Ode an die Gewöhnlichkeit

Auch wenn Instagram anderes behauptet: Nudeln mit Tomatensauce ist gut genug

Eigentlich fing alles überhaupt nicht außergewöhnlich an. Ich war ein kleines Mädchen, bekam leuchtende Augen, wenn ich Pferde sah, konnte mich noch nicht entscheiden, ob ich Ballerina oder Tierärztin werden wollte und im Kinderzimmer hingen die Poster schief.

Als die Kindheit sich dem Ende zuneigte, passierte allerdings etwas, wovon ich mich sehr lange nicht erholen sollte: Ich begann zu glauben, etwas Besonderes sein zu müssen. In meinem Fall bedeutete dies: Hauptsache anders als die anderen. Dieser neue Glaube trieb absurde Blüten, wie so manches Foto dokumentiert. Sicherlich nichts ungewöhnliches ironischerweise, sich als Teenager von anderen abheben zu wollen. Bloß kann es sein, dass dem nicht nur eine Entwicklungsstufe, sondern auch eine Überzeugung zugrunde liegt, die einen auch über das Erwachsenwerden hinaus noch lange begleiten kann: Wie ich bin und was ich tue ist nicht gut genug. Eine Überzeugung, die einen in permanenter Unzufriedenheit und ständiger Anstrengung hält.

Die Gewöhnlichkeit hat ein bedauerliches Imageproblem, das uns eine Menge vermeidbaren Stress verursachen kann.

Der Wert einer soliden Mittelmäßigkeit ist nicht zu unterschätzen

Gewöhnlichkeit, Durchschnittlichkeit oder Mittelmäßigkeit ist meistens nicht, wonach wir bewusst streben oder wonach wir uns sehnen. Im Gegenteil. Nicht selten wird über sie sogar abschätzig gesprochen und als ein Zustand dargestellt, mit dem sich viele nicht gern identifizieren wollen.

Öfter mal gewöhnliche Leute auf durchschnittlichen Kaffee und Karamellbonbons einladen.
Öfter mal gewöhnliche Leute auf durchschnittlichen Kaffee und Karamellbonbons einladen.

Der geschickt unter Harmlosigkeit verborgene Reiz und vor allem der Wert einer soliden Mittelmäßigkeit lässt sich nicht immer direkt erkennen, wenn sie das Wasser ist, in dem man schwimmt. Aber Durchschnittlichkeit und ihre Aufrechterhaltung sind etwas, was auch erst erarbeitet werden muss und bieten dementsprechend keinerlei Anlass zur Überheblichkeit.

Was oft verschwiegen bleibt, ist, dass Gewöhnlichkeit unheimlich erholsam sein kann. Die Chancen auf Zufriedenheit steigen exorbitant, wenn wir uns auf sie einlassen. Wenn wir uns nämlich bereits bei gut genug auf die Schulter klopfen, sparen wir uns so viel Zeit, Geld und Energie, die wir sonst aufwenden, um dieses ewige besser zu erreichen. Klar kann alles immer besser sein. Mit Betonung auf immer. Das hört also nie auf! Gut genug ist hier und jetzt. Besser ist immer ein Punkt, der in der Zukunft liegt, sich ständig verschiebt und keine Zufriedenheit mit dem Ist-Zustand erlaubt. Gewöhnlichkeit gibt uns mit ihrem begrenzten Platz für Überraschungen viel Sicherheit und es gibt keinen Menschen auf der Welt, der ohne Sicherheit auskommt. Hallo 2020. Alles in allem also eine liebenswerte Sache, wenn man es sich mal genauer überlegt.

Um eine Komfortzone zu verlassen, muss man erst mal eine haben.

Aber ist gewöhnlich und durchschnittlich nicht langweilig? Was ist mit Herausforderungen? Man kann doch nicht tatenlos in der Masse untergehen! Profilierung ist doch wichtig! Ich soll doch meine Komfortzone verlassen, oder? Von überall ruft es her, sie hält die Menschen gefangen und man muss ihr entkommen, um zu den besonderen 2% der Menschheit zu gehören, oder?

Alternatives Lebensziel: Langeweile
Alternatives Lebensziel: Komfortzone

Klar, das kann einen schon wurmen. Das kann einen vor allem aber auch unglaublich stressen. Ergänzend also ein paar beruhigende Hinweise, für alle, denen schwant, dass das Verlassen ihrer Komfortzone für sie gar nicht so glorreich ist, wie sie es sich vorgestellt haben:

Über Langeweile habe ich seit mindestens 15 Jahren niemanden mehr klagen hören und in einer solchen Zeitspanne erreicht einen einiges an Klagen. Herausforderungen bietet einem das Leben meist schon ganz von selbst genug, ohne dass man sich ihnen entgegenwerfen oder nach ihnen extra gesucht werden muss.

Einen funktionierenden Alltag mit Struktur und Routinen zu etablieren und beizubehalten kann absolut und immer wieder Herausforderung genug sein. Wenn durch höhere Gewalt mal größere Bedrohungen auftauchen, als in der Masse unterzugehen, lernen wir die Sicherheit zu schätzen und mit ihr auch die Gewöhnlichkeit. Dann merken wir, dass es auch ganz schön ist, mit anderen über unsere vermeintlichen Unzulänglichkeiten zu lachen, anstatt unser Profil zu perfektionieren, wobei es meist wenig zu lachen gibt. Dass es viel schöner ist, mit 97 durchschnittlichen Leuten Zeit zu verbringen, als mit nur einer anderen mit markantem Profil.

Und um eine Komfortzone verlassen zu können, muss man erst mal eine haben. Ein Bereich, in dem man sich wohl und sicher fühlt? Wird nicht zu jedem Leben frei mitgeliefert.

Jede*r darf so sein wie sie*er ist

Es ist ein Drahtseilakt, die richtige Balance zu finden zwischen dem Bedürfnis, einzigartig zu sein, sich aber auch nicht zu stark von anderen zu unterscheiden. Besonders wollen wir sein, aber sonderlich nun auch wieder nicht. Gar nicht so leicht, sich da auszukennen. Muss man aber zum Glück auch gar nicht, denn das einzige, was wichtig ist, ist Folgendes zu wissen:

Jede*r darf so sein wie sie*er ist. So extravagant oder so durchschnittlich wie sie*er sich wohlfühlt. Und verändern oder abwechseln darf sich das auch.

Du allein entscheidest, wo deine Komfortzone verläuft. Und ob du es dir darin gemütlich machst oder nicht.
Du allein entscheidest, wie weit deine Komfortzone geht und ob du es dir darin gemütlich machst.

Nachdem ich über zwei Dekaden alles getan habe, was mir nur einfallen konnte, um in allen erdenklichen Formen besonders und bloß nicht durchschnittlich zu sein, ist mir dies zwar teils mit streitbarem Erfolg gelungen, bin ich aber auch besonders ausgelaugt davon. Und als ich dann so ausgelaugt war und mich etwas umgeschaut habe, fiel mir auf, dass die Leute, die sich mit einer gewissen Durchschnittlichkeit schmücken können und nicht ambitioniert sind, daran etwas zu ändern, die entspanntesten und zufriedensten Leute sind, die ich bislang konsequent übersehen hatte. Die, die es raus haben, sind nämlich in Wirklichkeit die, die sich nicht unter Druck setzen (lassen). Es kamen mir ein paar leise, aber sehr wirkungsvolle Gedanken:

Vielleicht reicht es vollkommen aus, ein ganz gewöhnliches Leben zu leben. Vielleicht ist das sogar richtig schön. Vielleicht ist alles und bin ich schon gut genug. Vielleicht ist ein Teil von mir ganz und gar besonders und ein anderer ganz und gar wie die allermeisten Menschen, ganz von selbst.

Zum Schluss noch ein paar Fragen und Gedanken, zum Nachdenken, oder auch um es sein zu lassen:

  1. Lass dir von niemandem befehlen, deine Komfortzone zu verlassen, wenn du eine hast. Die Komfortzone zu verlassen ist 2019 und davor. Wenn du keine hast, dann versuch dir eine zu schaffen und verbring so viel Zeit dort wie du möchtest. Ein Ort, an dem wir uns wohl und sicher fühlen ist von immenser Bedeutung.
    #progemütlichkeit!
  2. Ottolenghi ist toll, Kartoffeln mit Spinat und Spiegelei aber auch. Wenn du nicht weißt, wer Ottolenghi ist, bist du bereits auf dem richtigen Weg.
  3. Was ist dir wichtiger – Schlaf, oder Applaus? Und warum?
  4. Wie fühlt es sich an, wenn du dir vorstellst, nichts besonderes, nichts außergewöhnliches sein oder leisten zu müssen?
  5. Wem musst oder willst du eigentlich etwas beweisen? Und warum?
  6. Versuch doch mal Langeweile zu haben. Viel Glück!

Inspiriert wurde dieser Text durch Catherine Gray: Vom unerwarteten Vergnügen, ein völlig normales Leben zu führen (978-3747402436). Mit unbedingter Leseempfehlung und Bitte darum, in einer echten Buchhandlung zu bestellen und zu erwerben.

12 comments on »Ode an die Gewöhnlichkeit«

  1. Liebe Kathrin, tausend Dank für diesen wunderbaren Text! So viele treffende Gedanken, die ich alle speichern und immer wieder herauskramen möchte.

  2. Sibylle Blessing-Nagler

    Ich möchte kein langweiliges Leben, ich wollte immer ein interssantes Leben, und das findet sich meist nur ausserhalb der Komfortzone, in der wir wachsen können. Noch mit Ende 50 hab ich beruflich Neues gewagt, privat noch einmal geheiratet und lebe jetzt teils in und teils ausserhalb d Komfortzone! Die Balance ist es, die es zu finden gilt! Sibylle

  3. Schon lange keinen so wohltuenden Artikel mehr gelesen – DANKE! 🙂

  4. Heutzutage sind wir schon besonders, wenn wir nicht besonders sein wollen!
    Es ist eine herrliche Freiheit diese Gewöhnlichkeit!

  5. Frau Hübschle

    Sehr guter Beitrag – vor allem daran zu denken: eine Komfortzone muss man erst mal haben und man muss diese auch nicht verlassen…
    Danke dafür😍

  6. Guter Denkanstoß, aber ohne Ottolenghi geht’s bei mir nicht 🙂 In seinen Essen steckt so viel Glück, Trost und Wohlfühlen drin!

  7. …welch schöne, wahre Worte, die man sich öfters Mal vor Augen halten sollte – und irgendwann wird dann die Besonderheit gewöhnlich 🙂

  8. Die letzten ca. 70 Jahre habe ich im Mittelmaß gelebt. Manches war gut, Manches ausreichend, im Schnitt zufriedenstellend. Einfacher ist das bestimmt auch nicht, als nur gut und besser sein zu wollen. Typen wie ich verstehen überhaupt nicht, wieso sie etwas Besonderes sein müssten. Schließlich führen sie ein befriedigendes Leben. Ein eigner authentischer Stil in allem ergibt sich dabei von ganz allein.
    In diesem Sinne ihr nur Sehr Guten: Kopf hoch, aber nicht zu hoch. (Zwinker Zwinker)

  9. Ganz wundervoll entspannend :). Vielen Dank.

  10. Christel Lottmann

    Vielen Dank für diese schöne Ode an die Gewöhnlichkeit 🙂 sehr wohltuend und entlastend…

  11. Danke, für diesen schönen Beitrag. Ganz und gar nicht gewöhnlich 😉 Ich konnte mich darin wiederfinden. Alles Liebe.

  12. Kathrin Miller

    Vielen lieben Dank für diesen Beitrag, Kathrin – deine Worte haben mir gerade richtig gut getan!

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