Signe liegt auf der Bank in ihrem alten Haus und schaut hinaus auf den Fjord. Alles ist wie immer und doch ist alles anders, seit ihr Mann Asle vom Fjord nicht mehr zurückkam. 23 Jahre ist das her und sie erinnert ihr gemeinsames Leben in dem kargen Haus in der kargen Landschaft, in der sie leben. Nur das Paar in einem wiederkehrenden Rhythmus, an dem der Mann jeden Tag mit einem kleinen Ruderboot auf den Fjord hinausfährt und sie auf ihn wartet.
Der Erzähler, der nur am Anfang und Ende kurz erscheint, beobachtet Signe, wie sie auf der Bank liegt und ihre Gedanken fließen lässt. Wie in einem Zwiegespräch ziehen ihre Erinnerungen an ihrem geistigen Auge vorbei bis zur Ururgroßmutter Alise, die in einer Nacht vor langer Zeit am Ufer ein Feuer hütet. Denn schon damals hatte es einen Jungen in der Familie gegeben, der nie mehr vom Fjord zurückkam, wovon Fosse packend im letzten Drittel der Novelle erzählt.
Der Text fließt, ohne Punkt, ohne Absätze, ohne erkennbare Struktur, wie die Gedanken. Der minimalistische, knappe Stil beschreibt in karger Sprache das stille Leben des Paares am Fjord, wie es Signe erinnert. Die Gespräche mit ihrem Mann sind so schlicht wie das Leben, das sie geführt haben und das sie bis in die Gegenwart vermisst.
… und sie sieht, wie sie da auf der Bank liegt, sich selber mitten in der Stube stehen …
Jon Fosse entfaltet in seiner Novelle ein komplexes Vexierspiel. Gedanken wiederholen sich, Ebenen und Zeiten verschieben sich und beschreiben die große Tiefe und existentielle Dichte, die der Autor vermittelt. Die Dramatik wird durch die Schlichtheit der Sprache noch verstärkt. Langsam und fast unbemerkt entwickelt sich dabei ein Bild der beteiligten Personen. Immer wieder wechseln die Ebenen und verknüpfen sich zuletzt zu einer Geschichte, die erst am Ende aufzugehen scheint.
Ein fast meditativer Sog
Sich in Fosses Stil einzulesen braucht zu Beginn ein bisschen Übung. Man muss hineinkommen in die Form, in diese fortlaufende, ruhige, fast unbewegliche Art zu schreiben, die minimalistisch das Alltägliche auf die gleiche Stufe hebt wie das Besondere. Jon Fosse betrachtet mit genauem Blick immer das ganze Bild, er lässt die Details nicht aus. Dabei entsteht ein fast meditativer Sog und eine Nähe von großer Intensität, fließend wie das Meer am Fjord.
… oder ist das Wetter doch gar nicht so schlimm? ja, es ist ziemlich viel Wind, aber macht das was? und das Boot ist ja gut, es hält dem Wetter sicher stand, denkt er, da könnte er heute doch ein bisschen auf den Fjord rausfahren, denkt er und er geht ans Ende vom Bootssteg und die Wellen spülen über seine Stiefel und er löst die Vorleine … nur ein bisschen rausfahren, eine kleine Fahrt in Wellen, Wind und Regen, und in der Dunkelheit, denkt er …
In Fosses Werken geht es immer um das Dasein und um die Abwesenheit, um den Rhythmus des Lebens und Sterbens. Dem Autor selber sind Alkoholsucht, Geldprobleme und tiefe religiöse und persönliche Krisen vertraut. In seinem auch auf Deutsch erschienenen, dreibändigen Großroman „Heptalogie“ schreibt er davon als ein weiterer Asle, einem Maler, der wiederum einem anderen Maler begegnet, der ihm, dem Autor sehr ähnelt. Auch hier gibt es eine Alise, diesmal ist es die Schwester des Malers.
Der Norweger Jon Fosse
Jon Fosse gehört zu den innovativsten norwegischen Autoren der Achtzigerjahre. Der 1959 in Westnorwegen geborene Lyriker, Dramatiker und Essayist, Prosa- und Kinderbuchautor wurde in 40 Sprachen übersetzt und war lange weltweit der meist gespielte Gegenwartsdramatiker. Seine Dramatik wurde zuerst in Norwegen, dann in Deutschland und schließlich weltweit gefeiert. Inzwischen ist er zu einem internationalen Literaturstar avanciert. Im Herbst 2023 wurde Jon Fosse mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Das ist Alise erschien 2003 als deutsche Originalausgabe im mare-Verlag.
Das ist Alise
Novelle
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
gebunden mit Schutzumschlag, 128 Seiten
ISBN: 978-3-86648-743-7
20 Euro