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Rechthaberei – Besserwissen verstehen

Sie arbeit­en an einem Pro­jekt. Ihr Team beste­ht aus sechs Pro­jek­t­mi­tar­bei­t­en­den. Eigentlich macht Ihnen die Arbeit Spass. Alle brin­gen immer wieder neue Sichtweisen ein und auch Ihre Ideen find­en Gehör. Wenn es jedoch darum geht einen Kon­sens zu find­en, eine Entschei­dung zu tre­f­fen oder eine gemein­same Rich­tung einzuschla­gen, wird es schwierig. Denn Sie arbeit­en eng mit einem Besser­wiss­er zusam­men, welch­er dann auch ständig auf die Umset­zung sein­er Idee beste­ht. Und das bere­it­et Ihnen des Öfteren Bauch­schmerzen und zer­rt an Ihren Nerven.

Ken­nen Sie dieses Gefühl? Oder kön­nen Sie sich gar mit der Sit­u­a­tion 1:1 iden­ti­fizieren? Wir sind alle umgeben von Rechthabern. Und Hand aufs Herz: je nach Laune, Gefühlslage, Sachver­halt und The­ma ver­wan­deln wir uns alle hin und wieder mal zu Besser­wis­sern. Wenn Sie jedoch mit notorischen Rechthabern, die immer belehrend sind und das let­zte Wort haben, zusam­me­nar­beit­en oder eine famil­iäre Beziehung pfle­gen, kann das ganz schön anstren­gend sein. Um in solchen Sit­u­a­tio­nen nicht unnötig Energie zu ver­lieren und mit Gelassen­heit begeg­nen zu kön­nen ist es wichtig, dass wir ver­suchen ihre Sichtweisen, Motive und Absicht­en zu verstehen.

Ursachen für Besserwissen

Gemäss dem Psy­cholo­gen Michael Thiel ist eine der Haup­tur­sachen für Besser­wis­serei oft­mals wenig oder fehlen­des Selb­st­wert­ge­fühl. Dies hat sich nicht von heute auf mor­gen so entwick­elt, son­dern häu­fig über län­gere Zeit. Fehlende Wertschätzung oder die Erfahrung, es nie­man­dem Recht machen zu kön­nen, führen zu gerin­gerem Selb­st­wert. Mit der Rechthaberei möcht­en sie dies überdeck­en. Immer mit dem Ziel, die Anerken­nung zu erhal­ten, die ihnen bish­er meist ver­wehrt blieb.

Daher ist es nahe­liegend, dass der Grund für Rechthaberei sehr oft in der Ver­gan­gen­heit liegt. Bere­its als ganz kleine Per­sön­lichkeit­en wer­den wir in unser­er Kind­heit geprägt durch Per­so­n­en oder Erfahrun­gen. So möcht­en wir beispiel­sweise unsere Eltern schön früh stolz machen. Mit guten Leis­tun­gen in der Schule, im Sport oder indem wir Zuhause mithelfen. Ger­ade in west­lichen und sehr leis­tung­sori­en­tierten Gesellschaften ler­nen wir oft ganz früh und unbe­wusst uns zu pro­fil­ieren, um Anerken­nung zu erhal­ten. Diese Glaubenssätze verin­ner­lichen wir uns dann. Auch rechthaberische Per­so­n­en aus unserem Umfeld kön­nen uns mit ihrem Ver­hal­ten prä­gen. Ein­er­seits in dem wir sie zu unseren Vor­bildern machen und deren besser­wis­serische Iden­tität übernehmen, oder aber wir müssen und eben­falls Gehör ver­schaf­fen, damit unsere Mei­n­ung über­haupt wahr- und ernst genom­men wird.

Es gibt aber auch Per­so­n­en, die Besser­wis­serei als reine Selb­st­darstel­lung nutzen. Rechthaberei bietet ihnen die Bühne zur Insze­nierung. Sie sind von sich überzeugt und möcht­en andere mit ihrem Wis­sen beeindrucken.

Egal aus welch­er Ursache sich die Besser­wis­serei von Per­so­n­en entwick­elt hat. Eines ist immer gle­ich: sie erre­ichen mit ihrem Ver­hal­ten genau das Gegen­teil von dem, was sie eigentlich erre­ichen möcht­en. Sie merken nicht, dass andere sie als laut und auf­dringlich wahrnehmen und sie in den meis­tens Fällen nie die Anerken­nung erhal­ten, welche sie sich eigentlich so innig wünschen.

Auf Rechthaberei gekonnt reagieren – was können wir also tun?
  • Das Zauber­wort heisst in den meis­ten Fällen Gelassen­heit. Atmen Sie tief durch, hören Sie zu und fühlen Sie sich wie Bud­dha. Sie müssen nicht aus jed­er Diskus­sion als Sieger her­vorge­hen. Zeigen Sie Grösse und über­legen Sie sich, ob vielle­icht hin­ter dem ange­berisch Vor­ge­tra­ge­nen doch ein Fünkchen Wahrheit oder eine grosse Unsicher­heit steckt? Denn keine Frage: andere Blick­winkel erweit­ern den eige­nen Hor­i­zont. Da wäre es doch dumm, auf taub zustellen. Denn manch­mal sehen wir das Wesentliche nicht mehr und sind froh über einen Input von aussen. Durch die Erfahrung von anderen kön­nen wir vieles ler­nen. Und wenn Sie für sich selb­st dann nichts mit­nehmen möcht­en, ist das auch voll OK.
  • Bleiben Sie stets fre­undlich. Auch wenn Sie den Rechthaber für sein Ver­hal­ten gerne anschreien möcht­en, wer­den Sie mit dieser Strate­gie ver­mut­lich wenig Erfolg haben. Ihr Gegenüber wird sich darin eher bestätigt fühlen. Es fällt schw­er, aber mit Fre­undlichkeit kom­men Sie weit­er, da offene Angriffe an der Sturheit ein­fach abprallen.
  • Rechthaber greifen nicht Sie als Per­son an, denen geht es um die Sache. Nehmen Sie somit das Gesagte nicht per­sön­lich oder fühlen Sie sich nicht ange­grif­f­en, wenn Sie jemand partout belehren möchte. Bleiben Sie stattdessen objek­tiv, bewahren Sie Ihre Sicht auf die Dinge, reflek­tieren Sie diese und über­legen Sie für sich, weshalb Ihre Ansicht für Sie die Richtige ist. So kön­nen Sie sich bestätigt fühlen, ohne mit jeman­den ausufer­nde Diskus­sio­nen zu führen. Es ist ein nachvol­lziehbar­er Wun­sch, einen Rechthaber in die Schranken zu weisen und zu zeigen, dass er eben nicht immer richtig liegt. Gle­ichzeit­ig bedeutet das aber auch, dass Sie sich auf dessen Niveau begeben wür­den. Wenn Sie selb­stkri­tisch bleiben, kön­nen Sie dem entgegenwirken.
  • Ein Per­spek­tiven­wech­sel bringt in gewis­sen Sit­u­a­tio­nen vielle­icht mehr Ver­ständ­nis. Sie erlan­gen ein Bewusst­sein dafür, dass Ihr Gegenüber im Laufe der Zeit gel­ernt hat, mit Rechthaberei Anerken­nung zu suchen. Das hat nichts mit Ihnen zu tun, son­dern ist ein­fach seine Hand­lungsstrate­gie aus seinem Reper­toire für die aktuelle Sit­u­a­tion. In diesem Moment hat Ihr Gegenüber keine alter­na­tiv­en Ver­hal­tens­möglichkeit­en zur Ver­fü­gung. Damit erken­nen Sie seine Gren­zen. Schlussendlich haben Sie auch die Möglichkeit, bei Ihrem Gegenüber ein­fach nachzufra­gen. Die For­mulierung soll­ten Sie so wählen, dass Sie nicht die Per­son und ihre Ansicht­en kri­tisieren, son­dern nur etwas in Frage stellen. So zeigen Sie auf, dass es auch andere Sichtweisen auf einen bes­timmten Stand­punkt geben kann.
Selber loslassen können

Wenn wir ehrlich sind, ertap­pen wir uns alle hin und wieder in ein­er Sit­u­a­tion, in der wir rechthaberisch auftreten. Dies geschieht oft in Lebens­bere­ichen, für die wir bren­nen, lei­den­schaftlich dabei sind, unsere volle Aufmerk­samkeit schenken und viel kost­bare Zeit investieren.

Denken Sie beispiel­sweise an das Dauer- und Diskus­sion­s­the­ma Nr. 1: die Erziehung. Es gibt zahlre­iche Rat­ge­ber mit unter­schiedlichen Tipps und Weisheit­en, wie Eltern ihre Kinder erziehen kön­nen. Jede Fam­i­lie sucht sich die für sie passenden Möglichkeit­en aus und ist davon überzeugt. Ihre Art der Erziehung ist DIE richtige. Und beim näch­sten Fre­undin­nen­tr­e­f­fen begin­nen dann die Diskus­sio­nen, wenn jede Mut­ter von ihrer Ernährungsweise, Länge der Stil­lzeit, Zubettge­hzeit usw. erzählt, diese für die eine Wahrheit hält und andere Vorge­hensweisen oder gar andere Müt­ter dafür mit Schreck­en verurteilt. Das heisst nicht, dass wir nicht für unsere Rechte, Mei­n­un­gen und Bedürfnisse ein­ste­hen sollen und müssen. Jedoch andere für dessen nicht verurteilen dürfen.

Denn meis­tens ist es nicht der andere mit sein­er strin­gen­ten Mei­n­ung, der uns ärg­ert. Wir sind für unseren Ärg­er selb­st ver­ant­wortlich. Das eigentliche Prob­lem ist infolgedessen oft, dass wir von unseren Wahrheit­en, der Rechthaberei, nicht loslassen kön­nen. Vielle­icht sind wir eben auch selb­st unsich­er in bes­timmten The­men oder haben Angst etwas falsch zu machen. Wir sehen nicht, dass eigentlich jed­er Recht hat. Auf seine indi­vidu­elle Art und Weise. Tol­er­anz ist dabei ein sehr hil­fre­ich­er Gegen­spiel­er von Rechthaberei. Das Leben ist ein­fach­er, wenn wir uns immer wieder bewusst­wer­den, dass es eben nicht die eine Wahrheit gibt. Diese Ein­sicht macht unser Zusam­men­leben mit anderen viel entspan­nter. Und bevor Sie sich das näch­ste Mal über einen Rechthaber aufre­gen, denken Sie an fol­gen­des Zitat::

“Der Kluge lernt aus allem und jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen und der Dumme weiss alles besser.”
(Sokrates)