ödipus, Eteokles) oder durch eine Charakterveränderung aufgrund von Affektbeherrschtheit (etwa Kreon, Hämon). 134 Die episierende Aufhebung der klassizistischen Zeit- und Raumgrenzen sowie die Erweiterung der Personenzahl zielen auf die Präsentation anderer Zusammenhänge: Auf die Darstellung totalitätbeanspruchender, exemplarischer Menschentypen und -verhalten, die gegenseitig in Konflikt (z. B. Ödipus-Tiresias) oder in Ergänzung stehen (z. B. ÖdipusAntigone). In der Szeneneinteilung wiederum bekundet sich das klassizistische Prinzip des Kausalnexus, nach dem die Konfigurationsveränderung von Szene zu Szene stets motiviert ist: Durch offene Fragen oder angekündigte Absichten seiner Figuren leitet Waldung von der einen Szene zur nächsten über. Auch die Akteinteilung entspricht jeweils abgeschlossenen Phasen der Handlung: Der erste Akt exponiert die Problemsituation des Ödipus (Protasis), der zweite schildert seine Lösungsentscheidungen (Epitasis), der dritte deren Mißlingen (Katastasis); im vierten Akt wird die Krisensituation als Resultat des vorangegangenen Mißlingens wiederaufgenommen (Epitasis), der fünfte Akt stellt Lösungsversuche und Mißlingen dar (Katastasis), der sechste schließlich die nun verschärfte Problemsituation mit den entsprechenden Lö134

Zur Reduzierung der überlieferten dramatischen Figuren auf beliebig zu charakterisierende Typen im humanistischen Drama vgl. J. A. Parente, Religious Drama and the Humanist Tradition. Christian Theatre in Germany and in Netherlands. 1500-1680, Leiden u.a. 1987, hier S. 33.

239 sungsschritten (Epitasis), die im siebten Akt in eine endgültige Zerstörung umschlagen (Katastasis und Katastrophe). Das Kompositionsschema von Protasis, Epitasis, Katastasis, Katastrophe, wie es die klassizistische Theorie in der Nachfolge des Terenz-Kommentators Donatus postulierte, 135 wäre hier in variierter Form wiederzuerkennen; die auf makrostruktureller Ebene verlängerten Momente der Epitasis und Katastasis enthalten, mikrostrukturell betrachtet, zwei weitere Katastrophen, die jeweils als Ausgangssituationen verwendet werden. Der Gefahr beliebiger Erweiterung entgeht Waldung, indem beim Schlußakt seines Dramas alle Hauptfiguren entweder tot oder verelendet enden. Zwei Kompositions-Koordinaten werden somit in der Gestaltung von Waldungs Drama wirksam: Auf der einen Seite die Annäherung an das nach eigenen Kriterien interpretierte Ideal des geschlossenen klassischen Dramas, auf der anderen Seite das Bedürfiiis nach stofflicher Vielfalt mit einer entsprechend moralischen Einrichtung des Stoffes. Waldung überfuhrt seine Neuerungen in eine eigens entworfene neoklassizistische Form, in der er auf die Dilemmata der humanistischen Entdeckung antiker Ästhetik zu reagieren versucht: In Befangenheit darüber, im griechischen Protagonisten nicht den Verbrecher, sondern den Heroen der Selbsterkennung würdigen zu müssen, 136 abstrahiert der späthumanistische Dramatiker von den positiven Charakterisierungen, die der Sophokleische Text in Eigen- und Fremdkommentar Ödipus zuteil werden läßt; Reminiszenzen heldenhaften Gebärdens wirken im veränderten Kontext als Arroganz und Anmaßung. Stattdessen zentriert der neuzeitliche Dramatiker die Strafbarkeit der Verbrechen und ihre fatalen Folgen und konfrontiert sie mit tugendhaften Gegenbeispielen etwa in den Figuren der lokaste und Antigone. Charaktereigenschaften der Figuren münzt Waldung auf die derart festgelegte Gegenüberstellung. Waldungs Veränderungen verraten jedoch zugleich seine Verlegenheit vor den Ambiguitäten der paganen Welt: Sie lassen entweder durch Beseitigung der Heldenverklärung das unverdiente Unglück noch stärker als Inkonsistenz und Irrationalität des paganen Glaubens hervorscheinen oder sie schaffen durch Amplifikationen und Umstellungen Freiraum für die Projektion typisierter Verhalten im Sinne der christlichen Morallehre. Zur Zeit von Waldungs Wirken in Altdorf verselbständigten sich Emblem-Abbildungen von den ihnen zugeordneten »orationes«: Die genaue Analyse des icon wurde zunehmend zugunsten der moralischen Deutung vernachlässigt. Eine vergleichbare Entwicklung läßt sich auch an der Waldungschen Oedipi tragoedia ablesen: Die moralische Lehre läßt den mythologischen Inhalt des Dramas verblassen. 137

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Vgl. J. C. Scaliger, Poetices libri Septem, S. 15. 136 Vgl. E. R. Dodds, »On misunderstanding the Oedipus Rex«, in: M. J. O'Brien, Twentieth Century Interpretations of Oedipus Rex, Englwood Cliffs/NJ, 1968, S. 17-29. 137 Vgl. F. J. Stopp, The Emblems of the Altdorf Academy, S. 67.

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4.1.2.2. Der Sündenfall des Ödipus In den ersten drei Akten seines Dramas präsentiert Waldung den Fall des Ödipus. Dabei orientiert er sich hauptsächlich am Sophokleischen Text und an dessen Version des Mythos; lediglich das Motiv von Iokastes Selbstmord beim Gewahrwerden des Inzestes im Sophokleischen vierten Episodion eliminiert er aus dramenökonomischen wie moralischen Gründen: Denn um zwischen den feindlichen Brüdern zu vermitteln, darf Waldungs lokaste nicht als verzweifelte Selbstmörderin, sondern muß als opferbereite Märtyrerin für den Frieden auf dem Höhepunkt des Bruderzwistes erneut auftreten. Vor dem Sophokleischen Prologos läßt Waldung als erste Szene seinen Ödipus einen Monolog sprechen, der aus Teilen von Senecas Prolog besteht:138 Ödipus beklagt die »fata« des Vaterlandes und wünscht sich den Tod, um das Elend der verpesteten Stadt nicht überleben zu müssen.139 Er ahnt, daß ihm persönlich ein ebenso großes Unglück (»malum«) bevorstehe, da ihn das allgewaltige Schicksal sicher nicht verschonen werde (I, 1). Das solchermaßen bereits im Auftakt des Dramas betonte »fatum« perspektiviert den Sophokleischen Prologos und die gesamte Tragödie: Zum einen wirkt das »fatum« wie ein Naturgesetz, daß das private Ergehen eines Herrschers zwangsläufig mit dem öffentlichen Wohl seiner Untertanen verknüpft ist - freiwillig und ohne derartige Überlegungen äußert dagegen der Sophokleische Ödipus väterliches Mitleid und Fürsorge für seine Untertanen. Zum andern gewinnt das stoische »fatum« in Ödipus' Leben eine dramatische Eigendynamik. Während die Sophokleische Exposition Ödipus in einer Ansprache an die Bürger präsentiert, läßt Waldung seinen Helden zuerst in einem einsamen Selbstgespräch auftreten und konfrontiert ihn als einsamen Herrscher mit der Pestmisere. Nicht in persönlicher Verbundenheit mit seinen Untertanen wendet er sich an sie, sondern unter der Last seiner Regierungspflichten. Bezeichnenderweise mußte der Autor auf Seneca zurückgreifen, um das »fatum« in solch bestimmender Funktion darzustellen. Denn der Determinismus der Stoa ist der Sophokles-Tragödie fremd, die aus dem Konflikt zwischen der prätendierten Autonomie des Helden und den natürlichen, als göttlich gesetzten Grenzen resultiert.140 Zusammen mit der Passage aus Senecas Schlußakt, die Waldung am Ende seines dritten Aktes interpoliert, bilden sie beide die einzigen Stellen, in denen bei Waldung der römische Tragiker den Sophokleischen Ödipus anreichert. Das ausführliche Extispicium und die Geistererscheinung, die nicht weniger als zwei Akte des

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Seneca, Oedipus, v. 28-33, 52-64, 71-75. Die Beschreibungen der Pestkranken nehmen in Senecaischen Versen die in I, 2 gekürzten Sophokleischen Verse 14-26 vorweg. Vgl. B. M. W. Rnox, The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley und Los Angeles 1964, S. 6f.

241 römischen Dramas ausmachen, kamen für ein klassizistisches Schuldrama kaum in Betracht. Senecas »fatum« eröffnet jedoch und schließt zugleich die Ödipus-Handlung bei Waldung. Überschattet vom »fatum grave«, wirkt die Resignation von Ödipus in der darauffolgenden Szene (I, 2) lediglich wie die vorweggenommene Reaktion auf das Mißgeschick, dessen Kontrast zum gegenwärtigen Ruhm (»ille omnium sermonibus celebratus«) sowie zu den darauffolgenden Huldigungen der Bürger die Fallhöhe aufbaut. Den Empfang Kreons und seine Mitteilung des Orakels (I, 3) dämpft Waldung ebenso wie das Versprechen des Königs, alles zu unternehmen, um den Laius-Mörder zu ermitteln.141 Nachdem die Bürger im Chorlied Apollo und Athena zur Hilfe angerufen haben (I, 4), befiehlt Ödipus, begleitet von Strafandrohungen (I, 5), den Mörder verhaften und bestrafen zu lassen; die Bürger wiederum setzen ihre Hoffnung auf den Beistand Apollos und seines Sehers Tiresias. Zum bloßen Titel »aurispicem« reduziert Waldung das Attribut »cum rege [= Apolline] regens«142, mit dem die Bürger Tiresias den gleichen Rang wie Apollo beimessen, teilt er doch dessen göttliches Wissen. Dieselbe Entsakralisierung nimmt Waldung vor, wenn er aus den Worten des Ödipus in der entscheidenenden Konfrontation mit Tiresias (I, 6) den Lobpreis der wahrsagerischen Künste streicht.143 In der bewegten Stichomythie, in der Ödipus Tiresias zur Enthüllung der Wahrheit drängt, kürzt Waldung andererseits die Verse, die des Sehers Zomausbruch darstellen.144 Sowohl die Abstrahierung von den paganen Priestereigenschaften durch dingliche Vermittlung als auch die Eliminierung heftiger Affekte, die der Schuldramatiker an der Figur des Tiresias vornimmt, weisen auf den Versuch des Protestanten Waldung hin, eine dem lutherischen Begriff des allgemeinen Priestertums äquivalente Figur zu gestalten.145 Die Mordanklage des Sehers gegen Ödipus wirkt in ihrer Wie141

Bei dem Empfang Kreons nach der Ankunft aus Delphi streicht Waldung das Versprechen von Ödipus, er wäre übel zu benennen, wenn er nicht das tun würde, was Apollo durch Kreon verlange (Sophokles, v. 76f.); somit geht die Ironie verloren. Waldung streicht in der Stichomythie mit Kreon (I, 3) die kurzen Fragen des Ödipus (v. 120f., 124-127), in denen seine emotionale Anteilnahme zum Ausdruck kommt. Den Hilferuf des Priesters an Phoebus (v. 149f.) schreibt Waldung den Bürgern in I, 4 als Einleitung des Chorlieds zu. 142 Sophokles, Ödipus, v. 284. W. Waldung, Oedipi tragoedia, S. A6V. 143 Sophokles, Ödipus v. 301-304. Aus diesem Grund hat Waldung wahrscheinlich auf die ausführliche Zitierung des Sencaischen Dramas verzichtet, da dieses sich ziemlich auf die Künste des Sehers stützt. 144 Waldung streicht v. 319, nämlich die unterbrechende Frage des Ödipus, warum der Seher traurig sei, weiterhin v. 322-330, in denen Ödipus auf die Enthüllung des Geheimnisses zu Gunsten der Stadt besteht, die den Seher aushält. Es fehlen v. 331-340 und v. 344-350, d. h. Ödipus' zornige Unterredung mit dem schweigenden aber zürnenden Seher. 145 vgl (j en Artikel »Priestertum, Priesterweihe in der christlichen Lehre«, in: RealEncyklopädie fiir protestantische Theologie und Kirche, in Verb, mit vielen protestantischen Theologen und Gelehrten hg. von Johann Jakob Herzog, 18 Bände, 3 Supplement-Bände und 1 Generalregisterband, Hamburg 1854-1868, Band 16, S. 47-52.

242 derholung noch schrecklicher146 und nicht als allmähliche Bestätigung der zögerlichen und überraschten Repliken von Ödipus, die Waldung streicht. 147 Waldungs weiser Tiresias kündigt seine Prophezeiungen über die zu entlarvende Identität des Ödipus erst an, 148 nachdem dieser dem vermeintlichen Verleumder gedroht, 149 Tiresias verspottet und Kreon der Verschwörung bezichtigt hat. 150 Waldung stilisiert Ödipus als egozentrischen Charakter: Er streicht dessen Rechtfertigung für sein Bedrängen des Tiresias, nämlich seinen Wunsch, die Stadt von der Pest zu retten.151 Die darauffolgenden Prophezeiungen des Tiresias, die die Herkunft und Familienverhältnisse des Ödipus enthüllen, wirken als wohlverdiente Warnung. 152 Im zweiten Akt lehnt sich Ödipus entschieden gegen das Schicksal auf, das ihm Tiresias offenbarte. Seine Auseinandersetzung mit Kreon demonstriert die affektive Verblendung, unter der sein politisches Amt leidet. Bereits eingangs zitiert Waldung Ödipus' Verdacht einer Konspiration von Kreon und Tiresias, wie sie Kreon den Bürgern eröffnet (II, 1). Die von Waldung verwendete Übersetzung des Chordistichon stellt Zorn (»ira«) und Verstand (»mentis ex sententia«) des Ödipus gegenüber und beseitigt jede Möglichkeit einer Entlastung etwa durch den Hinweis auf die Notlage. Bei Sophokles dagegen spricht der Chor seinen König damit frei, daß seine Vorwürfe gegen Kreon unter dem Zwang des Zornes und nicht als Urteil seiner wahren Einstellung entstanden seien. 153 Die erneute Frage Kreons nach Bestätigung des Verschwörungsverdachts gegen ihn 154 läßt Waldung die Bürger absolut bejahen, da er den zweiten Halbvers streicht, mit dem der Sophokleische Chor die Bedeutung von Ödipus' Worten für unentschieden hält. 155 Anstatt die Positionen in der Schwebe zu halten, wie es bei Sophokles der Fall ist, vereindeutigt diese Szene einleitend den Konflikt zwischen Kreon und Ödipus (II, 2): 156 Ödipus erscheint als obstinater, mißtraui146

Sophokles, Ödipus, v. 362. Ebd., v. 3 5 0 - 5 4 und Halbvers 355. 148 Ebd., v. 4 1 2 - 2 3 . Es fehlen v. 4 2 4 - 4 2 8 , nämlich die Voraussagung des Unglücks der Kinder und darüber, daß er der unglücklichste aller Sterblichen sein wird. 149 Ebd., v. 366f. 150 Es fehlen Sophokles, Ödipus v. 3 7 3 - 3 7 7 : Ödipus verspottet Tiresias' Aussage, daß Apollo sich rächen würde; es fehlen ferner v. 3 8 0 - 4 1 1 , in denen Ödipus Tiresias und Kreon des Neids bezichtigt, weil nur er das Sphinx-Rätsel lösen konnte. 151 Ebd., v. 4 3 0 - ^ 4 3 . 152 Es fehlen Sophokles, Ödipus v. 445f., d. h. Ödipus' freche Verabschiedung; es fehlen außerdem v. 447-Halbvers 453, d. h. die Einleitung der Prophezeiung, und Tiresias' Überzeugung, daß er den gesuchten Täter kenne. 153 Vgl. ebd., v. 523f.: opyfji ß i a a S s v (lä^Xov f| yvo)|j.T|i v; vgl. die Übersetzung von R. C. Jebb, »Sophocles. Oedipus Tyrannus«, in: Sophocles. The Plays and Fragments, Band 1, S. 109: »this taunt would have come under stress, perchance of anger, rather than from the purpose of the heart.« 154 Sophokles, Ödipus, v. 525 f. 155 Ebd., v. 527. 156 Waldung streicht die v. 5 2 8 - 5 3 1 , mit denen Kreon nach der rätselhaften Antwort des Chores kurz nach Ödipus Verleumdungen erneut fragt. 147

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scher und herrschsüchtiger Monarch, der Kreon nicht zu Wort kommen läßt. 157 Durch die Kürzungen der Stichomythie geht der agonale Charakter der Konfrontation verloren, der Ödipus' Verhalten als nachvollziehbare Kettenreaktion rechtfertigt.158 Wenn Kreon auf die Verdächtigungen von Ödipus fordert, Ödipus solle doch prüfen, ob er, Kreon, den richtigen Orakelspruch brachte, erscheint er als wahrheitsliebender, loyaler Berater. Die unvermittelte Replik von Ödipus, er wünsche Kreons Tod, 159 wirkt als Gipfel seiner Böswilligkeit, hat doch Waldung die bedeutungsvollen Zwischenverse von Ödipus einfach gekürzt.160 Kreons Vorwurf gegen Ödipus, er wisse doch gar nichts, der bei Sophokles als Schimpfrede zu verstehen ist, 161 klingt durch weitere Kürzungen der Stichomythie, herausgelöst aus dem ursprünglichen Streitzusammenhang, als ernstes Urteil: Den bewertenden Ton bekräftigt das hinzugefügte Adverb »recte« in der Übersetzung des Halbverses (»nihil recte scias«). Dieser Vorwurf läßt den Willen des Ödipus als absurden Eigensinn erscheinen. Kreons staatsmännische Antwort, es zieme einem König nicht, schlecht zu regieren (»non profecto regis est ut imperet male«), wendet sich gegen das Amt, das Ödipus bekleidet, und nicht gegen die Person wie der Genitivus Absolutus des Sophokles nahelegt. 162 Um den verfassungsrechtlichen Aspekt der Auseinandersetzung auf Kosten des persönlichen Konflikts zu betonen, läßt Waldung auch die Chorverse weg, in denen der Streit von Kreon und Ödipus als private Angelegenheit erachtet wird. 163 Auch lokaste setzt Waldung als Kontrastfigur zu Ödipus ein. Ihr schreibt er den Halbvers des Chores zu, 164 der zum Frieden und zur Versöhnung der Streitenden mahnt. Eigenschaften des weisen und besonnenen Chores werden hiermit auf lokaste übertragen. Denn Waldung eliminiert den anschließenden Dialog, in dem Ödipus vom Chor erfolgreich an seine vaterländische Verantwortung gemahnt wird; und während der Sophokleische Chor befindet, daß sowohl Kreon als auch der König im Unrecht seien und schließlich doch sein Vertrauen auf Ödipus setzt,165 wird dem Waldungschen Ödipus jedes Recht abgesprochen. Er bleibt nur seinem streit157

Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 536-542, in denen Ödipus Kreons Vorschlag, Tiresias zu rufen, in Zusammenhang mit plausiblen Usurpationsgedanken bringt. Es fehlen ferner v. 547-554, nämlich Kreons Widerstand und Ödipus' gereizte Repliken. 158 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 558-602, d. h. die Stichomythie darüber, warum die Anklagen gegen Ödipus nicht früher erhoben wurden; Kreon widerlegt die Usurpationsargumente, indem er sich als eigennütziger Nebenregierer ausweist. 159 Ebd., v. 623. 160 Es fehlen Sophokles, Ödipus v. 615-621. 161 Ebd., v. 628; es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 624-627, in denen Ödipus den Opponenten Kreon des Neids verdächtigt. 162 Ebd., v. 629: oötoi KCXKGX; öcpxovTcx;. 163 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 631 f. 164 Hier streicht er v. 632f., nämlich die Begrüßungsworte an lokaste. 165 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 646-673, in denen sie ihr Mißtrauen ausfuhrlich am Beispiel des durch Orakel vorausgesagten Todes des Laius illustriert, der nicht von seinem Sohn ermordet wurde.

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süchtigen Charakter treu: Wenn ohne Iokastes Frage nach den Gründen des Streits, Ödipus seine Beschuldigungen gegen Kreon wiederholt, erscheint dies als unmotivierte Fortsetzung des Streits. 166 Dabei setzt Waldung die positive Charakterzeichnung der gottesfürchtigen lokaste fort: Unmittelbar nach ihren beruhigenden Worten, mit denen sie Ödipus versichert, daß kein Sterblicher - so eben auch nicht Kreon - Vergangenes und Künftiges durchschauen kann, streicht Waldung ungläubige Vorbehalte gegenüber Orakeln und Propheten. 167 Die frühneuzeitliche Sanktionierung der delphischen Orakel als Verschlüsselung des Göttlichen hatte ihre literarische Verwertung als Symbole göttlicher Offenbarung etabliert.168 Deren Infragestellung würde der Gottesfurcht widersprechen. Deshalb eliminiert Waldung auch die Geschichte von Laius' Mörder, die lokaste als Beispiel für ein berechtigtes Mißtrauen gegenüber Orakeln berichtet. Durch diese Kürzung wiederum wirkt Ödipus' Frage nach dem Ort des berichteten Geschehens unvermittelt. 169 Ödipus gebärdet sich somit als spröder und beleidigter Angeklagter, der Tiresias' Beschuldigungen widerlegen möchte. 170 Ahnlich unvermittelt klingt Ödipus' Frage nach der Gestalt des Laius, die, wie sich herausstellt, dem Ödipus sehr ähnlich gewesen sei. 171 Er erkundigt sich näher nach den Umständen des Mordes, erahnt die Wahrheit und möchte einen Zeugen des Totschlags herbeibestellen.172 Waldung schließt die Szene und somit den zweiten Akt (II, 3) mit Iokastes Versprechen, alle nötigen Untersuchungsmaßnahmen Ödipus zuliebe zu treffen. 173 Der Altdorfer Dramatiker entfernt jedoch des Ödipus' Bericht über seine Vorgeschichte: über das Orakel, das er als junger Mann bezüglich des Inzestes und des Vatermords erhielt und welches ihn zur Flucht aus Korinth zwang sowie über seine unangenehme Erinnerung an den Totschlag eines alten Mannes, der nach Iokastes Erzählungen Laius sein könnte. 174 Indem Waldung die psychologisch differenzierte Charakterzeichnung im Redeantwortprozeß des Sophokles-Textes kürzt und die Zurückführung der Verbrechen auf ein vorangegangenes Orakel ignoriert, erscheinen Peripetie und Katastrophe im darauffolgenden Akt seines Dramas als unerbittliche 166

Ebd., v. 704 und 706; es fehlt Iokastes v. 705. Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 710-731. 168 Vgl. E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, dt. Übersetz, von Ch. Münstermann, unter Mitarb. von B. Buschendorf und G. Heinrichs, Frankfurt am Main 1981, S. 24. Zu alttestamentarischen Äquivalenten der heidnischen Orakel vgl. auch den Artikel »Segen und Fluch«, in: Real-Encyklopädie fiir protestantische Theologie und Kirche, Band 18, S. 148-154. 169 Sophokles, Ödipus, v. 732. 170 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 738f., mit Ödipus ahnendem, verzweifeltem Schrei. 171 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 746-750, d. h. Ödipus' Ahnungen, daß der Seher recht gesehen habe. 172 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 757-764, in denen lokaste vom Diener als einzigen Zeugen berichtet, der sich danach als Schäfer in den Wald zurückzog. 173 Vgl. ebd., v. 860-863. 174 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 766-859. 167

245 Rache der Vergangenheit an einem eigensinnigen und ehrfurchtslosen Charakter. Führte der zweite Akt die Laster von Ödipus vor, so schildert der dritte Akt seine aus solch charakterlichen Schwächen resultierende Reaktion auf die Handlungsentwicklung. Zwar ist der Handlungsumschlag nicht auf Ödipus' Charakter zurückzufuhren, denn im Unwissen begang die Waldungsche Figur die ihr angeschuldeten Taten ebenso wie die Sophokleische. Indes Waldungs Dramaturgie flicht beständig Hinweise auf den lasterhaften Charakter des Ödipus in die Handlungsetappen ein; seine Handlungsführung ist darauf abgestimmt, einem lasterhaften, religiöse und politische Instanzen ablehnenden Charakter zu entsprechen. Der Handlungsumschlag, eingeleitet durch die Widerlegung der freudigen Nachricht vom Tod des vermeintlichen Ödipus-Vaters (III, 1), wird somit von der Vorenthaltung jeglicher Sympathie für Ödipus begleitet (III, 2): Die Streichung der Verse, in denen Anteilnahme und Hochachtung für Ödipus zum Ausdruck kommen, 175 läßt den Glücksumschlag als wohlverdiente Strafe erscheinen. Waldungs Intention, mit der Peripetie den Gedanken der Gebrechlichkeit alles Menschlichen zu verbinden, bekundet sich in der Interpolation eines Distichon aus dem Ajax, das der Autor an die Auskunft des Boten über die Todesursache des Polybus anhängt: »Et procreatum corpus ingens qualibet, saepe cadit ex causa levi et minimo malo«. 176 Die Verse stammen aus der Rede des Menelaus über den unbedingten Gehorsam und die Disziplin im Staat zum Wohle aller, da auch der Stärkste ohne die Gemeinschaft keinen Bestand habe. Herausgelöst aus dem Kontext des Menelaus-Monologs hat zwar diese Sentenz nur die Funktion, die Idee der Vergänglichkeit aller menschlichen Macht zu amplifizieren. Diese Aussage über Ajaxens bestrafte Selbstüberschätzung, die an Ödipus gerichtet wird, überträgt jedoch zugleich Charaktereigenschaften und Handlungselemente von der einen Tragödie auf die andere: Einerseits wird der Waldungsche Ödipus mit Eigenschaften des zornigen, unfügsamen, ungeduldigen Ajax angereichert, andererseits Ödipus' Ende vorweggenommen. Um ähnlich stoisches Gedankengut bemüht sich Waldung, wenn seine lokaste in einem Zwiegespräch Ödipus auch von der Angst des vermeintlich bevorstehenden Inzestes zu befreien versucht: Sie bestätigt Ödipus, daß das Glück ihm günstig gesonnen sei (»fortuna cedit dextere«), daß man Gewißheit über nichts Künftiges habe und lieber sein Leben ohne Sorgen einrichten sollte (»optimum est longe absque cura vivere«). Die Hilflosigkeit des Menschen vor der Providenz betont Waldung, indem er in Iokastes Worten die

175

E s fehlen Sophokles, Ödipus, v. 911-923, nämlich Iokastes Gebet an Apollo um Ödipus' Beruhigung, es fehlen ferner v. 929-934 als Begrüßungsworte des Boten an lokaste als glücklich zu heißende Gattin des Ödipus und v. 943, nämlich Iokastes Bestätigungsfrage nach dem Tod des Polybus. 176 Sophokles, Ajax, v. 1077, angehängt an den Ödipus, v. 961, des Boten; davor streicht Waldung So ohokles, Ödipus, v. 957ff., nämlich die bestätigende Antwort des Boten auf die Frag des Ödipus.

246 Verse streicht, mit denen sie Ödipus versichert, daß er vor dem Inzest gefeit sei. 177 Wie bereits andernorts durchgeführt, entfernt auch hier Waldung Verse, die Sympathie für den angstergriffenen Helden suggerieren könnten. 178 Unverändert übernimmt Waldung Ödipus' Bericht an den Boten, daß er Korinth floh, da er nicht zum Vatermörder werden wollte. 179 Des Boten Bewußtwerdung, wie folgeträchtig die Angst vor der Orakelerfüllung sei, tritt abrupt ein, so wie die von ihm überbrachte Nachricht, daß Polybus nicht der Vater von Ödipus sei. 180 Waldung reduziert die Einzelheiten der Vorgeschichte, wie sie sich in der bewegten Stichomythie zwischen dem Boten und Ödipus ergeben, auf die wesentlichsten Informationen.181 Der Bote habe ihn auf dem Berg Kithäron gefunden, 182 das Loch an seinem Bein bezeuge es, 183 da er selbst ihn vom Nagel befreit habe; 184 darauf folgen die Fragen des Ödipus nach seinen wahren Eltern, 185 sowie die Auskunft des Boten, daß es ein Hirte von Laius gewesen sei, der das Kind dem korinthischen Boten übergab. 186 Mit dem Rat des Boten, Einheimische zur Erkundimg des Hirten zu befragen, beschließt Waldung die Szene. 187 Iokastes Vorahnung über ihre Mutterschaft und die damit verbundenen Konsequenzen stehen im Mittelpunkt der darauffolgenden Szene (III, 3); Waldung interpoliert in ihre Worten, mit denen sie Ödipus von der entscheidenden Hirtenvernehmung abhalten möchte, Ajax-Verse, die die Frau des Protagonisten, Tecmessa, in Sorge um ihre Liebe und um den Selbstmord planenden Sophokles-Helden ausspricht: »Benevola sie tibi ac tuis fui, obse177

Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 983f. Mit derselben Intention ist Iokastes v. 987 gekürzt, nämlich ihr Ablenkungsversuch durch die Freude über den Tod des Polybus. 178 So fehlen Sophokles, Ödipus, v. 962-972, nämlich Ödipus' Mitleid mit dem Verstorbenen und der Gedanke, daß er gewissermaßen doch sein Mörder war, hat doch Polybus sich nach ihm gesehnt. Es fehlen außerdem Sophokles, Ödipus, v. 988, d. h. Ödipus' Angst vor dem Inzest, weiterhin fehlen v. 990f. und 993, nämlich die Redeantwort mit dem Boten über seine vermeintliche Mutter Merope. 179 Ebd.,v. 994-1001. 180 Hier Kürzung der Stichomythie zwischen Ödipus und dem Boten, ebd., v. 1002-1007 und 1111-1019. 181 Ausgelassen ist Ödipus' Frage in ebd., v. 1121, wieso Polybus ihn sein Kind nannte, worauf der Bote antwortet, er selbst habe ihn Polybus gegeben (v. 1122); es fehlt Sophokles, Ödipus v. 1023, nämlich die Frage des Protagonisten danach, wieso ihn der König annahm, es fehlt v. 1024 des Boten, nämlich die Antwort, daß der König kinderlos war. Es fehlen der zweite Halbvers 1026 bis einschließlich der erste Halbvers 1032, nämlich die Stichomythie zwischen dem Boten und Ödipus darüber, wie er ihn als Kind gefunden habe; es fehlt der v. 1033 mit Ödipus' Verdrängungsversuch; es fehlen v. 1035f. über den Namen des Ödipus; es fehlt v. 1041, nämlich Ödipus' Frage, wer ihn wohl dem Boten gegeben habe; es fehlen v. 1043ff., nämlich Ödipus' Überraschung und seine Fragen zur Bestätigung. 182 Ebd., v. 1026f. 183 Ebd., 2. Halbv. 1032. 184 Ebd., v. 1034. 185 Ebd., v. 1037ff. 186 Ebd., v. 1040 und v. 1042. 187 Ebd., v. 1046.

247 cro / Per contubernalem Iovem, per et tuum, / Cubile quo arcte conglutinatus es mihi«. 188 Die interpolierten Verse substituieren die heftige Stichomythie, in der lokaste Ödipus von seiner Erforschung der Vergangenheit abwenden möchte: Die Hervorhebung der sich um das Heil des Gatten und ihrer Ehe sorgenden, tugendhaften Frau erscheint Waldung gelegener als Ödipus' beständiger Wahrheitsdrang; ohne die Darstellung von Ödipus' Beharrlichkeit andererseits wirkt Iokastes Wunsch noch bedrohlicher, ihr Mann solle nie die Wahrheit erfahren. 189 Die beschützende Haltung der Waldungschen lokaste kontrastiert mit dem erneuten Mißtrauen von Ödipus: Während sich die Bürger über Iokastes traurigen Abgang wundern, unterstellt ihr Ödipus, daß sie sich seiner niedrigen Herkunft schäme. Waldung streicht die solch vermutetem sozialen Stolz entgegengehaltene Erklärung des Ödipus, daß er keine ihn entehrende Abstammung befürchte, da er ein Kind der Tyche sei; denn zum einen würde die Überzeugung von der Gunst des Glücks dem Begriff des »fatum« widersprechen, dessen sich der Waldungsche Ödipus von Anfang an bewußt ist; 190 zudem erschienen Waldung Andeutungen einer Sprengung sozialer Barrieren aufgrund von Glückszuwendungen unangebracht, zielte doch die Schultragödie auf die Darstellung vorbildlichen standesgemäßen Verhaltens. Zum andern würde die Spannung von Iokastes Warnung und Ödipus' Ängstlichkeit zu der entscheidenden Aufhellung hin unterbrochen. Dafür läßt Waldung sogleich den herbeibestellten Hirten herannahen, der in der darauffolgenden Szene zur Anagnorisis führen soll.191 In dem Verhör des alten Hirten, den die Bürger als treuen Laius-Diener wiedererkennen (III, 4), 192 beraubt Waldung die Gesprächsteilnehmer aller Verse, die über die knappe Informationsvergabe hinaus menschliche Anteilnahme, an Kindheitsidylle geknüpfte Nostalgiegefühle und CharakterdifFerenzierung ausdrücken. Nach Ödipus' Frage, ob der Hirt den Korinthischen Boten noch kenne, 193 folgen straff die Erinnerungsstichworte des Boten sowie die Fragen des drohenden Ödipus.194 Der vernommene Hirte bekommt bei 188 189

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Sophokles, Ajax, v. 491^493. Es fehlen Sophokles, Ödipus v. 1062-1067. Ähnlich kürzt Waldung v. 1069-1072, in denen Ödipus den Hirten herbeibestellt und ihn lokaste umso mehr beklagt. Es fehlt zuvor v. 1048, nämlich die Frage des Ödipus darüber, ob man den gesuchten Hirten in den Weiden oder in der Stadt gesehen habe. Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 1080 und das Chorlied Sophokles (v. 1186-1109), das den Kithäron als Vater des Ödipus sowie die Götter und Nymphen preist. Waldung geht unmittelbar zu Sophokles, Ödipus, v. l l l l f f . , über. Es fehlt v. 1110 darüber, daß Ödipus den Hirten niemals gesehen habe und somit die Spannungserhöhung; mit ähnlichem Verlust der Spannung werden v. 1114-1116 gestrichen, in denen Ödipus in den Begleitern des Hirten seine eigenen Bürger erkennt. Vgl. ebd., v. 1117f. Vgl. ebd., v. 1128. Es geht um ebd., v. 1132 und v. 1142-1152. Es fehlt Sophokles, Ödipus, v. 1124, nämlich Ödipus' Frage, welche Aufgabe der Hirt hatte; es fehlen femer v. 1129-1131, nämlich Ödipus' insistierende Frage, sowie die Antwort des Hirten, daß er sich nicht erinnern könne; es fehlen v. 1133-1141, d. h. des Boten Beschreibung der Landschaft.

248 Waldung Züge einer gefürchteten Reliquie aus der Vergangenheit, streicht doch Waldung dessen Anteilnahme an Ödipus' vorausgeahntes Leid: Waldung schreibt darum die Bitte des Hirten, nicht länger mit Fragen gequält zu werden, dem Korinthischen Boten zu und kürzt dessen wohlwollende, zögernd-ausweichende Antworten. 195 Der sprunghafte Übergang von der Enthüllung der Wahrheit 196 zur abrupten Einsicht und Wiedererkennung des Ödipus betont anaphorisch noch stärker die Erfüllung des Orakels, nachdem Waldung die Zwischenverse des Hirten gekürzt hat: Mitleidvoll ließ Sophokles den Hirten berichten, daß er Ödipus dem Korinthischen Boten anvertraut habe, um ihn zu beschützen. 197 Waldung übernimmt unverändert die Sophokleischen Verse der Wiedererkennung des Ödipus. Die Trauer des Sophokleischen Helden um die ihm zum Verhängnis gewordene Herkunft jedoch genügt Waldung nicht. 198 Der neuzeitliche Dramatiker fügt zusätzlich aus der Senecaischen Anagnorisis die Verse über die zu Recht vollzogene Selbstbestrafung für den Vatermord hinzu; er übernimmt von Seneca die als rhetorische Fragen formulierten Wünsche, daß ein letztlich versöhnlicher Gott ihm die Dunkelheit schenkte und die Verbrechen vergebe, und schließlich übernimmt er vom Römer auch das Schuldbekenntnis hinsichtlich des Inzestes. 199 Während für den Sophokleischen Helden das Vergehen also im bedingungslosen Erstreben eines Wissens liegt, über welches nur die Götter verfugen, er jedoch für sich beansprucht hatte, bestehen für den Senecaischen Ödipus die ihm vom »fatum« vorbestimmten Verbrechen in Inzest und Vatermord. Mit den Senecaischen Gedanken der Bestrafung und Rache korrigiert Waldung die bloße Selbsterkenntnis der Sophokleischen Figur. Denn Waldung fügt zu dem subjektiven Schuldempfmden seines Sophokleischen Vorbilds eine objektive Schuld hinzu: 200 Die bis heute umstrittene Interpretation der Kommosverse deutet Waldung so, daß Apollo die leidvolle Bestrafung des Ödipus bewirkt habe, die der Sünder eigenhändig vornahm. 201 Der Sophokleische Text bezieht zweifelsohne die freiwillige Selbstblendung auf Apollo, doch ist das Verhältnis von Heros und Gottheit im Kontext der griechischen Tragödie viel weiter aufzufassen: Ödipus macht sich nicht durch das Apollinische Orakel, sondern durch eigenes Tun schul195 196 197

198 199 200

201

Es geht um Sophokles, Ödipus, v. 1153, der bei Sophokles dem Hirten zugeordnet ist. Es fehlen v. 1159-1161, die des Hirten Zögern ausdrücken. Vgl. ebd., v. 1162-1175. Die Einsicht des Ödipus setzt bei Sophokles in v. 1182 an. Es fehlen davor v. 1176— 1181.

Vgl. ebd., v. 1182-1185 Seneca, Oedipus, v. 1000-1005 und v. 987f. Zur Verteidigung der moralischen Unschuld des Ödipus vgl. E. R. Dodds, »On Misunderstanding the Oedipus rex«, in: M. J. O'Brien, Twentieth Century Interpretations of Oedipus Rex, S. 17-29. Vgl. Sophokles, Ödipus, v. 1329ff.: Apollo habe vollendet, was er gelitten, xlq a' ETfnpe 8ai(iövo)v; Kaxa xeXüv e^a toiS' ¿not icaSea. Naogeorgs Ubersetzung: »Quis deus persuasit hoc tibi? Apollo is est, haec qui mala effecit, mala haec, quae me premunt. Ast lumina, sua nemo percussit manu, Ipse sed ego infelix.«

249

dig.202 Denn das Apollinische Orakel sieht zwar die Zukunft voraus, erzwingt sie aber nicht.203 Daß sich bei Sophokles das Orakel erst durch das freie Zutun des Menschen erfüllt, befriedigt Waldung nicht; er benötigt den bestrafenden Gott, der den Umgang des Menschen mit dem ihm auferlegten unglücklichen »fatum« prüft. Waldungs Figur hat diese Prüfung nicht bestanden; durch negative Figurencharakterisierung vereindeutigt der Schuldramatiker die moralische Verurteilung seines Ödipus. Zu diesem Zwecke erweitert Waldung die monologische Eigencharakterisierung des Protagonisten. So übernimmt Waldung aus Naogeorgs Übersetzung einerseits das Bekenntnis des Ödipus, daß er der verhaßteste unter Menschen und Göttern sei, »hominesque inter invisissimum Diis«, was den Genitivus Separativus der Sophokles-Vorlage verfehlt und die Schuld gegenüber den Göttern auch auf die Menschen überträgt;204 andererseits entfernt Waldung die Sophokleischen Verse, die Ödipus als verantwortungsbewußten König ausweisen: Um das Land nicht länger mit seiner Schande zu belasten, wolle er es verlassen.205 Der Darstellung des Sündertypus folgend, bricht Waldung den Monolog unmittelbar nach der verzweifelten Bitte des Ödipus ab, weggeführt oder getötet zu werden; dabei läßt die Übersetzung aus, daß er dies um der Götter willen wünscht. Waldung eliminiert die abschließenden Verse des Anagnorisismonologs, in denen Ödipus um sein grenzenloses Leid trauert, das er einzig und allein tragen könne. Stattdessen setzt bei Waldung Ödipus gleich mit apostrophischen Anrufungen der verschiedenen Orte und Stationen seines Lebens ein, in denen er die ihm angeschuldeten, für das menschliche Empfinden schändlichsten Taten beklagt.206 Zwangsläufig entfernt Waldung auch die weiteren Verse des Klageliedes und -monologs, in dem Ödipus über die Teilhabe an göttlichem Wissen trauert.207 Die Vereinsamung des Sophokleischen Helden nicht wegen seiner Sündhaftigkeit, sondern aufgrund seines Leids und Unglücks, die bereits eine Verklärung andeutet, wäre dem Waldungschen Konzept des Sünders abträglich gewe-

202

Zur Relation zwischen Apollo und der freiwilligen Selbstblendung, vgl. den neuesten Kommentar von J. Bol lack, L 'Oedipe roi de Sophocle. Le texte et ses interprétations, Presses Universitaires de Lille 1990, Band 4, S. 918. In derselben Richtung vgl. R. P. Winnington-Ingram, »The Oedipus Tyrannus and Greek Archaic Thought«, in: M. J. O'Brien, Twentieth Century Interpretations of Oedipus Rex, S. 81-89, hier S. 85. Zum Begriff Daimon im Sophokleischen Ödipus vgl. K. Reinhardt, Sophokles, Ansbach 1947, S. 104-144. 203 Vgl. E. R. Dodds, »On Misunderstanding the Oedipus rex«, S. 23. 204 Vgl. Sophokles, Ödipus, v. 1345f.: Exi 5e Kai 0EOÎÇ exOpoxatov ßpottov. 205 Ausgelassen sind Sophokles, Ödipus, v. 1290f. Waldung folgt dem Sophokleischen Text in Ödipus' Erklärung, daß er sich selbst blendete, weil es nichts mehr Angenehmes zu sehen gebe, ebd., v. 1333. 206 Ab ebd., v. 1391-1412; Waldung entfernt v. 1393ff., in denen Ödipus über die Aufnahme am Hofe des Polybus klagt, wahrscheinlich, um keine Kritik an des Korinthischen Königs fürsorgliche Barmherzigkeit lautwerden zu lassen. 207 Es fehlen Sophokles, Ödipus, v. 1346-1390. Vgl. B. M. W. Knox, »The Last Scene«, in: M. J. O'Brien, Twentieth Century Interpretations of Oedipus Rex, S. 90-98.

250 sen. 208 Wichtiger ist für Waldungs Drama der Hinweis der Bürger, daß die Ausweisung aus dem Land Kreon obliege, da er als einziger zum Schutze des Landes geblieben sei; ebenso wichtig scheint das erneute Schuldempfinden des Ödipus zu sein: Nach keinem Recht würde Kreon ihm Vertrauen entgegenbringen, da er ihm gegenüber als böswillig ermittelt wurde. 209 Die letzte Szene (III, 5) der Ödipus-Handlung Waldungs präsentiert den hoffnungslosen Sünder, der - anstatt zu bereuen und zu büßen - seine Schuld rekapituliert und damit die Abneigung der religiösen und politischen Kräfte hervorrruft, die er zuvor verachtet hatte. Das Verhältnis von Ödipus und Kreon wird hier anders als bei Sophokles bestimmt; denn Waldung streicht die tolerierenden und wohlwollenden Begrüßungsworte Kreons gegenüber Ödipus 210 sowie sein Zugeständnis, daß er Ödipus willfahren wolle, dazu jedoch Apollos Orakel benötige.211 Kreons wiederholter Hinweis, sich nach dem Wort Gottes zu richten, klingt als eine Ermahnung an Gottes Allmacht; 212 denn Waldung apostrophiert die Behauptung von Ödipus, daß Gottes Wort eben den Verlust des thebanischen Königs bedeute, zu einem eigensinnigen Bestehen auf Selbstzerstörung.213 Das Bild des unbekehrten Sünders verdeutlicht Waldung noch stärker: Gestrichen ist, daß Ödipus Kreons Hinweis zustimmt, er solle Gott vertrauen; gestrichen ist, daß Ödipus teilnahmsvoll von Tod und Beerdigung Iokastes spricht, was dem Waldungschen Aufschub ihres Todes zu einem späteren Zeitpunkt ohnehin widersprechen würde, und gestrichen sind schließlich die Verse über die verantwortungsbewußte Sorge um die Reinhaltung der Stadt. 214 Gelegen kommen dem Schuldramatiker stattdessen, daß Ödipus nach Tod und Grab als Erfüllung seines Schicksals verlangt (»fata nostra me vocent«), 215 wie die Übersetzung des Sophokleischen Konzessivsatzes unmittelbar vor der Passage über die Sorge um seine Kinder lautet; 216 auch die Verse der väterlichen Fürsorge überspringt Waldung, um an der Pointierung der nun durch ihre schändliche Herkunft entehrten Töchter die Folgen der Verbrechen von Ödipus zu illustrieren.217 Wie zu Beginn der Szene, entfernt Waldung auch hier Kreons wohlwollendes Zuvorkommen ebenso wie Ödipus' Dank. 218 208

Ausgelassen sind die Sophokles, Ödipus, v. 1414ff. V g l . ebd., v. 1416-1421. 210 Waldung setzt ebd., v. 1436f. an und streicht davor Kreons v. 1422-1435. 21 ' V g l . ebd., v. 1438f. 212 Vgl. ebd., v. 1442f. 213 Vgl. ebd.,v. 1440f. 214 Ausgelassen sind Sophokles, Ödipus, v. 1446-1450. 215 V. 1458, äXX' T) nev r^cov |ioipa, önoinep Eioixoj, hat bei Sophokles eine andere Funktion, als er hier im Waldungschen Konzept vom festgelegenen »fatum« erscheint. Waldung setzt bei v. 1451 an. 216 Ebd., v. 1459ff. 217 Ebd., v. 1462-1475; Fortsetzung ebd., v. 1479-1493. Es fehlen v. 1463f. darüber, daß sie niemand heiraten werde, wohl weil in der Fortsetzung des Waldungschen Dramas Antigone an Hämon verlobt wird; aus demselben Grund fehlen v. 1493-1514. 218 E S fehlen Sophokles, Ödipus, v. 1476ff. und v. 1494-1514. 209

251 Waldung schließt die Szene und zugleich den Akt mit der Gehorsams- und Schulderklärung des Ödipus, die durch Naogeorgs Übersetzung begünstigt wird: Meint der Sophokleische Held, daß die Götter sein Fernbleiben von der Stadt gern sähen, habe er sich doch als gottlos erwiesen, so beschränkt sich Waldung auf die Selbstcharakterisierung des Götterfeindes, dem die Götter keinen Gefallen gewähren (»sed invisissimus sum dis ego«). Daß er die Konsequenzen solcher Götterfeindschaft bald verfolgen werde, (»Ergo consequeris id cito«), entgegnet ihm der strenge Kreon Waldungs, wogegen die Sophokleische Kreon-Figur die Ausweisungsmöglichkeit offenhält; damit leitet Waldung in den nächsten Handlungsteil über.219

4.1.2.3. Der Bruderstreit nach dem Sündenfall Die Folgen, die die zwangsläufige Abdankung des Ödipus vom Thron nach sich zieht, breitet Waldung im vierten und fünften Akt aus. Dabei stützt er sich im vierten Akt auf Senecas Phoenissae, und folgt im fünften Akt der gleichnamigen Tragödie von Euripides.220 Beim Handlungsverlauf und Ausgang des Bruderstreits entscheidet sich Waldung jedoch für eine Vermischung Euripideischer und Senecaischer Motive: Anders als bei Euripides begeht lokaste nicht über den Leichen der Brüder Selbstmord, sondern stirbt vor dem Wechselmord bei dem Versuch, sich in Selbstaufopferung dazwischenzuwerfen, wie es Senecas Fragment nahelegt.221 Um die Selbstmordproblematik kreist die erste Szene: Antigone versucht ihren nun blinden Vater vom Freitod abzubringen. Waldung entfaltet hier eine Debatte, in der er Antigones stoische Tapferkeit mit der charakterlichen Schwäche und dem Defätismus des Ödipus konfrontiert. Denn Waldung betont in Antigones Ausführungen die Bejahung des Leids, durch welche der Mensch seine Überlegenheit beweise.222 Den Senecaischen Stoizismus des Ödipus, dem der Selbstmord als Heldentat gilt, korrigiert Antigone durch ihren christlichen Neostoizismus.223 Folgerichtig läßt Waldung aus seiner Seneca-Vorlage aus, daß Antigone ihren Vater Ödipus von jeglicher selbst zu verantwortenden 219

Ebd., v. 1519; vgl. R. C. Jebb, »Oedipus Tyrannus«, S. 274, Anm. Waldung bricht bei Sophokles, Ödipus, v. 1519 ab und läßt die Partie aus, in der Ödipus seinem Kontrahenten Kreon Herrschsüchtigkeit vorwirft und der Chor das Schlußlied bringt. 220 Allerdings greift Waldung in V, 2 und V, 3 wieder in Seneca zurück. 221 Vgl. I. Opelt, »Zu Senecas Phoenissen«, in: E. Lefevre (Hg.), Senecas Tragödien, Darmstadt 1972, S. 272-285, hier S. 284. 222 Vgl. Seneca, Phoenissae, v. 79 und 188-192. Es fehlen Seneca, Phoenissae, v. 57f., in denen der Streit der Brüder erstmals eingeführt wird. Es fehlen v. 67-76, die Amplifizierung des Gedankens, daß sie ihm überall folgen würde. 223 Vgl. J. L. Saunders, Justus Lipsius. The Philosophy of Renaisssance Stoicism, New York 1955, S. 111-116. Zur Verwerflichkeit des Selbstmordes in protestantischen Kirchenordnungen vgl. den Artikel »Selbstmord«, in: Realencyklopädie der protestantischen Theologie, Band 18, S. 168-172, hier S. 170. Vgl. Augustin, De civitate Die, I, 16ff.

252 Schuld freispricht und seine heldenhafte Haltung gegenüber seinem Schicksal rühmt, könnten doch diese Senecaischen Momente als eine Idealisierung des Helden verstanden werden.224 Waldungs Ödipus tritt hier unmißverständlich als verzweifelter Sünder auf: in vollem Bewußtsein seiner Schuld, von »nefas« und »impietas«, die sich noch auf seine Nachkommenschaft und alle künftigen Ereignisse auswirke;225 daher weist er zunächst Antigones Wohlwollen zurück, verzichtet freiwillig auf den Thron und sieht als einzig sinnvolle Konsequenz seinen Tod. 226 Wohlweislich läßt Waldung seinen Sünder den Selbstmord preisen, um das Maß seiner Selbstverachtung zu betonen,227 und läßt ihn auch die unvermeidliche Sterblichkeit alles Menschlichen erörtern; der christliche Schuldramatiker entfernt jedoch die Senecaische Überlegung, daß der Freitod Geschenk der Götter und eine heroische Sühnetat für Verbrechen wäre. 228 In Antigones Hoffnung, seinem Leben vielleicht noch vermittels einer Friedensstiftung Sinn zu verleihen, wird erstmals auf das Motiv des Bruderstreits angespielt.229 Ganz entsprechend seinem vorherigen Schuldbekenntnis klagt sich schließlich Ödipus selbst als Urheber des Bruderstreites an (»nefasque nullum, per nefas nati, putant«).230 Die Akzentuierung der Sündhaftigkeit des Ödipus als Ursache des Bruderstreits ist Waldungs Innovation. Zwar führen einerseits Euripides den Bürgerkrieg auf den Verstoß gegen eine aus Angst getroffene Vereinbarung und andererseits Seneca auf den Bruch des freiwillig von den Brüdern geschlossenen Pakts zurück, d. h. auf objektiv gegebene Fakten, die beide antiken Autoren bereits in ihren Expositionen vorgeben.231 Indes Waldung verzichtet auf solche Begründungen und teilt der Ödipodieschen Schande (»nefas«) eine für die Bruderstreit-Handlung dominierende, analog zu dem »fatum« der Ödipus-Handlung bestimmende Rolle zu. 224

Ausgelassen sind Seneca, Phoenissae, v. 185-187, darüber, daß sie ihn nicht zurück zum Hof bringen möchte. Es fehlen v. 193-215, mit der Anklage der Götter, seiner Freisprechung und Heroisierung und der Anklage der Bürger. 225 vgl. ebd., v. 7 und 83 (letzterer verändert in »credis, aliquis est ex me pius?« S. Cl r )Es fehlen Seneca, Phoenissae, v. 12-50, die mythologischen Beispiele parallelen Unglücks, Selbstanklage und der Gedanke, daß er noch schlimmerer Verbrechen fähig sei. 226 vgl. ebd., v. 104 und 140-146. Es fehlen v. 84-93 darüber, daß er der Tugend mißtraut, daß die Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt worden seien, der Unfromme als fromm gilt sowie weitere Paradoxien, so daß einzige Rettung ihm seine Unerlöstheit sei. Es fehlen Seneca, Phoenissae, v. 105-139, in denen Ödipus um das Selbstmordschwert bittet und sein rätselhaftes Schicksal beklagt. 227 Vgl. ebd., v. 216ff. 228 Ausgelassen sind Seneca, Phoenissae, v. 147-152, in denen er den Selbstmord als Gabe der Götter bezeichnet. Es fehlen auch v. 155-181, in denen er seinen Selbstmord als Selbstbestrafung betrachtet. Es fehlen ferner v. 219-240 und v. 242-286 darüber, daß ihn nichts mehr am Leben halten würde, über seine Vorgeschichte mit gleichzeitiger Anklage des ungerechten Schicksals und die Prophezeiungen über den bevorstehenden Bürgerkrieg. 229 Vgl. ebd., v. 288-294; v. 57f. wurden gestrichen. 230vgl. ebd., v. 295-307, hier v. 301; es fehlen v. 308-319, wahrscheinlich, weil sie im Widerspruch zu seiner Abweisung stehen. 231 Vgl. Euripides, Phoinissai, v. 69f. und Seneca, Phoenissae, v. 280.

253

Da der lebensüberdrüssige Ödipus die ihm angesonnene Friedensvermittlung ablehnt, wächst die Erwartung auf den Streitverlauf, mit der Waldung in die nächste Szene überleitet: Der Bote verkündet die Belagerung der Stadt durch den vertriebenen Bruder und bittet um Vermittlung von Ödipus.232 Dieser wiederum erwidert, daß er als letzter würdig sei, zu Gerechtigkeit und Frömmigkeit zu ermahnen (»magister juris et amoris pii«); in sarkastischem Ton malt er den von ihm eingeleiteten Verfall aus, ohne jedoch in der Böswilligkeit Senecas Figur gleichzukommen.233 Doch Waldungs Antigone kann den sündhaften Ödipus zu Willensänderung und Umkehr veranlassen; durch zwei Eingriffe amplifiziert der neuzeitliche Dramatiker die Friedensinitiative seiner Heldin: Zum einen schreibt er ihr die Verse des Boten zur Beschwichtigung von Ödipus' Raserei zu, zum anderen läßt er sie ihre Bitte nicht an lokaste richten, wie bei Seneca, sondern an Ödipus (»aut solve bellum pater, aut primum excipe«).234 Ihm wiederum legt Waldung die Antwort der opferbereiten lokaste Senecas in den Mund, deren Auftritt in dieser Szene wegfällt; der Vers markiert somit den Erfolg der tapferen Antigone, den der Schuldramatiker in Abweichung von seiner Senecaischen Vorlage neu einführt.235 Die Darstellung des Bruderkonflikts borgt Waldung von Euripides. Denn Senecas Drama ist nur als Fragment erhalten und überdies kamen die überlangen Monologe Iokastes zur Befriedung ihrer Söhne wohl für eine Schulbühneninszenierung nicht in Betracht.236 Unbrauchbar schien Waldung der Euripideische Prologos: Er beschränkt sich auf die Exposition durch Iokastes Vorgeschichtemonolog und durch die Teichoskopie des Pädagogus, der von der Belagerung berichtet;237 zudem fehlt im Euripides-Drama die Konfontation zwischen Ödipus und Antigone, deren Auseinandersetzung über den Selbstmord und das Schuldbekenntnis. Deshalb setzt Waldung gleich am ersten Euripides-Episodion an, um Verse des Euripideischen Polynikes für den ersten Auftritt seiner Polynikes-Figur zu entlehnen: aus dessen ängstlichem, mißtrauischem, monologischem Auftritt besteht die erste Szene (V, 1) 238 Waldungs zweite Szene (V, 2) eröffnen die Bürger mit den Versen der 232 Ygi ebd., v. 320-327, allerdings eliminiert Waldung Senecas v. 326, mit dem der Bote die sieben Heere um Theben erwähnt. 233 Vgl. ebd., v. 328-347. Waldung eliminiert die Fortsetzung und den Höhepunkt solchen Sarkasmus, der in den v. 350-362 des Ödipus zum Ausdruck kommt. 234 Ebd., v. 347ff. verbindet Waldung mit den schon in der römischen Vorlage der Antigone zugeschriebenen jedoch an die Mutter gerichteten Versen 403-406 des Seneca. 235 Es fehlen Seneca, Phoenissae v. 362-403, die Boten-Teichoskopie v. 386-402 sowie Iokastes opferbereite Erklärung v. 408-414. Anstelle der Senecaischen AntigoneTeichoskopie, schreibt Waldung seiner Heldin den Vers des Boten zu, mit dem sie den Akt schließt und zugleich das Herannahen der Kriegsführer ankündigt.Vgl. ebd., v. 419 des Boten. Ausgelassen sind Antigones Verse 414-418. 236 Vgl. ebd., v. 443—478, v. 481-585, v. 600-642. 237 Euripides, Phoinissai, v. 1-201. 238 Ebd., v. 261-273. Ausgelassen sind Euripides, Phoinissai, v. 274-279, in denen Polynikes sich vertrauensvoll im Elternhaus umschaut und sich an die Phönizischen Frauen wendet, deren Auftritte Waldung ohnehin aus seinem Drama gänzlich eliminiert.

254 Phönizischen Chorfrauen. Sie kündigen lokaste die Ankunft des Polynikes an.239 Die Begrüßungsworte von Waldungs lokaste entstammen dem Euripideischen Kommos; sie beklagen das Fernbleiben des Polynikes und das Unglück des Vaters.240 Polynikes' Erwiderung endet mit seiner Kindheitsnostalgie und fürsorglichen Erkundigung nach seiner Familie; bei allem Rechtfertigungston zeigt sich Waldungs Polynikes friedensbereiter. Zu diesem Zwecke streicht Waldung zum einen die Stichomythie zwischen lokaste und Polynikes, in welcher letzterer seinen Anspruch auf Thron und Besitz anmeldet;241 zum anderen beziehen sich bei Waldung die in Bürgerworte verwandelten Euripideischen Chorverse, die in der Vorlage die lobenswerte Versöhnungsbereitschhafit des Eteokles loben, eindeutig auf Polynikes: Waldung ersetzt schlicht den Namen Eteokles durch ein Personalpronomen.242 Die positive Charakterzeichnung des Polynikes intensiviert Waldung, indem er ihm gar die Eteokles-Verse der Unterwerfung gegenüber lokaste und gegenüber ihrem Friedenswunsch in den Mund legt.243 Die Szene schließt Waldung mit der Interpolation der Senecaischen Iokaste-Rede, in der die thebanische Königin die Brüder zu versöhnen sucht; die zitierten Verse werden von Senecas lokaste an Polynikes gerichtet, um ihn mit Bürgschaft ihres eigenen Lebens zum Ablegen seiner Waffen aufzufordern.244 Der solchermaßen verharmloste Polynikes tritt auch in der Konfrontationsszene mit dem Bruder als der Beleidigte auf; die Halsstarrigkeit und Raserei der Euripideischen Polynikes-Figur verwandelt Waldung in berechtigtes Mißtrauen: Seine Weigerung, die Waffen niederzulegen, rechtfertigt Polynikes mit der Ungerechtigkeit des Bruders; hiermit steigert sich die Spannung und verlagert sich auf die nächste Szene.245 Waldung setzt den Beginn dieser Szene (V, 3) aus Teilen von Senecas Dialog zwischen Polynikes und lokaste zusammen. Doch während Senecas lokaste den mißtrauischen Sohn auf die Versöhnungsbereitschaft von Eteokles hinweist (»Dum frater exarmatur, armatus mane« v. 482), kehrt Waldung diesen Vers ins Gegenteil um: der Vers soll Iokastes Konzession gegenüber Polynikes ausdrücken und zugleich Eteokles, den beständig bewaffneten, als streitsüchtig charakterisieren: »Dum frater est armatus, armatus mane«. Sodann wendet sie sich an Eteokles mit der Bitte um Waffenstillstand, sei doch er der Herausforde239

Vgl. ebd., V. 296-304. 240 vgl. ebd., v. 304-336. Ausgelassen sind Euripides, Phoinissai, v. 337-355, mit denen lokaste seine Allianz mit Feinden bedauert. 241 Vgl. ebd., v. 379-445. 242 Vgl. ebd., v. 357-377. Ausgelassen ist der Euripides-Vers 378 mit der Frage des Eteokles, ob seine Schwestern sein Exil beweinen. Die Chorverse 443ff. kündigen die Ankunft des Eteokles an. 243 Vgl. ebd., v. 446f. Zwangsläufig streicht Waldung hier die v. 448-51, die nur zu Eteokles als Verteidiger der Stadt passen. 244 Seneca, Phoenissae, v. 467-477. 245 Euripides, Phoinissai, v. 478ff.

255 rer. 246 Hier bricht Waldung die Seneca-Verse ab, um zur griechischen lokaste zurückzuwechseln: Mit den Euripideischen Versen über die Macht der Geduld und Brüderlichkeit tauscht Waldung die Ausführungen von Senecas Figur über die Sinnlosigkeit des Krieges aus, die in Affektausbrüchen der Mutterliebe gipfeln; dabei bezieht der Altdorfer Dramatiker die an Polynikes gerichteten Verse wiederum auf Eteokles, indem er erneut die Anrufung des Namens streicht.247 Die Ermahnungen Iokastes an Versöhnlichkeit und Einigkeit gelten somit Eteokles und nicht Polynikes, dessen Rügen im Euripideischen Text Waldung streicht; hierdurch wirkt Iokastes Zuspruch an Polynikes, das erste Wort zu sprechen, nicht als Nachgiebigkeits-, sondern als Verteidigungsaufforderung:248 In seiner Apologie sieht Polynikes das Recht auf seiner Seite; er habe freiwillig seine Heimat verlassen und die Macht seinem Bruder abgetreten, damit er im nächsten Jahr regiere. 249 Waldungs Polynikes erklärt sich am Ende bereit, sein Heer zurückzuziehen, wenn ihm der Bruder seinen Regierungsteil abtrete; sonst würde er sein Recht ausüben, wofür er die Götter als Zeugen beruft. Zur Steigerung der dramatischen Spannung bricht Waldung mit dieser Androhung ab und bezieht die Götteranrufung nicht wie Euripides auf Polynikes' bevorstehende, unfreiwillige Vertreibimg, sondern auf seinen angedrohten Angriff. 250 Die Gegenrede des Eteokles ist ein Plädoyer für die auf Taten gegründete Macht in Anlehnung an Euripides; die Machtansprüche des Eteokles erscheinen freilich unbegründet, zumal Waldung auch den Vorwurf der Euripideischen Eteokles-Figur gegen Polynikes als Verräter des Vaterlands gestrichen hat. 251 Stattdessen interpoliert Waldung zwei Disticha aus dem Ajax: »Haud ego hominem mihi emerem teruncio, / Qui spebus usque se recreat inanibus. / Sed aut honeste vivere, aut occumbere ? convenit honeste, nobilem natum virum«. 252 Es sind die Schlußworte aus dem ersten Monolog des Troja-Helden, unmittelbar nach seinem verhängnisvollen Zornausbruch. Durch die Aufnahme des Ajax-Textes in die Rede des Eteokles werden Eigenschaften der einen Figur auf die andere übertragen; zugleich vollzieht sich in diesem Figurensynkretismus eine Typusbildung. Der ungerechte Eteokles erhält charakterliche Eigenschaften, wie Stolz und Überheblichkeit, mit denen der Sophokleische Held in die Literatur des Schulhumanismus eingegangen war. Waldung setzt die Zitierung des Euripides mit der Kriegs246

Ebd., v. 480-487. Waldung knüpft bei Euripides an Phoinissai, v. 452 an; vgl. die Anrufung des Polynikes ebd., v. 458. 248 Es handelt sich um Euripides, Phoinissai, v. 465; ausgelassen sind die Verse 466fF. 249 Ausgelassen sind die Euripides-Verse 474f. Waldung streicht auch v. 479-484 darüber, daß Polynikes keine blutige Auseinandersetzung wünsche, wohl weil derselbe Gedanke mit den darauffolgenden Versen ausgedrückt wird. 250 Vgl. Euripides, Phoinissai, v. 485-491; ausgelassen sind die Verse 492-496 und ebd., v. 497f. des Chores, der des Polynikes Rede als klug und besonnen beurteilt. 251 Vgl. ebd., v. 500-510; ausgelassen sind die Verse 511-518. 252 Vgl. Sophokles, Ajax, v. 477-480. 247

256 erklärung des Eteokles fort, die in Überlegungen der Staatsräson gipfelt; alle, sogar unrechtmäßige Mittel, seien für die Gewinnung eines Königreichs gestattet, während die Gottesfurcht anderen Dingen zieme. 253 Iokastes Erwiderung beginnt bei Waldung mit der Anrede des Eteokles als »stultus«; mit einem Vers aus dem Ödipus Coloneus wirft ihm lokaste unangebrachten Zorn vor (»Nil fert ira commodi in malis«). 254 Der Vers des Theseus gilt dem über das undankbare Verhalten seiner Kinder verärgerten Ödipus; Eteokles wird damit von Waldung in eine Reihe mit Figuren wie Ajax und Ödipus gestellt; indem Waldung die gemeinsamen Eigenschaften dieser Gruppe hervorhebt, betreibt er eine Typisierung seiner Figuren: Sie erweist sich als ausschlaggebend für den Aufbau dieses Dramas. Solch synkretistisches Verfahren in der Charakterisierung des Eteokles wirkt jedoch auch auf die charakterisierte Figur, nämlich lokaste, zurück. Neben Ajax' unüberlegtem Tatendrang und Ödipus' Zorn wird Eteokles auch das Laster der »ambitio« verliehen. Waldungs Königin rügt Ödipus' Ehrgeiz, der Menschen und Städte trenne, und hält ihm, mit den Versen der Euripideischen lokaste fortfahrend, das Ideal der Billigkeit vor (»aequitas«). 255 Doch bricht Waldung vor dem Euripideischen Lob der Gleichheit ab, um die in Melanchthons Chrestomathie zitierte Rede der Sophokleischen Athena gegen menschlichen Hochmut aus dem Ajax zu interpolieren;25^ weniger das Euripideische Plädoyer der naturgegebenen Gleichheit, vielmehr die Amplifikation der Ermahnung vor »superbia«, verbunden mit Gottesfurcht und Gottgefalligkeit, entsprechen Waldungs didaktischer Absicht. Durch diese Interpolation werden einerseits Eigenschaften der Weisheitsgöttin auf Waldungs lokaste übertragen, während andererseits der solchermaßen gerügte Eteokles Züge des von Athena ermahnten zornigen Ajax gewinnt, hat lokaste doch schon zu Beginn ihrer Rede den Zorn des Eteokles hervorgehoben. Daß die Euripideische Kritik an Polynikes dadurch ersetzt werden soll, verwundert nicht, denn unmittelbar darauf zitiert Waldung den Euripideischen Eteokles, der die Worte seiner Mutter als »Studium pium« verachtet und seinen Bruder zum Kampf herausfordert. 257 Polynikes begegnet der Herausforderung mit Standhaftigkeit, die Waldung mit einer Sentenz 253

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Eurípides, Phoinissai, v. 521-525. Ausgelassen sind die Chorverse des Eurípides, v. 526f., die Eteokles verurteilen, wohl weil dieselben Gedanken von lokaste ausgesprochen werden. Sophokles, Ödipus Coloneus, v. 592. Vgl. Eurípides, Phoinissai, v. 528-538; es fehlt der Eurípides-Vers 539 und der übrige Monolog der lokaste. Sophokles, Ajax, v. 127-133: »Haec ergo contemplans, superbum dixeris / Nullum ipse verbum caelites contra deos: / Nullumque praefera tumorem, si tibi / Plus quam alteri fuerit opum vel virium. Dies enim una inclinât, ac rursum erigit / Humana cuncta. Semper autem diligunt / Di temperantes, ac perosi sunt malos. / Et si deus quis quempiam vult laedere / Melioris etiam ignavus effugit manus.« Vgl. P. Melanchthon, Institutio puerilis literarum graecarum, Hagenau 1525, abgedruckt in CR 20, S. 183— 191, hier S. 189. Vgl. Eurípides, Phoinissai, v. 588-593.

257 aus der Theseus-Rede in Ödipus Coloneus über die Sinnlosigkeit von Drohungen untermauert, die durch Raserei entstehen (»Proin minae quod plurima permultaque / Furore verba proferuntur inaniter«).258 Somit wird nicht nur aus dem Munde Iokastes, sondern auch aus der Sicht des Polynikes der Usurpator Eteokles dem Typus der Rasenden zugeordnet; dabei entfernt Waldung den Euripideischen Vers, der Polynikes Rache erklärt.259 Durch die Projektion von Eigenschaften des Ödipus und des Ajax auf die Figur des Eteokles geraten Waldungs lokaste und Polynikes verstärkt ins gemeinsame Lager. Denn Waldung reduziert die erhitzte Euripideische Stichomythie zwischen den Brüdern auf zwei Verse von Eteokles, in denen letzterer unnachgiebige Besitzsucht sowie Herzlosigkeit gegenüber der Klage des Polynikes um das Vaterland, die Schwestern und die Mutter an den Tag legt;260 die Trauerrede des Polynikes amplifiziert Waldung mit der Interpolation einer Sentenz aus dem Ajax: »majus haud ullum est malum / Mortalibus, quam tristis est necessitas«.261 Es handelt sich um einen Vers Tecmessas, mit dem sie dem Geliebten ihr trauriges Ende prophezeit, um ihn zur Besinnung zu ermahnen und ihn von seiner tödlichen Tat abzuwenden. Solcher positiven Charakterisierung des Polynikes dient auch ein weiterer Eingriff Waldungs: Einen Halbvers von Eteokles legt er umdeutend Polynikes in den Mund, und aus der melancholischen Betrachtung über den Niedergang des Geschlechts wird dabei ein sentimentaler Abschied.262 Er bildet die Überleitung zu dem Monolog, mit dem Polynikes sich zur Trennung von Vaterland und heimischen Göttern entschließt. Doch bricht Waldung den Monolog vor der Erwägung eines möglichen Sieges und Besitzgewinnes ab, würde doch dies einen Abstieg der idealisierten Polynikes-Figur in Herrschsucht bedeuten. Stattdessen greift der neuzeitliche Autor dem Euripideischen Text vor; er zitiert aus dem nachträglichen Botenbericht über den Ausgang des Bruderstreites: Die vom Boten wiedergegebenen Worte des Eteokles, mit denen der Usurpator die Soldaten schont und sich für einen Zweikampf mit dem Bruder entscheidet, überträgt Waldung auf Polynikes.263 Die lange Szene schließt Waldung mit der Zustimmung des Eteokles zu diesem Zweikampf, womit die Erwartung auf den Vollzug des Kampfes in der darauffolgenden Szene wächst. 258

Sophokles, Ödipus Coloneus, v. 658f. Vgl. Eurípides, Phoinissai, v. 594; es fehlt der Eurípides-Vers 595. 260 Es geht um die Eteokles-Verse in ebd., v. 601 und 616. Ausgelassen sind v. 596-614 und 618-623. Die zitierten Polynikes-Verse sind der erste Halbvers 615, der erste Halbvers 616 und der erste Halbvers 618. 261 Sophokles, Ajax, v. 485f. Vgl. P. Melanchthon, Institutio puerilis litterarum graecarum, CR 20, S. 183-191, hier S. 189. 262 Eurípides, Phoinissai, zweiter Halbvers 624. 263 Yg] ebd., v. 625-633. Es fehlen Eurípides, Phoinissai, v. 634f. sowie v. 635f., mit denen Eteokles seinen Bruder als streitsüchtig verspottet. Stattdessen werden v. 12251230 zitiert. 259

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Die Szene des blutigen Ausgangs (V, 4) enthält die letzten Worte der beiden Brüder sowie Iokastes, welche sich dazwischen wirft, um dem gegenseitigen Brudermord Einhalt zu gebieten. Auch im Aufbau der Szene ist Iokastes vermittelnde Rolle abgebildet: Ihre Rede hat Waldung als symmetrische Achse zwischen den Reden der beiden Brüder eingebaut, wobei er dem Urheber des Streites, Eteokles, zuerst das Wort erteilt. Hierzu knüpft Waldung an die Euripideische Stichomythie von Eteokles und Kreon an, in der beide über die Kriegspläne beraten und Eteokles seinem Onkel erstens das Vermächtnis über die Fürsorge um Antigone und seine Mutter, zweitens das Bestattungsverbot über Polynikes mitteilt; wohlweislich entfernt auch hier Waldung die Verse, mit denen Eteokles den Bruder des Vaterlandsverrats anklagt, ihn an die Flüche des Ödipus als Grund ihrer Vernichtung erinnert und die Götter zur Errettung der Stadt anruft: Die Eliminierung der Flüche und Orakel, die ursprünglich die Handlung dynamisierten, die Abwertung des Eteokles durch Entfernung jeglicher Frömmigkeit sowie die Verharmlosung der Polynikes-Figur erweisen sich für Waldungs Dramaturgie erneut als maßgeblich. 264 Mit einem Vers selbstsicherer Provokation aus dem Ajax, den Eteokles an seinen Rivalen richtet, wirft er sich in den unheilvollen Zweikampf: »si te hoc facere adeo iuvat, / Utere manu, nilque omnium quae cogitas/ Omitte.« 265 Die ironische Replik der Göttin Athena an den sich rüstenden Ajax, die Waldung seinem Eteokles in den Mund legt, wendet sich doch schließlich gegen Ajax selbst. Spiegelbildlich bildet sich das Verhältnis von Athena-Ajax auf das Verhältnis Eteokles-Polynikes ab. Die göttereigene Ironie, die Eteokles für sich in Anspruch nimmt, kehrt sich gegen ihn; so präsentiert Waldung in den letzten Worten des Eteokles nochmals dessen sträfliche Hybris. Für Iokastes Sterbemonolog greift Waldung auf Seneca zurück. Er setzt dort an, wo lokaste die bewaffneten Söhne erblickt und sich als Opfer anbietet, gegen das sie die Waffen richten sollten, anstatt sie gegeneinander einzusetzen. Waldung eliminiert die Verse, in denen Senecas lokaste in selbstzerstörerischem Ausbruch die verfeindeten Heere gemeinsam auf sich zu lenken versucht und schließlich die bisherigen Verbrechen der Familie als unfreiwillige Taten auf die »fortuna« zurückführt; denn dies würde der christlichen Lehre von der Allmacht und Gnade Gottes widersprechen und Waldungs Idealisierung der Mutter Königin widerstreben.266 Ebenso entfernt Waldung Senecas Verse, in denen die Unparteilichkeit und gleichverteilte Liebe der lokaste Ausdruck findet, sondern greift stattdessen erneut in Senecas Text zurück: Er zitiert Iokastes Gegenüberstellung des »pius« und 264

265 266

Waldung zitiert Euripides, Phoinissai, v. 753f., v. 758-761 und v. 774 und streicht die v. 755f., v. 762-773 und den zweiten Halbvers 778-783; zuvor fehlen die Euripides-Verse 690-752. An ebd., v. 778 hängt Waldung Sophokles, Ajax, v. 114f. Seneca, Phoenissae, v. 443f., v. 447ff. und v. 456ff.; ausgelassen sind Senecas v. 445f. und v. 450-455.

259 »non pius« aus ihrer anfänglichen Unterredung mit Antigone, während der die bewaffnete Auseinandersetzung sich noch nicht konkret vor ihren Augen abgespielt und die Verteilung von »pietas« und »impietas« nicht auf Polynikes und Eteokles stattgefunden hat; diese vollzieht sich erst durch Waldungs schrittweise Charakterisierungseingriffe.267 Hiermit endet die Indienstnahme von Senecas Fragment, dessen ausführliche Iokaste-Monologe über die Korruptheit aller Machtverhältnisse Waldung wohl unverwertbar erschienen. Die Bedeutungsverschiebung, die die zitierten Seneca-Verse durch den veränderten Kontext erfahren, ergibt sich auch in der anschließenden Anführung der Verse aus dem Euripideischen Drama als Schluß- und Sterbemonolog des Polynikes: Die letzten Worte des Polynikes an seine Mutter, mit denen er ihr Los, seine Schwester und gar seinen sterbenden Bruder beklagt und seine Liebe zu ihm bekennt, entstammen dem Euripideischen Botenbericht, der Kreon über den Tod Iokastes unterrichtet.268 Polynikes' Anrufung der Schwester Antigone streicht Waldung, um ihrem Auftritt eine eigene, separate Szene zu widmen, die zugleich ihre Einsamkeit auch szenisch abbildet (V, 5). Zur Verdeutlichung ihrer Verlassenheit interpoliert Waldung ein Distichon aus dem Ajax, das Tecmessa bei der Bewußtwerdung des Ajax-Selbstmordes ausruft: »O misera ego. Mox quaeso amici ferte opem / Fortunae in hisce jam necessitatibus«.269 Daran knüpft Waldung eine Zusammenfassung des mehrstrophigen Euripideischen Klageliedes in zehn Versen iambischen Trimeters, obwohl Euripides die Klage der Antigone um die Einsamkeit erst später aufgreift. 270 Nach ähnlich paraphrasierendem und kürzendem Verfahren vorgehend, widmet Waldung eine knappe, neunversige Szene der Unterredung Antigones mit ihrem Vater. Darauf ist ihr gemeinsames Klagelied reduziert (V, 6); während Antigone den Unglücklichen über den Tod von Mutter und Brüdern informiert, beklagt Ödipus das dreifache Unglück und erkundigt sich nach den Leichen der Verstorbenen. 271 Dieser Auftritt des Ödipus nach seinem Fernbleiben in fünf aufeinanderfolgenden Szenen wirkt beinahe unmotiviert. Nachdem Waldung ihn als Urheber des Bruderstreits zu Beginn dieser Handlung eingeführt hat, läßt er ihn gegen Ende der Handlung wieder auftreten, um die dreifache Katastrophe als Bestrafung zu demonstrieren, die ihn als Überlebenden letztlich am stärksten trifft. Der Sünder Ödipus, der mit seinem kurzfristigen Versuch, den Krieg aufzuhalten, scheiterte, eröffnet und schließt somit die Bruderstreit-Handlung, deren Ausgang er als noch tieferen Abstieg erfährt. 267

Ebd., v. 408-412; ausgelassen sind Senecas v. 459-464. Euripides, Phoinissai, v. 1444-1450 und 1453; ausgelassen sind Euripides' v. 155lf., mit denen er die Hand der Mutter auf seine schließenden Augen legt. 269 Sophokles, Ajax, v. 804. 270 vgl Euripides, Phoinissai, v. 1447, nämlich die Anrufung der Schwester. Vgl. ebd., v. 1520 zur Einsamkeit der Antigone; danach knüpft Waldung an Euripides, Phoinissai, v. 1500, dann wiederum an v. 1525ff. und 1535ff. 271 Sophokles, Ödipus, v. 1539f., ausgelassen ist Sophokles' v. 1541fF.; vgl. ebd., v. 1546ff., ausgelassen ist v. 1548f.; vgl. ebd., v. 1551, ausgelassen sind v. I552ff. 268

260 Mit den letzten Worten von Ödipus in Waldungs Drama, für die der neuzeitliche Autor der Euripideischen Schlußstichomythie von Tochter und Vater vorgreift, 272 wird auch das Thema der nächsten Szene angeschnitten: die Bestattung der Leichen, durch welche Waldung die im Euripideischen Schlußepisodion dominierende Auseinandersetzung um die Vertreibung des Ödipus ersetzt. Auch für diese Ersetzung gaben dramenökonomische Gründe den Ausschlag: Denn der Streit um die Bestattung bildet den Anlaß für die zusätzlichen zwei Akte seines Dramas. Kreon verkündet in der letzten Szene (V, 7) des Bruderstreitaktes sein Verbot, den Leichnam des Polynikes zu bestatten; dabei kombiniert Waldung Verse des letzten Euripideischen Episodion mit Versen aus dem Prologos und dem ersten Episodion der Sophokleischen Antigone. Zur Wiedergabe der antiken Bestattungsrituale paraphrasiert Waldung Verse aus dem letzten Botenbericht der Antigone über die nachträgliche Bestattung des Polynikes; an Kreons Eingangsverse in dieser Szene, die Antigone das Klagen verbieten, hängt Waldung die paraphrasierten Verse an und bezieht sie auf die Bestattung aller Leichen außer des Polynikes.273 Bei dem ausdrücklichen Bestattungsverbot und Kreons Gegenüberstellung von Eteokles als Vaterlandsverteidiger und Polynikes als Verräter greift Waldung Kreons Antrittsmonolog bei Sophokles vor, liegt doch diese Charakterisierung bei Euripides nicht vor. Somit nutzt Waldung die offene Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone bei Euripides, um expositorische Elemente für den nächsten Akt einzuflechten: Der ausführliche Wortlaut des Kreon-Gesetzes mit Androhung der öffentlichen Todesstrafe ist auf die Abstempelung einerseits des guten und andererseits des bösen Bruders aus Kreons Sicht gemünzt.274 Um seinem Kreon den dezidierten Widerspruch Antigones deuüich entgegenzuhalten, kehrt Waldung zur Euripideischen Stichomythie zwischen letzterem und der Ödipus-Tochter zurück;275 Kreon legt er wiederum eine dem Euripideischen Vers sinnverwandte Sentenz der Sophokleischen Antigone über die Sinnlosigkeit vergeblicher Bemühungen in den Mund, womit sich Waldungs Vorliebe für Sophokles-Sentenzen erneut bekundet.276 Waldung fährt in der offenen Konfrontation fort, die er teils kürzt und teils paraphrasiert,277 um schließlich endgültig auf den Sophokleischen Text überzugehen; mit Kreons Versen aus dem Ende des ersten Antigone-Episodions, in denen er dem Chor die Überwachung von Polynikes Leichnam befiehlt, beschließt Waldung Szene und Akt.27»

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Vgl. Euripides, Phoinissai, v. 1695, v. 1697 und v. 1699f. Die Szene setzt mit Euripides, Phoinissae, v. 1584 an; danach folgen die paraphrasierten Antigone- Verse und unmittelbar darauf erneut Euripides, Phoinissai, v. 1585f. Die Verkündung des Verbots an die Bürger setzt Waldung mit dem Euripideischen Phoinissai-^!ers 1631 an, fährt jedoch mit Sophokles Antigone, v. 193-196, v. 25, v. 27-31, v. 206 und v. 35f. fort. Euripides, Phoinissai, v. 1657f. und 1665. Sophokles, Antigone, v. 69 anstatt Euripides, Phoinissai, v. 1666. Vgl. ebd., v. 1667 und 1669, v. 1670, v. 1671, v. 1660. Sophokles, Antigone, v. 217, v. 219-222.

261

4.1.2.4. Antigones Sühnetod Die bereits in dem vierten Akt als tugendhaft und tapfer eingeführte Figur der Antigone tritt bei Abschluß des fünften Aktes in offene Opposition zu Kreon; den sechsten Akt widmet Waldung der heroischen Haltung und dem Leidensweg der Antigone, um im siebten den Sturz Kreons darzustellen. Durch den vorweggenommenen Sophokleischen Prolog hat somit die erste Szene nicht mehr expositorische Funktion, sondern konzentriert sich auf die Opposition von Antigones Wagemut und Ismenes Ängstlichkeit. Dementsprechend widmet Waldung den ersten Monolog nicht mehr Antigone, da sich ihre Vorgeschichte erübrigt und ihr Entschluß bereits feststeht, sondern schreitet zu Ismenes Einwänden vor.279 Diese jedoch begrenzt Waldung auf den Geschlechtscharakter und meidet jeglichen politischen Sinn: Der Schuldramatiker eliminiert die Verse der Ismene, die die Bestattung als Verstoß gegen den Willen der Bürger bezeichnen und ablehnen. Stattdessen interpoliert er in Ismenes Worte eine 4/ax-Sentenz, in welcher der Troja-Held Tecmessa zum Schweigen auffordert: »mulierum omatus est silentium«;280 der derart amplifizierte Vorwurf der überschrittenen Geschlechtsbarrieren könnte sich zwar gegen Antigone wenden, indes die Frömmigkeit ihres Anliegens beeinträchtigt es nicht. Das humanistische Schuldrama, dem sich Waldung verpflichtet, ermahnt traditionell zu einem Geburt und Stand angemessenen Verhalten (»aptum«); doch Antigones heroische Tapferkeit wollte Waldung seinem Altdorfer Schülerpublikum wohl als geschlechtsübergreifendes Vorbild märtyrerhafter Frömmigkeit propagieren. Denn um das Sendungsbewußtsein zu betonen, das über die Grenzen der Rationalität hinausgeht und das der Antigone zugesprochen werden soll, schließt Waldung die Szene mit einer Sentenz aus der Elektro, die er Ismene in den Mund legt: »Sed scias, hoc te quidem / Stultam esse facto, at amicam amici approbe, / obtempera. Nam Providentia nihil / Et mente sana utilius est mortalibus.«2Si Die Vorsicht und Besonnenheit, zu welchen der Chor die zur Vergeltung des Agamemnon-Todes entschlossene Elektra auffordert, hält Waldungs Ismene der Schwester entgegen; den elliptischen Sophokles-Satz ergänzend, fordert sie Antigones Gehorsam somit als Beweis ihrer Schwesternliebe. Antigones Auftrag übersteigt jedoch Verwandtschaftsliebe; nicht wie ihr Sophokleisches Vorbild den Familienbeziehungen weiß sich die Waldungsche Figur verpflichtet, sondern einer diesen übergeordneten Religiosität. Im Unterschied zur Sophokleischen Ismene, die ihre Unterredung

279 Waldung setzt bei dem Begrüßungsvers Sophokles, Antigone, v. 1 an, streicht jedoch Sophokles' v. 2-37 und v. 50-59, fährt fort mit v. 60-75. 280 Sophokles, Ajax, v. 293. Waldung streicht dafür die v. 76-79. 28 1 Waldung hängt an Ismenes Verse in Sophokles, Antigone, v. 98f., nach einem Komma die Sentenz des Chores aus Sophokles, Elektra, v. 1015f., an.

262 mit der Schwester in Sympathie und versöhnlicher Anerkennung beendet, schließt Waldung seine Szene mit dem offengebliebenen Konflikt zwischen den beiden Schwestern. Die anschließende Szene (VI, 2) überspringt die Einfuhrung Kreons mit seinem politischen Regierungsprogramm und knüpft unmittelbar an Antigones Verhaftung bei der symbolischen Erweisung der Bestattungsehren. Den geheimnisvollen und naturwunderähnlichen Charakter der zweifach vollzogenen Tat, den die Sophokleischen Wächterberichte suggerieren, ersetzt Waldung mit der bühnenwirksamen szenischen Darstellung des Soldaten, der Antigone bei der Bestattung ertappt. Hierzu dichtet Waldung eigens ein Distichon, mit dem der Soldat der Antigone das Unterlassen ihrer Handlungen befiehlt. 282 Mit dem Demonstrativpronomen (»Haec, haec soror, imprudenter accedens«) ersetzt Waldung das unpersönliche Pronomen »aliquis« seiner Vorlage, nachdem er den Wächterbericht über die Bestattung von anonymer Hand eliminiert hat, und läßt seine Figur als unvorsichtig charakterisieren. 283 Die unmittelbar nach der Beschreibung des Soldaten angeführten Verse aus dem zweiten Sophokles-Episodion der tatsächlichen Verhaftung malen somit die Verhaftung lediglich aus und dienen nicht mehr dem Überraschungseffekt der Täteridentifizierung.284 Umso gewaltiger jedoch wirkt das Zusammenfallen von verbaler Darstellung und Bühnenaktion. Die Szene schließt mit der Ankündigung Kreons, dessen autoritärer Auftritt die darauffolgende Szene beherrscht. Die Übergabe der Verhafteten eröffnet die Konfrontation von Kreon und Antigone (VI, 3), wobei Waldung die zögerlichen und ängstlichen Abschweifungen des Wächters streicht, die bei Sophokles mit der Tapferkeit und Würde seiner Protagonistin kontrastieren. Vielmehr amplifiziert Waldung geradezu die lapidar bestätigenden Verse des festnehmenden Soldaten, auf die er dessen ausfuhrlichen Bericht über die Verhaftung reduziert (»nota dico, certaque, nihilque falsum«). 285 Waldung übernimmt das kurze Verhör der Antigone und ihr mutiges Bekenntnis zu den göttlichen Gesetzen (»deum tutasque leges«). 286 Doch er entfernt das Distichon des Chores über Antigones Leidenschaftlichkeit, die sie vom Vater geerbt habe und somit als natür-

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»Heus te voco: jubeoque, ne qua funus hoc ? Cives sepeliasque, sed ita iacere ut sinas«. 283 Es fehlen - außer der grundsätzlich im Rahmen der Streichung aller Chorlieder entfernten Parodos und der in V, 7 vorweggenommenen Verse - Sophokles' AntigoneVerse 155-244. Waldung setzt erst bei v. 245ff. an, dem er ein eigens hinzugedichtetes Distichon und einen Halbvers voranstellt. Dabei unternimmt er die Interpolation eines weiteren Halbverses in Sophokles, Antigone, v. 246. 284 vgl. ebd., v. 384-386; es fehlen Sophokles' v. 248-331 über die zweite symbolische Bestattung und der Ausdruck von Kreons Mißtrauen und Zorn. 285 Waldung beginnt die Szene mit den Versen des Soldaten, vgl. Sophokles, Antigone, v. 398ff.; es fehlen Sophokles' v. 387-397 und v. 406-439, stattdessen hängt er an Sophokles, Antigone, v. 405 die Wörter »nihilque falsum«. 286 vg] ebd., v. 454. Waldung übernimmt ungekürzt Sophokles, Antigone, v. 441-470.

263 liehe und nicht anerzogene Eigenschaft gilt: 287 Die moralisch indifferente Sophokleische Charakterisierung (tbjiöv) widerspräche Waldungs Figur, die nicht aus Leidenschaft, sondern aus Verpflichtung einer der Natur übergeordneten Instanz handelt. Umgekehrt gestaltet Waldung einen Kreon, der in Unüberlegtheit bis hin zu Raserei ausschreitet. An Kreons Strafandrohungen, die in der Bezichtigung der schuldlosen Ismene gipfeln, kürzt Waldung die ausfuhrlichen Mißtrauensgedanken, um Kreons Handeln als reflexhafte Entschlüsse darzustellen.288 Kreons ausdrücklich geäußerter Wunsch nach Antigones Tod erinnert an die ähnlich lautende Replik des Ödipus (II, 2) und nähert ihn somit demselben Typus an. 289 Antigone kritisiert Kreon als Willkürherrscher, wie Waldung in Anlehnung an Naogeorgs Übersetzung den griechischen Begriff der Tyrannis versteht; für den neuzeitlichen Autor hat der Begriff die spezifisch moralische Bedeutung der Gewaltherrschaft »durch Verstoß gegen Grundnormen christlicher Ethik« im Unterschied zum Sophokleischen Terminus, der ein Synonym für die Verfallsform des Königtums ist. 290 Die Streichung der Verse, in denen Antigone sich auf die Meinung der Bürger beruft, verdeutlicht die »Entpolitisierung«, die der Begriff bei Waldung im Gefolge reformatorischer Staatsethik erfährt. 291 Waldungs Antigone setzt somit Kreons Tyrannei in eine moralische Opposition zu gottesfürchtigem und humanem Königtum, während ihr Sophokleisches Vorbild auf die verfassungsrechtliche Differenz zwischen Monarchie und Demokratie abhebt. Nicht die Relevanz familiärer Bindungen, sondern die Unterscheidimg von »malus« und »bonus«, »pius« und »inimicus« beherrschen bei Waldung den Streit zwischen Antigone und Kreon. Antigones persönlicher, natürlicher Liebe zu dem Bruder verleiht Waldung gesellschaftliche Dimensionen (»amare cum aliis soleo«): Er hebt ihre humanitäre Liebe hervor, indem er den Vers unterdrückt, mit dem der Sophokleische Kreon Antigones Haltung als weibliche Schwäche abwertet.292 Ismenes Anteilnahme und nachträglicher Anhänglichkeit widmet Waldung eine eigene Szene (VI, 4), die der Verherrlichung von Antigones Großmut und Selbstlosigkeit dient; er setzt bei Kreons Verhör an, nachdem er seine mißtrauischen, fast ängstlichen Verse entfernt hat. 293 Die Begeg287

Vgl. ebd., v. 471 f. Vgl. B. M. W. Knox, The Hernie Temper, S. 67. 288 Vgl Sophokles, Antigone, v. 473-490; ausgelassen sind Sophokles' v. 491-496. 289 Ebd., v. 497-507, hier v. 498; vgl. Sophokles, Ödipus, v. 623. 290 Vgl. h . Maudts Artikel »Tyrannis, Despotie«, in: O. Brunner, W. Conze und R. Kosselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1990, Band 6, S. 651-706, hier S. 661 und 667. 291 Sophokles, Antigone, v. 505ff.; zur Bedeutung des Tyrannis-Begriffes bei Sophokles vgl. R. C. Jebb, »Sophocles. Antigone«, Anm. S. 99, und ders., »Sophocles. Oedipus Tyrannus«, Anm. S. 4f. Waldung streicht Sophokles, Antigone, v. 508-519. 292 Waldung übernimmt Sophokles, Antigone, v. 520-524 unverändert; hier vgl. besonders v. 523; er streicht v. 525. 293 Waldung streicht Sophokles, Antigone, v. 526-533, nämlich die Verse der mitleidvollen Beschreibung des Chores, und setzt gleich an v. 535 an.

264 nung von Ismene und ihrer verhafteten Schwester erfahrt bei Waldung eine Verschiebung: Antigone ist nicht die stolze, abweisende Sophokleische Heldin, die die Feigheit der Schwester verspottet; Waldungs Figur sorgt vielmehr für Gerechtigkeit und erklärt sich verantwortungsbewußt bereit, die Todesstrafe alleine auf sich zu nehmen, die Schwester zu schonen und ihr das Leben zu gönnen.294 Antigones Todesbereitschaft erhält schließlich eine absolut moralische Deutung, die naturbedingte Begründungen ausschließt; denn Waldung beseitigt einerseits die Verse der Ismene, mit denen sie die Schwester als betört bezeichnet und sie bei Kreon durch die Last des Familienunglücks zu entschuldigen sucht.295 Kreons Unmenschlichkeit gipfelt andererseits in der Verachtung der Liebe zwischen seinem Sohn und Antigone. In Abweichung von Naogeorg legt Waldung den Vers der Sympathie für Hämon der Antigone und nicht Ismene in den Mund; Antigones Mitleid und Humanität werden dadurch verallgemeinert: Ihr Verhältnis zu dem verstorbenen Bruder gleicht der Beziehung zur Schwester und schließlich zum Verlobten.296 Auch der Schmerz Hämons, den Waldung in diese Szene vorzieht, unterstreicht kontrastiv Kreons Härte und Spott über die Verlobung.297 Die Konfrontation von Sohn und Vater wird damit vorbereitet. In Waldungs Gestaltung der Begegnung von Kreon und Hämon (VI, 5) dominiert der Gegensatz von Gehorsam gegenüber weltlichen Werten einerseits und Frömmigkeit andererseits. Zu diesem Zweck entfernt Waldung aus der sonst vollständig zitierten Vorlage alle Argumente, die den Konflikt zwischen den beiden Oppositionsgliedern >impietas< und >pietas< abschwächen würden, nämlich politische und private Rechtfertigungen. In Kreons Ausführungen über das Gebot der absoluten Fügsamkeit dem Herrscher und seinen Gesetzen gegenüber streicht der neuzeitliche Dramatiker somit die Verse, in denen die griechische Idee von der gegenseitigen Abhängigkeit des Privaten vom Öffentlichen ins Spiel gebracht wird.298 Dementsprechend fehlen auch die Verse, in denen Kreon seinem Sohn Hörigkeit von einer Frau vorwirft, würde doch hierdurch Hämons Sache in eine private Angelegenheit verwandelt und der Streit von der religiösen Ebene auf die private abgleiten.299 Waldungs Kreon, der bereits in der Konfrontation mit Antigone Züge eines von Affekten beherrschten Menschen zeigte, nähert sich hier noch mehr diesem Typus; denn nicht nur läßt der Altdorfer Autor die Chorverse weg, die Kreons Rede als vernünftig befinden. Sondern er mischt in Kreons Rede Verse des Ajax, mit denen der rasende Protagonist den Tod seines Rivalen 294

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Waldung streicht Sophokles, Antigone, v. 539-543, v. 549-554 und v. 556ff., mit denen Antigone ihre Schwester an ihre Ablehnung erinnert. Es fehlen Sophokles' Antigone-Verse 561-567. Es handelt sich um Sophokles, Antigone, v. 572. Waldung eliminiert Kreons (ebd., v. 576-580), in denen er mißtrauisch und ängstlich den Verhaftungsbefehl über beide Schwestern ausspricht. Ausgelassen sind Sophokles, Antigone, v. 658-665. Ausgelassen sind Sophokles, Antigone, v. 677-680. Aus demselben Grund streicht Waldung Sophokles' v. 755.

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Odysseus erwünscht; Waldung ersetzt die Anrede an die Göttin Athena durch die Anrede an den Sohn und läßt somit Kreon sein obstinates Beharren auf Antigones Bestrafung ausdrücken: »Hic mi valebis fili, in aliis ego / Tibi libenter omnibus morem geram./ Ast illa supplicium hoc, nec aliud perferet.«300 Aus der Erwiderung Hämons, der im Namen der gottgegebenen Vernunft für die Dignität von Antigones Tat und für ihre Liebe zum Vater plädiert, entfernt Waldung die Verse, mit denen er Kreon um Nachgiebigkeit ersucht.301 Denn nicht um politische Flexibilität, sondern um das religiöse Prinzip geht es in Waldungs Drama; dementsprechend läßt er Hämons Rede mit der Ermahnung zu Reue und Umkehr schließen (»poenitentia«).302 Hier wiederum zitiert Waldung die Chorverse, die die Billigkeit von Hämons Ansichten betonen.303 Kreons Beharren auf Gehorsam und Abschreckung zu Gunsten der Stabilität des Staates untermauert Waldung mit der Einfügung eines Distichon aus der Rede des Menelaus im Ajax, welcher für die Nicht-Bestattung des unfügsamen Ajax plädierte: »Nec enim unquam bene parebitur / In civitate, ubi nullus est status timor.«304 Zwar richtet sich die Aussage gegen Ajax, doch durch Agamemnons Intervention wird Menelaus' Einwand schließlich widerlegt. Aus Kreons Munde bedeutet es eine Ironie, die sich gegen ihn selbst wendet, da er die Götter verachtet (»inferos«). Ihm stellt Hämon die tugendhafte und besonnene Antigone gegenüber (»non [...] mala«, »non [...] praehensa morbo«), wobei er sich auf die Meinimg des Volkes beruft (»populus aut civitas«).305 Doch auf diesen Vers erschöpft sich die Berufung einer dem Kreon entgegengesetzten politischen Instanz: Waldung streicht die Verse, in denen Hämon seinem Vater Verachtung des Volkes und Repression vorwirft; die politische Auseinandersetzung wird vermieden, während Hämons Einwand sich auf den Primat der religiösen Pflichten konzentriert (»deum calcas honores«).306 Auf Hämons Drohung, sich mit seinem Leben für sein Anliegen einzusetzen, antwortet Kreon mit Spott. Doch Waldung läßt seinen Hämon nicht mit den Wahnvorwürfen seiner Vorlage gegen Kreon fortfahren. Der Schuldramatiker legt Hämon einen Vers in den Mund, mit dem er die Ungerechtigkeit seines Vaters rügt; Waldung verwendet den Chorvers aus dem Ajax, der die Verurteilung von Ajax durch Menelaus verwirft: »Nam dura mordent, sint licet iustissima.«307

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Waldung streicht Sophokles, Antigone, v. 681 f. und hängt an v. 676 die drei Verse aus dem Ajax, v. 112f. an; dabei substituiert er die Anrede der Pallas mit dem Vocativ »fili«. Vgl. Sophokles, Antigone, v. 683, v. 694 und v. 703; es fehlen Sophokles' v. 710717. 302 Vgl. ebd., v. 718; ausgelassen sind Hämons Verse, ebd., v. 723f., mit denen der Sohn seinen Vater Kreon von der Verachtung seines jungen Alters abzubringen sucht. 303 Vgl. ebd., v. 724ff. 304 An ebd., v. 730 knüpft Waldung Sophokles, Ajax, v. 1073f. an. 305 Vgl. W. Waldung, Oedipi tragoedia, 1596, S. D6v. 306 Sophokles, Antigone, v. 745; ausgelassen sind die v. 734-739. 3 °7 Ausgelassen sind Sophokles, Antigone, v. 752-755; an Hämons v. 757 knüpft Waldung Sophokles, Ajax, v. 1119 an. 301

266 Die Widerlegung von Menelaus aus dem weisen Munde des Chores wirkt auf Kreon zurück, hat er doch zuvor mit Menelaus' Worten gegen Hämon und Antigone argumentiert. Waldung folgt in der Gestaltung der Unnachgiebigkeit Kreons und in der Darstellung von Hämons Kränkung (»atrox, doloribus attractus«) dem Sophokleischen Vorbild; er schließt mit Kreons Verlachung der Götter (»inferos deos«). 308 Das Lied, in dem Antigone die Strafen beklagt, die sie für ihre derart verspottete Frömmigkeit erleiden muß, stammt aus den iambischen Dimetern Naogeorgs (VI, 6). Waldungs Bürger bewundern ihre freiwillige Opferbereitschaft (»libera«), lasten ihr jedoch keinerlei Verantwortung und Schuld an. Denn die entsprechenden Strophen hat Waldung getilgt. 309 Mit Antigones Verlassenheitsklagen kontrastiert Kreons mitleidloser Auftritt, dem Waldung eine eigene Szene widmet (VI, 7): Sie beginnt mit der Interpolation eines Ajax-Werses in Kreons Worten, mit dem Ajax kurz vor seinem Selbstmord das Klagen als weibliche Schwäche abwertet: »Proclide valde est mulierum ad luctum genus.«310 Mit dieser Sentenz untermalt Waldung Kreons Unerbittlichkeit. Sein Befehl, die Strafe zu vollziehen, nämlich Antigone einzukerkern und den Hungertod sterben zu lassen, beschließen die Szene. Dem letzten Auftritt Antigones widmet Waldung wiederum eine eigene Szene (VI, 8): Hier beklagt die mutige Kämpferin ihr Ende und den Verzicht auf ihre weltliche Ehe, deren Platz der Tod einnehme. Sie sieht ihrem Empfang im Hades und bei ihren geliebten Verstorbenen entgegen. Bei der Gewißheit der Rechtmäßigkeit ihrer Tat bricht allerdings Waldung den Sterbemonolog Antigones ab. Das Bekenntnis geschwisterlicher Liebe würde den religiösen Grund ihres Handelns abschwächen; mehr noch würden die letzten Zweifel an ihrem Tun, der Wunsch nach Rache und die Klage über ihr unverdientes Leid der Idealisierung der Antigone widerstreben.311 Schilderte der vorletzte Akt den Triumph Kreons, so führt der letzte seinen Niedergang vor. In der ersten Szene (VII, 1) kündigt der Seher Tiresias die Rache Gottes an. Dabei knüpft Waldung unmittelbar an Tiresias' Prophezeiung über den Tod Hämons, den er als Bestrafung für das Bestattungsverbot und für das Todesurteil über Antigone sieht; zu solchen Befehlen sei Kreon keineswegs berechtigt gewesen (»potestas nulla tibi«). Um den Ausführungen des Sehers rechtsnormative Autorität zu verleihen, interpoliert Waldung zwei Verse aus dem Ajax, die den genauen Wortlaut des absoluten Bestattungsgesetzes wiedergeben: »De mortuis lex est: Homo ne feceris / male 308 Waldung zitiert vollständig Sophokles, Antigone, v. 758-780. 309

Waldung zitiert vollständig Sophokles, Antigone, v. 806-822, streicht jedoch v. 8 2 3 875. Waldung setzt wieder bei ebd., v. 876-883 an. 310 Sophokles, Ajax, v. 580, anschließend Sophokles, Antigone, v. 884-890. 311 Waldung zitiert Sophokles, Antigone, v. 891-904 und knüpft wieder an v. 918f., womit er die Szene schließt; ausgelassen sind Sophokles' Antigone-Verse 920-928. Waldung streicht auch v. 929-943, in denen der Chor Antigones lebhaftes Temperament feststellt und Antigone ihren Tod beklagt und die Aufmerksamkeit auf ihr unverdientes Leid lenkt.

267 mortuis. Nam quippiam si feceris, / Damno scias quod maximo mulctabere.«312 Es sind die Verse, mit denen Ajaxens Bruder den unnachgiebigen Menelaus widerlegt. Die Spannung, die bei Sophokles durch Kreons eigenmächtigen Umgang mit dem ungeschriebenen Gebot entsteht, geht in Waldungs Drama verloren. Die in dem Gesetzteswortlaut enthaltene Sanktion der Strafverfolgung impliziert die eindeutige Trennung von gesetzesmäßigem und -widrigem Vehalten; denn die natürliche Ordnung, auf die sich der Sophokleische Tiresias beruft, ist Waldung nicht Instanz genug. Die Ermittlung einer Straftat sowie verhaltensmoralische Vergehen sind die gegen Kreon erhobenen Vorwürfe, auf die Waldung die Begegnung mit Tiresias reduziert: Raserei (»furor«), ungemäßigte Worte (»linguam alere modestior«) und Unbeherrschtheit (»animum que meliorem gerere«). Um auf diese Laster die Aufmerksamkeit zu lenken, umgeht Waldung das allzu deutlich pagane Extispicium und die vehemente Stichomythie zwischen dem Seher und dem erneut spottenden Kreon sowie die Flüche des Tiresias über den bevorstehenden Untergang der Stadt durch Kriege.313 Doch die angedrohten Strafen zeitigen ihre Wirkung: Im zweiten Teil der Szene, verängstigt in der Unterredung mit den Bürgern und wissend um die Unausweichlichkeit des Schicksals (»necessitas«), veranlaßt Kreon die Befreiung der Gefangenen und die Bestattung des Toten.314 Auch Waldungs Tiresias sagt den Tod von Kreons Sohn und Gattin voraus, doch steht diese Prophetie in einer neugestalteten, von der Vorlage in Wortlaut und Inhalt abweichenden Szene (VII, 2): Sowohl Hämons wie Eurydikes Selbstmord werden nicht in Botenberichten geschildert, vielmehr kündigen die Figuren selbst ihren Suizid auf der Bühne an und sprechen zudem eigens zugeschnittene Sterbemonologe. Darin überwinden sie den Sophokleischen Haß.315 Hämons Sterbemonolog knüpft Waldung aus den Versen des Sophokleischen Ajax zusammen, mit denen der Troja-Held Zeus als Zeugen seines Freitodes anruft, um die Bestattung seines Leichnams bittet und Hermes eine gute Seelenführung ersucht.316 Das fromme Gebet ersetzt die Verachtung und die Wut, die der Sophokleische Hämon bis zum Mord312

Sophokles, Ajax, v. 1154f. Ausgelassen sind die Grußworte des Tiresias in Sophokles, Antigone, v. 987ff.; ferner die Antigone-Verse 992-1065 und v. 1080-1086. Zwischen Sophokles' v. 1073 und 1074 interpoliert Waldung die Verse aus Sophokles' Ajax, v. 1154f. 314 Waldung zitiert vollständig Sophokles, Antigone, v. 1087—1110. Es fehlen die Antigone-Ve rse 1111-1114. 3 ' 5 Vgl. ebd., v. 1231f. und v. 1304f. 316 Sophokles, Ajax, v. 824-828 und v. 831-834, zitiert bei Waldung in Naogeorgs Übersetzung: »Post ista vero, primus auxilium mihi / Per Iuppiter: te ferre nempe convenit. / Non adeo magnum munus a te postulo, / Ut assequar. Submitte nobis nuncium / Aliquem, malam hanc de caede famam qui ferat / Viro, ipse longe primus hinc me ut auferat, / Simul ac in ensem incubuero imbutum recens. / Terrestrem at invoco simul Cyllenium, / Animas qui ad infemas solet deducere / Sedes, soporem iniiciat ut mihi bonum, / Saltu simulcum immobili atque praepeti / Hoc improbo mucrone rumpenti latus.« Waldung ersetzt lediglich Naogeorgs »Teucro« mit »viro«.

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versuch an seinem Vater zeigt. Ebenso entfernt Waldung aus Eurydikes letzten Worten die Flüche gegen den Sohnesmörder Kreon und verwandelt sie in ein Gebet an Apollo, den sie um die Mitteilung ihres Todes an Kreon bittet. Auch für Eurydikes Monolog zieht Waldung Verse aus dem Selbstmord-Monolog Ajaxens heran; indem Waldung den Sterbemonolog des Sophokleischen Helden auf Hämon und Eurydike projiziert, überträgt sich auf sie beide dessen ambivalentes Ethos.317 Waldungs Verständnis von Hämons Suizid wird in der Szene der Unterredung zwischen dem Boten und den Bürgern deutlich (VII, 3); darin komprimiert nämlich Waldung den ausfuhrlichen Botenbericht, den Sophokles zur Mitteilung des Hämon-Selbstmordes einsetzt; das Mitleid des Boten mit Kreon, welcher aller Lebensfreude beraubt und Opfer der »fortuna« sei, subsumiert Waldung unter der allgemeineren Aussage über die Nichtigkeit alles menschlichen Lebens.318 Dem Zorn gegen den Vater als Grund für den Selbstmord, den der Sophokleische Text angibt, fugt Waldung als weiteren Grund den Verlust der Verlobten Antigone hinzu; damit wird erstmals ihr Tod mitgeteilt, der nicht als Selbstmord benannt wird, würde doch ein Freitod dem frommen Ethos widersprechen, wie sie es bereits in ihrem ersten Auftritt bekundete.319 Waldung gelingt es somit, Antigones Tod als die Selbstaufopferung einer makellosen Glaubensmärtyrerin zu gestalten. Hämons affektmotiviertem Freitod wird wiederum eine andere Funktion zuteil: Bemühte sich Waldung den Konflikt mit dem Vater von privaten Motiven zu befreien und eher moralisch-religiös zu erklären, so versucht er hier den Selbstmord auf eine private Angelegenheit zurückzuführen und damit ein negatives Beispiel für Unbeherrschtheit zu statuieren. Durch die Verbindimg von Liebesschmerz und Selbstmord bleibt die Idealisierung seiner Figur zwar unvollkommen, doch kommt es nicht zu der moralpädagogisch noch abträglicheren Verbindung von Zorn gegen den Vater (»iratus patri«) und Suizid. Waldung schließt die Szene mit Empfangsworten der Bürger, in denen er einen Chorvers aus dem Ajax über das äußerst gefährdete Schicksal des Protagonisten einflicht.320 Damit projiziert Waldung auf Kreon den Affektüberschwang, der auch Hämon und Ajax charakterisierte. Zugleich kün-

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Sophokles, Ajax, v. 845-853, zitiert bei Waldung in Naogeorgs Übersetzung: »Quique omnia vides tu quoque in celso polo / O Phoebe, qui curru veheris interdiu / Aedes mei quando mariti videris / Paulisper aureas habenas continens, / Has calamitates, et meam hanc tristem necem / Seni marito nuncia infaustissimo, / Opus est sed aggredì ocyus negocium. / Nunc mors veni, nunc quaeso mors me visita; / porro te et illic, cohabitans tibi, alloquar.« Waldung ersetzt »aedes[...] paternas« mit »aedes[...] mariti« und »seni parenti« mit »seni marito« und streicht »et matre«, um die Verse an Eurydike anzupassen. Sophokles, Antigone, v. 1155ff.; es fehlen die Antigone-Verse 1158-1171. Waldung knüpft wieder an ebd., v. 1172-1177 an, er streicht v. 1176 als unbedeutsame Frage. Vgl. ebd., v. 1179: »necatam ob Antigonen«; Waldung verzichtet auf den ausfuhrlichen Botenbericht, ebd., v. 1183-1243. Sophokles, Ajax, v. 786. Vgl. Erasmus' adagium Nr. 18, LB »in acie novaculae«.

269 digt sich darin der Auftritt Kreons an, der in der nächsten Szene das Übermaß seines Unglücks erfahren soll (VII, 4): In einer fiinfversigen Mitteilung unterrichtet der Bote seinen Herrn vom Tod der Gattin und vom Selbstmord des Sohnes, wurde er doch in Waldungs Version nicht in Anwesenheit Kreons begangen.321 Waldungs Kreon folgt dem Klagelied seines Sophokleischen Vorbilds: Er beweint seinen Sohn, bereut seine Unbesonnenheit (»infausta consilia«, »inconsulta temeritas«) und erkennt die Strafe Gottes (»Deus immensum hoc onus imponens«) sowie die Vergeblichkeit menschlicher Bemühungen.322 Waldung fahrt mit der Zusammenfassung von Kreons Klagen fort und zentriert sie um dessen Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen, sähe er doch nach dem Tod von Frau und Sohn keine Lebensstützen mehr.323 Die Lehre aus Kreons heftigen Reueausbrüchen erteilt der unverändert übernommene Sophokleische Schlußchor in einer eigens unterteilten Szene (VII, 5): »Recte sapere, primum obtinet / Locum ad beatitudinem. / Oportet autem et in deos / Nihil impium delinquere. / Nam grandia arrogantium / Dum dicta piagas invicem / Grandes rependerunt suis / Autoribus, vel ultima in / Aetate docuere impios, / Sapere pie ac submissius.«324 Die konzise Form, in der Sophokles cppoveiv, Gottesfurcht und Maß als Bedingimg der Glückseligkeit darstellt, kam Waldung als Epilog seines Dramas gelegen; Sophokles allerdings bezieht den Primat des Verstands auch auf seine spröde, unbesonnene Antigone, was ihrem Heroentum keineswegs widerspricht, vielmehr dessen Voraussetzung ist.325 Waldungs Weisheitsbegriff (»recte sapere«) in der Übersetzung Naogeorgs erfahrt jedoch im Kontext seines Dramas und durch die Idealisierung seiner Antigone-Figur andere Konnotationen: Er richtet sich als Ermahnung ausschließlich an Kreon; gottesfürchtige Frömmigkeit und Bescheidenheit sind die praktischen Ausdrucksformen eines an solcher Weisheit orientierten Lebenswandels, gegen den sich Waldungs Kreon vergangen hat. Für die Rache des göttlichen Schicksals und den absoluten Wert des »pie sapere«, wie Naogeorgs Übersetzung das griechische cppoveiv des letzten Verses spezifiziert, liefert Waldungs Kreon ein warnendes Beispiel.326

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Waldung überspringt Sophokles, Antigone, v. 1244-1260. Vgl. ebd., v. 1261-1269 und v. 1271-1277. Vgl. ebd., v. 1309-1311, v. 1320ff. und v. 1340-1344. Waldung läßt die Beweinung der Gattin in Sophokles, Antigone, v. 1278-1308 und 1312-1319 aus sowie die mehrfachen Interventionen des Chores, die ihm den Tod vorenthalten. Vgl. ebd., v. 1348-1353. Vgl. B. M. W. Knox, The Hernie Temper, S. lOff. Die (ppövnoiq ist etwa bei Aristoteles Nikomachische Ethik (X, 7) eine intellektuelle und keine moralische Fähigkeit.

270 4.1.2.5. Waldungs Deutungstypen der »impietas« In der Charakterisierung von Kreon ist es Waldung gelungen, ihn dem ÖdipusTypus anzunähern und beide Figuren einander anzugleichen. Denn Waldung entpolitisiert das Bestattungsverbot zu einem blasphemischen Akt der Arroganz, ist doch der Waldungsche Polynikes kein gemeiner Landesverräter, sondern Opfer einer Usurpation. Die scheinbar selbständige Bruderstreit-Handlung trägt nicht zuletzt auch zur politischen Neutralisierung des Streitgegenstandes der Antigone-Handlung bei. Die Entpolitisierung von Kreons Konflikt mit Antigone resultiert aus der Unterredung letzterer mit Ismene sowie aus Kreons Auseinandersetzung mit Antigone und schließlich mit Hämon.327 Durch die Hervorhebung der Affekte als Motive von Kreons Handeln vollzieht sich parallel dazu eine Moralisierung. Zorn, Wut, Haß und Verachtung des Priesters verbinden Kreon mit Ödipus, dessen Vergehen keine politische sind. Durch Interpolationen aus dem Ajax und dem Ödipus Coloneus überträgt Waldung Elemente der affektabhängigen Sophokles-Protagonisten auf seinen Kreon. Sowohl Waldungs Kreon als auch sein Ödipus stehen zum Schluß als hoffnungslose, verzweifelte Katastrophenfiguren, die sich den Tod herbeiwünschen. Beide sind Sünder, die ohne ihr Wollen zu Mördern wurden: »qui te non volens occidi«,328 beklagt Kreon den Sohn und die Gattin in seinem Schuldbekenntnis, ähnlich wie Ödipus seine Verbrechen unwillentlich begang. Doch ist Kreon nicht lediglich ein Doppelgänger von Ödipus. Denn bei allen mehrfach geäußerten Schuldbekenntnissen bleibt der Waldungsche Ödipus unreuig; er sieht zwar ein, daß er Unrechtmäßiges tat, doch nicht, daß er eine falsche Gesinnung hatte, wie sie etwa Kreons eingestandene »infausta consilia« darstellen. Diese im Sophokleischen und Senecaischen Text unabänderlich angelegte Unbußfertigkeit des Protagonisten bedurfte aus der Sicht Waldungs einer Ergänzung. Zwar bemüht sich der Schuldramatiker stets, seine Ödipus-Figur mit unbeherrschten Affekten und Lastern zu behaften, die dessen Unglück als wohlverdiente Bestrafung erscheinen lassen; indes wird die Verschuldung durch Vergehen, die in der Vorgeschichte liegen, nicht problematisiert. Der kausale Zusammenhang jedoch von Kreons Untaten und Affektzustand wird szenisch vergegenwärtigt. Kreons Umkehr, die für Sophokles ein Zug mangelnden Heroentums ist,329 verwendet Waldung als Korrektiv der Unbekehrtheit des Ödipus.

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Zur Ausgrenzung des Späthumanismus vom gesellschaftlichen und politischen Leben vgl. E. Trunz, »Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur«, in: R. Alewyn, Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, Köln und Berlin, 3. Auflage 1968, S. 147-181, hier S. 153f. 328 Sophokles, Antigone, v. 1340. 329 v g l . B. M. W. Knox, The Heroic Temper, S. 73. Zur negativen Einschätzung von Absichtsänderungen und Umdenken nach schlechten Erfahrungen im griechischen

271 Die Figur Kreons würde somit Waldungs Vorführung des SünderTypus genügen: anfänglich loyal und während der Ödipus-Handlung mit Tiresias einer Meinung, entwickelt er allmählich boshafte Züge und verfällt der Selbstüberhebung und Arroganz, sobald er an die Macht gelangt; in seiner Affektverblendung überhebt er sich über die Götter und erfährt schließlich die Bestrafung seiner Gotteslästerung. Überflüssig wäre damit für Waldungs Gegenüberstellung des Sünders und der Glaubenskämpferin die Figur des Ödipus. Die ambivalente Rezeption des Ödipus Tyrannus in mythologischen Darstellungen und in der Dichtungstheorie des Humanismus veranschaulichte ohnehin die Probleme seiner eindeutigen Einordnung entweder in den Sünder- oder in den Märtyrer-Typus, deren Vereinigung er ja bei Sophokles ist: Während der Frühhumanismus unter dem Einfluß der Renaissance in Ödipus den Rätsellöser glorifizierte, wertete ihn der protestantische Humanismus aufgrund seiner abscheulichen Verbrechen zum unerlösten Sünder ab; die Tragödientheorie sah in Ödipus das >aristotelisch< sanktionierte Beispiel für Peripetie und Anagnorisis und versuchte, den tragischen Fehler in seine >imprudentia< zu verlegen, in der er die Schandtaten begang und mit der sein Unglück gerechtfertigt erschien.330 Mit strafrechtlichen Kriterien wurden Aspekte untersucht, die in dem System der Sophokleischen Tragödie von sekundärer Bedeutung sind.331 Die minutiöse Ermittlung von Ödipus' Strafbarkeit erwies sich allerdings als notwendig in einer Tragödienpoetik, die sich vorwiegend um das moraldidaktische Drama bemühte. Den Zielen der didaktischen Bühne ist auch der Schuldramatiker Waldung verpflichtet. Waldungs Drama jedoch stellt die Sündhaftigkeit des Ödipus nicht in Frage: Weder wird sie verschwiegen noch retrospektiv analysiert. Denn nicht anders als seine Vorlagen verlegt der Altdorfer Dramatiker die Delikte in die Vorgeschichte; somit kann er in die ÖdipusVorgeschichte nicht eingreifen und schrittweise Idealisierungen oder Dämonisierungen vornehmen, wie etwa bei der Bearbeitung der Figuren von Polynikes und Eteokles. Er verhüllt die Vorgeschichte in ein »fatum«, das er schon zu Beginn seines Dramas zitiert, und verleiht somit den vergangenen Verbrechen das Potential einer mit der menschlichen Natur genuin verbundenen, schier unausweichlichen Sündhaftigkeit. Der Erbcharakter solch prädestinierter Verschuldung wird in der Darstellung des Bruderstreits deutlich: Obwohl Ödipus' Anteil an dem Bruderkrieg nirgends ersichtlich ist, läßt ihn Denken vgl. A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, S.41f. 330 Gegen diese moralisierende Interpretation vgl. E. R. Dodds, »On Misunderstanding Oedipus Rex«, S. 20f. 33 ' Aristoteles, der für die Tragödie die Rücksichtnahme auf das Rechtsempfinden des Publikums mehrfach postulierte, sah gerade für die Vorgeschichte eine Ausnahme vor, vgl. Aristoteles, Poetik, 1454b: "AXoyov 8e HT|8ev eivai ev xöic, JtpäYiiaaiv, ei 8e |ir|, e^co XFJQ TPAYOJSIAQ, oiov TÖ ev TCÜ OiSiitöSi TOU ZotpoKXeouq.

272 Waldung den Verfall der Söhne auf die eigene Sündhaftigkeit zurückführen. Die Versündigung der Kinder erscheint als genetischer Zusammenhang. Vielmehr der Umgang des Ödipus mit der Fatalität der Sündhaftigkeit und weniger die Ermittlung seiner Schuld in der Vergangenheit steht im Mittelpunkt von Waldungs literarischer Gestaltung des Ödipus-Mythos. Sein afFektabhängiger Charakter, der szenisch präsentiert wird, sowie die zu der Vorgeschichte gelüfteten Verbrechen fügen sich zu einer Figur der »impietas« zusammen; denn in der Negation durch Ödipus läßt Waldung gleichwohl den antiken »pietas«-Begriff als »vorbildliche Frömmigkeit, Ehrfurcht und Pflichterfüllung gegenüber den Göttern, dem Vaterland, der Familie und dem Fatum« durchschimmern.332 In diesem christlich beglaubigten Pflichtenkomplex kommt dem »fatum« die Bedeutung der providentiellen Ordnung Gottes zu, auf dessen unerforschliche »arcanae causae« nicht nur Melanchthon gerade in seiner Rezeption der antiken Tragödie rekurrierte, sondern auch Waldungs Vorbild Naogeorg, der in der ersten Vorrede zu seiner Sophokles-Übersetzung sich auf das Leid »arcano Dei consilio« berief.333 »Nullius autem certa Providentia est rei« (III, 2) hält lokaste dem besorgten Ödipus vor. Die Hervorhebung von Ödipus' Mißtrauen, Trotz und Verfolgungswahn bei den Begegnungen mit Tiresias, Kreon und lokaste vergegenwärtigt seinen Widerwillen, dieses »fatum« anzunehmen. Die Sünderfigur des Ödipus verhält sich somit zu Kreon komplementär: Die Verurteilung von »impietas«, Arroganz und Überhebung in Waldungs Schlußwort gilt nicht nur Kreon, sondern auch Ödipus. Beide repräsentieren mit unterschiedlicher Akzentuierung zwei Aspekte menschlicher Sündhaftigkeit, sowohl die angeborene als auch die nach freiem Willen sich aktualisierende. Solche Komplementarität bildet sich auch formal ab, da beider Auftritte jeweils in vierzehn Szenen gleich verteilt sind. Beide Sünderfiguren kontrastiert Waldungs Antigone. Den versündigten Ödipus ermahnt sie, sich nicht gegen seinen Zustand aufzulehnen, beständig auszuharren und im Gegenteil sich in einem patriotisch-heroischen Akt für das Vaterland einzusetzen, den Affekten der Brüder die Kraft der Tugend entgegenzuhalten. Denn Antigone ist ein Beispiel dafür, daß der ererbte Schuldzustand, von dem ja auch sie nicht weniger als ihre Brüder betroffen ist, durch ausharrende Frömmigkeit überwunden werden kann. Trotz der Erbschuld gelingt es Antigone, sich ganz der idealisierten, durch göttergleiche Eigenschaften fast entrückten Iokaste-Figur anzunähern. Antigone stellt 332 Vgl r Hauser s Artikel »Pietas«, in: J. Ritter und K. Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1989, Band 7, S. 971. 333 P. Melanchthon, »De legendis tragoediiis et Comoediis« (1546), CR 5, S. 568. T. Naogeorg, »Iudas Iscariotes, tragoedia nova et sacra, lectu et actu festiva et iucunda. Adiunctae sunt quoquae duae Sophoclis tragoediae, Aiax flagellifer et Philoctetes, ab eodem autore carmine versae« (1553), in: H.-G. Roloff (Hg.), Thomas Naogeorg. Sämtliche Werke, 4. Band, 1. Teil, Dramen V und VI, Berlin und New York 1987, S. 275.

273

sich direkt unter den Willen Juppiters und der Götter, während der Waldungsche Kreon in Abweichung von seinem Sophokleischen Vorbild sich nirgends auf Göttliches beruft: Um den Konflikt zwischen Antigone und Kreon auf den Gegensatz des Weltlichen und Religiösen zu zentrieren, hat der Altdorfer Dramatiker die entsprechenden Sophokles-Verse gekürzt, aus der sich die religiöse Differenz genau so wie die politische Kontroverse der beiden Sophokles-Figuren erhellen.334 Durch die gottesfurchtige Gesinnung, das Wohlwollen gegenüber der ablehnenden Schwester, die konsequente Beseitigung der Leidenschaftlichkeit, der etwa Hämon kurzfristig verfallt, und schließlich durch die freiwillige Selbstaufopferung gestaltet Waldung eine Antigone, die alle Kriterien der »pietas« und des »pie sapere« erfüllt. Der Triumph der »pietas« wird jedoch im Drama Waldungs nicht vorgeführt, die im Schlußwort verheißene »beatitudo« nicht gefeiert. Eine »konsolatorische Antwort«335 implizieren lediglich die Versicherung der Bürger über die Löblichkeit von Antigones Handeln sowie ihre eigene Heilsgewißheit kurz vor ihrem Tod.336 Ahnlich wie die Emblem-Medaillen der dritten und vierten Klasse am Aufführungstag nicht die Belohnung selbst, sondern den Prozeß zur Heilung abbilden, so wohnt Waldungs Schülerpublikum nicht dem »Vollzuge eines göttlichen Heilsplanes« bei,337 sondern der Züchtigung. Sein Drama nannte Waldung schließlich nicht nach der vorbildlichen Figur, sondern nach der »impietas«-Gestalt des Ödipus.338 Der Hervorhebung des Sünders Ödipus zur Titelfigur liegen wohl zunächst gattungsfonnale Überlegungen Waldungs zugrunde. Seine Bemühungen, das Schultheater an die Urform des Dramas zurückzubinden, die griechisch-römische Tragödie zu integrieren, äußern sich nicht nur in der Übernahme des Mythenzyklus, in der Assimilierung der paganen Götter, Orakel und Unterwelt-Topoi, sondern etwa auch in der antikisierenden Beschreibung der Bestattungsrituale, mit denen Waldung seine Modernisierungen ausgleicht. In diesem Sinne eines Gleichgewichts zwischen überlieferter Form und eigener Innovation, zwischen klassizistischer Komprimierung und Episierung drängte sich als vereinheitlichende Gestalt der Stammvater der tragischen Handlung vor: sowohl in seiner poetologischen Relevanz als In334 Waldung streicht in seinem VI. Akt die Antrittsrede Kreons aus Sophokles, Antigone, v. 155-200, in der Kreon sich auf Zeus beruft. Zu den unterschiedlichen Religiositätsauffassungen von Kreon und Antigone vgl. B. M. W. Knox, The Heroic Temper, S. 91-116. 335 H.-J. Schings, »Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels«, in: R. Grimm (Hg.), Deutsche Dramentheorien, S. 19-55, hier S. 37. 336 Vgl. W. Waldung, Oedipi tragoedia, VI, 6 (»inclita igitur, laudemque habens«) und VI, 8. 337 W. Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1974, Band 1/1, hier S. 260. 338 Die Hervorhebung von unfrommen Gestalten zu Titelfiguren war dem Reformationsdrama nicht unbekannt, so z. B. in den Dramen von Waldungs Vorbild Naogeorg {Pammachius, Haman, Judas).

274 begriff des >aristotelisch< Tragischen, die Waldung vielleicht nicht völlig unbekannt war, als auch in seiner Bedeutung als Anfang und Urheber des tragischen Niedergangs in Waldungs Drama selbst. An der Figur des Ödipus konnte Waldung schließlich die umstrittenen Zusammenhänge von ererbter Schuld und persönlicher Verschuldung, Willensfreiheit und Providenz exponieren, die ihn als Naturwissenschaftler sicherlich nicht unberührt ließen.339 Belegt ist die Freundschaft Waldungs und anderer Altdorfer Lehrer zu kalvinistischen Kreisen, womit eine Beschäftigung mit der Prädestinationslehre naheliegt.340 Das synkretische Verfahren erlaubte ihm, Elemente des Senecaischen »fatum« mit der Sophokleischen Autonomie zu verbinden, den Determinismus Senecas zu bannen, indem er die präzise Voraussage der Verbrechen des Ödipus tilgt, und die überquellende Raserei der römischen Figuren durch die milderen griechischen Töne zu ersetzen.341 Ohne eine eindeutige Stellungnahme vom Dramatiker zu fordern, bildet die literarische Darstellung die Faszination der moralphilosophischen und theologischen Fragen ab, die den protestantischen Humanismus mehrfach und kontrovers beschäftigten.342 Die eingehendere Erörterung solcher Probleme schien jedoch für die Altdorfer Schulbühne nicht angebracht: Die Gefahr einer sich verselbständigenden engen Auseinandersetzung mit den antiken Mythen und ihrem Menschen- und Naturverständnis führte zur Abkehr; die Oedipi Tragoedia war das letzte Werk Waldungs, in dem er nach textsynkretischem Verfahren vorging. Er widmete sich von nun an Stoffen und Formen, die einen freieren Umgang mit hagiographischen, mythologischen und biblischen Motiven sowie die eindeutigere Vermittlung einer moralischen Verhaltenslehre ermöglichten.

4.2.

Wandlungen eines Sophokleischen Dramenhelden: Ajax

4.2.1. Frühe Beliebtheit des Ajax im Schuldramen-Repertoire Die große Bedeutung, die der Ajax-Text in Waldungs Altdorfer Drama hat, zeugt von der besonderen Wertschätzung, die dieser frühen Sophokleischen Tragödie im deutschen Humanismus zuteil wurde. Aus dem Ajax

339 Vgl. Artikel »Sünde«, in: Realencyklopädie der protestantischen Theologie, Band 19, S. 132-148, hierS. 140f. 340 Vgl. H. Kunstmann, Die Nürnberger Universität Altdorf und Böhmen, S. 92. 341 Zur Einordnung des Senecaischen Oedipus in die »reine Fatumstragödie« im Unterschied zu dessen Leidenschaftstragödien vgl. G. Müller, »Senecas Oedipus als Drama«, in: E. Leftvre (Hg.), Senecas Tragödien, S. 376-401, hier S. 395, und K. v. Fritz, »Tragische Schuld in Senecas Tragödien«, in: ebd., S. 67-73, hier S. 73. 342 Vgl. J. Kraye, »Moral philosophy«, in: C. B. Schmitt u.a., The Cambridge History of Renaissance Philosophy, S. 303-386, hier S. 314.

275 zitierte man gerne in der Gebrauchsliteraratur, wie etwa in Briefen, Widmungen oder Disputationen. Als Quelle wurde er natürlich in der gehobenen Literatur benutzt; beliebt war diese Sophokleische Tragödie aber vor allem im Schulunterricht und in der Schuldramatik. Die protestantischen Schulordnungen, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach dem Modell der Melanchthon-Sturmschen Lateinschule verfaßt wurden, schrieben nämlich für den Griechischunterricht nicht nur die Lektüre von Prosaikern (wie Äsop, Isokrates, Plutarch und Xenophon) oder das Studium von Dichtern wie Homer und Hesiod, sondern gelegentlich das von Dramatikern wie Sophokles oder Euripides vor. 343 Teil des Unterrichts war auch das Deklamieren griechischer Tragödien - meist zum Zweck von Theateraufführungen, die in den Schulen, in Rathäusern oder auf öffentlichen Plätzen stattfanden. 344 Unter den Sophokleischen Tragödien schien der Ajax für solche sprachdidaktischen Zwecke besonders geeignet, wie zahlreiche Ausgaben belegen: Dieser Befund gilt nicht nur für Frankreich, 345 sondern auch für das deutsche Reichsgebiet: 1533 erschien z. B. in Basel der Ajax als Einzelausgabe mit griechischem Originaltext, begleitet von der lateinischen Versübersetzung des Gräzisten Johannes Lonicerus (1499-1569). 34 6 Der Ajax war als >Klassiker< so etabliert, daß es möglich war, in Verbindung mit ihm weniger bekannte Sophokleische Stücke zu propagieren; darauf läßt die Doppeledition des Gräzisten Claudius Theraeus schließen, der für kurze Zeit über griechische Schriftsteller am protestantischen 343

Vgl. K. A. Schmid, Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unsre Zeit, Stuttgart 1901, fünfter Band, erste Abteilung, S. 25ff., hier besonders S. 27. Zur Erwähnung von Sophokles in der Schulordnung des Breslauer Gymnasiums zu St. Elisabeth vgl. G. Bauch, Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation, Breslau 1911, S. 217. Vgl. A. Schindling, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621, Wiesbaden 1977, S. 265. 344 K. A. Schmid, Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unsre Zeit, 5. Band, 1. Abt., S. 36. 345 Sophoclis Aiax flagellifer [griechisch]. Apud Collegium Sorbonae 1530. Ex officina Gerardi Morrhii Campensis (nachgewiesen bei S. F. G. Hoffmann, Lexicon bibliographicum sive Index editionum et interpretationum scriptorum graecorum tum sacrorum tumprofanorum, 3 Bände, Leipzig 1832ff., hier Band 3, S. 608, G. Brunet, Manuel du libraire et de l'amateur des livres, 9 Bände, Copenhagen 1966-68 [ N Paris 1860-1880], hier S. 452, M. Maittaire, Annales typoraphici ab artis inventae origine ad annum ¡664, Amsterdam 1722-1741, Band 2, S. 741). 346 Sophoclis Aiax flagellifer [griechisch]. Cum latina metrica interpretation Ioannis Loniceri [...], Basel 1533 (nachgewiesen bei S. F. G. Hoffmann, Lexicon bibliographicum. Band 3, S. 608; G. Brunet, Manuel du libraire et de l'amateur des livres, S. 452; E. Harwood, View of the Various Editions of the Greek and Roman Classics, London 1778, S. 20; National Union Catalog, Pre 1956-Imprints, Mansell 1978, Band 556, S. 530). Eine weitere Auflage von Lonicerus' lateinischer Übersetzung erschien 1668 in Wittenberg, versehen mit Anmerkungen von B. Stolberg (nachgewiesen bei S. F. G. Hoffmann, Lexicon bibliographicum, und Ch. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten =Lexicon, Supplement-Band III, S. 2117f.).

276 Gymnasium in Straßburg las. 347 1540 gab er den Ajax zusammen mit der Elektro ausschließlich im griechischen Original in Straßburg bei Wendelin Rihelius heraus. 348 In seiner Widmungsvorrede an den Rektor des Gymnasiums Johannes Sturm (1507-1589) betont der Herausgeber unterschiedslos den erzieherischen Wert beider Tragödien. In der panegyrischen Lobrede konstruiert er eine Übereinstimmung zwischen Widmungsempfanger und Inhalt der Tragödientexte, um den Wert dieser Tragödie hervorzuheben. 349 Wie nur die Lektüre weniger Autoren, wie etwa die des Sophokles, von wahrhaftem Nutzen sei, so sei auch ein Studium unter der Leitung Sturms von wahrhaftem Nutzen, da dieser aus dem Besten das Beste auswähle und dadurch einen Studienerfolg allererst garantiere. Die herausragende Persönlichkeit Sturms dient somit der Aufwertung beider Sophokles-Dramen. Dabei kommt jedoch dem Ajax eine Vorreiterrolle zu; denn der Lobpreis Sturms unterstreicht sowohl dessen »ingenium« und »eloquentia« und betont sein didaktisches wie organisatorisches Talent, für Eintracht unter den Professoren zu sorgen, was Voraussetzung für die Aufirechterhaltung von Kollegien, Akademien und Königreichen sei. 350 Den Tugendkatalog, der Sturm beigemessen wird, schließt der Herausgeber mit einem griechischen Distichon aus der Ilias: Es zieht einen Vergleich zwischen der Beredsamkeit Sturms und einem Wetteifern mit den Argivern, 351 so daß der Inhalt der Ajax-Tragödie vorweggenommen wird. Die Parallelisierung von Sturms Eloquenz mit der Beredsamkeit der Argiver scheint die Reden der Griechen zu antizipieren, die im Schlußakt die Einigling der zerstrittenen Parteien bewirken. Ahnliche Überlegungen dürften auch der Auswahl vorausgegangen sein, die Joachim Camerarius, der erste Herausgeber des Sophokleischen Gesamtwerkes im deutschen Sprachraum (1534), traf; dem nachgelieferten Sophokles-Gesamtkommentar, der 1556 in Basel bei Oporin erschien, fugte Camerarius seine lateinische Übersetzung der Tragödien Ajax und Elektro

347

A. Schindling, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621, S. 266. 348 Primae Sophoclis tragoediae duae Ajax et Electra [griechisch]. Praefatio Claudio Theraei ad Ioannem Sturmium, Straßburg 1540 (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel: Lg 1993). Bei der Wahl der Elektro als Begleitstück ist der Einfluß der Folge der »Byzantinischen Trias« anzunehmen, die Ajax, Elektro und Ödipus Tyrannus umschloß, vgl. A. Turyn, Studies in the Manuscript Tradition of the Tragedies of Sophocles, The University of Illinois Press Urbana 1952, S. 15. Daß Ödipus Tyrannus als Schuldrama zunächst kaum in Betracht kam, versteht sich von selbst. 349 Zur Editionstätigkeit Sturms, insbesondere auch hinsichtlich griechischer Dichter, vgl. den einschlägigen Arikel in W. Killy (Hg.), Literaturlexikon, Band 11, S. 272f. mit weiteren Literaturhinweisen. 350 Cl. Theraeus, »Praefatio ad Ioannem Sturmium«, in: Primae Sophoclis tragoediae duae Ajax et Electra [griechisch], Straßburg 1540, S. 3af. Ebd., S. 3b: HT|TE ä p a (IE ntxV aivee, (XTITE TE VEIKEI / EiScbai y ä p t o i t a ü t a |XET' apyeioiq äyopEÜeii;, vgl. Homer, Ilias, 10, 250.

277 hinzu.352 Dabei würdigte er den Ajax mit einer metrischen Version in lateinischem iambischen Trimeter in Anlehnung an das Versmaß des Originals, während er sich bei der Elektro mit einer Prosaübersetzung begnügte. Analog versuchte Thomas Naogeorg, ein weniger beachtetes Sophokleisches Drama im Windschatten des populären Ajax zu propagieren: Er publizierte seine lateinische Versübersetzung des Ajax zusammen mit dem Philoktet im Jahr 1553 in Straßburg,353 bevor er die lateinische Übersetzung des Gesamtwerks mit eigenen Anmerkungen 1558 vorlegte (gedruckt 1559).354 Die Erstausgabe der beiden Sophokleischen Tragödien widmete Naogeorg 1552 dem Stadtrat von Straßburg, bei dem er sich um eine Kirchendienststelle bemühte. Somit ist zu vermuten, daß Naogeorg mit der Widmung des Ajax die Hoffoung verband, seine Straßburger Adressaten günstig zu stimmen.355 Im Zentrum von Naogeorgs Widmungsvorrede steht die neostoizistische Bewältigung von Ungerechtigkeit und Unglück. Den moralpädagogischen Nutzen der beiden Sophokles-Tragödien sieht Naogeorg sowohl in den sentenziösen Einsichten als auch in der dramatischen Konfiguration (»quivis partim ex sententiis, partim ex personis intelligere potest«).356 Dementsprechend ist Naogeorgs Würdigung des Ajax in seiner Vorrede charakterologisch angelegt. Den Charakter der Hauptfigur generalisiert Naogeorg zum Exempel: Dieses sieht er in der tragischen Fallhöhe von Personen höchster Tapferkeit und Klugheit infolge affektbestimmten Handelns.357 Den tragi352

J. Camerarius, Commentatio explicationum omnium tragoediarum Sophoclis, cum exemplo duplicis conversione [...]. In einer ähnlichen Kombination legte der niederländische Philologe Georg Rataller (1518-1581) seine Sophokles-Übersetzungen vor: Sophoclis Ajax, Antigone et Eleclra, latine Georg Rataller interprete, Lyon 1550 (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel: Poet. 120*230); diese Übersetzung wurde auch in der Sophokles-Gesamtausgabe des H. Stephanus mit abgedruckt (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel: Alv. Bb. 289). 353 Im Jahr 1580 in Straßburg wiederaufgelegt (nachgewiesen bei G. Draudius, [Hg.], Bibliotheca Classica, Sive catalogus officinalis [...], Frankfurt am Main 1611 [Bib l i o t e c a palatina E 1253 / E 1259], hier S. 1197). 354 Sophoclis tragoediae septem, latino Carmine redditae et annotationibus illustrata, per Thomam Naogeorgum Straubigensem. Collectae sunt etiam yv&nai, dictaque proverbialia ex hisce tragoediis, per eundem, adque finem Operis adiectae graece et latine, Basel 1559 (Universitätsbibliothek Tübingen: R Cd 11241). 355 Zur Begründung der Ablehnung mit dem Hinweis, daß Naogeorg »unstellig« sei, vgl. L. Theobald, Das Leben und Wirken des Tendenzdramatikers der Reformationszeit Thomas Naogeorgus seit seiner Flucht aus Sachsen, Leipzig 1908, S. 46. 356 Zitiert wird hier nach T. Naogeorg, »Iudas Iscariotes, tragoedia nova et sacra, lectu et actu festiva et iucunda. Adiunctae sunt quoquae duae Sophoclis tragoediae, Aiax flagellifer et Philoctetes, ab eodem autore Carmine versae« (1553), in: H.-G. Roloff (Hg.), Thomas Naogeorg. Sämtliche Werke, 4. Band, 1. Teil, Dramen V und VI, Berlin und New York 1987, S. 275 (Ü: Jeder kann dies zum Teil aus den Sentenzen, zum Teil aus den Personen erkennen); zur Hervorhebung der nützlichen und schönen Sentenzen in den beiden Sophokles-Tragödien vgl. auch S. 277: »Sunt in utraque Tragoedia perpulchrae atque utiles sententiae, planeque dignae quae memoriae commendentur, quae me etiam impulerunt, ut versioni incumberem.« 357 T. Naogeorg »Aiax flagellifer et Philoctetes«, S. 277: »In Aiace enim ipso cernimus vires corpor s quidem egregias, ab hostibusque invictas, ad hoc animum ad bella et

278 sehen Konflikt des Ajax verallgemeinert Naogeorg in mehrfacher Hinsicht: Ein Opfer der Affekte zu werden, drohe allen kräftigen oder physisch starken Menschen, heidnischen wie biblischen Gestalten.358 Durch den Vergleich des griechischen mythologischen Helden mit den alttestamentarischen Figuren Achab und Samson, die Verdruß, Zorn und Gier gleichfalls nicht mäßigten und deshalb zu Fall kamen, bindet der Übersetzer die antike Welt an die biblische zurück, um so die religionsdidaktische Bedeutung der Sophokleischen Tragödie zu unterstreichen. Vor allem der Freitod Ajaxens als Kulmination seiner Unbeherrschtheit wird zum abschreckenden Beispiel erklärt: Docemur itaque in Aiacis persona temperantiam adhibendam esse affectionibus, frenandasque esse cupiditates, eumque vere fortem qui animum suum possit vincere. Mihi enim frustra ille fortis est, qui pudore superatus aut ira, aut metu, aut libidine, sibi ipse mortem consciscit, licet hoc ethnici in praeclarissimorum facinorum numero ponant. 3 5 9

Die christlich-moralische Bewertung des Selbstmords als Verbrechen, die Naogeorg in Abweichung von seiner antiken Vorlage vornimmt, ist nicht singulär;360 ähnliche umdeutende Eingriffe unternimmt er auch bei der Interpretation der übrigen Figuren der 4/ax-Tragödie, in denen er menschliche Typen sieht. In Odysseus etwa stilisiert er den vorbildlichen Staatsmann, der nach Gerechtigkeit trachte und geradezu als Gegenfigur zu Ajax Affekte wie Haß und Zorn mäßige.361 Eine analoge Typen-Opposition, wie sie Naogeorg zwischen Ajax und Odysseus im Hinblick auf die Affektenmäßigung konstruiert, wiederholt er bei der Charakterisierung der anderen Figuren; er stellt eine Opposition zwiegregia facinora promptum et alacrem, satisque prudentem in rebus bellicis et alienis, at desipientem in propriis, victumque ab ira atque ambitione, ut in extremam incideret calamitatem.« 358 Ebd.: »Conscii enim propriae fortitudinis qua multis possunt prodesse, magnasque res efficere, omnia prima sibi deberi putant, aegerrimeque ferunt sibi quiequam negari: repulsam ignomiminiam, pudorem, dedecus, atque aliqua in re ferre secundas, tanquam crucem mortemque abominantur, fugiuntque.« 359 Ebd. (Ü: Wir werden daher in der Person des Ajax belehrt, daß man seine Affekte zügeln soll und seine Begierden beschränken soll und daß deijenige wahrhaft tapfer ist, der seine Herzensregungen besiegen kann. Denn in meinen Augen ist deijenige vergeblich tapfer, der überwältigt von Scham, Zorn, Furcht oder Triebhaftigkeit, sich selbst den Tod zufügt, mögen auch die Heiden dies unter den großartigsten Taten rechnen.). 360 Zur positiven Beurteilung des Selbstmordes und insbesondere Ajaxens in der griechischen literarischen Tradition vgl. Pauly-Wissowa, Real-Encyklopädie der Classischen Altertumswissenschaft, Neue Bearb. 2. R. II 1, S. 1134f. 361 T . Naogeorg, »Aiax flagellifer et Philoctetes«, S. 276: »Ulisses personam gerit politici et prudentis viri, qui omnia agat cum consilio, aequabilemque se praestet in secundis ad adversis, spectetque aequitatem seposito odio atque ira, aliisque similibus iudicio adversantibus vero.« Naogeorgs Wertschätzung der Odysseus-Figur in Unterschied etwa zu Scaliger schlägt sich auch in seiner Übersetzung selbst nieder, vgl. Naogeorgs Übersetzung des Sophokles, Ajax, v. 955: »Vir certe is plurima perpessu « vs. J. Scaliger »mente dolosa vir«.

279 sehen dem Tyrannen und dem Typus des Ehrfurchtigen her. Denn Agamemnon und Menelaus verträten den willkürlichen, zügellosen Tyrannen-Typus, der keinen Respekt vor den Gesetzen kenne; Naogeorg zieht sogar Parallelen zu dem für seine Gewaltherrschaft berüchtigten römischen Kaiser Caligula (reg. 37-41 n. Chr.) und projiziert somit in die Atriden Eigenschaften von Gewaltherrschern der Christenverfolgungszeit: Agamemnon atque Menelaus tyrannorum typum gerunt, qui freti potentia nihil non audent, imperant et efficere conantur, quique non verecundantur dicere id quod Caius Caligula Antoniae aviae monenti dixisse fertur, Memento mihi in omnia et in omnis licere. Graecorum legibus de sepulturis cadaverum religiöse ac honeste cautum erat, iis tarnen contemptis ob vindictae cupiditatem Aiacem defunetum prohibebant sepeliri, sed canibus volebant vulturibusque obiiei. 362

Den Drohungen der Tyrannen stellt schließlich Naogeorg die Figur des Teuker entgegen, den er zum Vorbild beständiger Bruderliebe erhebt: Quam denique non regium, sed scurrile et turpe est, quod conviciis et maledictis detonant adversus Teucrum fratris tuentem cadaver? Teucer exemplum praebet fratemi et constantis amoris, qui nihil non dicit facitque, ne Aiax frater ludibrio exponatur sepulturaque privetur. 363

Duch die Konfiguration von Tyrann und Tugendheld, die Stilisierung Ajaxens zum Törichten und Odysseus zum Klugen ordnet Naogeorg die AjaxTragödie in das Repertoire der moralisch instruktiven Dramen ein. 364 Auch der renommierte Philologe und Herausgeber Joseph Justus Scaliger (1540-1609) legte eine 4/ax-Tragödie vor, die er als einziges Sophokleisches Werk ins Lateinische übersetzte: Die Erstausgabe seiner Übersetzung, um 1565 entstanden,365 erschien 1573 in Paris und wurde wiederholt aufgelegt.366 Die Version des 1562 zum Calvinismus konvertierten eifrigen Gräzi362

T. Naogeorg, »Aiax flagellifer et Philoctetes«, S. 276 (Ü: Agamemnon und Menelaus führen sich als Tyrannen auf, die auf ihre Macht vertrauend, alles wägen, befehlen und zu erreichen suchen, und die sich nicht schämen, das zu sagen, was - wie überliefert wird - Gaius Caligula seiner Großmutter Antonia, die ihn ermahnte, sagte, >Denke daran, das es mir erlaubt ist, über alles und über alle die Macht zu habenv und schwächt

374

Ebd., v. 42; vgl. T. Naogeorg »Et fecit armenta impetu innocentia?«. Ebd., v. 46. 37< > Ebd., v. 56. 377 Ebd., v. 61; vgl. T. Naogeorg »Quievit a caede hac«. 378 Ebd., v. 175. 379 E b d . , v. 183 (ppevööev y' ÉJt'ótpioTepá [...] êflaç; vgl. T. Naogeorg »ad laevam mentem errasses«. 380 Ebd., v. 1061; vgl. T. Naogeorgs Übersetzung des Begriffs Hybris in diesem Vers mit »iniuria«. 38 1 Ebd., v. 59; vgl. Naogeorg »furentem insaniis diris virum«. 382 Ebd., v. 185; vgl. Naogeorg »divinitus morbus«. 383 Ebd., v. 274; Naogeorg »quam desiit furore«. In ihrem Klagelied fügt sie der Erinnerung an Ajaxens Wahnausbruch das Epitheton »amens« bei, vgl. ebd., v. 233. 375

284 mittels einer Litotes den Einfluß der göttlichen Macht: »non humanitus ea doctus«. Während Naogeorg nicht nur den Daimon beibehält, sondern ihn sogar als eine Wirkungsmacht des Bösen verteufelt (»genius docuit malus«384), betont also Scaliger den zugrundeliegenden, letzlich menschlichen Maßstab der Wahnepisode. In Scaligers Übersetzung durchzieht dieser anthropologisch-charakterologische Bewertungsmaßstab den zweiten Akt: Er handelt von der Ernüchterung und der daraus entspringenden Verzweiflung des Sophokleischen Protagonisten. Während Scaliger in seiner Version von der Leitidee eines philosophischen Skeptizismus ausgeht, sieht Naogeorg den Sophokleischen Helden aus einem engen moralischen Blickwinkel. So kommen beide Übersetzungen zu divergenten Bewertungen bezüglich der Einsicht des Ajax in seine Raserei. Scaliger wertet Ajaxens Verweiflung keineswegs moralisch ab, sondern präsentiert ihn in Richtung auf eine philosophische Skepsis gewissermaßen wertfrei. Damit kontrastiert Naogeorgs moralische Bearbeitung, die den Zustand der Verzweiflung als selbstverschuldete, isolierte seelische Krankheit verurteilt: mit dem Begriff der »aegritudo«, welcher Seelenkrankheit und Sünde impliziert, gibt der deutsche Geistliche die von Tecmessa festgestellte A,\)JCTI Ajaxens wieder; Scaliger übersetzt indessen die Traurigkeit seines Protagonisten mit Betonung der geistigen Komponente als »mentis dolor«.385 Seine moralisch-nosologische Diagnose legt Naogeorg auch in den Mund des Chores, der den Zustand Ajaxens (XurteiaGai) als Übergang in »aegritudo« beschreibt, während Scaliger dessen Gemütsverfassung gar zur Reue aufwertet: »morbi prioris poenitudine anxius«.386 Somit verleiht Scaliger seiner Figur den vorbildlichen Charakterzug des Selbstzweifels und der Reue, den ihm die christlich-moralische Auslegung Naogeorgs geradezu verwehrt, indem sie Ajaxens Verzweiflung zur Sünde degradiert. Wenn Scaliger im Unterschied zum ersten Akt hier seinen Chor die vorausgegangene Metzelei als »morbus« bezeichnen läßt, so hat dies keinen moralisch diskreditierenden Charakter, sondern unterstreicht nur Ajaxens skeptische Einsicht in die Fremdheit eigenen Handelns. Die nosologische Diagnose vermeidet Scaliger in der externen und daher Objektivität beanspruchenden Betrachtung des Wahns im ersten Akt, um aus dem Betragen seiner Figur morbide Dimensionen zu entfernen und ihr allgemein menschliche abzugewinnen; in der Selbstreflexion Ajaxens greift er das Krankheitsargument auf und entlastet durch die moralische Neutralität des Krankheitszustandes den Helden 384 385

386

Ebd., v. 244. Ebd., v. 275. Zur »aegritudo« als Synonym der >acedia< und deren semantische Ansiedlung »zwischen Sünde und Krankheit« vgl. R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übers, von Chr. Buschendorf, Frankfurt am Main 1990, S. 360, Anm. 18. Sophokles, Ajax, v. 337; vgl. Naogeorg »pristinum ob furorem in aegritudine cecidisse«. Vgl. Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a losepho Scaligero Iulii F. translatus, v. 279.

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von jeglicher Schuld. Der Humanisierung der Scaligerschen Figur im ersten Akt entspricht somit die Aufhebung ihrer Schuld und ihre moralische Aufwertung im zweiten Akt. Neben der Wahn- und Melancholiewahrnehmung in den Worten der Tecmessa und des Chores zeigt sich die abweichende Konzeption der beiden Übersetzer auch in der Eigencharakterisierung des Protagonisten: Der Scaligersche Ajax erklärt seine Trauer durch die Unvereinbarkeit seines Handelns mit seinem heroischen Ansehen in der Gesellschaft (»pudet cachinni: contumeliae pudet«), während Naogeorg auf eine moralische Selbstkritik abhebt.387 Der moralischen Verurteilung des Wahns wirkt jedoch Scaliger entgegen, indem er im nachhinein und gerade aus der Perspektive der Eigencharakterisierung vom krankhaften Zustand einer »insania« spricht, durch den Ajax, von dem Atridenmord zurückgehalten, sich und die Atriden gerettet sieht: »me [...] repressit obiecta impotente insania«. Ein Götterschicksal (»Iove fata«) ist für den Scaligerschen Ajax die eingreifende Instanz, während Naogeorg auf die grausam bestrafende Göttin Athena hinweist.388 Führt Naogeorg den Wahn Ajaxens auf dessen Zorn und der daraus resultierenden göttlichen Bestrafung zurück, so erscheinen die Götter bei Scaliger in beschützender Funktion oder gewissermaßen humanisiert. Humane Eigenschaften werden über den als anthropologische Konstante beglaubigten »furor«-Begriff vermittelt. Durch den einheitlichen Begriffsgebrauch für die Gefühlsausbrüche von Göttern und Menschen ebnet Scaliger die StatusDifferenz ein. So hat er schon die Rache des Kriegsgottes Mars (jiojwpov) als Zornausbruch aufgrund von Raserei (»furoribus irae«) wiedergegeben,389 die der Chor mit Ajaxens Wutanfall vergleicht. Auch Athenas Zorn (jiTjviq) münzt Scaliger in »furor« um, während Naogeorg originalgetreu von »iracundia« spricht.390 Erst den verzweifelten Zustand Ajaxens überträgt Scaliger in Anlehnung an seine Vorlage als hypothetische »Deum ira« (7CÄ.TIYT|), da der Scaligersche Chor in seiner Ratlosigkeit die Schwermut seines Heerführers nur als Götterwerk erklären kann.391 Indem Scaliger den Zorn der Götter, die er bereits über den gemeinsamen Nenner des »furor« humanisiert hat, zur Begründung für Ajaxens verwunderliche Depression in Erwägung zieht, befreit er im Unterschied zu Naogeorg seine Figur von jeder Schuld für seinen schwermütigen Zustand. Denn anstelle der Scaligerschen Vermutung eines Götterzorns, führt Naogeorg die Angst vor Gottes Schlag ins Feld: Zum einen, indem er die abschwächende Vermutung zu einer rhetorischen, Affirmation fordernden Frage verwandelt, zum andern indem er den Götterzorn-Begriff, mit Synonymen wiederholend, amplifi387

Sophokles, Ajax, v. 367; vgl. Naogeorg »Hei mihi, quando haec cachinno digna sunt? Heu turpitudinem in quantam incidi.« 388 Ebd., v. 450fF.; vgl. Naogeorg »errare rabie fecit immissa truci«. 389 Ebd., v. 182. 390 Ebd., v. 757. 39 ' Ebd., v. 278f.

286 ziert. 392 Keineswegs ignoriert also Scaliger die bestrafende Instanz der Götter, 393 doch erklärt er auch nicht vorbehaltlos den Wahn und die Schwermut Ajaxens aus dem Blickwinkel eines göttlichen Bestrafungsakts, der eine persönliche Verschuldung seines Protagonisten voraussetzen würde. Solcher moralischen Rehabilitierung seiner Figur entspricht die Vorurteilslosigkeit Scaligers, an Ajax ein vorbildliches ethisches Exemplum zu statuieren: er übersetzt mit dem Begriff »mores« die Naturanlage seines Protagonisten (cptiaiv), als dieser sich seinem Sohn Eurysaces als moralisches Vorbild hinstellt.394 Die Umdeutung des Natürlichen ins Ethische hat ihre Gründe in einer Geringschätzung des Physischen; Scaliger berücksichtigt diese zeitgenössische Geringschätzung von physischer Natur, indem er das Physische entkörperlicht: in seinem humanistischen Heros werden die physischen Züge ins Moralische übertragen. Die Tendenz zur Idealisierung des Protagonisten ist vor allem im dritten Akt deutlich, der den rätselhaften Monolog Ajaxens vor seinem Selbstmord enthält. Die Sophokleische Doppeldeutigkeit der letzten Verse, die sowohl einen Entschluß zum Leben als auch zum Tod suggerieren, deutet Scaliger in eine einzige Richtung um: Scaligers Version läßt nur an heroischen Selbstmord denken. Diese eindeutige Lesart kommt einmal dadurch zustande, daß Scaliger die deiktischen Ausdrücke tilgt, nämlich die temporalen Adverbialbestimmungen >bald< und >jetzt< (Taxa und vt>v); zum anderen jedoch vor allem dadurch, daß er das ambivalente SWJTDX«» durch das Verb »pereo« übersetzt, das das Lebensende in Aussicht stellt: »forsit de mea salute inaudietis, etsi perieram«. 395 Eine andere Möglichkeit als der Tod, begriffen als göttliches Schicksal, steht nach diesen Worten nicht offen. Im Sinne einer Einsicht in die Unbeständigkeit alles Menschlichen sind die »modesta facta« zu verstehen, zu denen sich Ajax im Scaligerschen Monolog bekennt. 396 Während in der griechischen Vorlage die Spannung zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit der Sophrosyne und der Entscheidung zur Selbsttötung die Tragik Ajaxens begründet, löst Scaliger den tragischen Konflikt zugunsten eines Helden auf, der unmißverständlich sein Heil im Tod sieht. In Opposition zu Scaligers Vorgehen steht die Figurengestaltung Naogeorgs, der diesen Monolog als Trugrede Ajaxens versteht. Sein Verständnis hat er mit einer Marginalie erläutert: »Aiax fingit se muratum, et destitisse a 392 Vgl. Naogeorg, v. 278f.: »Assentior iam tibi, metuoque ne a Deo / Plaga aliqua venerit. Si enim abscessit fiiror,/ Qui fieret ut non inde gauderet magis, / Quam morbo adhuc detentus, ira nisi deum?« 393 Vgl, Scaligers Übersetzung des v. 776 in Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Iosepho Scaligero Iulii F. translatus, als »Deae implicabiles, Ascivit iras, homine spiralis altius.« 394

Sophokles, Ajax, v. 549; vgl. Naogeorgs wörtliche Übersetzung: »fieri et parem indole parenti.« 395 Ebd., v. 691 f.: Kai t a x ' à v n' iacix; 7tü9oio6E, s e i vuv SDOTUXCO. aeacoonévov. 396 Ebd., v. 677.

287 sententia semet occidendi, ne impediretur.«397 Die Ironie und Doppeldeutigkeit deutet nämlich Naogeorg in die entgegengesetzte Richtung um, indem er Ajaxens Rede als fingiertes Zugeständnis an die Atriden und als rhetorische Tarnung der Selbstmordhandlung deutet. Dieses simulierte Sprechen zeigt sich besonders, wenn er die Sophokleische Erwägung der Sophrosyne als ein zukunftsverweisendes Moralverhalten übersetzt (»Et nos quomodo non disceremus temperanter omnia gerere«)398 und den Monolog mit der Versicherung der baldigen Selbstheilung Ajaxens schließt: »cito audietis, me malis ex omnibus salvum esse, nunc licet admodum infaustus siem.« 399 Zur Heroisierung des Ajax trägt jedoch vor allem die Begründung seines Selbstmordes bei. Der Scaligersche Chor sieht in dem Selbstmord die Konsequenz eines dauerhaften, aber vergeblichen Lebenskampfes: »Labore ergo improbo volueras, miseriisque fungier, et quidem functus es.« Scaliger vernimmt also in der Tapferkeit (atepeotpptov) einen Wesenszug des Protagonisten über jede moralische Bewertung hinaus. Seine psychologische Erklärung des Wahns (»acri animo«) wirkt nun in der Psychologisierung des Selbstmordes weiter. 400 Diese wird noch deutlicher auf der Kontrastfolie von Naogeorgs Bearbeitung, die Ajaxens Mißverhalten moralisch charakterisiert (»crudelis«) und auf seine Einsichten zurückfuhrt. 401 Das kognitive und voluntaristische Moment nimmt Naogeorg auch in die Begründung des Selbstmordes mit hinein, indem er ihn in Abweichung von Sophokles als vorsätzliche und nach Plan und Entscheidung vorgenommene Tat definiert: »et ex sententia«.402 Scaliger dagegen betont inneren Drang und Neigung als Begründung für den Selbstmord: »habet quorum arserat amore.« 403 Die Psychologisierung des Ajax-Selbstmordes hat Scaliger im zweiten Akt vorbereitet, indem er den Chor die Befürchtung äußern läßt, daß Ajax im Zuge seines »furor« aus Resignation Selbstmord begehe; diese Befürchtung des 397 Vgl ¿¡e spätere Gesamtausgabe der Sophokles-Tragödien von T. Naogeorg, Sophoclis tragoediae Septem, latino Carmine redditae, et annotationibus illustratele, Basel 1559 (Universitätsbibliothek Tübingen: R Cd 11241), S. 47. 398

Sophokles, Ajax, v. 677; vgl. Scaligere Übersetzung dieses Verses in Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Iosepho Scaligero lulii F. trans latus: »Et ego modesta facta dubitem persequi?« 399 Sophokles, Ajax, v. 691 f. Ebenso führt Naogeorg ein voluntaristisches Prinzip in die Disposition seiner Figur ein, wenn er in der Übersetzung des v. 685 Tecmessa die Götter um Verwirklichung des eigenen Willens bitten läßt (»Supplica indesinenter, ut ea fiant quae volo«), während die Scaligersche Figur um Erwiderung von Ajaxens inneren Neigungen bittet: »Succedere illa, quae sedent animo, omnia.« 400 Sophokles, Ajax, v. 923f.; vgl. Scaliger in Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Iosepho Scaligero lulii F. translatus: »Usque adeo mihi talia perdius acri animo gemendo signa iam dabas hostifica«. 40 1 Sophokles, Ajax, v. 923f.; vgl. Naogeorg: »Ergo ne miser expleturus eras propositae solidus sententiae fatum, convenienti tempore sumpto infinitis ut te a malis abstraheres? Talia crudelis suspirabas [...].« 402 Ebd., v. 966f.; vgl. Naogeorg: »sibi vero admodum iueunde et ex sententia« und »Nam mortem adeptus est qualem voluit.« 403 Ebd., v. 969.

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Chors führt Naogeorg auf Ajaxens verbrecherischen Drang zurück. 404 Mit der Psychologisierung und als eine vom »furor« mitgetragene Tat gewinnt der Selbstmord bei Scaliger somit eine gewisse Akzeptanz. Die divergierenden Bewertungen, die sich in der Ätiologie des Selbstmordes bei den 4/ax-Übersetzern bekunden, sind vor allem in der Beurteilung des vollzogenen Selbstmordes zu bemerken. Schon die unterschiedliche Beleuchtung des entdeckten Suizids verrät eine Differenz: während Naogeorg auf der Tatsache insistiert, daß Ajaxens Tod ein Selbstmord sei, spricht Scaliger nun allgemein vom Tod seines Helden. 405 Dabei verteidigt der französische Philologe mit einer antithetischen Paronomasie den erhabenen Tod seines Protagonisten gegen die Meinung der Atriden: »Iudicio eorum periit Ajax: at meo defunctus abiit lacrumis et luctibus.«406 Verwendet Scaliger das Verbum »perire« für das abwertende Urteil der Atriden über den Selbstmord Ajaxens, so benutzt Naogeorg gerade das Derivat »disperire«, um die Meinung des Teuker auszudrücken. Scaliger jedoch favorisiert hierfür das den heroischen Abgang Ajaxens signalisierende »abire«. Ein Ideal der mittleren Stoa Senecas und Ciceros wird in diesem befreienden Akt des Scaligerschen Suizids wiederaufgenommen.407 Somit kristallisieren sich Scaligers Heroisierung des Protagonisten-Todes und Naogeorgs Verurteilung des Selbstmordes als diskrepante Auffassungen des tragischen Höhepunkts. Heroischer Tod zur Ehrenrettung und Selbstmord eines Versündigten aus Verzweiflung stehen sich gegenüber. Dabei ist bei Naogeorg diese Haltung gegenüber dem Selbstmord nicht singulär: Die Erstausgabe seiner 4/ax-Übersetzung hat er seinem Drama Judas Iscariotes (1553) beigebunden, das den Selbstmord des Jesus-Jüngers als Bestrafung für den Verrat an seinem Meister und seiner Lehre vorführt. Unter den weltlichen Gütern, für welche die falschen Christen, ganz wie deren Prototyp Judas, die christliche Wahrheit verleugnen, nennt Naogeorg gesellschaftliches Ansehen und Ehre (»honores«).408 Dabei galten diese als Motivation für den Selbstmord des Scaligerschen Helden.

404

Ebd., v. 230; vgl. Scaliger in Sophoclis Aiax lorarius, Carmine translatus per Iosephum Scaligerum luliifilium: »furore sibi iam afferat ille manus: quippe qui tot optimos gladio greges impetiit« vs. Naogeorg: »certum est furiosa moriturum hominem manu, qui nigris iugulavit gladiis pecudes«. 405 Sophokles, Ajax, v. 970; vgl. Naogeorg: »Diis hic manu cecidit sua volentibus« vs. Scaliger »Neque occubuit illis ille: non: verum Deis.« 406 Ebd., v. 971 f.; vgl. Naogeorg: »Aiax non enim vivit illis amplius, Sed mihi doloribus et relictis luctibus disperiit.« 407 Vgl. Seneca, Epist., 26, 10; 12, 10; 58, 36 sowie Cicero, Deflnibus, III, 18. 408 Vgl. Naogeorgs Widmungsvorrede, in »Aiax flagellifer et Philoctetes«, S. 274: »Sed profecto initio quoque, nomen, autori tat em, dignitatemque suam non Christi amplificare studebant, aurum congerere, suam non Christi amplificare studebant, aunim congerere, honores adipisci, res suas quiete componere, imperium occupare doctrinae intendebant, quod tum solus noverat Dominus. Ut igitur Iudas tandem auri coecus amore et ob lucellum impeditum irritatus semetipsum toti mundo prodidit qualis erat, ita hi quoque sese turpissime prododerunt, produntque quales fuerint, dum ut principibus

289 Die Idealisierung des Protagonisten beeinflußt jedoch insbesondere Scaligers Behandlung der wertenden Kommentare in Götterauftritt und Schlußchor. Deren Lehren liefern letztlich die Maßstäbe zur Bewertung der Figuren. Scaliger etabliert diese Wertmaßstäbe in Richtung einer figurenübergreifenden Wertung, die ebenso für Ajax gilt wie für seine Kontrahenten, den Atriden. Wenn Athena im ersten Akt zu Sophrosyne auffordert und Scaliger die Bezeichnung für die Besonnenen (oaxppoveq) mit dem Adjektiv »boni« verallgemeinert, bezieht sich diese Charakterisierung nicht nur auf Ajax allein, sondern auch auf die Atriden: »et boni semper viri cura Deis sunt«. 409 Durch die einheitliche Verwendimg des Begriffs »bonus« konstruiert Scaliger eine Relation, in der er Ajax zum allgemeinen menschlichen Vorbild erhebt, wie es in der Schlußrede der Tragödie zu seinem Lobpreis lautet: »Ac nemo [...] Aiace fuit melior vir.« 410 Ganz anders verfahrt Naogeorg: Er verengt die Sophrosyne zum Antonym für Ajaxens fehlende Selbstbeherrschung: »Semper autem diligunt Dii / temperantes.«411 In dieser Vereinseitigung läßt der deutsche Geistliche den Schlußchor Ajaxens Handeln kritisieren: »Profecto hominibus plurima / Nosse datur, ubi conspexerint / Eventa: caeterum ante, quam / videant, futuri nullus est / Vates, sciat qui quod nam agat.« Dagegen hat Scaliger den moralischen Maßstab so verallgemeinert, daß die Werturteile, die der Schlußchor fallt, nicht Ajax allein betreffen, sondern menschliches Verhalten im allgemeinen. Sowohl Ajax als auch die Atriden werden in diesem Sinn zu exemplarischen tragischen Figuren, die ihren eigenen Vorsätzen untreu werden: »Quam multa viris licet expertis / Temere discere, sed inexpertus / Prosagus nemo futuri est.« 412 Auch in seinem Schlußchor wendet sich somit Scaliger von Naogeorgs Charaktertragödie ab, die das angemessene moralische Handeln zentriert; wie das antithetische Begriffspaar »expertus« - »inexpertus« hervorhebt, gestaltet Scaliger stattdessen eine Tragödie der menschlichen Erkenntnis. Scaliger distanziert sich von dem Tragödienkonzept eines moralischen Charaktertypus, um stattdessen das tragische Fehlverhalten auf anthropologische Dispositionen zurückzuführen. Sein Ajax befindet sich in deutlicher Opposition zu dem gängigen moralischen Verständnis der Ajax-Figur als Typ des Unmäßigen, wie ihn dagegen in der Tradition Melanchthons Naogeorg gestaltete. quibusdam placèrent, eorundemque favorem acquirerent, muneraque et pecunias aucuparentur, inanissimis mendaciss et oftuciis sanam doctrinam contaminarunt, ecclesias conturbarunt, oppugnaruntque veritatem, atque hactenus in eo sunt. Nec dubito quin eos etiam divina propediem sit ultio apprehensura, sicut et Iudam apprehendit.« 409 Sophokles, Ajax, v. 132f. 410 E b d „ v. 1416f. 411 Ebd., v. 132f.; diese Vereindeutigung als leitende Idee seiner Übersetzung hat Naogeorg mit einer Marginalie zu der Ausgabe von 1559 erläutert, vgl. S. 26: »Aiunt Aiacem ter impie egisse contra deos. Primum quidem, quod Minervam volentem ipsi ferre superiat, e curru eiecerit. Deinde quod noctuam in scuto depictam deleverit. Postremo, quod patri non paruerit, admonenti ut diis obtemperaret.« 412 Sophokles, Ajax, v. 1418ff.

290 Scaligers Ajax repräsentiert den humoralpathologischen Typus des »furiosus«. Die in der astrologischen Tradition diesem Typus zuerkannten Eigenschaften kannte Scaliger gut; denn in seinem Kommentar zu Manilius' (1. Drittel des 1. Jhdt. n. Chr.) Astronomica libri quinque (1579) merkt er zu den Geschöpfen der vom »fiiror« Beherrschten (»furiosum genitura«) an: »In prima parte Leonis oritur Canicula. Sub eius ortu nascuntur furiosi, violenti, iracundi, quique omnium in odio et metu erunt: praefestinati loquentes, faciles moveri, rixosi, rabidi, temulenti.«413 Indem Scaliger den Typus des »furiosus« und seine Eigenschaften des Außenseiters als Anlagen versteht, verlegt er die Begründung für Ajaxens asoziales Verhalten von dem moralerzieherischen Bereich protestantisch-lutherischer Ethik in den psychologischen. Scaligers Versuch, die Ajax-Figur in den Typus des »furiosus« einzuordnen und an die Welt astrologisch überlieferter Ordnungen zurückzubinden, entsprang dem Bedürfiiis, das Sophokleische Heroentum zusätzlich in das System der Astrologie einzubetten.414 Während Sophokles seinen Protagonisten als dynamischen Charakter mit Entwicklungsmöglichkeiten vorstellt, tilgt Scaliger diesen fakultativen Aspekt zugunsten eines faktischen, statischen Charakters. Diese Differenz läßt sich auf den einfachen Nenner bringen: Führt Sophokles Genese und Verklärung eines Heroen vor, so stellt ihn Scaliger von Anfang an als Helden dar. Grund für diese Differenz ist wohl die Ausrichtung Scaligers an der astrologischen Charakterologie seiner Zeit, die die Disposition über die Entwicklung stellte. Aufgrund dieses Ansatzes mußte Scaliger alle Elemente seiner Vorlage eliminieren, die seinem Ziel widersprachen, eine Charakterstudie in Reinform zu gestalten. Dabei wurden dem Charaktertypus des »furiosus« nosologische oder moralisch ambivalente Aspekte wie Zorn, Eigensinn und Stolz des griechischen Ajax subordiniert. Die problematische Sophokles-Figur, die Naogeorgs Interpretation durch Rekurs auf alt- und neutestamentarische Gestalten, wie etwa Samson und Judas, in die biblische Welt zu integrieren suchte, band Scaligers in ein wissenschaftliches typologisches System zurück. Er griff die antike Tradition des sich durch »fiiror« auszeichnenden Ajax auf, um schließlich dessen Raserei zu verharmlosen und dem moralischen Verdikt zu entziehen.415 In philologisch-antiquarischem Interesse rekonstruierte Scaliger archaisches Heroentum in einer humanistischen und ästhetisch orientierten Welt, die herausragendes, unerwartetes Verhalten, wie etwa Raserei oder Tapferkeit vor dem Tod, gern in den antiken mythologischen Gestalten wahrnahm. 413

414

415

J. Scaliger, Manilii Astronomicon libri quinque, ac pristino ordino suo restituit. eiusdem los. Scaligeri Commentarius in eosdem libros, et castigationum explicationes, Paris 1579, S. 263 (Seminar für Klass. Philologie Heidelberg: Db 40 110). Zu Scaligers Bemühungen, in die Geschichte der Astrologie griechische Innovationen zu integrieren, vgl. A. Grafton, J. Scaliger, S. 181-226. So beruft sich Scaliger unter anderem auch auf Sophokles, um griechische Parallelisteilen in seinem Manilius' Kommentar anzuführen; vgl. J. Scaliger, Manilii Astronomicon libri quinque, in der Ausgabe von 1590 (Universitätsbibliothek Heidelberg: 87 A 1864), S. 13, 40, 307, 340 und 402. Vgl. R. Klibansky u.a., Saturn und Melancholie, S. 56 und 60.

291

4.2.3.

Die Straßburger Aufführung im Jahr 1587

4.2.3.1. Der Held als Opfer Die Bewunderung für exemplarische Heldenfiguren, wie etwa für die biblischen Gestalten Tobias, Joseph und Judith oder den Märtyrer Laurentius, schlug sich in den achtziger Jahren am humanistischen Gymnasium Straßburgs in zahlreichen Schulaufführungen nieder. 416 Dieses Interesse führte zur Inszenierung der Scaligerschen 4/ax-Übersetzung. Moralpädagogischen Intentionen konnten jedoch Scaligers Psychologisierung des affektbeherrschten Handelns sowie seine Idealisierung des Selbstmordes nicht gerecht werden. Die Notwendigkeit, das moraldidaktische Defizit zu kompensieren, führte zu zahlreichen Amplifikationen. Scaligers Verharmlosung des maßlosen Zornes durch das Konzept der Raserei untermauerte man zusätzlich durch ein Vorspiel, das im Rahmen einer Gerichtsversammlung die Aushändigung der Achilles-Waffen an Odysseus als religiös illegitim darstellt. Indem Ajax als Opfer einer durch Machtverhältnisse manipulierten Justiz erscheint, wird seine Raserei sogar moralisch rehabilitiert: Sie erhält die an Fakten nachvollziehbare psychologische Motivierung des Unrechterleidens und wird somit noch stärker relativiert. Der anonyme Verfasser des Vorspiels »Judicium graecorum ducum, super armis Achillis Aiaci tragediae praemissum«,417 das in der Aufführung von 1587 dem ersten Akt vorausging, dichtete ebenso das Zwischenspiel »Nuncium de morte Aiacis«, das man in der Mitte des vierten Aktes (unmittelbar nach v.

416

Die Rekonstruktionsversuche des Straßburger Gymnasialspielplans der achtziger Jahre erwähnen für das Jahr 1582 die Aufführungen des Jephtas von G. Buchanan in J. Bitners deutscher Übersetzung (am 8. August) und R. Walthers Nabal ebenfalls in J. Bittners deutscher Übersetzung (am 16. Juli); für das Jahr 1583 den Tobäus (Erstausg. 1569) des C. Schonaeus und den deutschen Joseph (Erstausg. 1535) des C. Crocus (letzteres bei E. Weber für 1584 registriert, S. 150); für das Jahr 1584 die Aufführung der Laurentius (Erstausg. 1556) des G. Hollonius, den Joseph von J. Hunnius und die deutsche Plautus-Übersetzung Menächmen (am 23. Juni) (bei E. Weber, Le théâtre humaniste et scolaire dans les Pays Rhénans, Paris 1974, Band 2, S. 151); für das Jahr 1585 S. Bircks lateinische Susanna und die Judith (1556) lateinisch und deutsch (bei E. Weber, Le théâtre humaniste et scolaire dans les Pays Rhénans, Band 2, S. 151f.); vgl. Jundt, Die dramatischen Aufführungen im Gymnasium zu Straßburg, S. 41, M. Sommerfeldt, »Das Straßburger Akademietheater und die Werke von der Renaissance zum Barock«, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 12 (1933), S. 109-134, G. Skopnik, Das Straßburger Schultheater, S. 3 1 - 8 9 und E. Weber, Le théâtre humaniste et scolaire dans les Pays Rhénans, Band 2, S. 147-156.

417

Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero trans latus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587 mense Julio. Cum aliis quibusdam ornatus causa interpositis et ad calcem Tragoediae adiectis, Straßburg 1587, A2 V (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel: 157. 19 Poet.). Es handelt sich um den Scaliger-Text von 1573, siehe Anm. 24.

292 865) interpolierte, und das Nachspiel »Funus Aiacis« für den Schluß der Scaligerschen Übersetzung. Die Druckvorlage verschweigt den Autor der Zusätze im Unterschied zu dem Komponisten Johannes Cless, der eine ebenfalls dem ersten Akt vorangestellte Choral-»Fuga« auf die »Iustitia«, die Schlußchöre »Exodion« und »Naenia« sowie die Chormelodien zu den einzelnen Stasima schrieb. Verfaßt in iambischem Trimeter, nehmen Vor-, Zwischen- und Nachspiel das Versmaß des Hauptteils auf. Neben solcher versformalen Kontinuität streben diese Zusätze eine sprachliche und stilistische Verbindung zum Hauptteil an. Dies bekundet sich zum einen in der gelegendich vor- oder rückgreifenden Einflechtung von Versen, Halbversen, Ausdrücken und Sentenzen aus Scaligers Übersetzung;418 zum anderen in der Nachahmung des Scaligerschen Stils: Die an Scaligers Version bereits festgestellte lyrische Konzentration begegnet innerhalb dieser Zusätze in einer Reihe von Paronomasien, Polyptota, Chiasmen, Anaphern, Alliterationen und Assonanzen.419 418

4

Einige Beispiele sind etwa in Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno ¡587 auf S. A8v Scaligers v. 98 »Non fíat illis ludus Aiax amplius« am Ende des zweiten Einspruchs Ajaxens im »ludicium«, ebenso Scaligers v. 127f. »Ergo cavebis [...] prophanumque in Deos eflutias« und v. 131 f. »Namque una tollit, una deprimit dies, mortalium res« am Ende von Calchas' Ermahnungen an Agamemnon S. B3 V , auf S. C2 r die Wiederholung des »iacet« im »Nuncium« aus Scaligers v. 899 sowie die Ausdrücke »Hectoris manus« und »ut res docet« aus Scaligers v. 1286 und v. 905, auf ders. Seite entspricht der Vers »miserandum et ipsis hostibus spectaculum« dem Scaligerschen v. 922, auf ders. Seite entstammt der Ausdruck »sinistra mente« in Agamemnons Klageverbot aus Scaligers v. 965, auf S. 2CV die Ausdrücke »ense [...] incubans«, »ferit vox aures flebitis« und die Wörter »mugitibus«, »gemitus« aus Scaligers v. 335, v. 900 und v. 322, auf ders. Seite C2V sind die Ausdrücke »sanctasque Dearum praepetes Furias« Scaligers v. 837 und »Humo ense fixo« Scaligers v. 910 entnommen, auf S. C3 r in Nestors Ermahnungen an Agamemnon liegt eine Paraphrase des Scaligerschen Schlußchors v. 1418ff. vor, auf ders. Seite ist in Menelaus' Bestattungsverweigerung der Ausdruck »Internecivo funere« aus Scaligers v. 1059, auf S. C3V sind in Euripylus' Gegenrede die Ausdrücke »durus et intractabilis« und »parumque iustus« Abwandlungen der Scaligerschen in v. 1361 »duram mentem et intractabilem« und in v. 1042 »parumque aequus«, auf ders. Seite entsprechen der fünfte und darauffolgende Vers in derselben Rede des Eurypilus' den Scaligerschen v. 1343ff. und die Sentenz »ne malum malo malo refarcientes, duppla incommoda« dem Scaligerschen v. 361, auf S. C4 r ist die Schlußsentenz in den Ermahnungen des Diomedes eine Abwandlung der Scaligerschen v. 127f. und v. 951, auf S. C5V des »Funus« entspricht in der Klage des Teuker die Berufung des Lichtes >x> lux« den Klageworten in Scaliger v. 394, auf ders. Seite sind der Ausdruck »Troiae in terra hostica« eine Abwandlung des Scaligerschen v. 820 und das Distichon »periculosis impeditos casibus, / nulla salutis spe, atque vorsos in fugam« die direkte Übernahme der Scaligerschen v. 1279f. sowie die darauffolgenden Straßburger Verse Abwandlungen der Scaligerschen v. 1281 f. und 1300 sind (vgl. auch Ovid XIII. v. 6 und 24), auf S. C6 r entstammen die Ausdrücke »ore flebili voces« aus Scaligers v. 335 und »frater [...] carum caput« aus Scaligers v. 977 sowie »officia fraterna« aus v. 1415, auf ders. S. des »Funus« ist in Tecmessas Klage wiederum das Wort »lux« aus Scaligers v. 394 sowie die Ausdrücke »socia lecti« und »tu genitor mihi fueras genitrixque« aus Scaligers v. 493 und v. 517.

19 Paronomasie-Beispiele in Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587: »frater fuit, peto fraterna« S. A5 r , »Moras moris, tu more quaerita tuo« S. B3 V . - Polyptoton-Beispiele:

293 Im »Judicium« nimmt der Autor die Vorgeschichte über die Verteilung der Achilles-Waffen vorweg, die Sophokles nicht in Szene setzt, sondern nur rückblickend andeutet. Doch konnten sich die Schulhumanisten auf antike Quellen, wie etwa die beiden Homerischen Epen, hellenistische Mythographen, Ovid und Seneca stützen und nicht zuletzt auf frühneuzeitliche Mythologie- und Emblemhandbücher, die den Waffenstreit behandeln.420 Zugleich jedoch erfüllen übernommene Motive und Passagen aus den genannten Quellen neben der sachkundig-informativen eine weitere Aufgabe: Als Texte von höherem Bekanntheitsgrad ebnen sie den Weg für die Rezeption des weniger populären Sophokles und dessen ambivalenter Ajax-Figur. So leisten die Straßburger Zusätze eine doppelte Vermittlung: Zum einen stellen sie eine Relation zwischen der Raserei des Ajax und dem moralischen Vergehen seiner Widersacher her; zum anderen greifen sie auf die Überlieferun»Calchanta vatem, vate cretum Thestore« S. B2 r , »hunc autem mali authorem, iure malorum acemus obruit« S. C3 r , »Ipse hosti hostis vel mortuis permansero«, ebd., S. C3V, »ne malum malo refarcientes«, ebd., S. C3V, »Consilia ut nova novis nectamus rebus«, ebd., S. C4V. - Chiasmus-Beispiele: »ius iubet; praescribit aequitas«, ebd., S. A4 r , »confide Atrida, caeteri confidite«, ebd., S. B3V, »Natura vertet, regeret in fontem prius revolutas Simois undas«, ebd., S. B4 r . - Anapher-Beispiele: »vir at fortis tarnen, fortis per se«, ebd., S. C3 r , »o lux acerba [...] acerba [...] fata [...] o sortem acerbam« in Teukers Klage, ebd., S. C6 r , »foelix nimis ah, foelix nimis« in Tecmessas Klage auf ders. Seite. - Alliteration-Beispiele: »solverem nunc sollicitudine«, ebd., S. A3 r , »optant manes, monant oracula«, ebd., S. A4 r , »furtis illi et fraudibus«, ebd., S. A5 r , »lubens laborum mercedem«, ebd., S. A8V, »nece nefanda«, ebd., S. B2V. Assonanz-Beispiel: »vox auribus divina his hausta«, ebd., S. B2 r . 420 zu einzelnen 4/ax-Erwähnungen bei Homer (etwa ¡lias, II, v. 229, VI, v. 5, VII, v. 211, in der Odyssee, XI, v. 543-547), in der Àthiopis (Allen, frg. ii), der Kleinen ¡lias (Allen, S. 106, 22f.), bei Quintus Smyrnaeus (Posthomerica 5, 128ff. und 541), bei Pacuvius und Acius vgl. W. B. Stanford, »Introduction«, Sophocles Ajax, London 1963, S. xii-xviiii; vgl. auch Anthologia graeca, VII, 152 und 145, IX, 115f. - Zu der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rezeption von Ovids Metamorphosen (XIII, v. 1-398 handelt von Ajax) vgl. neuerdings Ch. Martindale (Hg.), Ovid Renewed. Ovidian Influences on Literature and Art from the Middle Ages to the Twentieth Century, Cambridge u.a. 1990, sowie zur Rezeption von Senecas philosophischen Schriften (De Ira, II, 26, 5 handelt von Ajax) vgl. M. Spanneut, Permanence du Stoïcisme. De Zénon a Malraux, Paris 1969, S. 194-202. - In humanistischen Emblembüchern etablierte sich Ajax vornehmlich als Opfer einer ungerechten Justiz, wie folgende Eintragungen belegen: bei Alciati im Jahr 1550 »In dona hostium«, abgedruckt in: A. Henkel und A. Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, ergänzte Neuausgabe, Stuttgart 1976, S. 1682 [= S. 181, Held Nr. 135]; ders., Emblemata cum commentariis, New York und London 1976 [ N Padua 1621], S. 705ff.; im Jahr 1581 bei Reusner »Se ipsum vincere, maxima Victoria«, A. Henkel und A. Schöne, Emblemata, S. 1684f. [= Embl. III, Nr. 20]; im Jahr 1610 bei Covarrabias »Timidi est optare necem«, ebd., S. 1685 [=Nr. 35]; im Jahr bei 1531 bei Alciati »In victoriam dolo partam«, ebd., S. 1685, [= S. A5, Held Nr. 115]; vgl. ders., Emblemata cum commentariis, S. 239; im Jahr 1531 bei Alciati »Tandem tandem iustica obtinet«, A. Henkel und A. Schöne, Emblemata, S. 1686f. [= S. B8, Held Nr. 66]; ders., Emblemata cum commentariis, S. 162. Auf eine verdiente Selbstbestrafung des Ajax verweist nur das Emblem »Insani gladius« bei Alciati im Jahr 1550, A. Henkel und A. Schöne, Emblemata, S. 1684 [= S. 189, Held Nr. 137] und ders., Emblemata cum commentariis, S. 731 ff.

294 gen um die Ajax-Figur zurück, die in der frühen Neuzeit bekannt waren, und setzen damit den Sophokles-Text in Bezug zu dieser Tradition. Um dem Scaligerschen Sophokles Bühnenwirksamkeit zu gewährleisten, griff man auf diejenigen Vorteile zurück, die die besondere Qualität der bereits etablierten Autoren auszumachen schienen: die Homerische Szenerie und Parteinahme für Ajax, die Orakelsprüche der Mythographen oder die rhetorischen Vorzüge Ovids. Die Vorreiterrolle Ovids erweist sich vor allem darin, daß, verglichen mit den nur vereinzelt in den Zusätzen wiederholten Versen und Versteilen des Scaligerschen Hauptteils, die inhaltlichen Reminiszenzen aus der Ovidschen Dichtung sowie fast unverändert übernommene Passagen aus dem Werk des Römers überwiegen. In Anlehnung an den griechischen Kriegsrat der Ilias treten im Vorspiel neun Heerführer auf, die in Form einer forensischen Rede jeweils ihr Votum zu dem legitimen Achilles-Erben abgeben:421 Mitglieder des Gerichtsrats sind Agamemnon als Ratsvorsitzender, Nestor, Diomedes, Menelaus, Ajax Oileus, Idomeneus, Euripylus, Odysseus und Ajax Telamonius. Zwar lassen im Lauf des Sophokles-Dramas die einschlägigen Erwähnungen eines vorausgegangenen Urteils auf eine Abstimmung schließen, die die Atriden zugunsten des Odysseus konspirativ beeinflußten:422 Der griechische Text scheint sogar eine Stimmenfalschung seitens des Menelaus zu suggerieren.423 Doch Scaliger verharmlost das Motiv der faktischen Fälschung zu einer Täuschung. Seine Übersetzung legt eine solche Bedeutung nahe: Im Rahmen eines Abstimmungsverfahrens bewirken Mittel der Beredsamkeit Manipulation. Der Scaligersche Teuker wirft seinem Widersacher Menelaus Betrug vor (»doloso clepseris suffragio«), worauf dieser wiederum die Schiedsrichter beschuldigt (»Haec arbitrorum lata culpa«).424 An die rhetorische Manipulation anschließend, wie sie die Scaligersche Version nahelegt, gestaltet das Vorspiel eine dramatische Konfiguration, die sich um den Begriff der Tugend als Kriterium für die Waffenvergabe zentriert: »legite unum, qui suae virtutis praemia Haec auferat«, lautet Agamemnons Aufforderung an die Heerführer.425 Entsprechend der Homerischen Tradition erteilt man zuerst dem Ältesten, Nestor, das Wort; dieser beruft sich auf durch Blutsverwandtschaft begründetes Erbrecht und auf ein Orakel, das aus hellenistische mythographische Überlieferungen bekannt ist: dem Achillessohn Pyrrhus stünden die Waffen zu (»huic haereditario de-

Homer, Ilias, X, v. 108ff. und 195 und Ilias, XVIII, v. 503. Vgl. Sophokles, Ajax, v. 41, 98, 445f„ 749, 1135f„ 1239f.; vgl. auch die Scholien zu v. 1135, P. N. Papageorgiu (Hg.), Scholia in Sophoclis tragoedias vetera, Leipzig 1888, S. 85. 4 2 3 Sophokles, Ajax, v. 1135: KXenxriq yäp avxov ynqjonoicx; TfOpeGn. 4 2 4 Ebd., v. 1135f. 425Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. A3 V ; vgl. Scaligers Übersetzung des v. 933 »iudicium virtutis« und v. 1305 »praemium virtutis«. 421

422

295 bentur iure«426), zumal das Orakel den Erfolg des Trojanischen Kriegs von dessen Mitkämpferschaft abhängig mache. 427 Der Ehrfurcht vor dem Orakel und der Blutsverwandtschaft setzt das Vorspiel eine andere Position entgegen, die Diomedes vertritt: für die augenblickliche Situation der Griechen sei es vorteilhafter, das Erbrecht einem durch »virtus« Bewährten zuzugestehen; die Kriterien des Hervortuns für das Gemeinwohl, des klugen Rates und der Treue als maßgeblich setzend, plädiert diese Position für Odysseus.428 Die Bestätigung für die Solidarität von Diomedes und Odysseus konnte der Vorspielverfasser in der Ilias vorfinden. 429 Eine dritte Partei führte man in der Gegenrede des Ajax ein; indem ihn der Verfasser das Wort unaufgefordert ergreifen läßt, setzt er Mittel der impliziten Selbstcharakterisierung ein, um Ajax bei seinem ersten Auftritt als ungeduldig und unbeherrscht darzustellen, wie etwa von Plutarch und Seneca überliefert. 430 Neben der Homerischen Ilias stützte man sich hier auf eine weitere Vorlage, die das Thema des WafFenstreits behandelte. Ajaxens Rede geht sowohl sprachlich als auch inhaltlich auf die Darstellung des Streits Ajax-Odysseus im 13. Buch von Ovids Metamorphosen zurück. Mit den in iambischem Trimeter umgeformten Hexametern Ovids übernimmt der Vorspielverfasser zugleich den Ovidschen Argumentationsgang. Seinen Protest begründet der Titelheld auf die eigene Verwandtschaft zu Achilles und auf die Feigheit des Odysseus, die er an Beispielen illustriert.431 In Kontrast dazu erinnert Ajax an seine eigenen Heldentaten im Zweikampf mit Hector sowie an die Beschützung der griechischen Flotte vor der Brandstiftung durch die Trojaner; dabei schmälert er die Odysseischen Erfolge als bloße List 432 und beschließt seine Rede mit der Herausforderung an seinen Kontrahenten, die Waffen ins trojanische Lager zu schaffen und sie im Wettstreit zurückzuerlangen: »non verbis sed factis fortibus«. 433 Der provozierte Odysseus wirft in seiner Verteidigung seinem Gegner Frechheit vor 434 und wi426

Ebd., S. A4 r . 427 Vgl. Apollodor, Epitome, 5,6; vgl. die Zusammenfassung unter dem Artikel »Neoptolemos« in Pauly-Wissowa, Real-Encyklopädie der Classischen Altertumwissenschaft, Band XVI, 2, S. 2 4 4 0 - 2 4 6 2 , hier S. 2442. 428 Vgl.Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. A5 r : »pro salute publica, prudenti Consilio, fidoque pectore«. 429 Vgl. Ilias, X, v. 248; vgl. des Diomedes Opposition zu Ajax, Ilias, XXIII, v. 811. 430 Plutarch, Moralia, 628B und Seneca, De Ira, 2, 26, 5. 431 Vgl. Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. A5 r ; vgl. Ovid, Metamorphosen, XIII, v. 31 ff. und 63ff. 432 Vgl. ebd., XIII, v. 94fF. und v. 104ff. 433 Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. A5 V ; vgl. Ovid, Metamorphosen, XIII, v. 121 f. 434 Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. A5 V ; vgl. Quintus Smymaeus, Posthomerica, 5, v. 239: A i a v ànEtpoEjtÉq.

296 derlegt dessen Argument der Vetternschaft zu Achilles mit dem Hinweis auf das Erbrecht des Achilles-Sohnes Pyrrhus oder gar des anderen AchillesVetters Teuker.435 Das Argument der Bewährung durch Taten verwirft Odysseus, indem er nachweist, daß die Siege der Griechen seiner Schlauheit zu verdanken seien (»solertia«).436 Mit einem Lob der Klugheit beschließt er seine Rede (»Fortitudini Et viribus solers prudentia praesidet Easque frenis temperat«437) und spitzt die Kontroverse auf eine Entscheidung zwischen »prudentia« und »audacia agendum« zu, vor die er die Gerichtsversammlung stellt.43» Die zur Stellungnahme aufgeforderten Heerführer verteilen sich auf diese drei Parteien. Für den Diomedes-Favoriten votieren somit Menelaus mit dem Hinweis auf die Treue und Tapferkeit des Odysseus sowie Idomeneus aufgrund seiner Freundschaft zu Menelaus und Diomedes;439 allein Ajax Oileus schließt sich seinem Namensvetter an, lobt dessen »virtus vivida« und »mens gloriosa« und rekurriert auf die gemeinsam vollbrachten Heldentaten, wie sie die Mas beschreibt: Denn auch die Solidarität der beiden Aiaces, des Telamoniers und des Oileus, geht auf die Homerische Überlieferung zurück.440 Eurypilus wiederum anerkennt zwar das Kriterium der »fiducia virtutis«,441 schließt sich jedoch Nestors Hinweis auf das Orakel an, das die Niederlage Trojas durch die Ankunft des Achilles-Sohnes weissagt. Antiker Tradition folgend, läßt der frühneuzeitliche Autor seinen Agamemnon den Willen der Götter erkunden, um der Stimmenmehrheit für Odysseus den göttlichen Beistand zu versichern. In der Gestalt des Sehers Calchas findet das Göttliche sein Sprachrohr. Dieser tadelt jedoch Agamemnons Trugstrategie, nach bereits getroffenem Beschluß den Rat des Sehers zu erbitten, und verweist erneut auf den von Nestor und Euripylus erwogenen Kandidaten und das entsprechende Orakel. In einer Gegenrede Agamemnons entlarvt der Vorspielverfasser den Ratsvorsitzenden als eigensinnigen Herrscher, der dem Seher gezielte Hartnäckigkeit vorwirft und gar Frömmigkeit und Recht für die Atridische Seite beansprucht.442 Die hierdurch provozierten Ermahnungen des Calchas spitzen die Auseinandersetzung mit Agamemnon zu einer Konfrontation von göttlichem Willen und weltlichem Machtanspruch zu; Verse Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero transiatus, et in Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. A5 V ; vgl. Ovid, Metamorphosen, v. 154-159. 436 Vgl. ebd., v. 162-219. 437 Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero transiatus, et in Argentinensi publice exhibitus anno ¡587, S. A7 V ; vgl. Quintus Smyrnaeus, merica, 5, v. 249ff. 43 & Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero transiatus, et in Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. A7 v . 439 Ebd., S. A8 r : »fido et forti pectore res gesserit Graias«. 440 Ebd., S. B l r ; Was, XIII v. 68ff. und 202ff. 441 Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero transiatus, et in Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. B2 r . 442 Ebd., S. B3 V : »cui ius piumque et sancta cordi est aequitas«.

theatro XIII,

theatro Posthotheatro

theatro

297 aus der Rede der Göttin Athene in der Scaligerschen Übersetzung, die der Vorspielverfasser dem Seher als Abschiedsworte in den Mund legt, unterstreichen die sakrale Autorität seiner Aussage.443 Der Sieg des triumphierenden Odysseus, dem schließlich Agamemnon die Waffen zuspricht, steht somit bei Abschluß des Vorspiels unter dem Zeichen eines religiösen Verstoßes. Das Motiv des Gerechtigkeitsverstoßes aufgrund von Überhebung gegenüber göttlichen Beschlüssen betonte man durch eine choreographische Präsentation; denn die Regieanweisungen sahen in Anschluß an das Vorspiel den Gesang einer vierstimmigen Kanon-»Fuga« vor: Vier Schüler, verkleidet als die allegorischen Gestalten »Quietas«, »Sanctitas«, »Veritas« und »Fides«, erschienen zu deren Vortrag.444 Der Chortext richtete sich an die Gerechtigkeit, welche selbst als allegorische Figur inmitten der genannten Gestalten auftrat und auf ihrer Vertreibung und Flucht die anderen TugendGestalten mit sich zog.445 Das gesuchte etymologische Wortspiel von Bezeichnung für die musikalische Gattung »fuga« und choreographisch dargestellter Flucht zielte auf eine Intensivierung der Bildlichkeit, wie aus dem Widmungsgedicht des Komponisten an den Darsteller der »Iustitia« hervorgeht.44'' Gesungen wurde der Vierzeiler: »Tecum IUSTITIA atque matre iusta / Omnes nos fiigiamus his abovis: / Nam cui vis domina est, is ulla iura / Non curabit: ut omne ius perit vi.«447 Noch deutlicher als der Ausgang des Vorspiels, das doch noch mit der Ulysseischen Triumpherklärung endete, sprechen diese Worte den Verlust des Gerechtigkeitssinnes aus und vereindeutigen dessen Verletzung als Folge von Machtherrschaft. Die emblematische Korrespondenz von Singtext und bildchoreographischer Darstellung erstreckt sich auf einen weiteren Zusammenhang: die aufgrund von 443

Ebd., S. B3v. 444 Vgl. die Regieanweisungen unter der Überschrift »Modi quibus chori musici in incedendo per cursum totius tragoediae usi sunt«, ebd., S. c8 r : »Principium post iudicium de armis Achillis habitum instituta est Fuga 4 vocum ad IUSTITIAM, in modum quatranguli decantata à quatuor puellis pedissequis Quiete, Sancitate, Ventate et Fide: quae eandem fugientem secutae sunt.« 445 Vgl. ebd., S. c7 v : »Fuga quatuor vocum in unisono à 4 puellis unà cum IUSTITIA aufiigientibus decantata«. 446 Vgl. E. Weber, Le théâtre humaniste et scolaire dans les Pays Rhénans, Band 1, Halbband 2, S. 552. Vgl. W. Flemming, »Die Fuge als epochales Kompositionsprinzip des deutschen Barock«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 32 (1958), S. 483-515. Als weitere Quelle zur Choreographie vgl. die Beschreibungen in Cless' Widmungsgedichts an den Schüler, der als »Iustitia« auftrat, Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. c7 v : »Ad adolescentem, Nobilitatis Literis ac Virtute ornatissimum D. Philippum Ludovicum Grempium à Freudenstein. / Talis amor super nobis fit, care PHILIPPE / Hanc qualem formam cernis inesse fugam / Consonus, unanimis, clarus sine fine recurrens / Quemque notant comités, nataque Iustitia. / Fidelis, sanctus, verus sit et usque quietus / Et iustus quem vult ipsa ea IUSTITIA. / Cuius tu quoniam nobis dat corpore formam, / Hanc, LUDVICE, tibi dedico in re fugam.« 447 Ebd., S. c7 v .

298 Machtansprüchen vertriebene Gerechtigkeit hat als Konsequenz den Verlust von Bedächtigkeit bzw. Friedlichkeit, von Heiligkeit, Wahrhaftigkeit und Glaube bzw. Treue, die sowohl sinnbildlich als auch in der Anrede (»mater iusta«) als Kinder und Zeugungen der Gerechtigkeit erscheinen und deren Untergangsschicksal teilen. Die Auffassung der Gerechtigkeit als Oberbegriff für Tugendhaftigkeit schlechthin oder als Korrelat für andere Tugenden geht auf die antike und christliche Ethik zurück und wurde auch in der frühneuzeitlichen Morallehre wiederaufgenommen.448 Die begleitenden Tugenden sind jedoch jeweils unterschiedlich. In der paulinischen und davon ausgehenden reformatorischen Ethik erscheint einerseits die Verbindung von Gerechtigkeit, Glaube und Heiligkeit am stärksten.449 Andererseits repräsentieren »quietas« als meditative Andacht gegenüber Gott und »veritas« als Wahrhaftigkeit im Umgang mit den Mitmenschen die beiden Tafeln des Dekalogs (viertes und neuntes Gebot), welcher eine umfassende Sittlichkeit im Sinne eines Gerechtwerdens vor Gott kodifiziert. 450 Zugleich stellt die Zahl >vier< ein Symbol für Tugend dar, insofern man in der Renaissance Tugend allgemein durch ein Quadrat charakterisierte.451 So begegnet eine frühneuzeitliche Variante von Tugendassoziationen in der emblematischen Verknüpfung von »fides«, »honor«, »amor castus« und »veritas« bei Alciati und dessen Kommentatoren, die sich um die christliche Deutung dieser antiken pikturalen Konfiguration bemühten: sie interpretierten die antike Tugend der Ehrerbietung als Reverenz gegenüber Gott und sahen in deren Verbindung zu keuscher Freundschaftlichkeit die Tugend der Wahrhaftigkeit erzeugt. 452 Angepaßt an die religionserzieherische Intention des Straßburger Schuldramas, kehrt die Alciatische Tugendkonfiguration mit einer deutlicheren christlichen Prägung in den Korrelaten »quietas« (anstatt der Alciatischen »honos«) und »sanctitas« (anstatt »amor castus«) des Straßburger Vorspielchors wieder.

448 Vgl. Plato, Politeia, 443cff, Cicero, De officiis, 2, Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5; 1, Timotheus, 11, Römer, 3,28; J. Calvinus, Institutio christianae religionis, 2, 8, 2 (1559), CR 30 (1864), S. 267: »iustitiam tota vita nobis esse necessario colendam.« Vgl. A. Alciati, Emblemata cum commentanti, S. 327a: »In sacris iusti dicuntur non tantum qui iustitiam, sed et qui virtutes alas omnes colunt; eaque iustitiua est, quae in se virtutem amplectitur omnem.« 449 Römer 1,17; M. Luther, Die Vorlesung über den Römerbrief (1515/160), Kritische Gesamtausgabe, 64 Bände, Weimar 1883-1990, hier Band 56, S. 17Iff. 450 J. Calvinus, Institutio christianae religionis, 2, 8, 16ff. (1559), CR 30 (1864), S. 283. 451 Vgl. E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, S. 122, Anm. 452 A. Alciati, Emblemata cum commentariis, S. 58a: »Honorem pro Deo coluerunt veteres, ut etiam Fidem et Virtutem. [...] Amor honori adiunctus verecundiam creat, imo vero ipsamet verecundia dici non inepte potest.«; vgl. ebd., S. 59b: »In fide coniugum honos, amor, veritas: honos ex opinione virtutis, amor propter officia mutua, vitaeque, huius communis usibus necessaria: veritas ut sancta isthaec coniuctio proculabsit ab omni suco et simulatione, quam imprimis deceat constantia et veritas, quod unum societatis omnis ac concordiae certissimum firmamentum.«

299

4.2.3.2. Leidensweg und Läuterung Die Mittel der choreographischen und musikalischen Darstellung des an Ajax verübten Unrechts findet sich jeweils in den Chorliedern, die zwischen den Akten stehen. Auf den ersten Akt, der in einer Unterredung zwischen Athena, Odysseus und Ajax besteht und den Wahnsinn des letzteren vergegenwärtigt, folgte der vierstimmige Chor von Discantus, Tenor, Altus und Bassus: 453 Die Salaminier Seekrieger bekunden ihr Erstaunen vor dem Unheil des Wahns und bringen ihre Anteilnahme an der Entehrung ihres Feldherm zum Ausdruck; dessen Raserei führen sie auf einen göttlichen Einfluß zurück, nämlich auf den Eingriff ihrer Schutzpatrone Mars und Diana. Die Naturgöttin trat laut Regieanweisung als Gestalt in der Mitte einer von den Chormitgliedern gebildeten Rose auf; dem Kriegsgott behielt man den Auftritt im letzten Chorlied vor. 454 Doch bewirkte die Bevorzugung der Diana vor Mars auch weitere Verschränkungen: zum einen die Verbindung mit Athena, deren Keuschheit Diana teilt, so daß sich eine Kontinuität zum vorausgegangenen Akt ergab; zum anderen garantierte die zunächst augenscheinliche Antinomie zur Rose als Liebessymbol eine chiastische Verschränkung mit dem darauffolgenden Akt und dessen bildlicher Verschlüsselung. Denn im zweiten Akt versucht Tecmessa den Geliebten vom Selbstmordgedanken abzubringen. Das Thema solcher Liebe, die Ajax schließlich durch seine Standhaftigkeit desavouiert, nimmt der Auftritt der Göttin Venus auf, wie ihn die Choreographie des zweiten Chorlieds vorsah. 455 Der die Venus umrahmende Stern, der durch eine entsprechende Anordnung der Chorknaben gebildet wurde, kann dabei als Wiederaufnahme des Artemisi-

453

Sophokles, Ajax, v. 172-200. Vgl. Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero Irans latus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. c8 r : »Post actu primo incessus Chori fuit instar ROSAE ex diversis circulis compositae, et variatae per Strophen, Antistrophen et Epodon. Emblema eius in medio ftiit DIANA, quae Aiacis animum furiasse creditur.« 455 Vgl. Sophokles, Ajax, v. 595-644; in der Druckvorlage zu den Chormelodien fehlen die v. 624-640, die die Klagen der Mutter ausmalen, würde sie von den Wahntaten ihres Sohnes erfahren. Dagegegen bleiben die v. 641-644 erhalten, die von den Klagen des Vaters über solches Unglück handeln. Unklar ist, ob die Kürzung dieser Verse intendiert ist oder ein Druckfehler vorliegt, wie etwa in Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. c7 v auf der S. b3 r , die Tenor und Bassus der 1. Strophe des 3. Aktes enthält und nicht die erwarteten Tenor und Bassus der 2. Strophe des 2. Aktes, die wiederum auf S. b6 r stehen; die S. b3 v enthält Discantus und Altus der 1. Strophe des 3. Aktes, anstatt der erwarteten Discantus und Altus der 2. Antistrophe des 2. Aktes, die wiederum auf S. b6 v stehen. - Zu den Regieanweisungen des 2. Chorlieds vgl. S. c8 r : »Actu secundo instar STELLAE lucidae, ex Triangulis duobus constate, et in Epodo expressae. Emblema eius fuit VENUS cum Cupidine, in persona Tecmessa animum furiosum Aiacis sedare cupientis.« 454

300

sehen Keuschheitsmotivs gedeutet werden, das Ajax in seiner ablehnenden Haltung verkörpert.456 In der Bildlichkeit der Renaissance waren die Sterne als Sinnbilder der Tugend geläufig.457 Zugleich verweist die Stern-Form auf die zweite, astrologische Bedeutung der Venus,458 ebenso wie die Rose auf eine Eigenschaft der Naturzugehörigkeit Dianas hindeutet. Somit sind die Attribute gemäß ihrem in der Natur begründeten Vorkommen der jeweiligen Göttin zugeordnet, doch ihrer sinnbildlichen Tradition nach vertauscht. Die chiastische Vertauschung von Liebes- und Keuschheitsmotiv hat Vorläufer in emblematischen Darstellungen der Florentinischen Renaissance, in der die Substitution von Diana und Venus das Tarnspiel der »voluptas« durch Übernahme von Zügen der »castitas« aufzeigte.459 Auch wenn die choreographischen Einlagen der Straßburger Schulauffuhrung zur Distraktion der Zuschauer bestimmt waren, hoben sie wohl weniger auf die raffinierten Vorgehensweisen des Amor ab; vielmehr stellt der wechselseitige Verweis der Göttinnen die zwischen ihnen bestehende antithetische Spannung dar, die als tragischer Konflikt in das Sophokles-Drama projiziert wurde. Eine ähnliche Spannung zwischen zwei Göttern erzeugte die choreographische Einlage des dritten Akts, diesmal nicht durch Vertauschung von deren Attributen, sondern durch einen gemeinsamen Auftritt. Nach dem rätselhaften Monolog, in dem Ajax seinen zweideutigen Vorsatz bekundet, sich den Naturgesetzen zu unterwerfen, erfolgt der Jubel des Salaminierchores über Ajaxens vermeintliche Abkehr vom Selbstmordgedanken. Die Regieanweisungen der Straßburger Aufführung sahen hierfür die Gestaltung zweier Kreise durch die Chorknaben vor: In dem einen erschienen sie verkleidet als Salaminier Seeleute, in deren Mitte der Gott Apollo auftrat, in dem anderen als Satyre, versammelt um den Gott Pan. Die Zusammenführung der beiden Götter ist zwar im Sophokleischen Chortext angelegt, welcher zu dem Gott der Freude und des Frohlockens den Gott des Geistes und Verstandes herbeibeschwört, auf daß auch er sich über Ajaxens Entscheidung zum Le456

Zur Verbindung der Göttin Diana mit Himmelskörpern vgl. A. Alciati, Emblemata cum commentariis, S. 696b. In der Antike wird die griechische Artemis erst bei den Stoikern und hellenistischen Grammatikern in Verbindung zu Gestirnen gebracht, während die römische Diana stets mit Fackeln oder als »lucifera« und »Lucica« sowie bei den Dichtern als Göttin des nächtlichen Gestirns Luna verehrt wurde, vgl. die Lemmata »Artemis« und »Diana« in Pauly-Wissowa, Real-Encyklopädie der Classischen Altertumswissenschaft, Band II, bes. S. 1354, und Band. V,l, bes. S. 327, 331,334f. 457 vgl. ein entsprechendes Emblem aus dem Jahr 1553 bei La Peri6re in A. Henkel und A. Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, S. 40 [= Nr. 5]. 458 Zur Verbindung der Göttin Venus sowohl mit der Rose als auch mit den Sternen vgl. A. Alciati, Emblemata cum commentariis, S. 448b: »Philosophi quidam odorem rosae et colorem a Veneris Stella proficisci existimarunt [...] Sideris et floris est domina una Venus.« 459 Vgl. E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, S. 90.

301 ben und zur Vernunft freue.460 Die Straßburger Anweisungen jedoch überspitzen durch die choreographische Anordnung diese Komplementarität zu einer Gegenüberstellung der beiden Gottheiten mit deutlich abgegrenztem Gefolge.461 Als Konfrontation von Pan und Apoll hat diese Gegenüberstellung ihr Vorbild im Emblembuch des Bartholomaeus Anulus (1500-1565) Picta Poesis ut pictura poesis erit (Lyon 1552), der unter der inscriptio »Perversa Iudicia« das Urteil des König Midas vor dem Wettstreit der beiden Götter darstellt: Zur Strafe für die Bevorzugung des Pan und seines Flötenspiels anstatt der Leier des Apoll bekommt Midas Eselsohren. Die bereits im Motto angedeutete Auslegung dieses Bilds erläutert die subscriptio als Entgegenhaltung von leerer Beredsamkeit und kluger Rede, deren unterschiedliche Wertqualität übersehen werde: »sunt quibus eloquio sapiente, eloquentia vana plus placet.«462 Indem die pictura dieses Emblems in der Straßburger choreographischen Einlage wiederkehrt, übernimmt sie auch die untrennbar mit dem Bild verbundene Auslegung; diese entspricht auch dem Thema des Schuldramas, nämlich dem Konflikt von Ajax und Odysseus. Die unübersehbare Bestrafung des falschen Urteils, die das rezipierte Emblem enthält, nimmt somit bereits auf dem Höhepunkt des Dramas die letzliche Wertung zugunsten Ajaxens vorweg. Die anschließende Nachricht über den nur vorläufig auf Ajax verhängten Wahn bestätigt diese Wertung. Strebte Scaligers Version eine Heroisierung des Selbstmords an, so begnügte sich die Straßburger Schulaufiührung damit, den Suizid durch die noch stärkere Verurteilung der Atriden zumindest zu entschuldigen und dadurch mit der christlichen Ablehnung des Freitods verträglicher erscheinen zu lassen. Die Wendung der Handlung zugunsten des Ajax, wie sie im letzten Akt durch die Intervention des Odysseus erreicht wird, wollte man zudem ausführlicher motivieren und erklären. Hierzu setzte der Verfasser unmittelbar nach dem Selbstmordmonolog Ajaxens ein Zwischenspiel mit dem Titel »Nuncium de morte Aiacis« ein, das den Streit der griechischen Heerfuhrer um die moralische Dignität des verstorbenen Titelhelden vorführt:463 Die Kontroverse zwischen den drei Parteien des Vorspiels, nämlich den 460 VGL Sophokles, Ajax, v. 704f.: |ioXöv ava£ ' AitóXXcov ò AótXux; EÌC/VCDOTCX; è(xoì i j i M E i 8 i à J i a v t ó ^ EÌxpptov. 461

Ebd., v. 693-716. Vgl. Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. c8 r : »Actu tertio, instar geminae CHOREAE, ex duobis circulis conflatae, in quorum altero APOLLO Salaminiis gaudentibus ob resipiscientiam AIACIS aparuit: in altero PAN cum Satyris laetus saltavit in formam numeri octonarii.« 462 Vgl. Anulus in A. Henkel und A. Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, S. 1604f. [= S. 91]. Zu der bedeutungsgleichen Gegenüberstellung des Silenen Marsyas und Apoll und deren platonischen und neoplatonischen Quellen vgl. E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, S. 199f. Vgl. auch L. Freunds Artikel »Apollo«, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Band I, Stuttgart 1937, S. 801-810. 463 Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. B4 r -C4 v .

302 Neoptolemos-Befurwortern, den Ajax- und den Odysseus-Anhängern, verlagerte man auf die Figur des Ajax selbst, der somit zum Streitgegenstand erhoben wurde. Ganz nach der Konvention des frühneuzeitlichen Dramas, das den statischen Charakter einer Charakterentwicklung vorzieht, wenden sich die Odysseus-Anhänger des Vorspiels, nämlich Agamemnon, Menelaus und Diomedes, auch hier gegen Ajax; die Neoptolemos-Anhänger Nestor und Euripylus sowie Ajaxens direkter Befürworter Oileus wiederum verteidigen den Titelhelden. Formal und inhaltlich verfuhr man wie im Vorspiel: Indem der Zwischenspielverfasser etwa in Euripylus' Rede gegen Menelaus Ausdrücke aufnimmt, die in Scaligers Version der Menelaus-Opponent Teuker verwendet, oder eine Chor-Sentenz darin einflicht, verleiht er der amplifizierten Anklage gegen Menelaus einerseits Kontinuität zur Vorlage und somit Glaubwürdigkeit und andererseits die Autorität des weisheitsprechenden Chores. 464 Eine Abweichung von der statischen Figurengestaltung und -konstellation stellt der Straßburger Odysseus dar. Denn sein Auftritt im Zwischenspiel markiert eine Entwicklung in seinem Charakter. Verkörperte Odysseus im Vorspiel den unerbittlichsten Gegner von Ajax, so vernimmt er sich im Zwischenspiel gerührt von den tödlichen Konsequenzen des Waffenurteils: Er erklärt sein Mitleid mit dem Verunglückten und versucht gar die Atriden zu beschwichtigen. Er erkennt seinem ehemaligen Rivalen nicht nur Tapferkeit, sondern auch Unschuld an, da seine einstweilige und aufgrund eines Götterschicksals ihm auferlegte Raserei kein Grund dafür sei, Ajax moralisch zu verdammen 465 Respekt vor göttlichen Beschlüssen, Barmherzigkeit und Umkehr von seinem bisherigen Verhalten sind die Züge, die der Figur des Odysseus neu hinzugefugt werden. 466 Die Glaubwürdigkeit seiner Reue belegt der unmittelbare Erfolg seiner Rede bei Idomeneus und Agamemnon, welche er schließlich zugunsten des verstorbenen Ajax umstimmt. Somit liefert der vormals dezidierteste Gegner von Ajax durch das Beispiel seiner eigenen Einsicht das stärkste Überzeugungsmittel. Die Umkehr-Rede des Odysseus hat zwar ein hellenistisches Vorbild, das fast ausfuhrlich zitiert wird, 467 doch innerhalb des Straßburger Zwischenspiels erfüllte die Wende im Verhalten von Odysseus eine zweifache Funktion; zum einen statuiert Odysseus ein moralisches Exempel der Bekehrung und Einsicht, zum ande464 vgl. ebd., S. C3 V , in Euripylus' Rede die Ausdrücke »durus et intractabilis« (Scaliger, v. 1361) und »parumque iustus« (Scaliger, v. 1042) sowie die Sentenz »ne malum malo refarcientes, dupla incommoda subeamus imprudentes« (Scaliger, v. 361 f.). 465 Vgl. ebd., S. C4r: »nocentem fata, quem faciunt, is innocens/ Merito est habendus. huic nocuere Dii viro«. 466 v g l ebd., S. C4r: »Equidem, si propter, ille, nostra praemia / qua lite evicimus, talem miserrimam / Subiit ruinam: me victorem, munera / nunquam vidisse illa, aut tulisse, optaverim.« 467 Vgl. Quintus Smyrnaeus, Posthomerica, 5, v. 583-588 und 594ff.; hier allerdings liegt der Odysseus-Rede nicht Reue, sondern Beschuldigung des Schicksals zugrunde, um sich von der eigenen Verantwortung für Ajaxens Zorn zu befreien, vgl. v. 581 f.

303 ren ist diese Umkehr dramaturgisch notwendig, um die Diskrepanz zwischen dessen Verhalten im Vorspiel und im letzten Akt zu begründen: die Hervorhebung der Rivalität zu Ajax in dem neugestaltenen Waffenurteil des Vorspiels erfordert eine ebenso starke Veränderung der Figur, um die Kontinuität zu der Odysseus-Figur der Vorlage herzustellen, die vom ersten bis zum letzten Akt sympathische und humane Züge aufweist. Um die Wahrung der klassizistischen geschlossenen Form bemühte man sich bei der Integation der Zusätze in die Vorlage, indem etwa das Ende des Zwischenspiels den Auftritt Teukers im anschließenden vierten Akt ankündigt. Dessen Erschütterung vom Selbstmord des Bruders und Einsatz für die umstrittene Bestattung nimmt die choreographische Einlage in der Form eines Herzens mit eingerahmtem Kreuz auf, das die Chormitglieder durch ihre Anordnung bildeten; zweifach erscheint das Wort »cors« im Trauermonolog Teukers. 468 Neben dieser textimmanenten Bedeutung verweist die Kombination von Herz und Kreuz auf den mutigen Tod Ajaxens, der aufgrund des religiösen Unrechterleidens märtyrerhafte Züge erhält. Auch die Erscheinung Ajaxens, verkleidet als Mars mit dem Suizidschwert in der Brust ganz nach der Beschreibung des Tecmessa-Berichts, hat eine doppelte Bedeutung. 469 Zum einen eine textimmanente, insofern der Sophokleische Chortext Verzweiflung vor dem Unheil des andauernden Troja-Krieges und Bedauern über den Verlust des tapferen und kriegserfahrenen Ajax äußert. 470 Zum anderen stellt der martialische Ajax einen starken Kontrast zu dem ihn umrahmenden Herz dar, womit eine antike und neuplatonische Konfiguration, nämlich die von Venus und Mars, zurückkehrt.471 Die in den Choreographien der drei vorausgegangen Akte angelegten Kontraste werden hier durch ein besonders scharfes Oppositionspaar übersteigert. Das Chorlied selbst enthält eine Antinomie, indem es Trauer um die Kriegsopfer und Wunsch nach kräftigerer Offensive verbindet. Die antike und neuplatonische Auffassung des Streits als Lebensprinzip, das die italienische Renaissance in Verbindung mit der Aphroditischen Lieblichkeit zu einer Harmonietheorie ver468 Vgl. die Scaligersche Übersetzung von Sophokles, Ajax, v. 995 und 1005. 469 Der Scaligersche Wortlaut von Sophokles, ebd., v. 909 »quod et quidem haerens, humoque fixus ensis arguit« kehrt abgewandelt in der Regieanweisung zu der Choreinlage nach dem vierten Akt zurück, Sophoclis Aiax lorarius stylo tragico a Josepho Scaligero translatus, et in theatro Argentinensi publice exhibitus anno 1587, S. c8 r : »Actu quarto, instar CORDIS habentis Crucem in medio: cuius emblema fuit MARTIS loco ipse AIAX proprio ense confixus in bassi cordis haerens.« 470 Vgl. Sophokles, Ajax, v. 1185-1198. In der Druckvorlage zu den Chormelodien fehlen die v. 1199-1221, die die Klagen der Salaminier über die Verzichte auf Lebensfreuden und Liebesgenüsse zu Kriegszeiten, deren Bedauern über den Verlust ihres Schutzherrn und ihre Hoffnung, auf der Rückkehr die Stadt Athen bald begrüßen zu dürfen. 471 Zur Identifizierung der menschlichen Seele mit der Venus im Neuplatonismus vgl. E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, S. 142. Zur Verbindung von Mars und Venus und ihrer ikonographischen Bedeutung in der Renaissance vgl. ebd., S. 104 ff.

304 wertete, erfährt somit in der Straßburger Choreographie eine christliche Verklärung: Ajax tritt als Opfer martialischer Macht auf, die jedoch durch die Vermittlung des dargestellten Kreuzes aufgehoben wird. Überbrückten Antike und Renaissance die Heterogenität von Liebe bzw. Leben und Leiden durch profane Schöpfungs- und ästhetische Ausgleichsspekulationen, so beansprucht das Straßburger Schuldrama die dazugehörige ikonographische Tradition, um den christlichen Glauben von Kreuzeserlösung und von mystischer, märtyrereigener Gottesvereinigung zu propagieren. 472 Das Paradoxon christlicher Passionserlösung suchte man, durch den Bezug auf eine ebenso paradoxe klassizistische Vereinigungskonfiguration zu versinnbildlichen.

4.2.3.3. Im Kräftespiel zwischen »fortuna« und »fatum« Die Uberblendung von einer christlichen und einer heidnischen Vereinigungsfigur zur Herstellung von Harmonie und Versöhnung verweist zugleich auf den fünften Akt, der die Einigung der entgegengesetzten griechischen Parteien herbeifuhrt: Odysseus' Rekonziliationsinitiative im Namen von Gerechtigkeit und Frömmigkeit erreicht die Bestattung des Titelhelden und die Rehabilitierung seiner Ehre. Solche zyklische Verbindung von Sturz und Wiederaufrichtung in ihrer universalen Tragweite und Bedeutung stellte die choreographische Einlage dar, die die Straßburger Aufführung dem letzten Akt hinzufügte. Denn der Choralkomponist paraphrasierte den Scaligerschen Schlußchor zu einem zweistrophigen »Exodion« über die Unbeständigkeit der Fortuna, die man als allegorische Gestalt mit ihrem herkömmlichen Attribut, dem Rad, auftreten ließ; 473 das Glücksprinzip, das die humanistische 472

473

Das Bild des Herzstiches durch einen Schwertstoß geht auf Simeons Prophezeiungen an Maria zurück (Lukas, 2, 35): Kai aoí) a\míguten Kreon< (TÖV ctyaööv Kpeovxa) völlig pathetisch als »der fromme Creon« übersetzt und damit die Perspektive der Bürger einnimmt.577 In der Szene der Konfrontation zwischen Antigone und Kreon unterstreicht Opitz den Gegensatz, der in den Protagonisten verkörperten Prinzipien, zugleich betont er jedoch auch seine Differenz zu Sophokles. Das Gesetz, auf das sich Opitzens Antigone in ihrer Apologie beruft, ist nicht das ihrer Sophokleischen Vorgängerin, die sich von der Ehrfurcht gegenüber den Toten leiten läßt. Vielmehr ist es das Prinzip einer vorwiegend innerweltlichen Gerechtigkeit: Während sich die Sophokleische Antigone nur auf die Dike der Unterwelt beruft und somit schon hier die Partialität ihrer Sicht zu erkennen gibt, spricht Opitzens Antigone von dem »Recht dem man verpflichtet / Und das uns Menschen sonst Gesetz und Ordnung schafft.«578 In dem von Opitz eigens interpolierten Vers hat das angesprochene Recht universelle Geltung. Diese Universalität betont Opitz durch eine Veränderung der Vorlage: Während die Sophokleische Antigone ihren absoluten Anspruch erst durch die Berufung auf das ungeschriebene, überkommene Recht legitimieren muß, rekurriert Opitzens Antigone ganz unvermittelt auf »dieses Recht das nit ist auffgeschrieben, das von den Göttern kompt«. Die somit als selbstverständlich unterstellte Universalität dieses Rechts braucht Opitz der Sterblichkeit Kreons gar nicht gegenüberzustellen, wie es die Sophokleische Heldin in ihrer Apologie durch Verwendung des rhetorischen Antitheton von 579 ÖECOV und 6VT]T6V tut. Opitz tilgt denn auch den entsprechenden Ausdruck. Die Sophokleische Antigone setzt das geschriebene dem ungeschriebenen Recht entgegen, um durch Beschwörung der göttlichen Sphäre die Machtlosigkeit des irdischen Herrschers darzutun. Opitz dagegen löst diese Argumentation auf: Nicht einer in der menschlichen Ratio verwurzelten Gesinnung (cppovTma) tritt die Opitzsche Antigone entgegen, sondern der »Men-

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578 579

Sophokles, Antigone, v. 74 vs. M. Opitz, Antigone, S. 260. Sophokles, Antigone, v. 24 vs. M. Opitz, Antigone, S. 258. Sophokles, Antigone, v. 31 vs. M. Opitz, Antigone, S. 258. Die Auflösung der AclKonstruktion teilweise in direkter Rede löst dabei die Charakterisierung »fromm« von der referierenden Antigone ab und bezieht sie auf die Bürger. Sophokles, Antigone, v. 451; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 274. Sophokles, Antigone, v. 454f.; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 275.

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sehen Zorn und Grimm«.580 Die Gegenposition hat also bei Opitz bereits zu Beginn der Konfrontation jeden Anspruch auf Legitimität verloren; er nivelliert den Konflikt zwischen den beiden absolut gesetzten Rechtsauffassungen zu einer Gegenüberstellung von universalem Naturrecht und einem angemaßten Rechtsanspruch, der sich in affektgeleiteten Manifestationen zeigt, also offensichtlich bloß subjektiv ist und eines objektiven Grunds entbehrt. Aus der Perspektive märtyrerhaften Affektbeherrschung, die die Angst vor menschlicher Gewalt überwindet, erscheint Antigones Verachtung des Lebens nicht mehr, wie bei Sophokles, als Überhebung über die Bedingtheit menschlicher Existenz, sondern als Todesbereitschaft, die in gottgegebener Gerechtigkeit gründet. Durch das Mittel der Fremdcharakterisierung, wie sie z. B. durch den Chor erfolgt, untermalt Opitz diese Beständigkeit seiner Figur. Anders als bei Sophokles spricht der Chor nämlich nicht vom leidenschaftlichen und rohen Charakter einer Antigone, die sich nicht beherrscht und daher dem Unglück entgegenschreitet. Opitzens Chor rühmt vielmehr den »Eyfer« der Heldin, sich dem »Übel« zu stellen.581 Die vom Chor gepriesene Tapferkeit Antigones läßt Opitz durch den wütenden Kreon bestätigen, der die Überlegenheit Antigones als Verletzung ihrer Geschlechtsrolle schmäht: »Kein Mann bin ich gewiß / sie ist vielmehr ein Mann«.582 Dieses Urteil relativiert Opitz, indem er die Kränkbarkeit seines Kreon betont, der Antigones Betragen - anders als bei Sophokles - vornehmlich als persönliche Beleidigung und weniger als Ungehorsam gegenüber dem Staat empfindet. Das intransitive •bßpi^eiv der Antigone, die Unverbrüchlichkeit der Staatsgesetze (vöjioix; 7tpotcei|iEvot>(;) und die Legitimität des Bestattungsakts, all das eliminiert Opitz. Sein Kreon erscheint dagegen als von »Schmach verletzt«, spricht von »dem was ich befohlen« und rügt Antigones »Verbrechen« und »freche That«.583 Antigones männliches Verhalten erscheint als objektiv gerechtfertigt, da Kreon ihr dieses Verhalten aus seinem pointiert subjektiven Interesse heraus zum Vorwurf macht.584 Von der Bewunderung, die Opitz für solchen männlichen Mut empfand, zeugt bereits seine Judith-lJbeiseVzxmg, wo er an der alttestamentarischen Titelheldin »das Männliche hertz in einem weiblichen Leibe« lobte.585 Die Rechtmäßigkeit von Antigones Handeln unterstreicht Opitz außerdem indirekt durch die Verschärfung des Kontrastes zwischen den beiden Schwestern. In den Dialogen zwischen Antigone und Ismene zeigt So580

Sophokles, Antigone, v. 459; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 275. Sophokles, Antigone, v. 471 f.; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 275. Sophokles, Antigone, v. 484 und 61 f.; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 276 und 260. 583 Sophokles, Antigone, v. 480-485; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 276. 584 Vgl. dagegen M. R. Wade, »Geist- und Weltliche Dramata Hecuba, Dafne, Judith, Antigone: the Dramatic Works and Heroins of Martin Opitz«, in: B. Becker-Cantarino und J. U. Fechner (Hg.), Opitz und seine Welt: Festschrift fiir George SchulzBehrend, Amsterdam-Atlanta 1990, Chloe, Band 10, S. 541-559, hier S. 556. 585 M. Opitz, Judith, S. 90. 581

582

330 phokles zweierlei: Einerseits skizziert er das Selbstgefühl und die Anmaßung der Antigone, nämlich den Anspruch der Heldin, sie allein wisse um die Prinzipien gerechten Handelns und wahrer Liebe; andererseits exponiert er Ismenes große Mitleidsfahigkeit und ihr starkes Bedürfnis nach menschlicher Nähe in der Stunde der Gefahr. Opitz dagegen kehrt das Verhältnis um: Seine Ismene empfindet es als »Schande«, daß sie nicht die Verantwortung für die Bestattung mittragen darf. Dadurch erscheint Antigones Handeln nicht in einem zweifelhaften, sondern - im Gegenteil in einem durch und durch ehrenvollen Licht.586 Ismene bedauert es sogar, nicht den »gleichen Lohn« wie Antigone zu erlangen, ein Wort, das von Opitz interpoliert wird und wohl folgenden Doppelsinn hat: Zum einen meint es die Bestrafung der Verfehlung gegenüber dem weltlichen Machthaber; zum anderen hat es die Bedeutung der Anerkennung einer gerechten Tat.587 Eine dergestalt positiv charakterisierte Antigone erscheint von Grund aus glaubwürdig. Glaubwürdig ist sie daher auch, wenn sie Ismene kritisiert, weil diese an der Bestattung nicht teilnahm. Wenn Antigone die Schwester mit der Begründung verspottet, sie hätte Kreon gefürchtet, so interpretiert Opitz diesen Tadel als Vorwurf der Kollaboration: »dem stehest du ja bey.«588 Indem Opitz den Vers, der Zuneigung und Mitgefühl für Hämon zum Ausdruck bringt, nicht Antigone, sondern Ismene in den Mund legt,589 beseitigt er schließlich jedes Moment, das der Idealisierung Antigones, dem Ruhm ihrer Tapferkeit oder Beständigkeit und vor allem der Verherrlichung ihrer Keuschheit widerstreiten könnte. Mehrfach spricht Opitz in seiner Vorrede zur Judith von der Keuschheit seiner Heldin und bekundet damit seine Hochschätzung gerade dieser Tugend.590 Auf die Verbindung von Keuschheit, Tapferkeit und Frömmigkeit zielt vor allem das Klagelied, mit dem Opitzens Antigone in den Tod geht. Durch geeignete Interpolationen und entsprechende Freiheiten bei der Übersetzung zentraler Begriffe gelingt es Opitz, den Sinneswandel der Sophokleischen Heldin und ihre schmerzliche Einsicht in die Relativität aller Gerechtigkeit in einen zwar leidvollen aber glaubwürdigeren Triumph ihrer Tugenden umzumünzen. Antigones Bedauern darüber, daß sie auf eine Hochzeit und somit auf den Inbegriff aller Lebensfreude verzichtet, steht bei Opitz nicht mehr im Kontrast zu ihrer anfanglichen Verspottung des Lebens. Abweichend von Sophokles legt der Schlesier nämlich seiner Heldin die Feststel586 587 588 589

590

Sophokles, Antigone, v. 544; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 278. Sophokles, Antigone, v. 558; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 279. Sophokles, Antigone, v. 549; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 279. Sophokles, Antigone, v. 572; die Sophokles-Ausgabe von Aldus Manutius (1502) und diejenige von Turnebus (1553) teilen diesen Vers der Antigone zu, ebenso R. C. Jebb, »Sophocles. Antigone«, in: Sophocles. The Plays and Fragments, Band 3, S. 110; dagegen legt ihn der Ismene in den Mund H. Rohdich, Antigone. Beitrag zu einer Theorie des Sophokleischen Helden, Heidelberg 1980, S. 105. Vgl. M. Opitz, Judith, S. 88: »die Handhabung der Keuschheit«, und S. 90: »die Behaltung der Keuschheit.«

331 lung in den Mund, daß sie diesen Verzicht immer schon mitbedacht habe: »als wie ich zwar gedacht«.591 Die späte Einsicht und der damit verbundene Schmerz indizieren somit nicht mehr - wie bei Sophokles - einen grundlegenden inneren Wandel der Heldin, sondern lediglich eine Station ihres Leidenswegs. Auch die Hinweise des Chors auf den Nachruhm und die Ehre der Heldin, die bei Sophokles als Einspruch gegen ihre Todesangst fungieren, sind bei Opitz vor dem Hintergrund des von der Heldin vorbedachten Leidens als Widerhall ihrer Selbstcharakterisierung zu verstehen: Ihren grausamen Tod nehme sie freiwillig und in Nachfolge des entsetzlichen Endes der Danae auf sich. Konsequent übernimmt bei Opitz der Chor die Funktion, Antigone in ihrer Märtyrerrolle zu bestätigen. Dabei zeichnet sich ein anderer Begriff von Gerechtigkeit ab als derjenige, den der Chor bei Sophokles gegen die Heldin einklagt. Der Sophokleischen Protagonistin wird ihr anmaßender Anspruch auf absolute Gerechtigkeit vorgehalten (du stießest an den hohen Thron der Gerechtigkeit / üyri^öv eq Aitcaq ßaöpov Ttpoaejteaeq), wohingegen sich Opitzens Chor zum Echo ihres Aufbegehrens, ihres Widerstands gegen Kreons Machtansprüche macht: »es ist viel gethan der Majestät sich widerlegen.«592 Der Opitzsche Chor belehrt Antigone nicht, sondern er bestätigt ihr die Unausweichlichkeit ihres Todes, indem er auf die Unbezwingbarkeit ihres Gegenspielers hinweist. Mit dieser Haltung bezieht der Chor eine ambivalente Position: Ohne soweit zu gehen, dem Herrscher die Gefolgschaft aufzukündigen, stellt der Chor indirekt die Fragwürdigkeit von Kreons bedingungslosem Machtanspruch in Frage. Doch nicht nur den Tadel an Kreons absolutem Anspruch auf Gerechtigkeit tilgt Opitz in den Worten des Chors, sondern auch die Kritik an einer absolut gesetzten Frömmigkeit. Während Sophokles die Partialität der Frömmigkeit Antigones (eüoeßeia xiq) von der Totalität der Weltordnung und ihrer durch die Polis vermittelten Verwaltung abhebt, überakzentuiert der Opitzsche Chor den Gegensatz von Frömmigkeit an sich und dem »Regiment« dessen, »der wol regiert«, wie der Opitzsche Chor Kreons Macht parteiisch qualifiziert.593 Der Sophokleische Gegensatz erfahrt bei Opitz eine Umkehrung. Einerseits konkretisiert und spezifiziert er die bei dem griechischen Tragiker abstrakt gehaltene weltliche Macht, indem er sie ausschließlich durch Kreon verkörpert sieht. Andererseits begreift Opitz den konkreten Bestattungsakt als vollgültige Manifestation eines universalen Frömmigkeitsideals. Der vom Chor ausgesproche Tadel beeinträchtigt dabei keineswegs den impliziten Lobpreis der Antigone, der durch die offenkundige Parteilichkeit des Chors nicht annuliert wird; während nämlich der Sophokleische Chor den Untergang der Antigone aus ihrem heroischen Temperament herleitet, muß der Opitzsche Chor für diese Erklä591 592 593

Sophokles, Antigone, v. 811; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 289. Sophokles, Antigone, v. 852; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 290. Sophokles, Antigone, v. 872; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 291.

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rang wiederum das dem Kreonschen Machtanspruch widerstreitende Laster der Dreistigkeit bemühen: »dich stürzt dein frecher Sinn.«594 Um das Strafwürdige von Antigones Verstoß gegen Kreons Machtanspruch zu betonen, unterstreicht der Opitzsche Chor - anders als der Sophokleische - zweimal das Unerhörte von Antigones Handlung (»es ist viel gethan«, »Das ist zu viel gethan«).595 Damit fällt - vor dem Hintergrund ihrer fraglos anerkannten Frömmigkeit - ein bezeichnendes Licht auf den Doppelcharakter ihres Wagemuts: Er erscheint zugleich als tollkühne Anmaßung und als heroische Größe. Bei Opitz dient das gesamte Klagelied der Antigone der Darstellung ihrer Tapferkeit und Kühnheit. Antigones resignative Kapitulation vor den staatlichen Satzungen oder dem Schicksal ( O Ü K E T I JIOI [ . . . ] G E ^ K ; , E ^ Ö V JCOTJIOV) blendet Opitz aus und gibt die einschlägigen Bekundungen der Heldin als unspezifischen Ausdruck von Trauer und Schmerz wieder.596 Würde die Opitzsche Antigone neben oder gar über dem Prinzip der Frömmigkeit eine weitere objektive Instanz anerkennen, so stünde das ihrem entschiedenen Einsatz für die Idee der religiösen Freiheit im Wege; da die allgemeinmenschliche Bekundung von Trauer und Schmerz dem religiösen Heroismus der Heldin dagegen nicht widerstreitet, behält sie Opitz bei. Auch der große Monolog, in dem Antigone gegen Ende noch einmal Rechenschaft über ihr Handeln ablegt, gerät Opitz zu einer uneingeschränkten Demonstration ihrer Zielstrebigkeit und Frömmigkeit. Selbst die Einsicht der Sophokleischen Heldin, gegen den Willen der Bürger gehandelt zu haben, wandelt Opitz ab und verwendet sie als Mittel zur Heroisierung Antigones. Zur Bezeichnung ihrer Gegenposition verwendet er bewußt das Abstraktum »zuwider dieser Statt« und betont - anstatt neutral vom Bestattungsakt zu sprechen - nachdrücklich die »Gefahr«, der sie sich aussetzte.597 Indem er insbesondere die massive Polemik unterstreicht, die in Kreons Verdikt über Antigone liegt, sie habe »Gesetz und Recht versehret«, sucht Opitz die Wertungen Kreons als subjektiv verzerrt und insofern als fragwürdig darzustellen. Sophokles dagegen begnügt sich damit, lediglich von der Fehlbarkeit und dem Übereifer (ctjiapTavEiv, 8eivä xoÄ-nav) seiner Heldin zu sprechen, um so den Individualismus und Ehrgeiz herauszustellen.598 Die selbstkritische Frage, die die Sophokleische Protagonistin auf dem tragischen Höhepunkt ihrer Selbsterkenntnis stellt, wird zu einer rhetorischen Frage mit impliziter Verneinung nivelliert, wenn die Opitzsche Antigone nicht mehr nach ihrer Schuld vor der göttlichen Gerechtigkeit und Weltordnung fragt (Savfiövcov 61KT|V), sondern danach, ob sie einen »Befehl der Götter über-

594

Sophokles, Antigone, Sophokles, Antigone, 596 Sophokles, Antigone, 597 Sophokles, Antigone, 59 8 Sophokles, Antigone, 595

v. 875; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 291. v. 852 und v. 874; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 290 und 291. v. 879ff.; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 291. v. 907; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 292. v. 914f.; vgl. M. Opitz, Antigone, S. 292.

333 schritten« habe.599 Um die unausweichliche Verstrickung des Menschen in die Wechselfälle seiner kontingenten Existenz aufzuheben, muß Opitz menschliche Fehlbarkeit auf ein einmaliges Vergehen begrenzen, das Antigone überdies nicht einmal nachzuweisen ist. Die bei Sophokles qualvollerweise offen bleibende Frage, ob die Hinwendung zur rettenden Instanz der Götter einen Sinn habe, wird bei Opitz zu einer bloßen Demutsgeste der Heldin; seine Antigone betrachtet es nicht als nutzlos, sondern als unerlaubt und unangemessen, in ihrem Unglück an göttlichen Beistand zu appellieren.600 Den Gegensatz unvereinbarer Auffassungen von Frömmigkeit, den die Sophokleische Heldin im Moment größter Verlassenheit und Verzweiflung an sich selbst erfährt ( ö u a a e ß E i a v e-üaeßo-ßa' EKTTIO&HTIV), löst Opitz auf: Er veräußerlicht den inneren Widerspruch Antigones, indem er ihn auf zwei antagonistische Positionen verteilt; zum einen erweitert er den spezifischen Gegensatz von >fromm< und >unfromm< zu dem allgemeineren von >recht< und >unrecht< und nimmt damit dem Begriff von Frömmigkeit, auf den Antigone ihr ganzes Handeln gründet, jeglichen Anschein eines inneren Widerspruchs; zum anderen beugt er dem eventuellen Verdikt über ihre Tat vor, indem er es als ein aus gegnerischer Sicht erfolgendes und daher perspektivisch verzerrtes Urteil kenntlich macht, dem Antigone selbstsicher die Gewißheit der Rechtmäßigkeit ihres Handelns entgegenstellt: »ich habe recht gethan / Jedannoch klagt man mich von wegen unrecht an.«601 Während für die Sophokleische Protagonistin das Leiden der Ort ist, an dem sie - wie es der Optativus Potentialis deutlich genug zum Ausdruck bringt (jiaOövteq av ^•oyyvot^ev fi|iapxr|KÖTeDafnearistotelischen< Regelpoetik in seinen Dramenübersetzungen selbst konstatiert und dabei das Schwergewicht auf den dramatischen Gehalt gelegt.659 Auch wenn Magnus Daniel Omeis (1646-1708) in seiner Gründlichen Anleitung zur Teutschen Accuraten Reim- und Dichtkunst (1704) Opitzens Übersetzungskünste lobt und seine Trojanerinnen als Muster für eine deutsche Kunsttragödie in Versmaß würdigt, spart er dessen Antigone aus: »Vor andern Teutschen in gebundener rede verfaßten Schauspielen sind sonderlich hier zu loben Opitzens übersetzte Trojanerinnen«.660 Dabei verweist Omeis auf die Breslauer Opitz-Ausgabe Fellgibels von 1690, in der die Antigone zusammen mit den Trojanerinnen erschien. Die Bearbeitung der griechischen Tragödie findet bei ihm jedoch keine Erwähnung.661 Das von Omeis in seiner Poetik als Muster vorgestellte Tragödienmodell sieht »unterschiedliche Verwirrungen« vor, die zwei Akte einnehmen sollen, und fordert die verstärkte Darstellung von »Neid«, »Mißgunst«, »Stoltz« und »listigen Anschlägen« als Ursachen dieser Verwirrungen.662 Dieses Modell erklärt seine Präferenz für bestimmte Tragödiendichter, denn die genannten Elemente konnte Omeis eher in Senecas Stück als in der Antigone finden. Seneca nennt er zusammen mit Lohenstein als »Meister« des Chorlieds,663 einem Mittel, dem er ja für das Schauspiel überhaupt große Bedeutung beimißt. Lediglich die Poetik von Neumark nennt Opitzens Antigone als Vorbild für das Verfassen von Trauerspielen. Zusammen mit den Trojanerinnen wird sie in den Poetischen Tafeln (1667) von Georg Neumark (1621-1681) erwähnt, deren im folgenden zitierter Erläuterungsteil Martin Kempe (16421683) zu verdanken ist: Auf welche Art ein Trauerspiel anzustellen sey / berichtet gründlich der oftgelobte Harsdorff in seinem Poetischen Trichter / XI. Stunde, p.70. Bey den Deutschen hat sich vor wenigen Jahren mit den der hochbeliebte Herr Andreas Gryphius Seel mit den Trauerspielen sonderlich von andern hervorgethan / aus dessen Schriften ein Lieb658

M. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 27. Vgl. M. Opitz, Dafne, S. 104, und ders., Judith, S. 88. 660 M. D. Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen Accuraten Reim-und Dichtkunst, Nürnberg 1712, S. 247 (Universitätsbibliothek Heidelberg: von Waldberg 2883). 661 Ebd., S. 40; vgl. G. Wittkowski, »Vorwort« zu Martin Opitz. Teutsche Poemata, Tübingen 1902, S. XXV. 662 M. D. Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen Accuraten Reim-und Dichtkunst, S. 234; vgl. ebd., S. 242. 663 Ebd., S. 236. 659

348 haber satsame Unterweisung nehmen kann. In welchem Zweck auch des Opitii Antigone aus dem Sophokle und die Trojanerinnen aus dem Seneca gedeutsht / viel helffen werden. 664

In seinem Poetischen Trichter (1648) empfiehlt Kempes Gewährsmann Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658) den »Teutschen«, für ihre Trauerspiele »eine derselben eigene Geschichte zu erwehlen«,665 wobei er zur Illustration seiner Regelpoetik nicht Opitz, sondern Beispiele aus der christlichen Tradition einsetzt, also etwa die Joseph-Handlung in dem Drama Sophompaneas von Hugo Grotius, die Makkabeer Geschichte oder die Erzählung vom keuschen Niceta aus des Hieronymus Vita St. Pauli.666 Dagegen stellt Kempe Opitzens Übersetzung auf die gleiche Ebene wie die Originalleistungen eines Gryphius. Die dichtungstheoretische Diskrepanz zwischen Harsdörffer und Kempe ist auf ihre unterschiedliche Perspektive zurückzuführen: Während sich Harsdörffer gegen bloße - von keinem eigenen Gestaltungswillen zeugende - »Übersetzungen« von ausländischen Trauerspielen wendet,667 geht es Kempe wohl eher darum, auf deutschsprachige Muster der Gattung Trauerspiel hinzuweisen. Kempe hält Opitz also in formaler Hinsicht für durchaus vorbildlich. Harsdörffer hingegen kommt in seinen Überlegungen zur Tragödienform nicht auf Opitz zu sprechen, selbst dort nicht, wo seine Kriterien (Reim, Fünfaktigkeit, Einflechtung von Sentenzen, Tugendhaftigkeit und Standhaftigkeit des Helden) mit Opitzens Tragödien übereinstimmen. Die Distanz des Nürnbergers zu Opitz läßt sich durch den Daktylusstreit allein nicht erklären. Vielmehr manifestiert sich in ihr zweierlei: Zum einen zeugt sie vom wachsenden Selbstbewußtsein einer nationalen Dichtung, die fremde »Erfindungen« nur zuläßt, wenn sie »durch zimliche Veränderung« zu »eigen« werden;668 zum anderen kann sich Harsdörffer durch das Veränderungspostulat gewisse Auflockerungen der streng vorgegebenen Formen erlauben und so etwa den Versreim dem Chorlied vorbehalten und für die Sprechpartien die »ungebundene Rede« zulassen.669 Obgleich Opitz mit seiner Sophokles-Übersetzung im 17. Jahrhundert vermutlich einzig dasteht, bleibt der griechische Tragiker für Dichtungstheoretiker des Barock in dramentechnischer Hinsicht interessant. Die Konzentration auf die dramentechnischen Aspekte hatte eine Verschiebung des Fokus von der Antigone auf andere Sophokleische Tragödien zur Folge, denn dramentechnisch schien die Antigone unbedeutend. Für die an Aristoteles orientierten Dichtungstheoretiker könnte von Gewicht gewesen sein, daß die Antigone, anders als die Tragödien Ödipus Tyrannus und Elektro, in der 664

J. Dyck (Hg.), G. Neumark. Poetische Tafeln oder Gründliche Anweisung zur teutschen Verskunst, Berlin 1971 [ N Jena 1667], S. 154. 665 G. Ph. Harsdoerffer, Poetischer Trichter, Darmstadt 1975 [ N Nürnberg 1650, 1648, 1653], S. 72. 666 Ebd., S. 75 und 87. 667 Ebd., S. 72. 668 Ebd. 669 Ebd., S. 87f.

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Aristotelischen Poetik nirgends als Vorbild erwähnt wird. Erschwerend mag noch hinzugekommen sein, daß der Selbstmord Hämons im vierzehnten Kapitel von Aristoteles geradezu als untragisch apostrophiert wird.670 Doch der Tragödie Ödipus Tyrannus mit seiner verwickelten Handlung und die Elektro mit ihrem doppelten - freudig für die >guten< Charaktere und traurig für die >schlechten< ausgehenden - Ende bleiben in den barocken Poetiken stets Vorbilder bei der Erörterung der wesentlichen Bestandteile des Trauerspiels. Auch ohne die Vermittlung von Opitz bleibt Sophokles in der literarischen Theorie des Barock stets gegenwärtig.

670

Aristoteles, Poetik, 1454a.

5. Ausblick: Die Sophokles-Rezeption im deutschen Barock Die Beschäftigung mit Sophokles in Dichtungstheorie und -praxis des deutschen Barock vollzog sich in drei Arten: erstens in seiner Behandlung als exemplarischer Autor im Rahmen der Rezeption der antiken auctores, zweitens in Form der detaillierten Auseinandersetzung mit dramentechnischen Aspekten des Sophokleischen Werkes und schließlich drittens in der prosopographischen Würdigung des antiken Tragikers. Diese drei Arten sollen abschließend wenigstens skizziert werden. Von den römischen und humanistischen Lehrern übernahmen die barokken Dichtungstheoretiker nicht nur die Regeln der Rhetorik und Poetik, sondern auch den Verweis auf die kanonisierten Autoren zur Illustrierung eben dieser Regeln. Wenn etwa in Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey (1624), der ersten deutschsprachigen Poetik, der Name Sophokles zweimal, wiewohl an peripherer Stelle, fallt, so ist es nicht zufallig, daß er nicht als Tragödiendichter, also in der Gattungstheorie Erwähnung findet, sondern lediglich als berühmter Dichtername, der durchaus mit Meistern der Rhetorik konkurriert: »wie der Autor des Gesprechs von den Oratoren saget / des Euripidis oder Sophoclis berühmter name ist so veit erschollen als des Lvsiae oder Hyperidis; und viel begehren weniger den rühm des Ciceronis als Virgili.«1 Diese Passage des Tacitus aus dem Dialog De oratoribus (ca. 98-102) übersetzt Opitz in seinen Erörterungen des Dichterruhms, »Welches denn der grosseste Lohn ist / den die Poeten zue gewarten haben; das sie nemlich inn königlichen und fürstlichen Zimmern platz finden / von grossen uns verständigen Mennern getragen / von schönen Leuten (denn sie auch das Frawenzimmer zue lesen und offte in goldt zue bindet pflegt) geliebet / in die bibliotheken einverleibet / öffentlich verkauffet und von jederman gerümet werden.«2 Für Opitz bezieht Sophokles demnach seine poetische Autorität aus der Erlangung eben dieses Ruhms und dem ewigen »gedächtnis in den hertzen der nachkommen.«3 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dient die Autorität des Sophokles weniger der Rechtfertigung der Dichtkunst oder der sozialen Rehabilitierung des Dichterberufs. Vielmehr figuriert er neben den griechischen Lyrikern, Epikern und Dramatikern als Vorbild der Philologen und Pädago' 2 3

M. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 70. Ebd., S. 69. Ebd.

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gen. So erwähnt ihn etwa Johann Ludwig Prasch (1637-1709) im Rahmen einer Propädeutik der Verskunst, die sich in seiner Gründlichen Anzeige von Fürtrefflichkeit und Verbesserung deutscher Poesie (1680) findet. Dort wird der Grieche zusammen mit einer Reihe anderer antiker vorbildlicher Dichter behandelt: Wann wir die notwendigen Bücher von der Teutschen Sprach-Dicht- und Reimkunst zuvor läsen / und etwas eintrachteten / ehe wir Teutsche Verse machten; Wann wir uns den behenden Griff und herrliche Schätze besser gebrauchten / so verborgen liegen bey Homero, Hesiodo, Theocrito, Bione, Moscho, Oppiano, Nonno, Apollonio, Pindaro, Anacreonte, und übrigen Lyricis, bey Aristophane, Sophocle, Euripide, Colutho, Trypiodoro, und vielen andern mehr. 4

Diese Dichter werden schon in den artes versificatoriae des 16. Jahrhunderts genannt. Daher ist anzunehmen, daß der Lateinlehrer Prasch, der selbst lateinische Gedichte schrieb, sie kannte.5 Da Prasch von den klassischen Dramendichtern Aischylos, Seneca, Plautus und Terenz ausläßt, dürfte er Sophokles und den zwei anderen attischen Dramatikern einen besonderen Wert beigemessen haben. Tatsächlich liefert Prasch in seiner »Poetischen Zugabe«, die der Gründlichen Anzeige angehängt ist, die Übersetzung dreier Passagen aus Sophokles;6 in diesen sucht er durch den Alexandriner die »natür4

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6

L. Prasch, Gründliche Anzeige von Fürtrefflichkeit und Verbesserung deutscher Poesie, Regensburg 1680, S. 3 (Universitätsbibliothek Heidelberg: von Waldberg 3864). Vgl. die ausführliche Monographie zu Prasch von K. Dachs, Leben und Dichtung des Johann Ludwig Prasch (¡637-1690), Regensburg 1957. Nach Praschens Numerierung seiner Mustergedichte: XXIV, S. 65f.; XXV, S. 67; XXVI, S. 67. XXIV Das Alter und der Tod umgeht allein die Götter. Es ändert alles sonst sich mächtig / wie das Wetter. Der Erden Blüh verdorrt / der Leiber Safft vergeht. Es bleibt nimmer stets geneigt ein Freund dem Freunde / Geneigt die Statt der Statt; auch Nachbarn werden Feinde. Bißweilen schmäcket bald / bißweilen langsam diß / Was süß gewesen / herb / und nachmahls wieder süß. Zu Thebe lebt man jetzt in Ruh / ohn Handgemenge. Das Wohlvernehmen grünt. Allein der Zeiten Länge kan tausend Tag und Nächt erzeugen so das Band Zerstücken / welches jetzt umsäht das stolze Land / Und fliechten in den Krieg. Ein krummer Tritt kans machen. Es wird mein Leichnam noch erfahren neue Sachen Im Grabe / wann er längst wird liegen ohne Glut / (Ist änderst Gott gerecht) und trinken warmes Blut. XXV Theseus bey gedachtem Sophokle: Ich werde / wann ich Eid aufs Beste schweisse / Nicht mehr / beliebter thun / als wenn ich bloß verheisse. XXVI Eben auch derselbe: Ich weiß es / wann ich auch von hinen werde reisen / Mein bloßer Nähme wird dir satten Schutz erweisen.

352 liehe« Lieblichkeit des deutschen Versmaßes herzustellen, die er bei den Griechen vermißt, da er das griechische Versmaß für »künstlich« hält.7 Unklar bleibt in Praschens Argumentation, worin die Vorbildlichkeit von Sophokles besteht, wenn er dessen »behende [n] Griff« und »herrliche Schätze« lobt. Indem Prasch die deutsche Reimkunst verteidigt, stützt er sich auf die Antike, die zwar den Reim nicht pflegte, aber »dergleichen reimhafte Figuren / als da sind / Epizeuxis, Anaphora, Antistrophe, Homeoptoton, Homeoteleuton, Symploce, Paronomasia.«8 Wenn Prasch glaubte, das antike Versmaß eigne sich nicht für die deutsche Dichtkunst, so muß man schließen, daß für ihn die Vorbildlichkeit des Sophokles in der Verwendung von »reimhaften Figuren« lag. Die Mustergedichte, die er in seiner »Poetischen Zugabe« anfuhrt, sind Übersetzungen aus dem ersten Episodion des Ödipus Coloneus.9 Prasch gibt weder eine inhaltliche noch eine formale Begründung für seine Auswahl. Doch konnte er mehrere von diesen reimhaften Figuren in der Sophokleischen Vorlage vorfinden. Ebenso wie im Humanismus erscheint Sophokles auch in den literarhistorischen Darstellungen des Barock zusammen mit den anderen attischen Tragikern als ein Ahnherr des Schauspiels. So nennt ihn Sigmund von Birken (1626-1681) im »XII. Redstück. Von den Schauspielen. De Ludis Scenicis« seiner Teutsche[n] Rede-bind-und Dicht-Kunst (1679), auch wenn der Grieche seinen dramaturgischen Vorstellungen nicht ganz entspricht: Aus den Städten / wanderten endlich die Schauspiele gar nach Hof / und fingen an von Königen / Hohen und Großen / von Kriegen / Schlachten und andren ihren Bostaten / zu spiel-reden. Diese / weil vorzeiten in der Heidenschaft meisteils Tyrannen das Regiment gefuhret / und darum gewönlich auch ein grausames Ende genommen / wurden Trauerspiele oder Tragödien genennet: dergleichen Aeschylus, Euripides, Sophocles / Aristophanes, Seneca und mehr andere viel geschriben.

Daß Aristophanes hier zu den Tragödiendichtern zählt, obwohl Birken unmittelbar vorher der alten Komödie einen eigenen Teil widmet, ist eine Ungenauigkeit seines geschichtlichen Überblicks über die Entstehung der dramatischen Gattung. Birken verbindet die antike Tragödie ausschließlich mit dem unglücklichen Ende und dem höheren Personal. Um das grausame Ende dieser höheren Personen zu erklären, bezieht er noch einen moralischen Aspekt ein: Birken führt die Hauptfigur des »Tyrannen« ein, der dieses unglückliche Ende verdient, im Gegensatz zu den »frommen Regenten« der »Tragiko-Comoedia«, die sich durch ein glückliches Ende auszeichne.11 Sowohl für die beschriebene Tragödie als auch für die »Tragiko-Komödie«

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L. Prasch, Gründliche Anzeige von Fürtrefflichkeit und Verbesserung deutscher PoesieS. 16. Ebd., S. 5. Sophokles, Ödipus Coloneus, v. 607-623, v. 651 und v. 666f. S. von Birken, Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, Hildesheim und New York 1973 [ N Nümberg 1679], S. 322f. Ebd., S. 322.

353 prägt Birken den Obergriff »Heldenspiel«.12 Birkens »Heldenspiel« ist allerdings nicht mit dem aristotelischen Tragödienbegriff gleichzusetzen, der ohnehin das glückliche Ende nicht ausschließt, denn Birken ignoriert den mittleren Charakter, auf den sich die attische Tragödie stützt: Der Held / welchen man als Hauptperson vorstellet / muß ein Fürbild aller Tugenden / und zwar erstlich gekränket seyn / aber endlich ergetzet werden. Ist er aber ja ein Tyrann oder Böswicht / so soll ihm seine Straffe auf den Fuß nachfolgen / oder er endlich wie der König Manasse bekehrt werden. Dann wann in Schauspielen / die Tugend nicht belohnt / und die Laster nicht bestafft erscheinen / so ist solches ärgerlich und eine Gotteslästerung. 13

Sophokles wäre nur insofern als dramatisches Vorbild anzuerkennen, als er eine dieser Forderungen erfüllt. Da Birken die antiken Gottheiten als »heidnische Götzen« von der Schaubühne vertreiben möchte,14 kann ihm Sophokles bloß zur Illustrierung der lasterhaften Tyrannen dienen. Dies jedoch wäre nur durch höchst eigenwillige Änderungen der Sophokleischen Vorlage zu leisten. Während Birken die pauschale Abwendung von den griechischen Tragikern christlich-moralisch begründet, wird sie bei Justus Georg Schottelius (1612-1676) nach nationalen Kriterien gerechtfertigt. In seiner »Siebende[n] Lobrede von der Uhralten Hauptsprache der Deutschen / begreifft Eine kurze Anregung in gemein von der Poesie / auch wie dahin in Teutscher Sprache zugelangen« - zuerst in der Teutschen Sprach-Kunst (1651, 1662) und dann in der Ausfiihrlichen Arbeit von der Teutschen Haubtsprache (1663) erschienen - schlagen sich die Bemühungen von Schottelius um kulturpolitische Unabhängigkeit nieder. In seinem Kampf für eine rein deutsche Sprache konnte er sich ebenso gegen lateinische wie gegen französische Wörter wenden. In seinen Forderungen wiederum nach einer nationalsprachlichen Dichtung polemisierte er vornehmlich gegen die kanonisierten antiken Dramatiker: Die Arten der Traur- und Freudenspiele / wie sie ehmals von den Griechen und Römern so schön und künstlich beschrieben / und auf ihren Schauplatz ausgeführt / sind nunmehr veraltet; und wann dieselbe also/wie sie beschrieben/jetzo vorgestellet würden / möchte sie wenig Lust erwecken / oder sonst beyfall erwerben. Es schwebet in der Zeit ein Geist / wodurch getrieben Wird alles um und um: Sagt wo ist denn geblieben Die Zier der alten Welt? Es stirbert allezeit / Und bleibt beständliglich die Unbeständigkeit. Dis meinet der Poet; wir werden nicht verbunden Am frömbter Völker Art: Sagt / Teutschland habe funden Sein eigene Zier und Art. Was schreibt Euripides So wunderreich / was schreibt der schlauhe Sophokles /

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Ebd., S. 329. Ebd., S. 331. Ebd., S. 330.

354 Was Plautus / Seneka / Terentius imgleichen / Nach der Lateiner Art mit Lust herauffer streichen / Das zwingt uns Teutschen nicht. Man wolle / bittet er Von Rom und Griechenland kein Urtheil holen her. Er will nach Teutscher Art ein Freudenspiel auffuhren / Mit rechter Eigenschaft die Muttersprache zieren, etc. 15

Seine Abwertung der griechischen und römischen Vorbilder begründet Schottelius allerdings nicht nur ethnozentrisch. Bestimmend sind außerdem publikumsorientierte Kriterien; die antiken Vorbilder gelten als veraltet: Sie mißfallen den Zuschauem und befremden sie, weil sie dem Geist der Zeit nicht mehr entsprechen. In ostentativer Verachtung der bis dahin bewunderten Muster, die nicht zufallig an erster Stelle in der Reihe der Tragischen Autoren figurieren, charakterisiert Schottelius die Dramatiker Sophokles und Euripides mit den ironischen Epitheta »wunderreich« und »schlauh«. In dieser Ambivalenz von Anerkennung und Kritik erscheint Sophokles auch im Bild, das Christian Thomasius (1655-1728) bei der Besprechung des Buches Der Streit zwischen den alten und den neuen scribenten (1690) von ihm zeichnet. Die Kontroverse darüber, »ob die alten scribenter denen neuen / oder diese jenen vorzuziehen seyn / als auch wie man wohl von neuen als alten die guten von denen schlimmen unterscheiden könne«,16 verläuft auf zwei verschiedenen Ebenen: einerseits als Rivalität zwischen den alten und den neuen Autoren, andererseits als Wettsteit im eigenen Lager. Sophokles wird als einziger unter den drei attischen Tragikern erwähnt und von keinem geringeren als von Homer selbst um die Spitzenposition im Lager der alten Autoren herausgefordert: Ihr wisset / sagte er [Homer, sc. Anm. A.D.] / daß ich ein Vater der Poeten bin / und daß aller Götter ihren Ursprung mir zu dancken haben / wie auch / daß die Griechische Sprache nirgends anders / als von meinen Versen herkommt / als in welchen das vollkommene Muster eines carminis Heroici zu finden ist / und daß ohne mir / Sophocles mag sagen was er wolle / so wohl des Aristotelis Politica als des Virgil» Aeneis, nichts seyn würden. 17

Die Anhänger der Alten nehmen die Tragödien des Sophokles, die als »die besten Stücke« eingestuft werden, sogar gegen die philologische Kritik in Schutz.18 Der Streit bleibt jedoch unentschieden; denn die von beiden Seiten vorgetragenen Argumente sind schließlich weder den Neuen noch den Alten nachteilig. Thomasius betrachtet diesen Streit »als eine feine und lustige Critique«:19 einerseits als Anlaß, die Streitsüchtigkeit der Gelehrten zu karikieren, andererseits als Möglichkeit, beiden Parteien kritische Bemerkungen 15

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W. Hecht (Hg.), J. G. Schottelius. Ausßhrliche Arbeit von der Teutschen Haubtsprache, Tübingen 1967 [ N Braunschweig 1663], S. 103. Ch. Thomasius, Freimüthiger jedoch Vernunft- und gesetzmäßige Gedanken über allerhand/fiirnemlich aber neue Bücher, Martius des Jahres 1690, Frankfurt am Main 1972 [NHalle 1690], S. 204. Ebd., S. 123. Ebd., S. 173. Ebd., S. 201.

355 und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Der Streit endet aporetisch. Thomasius legt keinen so großen Wert »auf die Unterscheidung der bösen von denen guten scribenten«; wichtig ist ihm vielmehr die Entwicklung der »eigenen Imagination« und des Kritikvermögens.20 Während man bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts an Sophokles vornehmlich als illustre exemplum graecum interessiert ist, hat sich gegen Ende des Jahrhunderts bereits die zweite Form der barocken Beschäftigung mit dem griechischen Tragiker durchgesetzt: die detaillierte Auseinandersetzung mit den Sophokleischen Tragödien unter dramentechnischem Aspekt. Da man sich vom humanistischen Drama abwandte, votierten die Theoretiker für die Verbeserung der Dramentechnik und für eindeutige gesellschaftsmoralische Aussagen. So gesteht zwar indirekt Kaspar Stieler (1632-1707) Sophokles als klassischen Tragiker indirekt die herkömmliche Autorität zu, wenn er ihn in der Dichtkunst des Spaten (1685) als einzigen der drei attischen Tragiker auf den Parnaß setzt und seinem Rivalen Seneca unterordnet: Noch bleiben hoch und wehrt Terenz und Seneka: der so in Trauerspielen trutzt gar dem Sophokles: und jener so in vielen es Piauten vorgethan.2'

Doch in seinen Bemühungen um die »Dramatinne« nach Horazischen Regeln (Fünfakteinteilung, Typisierung der Personen),22 die Stieler freilich nach nationalkulturellen und moralischen Kriterien gewichtet, begnügt er sich nicht mit der pauschalen Abwertung der Tragödie des Altertums,23 das bloß auf Räch' und stürz' Schreck und Verzweiflung sah' und keine liebe ließ dem Staatsnutz kommen nah. 24

Seine allgemeine Abwertung untermauert Stieler mit einer textbezogenen Kritik. So tadelt er den Sophokleischen Ajax in Bezug auf die Einheit der Handlung; zu viele Nebenhandlungen würden den Zuschauer von der Hauptfabel ablenken: Zu viel ist, was nicht nützt. Dann ist das Haubtwerk ganz und ausgemacht; behält den Rest von Gunst, noch Glanz. Der Schauer sitzt in Ruh und, was beyher will gehen, verekelt seine Lust. Der Teuker mag sich drehen mit Helenen Gemahl um seines Bruders Gruft, dort bey dem Sophokles; Gedult gehet im die Luft, nach Ajax Untergang, bey denen, die es hören. 25

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Ebd., S. 204. H. Zeman (Hg.), K. Stieler. Die Dichtkunst des Spaten (1685), Wien 1975, v. 81-84. Ebd., v. 874. Ebd., v. 877-890. Ebd., v. 1607ff. Ebd., v. 1838-1844.

356 Stielers Kritik entspricht der Horazischen Forderung nach Einheit des Kunstwerkes (»simplex et unum«26). So hatte der Römer etwa bereits postuliert, daß in den Dramen die Chöre keine Einschübe bringen dürften, die für die Entwicklung der Handlung überflüßig seien. Die Einheit der Handlung hatte allerdings schon Aristoteles für die Tragödie gefordert, dabei jedoch den Ajax keineswegs kritisiert, ebenso wenig wie seine humanistischen Kommentatoren.27 Im Unterschied zu Stieler hatten allerdings klassizistische Dramentheoretiker wie Daniel Heinsius (1580-1655) und Gerhard Johannes Vossius (1577-1649) den Sophokleischen Ajax gelobt und gerade seinen Aufbau gewürdigt. So ist für Heinsius der Ajax das Beispiel >par excellence< für die Einheit der Handlung, die er ganz >aristotelisch< definiert: 28 »una fit actio: verum ex iis tantum, quae sie inter se cohaerent, ut ex iis aliquam si ponas, altera aut necessario aut vero similiter sequatur [...]. Exempli gratia, Sophoclis Aiacem videmus«.29 Gefährdet sieht Heinsius die Einheit der Handlung durch die episodia. Als ein Gegenbeispiel für die episodenhaften Handlungen führt er erneut den Sophokleischen Ajax an: »Sic exempli gratia, singulare Aiacis cum Hectore certamen, quod prolixe ab Homero describitur, ad Aiacem Sophoclis non spectat.«30 Da die einfachen Handlungen keine Peripetie und Anagnorisis enthalten, seien sie »maxime naturales«. Um Eintönigkeit zu vermeiden, hätten die antiken Tragiker ihren Handlungen andere Vorzüge hinzugefügt (»condimentum aliquod«). Was die verwickelten Handlungen durch die Handlung selbst erreichten, mußten die einfachen, durch episodia erweitert, erlangen. Beispiel für ein gut eingebautes episodium ist für Heinsius wiederum Ajax; er lobt den gelungenen Einbau der Streitepisode um die Bestattung des Helden: »In Aiace, inter Agamemnomen, Teucrum, ac Menelaum, de sepeliendo Aiace certamen. Quod ut argumento apte est accomodatum: ita praeter argumentum, amplificationis causa a poeta est positum«.31 Auch für Vossius sind die Episoden des Streits zwischen Ajax und Agamemnon, Teuker und Menelaus vorbildlich dafür, daß sie eng an die Hauptfabel gebunden sind. 32 Ebenso wie Heinsius sieht auch

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Horaz, Arspoetica, v. 23. Vgl. A. H. Gilbert, »Aristotele's Four Species of Tragedy (Poetics 18) and Their Importance for Dramatic Criticism«, in: American Journal of Philology, 68 (1947), S. 363, weist für den Ajax die Einheit der Handlung nach Arisotelischen Begriffen nach. Aristoteles, Poetik, 1450b. D. Heinsius, De tragoediae constitutione, Hildesheim und New York 1976 [ N Leiden 1611], S. 51. Ebd., S. 51 (Ü: So zum Beispiel hat der eine Kampf des Ajax mit Hektar, der von Homer ausfuhrlich geschildert wird, nichts mit dem Ajax des Sophokles zu tun.). Ebd., S. 67 (Ü: Im Ajax kommt es zwischen Agamemnon, Teuker und Menelaos zum Streit um die Beerdigung des Ajax. Wie dieser geschickt dem Inhalt angepaßt ist, so ist er auch vom Dichter zum Zweck der Steigerung neben den Inhalt gesetzt.). G. J. Vossius, Poeticarum institutionum libri tres, Amsterdam 1647 (Universitätsbibliothek Heidelberg: B 1344), S. 41 ff.; dabei setzt Vossius Ajax von der episodiaca fabula ab.

357 Vossius im Sophokleischen Ajax ein Beispiel für die fabula simplex\ Vossius lobt diese Tragödie sogar wegen ihrer artistischen Eigenschaften, die sie trotz des Fehlens von Peripetie und Anagnorisis interessant machten: »Sane Sophoclis Ajax, de quo dixi, cito ad excitum perductus fuisset nisi poeta fabulam ingenii felicitate, atque industria, praedixisset«.33 Diese positive Beurteilung hält sich bis zu Jean Racine (1639-1699) durch, der in seiner Préface zur Bérénice (1671) gerade die »simplicité d'action qui a été si fort du goût des Anciens« beim Sophokleischen Ajax rühmt und zur Verteidigimg seines eigenen Stücks in Anspruch nimmt: Ils [=les Anciens] ont admiré VAjax de Sophocle, qui n'est autre chose qu'Ajax qui se tue de regret, à cause de la fureur ou il était tombé après le refus qu' on lui avait fait des armes d'Achille. Ils ont admiré le Philoctète dont tout le sujet est Ulysse qui vient pour surprendre les flèches d'Hercule. L'Oedipe même quoique tout plein de reconnaissance, est moins chargé de matière que la plus simple tragédie de nos jours. 3 4

Von dieser traditionellen Bewertung des Ajax unterscheidet sich Stielers Auslegung, die gerade als konträre, eigenständige von Bedeutung ist und seine Distanzierung vom niederländischen und französischen Klassizismus bezeugt.35 Es sind also das Interesse an neuen Formen und Strukturen des Dramas und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit den Aristotelischen Begriffen, die eine detailliertere Beschäftigung mit dem Sophokleischen Werk einleiten: Fridericus Rappoltus (1615-1676), Professor der Dialektik, Poesie und evangelischen Theologie in Leipzig, hat mit seiner Poetica Aristotelica sive veteris Tragoediae Expositio (1678), einer Darstellung der Aristotelischen Poetik, als Quelle für Dichtungstheoretiker des Barock gedient, wie etwa die Poetik des Albrecht Christian Rotth (1651-1701) belegt. Im ersten, dem Hauptteil seiner Poetik, versucht Rappolt die Struktur der Aristotelischen Poe33

34 35

Ebd., S. 76 (Ü: Gewiß wäre der Ajax des Sophokles, über den ich oben gesprochen habe, schnell bis zum Ende durchgeführt worden, hätte der Dichter nicht mit glücklicher Inspiration und Fleiß die Handlung im voraus vorgetragen.). L. Lejealle (Hg.), J. Racine. Bérénice, Paris 1971, S. 27f. Vgl. K. Stielers Kritik an den griechischen Chören, K. Stieler, Die Dichtkunst des Spaten, v. 4508-4516; hier wendet er sich erneut gegen Sophokles hinsichtlich der Akteinteilung von Dramen durch die Chöre und rekurriert auf die fälschliche Zuschreibung des Euripideischen Hippolytos, eine Fehlzuschreibung, die schon in der Poetik des Jesuiten J. Masen Palaestra eloquentiae ligatae dramatica, Köln 1683 (Universitätsbibliothek Heidelberg: D 8706), S. 22, vorliegt: »Licet Sophocles in Hippolyte coronato choros octo fecerit adeoque novem adhibuise actus censeatur.« An dem Euripideischen Fragment hatte schon J. C. Scaliger die verwirrenden Choreinlagen kritisiert; Stieler übernimt sowohl die Fehlzuschreibung als auch die Kritik, um eine Unregelmäßigkeit an der griechischen Tragödie zu kritisieren: »Zwar haben die Lateiner / fünf Akte stets geliebt: die Ursach hat nicht einer / der Nachwelt offenbart. Die Griechen bunden nicht / sich hart an diese Zahl. Des Sophokles Gedicht / von dem Hippolytus begreiffet deren neune, / und noch ein anders sechs, Euripides ich meine / dein Ifigenie. Des Aischyls lapets Sohn / begnügt mit vieren sich: Der Chore Zwischenton, / den man jetzt mehr nicht weiß, schnitt sie in so viel Glieder?«

358 tik zu systematisieren; dabei verzichtet er zwar auf Wiederholungen seiner Vorlage, doch erweitert er manche Stellen und führt zusätzlich erläuternde Beispiele aus der Senecaischen und attischen Tragödie an. Der zweite Teil mit dem Titel »Diascepsis Aristotelica. I. De Poetica. Proavlion«36 erläutert zunächst, in 49 Thesen zusammengefaßt, Aristoteles' Ansichten über Wesen und Bedeutung der Dichtung allgemein sowie über ihr Verhältnis zur Philosophie. Dabei stützt sich Rappolt auf dichtungstheoretische Aussagen des Platonischen Phaedros, auf der Aristotelischen Ethik und Rhetorik, sowie auf Horaz, Cicero, Quintilian, Dionysius Halicamasseus, Casaubon und J. C. Scaliger. Nach diesem Exkurs wird in dem Kapitel »Diascepsis Aristotelica. II. De ordine Poetico in praecipiis poeseos speciebus, Epopoiea, Comoedia, Tragoedia« die Aristotelische Vorlage als Poetik der beiden Hauptgattungen erläutert.37 In einem Anhang untersucht Rappolt schließlich die Tragödie Troadae des Seneca und das Drama Christus Patiens (1608) des Grotius in bezug auf die von Rappolt für aristotelisch gehaltenen Prinzipien; dabei weist Rappolt nach, daß in beiden Dramen die aristotelischen Bestimmungen für die sechs konstitutiven Teile einer Tragödie eingehalten sind. Die uneingeschränkte Autorität, die Rappolt dem antiken Dichtungstheoretiker somit zuerkennt, führt zur Übernahme der Aristotelischen Beispiele aus dem Werk des Sophokles. Dabei stützt sich der deutsche Theoretiker weitgehend auf die Beispiele aus Robortellos' Aristoteles-Kommentar und aus Heinsius' De Tragoediae constitutione (1611); einige Zusätze jedoch und abweichende Auslegungen belegen Rappolts gute Kenntnis der Sophokleischen Dramen, 38 wie an zwei Beispielen ersichtlich wird: In der Erläuterung des Kommos, jenes Klagelieds, das gemeinsam vom Chor und von einer >dramatis persona< gesungen wird, bemerkt Rappolt, daß im Kommos des Ödipus Tyrannus der Chor den Ödipus nicht tröste, sondern an seinem Leid teilnehme und mit ihm klage. Wie schon Vossius, 39 betrachtet also Rappolt den Kommos auch nach inhaltlichen Gesichtspunkten, während Aristoteles, Scaliger und Heinsius sich auf Formales beschränken und auf Beispiele verzichten.40 Bei einer weiteren Würdigung Sophokleischer Dra3(

> F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio qua ex mente Aristotelis cujo, quae supersunt fragmenta unicam hanc poese partem continen, uni versa tragoedia ratio explicatur et exemplis L. A. Senecae in Troadibus et Hugonis Grotii in Christo patiente illustratur, Leipzig 1678 (Universitätsbibliothek Heidelberg: G 419). 37 Ebd., S. 81-102. 38 Rappolts wörtliche Parallelstellen zu Heinsius' De tragoediae constitutione sind folgende: Ausführungen F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio auf S. 21 entsprechen denen des Heinsius auf S. 63, diejenigen der S. 20 entsprechen denen des Heinsius auf S. 56, der S. 120 entsprechen denjenigen des Heinsius auf S. 51, die Ausführungen Rappolts auf S. 77 entsprechen denjenigen des Heinsius auf S. 51. 39 J. G. Vossius, Poeticarum institutionum libri tres, S. 81; F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio, S. 14. 40 Aristoteles, Poetik, 1452b; J. C. Scaliger, Poetices libri Septem, S. 19b; D. Heinsius, De tragoediae constitutione, S. 246.

359

matik bekundet Rappolt seine eigenständige Hochschätzung des antiken Tragikers: Unter der Kategorie lexis rekurriert er auf den Sophokleischen Stil, um des Grotius Christus Patiens zu loben; er vergleicht die brevitas in den Stichomythien des Grotius mit einem Sophokleischen Vers aus der Elektro: »Brevitatem quam Tragici rem interdum verbo expediuntur.«41 Die Beispiele, die Rappolt aus Sophokles anführt, bezeugen zuweilen nicht nur seine Selbständigkeit gegenüber seiner Vorlage, sondern zeigen auch, daß er dazu neigte, sich nicht der neueren Entwicklung des zeitgenössischen Dramas anzuschließen. Aristoteles folgend, nennt er nun den Ödipus Tyrartnus als Muster: Dieser sei ein Vorbild sowohl für die »tragoedia implexa«, die sich durch eine Peripetie (»mutatio in contrarium«) oder Anagnorisis (»agnitio«) auszeichne,42 als auch für die beste Form von Anagnorisis, die sich aus der Handlung selbst und nicht aus Zeichen oder Schlußfolgerungen ergebe.43 Doch bei der Bestimmung des dritten Bestandteils der tragischen Fabel, der perturbatio, folgt Rappolt Heinsius und wiederholt dessen Auslegung des Aristotelischen Pathos: »perturbatio est actio cum cruciatu animi et dolore conjucta«.44 Mit Heinsius bestimmt Rappolt die perturbatio als Teil der tragoedia implexa (»tertiam implexae partem«) und verweist auch hier auf den Ödipus Tyrartnus,45 obwohl Aristoteles dieses Drama unter diesem Aspekt nicht erwähnt.46 Von Aristoteles setzt sich Rappolt weiterhin ab, wenn er die »perturbatio« innerhalb der Handlug mit der »perturbatio«, die beim Zuschauer erweckt wird, assoziiert und das für seine dramatische Wirksamkeit berühmte Beispiel des Ödipus Tyrannus anführt.47 Mithin projiziert Rappolt in das Sophokleische Drama die Darstellung von Affekten, die sich bei Aristoteles nicht findet. Auch in der Charakterisierung der Ödipus-Figur zeichnet sich bei Rappolt eine von Aristoteles abweichende Tendenz ab. Zwar übernimmt er den Thebanischen Helden als Beispiel für einen mittleren Charakter,48 doch fügt er dem Aristotelischen Konzept der tragischen Verfehlung ein moralisches Moment hinzu: »qui per imprudentiam sive ignorantiam et quasi ex errore quodam grande illud flagitum admissit«.49 Den Begriff der »imprudentia« übernimmt Rappolt wörtlich von Heinsius und den Aristoteles-Kommentatoren.50 Er verleiht dem aristoteli41 42

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45 46 47 48 49 50

F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio, S. 343. Vgl. Sophokles, Elektro, v. 673. F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio, S. 23; Aristoteles, Poetik, 1452a. F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio, S. 26; Aristoteles, Poetik, 1455a; D. Heinsius, De tragoediae constitutione, S. 84. F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio, S. 29; Aristoteles, Poetik, 1452b. D. Heinsius, De tragoediae constitutione, S. 87. F. Rappoltus, Poetica Aristotelica sive de veteris tragoedia expositio, S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S.32f. Ebd., S. 33. D. Heinsius, De tragoediae constitutione, S. 101.

360 sehen Konzept einen moralischen Charakter, gilt doch »prudentia« in der Ethik der frühen Neuzeit als eine der vier Kardinaltugenden.51 So dringt hier eine moralische Bewertung ein, wie sie dem >hamartiaaristotelische< Tragödienkonzept; dabei sind Rotths Bestimmungen allerdings weit restriktiver als die des Aristoteles, was im folgenden nun an drei Beispiele belegt sei: 1. Die Erläuterung des »Irthums«, durch den die tragische Person ins Unglück gerät, bezieht Rotth auf den »allzuheftige[n] affect«;67 deutlich macht sich hier der Einfluß der stoischen Lehre der Affektendisziplinierung bemerkbar. 2. Aus der Aristotelischen Einheit der Handlung leitet Rotth die Einschränkung des Hauptpersonals auf eine »einzige Person« ab,68 was Aristoteles und seine Kommentatoren >expressis verbis< ablehnen.69 3. In seiner eigenen Definition der Tragödie legt sich Rotth auf den »schlechten und traurigen Ausgang« fest;70 seine eigenen Beispiele, nämlich die Trauerspiele von Gryphius und Lohenstein sowie Grotius' Christus Patiens (1608), haben denn auch alle ein unglückliches Ende.71 Somit dienen Rotth die >aristotelischen< Begriffe als systematische Leerformeln, die er zur Umschreibung eigener Auffassungen benutzt. Auch auf die Komödie überträgt Rotth die Aristotelischen Bestimmungen der Tragödie und somit auch die entsprechenden Sophokleischen Beispiele. 61 62 63

64

65 66 67 68 69 70 71

Ebd., S. 241. Ebd. G. J. Vossius kritisiert Scaliger und konzentriert den Unterschied auf die »actiones graves«, J. G. Vossius, Poeticarum institutionum libri tres, S. AI und 69; vgl. auch S. 46: »illustrem fortunam sed felicem«. A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 108 zur »alten Komödie«, S. 111 zur »mittleren Komödie«, S. 121 zur »neuen Komödie«, S. 123 zur »neuen Komödie der Lateiner«, S. 130 zur »neuen Komödie der Deutschen«. G. J. Vossius, Poeticarum institutionum libri tres, S. 46f. und 69. A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 131. Ebd., S. 212. Ebd., S. 213. Aristoteles, Poetik, 1451a. A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 220. Ebd., S. 217 und 241; dennoch erinnert Rotth, daß das schlechte Ende für die antike Tragödie nicht verbindlich gewesen sei.

363

Das Kapitel über die Komödie fuhrt in Anlehnung an Aristoteles ein schon topisches Beispiel für das doppelte Ende einer Tragödie an,72 nämlich die Sophokleische Elektro; Rotth leitet davon die Möglichkeit des glücklichen oder auch gemischten Endes für die Tragödie ab, um es auf die Komödie zu übertragen: »Der sensus ist kürzlich dieser, es könne eine Tragödie entweder traurig oder lustig oder traurig und lustig zugleich ausgehen.«73 Wohlgemerkt stufte Aristoteles die Tragödien mit doppeltem Ende als zweitrangig ein, weil dieses sich mehr für Komödien eigne. Freilich bemerkte er, daß diese Art von Tragödie bei den Zuschauern sehr beliebt ist. Doch Rotth übernimmt die Aristotelische Wertung nicht; im Gegenteil wird für ihn das für den Zuschauer Angenehme zur Regel. Nicht nur die Übertragung der Tragödienelemente auf den weit gefaßten Begriff der Komödie, sondern auch die Auflockerung der überkommenen Regel von kathartischen Affekten weisen auf eine völlig andere Dramenkonzeption hin: Die Befreiung vom Postulat der spezifisch tragischen Affekte sucht Rotth literarhistorisch zu begründen, wenn er konstatiert, daß »viel[e] der alten Tragödiefn]« nicht »Schröcken und Mitleiden« erregen.74. Auch bei der Bestimmung der »verwickeltefn] Fabel« unterscheidet Rotth nicht zwischen Komödie und Tragödie. Mit Aristoteles stimmt er darin überein, daß er die verwickelten Fabeln als die »besten« einstuft, weil sie »am bequemsten« bei den Zuschauern Affekte erregen.75 Diese Orientierung am Publikum bestimmt auch Rotths Definition der »Verwicklung«, nämlich »daß der Zuschauer nicht weiß wie die Sache noch kommen möge; und wenn er sich dieses oder jenes eingebildet / so geschieht ganz ein anders.«76 Aristoteles erklärt diesen Zusammenhang völlig anders. Zwar definiert er die verwickelte Fabel als diejenige, die Peripetie oder Anagnorisis oder beides enthält, doch sind bei ihm Peripetie und Anagnorisis auf das Personal und nicht auf den Zuschauer bezogen: Den Umschlag der Handlung ins Gegenteil des Vorgenommenen (Peripetie) und den Umschlag aus dem Unwissen 72

Aristoteles, Poetik, 1453a. A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 779. 74 Ebd., S. 213. Analog verwendet Rotth die Sophokleischen Beispiele als isolierte Versatzstücke bei der Beschreibung der Komödienchöre, vgl. S. 142. Zur Einteilung der Chöre nimmt er Sophokles und Aristophanes zusammen in die Kategorie der »aus weniger Stücken zusammengesetzte^]« Chöre, während er bei den aus »mehr Teilen« bestehenden Chören zwischen Komödie und Tragödie unterscheidet. Rotths Verweis auf Sophokles als Exempel für besondere Variationsmöglichkeiten der Strophen und Antistrophen untereinander bezeugt ein detailliertes Sophokles-Studium, S. 99: »Bey dem Sophocle findet man die Strophas und Antistrophas wunderlich unter einander versetzt / daß zum Exempel erst Strophe und Antistrophe stehen; hemach Strophe 2 und 3 und dann wiederum Antistrophe 2 und 3, wiederum von neuem Strophe und Antistrophe etc.« Diese Anordnung der Strophen und Antistrophen trifft für das vierte Stasimon (v. 800) und den letzten Kommos (v. 1300) der Antigone zu, zudem auch für den Kommos des Ödipus Tyrannus (v. 649) und die Stasima der Trachinierinnen. 75 A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 142. 76 Ebd. 73

364 ins Wissen (Anagnorisis) erfahren primär die Protagonisten.77 Erst die Anagnorisis bei den Beteiligten erzeugt bei den Zuschauern Erschütterung.78 Dem griechischen Publikum war die überlieferte Fabel bekannt, so daß erst die verschiedenen, von den dramatischen Figuren vollzogenen Kombinationen von Wissen und Handeln die Fabel wirkungsvoll machten.79 Auch diese auf die handelnden Personen beschränkte Art der Täuschung sieht Rotth vor, nämlich als eine der Verwicklungsmöglichkeiten des Schauspiels. Solche Verwicklungsmöglichkeiten der Fabel nehmen in Rotths Dramenkozeption eine besondere Stellung ein und bestimmen sein Verständnis des Sophopkleischen Ödipus Tyrannus. Der Begriff der Aristotelischen äfiapxia, für den das Sophokleische Drama ein Beispiel ist, liegt nämlich Rotths Bestimmungen zugrunde,80 wenn er in Anlehnung an Jakob Masen den Umschlag von Glück in Unglück durch einen »Irthum« beim Protagonisten begründet haben will: »Weil er sich ander Gedancken entweder von den Personen oder vorfallenden Sachen gemacht / daher er hernach ganz was anderes erfährt/als er vermuthet gewesen.«81 »Irthum« bedeutet jedoch für Rotth noch mehr als äjiaptia für Aristoteles. Rotth versteht unter »Irthum« sowohl die falsche Orientierung, die zu einer falschen Handlung führen kann (änapxia), als auch die falsche Handlung selbst (ot^iapTrma).82 Rotth fragt nach den Gründen des »Irthums«: »Der Irthum / so bei den Handelnden sich findet / wiederfährt denselben nun entweder aus Unwissenheit und Einfalt ihres Gemüts / oder wegen ihre Boßheit / oder aus Betrug und List.«83 Rotth muß nach der Ursache des »Irthums« fragen, weil er darunter auch die falsche Handlung versteht. Aristoteles jedoch forscht nicht nach der Ursache, weil die zur »conditio humana« gehörende öt|iapxia, sie selbst Handlungen begründet, also Ursache und nicht Ergebnis ist. Bei Aristoteles verhält sich das Konzept der ä(iaptia als Begründung einer fehlerhaften Tat komplementär zu Ungerechtigkeit und moralischen Lastern: Für die Tragödie schließt Aristoteles Ungerechtigkeit und Laster des Helden ausdrücklich aus, da diese dem Begriff des mittleren Charakters widersprechen würden.84 In markantem Unterschied zu Aristoteles ist für Rotth »Boßheit« selbst die Ursache des »Irthums«. Zwar bemerkt er, daß Aristoteles die »Boßheit« ausschließt, doch führt Rotth über den Begriff des »Irthums« recht willkürlich moralische Kategorien ein: Er tut dies, indem er den tragischen Fehler 77 78 79 80 81 82

83 84

Aristoteles, Poetik, 1453b; D. W. Lucas, Aristotle. Poetics, Oxford 1968, S. 291. Aristoteles, Poetik, 1453b. D. W. Lucas, Aristotle. Poetics, S. 292. Aristoteles, Poetik, 1453a. A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 243. Vgl. D. W. Lucas, Aristotle. Poetics, S. 300: >Hamartia< sei »the erroneous belief likely to lead to particular mistaken actions« und »the continuing illusion of a tragic character«, >Hamartema< dagegen sei »a particular case of a mistaken action«. A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 244. Aristoteles, Poetik, 1453a. Somit bleibt >Hamartia< als Begründung für das Unglück übrig.

365

als Leidenschaft des Protagonisten deutet, wenn er anmerkt, daß ein »allzuhäftiger affekt, als Zorn / liebe etc.« mit einem »Irthum« identisch seien;85 oder er tut dies, indem er den tragischen Fehler als fehlerhaften »Betrug und List« des Gegners interpretiert, der den Protagonisten »abstrafft / indem er meint / daß er es werth sey«.86 Somit erweitert Rotth den Begriff des »Irthums«, um die Frage nach dem Leid und Unglück des Protagonisten zu ergründen. Leidenschaften, Unbedachtsamkeit, Unwissen und Einfalt des Protagonisten, all das rechtfertigt sein Unglück. »Boßheit«, »Hochmuth« und »Ehrgeiz« des Helden tun dies freilich um so mehr.87 Letztes Ziel ist es in jedem Fall, »Furcht und Schröcken vor den Lasten« zu erwecken.88 Bedenkt man den Aristotelischen Vorbehalt, daß übermäßige Laster keine >Furcht< erwecken, weil sich der Zuschauer nicht mehr mit dem Protagonisten identifizieren kann, so wird Rotths besondere Auffassung von »Furcht und Schröcken« deutlich: Nicht auf eine eigentlich dramatische, durch die Aufführung der Tragödie erregte Furcht kommt es ihm an. Vielmehr zieht er lehrhaft auf allgemeine Abschreckung für das gesamte weitere Leben. Doch auch die Möglichkeit eines »Irthums« ohne moralische Begründung räumt Rotth ein, nämlich den »Irthum«, der »ohne Schuld des / er darein verwickelt wird«, ja sogar trotzt seiner »Aufrechtichkeit« geschieht. Diese Konstellation sei geeignet, »Mitleiden und Bejammerung« hervorzurufen,89 was Aristoteles geradezu als blasphemisch ablehnt, weil es eine sinnvolle Weltordnung verletzt. Nicht zufällig wählt Rotth als Beispiel für dieses Tragödienmodell die biblische Josephsgeschichte. Nur eine christlichtranszendente Perspektive kann das unverdiente Unglück des Makellosen zulassen. Um diese zwei Tragödienmodelle, den Untergang des Lasterhaften und den des Schuldlosen, zu legitimieren, muß Rotth im Gegensatz zu Aristoteles die zwei zu erregenden Affekte voneinander trennen: Mitleiden und Sympathie für den Unglücklichen sind unvereinbar mit Abschreckung und Schadenfreude. Derartige Schadenfreude bringt Rotth jedoch ins Spiel, wenn er dem Dichter des Trauerspiels den Fall von Ödipus Tyrannus als Vorbild eines »Irthums« empfiehlt. Rotth bewertet ihn als einen der »besten Irthümer«, weil er den Zuschauern besonders »angenehm« sei: Deijenige Irthum ist in Sonderheit der Zuschauem angenehn / in welchem sich die Urheber des Irthums entweder aus Einfahlt oder aus Boßheit selbst verwickelt. Denn sein Irthum ist gleichsam seine Straffe / die mann ihm gönnt.Wie mans den Haman göhnnt, daß er an seinen eigenen Galgen kommen. Wenn er sich aber gerne vor dem Irthum hat hütten wollen und gerät doch hinein/so gönnt man es ihm zwar nicht / doch ist der Irthum selbst angenehm und verwundert oder erfeuet man sich darüber. Wie Oedipus sich sonderlich hüten wollte vor den Propheceyten böser Thaten und doch hinein geriet / daß man sich über den sonderlichen Fall verwundem 85

A. Chr. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, S. 212f. Ebd., S. 213 und 253. 87 Ebd., S. 258. 88 Ebd. 89 Ebd. 86

366 muß. Und darum muß solcher Irthum von den Poeten ausgesonnen werden. Hergegen der Irthum / in welchen wir aus eines andern Einfalt oder Boßheit gerathen / ist nicht so angenehm, es sei denn daß die betrogene Person so hochmüthig ist / daß sie meinet sie könne nicht irren / oder so geartet / daß sie andere hat betrügen wollen, ein Unglück hat zubereiten wollen und hat dadurch anlaß gegeben, daß es ihm selbst zubereitet worden.'"'

Unter »angenehmen« Irrtum versteht hier Rotth eine moralisch verwerfliche Tat, die negative Konsequenzen für den Täter hat, oder ein Unglück, das er zwar nicht selbst gestiftet, aber aufgrund seiner sonstigen Lasterhaftigkeit doch verdient hat. Angenehm ist dieser tragische Fehler den Zuschauem, weil in beiden Fällen der Sinn für Gerechtigkeit erfüllt wird. Unglück ist für Rotth somit nur als »Straffe« denkbar. Die Erwähnung des Ödipus als Beispiel für eine besonders publikumsfreundliche Art, das Leid des Protagonisten moralisch zu begründen, zeigt unwiderleglich, daß Rotth den dramatischen »Irthum« als »böse That« auffaßt. Der Vorsatz des Helden, sich vor dem »Irthum« zu »hüten«, verunmöglicht den Zuschauem die Rechtfertigung des Unglücks: »So gönnt man es ihm zwar nicht«. Dabei bewertet Rotth diesen »Irthum« als ebenso »angenehm« wie in den beiden anderen Fällen der gerechtfertigten Bestrafung der Protagonisten. Die Absicht des Ödipus, sich vorzusehen, ist für Rotth nämlich kein moralisches Moment, das seine »böse Thaten« aufwiegen könnte, sondern wird als retardierendes Moment verstanden. Ödipus' Vorsicht kann »verwundem« oder sogar »erfreuen«, weil sie die Aufmerksamkeit des Publikums erweckt und die Spannung der Zuschauer steigert. Die Bedeutimg des Sophokles erschöpft sich also nicht in seinem literarhistorischen Wert oder darin, daß er als mustergültiges exemplum für die Legitimation des eigenen Dichtens dient. Vielmehr greift Rotth auf ihn auch in seinen konkreten Anweisungen zur Dramenpraxis zurück. Dem Trauerspielkonzept der barokken Dichtungstheoretiker entspricht der antike Tragiker jedoch nicht; daher muß ihn Stieler ablehnen und Rotth seiner eigenen Dramentheorie entsprechend umdeuten. Heftig umstritten ist in der Dichtungstheorie des 17. Jahrhunderts die Frage, ob für das dichterische Schaffen eher die Inspiration oder die artistische Übung entscheidend sei. Auch die Einschätzung des Sophokles spielt in diesem Streit eine wichtige Rolle. Er wird - und das ist die dritte vorherrschende Form der barocken Auseinandersetzung mit dem griechischen Tragiker - vornehmlich prosopographisch gewürdigt. Freilich handelt es sich dabei um eine Form von Prosopographie, die immer schon stark werkbezogen ist. Da die gesamte antike Tradition einer Bewertung unterzogen wird und nicht alle antiken Dichter gleichermaßen als Vorbild anerkannt werden, erhält auch Sophokles in der Rangfolge einen bestimmten, freilich zumeist hervorragenden Platz. Er wird vor allem wegen seiner effektvollen Dramentechnik studiert und ganz allgemein als dramatisches Naturtalent bewundert. 90

Ebd., S. 253-255.

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So stilisiert Philipp von Zesen (1619-1689) in seiner Helikonschen Hechel (1668) den antiken Tragiker zum vollkommenen Dichter. Er sah in ihm die Verkörperung einer harmonischen Komplementarität von »kunst« und »natur«.91 Bereits in früheren Barockpoetiken waren diese beiden Prinzipien als antagonistische Kräfte erörtert worden. Schon Opitz hatte die »natürliche regung« und die »Übung und de[n] fleiß« als Komponenten des dichterischen Schaffens gegeneinander ausgespielt.92 Zesen knüpft in seiner Poetik an Opitz an. Zunächst hatte Zesen im Hochdeutsche[n] Helikon (1640) die Regeln einer deutschen Prosodie nach Treppen und Stufen gegliedert. Nach Erscheinen der fünften Ausgabe dieser Verslehre (1657) wählte Zesen in der Helikonsche[n] Hechel (1668) für die Erörterung jener schwierigen dichtungstheoretischen Fragen, die nicht regelpoetischer Natur waren, die Dialogform. Zudem eignete sich die offene Gesprächsform besser zur Besprechung von typischen »Fehlern« lexikalischer, stilistischer und prosodischer Natur. Derartige Vergehen gegen die »hochdeutsche reine Dichtkunst« werden an Gedichten eines in den Dialog eingeflochtenen Dichterwettstreits exemplifiziert und korrigiert.93 In der Anordnung der Dialogpartner und der Gestaltung der gesamten Gesprächssituation greift Zesen auf seine Rosenmänd (1651) zurück, in der er auf ähnliche Weise sprachtheoretische Fragen erörtert hatte. In dieser Wiederaufnahme der Opitzschen Streitfrage um das, was eigentlich »in einem Poeten zu suchen« sei,94 sind die verschiedenen Positionen auf die drei Gesprächspartner Mahrhold, Liebhold und Deutschlieb verteilt; Mahrhold, der dem Zesen-Leser schon als der Romanheld Markhold der Adriatischen Rosemund (1645) bekannt ist und namensetymologisch als Zesen selbst zu entschlüsseln ist (Phil-ipp=Mahr-hold), vertritt wohl auch hier die Meinung des Autors.95 Aufgefordert, die Eigenschaften des »vollkommenen Dichtmeisters« zu beschreiben,96 zitiert Mahrhold aus Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Trotz seiner unterschiedlichen Auffassung in bezug auf den Daktylus,97 hatte Zesen seine Bewunderung für Opitz schon im Hoch-deutschen Helikon (1656) bekundet und ihn hier der »edlen« Dichtkunst »ehrste[n] Vater« genannt, der »uns Deutschen zum Höchsten rühm und preise gebohren / sich selbsten aus dem 91 92 93 94 95

96 97

Ph. von Zesen, »Helikonsche Hechel«, in: F. van Ingen u.a. (Hg.), Philipp von Zesen. Sämtliche Werke, Berlin und New York 1970-1990, hier Band XI (1974), S. 288. M. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 68. Ph. von Zesen, »Helikonsche Hechel«, S. 299. M. Opitz, Buch von der deutschen Poeterey, S. 16. Vgl. U. Maché, »Zesens Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Poetik im 17. Jahrhundert«, in: F. v. Ingen (Hg.), Philipp von Zesen. 1619-1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk, Wiesbaden 1972, S. 193-220; F. v. Ingen, »Philipp von Zesen«, in: H. Steinhagen und B. v. Wiese, Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, S. 497-516. Ph. von Zesen, »Helikonsche Hechel«, S. 299. Im Deutschen Helikon entwickelt Zesen zehn neue Reimarten, sowie Dactylen, die er in den zeitgenössischen Gedichten vermisse, und ergänzt dabei Opitz, in: Ph. von Zesen, Sämtliche Werke, Band IX (1971), S. 42.

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Staube der niedrigkeit fast in das gestime hinauf / durch seinen mehr als menschlichen Verstand so glücklich geschwungen.«98 Er erwähnte Opitz in diesem Werk auch als Vorkämpfer, der zusammen mit der Fruchtbringenden Gesellschaft und der Deutschgesinnten Genossenschaft das »Unwesen« der Literatursprache »geläutert« und »gereinigt« habe." Insbesondere verstand er ihn als Muster für den rechten Gebrauch vermischter, jambisch-trochäischer Verse in Singpartien sowie für die kunst- und ausdrucksvolle Auflösung daktylischer Wörter (»rollender Wörter«).100 Doch in der Helikonschen Hechel tritt Opitz als Dichtungstheoretiker in den Vordergrund. Die im Buch von der Deutschen Poeterey aufgestellte Forderung, daß zur Vollkommenheit des Dichtmeisters nicht nur das »Wissen aller Künste und Wissenschaften« gehöre, sondern auch ein besonderes »Gemüt«, genau wie es Opitz fordere, wird von Mahrhold wörtlich zitiert: »Opitz sagt: Er mus von sinnreichen einfallen und erfündungen sein / mus ein großes unverzagtes gemüht haben / mus hohe Sachen bei sich erdenken können; sol anders seine rede eine ahrt kriegen / und von der erden entpohr steigen«.101 Bereits im ersten Kapitel seiner Poeterey hatte Opitz erklärt, daß man jemanden nicht durch »gewisse Regeln und gesetze« zu einem Dichter machen könne, und damit die entscheidende Bedeutung der Inspiration betont. Denn die Werke der Dichter entspringen einem »göttlichen antrieb« und »von natur her«. Der Ursprung der Poesie läge allen Regeln voraus. Erst durch Beobachtung hätten die Gelehrten versucht, »aus vieler tugenden« eine >ars< abzuleiten.102 Der Forderung nach Ursprünglichkeit der Poesie ließ Opitz im zweiten Kapitel die Behauptung vom unverzichtbaren Anteil der Weisheit folgen, wobei er sich auf den Topos der Poesie als »verborgenefn] Theologie« stützte.103 Durch den Hinweis auf den religiösen Gehalt von Dichtung versuchte Opitz möglichen Einwänden gegen die angebliche Unwürde der Poesie vorzubeugen. In vierfacher Hinsicht könne Poesie moralischen Anstoß erregen: Erstens, wenn sie durch bloße Versmacherei Unwissenheit verdecke; zweitens, wenn ihr Inhalt - wie häufig bei der Gelegenheitsdichtung - nicht sittsam sei; drittens wegen ihrer Fiktionalität und schließlich viertens aufgrund des »nachleßige[n]« Lebenswandels mancher Poeten. Einerseits sucht Opitz diese Kritik durch Rückgriff auf bestehende >exempla< zu widerlegen. Andererseits nimmt er sie in bezug auf die zeitgenössische Situation teilweise an und unterbreitet entsprechende Verbesserungsvorschläge: Gegen die bloße Versemacherei postuliert er die Behandlung sinnreicher und erhabener Themen. Gegen die Willkürlichkeit der Gelegenheitsdichtung empfiehlt er das Warten auf die besondere »regung des 98

Ph. von Zesen, »Hoch-deutscher Helikon«, in: ebd., Band X, 1 (1977), S. 32. " E b d . , S. 141; an dieser Stelle erkennt er Luther besondere Verdienste zu. 100 Ebd., S. 153. 101 Ph. von Zesen, »Helikonsche Hechel«, S. 298. 102 M. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 11. 103 Ebd., S. 12.

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geistes«. Denn »ein Poete kann nicht schreiben wenn er will / sondern wenn er kann«. Dem Vorwurf der Fiktionalität hält er die Bedeutung der Mythenallegorese und den Wert der dadurch erzeugten »Ergetzung« beim Publikum entgegen. Und schließlich setzt er auf »keusche« und »sittsame gemüter« gegen den »nachleßigen« Lebenswandel der Poeten.104 Zesen spezifiziert die »sinnreichen einfalle und erfindungen« der Opitzschen Formel humoralpathologisch als »heisstrukne leichtmüthige hohe scharfsinnigkeit« verbunden mit einer »frischblüthigen fröhligkeit«. Im Anschluß an Opitzens Einspruch gegen die bloße Versemacherei erklärt Mahrhold: »Kurtz: ein vollkommener Dichtmeister mus grosmuthige/ hohe/ wohlausgearbeitet / eigendliche / tief und wohlausgesonnene / nicht schlechte / sondern alzeit verbluuhmte / wahrscheinliche / und doch nicht langschweiffige / sondern kurtzbündige / nachdenkliche und gantz durchkernte dichterische reden fuhren.«105 Zesen setzt diesen vollkommenen Dichtmeister nachdrücklich vom bloßen Versemacher ab, wobei er die Poeten in fünf hierarchisch geordnete Klassen einteilt: Der bloße »Pritschmeister oder Reimenschmied [...] zwinget und dringet« Wörter in Reimzeilen. Der »Reimenmacher oder reimer« reime bereits, wenn auch nur tadelhaft. Der »Reimendichter« schreibe allerlei »künstliche Gedichte«. Der »gemeine Dichter« versteht es, nach »gemeinen gesetzen der Dichtkunst / gemeine erfindungen« hervorzubringen. Endlich komme der vollkommene Dichtmeister, in dem »natur mit der Kunst zusammen« schüfen. Ohne diese »überträffliche natur«, also nur durch »vieles lesen / und stähtige Übung«, könne diese Vollkommenheit nicht erreicht werden. Doch gebe es auch hier verschiedene Grade von Begabung. Und zwar reiche die Skala von einer »alzusehr abgeneugt[en]« bis zu einer »alzu feurige[n] und heftigefn] angebohrenheit«. Entgegengesetzt proportional dazu sei man bei Unbegabten dazu geneigt, ihrem Mangel durch intensives Üben abzuhelfen, was jedoch zur »künstlichkeit« führe; allerdings gilt: »die feurigen geistes seind / haben die geduld nicht den alzugrosen Überfluß ihrer hohen dichterischen erfindungen und einfalle etwas langsam / und mit weislichem nachdenken aus der feder zu lassen.«106 Angesichts dieser extremen Optionen entschließt sich Mahrhold zugunsten der »Kunst«, der Übung und des Fleißes: »Dan die Natur allein ist zu ohnmächtig / oder so zu reden / zu wild und wil / ja mus die Kirnst stähts zur gehülfin haben; die ihre noch unzeitige gebührt zeitiger und reiffer machet.« Nach Mahrhold ist Künstlichkeit der wilden Natur vorzuziehen. Seine Entscheidung basiert letzlich auf Rationalität. Dabei liegt seinem Bekenntnis zur Kunst im Sinne des Diktums >ars superat naturam< ein Naturbegriff zugrunde, der dem der Vernunft entgegengesetzt ist. Die Natur allein ist nicht nur »ohnmächtig« und schwach, sondern auch korrekturbedürftig und fehlerhaft: 104 105 106

Ebd., S. 20. Ph. von Zesen, »Helikonsche Hechel«, S. 299. Ebd.

370 Weil nun diese Dichtereien / durch Kunst / das ist / durch fleissiges und weises nachsinnen / nicht recht ausgearbeitet seind; so halte ich sie viel schlimmer und ungeschikter / als jene darinnen Kunst und Übung ihr meisterstükke fast allein bewiesen. Auch befindet man täglich / indem solche Dichter ihre natur alzu kunterbunt spielen laßen / das ihre Gedichte vol Fehler seind; die teils wider die Dichtkunst / teils wider die Sprachlehre / teils wider die Schreibrichtigkeit / teils wider andere höhere Wissenschaften und Künste/ja oft wider die Vernunft selbst lauffen.«107

So gelangt Zesen trotz gewisser Bedenken schließlich dazu, die Regeln der Dichtkunst und der Grammatik auch weiterhin als Qualitätsmaßstab von Dichtung anzusehen. »Fleißiges und weises nachsinnen« soll das Vielfaltige, »Kunterbunte« der Natur ordnen, verarbeiten. Die Vernunft bleibt das Korrektiv der Natur. Opitz hatte im Epilog des Buches von der Deutschen Poeterey das Dilemma des Eingangskapitels erneut aufgegriffen und dafür plädiert, zwar die »natürliche regung« von »aberwitz und blödigkeit« streng zu unterscheiden. Schließlich aber hatte er ihr den höchsten Rang beschieden: Bei ihr »dürffen weder erfindung noch worte gesucht werden«.108 An zweiter Stelle rangieren bei ihm bloße »Übung und fleiß«: »An den andern wollen wir zwar den willen und die bemühung loben / der nachkommenen gunst aber können wir ihnen nicht verheißen.«109 Groß ist der Abstand zwischen Opitz und Zesen jedoch nicht. Opitz schreibt zur Würdigung der »natürlichen Regung« nämlich erst, nachdem er in den fünf vorangehenden Kapiteln fast ausschließlich handwerkliche Anleitungen zur Reinheit und Zierde der deutschen Literatur unterbreitet hat. Zesen hingegen läßt seine eher rationalistische und letzlich moralische Bewertung am Ende in eine Ermahnung der Poeten vor übermäßigem Weingenuß münden. Mahrhold beschreibt, wie manche Poeten den natürlichen Zustand der Inspiration durch Wein künstlich zu erreichen suchten. Er billigt ihn nur als »lebegläslein« für die »Schläfrigen und alzu schwermühtigen Köpfe« und macht die Einschränkung, daß sie »darbei nüchtern bleiben.« Sein Gesprächspartner Liebhold wendet ein, daß mäßiger Weingenuß keinesfalls allen Dichtem genüge; als Beispiel nennt er den Tragiker Aischylos: Von ihm sei überliefert, »der Wein habe seine Gedichte gemacht.«110 Mit dieser Episode knüpft Zesen wiederum unmittelbar an Opitz an, der die seit der Antike bezeugte Weintrunkenheit von Dichtern wie Alceus, Aristophanes, Alcman, Ennius und Aischylos als Erklärung für ihren eigenartigen Lebenswandel heranzog.111 Die Anekdote, nach der Aischylos seine Tragödien im Zustand der Trunkenheit verfaßt habe und deshalb von Sophokles kritisiert worden sei, geht auf Athenaeus Deipnosophistai zurück; sie verknüpft zwei Erwähnungen im ersten und zehnten Buch: »MEÖIMDV 8E 107 108 109 110 111

Ebd. M. Opitz, Buch von der deutschen Poeterey, S. 67. Ebd., S. 68. Ph. von Zesen, »Helikonsche Hechel«, S. 303. M. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 18.

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