EU-Handbuch 15. Auflage, 2020

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „EU-Handbuch - Entscheidungsprozesse, Koordinierung und Verfahren

/ 276
PDF herunterladen
2 ARBEITSWEISE DER EU            29 ten Akteuren, wie Berichterstattern/Berichterstatterinnen oder Schatten­ berichterstattern/Schattenberichterstatterinnen. • Gruppenvorsitzende (z. B. der CDU/CSU-Gruppe oder der SPD-Gruppe) steuern den Meinungsbildungs- und Gesetzgebungsprozess innerhalb ihrer Gruppe, die Teil einer Fraktion ist (z. B. EVP oder S&D). • Der/die Parlamentspräsident/in führt den Vorsitz der Plenartagungen, der Sitzungen der Konferenz der Präsidenten und leitet die Gesamtheit der Arbeiten des Parlaments. Darüber hinaus unterzeichnet er/sie die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angenommenen Rechtsakte. 2.1.5 Interinstitutionelle Zusammenarbeit Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit der EU-Organe ist bereits im EUV (Art. 13 Abs. 2 S. 2) verankert. Artikel 295 AEUV sieht vor, dass das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission einvernehmlich die Einzelheiten ihrer Zusammenarbeit regeln und dazu auch interinstitutionelle Verein- barungen schließen können. Das ist vor allem für die EU-Gesetzgebung von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der Komplexität der Verfahren mit einer großen Zahl an Beteiligten und einer Vielzahl zu berücksichtigender Interes- sen setzt eine Einigung über Verordnungen und Richtlinien im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in einem überschaubaren Zeitraum voraus, dass die EU-Organe in geregelten Verfahren gut und vertrauensvoll zusammenarbei- ten. Hierzu gibt es eine Reihe von Vereinbarungen: Interinstitutionelle Vereinbarung über bessere Rechtsetzung In ihrer Interinstitutionellen Vereinbarung (IIV) über bessere Rechtsetzung vom 13. April 201629 haben sich Rat, Kommission und Europäisches Parlament zu loyaler und transparenter Zusammenarbeit während des gesamten Gesetzgebungszyklus verpflichtet. Die Organe bekennen sich zu dem gemeinsamen Ziel, Einfachheit, Klarheit und Kohärenz der Formulierung von Gesetzestexten sowie ein Höchstmaß an Transparenz im Rechtsetzungs- verfahren zu fördern.30 29 ABl. L 123 vom 12. Mai 2016, S. 1. 30 IIV 2016, Ziffer 2.
31

30         2 ARBEITSWEISE DER EU Die IIV 2016 enthält Regelungen zur jährlichen und mehrjährigen Programm- planung der EU, zu Instrumenten für eine bessere Rechtsetzung (Folgen­ abschätzungen, Konsultationen, Ex-post-Evaluierungen), zu Rechtsetzungs- instrumenten, insbesondere für den wichtigen Bereich der delegierten und Durchführungsrechtsakte, zur Transparenz und Koordinierung des Gesetz­ gebungsverfahrens, zur Umsetzung und Anwendung von EU-Rechtsvorschrif- ten sowie zur Vereinfachung des EU-Rechts. Einige wesentliche Punkte im Überblick: • Der Rat wird frühzeitiger in die Vorbereitung des jährlichen Arbeitspro- gramms der Kommission eingebunden (siehe Abschnitt 2.1.3). Für das Europäische Parlament war dies schon vorher der Fall (nach der Rahmen- vereinbarung zwischen Europäischem Parlament und Kommission von 2010, siehe unten). • Mit der IIV 2016 wurde darüber hinaus eine gemeinsame mehrjährige und jährliche Programmplanung der drei EU-Organe eingeführt. Nach Ernennung einer neuen Kommission sollen sich die drei Organe über die wichtigsten Politikziele und -prioritäten für die neue Amtszeit sowie nach Möglichkeit über die vorläufige zeitliche Planung austauschen und ggf. gemeinsame Schlussfolgerungen verfassen. Für die jährliche gemeinsame Programmplanung verständigen sich die drei Organe auf Grundlage des jährlichen Arbeitsprogramms der Kommission über ihre gemeinsamen Prioritäten für das folgende Jahr und verabschieden dazu eine gemeinsame Erklärung. • Bei der delegierten Rechtsetzung wurde, wie vom Rat gefordert, eine sys- tematische und verbindliche Einbindung von mitgliedstaatlichen Experten durch die Kommission vereinbart (siehe dazu Abschnitt 2.6). • Das Europäische Parlament und der Rat sollen Folgenabschätzungen über ihre jeweils eingebrachten wesentlichen Änderungen an Gesetzgebungsvor- schlägen der Kommission durchführen, sofern sie es für angemessen und erforderlich halten (siehe Abschnitt 3.6.2).
32

2 ARBEITSWEISE DER EU                   31 • Rat, Europäisches Parlament und Kommission haben vereinbart, sich über verbesserte praktische Regelungen für die Zusammenarbeit und den Infor- mationsaustausch mit Blick auf die Aushandlung und den Abschluss inter- nationaler Übereinkünfte zu verständigen.31 • Die Mitgliedstaaten werden in allgemeiner Form zu größerer Transparenz in Fällen verpflichtet, in denen nationale Gesetzgebung über die Umsetzung einer EU-Richtlinie hinausgeht (sog. „Gold-Plating“, siehe Abschnitt 5.2). Rahmenvereinbarung zwischen Europäischem Parlament und Kommission Im Jahr 2010 trafen Europäisches Parlament und Kommission eine bilaterale Rahmenvereinbarung,32 die auch nach Abschluss der IIV 2016 fortgilt. Diese Vereinbarung enthält verschiedene Bestimmungen zur Arbeitsorganisation und Zusammenarbeit zwischen beiden Organen. Die Bestimmungen betreffen insbesondere die politische Verantwortung der Kommission, die Einrichtung eines ständigen und wirksamen politischen Dialogs und die Durchführung der Gesetzgebungsverfahren. Der Rat hatte sich dieser Vereinbarung damals nicht angeschlossen, da sie seiner Auffassung nach das in den Verträgen festgelegte Verhältnis der Organe nicht ausreichend beachtet. Weitere gemeinsame Vereinbarungen und Erklärungen In einer Gemeinsamen Erklärung vom 13. Juni 2007 verständigten sich Rat, Kommission und Europäisches Parlament über „praktische Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens“.33 Die Erklärung enthält insbesondere eine Grundlage für die Durchführung informeller Triloge (siehe dazu Abschnitt 2.3.2). Diese und einige andere Vereinbarungen und Erklärungen zu unterschiedlichen Aspekten der besseren Rechtsetzung gelten auch nach Verabschiedung der IIV 2016 weiter; ein Überblick ist Erwägungsgrund 9 der IIV 2016 zu entnehmen. 31 IIV 2016, Ziffer 40. Hierüber laufen interinstitutionelle Beratungen auf politischer und technischer Ebene, die jedoch in der vergangenen Legislaturperiode nicht abgeschlossen werden konnten. 32 Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission, ABl. L 304 vom 20. November 2010, S. 47, geändert durch Beschluss des Europäischen Parlaments vom 7. Februar 2018. 33 Gemeinsame Erklärung vom 13. Juni 2007 zu den praktischen Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens, ABl. C 145 vom 30. Juni 2007, S. 5.
33

32            2 ARBEITSWEISE DER EU 2.1.6 Europäische Gerichtsbarkeit Die EU verfügt mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Gericht (EuG) über ein eigenes Rechtsschutzsystem. Die Gerichte der EU wachen über die Wahrung des Unionsrechts durch die Organe der Union und durch die Mitgliedstaaten. Der EuGH und das EuG sichern durch ihre Rechtsprechung die verbindliche Auslegung und einheitliche Anwendung der Verträge. Dabei nehmen die Gerichte der EU Auf- gaben wahr, die nach dem nationalen Verständnis unterschiedlichen Gerichts- typen zugeordnet sind: • Als Verfassungsgericht prüft der EuGH die Vereinbarkeit des Sekundär- rechts (z. B. der Verordnungen und Richtlinien des Rates und des Euro- päischen Parlaments) mit dem primären Vertragsrecht und den allgemei- nen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts (Art. 263, 267 Abs. 1 lit. a, 269, ggf. i. V. m. Art. 271 AEUV), entscheidet über Vertragsverletzungen durch die Mitgliedstaaten (Art. 258 ff. AEUV) und überprüft die Vereinbarkeit von geplanten völkerrechtlichen Übereinkünften mit dem Primärrecht (Art. 218 Abs. 11 AEUV). • Wie ein oberstes Fachgericht legt der EuGH europäisches Recht aller Rechtsgebiete (z. B. Arbeitsrecht, Migrationsrecht, Steuerrecht, Verbraucher- schutzrecht und Lebensmittelrecht) verbindlich aus (Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV). • Als Revisionsgericht überprüft der EuGH Entscheidungen des EuG auf Rechtsfehler, Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV, wenn ein entsprechendes Rechtsmittel eingelegt wird. • Als Schiedsgericht handelt der EuGH, wenn ihm die Mitgliedstaaten die Entscheidung in einem Übereinkommen übertragen haben, das außerhalb des europäischen Vertragswerks abgeschlossen wurde (Art. 273 AEUV). • Das EuG übernimmt Aufgaben eines Verwaltungsgerichts, indem es bei Klagen von Mitgliedstaaten, natürlichen und juristischen Personen gegen
34

2 ARBEITSWEISE DER EU           33 die Maßnahmen eines Unionsorgans, z. B. gegen eine abschließende Entscheidung der Kommission in einem Beihilfeverfahren, tätig wird (Art. 263 AEUV). • Als Zivilgericht verhandelt das EuG insbesondere Klagen auf Schadens­ ersatz wegen vertraglicher oder außervertraglicher Haftung (einschließlich Amtshaftung) der EU (Art. 256, 268 AEUV). • Als Dienstgericht befasst sich das EuG – nach der Wiedereingliederung des Europäischen Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU (EuGöD) in das EuG – mit Klagen der EU-Bediensteten aus ihrem Dienstverhältnis (Art. 270 AEUV). Für die Bundesregierung sind vor allem die folgenden drei Verfahrensarten relevant, die vor den Europäischen Gerichten in Luxemburg anhängig gemacht werden können: Vorabentscheidungsverfahren (siehe Abschnitt 6.4), Vertrags­ verletzungsklagen (siehe Abschnitt 6.5) und Nichtigkeitsklagen (siehe Abschnitt 6.6). Die besondere Bedeutung der Vorabentscheidungsersuchen spiegelt sich in der Praxis des Prozessführungsreferats BMWi – EA5 wider: Von den im Jahr 2016 neu begonnenen Verfahren, an denen sich die Bundesrepub- lik aktiv beteiligt hat, waren 73 Prozent Vorabentscheidungsverfahren (davon ein Drittel von deutschen Gerichten und zwei Drittel von Gerichten anderer Mitgliedstaaten). 2.2 Rechtsakte der EU Rechtsakte in der EU werden gemäß der einheitlichen Terminologie des Art. 288 AEUV benannt. Die Organe erlassen demgemäß Verordnungen, Richt­linien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen. Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen wurden, werden als Gesetzgebungsakte bezeichnet (Art. 289 Abs. 3 AEUV). Daneben existieren auch Rechtsakte ohne Gesetzescharakter (Art. 290, 291 AEUV; siehe Abschnitt 2.6).
35

34          2 ARBEITSWEISE DER EU Bezüglich der Handlungsform haben die Organe grundsätzlich freie Wahl, soweit die Verträge die Art des zu erlassenden Rechtsakts nicht vorgeben. Bei der Auswahlentscheidung ist jedoch das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beach- ten (Art. 296 Abs. 1 AEUV i. V. m. Art. 5 Abs. 4 EUV). Das gilt auch für die Ent- scheidung, ob ein Rechtsakt in Form einer Verordnung oder einer Richtlinie ergehen soll. • Die Verordnung hat allgemeine Geltung, ist in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in allen Mitgliedstaaten (Art. 288 Abs. 2 AEUV). • Die Richtlinie gilt für alle Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet ist. Sie ent- hält eine verbindliche Zielvorgabe, verbunden mit einer Umsetzungsfrist, überlässt es aber den Mitgliedstaaten, auf welche Weise das Ziel erreicht wird (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Grundsätzlich entfaltet eine Richtlinie also keine unmittelbare Wirkung für den/die Bürger/in. Lässt der Mitgliedstaat jedoch die Frist verstreichen, ohne die Umsetzung in die Wege geleitet bzw. die Umsetzung der Kommission mitgeteilt zu haben, können sich die beiden folgenden Konsequenzen ergeben: — Zum einen kann die Kommission – wie grundsätzlich in jedem Fall eines Unionsrechtsverstoßes – ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten (Art. 258, 260 AEUV). Kommt der Mitgliedstaat dem Mahnschreiben und der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission nicht nach, kann sie den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen (Art. 258 AEUV). Stellt der Gerichtshof einen Rechtsverstoß fest und kommt der Staat dennoch seinen Umsetzungspflichten nicht nach, so kann er ein weiteres Mal verurteilt werden, wobei der Gerichtshof die Zahlung eines Pauschalbetrags und/oder eines Zwangsgeldes gegen ihn verhängen kann (Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV). Vorsicht: In Fällen der Nichtmitteilung der Richtlinienumsetzung oder Nichtumsetzung von Richtlinien kann bereits innerhalb des ersten Klage­ verfahrens die Verhängung eines Pauschalbetrages und/oder Zwangs­ geldes beantragt werden (Art. 260 Abs. 3 AEUV). — Zum anderen kann die Richtlinie ausnahmsweise unmittelbare Wirkung entfalten: Soweit Vorschriften der Richtlinie „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau“ sind und Ansprüche des/der Bürgers/Bürgerin gegen den Staat begründen, kann sich der/die Bürger/in direkt auf die Vor-
36

2 ARBEITSWEISE DER EU              35 schriften berufen. Ist eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie nicht möglich, hat er unter bestimmten Voraussetzungen Schadensersatzan- sprüche gegen den Staat. • Beschlüsse haben entweder allgemeine Geltung (z. B. Abschluss internatio- naler Übereinkünfte der EU, Ernennungen) oder sie richten sich an bestimmte Adressaten. Adressaten können sowohl Mitgliedstaaten als auch natürliche oder juristische Personen sein. Die Beschlüsse sind in allen Teilen verbind- lich (Art. 288 Abs. 4 AEUV). Sie sind ein häufiges Mittel im Wettbewerbsrecht (z. B. Art. 105 Abs. 2; 107 Abs. 3 lit. e AEUV), spielen aber beispielsweise auch in der Währungspolitik (z. B. Art. 143 Abs. 2 AEUV) und in der Handelspolitik (Art. 207 i. V. m. Art. 218 AEUV) eine Rolle. • Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich (Art. 288 Abs. 5 AEUV), ihr Adressatenkreis ist variabel. Gemäß Art. 292 AEUV geben der Rat, die Kommission und in bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen die Europäische Zentralbank Empfehlungen ab. Stellungnahmen hingegen können alle Organe der EU abgeben. — Empfehlungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Adressaten ein bestimmtes Verhalten nahelegen. Im Bereich der Wirtschaftspolitik z. B. verabschiedet der Rat auf der Grundlage von Schlussfolgerungen des Europäischen Rates eine Empfehlung zu den Grundzügen der Wirt- schaftspolitik in den Mitgliedstaaten (Art. 121 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV). — Stellungnahmen enthalten oft die Beurteilung einer gegenwärtigen Lage oder bestimmter Vorgänge in der EU oder den Mitgliedstaaten. Ist bei- spielsweise die Kommission der Auffassung, dass in einem Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht oder sich ergeben könnte, so legt sie dem betreffenden Mitgliedstaat eine Stellungnahme vor und unterrichtet den Rat (Art. 126 Abs. 5 AEUV). • Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird durch Beschluss entschieden (Art. 25 lit. b EUV), häufig auf der Grundlage von verabschiedeten allgemeinen Leitlinien (Art. 25 lit. a EUV).
37

36          2 ARBEITSWEISE DER EU 2.3 Gesetzgebungsverfahren der EU Das Initiativrecht zur Unterbreitung von Legislativvorschlägen liegt grund- sätzlich bei der Kommission (Art. 17 Abs. 2 EUV, siehe zu den seltenen Ausnah- men hiervon: Art. 289 Abs. 4 AEUV). Es gibt im AEUV keinen allgemeinen Grundsatz, nach welchem Verfahren Rat und Europäisches Parlament über diese Vorschläge entscheiden. Vielmehr ergibt sich das anzuwendende Verfahren im Einzelfall aus der jeweiligen Ermächtigungsnorm selbst. Im Regelfall verweisen die Ermächtigungsnormen auf standardisierte Verfahren, konkret auf das ordentliche Gesetzgebungsver- fahren nach Art. 294 AEUV. In den anderen Fällen bestimmt die Ermächtigungsnorm, ob ein besonderes Gesetzgebungsverfahren anzuwenden ist bzw. ob die Beschlussfassung im Rat ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments, nach dessen Anhörung oder dessen Zustimmung erfolgt (siehe Abschnitt 2.3.3). 2.3.1 Ordentliches Gesetzgebungsverfahren Entscheidenden inhaltlichen Einfluss auf einen vorgeschlagenen Rechtsakt nimmt das Europäische Parlament im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (früher: Mitentscheidungsverfahren), dessen Anwendungsbereich bei den ver- schiedenen Änderungen der EU-Verträge sukzessive ausgeweitet wurde und das jetzt in der Praxis den Regelfall darstellt. Artikel 294 AEUV enthält hierfür detaillierte Verfahrensregeln: • Grundsätzlich legt die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag vor (Art. 294 Abs. 2 AEUV). In erster Lesung beschließt das Europäische Parlament seinen Standpunkt (Art. 294 Abs. 3 AEUV). Billigt der Rat diesen Standpunkt, so kann er den vorgeschlagenen Rechts- akt in der vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Fassung mit quali- fizierter Mehrheit erlassen (Art. 294 Abs. 4 AEUV).
38

2 ARBEITSWEISE DER EU              37 • Andernfalls legt der Rat seinen Standpunkt in erster Lesung fest und übermittelt ihn dem Europäischen Parlament (Art. 294 Abs. 5 AEUV). Billigt das Europäische Parlament binnen drei Monaten den Standpunkt des Rates oder hat es sich nicht geäußert, gilt der Rechtsakt als in der Fassung des Standpunktes des Rates erlassen (Art. 294 Abs. 7 lit. a AEUV). • Lehnt das Europäische Parlament hingegen innerhalb desselben Zeitraums den Standpunkt des Rates in erster Lesung mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder ab, so wird der vorgeschlagene Rechtsakt nicht erlassen (Art. 294 Abs. 7 lit. b AEUV). • Schlägt das Europäische Parlament mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder Abänderungen an dem Standpunkt des Rates vor, die alle vom Rat binnen drei Monaten gebilligt werden, gilt der Rechtsakt als erlassen (Art. 294 Abs. 8 lit. a AEUV). Hierbei muss der Rat einstimmig entscheiden, wenn er Abänderungen annehmen möchte, die die Kommission in ihrer Stellungnahme abgelehnt hat (Art. 294 Abs. 9 AEUV). • Billigt der Rat die Abänderungen nach Stellungnahme der Kommission hingegen nicht, so wird binnen sechs Wochen der Vermittlungsausschuss einberufen (Art. 294 Abs. 8 lit. b AEUV). Der Vermittlungsausschuss hat sechs Wochen Zeit, um sich auf einen gemeinsamen Entwurf zu einigen. Ist er hierzu nicht in der Lage, gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen (Art. 294 Abs. 12 AEUV). Andernfalls verfügen Europäisches Parlament und Rat ebenfalls über sechs Wochen Zeit, um über den gemeinsamen Ent- wurf abzustimmen. Wird der Entwurf im Europäischen Parlament mit der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen, im Rat mit qualifizierter Mehrheit gebilligt, so ist der Rechtsakt verabschiedet. Andernfalls ist er nicht erlassen (Art. 294 Abs. 13 AEUV). Eine Übersicht über das ordentliche Gesetzgebungsverfahren findet sich am Ende von Abschnitt 2.3.2.
39

38          2 ARBEITSWEISE DER EU 2.3.2 Triloge Eine zentrale Rolle in der EU-Gesetzgebung nehmen die Triloge ein, die nicht vertraglich geregelt sind. Das ist Ausdruck der Komplexität der Beratungen im Rat (mit 27 Mitgliedstaaten) und im Europäischen Parlament, die parallel verlaufen. Informelle Trilogverhandlungen zwischen Vertretern des Rates und des Euro­ päischen Parlaments unter Vermittlung der Kommission ermöglichen es, zeit­nah Kompromisse zu finden und Gesetzgebungsakte in einem frühen Ver- fahrensstadium abzuschließen. Ziel der Trilogverhandlungen ist es, sich auf einen gemeinsamen Text zu einigen, der dann noch formal durch Europäisches Parlament und Rat gebilligt werden muss. In einer Gemeinsamen Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 13. Juni 200734 wird die Bedeutung des Trilogsystems während des Gesetzgebungsverfahrens explizit anerkannt. Darin heißt es (Ziffern 4. und 5.): „Die Organe arbeiten während des gesamten Verfahrens loyal zusammen, um ihre Standpunkte möglichst weitgehend anzunähern und dabei, soweit zweckmäßig, den Erlass des Rechtsakts in einem frühen Stadium des Verfahrens zu ermöglichen. Im Hinblick auf dieses Ziel arbeiten die Organe im Rahmen geeigneter interinstitutioneller Kontakte zusammen.“ Das Europäische Gericht hat in seinem Urteil vom 22. März 2018 in der Rechts- sache De Capitani (T-540/15) bestätigt, dass „der Rückgriff auf Triloge über die Jahre für ein kraftvolles und flexibles Handeln gesorgt hat, da er dazu beigetra- gen hat, die Möglichkeiten für eine Einigung in den verschiedenen Phasen des Gesetzgebungsverfahrens zu vervielfachen“ (Rz. 75). Triloge können grundsätzlich in allen Stadien des Rechtsetzungsverfahrens durchgeführt werden; in der Praxis sind üblich: • Einigung in erster Lesung (First Reading Agreement): Vor der Abstimmung des Europäischen Parlaments in erster Lesung einigen sich die Mitgesetz- geber in Trilogverhandlungen auf einen Kompromisstext. Das Europäische 34 Gemeinsame Erklärung vom 13. Juni 2007 zu den praktischen Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens, ABl. C 145 vom 30. Juni 2007, S. 5.
40

Zur nächsten Seite