Schattenrisse der Natur: Lavaters Physiognomik im Kontext von Naturphilosophie und Medizingeschichte (2019)

Update vom 26.04.2023:

Der betreffende Tagungsband ist gerade erschienen, hier mein darin enthaltener Beitrag.

Diesen Vortrag hielt ich am 26. September 2019 in Halle (Saale), Näheres zur betreffenden Tagung siehe Fußnote/Endnote 1.

Anmerkung vom 20. Oktober 2019:

Heute besuchte ich das Museum August Macke Haus in Bonn. Interessant die Scherenschnitte (Silhouetten), die u. a. August Macke darstellen und von dem renommierten Silhouttenkünstler, Grafiker und Maler Ernst Moritz Engert (1892-1986) angefertigt wurden — ein schönes Beispiel für die Bedeutung des Schattenrisses im frühen 20. Jahrhundert.

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Aus dem Museum August Macke Haus in Bonn (Fotos: H. Schott, 20.10.2019)
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Erklärungsplakette zu obiger Abbildung

Ich gebe hier den vorgetragenen Text des Redemanuskripts wieder, voraussichtlich wird es in einer späteren Publikation vollständig abgedruckt. 

Hier das Programm dieser außerordentlich interessanten und umfangreichen Tagung.

Um den Text nicht allzu sehr zu zerreißen, werden die Folien am Ende als Einzelbilder (JPG) gezeigt.

Schattenrisse der Natur:

Lavaters Physiognomik im Kontext von Naturphilosophie und Medizingeschichte1

Auch wenn wir nach den historischen Erfahrungen mit der Rassenbiologie des 20. Jahrhunderts heute zurückhaltend sind und physiognomische Spekulationen im öffentlichen Diskurs tabu erscheinen, so spielen sie doch im Alltagsleben nach wie vor eine enorme Rolle. So ordnen wir einen Menschen, den wir nicht kennen, durch einen Blick auf seine Gestalt, insbesondere sein Gesicht, automatisch einer bestimmten Kategorie zu: sympathisch, unsympathisch, anziehend, abstoßend, harmlos, gefährlich usw. Wir kennen alle gewisse Kinderspiele mit dem Schatten und die Kunstform des Schattenrisses. Bis heute populär ist die davon abgeleitete Technik des Scherenschnitts. Die Begeisterung für solche Schattenkunst erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt und Johann Caspar Lavater fungierte dabei als ein wichtiger Impulsgeber. Wie schon Giambattista Della Porta vor ihm und Franz Joseph Gall nach ihm bezog auch er Tierschädel und -köpfe in seine Studien mit ein. Auch im heutigen Alltag liegt bei der Betrachtung von Köpfen und Gesichtern der Vergleich Mensch-Tier nahe. So ist man (nicht nur) in Bonn beim Anblick bestimmter Köpfe schnell mit der Diagnose „Neanderthaler“ bei der Hand, dessen bekannte Schädelkalotte im dortigen Rheinischen Landesmuseum ausgestellt ist. (Folie 1) Es gibt ein köstliches Kinderbuch, das mit englischem Humor vorführt, wie der Schatten des menschlichen Körpers sein tierisches Wesen offenbart. (Folie 2) „Hugos Zoo“ (1975)2, zeigt den kleinen Hugo, der so gerne in den Zoo gehen möchte. Aber niemand ist bereit, ihm den Wunsch zu erfüllen. Da macht er einen Streifzug durch die Umgebung und entdeckt in den Schatten der Menschen aufregend Tierisches. (Folien 3, 4, 5 u. 6) Als er nach Hause kommt, fragt ihn die „Frau Müller von nebenan“, ob er morgen zusammen mit ihren Kindern in den Zoo gehen möchte. Da lächelt Hugo freundlich und sagt: „‘Nein, danke, Frau Müller […] im Zoo bin ich eben gewesen‘“.

Ich möchte das Thema nun in fünf Schritten entfalten.

1. Signaturenlehre und Magia naturalis: Zum wissenschaftshistorischen Hintergrund

In der griechisch-römischen Antike wurde eine Naturphilosophie begründet, die für die gesamte Geschichte der Physiognomik von grundlegender Bedeutung ist und die in der frühen Neuzeit besonders intensiv bearbeitet wurde. Sie lässt sich grob mit drei Hauptsätzen charakterisieren: (1) Die Natur zeichnet, prägt alle Dinge, wobei die äußere, sichtbare Seite auf geheimnisvolle Weise auf eine innere, unsichtbare Seite verweist, die das Wesen des betreffenden Dings, etwa seine Wirkung als Heilmittel, ausmacht; (2) insofern verhält sich die Natur wie eine Magierin, Zauberin, die allerdings Alles auf natürliche Weise hervorbringt, weswegen man ihre geheheimnisvolle Schöpferkraft als „natürliche Magie“ oder magia naturalis bezeichnet hat; und (3) der Mensch als Naturforscher und Arzt hat die Aufgabe, den Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommn, ihre „Hieroglyphenschrift“ zu entziffern, in der Bibel der Natur zu lesen, da er nur so die Wahrheit erkennen und naturgemäß handeln, das heißt die Naturprozesse nachahmen und vielleicht sogar vollenden kann – ein Gedanke, der für die Alchemie besonders wichtig war.

Von überragender Bedeutung für die neuzeitliche Physiognomik wurde das Werk des Naturforschers und Universalgelehrten Gimbattista della Porta (1535-1615) aus Neapel, mit dem sich Lavater kritisch auseinandergesetzt hat, wie wir sehen werden. Neben seinem Hauptwerk Magia Naturalis – erstmals 1558 auf Lateinisch in Neapel publiziert, mit zahlreichen nachfolgenden Editionen und Übersetzungen in diverse Landessprachen – interessieren hier die beiden physiognomischen Werke della Portas: nämlich den Menschen betreffend „De humana physiognomia“ (1586) und die Botanik betreffend „Phytognomonica“ (1588). Jeweils ein Beispiel soll hier vorgestellt werden; zum einen die Ähnlichkeit des Kopfes eines Spürhunds mit dem von Platon (Folie 7); zum anderen die Ähnlichkeit der Orchideenwurzeln mit Hoden, weswegen sie als Aphrodisiakum und zur Steigerung der Fruchtbarkeit in Frage kämen. (Folie 8)

Neben della Porta haben sich zahlreiche Gelehrte der frühen Neuzeit durchweg positiv zur Physiognomik geäußert, aber keiner von ihnen erreichte auch nur annähernd eine solche Popularität wie dieser. „De humana physiognomia“ wurde ein Best- und Longseller und noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein in verschiedenen Sprachen neu aufgelegt. Im Übrigen liegt die Physiognomik auf dem esoterischen Büchermarkt voll im Trend. (Folie 9)

2. „ … unmittelbarer Abdruck der Natur“: Schattenrisse als Forschungsidee

Im „Eilften Fragment“ des zweiten Bandes der „Physiognomischen Fragmente“ spekuliert Lavater ausführlich „Ueber Schattenrisse“. Er leitet seine Überlegungen mit einem programmatischen Satz ein, der ganz in der Tradition der frühneuzeitlichen Naturphilosophie und insbesondere der Magia naturalis steht: „Das Schattenbild von einem Menschen, oder einem menschlichen Gesichte, ist das schwächste, das leerste, aber zugleich, wenn das Licht in gehöriger Entfernung gestanden; wenn das Gesicht auf eine reine Fläche gefallen – mit dieser Fläche parallel genug gewesen – das wahrste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann; das schwächste; denn es ist nichts Positifes; es ist nur was Negatifes, – nur die Gränzlinie des halben Gesichtes; – [zugleich aber] das getreueste, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur ist, wie keiner, auch der geschickteste Zeichner, einen nach der Natur von freyer Hand zu machen im Stande ist.“3

In einer Abbildung veranschaulicht er seine Technik, wie dieser Abdruck der Natur festgehalten werden kann. (Folie 10)4 Hier ist die Lichtquelle eine brennende Kerze, deren Schein von einem Spiegel verstärkt wird. Lavater betont aber in diesem Zusammenhang, dass sich durch das „Sonnen-Vergrößerungsglas“ der Umriss „noch ungleich schärfer, reiner, trefflicher“ zeichnen lasse.5 An das primäre Licht der Natur reiche also das künstliche Licht kaum heran, um einen Abdruck der Natur zu erhalten. Beispielhaft sei nun die Tafel „Vier männliche Silhouetten“ vorgestellt. (Folie 11)6 Ich möchte hier die betreffende Seite mit Lavaters Interpretation hinzfügen. (Folie 12) Der Text ist aufschlussreich für seine ziemlich frei schwebende, intuitive Deutung (die ich punktuell vorlesen möchte). Mit derselben Methode widmete er sich auch den Schattenrissen von Frauen, hier als Beispiel „Neun weibliche Silhouetten“ (Folie 13)7 Auch hier sei Lavaters Interpretation beigefügt. (Folie 14)

Lavater ist sich sehr wohl bewusst, wie wenig sich seine Deutungskunst auf ein objektives Regelwerk berufen kann und wie anfällig sie auch für Fehldiagnosen ist. Er verteidigt sie mit einer Doppelstrategie: Einerseits sei sie, indem sie den getreuen Abdruck der Natur fixiere und erforsche, der Wahrheit auf der Spur und nur dieser Wahrheit verpflichtet. Andererseits sei diese Wahrheitssuche selbst mit Unsicherheiten behaftet, die man sich methodisch bewusst zu machen habe. So sagte er einerseits: „Keine Kunst reicht an die Wahrheit eines sehr gut gemachten Schattenrisses.“8 „Die Physiognomik hat keinen zuverlässgiern, unwiderlegbarern Beweis ihre objektiven Wahrhaftigkeit, als den Schatteriss.“9 „.. wenn ein Schatten Stimme der Wahrheit, Wort Gottes ist, wie wird‘s das beseelte, von Gottes Licht erfüllte, lebende Urbild seyn!“10 Andererseits vergleicht er die Unsicherheiten mit denen der Harnschau in der praktischen Medizin: „Wer alles aus dem bloßen Schattenrisse sehen will, ist so thöricht, wie der, der aus dem Wasser [Urin] eines Menschen alle seine Kräfte und Schwachheiten, würkliche und mögliche Beschwerden errathen will; und wer nichts aus einem Schattenrisse zu sehen für möglich hält, ist dem Arzte ähnlich, der schlechterdings kein Wasser ansehen will.“11

Mit dieser Analogie befreit sich Lavater ziemlich elegant vom Verdacht, als Schwärmer eine sektiererische Doktrin zur absoluten Wahrheit zu verklären. Gleichwohl bekennt er sich zu einer theologisch fundierten Naturphilosophie, wie sie lange vor ihm in der frühneuzeitlichen Naturforschung Konjunktur hatte und wie sie schon kurz nach seinem Tod 1801 im Kontext der romantischen Naturphilosophie eine neue Blüte erleben sollte. So zeigten sich, wie er meinte, in den einzelnen Abschnitten eines Schattenrisses das Alphabet der Natur: „Jeder einzelne Theil dieser Abschnitte ist an sich ein Buchstabe, oft eine Sylbe, oft ein Wort, oft eine ganze Rede – der Wahrheit redenden Natur.“12 Insofern bezieht sich auch Lavater auf den gängigen Topos vom Lesen in der Bibel der Natur und den der Geheimsprache („Hieroglyphensprache“) der Natur, die es zu entschlüsseln gelte.

Vor allem im dritten Band der „Physiognomischen Fragmente“ hat Lavater geniale Menschen namentlich vorgestellt: Künstler, Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter. Die Silhouette des 28-jährigen Goethe aber hat der 36-jährige Lavater eher beiläufig in seine Sammlung integriert, ohne seinen Namen zu nennen. (Folie 15) In der Legende freilich finden wir allerdings eine poetische Liebeserklärung an den Freund: „„20 – thut alles um Liebe. / Es lohnte sich wahrlich der Mühe, daß jemand – und wer könnt‘s, als der letzte, und wie ich glaube, der Größte von allen? – über die Metaphysik und Physik, oder in einem Worte [39] die Physiognomik der Freundschaft ein Buch schriebe. In Einem Fragmente ist‘s unmöglich und mir ist‘s unmöglich.“13

3. „… daß Physiognomie Wahrheit ist“: Lavaters wissenschaftlicher Anspruch

Die Physiognomie, so möchte Lavater beweisen, sei „Wahrheit, das ist, daß sie wahrer sichtbarer Ausdruck innerer an sich selbst unsichtbarer Eigenschaften ist.“14 Indem Lavater die unhintergehbare individuelle Verschiedenheit zum „Grundstein der Physiognomik“ erklärt, schützt er seine Lehre vor Schematismus und Dogmatismus, vor einer rigiden Typenlehre – entgegen dem Eindruck, den seine Abbildungstafeln mit den detaillierten Erläuterungen bei dem Betrachter hinterlassen. „Es ist dieß […] der erste, tiefste, sicherste, unzerstörbarste Grundstein der Physiognomik, daß bei aller Analogie und Gleichförmigkeit der unzähligen menschlichen Gestalten, nicht zwo gefunden werden können, die, neben einander gestellt und genau verglichen, nicht merkbar unterschieden wären. / Nicht weniger unwidersprechlich ist, daß eben so wenig zween vollkommen ähnliche Gemüthscharater, als zwey vollkommen ähnliche Gesichter zu finden sind.“15

Zudem sei Physiognomik für alle Menschen etwas Alltägliches. Er zählt eine Reihe von Beispielen auf, wo überall diese intuitive Beurteilung anderer Menschen von Bedeutung ist. Im Grunde gibt es nach Lavater keinen Bereich in der Gesellschaft, in dem die Physiognomik keine Rolle spielen würde: „ Es bleibt also dabey, daß die Physiognomie alle Menschen, sie mögen‘s wissen oder nicht, täglich leitet – daß, wie Sulzer sagt, jeder Mensch, er mag‘s wissen oder nicht, etwas von der Physiognomie versteht […].“16 Wie aber kann die Physiognomik „Wissenschaft“ werden? Seine Antwort ist eindeutig: „so gut als unmathematische Wissenschaften!“ Und er zählt auf: Physik, Arzneykunst, Theologie, Schöne Wissenschaften.17 Das Unbestimmbare gehöre zur Wissenschaft: „[…] wo ist Wissenschaft, wo alles bestimmbar – nichts dem Geschmacke, dem Gefühle, dem Genius übrig gelassen sey? – Wehe der Wissenschaft, wenn eine solche wäre!“18 Hier führt Lavater den Geniebegriff ins Feld, um das Missverständnis von einer objektiv bestimmbaren Wissenschaft als der einzig möglichen auszuräumen. Es geht eben nicht nur ums Messen, sondern auch ums Fühlen, wie er in einem Vergleich verdeutlicht: „Der bloß wissenschaftliche Physiognomist mißt wie Dürer, das physiognomische Genie mißt und fühlt, wie Raphael“.19

Es fällt auf, dass Lavater erst im letzten der vier Bände der „Physiognomischen Fragmente“, und zwar im sechsten von zehn Abschnitten, auf die traditionelle Temperamentenlehre zu sprechen kommt – und nicht bereits am Anfang des ersten Bandes, wo er die Physiognomik als eine Art wissenschaftliche Anthropologie begründen will. Es hätte sich angeboten, hier auf das von der antiken Medizin herrührende Konzept der Humaralpathologie, der Vier-Säfte- oder Qualitäten-Lehre, anzuspielen (Folie 16). Dieses fand ja auch noch im 18. Jahrhundert wissenschaftlichen Anklang, trotz gewisser magischer und alchemistisher Imprägnierungen sowie neuropathologischer Neuerungen in Theorie und Praxis der Medizin. Immerhin stellte Lavater auf einigen Tafeln die vier Temperamente in physiognomischer Eindringlichkeit dar. (Folie 17) Diese Tafel mit den vier Temperamenten ist die bekannteste von allen physiognomischen Darstellungen Lavaters. Er hat zur Verdeutlichung noch zwei weitere Tafeln mit je zwei Temperamenten beigefügt: Dem Choleriker stellte er den Phlegmatiker gegenüber (Folie 18) und dem Sanguiniker den Melancholiker. (Folie 19) In diesem Zusammenhang meint er, das Haupt sei die „Summe des Körpers, das Profil oder die Grundlinie der Stirn eine Summe des Hauptes […] Jtzt weiß man schon, daß jede Linie, je mehr sie sich dem Zirkelbogen, oder noch mehr dem Oval, nähert, dem cholerischen Feuer entweicht; – sich hingegen ihm nähert, je gerade und schiefer und gebrochener sie ist.“ (Folie 20)

Was Lavater allgemein für die Physiognomik feststellt, gilt insbesondere für die Temperamentenlehre: Wie jeder Mensch sein eigenes, individuelles Gesicht hat, so hat er auch sein eigenes, individuelles Temperament. Bei allem Schematismus und allen Versuchen einer gesetzmäßigen Einteilung in verschiedene Typen, die man bei ihm finden kann, grenzt er sich scharf vom Schubladen-Denken ab. Ja, es gebe die vier Haupttemperamente, aber er habe nicht die geringsten Zweifel, „daß sich diese vier Hauptingredienzien auf so unzählige Weise verändern und versetzen lassen, daß daraus unzählige Temperamente entstehen, und daß oft das prädominirende Prinzipium kaum herauszufinden ist“.20

4. „Thierlinien“, „Gesichtstheile“, „Nationalphysiognomien“: Lavaters Schaukästen

Im Folgenden seien einige Beispiele vorgestellt, die Lavaters Bestreben verdeutlichen, die Physiognomie bis in die kleinste Verästelung zu beleuchten. So seien zunächst seine Anmerkungen zur Nase erwähnt, die ja die Physiognomiker zu allen Zeiten beschäftigt hat: „Wohl nannten die Alten die Nase honestamentum faciei. / […] Ich halte die Nase für die Wiederlage des Gehirns. Wer die Lehre der gothischen Gewölbe halbwegs einsieht, wird das Gleichnißwort Wiederlage verstehen. Denn auf ihr scheint eigentlich alle Kraft des Stirngewölbes zu ruhen, das sonst in Mund und Wange elend zusammen stürzen würde. / Eine schöne Nase wird nie an einem schlechten Gesichte seyn.“21 Er gibt dann neun Kriterien der „vollkommen schönen Nase“ an. (Folie 21). Aber er relativiert die „schöne Nase“: „Es gibt aber unzählige vortreffliche Menschen mit häßlichen Nasen. […] Ich habe die reinsten, verständigsten, edelsten Geschöpfe mit kleinen Nasen von hohlem Profil gesehen – aber diese ihre Vortrefflichkeit besteht mehr im Leiden und Hören, Lernen, Empfangen, Genießen feiner geistiger Wirkungen […].“ Und er nennt als namhafte Beispiele Boerhaave, Sokrates, Läreße.“22

Die so genannten „Nationalphysiognomien“ spielen zwar eine untergeordnete Rolle, werden aber gleichwohl auch bei der kursorischen Betrachtung der Nase bedeutsam. Lavater erwähnt: tartarische Völker („platte, eingebogene Nasen“), afrikanische Schwarze („Stumpfnasen“), Juden („größtentheils Habichtsnasen“), Engländer („mehretheils knorpelicht“), Holländer („selten schöne und sehr bedeutende Nasen“), Italiener („große und bedeutende Nasen“) und schließlich: „die großen Franzosen haben […] den Charakter ihrer Größe am meisten in den Nasen“.23 Das Fragment schließt er mit der Zeichnung einer idealen Nase ab. (Folie 22)

Lavater stellt auf einer Tafel eine Reihe von 21 „Thierschädeln“ zusammen, um sie dann im Einzelnen zu kommentieren. (Folie 23) Das Verfahren erinnert ein wenig an Rorschachs Projektionstest. Er teilt die Schädel in vier Gruppen mit spezifischen Eigenschaften ein, wovon hier nur die erste Gruppe skizziert sei: „die Zahmheit der Last- und weidenden Thieren bezeichnet die die langen, ebenen, seicht gegen einander laufenden, einwärts gebogenen Linien“: Pferd (1), Esel (3), Hirsch (5), Schwein (6) und Kamel (7). „Geruhige Würde, harmloser Genuß ist der ganze Zweck der Gestalt dieser Häupter. […] An allen bemerke man den schweren und übermäßig breiten Hinterkiefer, und empfinde, wie die Begierde des Kauens und Wiederkauens da ihren Sitz hat.“24

Im 15. Fragment des zweiten Bandes geht Lavater auf die Affen ein, um eine klare Trennungslinie zwischen Mensch und Affen zu ziehen. (Folie 24) Das „Thierische und Untermenschliche“ sei an acht Merkmalen zu finden: Kürze der Stirn, „die bei weitem nicht die schöne Proportion der menschliche Stirn hat“; „Mangel oder Unsichtbarkeit des Weißen am Augapfel“, Nähe der Augen; breitgdrückte Nase, „widrige Höhe“ der Ohren; langer Übergang von der Nase zum Mund; bogenförmige Gestalt der Lippen; dreieckige Form des ganzen Kopfs.

Es ist bemerkenswert, dass sich Lavater bei seiner Tierphysiognomik klar von Della Porta abgrenzen will, wobei er ihm gleichwohl Respekt zollt. Er habe, indem er „Thiergestalten“ untermische, nicht die Absicht, „um Ähnlichkeit mit Menschen herauszuzwingen“ wie Della Porta – „obgleich wir weit davon entfernt sind, ihm Neuheit, Scharfsinn und Witz abzusprechen – und ihm in Ansehung an Gelehrsamkeit nicht die Fersen reichen.“ Und er fährt fort: Vornehmlich möcht‘ ich mich nur auf die Allgemeinheit der Physiognomie, auf die Stufenfolgen der Physiognomien, auf die Erhabenheit der Menschennatur über die Thiernatur – und allenfalls erst zuletzt auf Ähnlichkeit von Thier- und Menschenzügen aufmerksam machen.“25 Gleichwohl ist man beim Anblick der Tiere unwillkürlich an menschliche Charaktereigenschaften erinnert. (Folie 25) Widder, Ziegen, Schafe zeigen aus seiner Sicht Zeichen der „thierischen Stumpfheit und Hornkraft“.

Im IV. Fragment des vierten Bandes „Menschen und Thiere“ setzt sich Lavater noch einml kritisch mit Della Portas Physiognomik auseinander. Sein Vorwurf läuft darauf hinaus, dass man durch eine doktrinäre Feststellung von angeblichen Ähnlichkeiten bestimmter Merkmale von Menschen mit denen von Tieren zu falschen Schlüssen gekommen sei. „Aristoteles und nach ihm am meisten Porta, haben bekanntermaßen viel auf diese Aehnlichkeit gefußet – aber oft sehr schlecht; denn sie sahen Aehnlichkeiten, wo keine – und diejenigen oft nicht, die auffallend waren.“ (Folie 26) Lavater zeigt das an Beispielen auf. Zur Figur 1 auf der Tafel merkt er an:„ Soll ohne Zweifel ein fuchsisches Menschengesicht andeuten, denk ich – und nun giebt‘s fürs erste – gewiß keine solchen Gesichter; keine solche Disproportion der Nasenlänge und der Kinnkürze – und wenn‘s ein solches Gesicht gäbe – wo noch die Aehnlichkeit mit dem Fuchse?“26 Zur Figur 5 bemerkt er lapidar: „Abermals ein Menschengesicht zur Schaafheit erniedrigt. So stirnlos ist keine Mensch wie das Schaaf.“27 Auch die angeblichen Ähnlichkeiten zwischen Menschen- und Vogelköpfen bezweifelt Lavater. (Folie 27) Wenn man etwa im Menschenkopf rechts die unnatürlich spitze Nase abrechne, könne man keine Ähnlichkeit mit dem Vogel finden. „Der Mann an sich betrachtet ist übrigens von furchtsamer, schreckbarer, heftiger, allenfalls neidischer und argwöhnischer Natur, wovon in dem beystehenden Vogel wenig zu sehen ist.“28

5. Schädel, Degenertion, Rasse: Physiognomische Wendungen in der Zeit nach Lavater

Während der durchweg enthusiastische Lavater – man denke nur an seine Begeisterung für den animalischen Magnetismus ab 1885 – von Zeitgenossen zumeist als Schwärmer wahrgenommen wurde und seine in den 1770er Jahren entwickelte, ikonografisch und ästhetisch fundierte Physiognomik im wissenschaftlichen Diskurs wenig ausrichten konnte, erlebte eine biologisch ausgerichtete physiognomische Forschung im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit. Lavater war Geistlicher, die Pioniere der biologischen Physiognomik waren (vergleichende) Anatomen, (physische) Anthropologen und klinisch tätige Psychiater. Ich möchte hier nur die beiden einflussreichsten Autoren erwähnen: Franz Joseph Gall (1758-1828) und Cesare Lombroso (1835-1909).

Franz Joseph Gall war ein Vertreter der vergleichenden Anatomie und um 1800 ein führender Hirnanatom. Durch den Vergleich von Tier- mit Menschengehirnen gelangte er zur Überzeugung, dass sich die psychischen Eigenschaften an so genannten Hirnorganen erkannt werden könnten, die in den Hirnwindungen auf der Oberfläche des Gehirn säßen und sich dementsprechend in der Form des Schädels abzeichnen würden. (Folie 28) Eine Vorwölbung würde für die Stärke des betreffenden „Hirnorgans“, etwa den musikalischen Sinn, eine Delle für dessen Schwäche sprechen. Gall steht am Anfang der modernen Neurowissenschaft und hat als Erster richtigerweise geahnt, dass die Hirnwindungen von physiologischer Bedeutung sind. Seine Schädellehre, die bis Ende des 19. Jahrhunderts in Laienkreisen als „Phrenologie“ hoch im Kurs stand, hat mit Lavaters intuitiver Schattenriss-Physiognomik methodologisch kaum etwas gemein, ebenso wenig mit der späteren rassistischen und teilweise verbrecherischen Schädeljagd der Hirnforschung im Nationalsozialismus.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Rassenbiologie unter dem Vorzeichen der Degenerationslehre. Der italienische Psychiater Cesare Lombroso, selbst ein unter Antisemitismus leidender Jude, ist hier an erster Stelle zu nennen, der die Kriminalanthropologie physiognomisch begründete. (Folie 29) Bestimme Degenerationszeichen sollten die körperliche und moralische Minderwertigkeit anzeigen, wobei besonders die Form des Ohrs verräterisch schien. (Folie 30) Der „geborene Verbrecher“ wurde zu einem Topos in physischer Anthropologie und Kriminalpsychologie. Als Gegenpol zum Verbrecher und Geisteskranken rückte wiederum – wie schon im 18. Jahrhundert – das Genie in den Mittelpunkt. (Folie 31) Die damit einhergehenden Stigmatisierungen von Menschen waren besonders im Hinblick auf die Juden gravierend. Die so genannte Judennase war bereits lange vor Anbruch des „Dritten Reichs“ ein solcher Makel, man denke nur an Wilhelm Buch. (Folie 32) Sie wurde zu einem frühen Objekt der plastischen Chirurgie, das der geniale Berliner jüdische Chirurg Jacques Joseph (1885-1934) („Nasenjoseph“, „Noseph“) ab 1916 mit großem Erfolg operierte.

In esoterischen Zirkeln im Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung um 1900 waren physiognomische Typologien durchaus geläufig, vor allem, wenn es darum ging, gute Menschen von bösen zu unterscheiden. Als Beispiel sei der religiöse Laienheiler und Wanderprediger Carl Huter (1861-1912) genannt, der als Oberhaupt des „Huterischen Weltbundes für psychochophysiognomische Welt und Menschenkenntnis […]“ Elemente von Mesmerismus, Phrenologie und Physiognomik miteinander verband. (Folie 33) Auf der Tafel „Rangordnung der Geister“ sieht man links vom phrenologischen Ideal in der Mitte die edleren und rechts davon die unedleren Profile.29 Das betreffende „Illustrierte Handbuch“ wurde seit seiner Erstauflage von 1910 vielfach neu aufgelegt. Noch deutlicher wird diese Gegenüberstellung von gut und böse beim so genannten Gottmensch- versus Teufelsmensch-Typus. (Folie 34)

Schlussbemerkung

Mit solchen doktrinären physiognomischen Ideologien hatte Lavater nichts im Sinn. Seine Physiognimok sah er religiös in der „Würde der menschlichen Natur“ begründet, wie er in der „Einleitung“ zum ersten Band der Physiologischen Fragmente darlegt: „Siehe da, seinen Körper! Die aufgerichtete, schöne, erhabne Gestalt – nun Hülle und Bild der Seele! Schleyer und Werkzeug der abgebildeten Gottheit! wie spricht sie von diesem menschlichen Antlitz in tausend Sprachen herunter! Offenbart sich mit tausend Winken, Regungen und Trieben nicht darinn, wie in einem Zauberspiegel, die gegenwärtige, aber verborgne Gottheit?“30

1Vortrag auf der Interdisziplinären Tagung „Der Bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts. Johann Caspar Lavater“, veranstaltet vom  des Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung (IZP) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle und in Kooperation mit der Forschungsstiftung Johann Caspar Lavater Zürich, 25.-28.  September in Halle (Saale).

2Hugos Zoo. Ein Bilderbuch von Michael Foreman nach einer Geschichte von Georges Mchague erzählt von hans Manz. Zürich, köln: Benziger 1975.

3Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragemente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. 4 Bde. Leipzig, Winterthur: Weidmanns Erben […], 1775-78 (=PF im Folgenden), 2. Bd., S. 90.

4PF, Bd. 2, S. 93.

5Ebd.

6PF, Bd. 2, vor S. 105.

7A. a. O., vor S. 123.

8A. a. O., S. 90.

9A. a. O., S. 91.

10Ebd.

11PF, Bd. 2, S. 94.

12A. a. O., S. 97.

13PF, Bd. 3, S. 38.

14 PF, Bd. 1, S. 44

15 A. a. O., S. 45.

16A. a. O., S. 50.

17A. a. O., S. 52.

18A. a. O., S. 55.

19 Ebd.

20PF, 4. Bd., S. 344.

21 PF, Bd. 4, S. 257

22 PF, Bd. 4, S. 257 f.; Läreße = Gerard de Lairesse (1640-1711), niederländischer Maler.

23PF, Bd. 4, S. 258.

24PF, Bd. 2, S. 139.

25A. a. O., S. 192.

26PF, 4. Bd., S. 57.

27Ebd.

28A. a. O., S. 59.

29Aus: Carl Huter: Illustriertes Handbuch der praktischen Menschenkenntnis : Nach meinem System der wissenschaftlichen Psycho-Physiognomik ; Körper-, Kopf-, Gesichts- u. Augen-Ausdruckskunde. Neue Auflage. Althofnass bei Breslau : Carl Huter-Verlag, 1928, S. 179.

30PF, 1. Bd., S. 4.

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Folie 34

„ein jegliches hat seine Zeit …“ – Werden und Vergehen als Topos in der Medizingeschichte (2017) [1]

Diesen Vortrag hielt ich im Rahmen des Symposiums „Zur Bedeutung der Zeit in der Medizin“ in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Berlin am 10.02.2017.

Hier das Programm.

Hier die PPT-Präsentation mit den 22 Folien, auf die im Text verwiesen wird.

Im folgenden das Redemanusrkipt, das inzwischen veröffentlicht wurde (siehe hier) in:

Zur Bedeutung der Zeit in der Medizin: Für eine zeitliche Kultivierung der Patient-Arzt-Begegnung.

Hg. von Peter F. Matthiessen. Kulmbach: ML Verlag, 2018, S. 97-119.

Zunächst zwei Zitate aus der Antike. In der Bibel lesen wir im Prediger Salomo (3,1-4): „(1) Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: (2) geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; (3) töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; (4) weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit […].“[2] Und im ersten Aphorismus des Hippokrates heißt es: „Das Leben ist kurz; die Kunst ist lang; der rechte Augenblick [kairos] geht schnell vorüber“. Hier sind also ärztliche Grundfragen angesprochen: Was ist die richtige, angemessene Zeit für Werden und Vergehen im Leben, wann ist der „rechte Augenblick“ (kairos) gekommen, um einzugreifen?

Wenn wir nun die Bedeutung der Zeit im Hinblick auf die Patient-Arzt-Begegnung in der heutigen Medizin besprechen wollen, was fällt uns dazu ein? Wahrscheinlich zunächst Stichwörter wie „Fünf-Minuten-Medizin“, „Überlebenszeit“, oder „vorzeitigen Blasensprung“. Oder die Redewendung, dass jemand „zu früh“ verstorben sei. Als mein Vater im Alter von 79 Jahren verstarb, meinte ein befreundeter Kollege und Klinikdirektor mit aufrichtigem Bedauern: „Aber das ist doch kein Alter!“ (Er wusste nicht, dass meine Familie einst sicher war, dass mein Vater aufgrund schwerer Erkrankungen wohl kaum das 60. Lebensjahr erreichen würde und wir alle erstaunt waren, dass er so lange gut leben konnte.)

Ökonomisierung und Digitalisierung haben dazu geführt, dass die Zeit immer dichter mit exakt messbarer Leistung ausgefüllt werden muss. Just in time und time is money sind somit auch für den Medizinbetrieb gültig, denken wir an Fallpauschale und „Verweildauer“ oder die normierten Handgriffe bei ambulanten Pflegediensten, was an den Taylorismus vor 100 Jahren erinnert. Können wir uns unter „Zeit“ überhaupt noch anderes vorstellen?

Werfen wir einen Blick in die Medizin- und Kulturgeschichte. Die Zeit geht unauflöslich mit der Natur einher, ist gewissermaßen identisch mit ihr. Erinnern wir uns an das verhüllte Standbild der Isis zu Sais im alten Ägypten, der als Göttin personifizierten Natur. Die Inschrift lautete nach Plutarch (in der Übersetzung von Kant): „Ich bin alles was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.“[3] (Folie 2) Die Bedeutung von Zeit und Natur ist uns heute letztlich so schleierhaft wie den Menschen vor Jahrtausenden und von einer gewaltsamen Enthüllung ist abzuraten, denken wir an Schillers großartige Ballade „Das verhüllte Standbild zu Sais“. Soweit meine Präambel. Ich möchte im Folgenden fünf verschiedene Dimensionen der Zeit skizzieren, bevor ich zu meinem Fazit komme. Diese Art Typologie habe ich eigens für diesen Vortrag entworfen, basierend auf meinen eigenen Arbeiten als Medizinhistoriker. Von Heidegger, Stephen Hawking oder anderen Zeit-Spezialisten verstehe ich zu wenig, um bei ihnen Anleihen machen zu können.

(1) Zyklische Zeit: Kosmische Korrespondenzen bei Gesundheit und Krankheit

Die Vorstellung einer zyklischen Zeit geht von sich regelmäßig wiederholenden Vorgängen aus, von einem Lebensrhythmus, der die menschliche wie außermenschliche Natur durchringt und von einer harmonischen Wechselwirkung der Naturdinge gekennzeichnet ist. Disharmonie bedeutet Störung und Krankheit. Seit Urzeiten ist für die Menschheit die Natur als Zeitgeberin allmächtig: die Tageszeit (Morgen, Mittag, Abend und Nacht), die Jahreszeit (Frühling, Sommer, Herbst und Winter), die Lebenszeit (Kindheit, Jugend, Erwachsen- und Greisenalter). (Folie) Analog hierzu hat die antike Wissenschaft und Medizin die Lehre von den vier Elementen (Luft, Feuer, Erde, Wasser) und den vier Säften (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) und ihre jeweiligen Qualitäten hinzugefügt und damit ein System begründet, wonach die Medizin mit rationaler Kalkulation diagnostizieren, prognostizieren und therapieren konnte. (Folie 3) Die moderne Naturheilkunde fußt weitgehend auf diesem Erbe.

So heißt es beispielsweise in der hippokratischen Schrift „Die Natur des Menschen“: „Der Schleim wächst im Menschen im Winter. Von den Bestandteilen des Körpers ist er dem Winter am verwandtesten; denn er ist am kältesten [verglichen mit den anderen Säften]. […] Daß aber der Winter den Körper mit Schleim füllt, kann man an folgendem erkennen: was die Menschen im Winter speien und ausschneuzen, ist am schleimigsten. Auch werden die Schwellungen häufig in dieser Jahreszeit weiß, und auch die anderen Krankheiten werden schleimig.“[4] In der antiken Medizin spielte zudem die Lehre von den kritischen Tagen, an denen sich eine Krankheit entscheiden würde, eine große Rolle: etwa der 4.,7, 11. und 14. Tag nach Hippokrates oder der 7., 14., 20. und 27. Tag nach Galen (2. Jh.). Analog hierzu gab es die kritischen Jahre, so genannte Stufenjahre (anni climacterici). Auch hier war die Unglückszahl sieben maßgeblich, wobei das 63. Lebensjahr (7×9) als das gefährlichste galt.[5]

Die Korrespondenz zwischen Mikrokosmos (Mensch) und Makrokosmos (Welt) war noch in der frühen Neuzeit eine recht präsente Idee. So sprach Paracelsus, dass sich mit den Jahreszeiten alle Kräfte verwandelten „und ab- und zunehmen wie der Mond, und umgehen, wie ein Rad. […] Welches aber die rechte balsamische Zeit ist, in der die Kräfte bewahrt werden […] da ist unter den vier Jahreszeiten der Herbst am besten“. (Folie 4) Vor allem der bekannte englische Arzt und spekulative Naturphilosoph Robert Fludd hat in seinem Opus magnum diese Mikro-Makro-Kosmos Vorstellung im frühen 17. Jahrhundert ins Bild gesetzt. (Folie 5)

Es lag nahe, physiologische Befindlichkeiten und pathologische Störungen mit den äußeren Rhythmen der Natur in Beziehung zu setzen, wie es heute die Chronobiologie erforscht. Aber zugleich erfuhr der Mensch die Endlichkeit allen Lebens, vor allem seines eigenen Lebens, eine Zeitspanne, die mit dem Geborenwerden beginnt und dem Sterben endet. Dieses Werden und Vergehen wird traditionell in einem Lebensbogen vorgestellt, der einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende hat. Bekannt ist das Bild „Stufenjahre des Menschen“ um 1820, von dem es verschiedene Varianten gibt, hier biedermeierlich banalisiert: ohne Makrokosmos, Götter und die Siebenzahl. (Folie 6) Symbolträchtiger ist das Gemälde „Die Lebensstufen“ von Caspar David Friedrich aus dem Jahr 1836. (Folie 7)

Die zyklische Zeit war geprägt von einem kosmischen Rhythmus der sich bewegenden Himmelskörper, die nach Pythagoras die Sphärenharmonie (Harmonia mundi) erzeugten. Dieser Harmoniegedanke rückte Ende des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt eines der populärsten Heilkonzepte jener Epoche zwischen Aufklärung und Romantik: nämlich des „animalischen Magnetismus“ oder Mesmerismus, der von Franz Anton Mesmer in den 1770er Jahren in Wien begründet worden war. Ich will hier nicht auf die Einzelheiten dieses Konzepts eingehen, das zwischen 1780 und 1830 seine Blütezeit erlebte und die Wissenschafts- und Kulturgeschichte zutiefst beeinflusste. (Folie 8) Für Mesmer entsprachen Ebbe und Flut der Harmonie physiologischer Vorgänge im gesunden Körper. Wenn Letztere gestört waren, mussten sie durch eine so genannte magnetischen Kur wieder harmonisiert werden. Dementsprechend postu­lierte er eine ärztliche „Kunst, die periodische Ebbe und Fluth […] nachzu­ahmen“.[6] Mesmers Konzept lässt sich, ähnlich wie das eines Paracelsus oder Sigmund Freud, nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Als akademisch gebildeter Arzt der Aufklärung war er – paradoxerweise — zugleich ein wichtiger Impulsgeber für die romantische Naturphilosophie. Als einer, der mit einem kosmischen „Fluidum“ („Allflut“) operierte, war er doch ein Vertreter der mechanistisch-physikalischen Lehre vom Organismus. Dies zeigt seine nüchterne Graphik zu den „Epochen des Lebens“, von der Geburt bis zum Tod. (Folie 9) Die „magnetische Kur“ konnte bestenfalls das der jeweiligen Lebensepoche angemessene Verhältnis von Bewegung und Ruhe wiederherstellen.

(2) Transzendierende Zeit: Annäherungen an die göttliche Natur

Nach Auffassung der Alchemie, welche in der frühen Neuzeit experimentelle Medizin und Naturforschung beflügelte, konnten im alchemistischen Laboratorium die natürlichen Prozesse der Stoffverwandlung beschleunigt werden: einerseits um Metalle zu veredeln und Gold zu erzielen, andererseits um so genannte arcana, spezifische Arzneimittel in höchster Potenz, herzustellen. In spiritueller Hinsicht ging es zugleich um eine Vergeistigung wie in einem Gottesdienst, letztlich um eine unio mystica, eine Vereinigung mit der göttlichen Weisheit, um Erleuchtung. Diesen Vorgang möchte ich deshalb transzendierende Zeit nennen, die heute allenfalls noch in Bereichen der esoterischen Medizin oder religiösen Heilkunde Beachtung findet.

Paracelsus war eine prägende Gestalt der frühneuzeitlichen Alchemie und natürlichen Magie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der – ähnlich wie Luther auf dem Gebiet des religiösen Lebens – Medizin und Naturforschung radikal reformieren wollte, von den Romantikern auch als Lutherus medicorum gefeiert. Die Alchemisten sahen die von Gott gegebene Natur selbst als eine große Alchemistin oder Magierin an, deren Werk durch alchemistische Kunst im Labor zu vollenden sei. Wie das Eisen durch das Feuer, durch vulcanus als Schmied, aus dem Eisenerz geschmolzen werden muss, so verhalte es sich mit der Arznei: „die ist geschaffen von Gott, aber nicht bereit’t bis aufs Ende, sonder in der Schlacke verborgen. Jetzt ist es dem vulcano befohlen, die Schlacke von der Arznei zu tun. […] Was die Augen am Kraut sehen ist nit Arznei, oder an Gesteinen oder an Bäumen. Sie sehen allein die Schlacke. Inwendig aber, unter der Schlacke, da liegt die Arznei. Nun muß am ersten die Schlacke der Arznei genommen werden, danach so ist die Arznei da. Das ist alchimia und das Amt vulcani. […] So nun das alles geschehen ist, daß die Arznei bereit’t ist nach Inhalt der Kunst alchimiae, so wird sie dem Kranken zugestellt, wie dem Gesunden sein Speis.“[7]

Solche alchemistischen Prozeduren im Bereich der Medizin hatten also nicht das Goldmachen zum Ziel, sondern die Herstellung des potenten Arzneimittels, das als arcanum bezeichnet wurde. Sie implizierten dreierlei: (1) eine Beschleunigung und Vollendung der Alchemie der Natur, (2) eine Entschlackung, Verfeinerung, gewissermaßen eine Vergeistigung der Wirksubstanz und (3) schließlich mit dem arcanum ein Eintauchen in die göttliche Atmosphäre. In einer Graphik habe ich versucht, diesen Prozess der transzendierenden Zeit im paracelsischen Konzept der Alchemie bildlich darzustellen. (Folie 10) Der Gesamtprozess verläuft vom Irdischen zum Himmlischen. „Das Arkanum ist ein gewaltiger Himmel in der Hand des Arztes“, meinte Paracelsus. „[…] es sei, daß alle alte Art absterbe und in die neue Geburt geführt werde, sonst werden da keine Arzneien sein. Das Absterben ist ein Anfang der Abscheidung des Bösen vom Guten. Also bleibt die letzte Arznei, das ist die neu geborene Arznei“.[8]

Ein beliebtes Symbol hierfür war die Jakobs- oder Himmelsleiter, womit der Aufstieg des Naturforschers (philosopus) auf den Stufen einer Leiter vorgestellt wurde, die ihn zum göttlichen Licht führte. Robert Fludd hat dies in einer Graphik von 1619 dargestellt. (Folie 11) Ein weiteres Symbol war die Goldene Kette (Catena aurea) in Anlehnung an Platon, welche die den Menschen mit der schöpferischen Natura und diese wiederum mit Gott verband, dargestellt als himmlisches Feuer über den Wolken. (Folie 12) Diese hierarchische Trias Gott–Natur–Mensch war für das Menschen- und Weltbild der alchemistisch-magischen Medizin und Naturforschung grundlegend.

(3) Aufgebrochene Zeit: Zum Eingreifen geistiger Mächte in der Medizin      

Es gibt unvorhergesehen Ereignisse, sowohl krankmachende als auch heilende, die als Einfälle, Anfälle, Besessenheit von Mächten wahrgenommen werden, die den einzelnen Menschen von außen zu ergreifen scheinen und seinen zeitlich geordneten Lebenslauf schlagartig durcheinanderwirbeln und in Frage stellen. Diese Situation, in welcher der gewohnte Gang der Dinge jäh unterbrochen wird, nenne ich die aufgebrochene Zeit. Wohl jeder von uns hat mit entsprechenden Erschütterungen so seine Erfahrungen gemacht, wobei eher die Unglücksfälle als an die Glücksfälle im Gedächtnis haften bleiben, wie etwa von der psychoanalytischen Neurosenlehre oder bei der Posttraumatische Belastungsstörung beschrieben.

Doch im Folgenden wollen wir uns in medizinhistorischer Perspektive den „geistigen“ oder „dämonischen Mächten“ zuwenden und nicht Gewalttaten von Menschen oder Naturkatastrophen. Gute Geister oder Dämonen werden mit eudaimonia (Sokrates),  „Enthusiasmus“, „Ekstase“, „Schutzengel“ usw. in Verbindung gebracht, böse mit „Teufel“, „Nachtgeister“, „Gespenster“ usw., von denen der Mensch besessen werden kann, wenn er nicht aufpasst. Der normale Fortgang der Zeit wird dadurch empfindlich gestört. Auf die Wiederherstellung der gestörten Zeit durch Methoden des Exorzismus möchte ich hier nicht näher eingehen, ein faszinierendes Kapitel aus der Vorgeschichte der Psychotherapie und Psychoanalyse. (Folie 13) Zukünftige Ereignisse wie Krankheit,  Krieg oder Seuche wurden in der Antike durch die Weissagekunst (Mantik) prognostiziert, die am Anfang der systematischer Naturforschung stand: Astrologie bzw. Astronomie,  Leberschau, Vogelschau, Traumdeutung und dergleichen. Die Geburt von Monstren oder das Auftreten von Kometen kündigten noch und gerade im Zeitalter der Reformation nahendes Unheil oder gar den Weltuntergang an.

Aufgebrochene Zeit bedeutet auch, dass Phänomene, die wir heute an die Parapsychologie verweisen wie Hellsehen, visionäre Prophezeiungen, telepathische Fernheilungen oder Geisterseherei tatsächlich erlebt werden, die im „normalen“ Alltagsleben unmöglich erscheinen – also Ereignisse, welche die gewohnten Zeitabläufe überfliegen können, sodass diese „nichtig und klein“ erschienen wie in Reinhard Meys Lied „Über den Wolken“. Wir sind hier mit Phänomenen der natürlichen Magie, der Magie der Natur (Magia naturalis) konfrontiert, die in der romantischen Naturphilosophie und Medizin um 1800 noch einmal eine Blütezeit erlebte. Dies lässt sich am anthropologischen Schema der „Tag- und Nachtseite“ des renommierten Medizinprofessors Dietrich Georg Kieser ablesen, wo an den äußersten Enden die Zeit durch Hellsehen, von Carl Gustav Carus auch „Fernsehen“ genannt, aufgebrochen werden kann. (Folie 14) Besonders fasziniert waren romantisch inspirierte Ärzte vom „Somnambulismus“ bestimmter Patienten (vor allem Patientinnen), die ihnen vermeintlich einen Zugang zur Ursprache, zur Hieroglyphensprache der Natur oder gar zur Geisterwelt verschafften. Paradigmatisch hierfür ist die Krankengeschichte des Arztdichters Justinus Kerner „Die Seherin von Prevorst“ (1829). (Folien 15 und 16)

(4) Totalitäre Zeit: Zur Dogmatik der naturwissenschaftlichen Medizin

Seit dem Zeitalter der Aufklärung bildete sich vor allem im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Kontext der industriellen Revolution und ihrer wissenschaftlich-technischen Innovationen ein ungeheurer Fortschrittsglaube heraus, der auch die aufblühende naturwissenschaftliche Medizin unter dem Eindruck von Darwinismus und Bakteriologie erfasste. Die Naturwissenschaft als quasi neue Religion sollte nach dem Willen der Monisten die Menschheit bereits im Diesseits erlösen. Diese alle Welträtsel umspannende Zeit, die keinen Raum für andere, insbesondere religiöse Zeitdimensionen zuließ, nenne ich wegen ihres Anspruchs der Ausschließlichkeit „totalitäre Zeit“.

An dieser Stelle möchte ich eine Anekdote erzählen. Vor einigen Jahren Zeit besuchte ich den Vortrag eines Theologen, der sich u. a. mit der Problematik des Hirntods befasste. In der Diskussion meldete sich ein älterer Arzt zu Wort, der dem Auditorium sehr vehement erklärte, dass mit dem Tod – und der Hirntod sei ein solcher – „alles aus, alles vorbei“ sei, das sei ganz klar wissenschaftlich bewiesen und daran sei nun einmal nicht zu rütteln. Seine erkennbare Emotion provozierte mich zur spontanen Frage: „Woher wissen Sie das denn so genau?“ Seine Antwort lautete ebenso spontan: „Ich glaube das!“ Woraufhin ich belustigt bemerkte: „Aha, Sie glauben das, dann bin ich beruhigt!“ Und das Auditorium musste lachen.

Diese Glaubensgewissheit des Kollegen lässt sich wissenschaftshistorisch einordnen. Die Fortschritte von Wissenschaft und Technik im Laufe des 19. Jahrhundert führten zur Idee, dass die Religion der Zukunft die rationale, empirische Naturwissenschaft sein sollte, was im biologischen Monismus mündete und zur Gründung des Deutschen Monistenbunds durch Ernst Haeckel Anfang des 20. Jahrhunderts führte. Kennzeichnend war die totalitäre Zeitvorstellung: eindimensional alle anderen Vorstellungen ausblendend, die nicht zum evolutionären Fortschrittsmythos passten, der in Haeckels pädagogischen Sinnbildern zum Ausdruck kam: etwa im Stammbaum des Menschen (Folie 17).

Der Molekularbiologe Jens Reich fragte in einem ZEIT-Artikel von 2008 unter der Überschrift „Medizin: Leben und Vergehen“, „ob die moderne Biomedizin grundsätzliche Fehlstellen aufweist. Drei Stichworte umreißen die Antwort: Der unvollkommene Körper. Das Alter. Der Tod.“[9] Die „blinde Kraft der Evolution“ – und gerade kein intelligenter Designer – habe zum unvollkommenen Körper geführt, dessen „vernünftiges Enhancement“[10] man kaum „überzeugend begründet ablehnen“ könne. Das biologische Altern sei rätselhaft, möglicherweise eher durch einen gezielten Abbau als durch Verschleiß bewirkt. Überhaupt sei ein Rätsel, „wie sich die Einheit des gesamten Organismus herstellt.“ Und der Tod sei, nach der Erkenntnis der „Apoptose“, des programmierten Zelltods, für die Molekularbiologie „ein Programm und kein Zerfall“. Es ist in meinen Augen frappierend, dass die heutige Molekularbiologie von einem Zusammenspiel ungezählter Regulationsvorgänge ausgeht und dies im Einzelnen immer genauer erforscht, aber letztlich Werden und Vergehen, die biologisch inhärente Zeitstruktur des Organismus, den „Sinn“ derselben, nicht oder noch erklären kann. Der Tod müsste doch als die größte Absurdität das evolutionsbiologische Denken aufwühlen, denn welchen Sinn soll die Evolution des Lebens ergeben, wenn am Ende der Tod steht – spätestes mit dem Verglühen der Erde? Die Wissenschaft muss wohl solche abgründig-existenzielle Fragen ausblenden, um sich gegen das Absurde, wie es ein Albert Camus verstand, zu immunisieren.

(5) Vertriebene Zeit: Illusionen vom Werden ohne Vergehen

Schließlich soll noch ein eigentümliches Bestreben der Menschen beleuchtet werden, das gerade für die Medizin seit alters her eine große Herausforderung aber auch ein lukratives Betätigungsfeld darstellt. Ich meine den Versuch, die Zeit des Vergehens anzuhalten, zurückzudrehen, vergessen zu machen. Oder anders gesagt: Ein Werden ohne Vergehen zu produzieren. Ich nenne dies die vertriebene Zeit, wir könnten hierzu auch die Ausdrücke „Zeitvertreib“ und „die Zeit totschlagen“ assoziieren. Damit ist keineswegs nur die plastische Chirurgie, insofern sie Schönheit und Verjüngung produziert, befasst, sondern auch ein riesiger außermedizinischer Bereich, von der Kosmetik- bis zur Wellness-Industrie.

Wir sind mit dem uralten Wunschtraum der Menschheit konfrontiert: dem Jungbrunnen. Lucas Cranach d. Ä. hat diesen Traum 1546, dem Todesjahr von Martin Luther, in seinem berühmten Gemälde dargestellt. (Folie 18) Links werden die (weiblichen) Gebrechlichen, Kranken und Alten zum Brunnen herangekarrt, rechts verlassen sie ihn als junge Schönheiten, die sich wieder den irdischen Freuden hingeben können. Solche Verjüngungsphantasien sind wohl so alt wie die Menschheitsgeschichte und wurden und werden in der Medizin in vielfältiger Form konkret verwirklicht. Als Beispiel wäre der Aufstieg der plastischen Chirurgie, der so genannten Schönheitsoperationen, im 20. Jahrhundert zu nennen. So korrigierte schon vor 100 Jahren der geniale (jüdischen) Arzt Jacques Joseph („Nasenjoseph“, „Noseph“) in seiner Berliner Praxis unschöne Ohren, Nasen und schlaffe Gesichter, wogegen er seine Face-lifting-Methode empfahl. (Folie 19) Gegenwärtig ist Anti-Aging ein großes Thema, auch im Hinblick auf die Männer. (Folie 20) Vor allem Botox-Einspritzungen gegen Gesichtsfalten, die alt aussehen lassen, sind en vogue. (Folie 21)

Der Kampf gegen das Altern hat heute eine kaum überbietbare Intensität erreicht, und die Medizin spielt hierbei eine zentrale Rolle. Sie soll es schaffen, die Zeichen der Natur, abgesehen von denen der Kultur, unkenntlich zu machen, zu retouchieren, neu zu justieren, um die Zeit zu vertreiben. Die Signaturen an der Körperoberfläche werden gegenüber der Körperphysiologie verfälscht, sie sollen äußerlich etwas vorspiegeln, was im Inneren nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Insofern gleicht diese Art von Medizin einer Illusionskünstlerin, welche die Bedürfnisse ihrer Kunden gewinnbringend befriedigt.

Werden ohne Vergehen, leben ohne zu sterben entspricht nicht nur dem erwähnten Traum vom Jungbrunnen, sondern auch dem allgemeinen Versprechen der Medizin, dass Vergehen, Absterben und letztlich den Tod – wenn auch nur punktuell – zu neutralisieren. Es geht wie gesagt darum, den Verfallsprozess des Körpers aufzuhalten und sein absolutes Vergehen im Tod möglichst lange hinauszuschieben. Hierzu fällt mir die Schauergeschichte „Tatsachen im Fall Waldemar“ von Edgar Allen Poe ein, wo der Verfallsprozess bei einem Sterbenden bzw. Toten sieben Monate lang durch Magnetisieren scheinbar aufgehalten wird, bis der Leichnam als stinkende Masse zerfließt.

Besteht nicht gerade darin, nämlich den Verfall aufzuhalten, das Vergehen hinauszuschieben, das legitime Hauptgeschäft der Medizin? Wo aber liegen die vernünftigen Grenzen? Ich meine, dass nur eine Rückbesinnung auf die conditio humana, auf unsere anthropologische Verfasstheit möglicherweise weiterhelfen kann. Wir haben demütig einzusehen, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist, in der eine ständiges Werden und Vergehen passiert, und dass wir nicht über diesen Zeithorizont hinausschauen können, so lange wir unser irdisches Leben führen – obwohl wir die meisten von uns in der einen oder anderen Weise ahnen, erhoffen, befürchten oder glauben, dass sich das Leben nicht darin erschöpft. Sigmund Freud hat diese Problematik einmal in einer wunderbaren Wendung auf den Punkt gebracht. In der Psychoanalyse könne, so seine Formulierung, „der Ausspruch gewagt werden: im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: im Unbewußten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.“[11]

Schlussbetrachtung

Zum Schluss ein eigenes Foto im Hintergrund zur Entspannung. (Folie 22) Angesichts meines Versuchs einer typologischen Auffächerung der Zeitvorstellungen stellt sich die Frage: Wofür sollen wir uns bei der Begegnung von Arzt und Patient entscheiden, wenn wir diese „zeitlich kultivieren“ wollen? Ich bin der Meinung, dass keine einzelne Dimension die anderen beherrschen oder ausblenden darf. Eher kommt es auf eine synoptische, sympathetische, synästhetische „Ahn(d)ung“ an, um diesen beliebten Ausdruck in der romantischen Naturphilosophie zu gebrauchen. Wahrscheinlich kann diese „Ahn(d)ung“ nur durch Selbstanalyse gewonnen werden, die historisch zu relativieren vermag und vor doktrinärer Verengung (und Humorlosigkeit) schützt. Nur dann kann in meinen Augen eine geglückte Begegnung von Arzt und Patient zustande kommen, wenn für die verschiedenen Zeitdimensionen ein Resonanzraum offensteht, in dem angeschlagene Töne gemeinsam gehört werden können. Auch wenn heute die zyklische, transzendierende und aufgebrochene Zeit gegenüber der totalitären und vertriebenen Zeit fast in Vergessenheit geraten sind, gehören die drei Erstgenannten unausrottbar zu unserer anthropologischen Grundausstattung: nämlich die Wahrnehmung des Rhythmus in den Naturvorgängen, das Herausdestillieren der Heilkraft durch rituelle Übungen und die Erfahrung von dämonisch anmutenden Glücks- und Unglücksfällen, die den bisherigen Lebenslauf aus den Angeln heben.

Zeitliche Kultivierung der Begegnung von Arzt und Patient kann nicht auf einer Einbahnstraße erreicht werden: nämlich vom Arzt in der Rolle des Experten zum Patienten in der Rolle des zu erziehenden „edlen Wilden“. Patienten haben ihre eigene Expertise und ihre eigenen Erfahrungen mit der Zeit. Es hängt nun von der Kunst des Arztes ab, sich für die verschiedenen Dimensionen oder Typen des Zeiterlebens seines Patienten so zu öffnen, dass eine Resonanz, ein gemeinsames Hören, möglich wird. Unter Umständen muss er, der Arzt, alle möglichen wissenschaftlichen Theorien und praktischen Behandlungsrichtlinien ein Stück weit vergessen, um die notwendige Offenheit zu erreichen. Aber wie überhaupt bei zwischenmenschlichen Begegnungen: Letztlich hat der Arzt es nicht, zumindest nicht alleine, in der Hand, ob die Begegnung wirklich glückt – das heißt vor allem: heilsam wirkt.

Ich möchte mit einer Anekdote schließen. Der bekannte US-amerikanische Medizinjournalist Norman Cousins, der über Albert Schweitzer einige Schriften verfasst hat, unterhielt sich einmal mit diesem in Lambarene über die Heilerfolge von Medizinmännern. „Als ich Albert Schweitzer fragte, wie er sich erkläre, daß überhaupt jemand nach der Behandlung durch einen afrikanischen Medizinmann hoffen könne, gesund zu werden, sagte er, ich verlangte von ihm, ein Geheimnis zu enthüllen, das die Ärzte schon seit Hippokrates mit sich herumtrügen. ‚Aber ich will es ihnen trotzdem verraten‘, sagte er […] ‚Der Medizinmann hat aus dem gleichen Grund Erfolg wie wir [Ärzte] auch. Alle Patienten tragen ihren eigenen Arzt in sich. Sie kommen zu uns, ohne diese Wahrheit zu kennen. Wir sind dann am erfolgreichsten, wenn wir dem Arzt, der in jedem Patienten steckt, die Chance geben, in Funktion zu treten.“[12] Eine treffendere Aussage zu unserem Rahmenthema kann ich mir kaum vorstellen.

[1] Vortrag im Rahmen des Symposiums „Zur Bedeutung der Zeit für in der Medizin“ in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Berlin am 10. bzw. 11.02.2017 (Folie 1)

[2] Zit. n. der Lutherbibel 1984: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-1984/bibeltext/bibelstelle/pred3,14/ (3.01.2017)

[3] Zit. n. Heinz Schott: Magie der Natur. Historische Variationen über ein Motiv der Heilkunst. Aachen: Shaker, 2014, Teilband 1, S. 24/9

[4] Hippokrates: Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin. Übersetzt […] und herausgegeben von Hans Diller. Hamburg: Rowohlt, 1962 (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft; Griechische Literatur; Bd.4), S. 171 f.

[5] Handwörterbuch das Deutschen Aberglaubens. Hg. von H. Bächthold-Stäubli. Bd. 8. Berlin; Leipzig: de Gruyter, 1936/37, Sp. 562 f.

[6] A. a. O., S. 14.

[7] Paracelsus: Labyrinthus medicorum errantium. In: Vom Licht der Natur und des Geistes. Eine Auswahl. Hg. von Kurt Goldammer. Stuttgart: Reclam, 1979 (Universal-Bibliothek nr. 8448 [3], S. 33-96, hier S. 58 f.

[8] Paracelsus: Opus paramirum; Zit n. Helmut Hiller: Paracelsus-Lexikon. Anger: Anger Verlag Eick, 1996, S. 29.

[9] DIE ZEIT, 20. März 2008 Nr. 13;  http://www.zeit.de/2008/13/Edi-Reich-Nachwort (3.01.2016).

[10] Anführungszeichen im Original.

[11] Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915); http://www.textlog.de/freud-psychoanalyse-verhaeltnis-tode.html (3.01.2017)

[12] Norman Cousins: Der Arzt in uns selbst. Die Geschichte einer erstaunlichen Heilung – gegen alle düsteren Prognosen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983 (Rororo; 7828: rororo-Sachbuch), S. 71f.

Über den Umgang mit psychisch Kranken: Medizin- und sozialhistorische Aspekte (2016)

Im Rahmen der 34. Psychiatrietage Königslutter 2016 zum Rahmenthema „Psychische Störungen und Familie“ hielt ich am 17.11.2016 einen Vortrag. Die PPT-Präsentation ist hier zu finden. 

Melancholie, Depression und Suizid in der Medizingeschichte (2005)

Dieser Vortrag wurde Im Rahmen des Petersberg-Symposiums zum Thema „Wenn es dunkel wird … Die Krankheit ‚Depression‘: Ihre Folgen und Therapiemöglichkeiten“ auf dem Petersberg bei Bonn am 30. April 2005 gehalten.

Das nicht korrigierte Redemanuskript ist über folgenden Link abrufbar:

https://drive.google.com/file/d/0ByekXtB9kRIySWpfblZ6YmdUcWM/view?usp=sharing

Die Literaturangaben (in Klammern) beziehen sich größtenteils auf folgendes Literaturverzeichnis:

https://drive.google.com/file/d/0ByekXtB9kRIyVy1xQzJOVmZDY00/view?usp=sharing