Klimawandel? Überbevölkerung? Hungersnot? Nein! Der drohende Bevölkerungskollaps sollte uns beunruhigen

Welche Erfindung der Menschheitsgeschichte hat die größten Auswirkungen auf unser Wohl gehabt? Der Computer? Der Pflug? Der Buchdruck? Nutella? Alles zweifelsohne würdige Kandidaten, die einen Stammplatz in der Ahnengalerie der wichtigsten Erfindungen der Menschheit verdienen. Es ist allerdings ein anderer Kandidat, der immer wieder an prominenter Stelle von Wissenschaftlern genannt wird.

Diese Geschichte beginnt mit einem flammenden Appell vor der British Association for the Advancement of Science in Bristol im Jahr 1898. Schon lange vor dem 1972 erschienenen Bericht des Club of Rome ,Die Grenzen des Wachstums‘ waren Warnungen vor den Grenzen des Wachstums gängige Hilfsmittel, um den Zeitgenossen die Auswirkungen ungebremsten Wachstums drastisch vor Augen zu führen. Die Lösungen lassen sich in zwei Kategorien zusammenfassen: Entweder man unternehme etwas dagegen oder man unternehme etwas dafür.

In Bristol zeichnete der britische Physiker und Chemiker William Crookes ein düsteres Bild, indem er die rasant zunehmende Bevölkerungszahl dem Nahrungsmittelangebot gegenüberstellte. In 20 Jahren, so Crookes, würde die Nahrungsmittelnachfrage das Angebot übertreffen. Crookes sah deshalb als das vordringlichste Problem seiner Zeit, eine wirtschaftliche Methode zu finden, die die künstliche Herstellung des wichtigsten Düngemittelbestandteiles, Ammoniak, erlaubt. Solche Warnungen waren nicht neu. Denn genau 100 Jahre zuvor hatte Crookes Landmann, der Ökonom Thomas Malthus, in seinem 1798 erschienen ‚Essay on the Principle of Population‘ zum ersten Mal vor einer Überbevölkerung gewarnt. Doch jetzt schien es umso dringlicher.

Dem Aufruf von William Crookes nach neuen Lösungen erhörten Fritz Haber und Carl Bosch und bewahrten uns vor dem Verhungern mit der Ammoniaksynthese mit dem nach ihnen benannten Verfahren. Vierundsiebzig Jahre später warnte der Club of Rome mit dem Bericht ‚Die Grenzen des Wachstums‘ vor ähnlichen Problemen. War Crookes noch ein Ein-Mann-Unternehmen gewesen, so beauftragte der Club of Rome das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit viel Geld, Datenanalysen und Computersimulationen durchzuführen, um Bedrohungsszenarien für die Menschheit zu bestimmen. Der viel diskutierte und einflussreiche Bericht analysierte neben der bereits von Crookes genannten Entwicklung von Bevölkerungswachstum und Unterernährung auch die Industrialisierung, die Rohstoffausbeutung und die Umweltverschmutzung. Das zentrale Ergebnis des Berichts wurde in einem Satz zusammengefasst:

Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.

Fünf Jahrzehnte später gibt es einige überraschende Erkenntnisse. Der im Bericht nicht erwähnte Klimawandel – als Folge der Umweltverschmutzung und Industrialisierung – hat sich als reale Bedrohung für die Menschheit in den Vordergrund gedrängt. Die Unterernährung und das Bevölkerungswachstum hingegen verloren an Bedrohungspotenzial. Lebten noch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts fast die Hälfte aller Menschen weltweit in extremer Armut, waren es 2017 nur mehr neun Prozent.

Die Menschheit hat es somit geschafft, Bedrohungen kollektiv, dank dem uns Menschen inherenten Erfindungsgeist, zu bekämpfen und zu lösen. Hunger und Armut betrifft nur mehr eine verhältnismäßig kleine Zahl von Menschen, und wir sind auf dem besten Weg, auch diesen zu helfen. Die aktuellen Probleme, die vor einem Klimawandel und Energieengpass warnen, sind die neuen Szenarios, die vorgebracht werden. Auch wenn wir in Zeiten einer Pandemie leben, wir sind selbst erstaunt, wie rasch wir Impfstoffe entwickeln konnten. Technologisch betrachtet, wurde COVID besiegt, politisch und gesellschaftlich noch nicht ganz. Aber auch die technischen Lösungen gegen den Klimawandel und mögliche zur Beseitigung unseres Energieengpasses sind vorhanden oder auf dem Weg gelöst zu werden. Wir haben mehr oder weniger alle Technologien an der Hand, um den Klimawandel zu lösen, was fehlt sind der politische und gesellschaftliche Wille. Unser größer werdende Hunger nach Energie steht auch davor, gelöst zu werden. Alternative Energieformen sind vorhanden, nukleare Fusion scheinbar vor dem Durchbruch.

Was aber ist mit dem Bevölkerungswachstum? Können wir das lösen? Und vor allem: ist dieses eigentlich ein Problem?

Das in Seattle beheimatete Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der Washington University ein Ende des Bevölkerungswachstums voraus, und zwar früher als bisher angenommen. Statt den von der UNO prognostizierten 10,9 Milliarden Menschen im Jahr 2100 sieht das IHME bereits um 2064 den Höhepunkt mit 9,7 Milliarden erreicht. Ab diesem Zeitpunkt soll die globale Bevölkerung dann sogar sinken.

Bevölkerungswachstum in Milliarden zwischen 1950 und 2100 © IHME

Und hier beginnt das wahre neue Problem: Wie gehen wir mit einer schrumpfenden Weltbevölkerung um? Wie wir bei der Überalterung der Bevölkerung sehen können, führt das etwa in Japan zu Stagnation und einer geringeren dynamischen Wirtschaftsaktivität. Die Wettbewerbsfähigkeit des Landes und damit der Lebensstandard sinken. China steht vor demselben Problem dank der Ein-Kind-Politik, die die Alterspyramide auf den Kopf gestellt hat. Und in den deutschsprachigen Ländern sieht es mit Verzögerung nicht besser aus. Sinkende Geburtenraten machen das nicht nur bei uns, sondern weltweit zu einer Herausforderung.

Nicht Überbevölkerung, sondern ein drohender Bevölkerungskollaps wird das vordringliche Problem werden. Der Alibaba-Gründer Jack Ma bezieht das auf China und sagt, nicht zu viele Menschen oder eine Superintelligenz sind die Bedrohung für die Menschheit, sondern dass Menschen einfach keine Babys mehr wollen.

Der Menschheit gelang es in den vergangenen Jahrzehnten, Hunger und Seuchen zu bekämpfen. Auch wenn wir immer noch nicht alle Menschen aus der Armut befreit haben und uns hin und wieder eine Pandemie trifft, der menschliche Ideenreichtum hat uns Vorgehensweisen und Technologien gebracht, die Armut effektiv bekämpfen und viele ansteckende Krankheiten vorbeugen und heilen können. Auf der Liste der großen zu lösenden Probleme stehen nun die Umweltverschmutzung und damit einhergehend das Artensterben und der Klimawandel an vorderster Stelle. Finden wir da kein gemeinsames Vorgehen und keine Lösungen, könnten sie die bisherigen Erfolge im Bereich Armut und Seuchen wieder rückgängig machen.

Es gibt allerdings keinen Grund zur Annahme, dass diese Probleme nicht im Bereich des Lösbaren sind. Genauso wie bei Hunger, Armut und Krankheiten helfen ein gemeinsames Vorgehen der Staatengemeinschaften und menschlicher Erfindungsreichtum. Wir verabschiedeten Gesetze und boten Anreize, forschten nach Impfstoffen, entwickelten besseren Dünger, wechselten zu nachhaltigeren Energieformen. Mit anderen Worten: Wir haben in der Menschheitsgeschichte schon mehrmals die ökologische Tragfähigkeit der Erde – die Zahl der Menschen, die sie ohne problematische Auswirkungen beispielsweise auf die Umwelt ernähren kann – drastisch erhöht. Berücksichtigen wir, dass heute die Mehrheit der Bevölkerung weltweit nicht gleichmäßig über den Erdball verteilt lebt, sondern sich in Städten konzentriert, dann sind wir doch einigermaßen davon entfernt, die Erde zu übervölkern.

An Lösungsvorschlägen wird bereits eifrig gebastelt. Von Fleischersatzstoffen, erneuerbaren Energien, plastikfressenden Bakterien, recycelbaren Materialien und Prozessen, Produktionsmethoden wie 3-D-Druck, bei denen viel weniger Müll anfällt, bis hin zu energiesparenden Bauweisen, um nur ein paar Beispiele zu nennen, sind dies alles Anzeichen, dass wir in diesem Jahrhundert auch solche Herausforderungen lösen können.

Nicht alle werden dieser optimistischen Aussage zustimmen und ich kann die Gründe verstehen. Doch vergleichen wir die Bevölkerung mit der Zeit, als William Crookes in Bristol seine Warnung aussprach. Er wäre heute, etwas mehr als hundert Jahre später, erstaunt, dass die damalige Weltbevölkerung von 1,7 Milliarden Menschen auf das fast Fünffache angewachsen ist, und das bei gleichzeitigem Anstieg des Wohlstands und einer Verringerung der Armut von 75 Prozent auf 9 Prozent der Bevölkerung. Auch würde er sein Land nicht wiedererkennen, und das vor allem, weil er keine Luft mehr atmen muss, die durch Schornsteinruß belastet ist.

Was also machen wir ab dem Jahr 2064? Für Deutschland stellt sich die Frage schon ab 2035. Eine internationale Studie vom Juli 2020 prognostiziert ab diesem Jahr mit der höchsten Einwohnerzahl von 85 Millionen ein Schrumpfen der deutschen Bevölkerung bis zum Jahr 2100 auf 66 Millionen. Dieses Schrumpfen bedeutet nach den aktuellen Trends eine dünner werdende Besiedelung des ländlichen Raumes, weniger Arbeitskräfte und steigende Kosten sowie mehr Einrichtungen zur Versorgung der Bedürfnisse einer überalterten Bevölkerung. Die Auswirkungen sind für Manuel Slupina vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bereits heute in einigen Regionen deutlich sichtbar.

Das ist im Süden Brandenburgs der Fall, in der Uckermark, in der Prignitz, in Teilen Sachsen-Anhalts, in Nordhessen, in der Südwestpfalz und im Norden Bayerns. Das sind Regionen, die schon länger erfahren, was es bedeutet, wenn die Zahl der Menschen weniger wird.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum uns ein Bevölkerungskollaps mehr Sorge bereiten sollte als eine Überbevölkerung. Letztere Herausforderung, wie wir bereits diskutierten, konnten wir immer lösen und es gibt keine Anzeichen, dass wir sie nicht auch in Zukunft lösen können. In meinem Buch aus dem Jahr 2020 zu künstlicher Intelligenz, ‚Wenn Affen von Affen lernen‘, zitiere ich eine Erfahrung aus der medizinischen Forschung. Obwohl sich alle 15 bis 20 Jahre die Anzahl der Wissenschaftler in der Medizin verdoppelt, machen wir nicht mehr Fortschritt als zuvor. Der Fortschritt zwischen 1950 und 2000 ist derselbe wie der zwischen 1900 und 1950. Die Gründe sind mannigfaltig.

  1. Wissenschaftlicher Fortschritt wird immer schwieriger. Anfänglich löst man relativ einfache Probleme, doch die verbleibenden werden immer schwerer und kosten mehr Zeit.
  2. Je mehr Menschen an einer Sache arbeiten, desto höher wird der Kommunikationsaufwand.
  3. Je mehr Wissen vorliegt, desto mehr Aufwand muss in die Ausbildung und das Verständnis des Wissens investiert werden, was den Wissens- und Aufgabenbereich eines einzelnen Forschers sehr viel enger macht.

Wenn wir die Geschwindigkeit im medizinischen Fortschritt aufrechterhalten wollen, werden wir nicht umhinkommen, immer mehr Intelligenz hineinzustecken. Traditionellerweise geschieht das durch den Einsatz von mehr Menschen. Heute sind mehr Forscher in der Wissenschaft tätig und tragen mehr Menschen einen Doktortitel (aus welchem Fachbereich auch immer), als es in der gesamten Menschheitsgeschichte zusammengenommen gegeben hat.

Wir müssen Intelligenz somit skalieren. Und das kann auf mehrere Arten, und diese wiederum in Kombination, geschehen. Zuerst mehr Menschen ausbilden und deren Ausbildungsstand erhöhen. Künstliche Intelligenz schaffen, um unsere Intelligenz und unseren Intelligenzraum zu erweitern. Und Intelligenz durch ein Netzwerk von Gehirnen, Publikationen, Intelligenzwerkzeuge wie Computer, Formeln, Mathematik, Programme, Algorithmen und anderweitig kodiertes Wissen auf die nächste Stufe heben.

Diese Intelligenz ist nicht nur ein isoliertes Gehirn in einem Einmachglas, sondern all diese Dinge muss man im Kontext und Interaktion mit der Umgebung betrachten. Nicht der Einzelne wird damit zum superintelligenten Menschen, sondern unsere Zivilisation als Ganzes wird intelligenter. Eine Person allein kann keinen Computer bauen oder Raumfahrt betreiben, aber zusammen als Gesellschaft können wir das schon. Nur mehr verfügbare Intelligenz kann uns helfen, immer größere Herausforderungen einer immer komplexeren Welt anzupacken.

Eine schrumpfende und überalternde Bevölkerung nimmt wichtige Ressourcen in Beschlag. Sich auf einige wenige, vorgeblich höher zu priorisierenden Aufgaben zu fokussieren, funktioniert nur begrenzt. Methoden und Innovationen aus sogenannten Randbereichen oder weniger wichtigen ‚Orchideenfächern‘ können die entscheidenden Ansätze zur Lösung fundamentaler Probleme in den Fokusgebieten liefern.

Der drohende Bevölkerungskollaps sollte uns beunruhigen.


Teile dieses Beitrags stammen aus meinem im August 2021 erschienenen Buch Future Angst: Wie wir von den Innovationsvorreitern zu den Innovationsnachzüglern wurden und wie wir die German Angst überwinden.

Ein Gedanke zu “Klimawandel? Überbevölkerung? Hungersnot? Nein! Der drohende Bevölkerungskollaps sollte uns beunruhigen

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