Europäische Souveränität stärken

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Europäische Souveränität stärken

Zur

Das Ziel der Bundesregierung und der Europäischen Kommission, die Souveränität und Resilienz in Europa zu stärken, ist angesichts wachsender geopolitischer und ökonomischer Risiken vordringlicher denn je. Dies bezieht sich sowohl auf wirtschafts als auch auf sicherheitspolitische Fragen. Hier müssen die EU Mitgliedstaaten deutlich enger als bisher zusammenarbeiten.

Unternehmen und Wirtschaftspolitik müssen sich auf die massiv veränderte Lage einstellen. Die EU und ihre Unternehmen können sich nicht auf den Goodwill autokratischer Staatenlenker verlassen. Nicht erst mit dem Krieg Russlands in der Ukraine treten strategische Abhängigkeiten zum Vorschein. Neben den geplanten Maßnahmen in den Feldern Energiewirtschaft und Verteidigung müssen Unternehmen und Politik Vorsorge in weiteren kritischen Bereichen treffen. Hierzu bedarf es zuvorderst einer Verzahnung verschiedener Fachbereiche in der Politik.

Ordnungspolitisch sollten dabei vier Ziele im Vordergrund stehen: Lieferketten sollten stabilisiert, Technologiefähigkeiten erlangt und ausgebaut, industrielle Fertigkeiten zur Wahrung der eigenen Handlungsfähigkeit inklusive der nationalen Sicherheit verstärkt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit behauptet werden, etwa mit fairen und effektiven Handelsregeln.

Zeitgleich müssen rasch konkrete Projekte eingeleitet werden. Unter anderem muss Europa

Produktions und Entwicklungsfähigkeiten im Halbleiterbereich ausbauen;

koordiniert beim Ausbau einer nachhaltigen Energieinfrastruktur vorgehen;

Bezugsquellen kritischer Rohstoffe durch Import, heimische Förderung, Recycling und Substitution sowie deren Weiterverarbeitung auch in Europa diversifizieren;

vertrauenswürdige Strukturen im Cloud und Edge Computing in der EU schaffen;

den europäischen Normungsprozess stärken, vor allem durch Priorisierung kritischer Projekte wie Technologien für Verkehr, Energiewirtschaft oder künstliche Intelligenz

GRUNDSATZPAPIER | EUROPAPOLITIK | RESILIENZ
offenen strategischen Autonomie 29. Oktober 2022
Europäische Souveränität stärken | Zur offenen strategischen Autonomie 2 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung .......................................................................................................................................3 1.1 Strategische Aspekte 4 1.2 Grundsätzliches 5 2. Mikroelektronik................................................................................................................................8 2.1 Ausgangslage 8 2.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen 9 3. Daten, Cloud & Edge.....................................................................................................................11 3.1 Ausgangslage 11 3.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen................................................................ 12 4. Rohstoffpolitik...............................................................................................................................13 4.1 Ausgangslage 13 4.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen................................................................ 16 5. Energieversorgung .......................................................................................................................18 5.1 Ausgangslage 18 5.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen................................................................ 20 6. Weltraumpolitik .............................................................................................................................22 6.1 Ausgangslage 22 6.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen 24 7. Sicherheit und Verteidigung ........................................................................................................25 7.1 Ausgangslage 25 7.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen 25 8. Chemikalienpolitik 27 8.1 Ausgangslage................................................................................................................................ 27 8.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen 28 9. Normung und Standardisierung 28 9.1 Ausgangslage................................................................................................................................ 29 9.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen 30 10. Öffentliches Auftragswesen und Drittländer 31 10.1 Ausgangslage.............................................................................................................................. 31 10.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen 33 11. Drittstaatssubventionen und Binnenmarktkontrolle 34 11.1 Ausgangslage.............................................................................................................................. 34 11.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen 34 Impressum 36

1. Einführung

Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bekommt die Frage nach der „europäischen Souveränität“ eine neue Dringlichkeit in der Europapolitik. Der Ansatz selbst ist hingegen schon länger Teil des politischen Diskurses: Bereits am 26. September 2017 stellte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron an der Pariser Universität Sorbonne seine Vorstellungen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union vor.1 Mit seiner Kernforderung nach einem „souveränen Europa“ stieß er eine weitreichende Debatte an. Nunmehr finden auch die Begriffe „offene strategische Autonomie“, „europäische Resilienz“ oder vereinzelt „strategische Interdependenz“ eine nahezu synonyme Verwendung.

Die Strategische Agenda 2019 2024 des Europäischen Rats definiert dabei die Zielsetzungen der europäischen Souveränität: Stabilität, das Setzen von Standards und die Förderung der Werte der Union.2 Auch die Europäische Kommission richtet bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona Pandemie ihre Wiederaufbaupolitik an Resilienzfragen aus.3 Methodisch hochwertige Analysen zu strategischen Abhängigkeiten hat die Kommission bereits im Rahmen der EU Industriestrategie vorgelegt.4 Auch in der Strategischen Vorausschau 2021 werden die wesentlichen Handlungsfelder zutreffend analysiert.5 In Deutschland stellten sich SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag hinter das Vorhaben. Man will die „strategische Souveränität Europas erhöhen.“ Explizit geht es „dabei … auch um den Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten“

Innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten gibt es eine breite Debatte, wie diese Begrifflichkeiten ausgelegt werden sollen.6 Diese Debatte erlebt seit Kriegsbeginn eine veränderte Dynamik, mit einem noch stärkeren sicherheitspolitischen Fokus. Bei der informellen Tagung der Europäischen Staats und Regierungschefs vom 10. und 11. März 2022 wurden die „Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten, Verringerung unserer Energieabhängigkeiten und (der) Aufbau einer robusteren wirtschaftlichen Basis“ ins Zentrum gestellt. Auch das Europäische Parlament befasste sich mit der Rolle der EU im sich wandelnden geopolitischen Umfeld. Unter anderem hat hierzu der Wissenschaftliche Dienst eine Studie veröffentlicht, die den bisherigen Verlauf der Debatte detailliert nachzeichnet.7

Die Beantwortung dieser Fragen muss auch eine industriepolitische Dimension beinhalten. Wo sind Abhängigkeiten besonders kritisch? Wer hält welche Kontrolle über industrielle Fertigungsprozesse? Und wo muss die Industrie selbst vor schädlicher Einflussnahme geschützt werden?

Mit Kriegsausbruch wurden strategische Entscheidungen ausgerechnet in zentralen Schlüsselfragen drastisch erschwert. Die Schaffung von Verteidigungskapazitäten, die Sicherstellung der Energieversorgung, aber auch Investitionen in der industriellen Gesundheitswirtschaft unterliegen derzeit einer tiefgreifenden Neubewertung unter Berücksichtigung jüngster Ereignisse. Souveränitätsfragen müssen jedoch trotz der aktuellen Unsicherheiten parallel zu den tagesaktuellen Prioritäten erörtert werden Auch hier setzt dieses Papier an.

1 Ministerium für Europa und auswärtige Angelegenheiten (2017). Initiative für Europa des Staatspräsidenten Macron. Ein souveränes, geeintes und demokratisches Europa. 26. September.

2 Europäische Kommission (2019) EU Strategic Agenda for 2019 2024. 21. Juni.

3 Europäische Kommission. Recovery and Resilience Facility

4 Europäische Kommission (2021) Commission staff working document | Swd Strategic dependencies and capacities 5. Mai. Brüssel.

5 Europäische Kommission (2021).Communication from the Commission to the European Parliament and the Council | Strategic Foresight Report. 8. September. Brüssel.

6 Politico (2020). Europe wants ‘strategic autonomy’ it just has to decide what that means. 15. Oktober.

7 Europäisches Parlament (2020). Auf dem Weg zu „strategischer Autonomie“ | Die EU im sich wandelnden geopolitischen Umfeld September.

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Autonomie 3

1.1 Strategische Aspekte

Die Ziele eines freien Welthandels bei fairem internationalem Wettbewerb, hoher globaler Umwelt und Sozialstandards sowie der Investitionsfreiheit werden von der EU weiterhin verfolgt Da Fortschritte in der Stärkung der multilateralen Ordnung jedoch derzeit schwierig zu erreichen sind und die strategische Rivalität mit nicht demokratischen Ländern in den letzten Jahren immer stärker hervorgetreten ist, müssen die klassischen Maßnahmen der nationalen und internationalen Ordnungspolitik durch geeignete wirtschafts und sicherheitspolitische Maßnahmen ergänzt werden, die eine Balance zwischen Wohlfahrts und Sicherheitszielen ermöglichen. Dies betrifft seit einigen Jahren bereits den robusteren Umgang mit den wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands und der EU mit China8 , generell den Umgang mit Autokratien9 und selbstredend nun besonders den Umgang mit der Russischen Föderation seit der Zeitenwende des 24. Februar 2022.

Es ist somit nur konsequent, dass die deutsche und die europäische Wirtschaftspolitik auf eine veränderte Sicherheitslage reagieren muss. Es ist schon länger nicht mehr davon auszugehen, dass sich weitere Staaten und Regionen einem regelbasierten Weltwirtschaftssystem auf absehbare Zeit anschließen werden. Somit dürfte es zur Ko Existenz konkurrierender Wirtschaftsmodelle auf der Welt kommen. Damit gehen ernst zu nehmende Befürchtungen einher, dass sich zusätzlich zu Abschottungstendenzen auf heimischen Märkten vermehrt eine Konkurrenz bei Markzugängen in Drittstaaten entwickeln wird.

Europas Stärke in der Welt ist unabdingbar, wenn die EU ihre Ziele erreichen will das gilt in der Sicherheitspolitik genauso wie beim Klimaschutz. Das Prinzip der offenen Märkte endet dort, wo politische Einflussnahme insbesondere autoritärer Regierungen auf das Schaffen politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeiten Europas abzielt. Besonders bei Staatsunternehmungen in Nicht Marktwirtschaften bedarf es einer verstärkten Aufmerksamkeit. Sobald Marktakteure ihre Entscheidungen abseits von wirtschaftlichen Kriterien fällen, muss das Abweichen vom Level Playing Field vermutet werden.

Es verwundert daher nicht, dass die Staats und Regierungschefs der Europäischen Union seit mehreren Jahren und zuletzt mit deutlich drängenderem Duktus Zielsetzungen formulieren und Maßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten zur Stärkung der europäischen Souveränität eingefordert haben. In vielen Feldern etwa in der Außenwirtschaftspolitik sind bereits Entscheidungen getroffen worden. In anderen Feldern sind umfangreiche Analysen vorgelegt worden, sodass die einzelnen Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen zügig weitere Schritte ergreifen können. Auch die französische Ratspräsidentschaft zielte im ersten Halbjahr darauf ab, weitere Entscheidungen auf den Weg zu bringen. Durch den Krieg Russlands in der Ukraine sind zusätzliche dramatische Herausforderungen vor allem in der Energie und Rohstoffpolitik auf die Agenda gekommen.

Vorbereitungen einer Vielzahl von Dossiers sind von der Europäischen Kommission vorgenommen worden. Die erklärte Absicht der Europäischen Kommission, die Position der EU im globalen Wirtschaftsgefüge zu stärken und systemischen Konkurrenten mit einer europäischen Strategie entgegenzutreten, ist zu begrüßen. Hierzu ist zuvorderst eine verzahnte Abstimmung zwischen allen Bereichen der europäischen Wirtschaftspolitik erforderlich. Eine erfolgreiche Strategie zur offenen strategischen Autonomie bedarf dreierlei: Erstens eine Diversifizierung von Import und Exportpartnern in kritischen

8 BDI (2019). Grundsatzpapier China. Partner und systemischer Wettbewerber Wie gehen wir mit Chinas staatlich gelenkter Volkswirtschaft um?. 10. Januar. Berlin.

9 BDI (2021). Diskussionspapier. Außenwirtschaftspolitische Zusammenarbeit mit Autokratien | Diskussionspapier zur Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen im internationalen Systemwettbewerb 16. Juli. Berlin.

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Segmenten, um ein rasches Ausweichen auf andere Märkte grundsätzlich zu ermöglichen. Aus den jüngsten Ansätzen der Bundesregierung beispielweise auf dem Feld der Energiepolitik müssen die richtigen Schlüsse gezogen werden: Auch in der allgemeinen Außenwirtschaftspolitik müssen fortan Ausweichmöglichkeiten auf andere Märkte von vornherein mitgedacht werden. Die EU Handelspolitik darf zweitens nicht mehr allein bei potenziellen Wertschöpfungsvorteilen ansetzen Vielmehr bedarf es Grundsätzen, die zusätzlich Diversifizierung und (betriebliches) Risikomanagement ermöglichen und fördern. Dort, wo schlichte Diversifizierung nicht ausreicht, müssen drittens kritische Kompetenzen gezielt aufgebaut und gefördert werden. Darüber hinaus bedarf es eines fortlaufenden, politischen Arbeitsprozesses, um künftige strategische Risiken zu identifizieren und zu adressieren.

Aus Sicht der deutschen Industrie ist es sinnvoll, wirtschaftliche Abhängigkeiten zu benennen und erste Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Dieses Papier ist dabei nur ein Anfang. Hauptsächlich konzentriert es sich auf Fragen zum Aufbau einer robusteren wirtschaftlichen Basis (vgl. Erklärung von Versailles vom 10. und 11. März 2022). Konkret werden behandelt: Mikroelektronik, Daten, Cloud & Edge Computing, Rohstoffpolitik, Energiepolitik, Weltraumpolitik, Fragen zur Rüstungspolitik, die Chemikalienpolitik, Standardisierung und Normung sowie das öffentliche Auftragswesen.

Mit Blick auf die derzeit hohe außenpolitische Dynamik müssen weitere Dossiers zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Hintergrund der Souveränitätsfrage diskutiert werden. Dies betrifft vor allem die Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten und Schritte zur Verringerung der Energieabhängigkeit. Gleichmaßen bedarf die Herstellung von Batteriezellen aufgrund ihrer komplexen, branchenübergreifenden Rolle in den Wertschöpfungsketten einer besonderen Aufmerksamkeit. Im Bereich der handelspolitischen Instrumente wurde bereits eine Vielzahl von Schritten unternommen.

In allen Fragestellungen ist eine weitaus breitere Konsultation der europäischen Institutionen mit der Wirtschaft erforderlich, um belastbare Strategien abzustimmen, geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmenpakete zu entwerfen und je nach Dossier auch konsistentes Handeln der Unternehmen, der Branchen und gegebenenfalls der wirtschaftspolitischen Akteure auf deutscher und europäischer Ebene anzuregen.

Auch in den europäischen Unternehmen ist eine breite Debatte über die verschiedenen Aspekte der Reduzierung von politisch sensiblen wirtschaftlichen Abhängigkeiten erforderlich. Die sicherheitspolitische Lage lässt eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung zentraler Größen in der unternehmerischen Beschaffung nicht mehr zu. Gestiegene politische Risiken und Lieferkettensicherheit müssen einen stärkeren Raum in der strategischen Planung der Unternehmen einnehmen. Zudem ist zu diskutieren, wie mit weltweiten Knappheiten oder Engpässen bei kritischen Rohstoffen und Zwischengütern mittelfristig umzugehen ist.

1.2 Grundsätzliches

Das Management strategischer Abhängigkeiten setzt eine Analyse des derzeitigen Status voraus, erfordert für jeden Bereich eine Zieldefinition und Maßnahmen zum Erreichen der Ziele. Eine einmalige Bestandsanalyse allein reicht jedoch nicht aus. Kritische Abhängigkeiten Europas sind dynamisch und verändern sich mit neuen Produkten und Herstellungsverfahren. Wichtig ist ein fortlaufender Analyseprozess zwischen den Generaldirektionen der EU Kommission und mit privatwirtschaftlichen Akteuren

Es kommt dabei nicht darauf an, die strategischen Abhängigkeiten vollständig zu beseitigen, sondern diese bei vertretbaren Kosten zu reduzieren, entstehende Risiken zu managen, Wertschöpfungsketten

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robuster zu gestalten, eine nach Regionen, Branchen und Unternehmensgrößen ausdifferenzierte Unternehmenslandschaft zu erhalten und mögliche negative externe Effekte zu begrenzen.

Nach aktuellem Stand sollten aus Sicht der deutschen Industrie folgende Themenfelder im Zentrum stehen:

Europa hat signifikante Rohstoffabhängigkeiten nicht nur im Bereich der Energierohstoffe, sondern auch bei kritischen Metallen und Mineralien. Die Abhängigkeit von vielen mineralischen Rohstoffen aus China ist beispielsweise bereits heute größer als bei Erdöl und Erdgas aus Russland. Im Gegensatz zu Öl und Gas gibt es bei mineralischen Rohstoffen jedoch keine nationalen (strategischen) Reserven. Da im Vergleich zum Jahr 2010 bis 2050 mit einem weltweiten Nachfrageanstieg von 215 Prozent für Aluminium, je 140 Prozent für Kupfer und Nickel, 86 Prozent für Eisen, 81 Prozent für Zink und 46 Prozent für Blei zu rechnen ist, ist es realistisch, dass sich Engpässe zuspitzen werden. Europa steht an den internationalen Rohstoffmärkten als Käufer im Wettbewerb mit anderen Weltwirtschaftsmächten. Allerdings verlieren klassische Marktmechanismen global bei mineralischen Rohstoffen seit Jahren an Bedeutung. Entscheidend wird sein, entlang verschiedener Säulen der Rohstoffsicherung zu diversifizieren. Zu große Rohstoffabhängigkeiten von einzelnen Ländern beizubehalten wäre ein sträflicher Luxus. Diversifizierung muss durch eine ganzheitliche und strategische europäische Drei Säulen Rohstoffpolitik gestärkt werden: Den diskriminierungsfreien Zugang zu Rohstoffen aus dem Ausland (Säule 1), der Stärkung der heimischen Rohstoffsicherung, gewinnung und verarbeitung (Säule 2) sowie dem Recycling von Rohstoffen (Säule 3). Keine Säule allein kann die Rohstoffsicherheit Europas gewährleisten.

▪ In der Energieversorgung kommt es auf ein koordiniertes Vorgehen der EU an. Drohende Versorgungsausfälle in einem Mitgliedstaat bergen das Risiko eines Lieferkettenabrisses. Nationale Resilienzstrategien sind zwar zu begrüßen, dürfen aber nicht auf Kosten anderer EU Staaten gehen. Europa, und insbesondere Deutschland, wird auf lange Sicht ein Energieimporteur bleiben. Die zukünftige Energieinfrastruktur muss daher nicht allein die Anforderungen an eine zügige Dekarbonisierung Rechnung tragen. Auch eine strategisch geplante Diversifizierung der Lieferanten ist für die Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit von Energie unerlässlich

Ähnliche Abhängigkeiten bestehen bei ausgewählten Chemikalien. Hierbei müssen Politik und Industrie für Transparenz sorgen, welche Chemikalien nur schwerlich substituiert werden können (beispielsweise durch andere Produktionsverfahren). Idealerweise können Importe kurzfristig aus anderen Weltregionen bezogen werden. Im Einzelfall muss auch ein Onshoring erwogen werden. Insbesondere für mittelständische Unternehmen kommt es darauf an, dass sie ihr Sourcing nicht allein nach Kosten ausrichten. Mit steigenden politischen Risiken müssen auch Bezugsquellen verstärkt mit Blick auf Lieferverlässlichkeit ausgewählt werden. Diese Abwägung ist eine Managemententscheidung. Jedoch sind relevante Marktinformationen, auch durch die öffentliche Hand, hierfür eine entscheidende Voraussetzung.

Europa ist nach wie vor der größte Global Player in Sachen Normung. Diese Rolle gilt es zu stärken. Zum einen müssen Normungsprozesse beschleunigt werden in den Bereichen, die besonders relevant sind. Europa braucht einen breiten Diskurs, welche Bereiche als relevant gelten. Hierbei müssen Zukunftstechnologien aus den Bereichen Verkehr, Energiewirtschaft (insbesondere Wasserstoff), künstliche Intelligenz, Mikroelektronik, Cybersicherheit, Batterietechnologien und Circular Economy berücksichtigt werden. Künftig werden

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Normungen nicht allein an technischen Kriterien ausgerichtet sein. Der Erfolg von Normen beruht auf ihrer Orientierung an Marktrelevanz und Praxistauglichkeit sowie ihrer Legitimierung durch die Teilnahme interessierter Kreise am Erarbeitungsprozess. Normen, die diesen grundlegenden Prinzipien folgen, werden auf freiwilliger Basis durch die Adressaten aus der Wirtschaft angewendet und können so den angestrebten praktischen Nutzen entfalten.

Es wird dabei nicht reichen, nur für den eigenen Markt zu normen. Ob Europa langfristig exportfähig bleibt, entscheidet sich auch am Zugang zu globalen Zielmärkten in Drittländern. Deswegen müssen Normen ein Kernelement in EU Handelsstrategien und abkommen werden: Wenn die EU mit Drittstaaten über Marktzugänge verhandelt, müssen europäische und internationale Normen in öffentlichen Ausschreibungen grundsätzlich Bestandteil sein. Das gilt vor allem für die Umsetzung des Global Gateway.

In den Technologien, in denen Europa zukünftig führend sein will, müssen wir bereits jetzt Vorsprünge verteidigen beziehungsweise ausbauen. Europa muss aus der Vergangenheit lernen und dafür sorgen, dass Kompetenzen in Resilienz relevanten Wirtschaftszweigen nicht vollumfänglich in andere Regionen abwandern. Sowohl Unternehmen als auch Politik müssen sich daher auf Schwerpunkte in der offenen strategischen Autonomie verständigen, die mit Investitionen in Forschungs und Entwicklungsvorhaben gefördert werden.

▪ Die Halbleiterproduktion ist derzeit im Fokus und sollte es auch sein. Diese Marktzugänge sind spielentscheidend, weil sich viele Megatrends in der Wirtschaft nur mit Chips umsetzen lassen: Lösungen basierend auf künstlicher Intelligenz, autonomem Fahren, Smart Grids oder Machine Learning werden die Nachfrage dauerhaft steigen lassen. In diesem Umfeld ist ein weltweiter Marktanteil der EU von 20 Prozent, wie von der Europäischen Kommission angestrebt, die richtige Zielsetzung. Es ist auch richtig, dass die EU die eigenen Kapazitäten in diesem Bereich stärken und Lieferketten (gegebenenfalls mittels Onshoring) robuster gestalten will. In der aktuellen Debatte kommt dabei jedoch ein wesentlicher Aspekt zu kurz: Unklar bleibt, ob die EU den Halbleitermarkt im Hightech Segment mit Entwicklungspotenzial und hohen Margen besetzen will. Dieser hätte ein kleines Volumen. Nimmt man dagegen die aktuellen Produktionsstörungen als Ausgangspunkt, benötigt man in erster Linie hohe Quantitäten an Chips. Daraus folgt, dass strategische Investitionsentscheidungen und etwaige Beihilfeprogramme an der genauen politischen Priorisierung austariert werden müssen: zunächst Lieferkettensicherheit, darauf aufbauend die Weiterentwicklung von Technologiefähigkeiten.

▪ Europa braucht gemeinsame, länderübergreifende Projekte. Dies betrifft vor allem Investitionen in künstliche Intelligenz, Mikroelektronik und Chips. Hierzu gibt es bereits erste, sehr erfolgreiche Leuchtturmprojekte (beispielsweise die Important Projects of Common European Interest, ICPEIs). Allerdings ist der Instrumentenkasten sehr begrenzt: Beispielsweise fördern Mitgliedstaaten IPCEIs mit nationalen Geldern. Dieses Instrument ist jedoch vielfach nicht anwendbar, da kritische Investitionen nicht in jedem Falle als Innovationen gelten, was eine Voraussetzung zur Förderung darstellt. Außerdem dürfen kleinere und finanzschwächere Mitgliedstaaten nicht zurückfallen. Auch deren Wettbewerbsfähigkeit ist entscheidend für die deutsche Industrie, die in nahezu allen europäischen Ländern investiert. Perspektivisch müsste die Mittelverwendung und verteilung europaweit organisiert werden. Dies erscheint derzeit jedoch politisch unwahrscheinlich. Daher müssen Mitgliedstaaten in der Lage sein, Gelder zu poolen, um einzelne Projekte in angemessener Größenordnung einzurichten. Eine Herausforderung wird sein, kurzfristig einen binnenmarktweiten Rechtsrahmen für

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Zukunftsinvestition durch Mitgliedstaaten zu schaffen. Erhebliche Zielkonflikte mit den wettbewerbspolitischen Ansprüchen dürften hier unausweichlich sein.

2. Mikroelektronik

2.1 Ausgangslage

Weltweit herrscht derzeit ein gravierender Halbleitermangel, der sowohl zu enormen Umsatzeinbußen führt als auch den raschen Aufschwung der Weltwirtschaft nach der Pandemie behindert. Der Halbleitermangel hat allein in der deutschen Automobilindustrie zu Umsatzeinbußen in Höhe von 50 Milliarden US Dollar geführt dies entspricht ca. 1,5 Prozent des deutschen BIP.10 Dieser Mangel ist das Ergebnis vielfältiger Entwicklungen sowohl auf der Angebots als auch auf der Nachfrageseite des globalen Halbleitermarktes. Während der Hauptgrund für die Verknappung ein enormer Anstieg der Nachfrage nach Unterhaltungselektronik ist, der durch die pandemiebedingte Verlagerung von Millionen von Menschen ins Homeoffice und Homeschooling verursacht wurde, hat auch der Krieg in Europa durch Engpässe bei Rohstoffen und durch die Sanktionen der EU11,12 die Situation weiter verschärft. Da der Ausbau der Halbleiterproduktionskapazitäten jedoch sowohl äußerst kosten als auch zeitintensiv ist, muss damit gerechnet werden, dass die Engpässe in absehbarer Zukunft wahrscheinlich bestehen bleiben.

Der weltweite Halbleitermarkt wird im Jahr 2022 voraussichtlich einen Umsatz von über 600 Milliarden US Dollar erwirtschaften.13 Da Halbleiter ein sehr breites Anwendungsspektrum haben, ist die Branche stark mit der übrigen Weltwirtschaft vernetzt. Die stärkste Vernetzung besteht dabei mit der globalen Daten- und Kommunikationsindustrie, die im Jahr 2021 voraussichtlich rund zwei Drittel des gesamten Halbleiterumsatzes ausmachen In der EU liegt der Umsatz dieser beiden Branchen nur etwa bei einem Drittel des Gesamtumsatzes. Die größten Abnehmer von Halbleitern in der EU sind die Automobilbranche und die Industrieelektronik, die zusammen einen Anteil von 63 Prozent an allen EU weiten Käufen ausmachen.14 Da der europäische Automobilsektor mit am stärksten von dem Mangel betroffen ist, gibt es erhöhten Handlungsbedarf gerade mit Hinblick auf die Arbeitnehmer.

Mit zunehmenden geopolitischen Spannungen insbesondere zwischen den USA und China verschärft sich der technologiepolitische Wettkampf, bei dem die Halbleiterproduktion einen Schwerpunkt bildet Zudem sind die Lieferketten für Halbleiter sehr komplex. Kein einzelner Staat und keine einzelne Region ist derzeit autonom in der Halbleiterproduktion. 75 Prozent der globalen Halbleiterproduktionskapazität liegt in Südostasien. Taiwan dominiert die Produktion von Chips unter 10 nm und deckt damit fast die Hälfte des weltweiten Angebots in diesem Segment ab. Der größte Hersteller im Bereich von 10 18 nm ist Südkorea, während China bei den größeren Strukturgrößen (>18 nm) einen erheblichen Anteil hat.15 Trotz ihrer beeindruckenden Produktionskapazitäten beherrschen Staaten wie Taiwan, Südkorea und China den Halbleitermarkt nicht. Die USA sind beispielsweise dominierend im

10 AlixPartners (2021) Shortages related to semiconductors to cost the auto industry $210 billion in revenues this year, says new AlixPartners forecast Report. 23. September. New York.

11 Bundeamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (2022) Anhang VII der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 (in der durch Verordnung (EU) 2022/328 ergänzten Fassung) gemäß Art. 2a Abs über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren. 1. Verordnung des Rates. 25. Februar. Brüssel.

12 European Union (2022). Official Journal of the European Union, L 111 8. April. Brüssel.

13 Semiconductor Industry Association (2021): Global Semiconductor Sales Increase 24% Year to Year in October; Annual Sales Projected to Increase 26% in 2021, Exceed $600 Billion in 2022. Report. 3. Dezember. Washington.

14ZVEI Die Elektroindustrie (2021) Discussion Paper. Semiconductor Strategy for Germany and Europe. Oktober. Frankfurt am Main.

15ZVEI Die Elektroindustrie (2021) Zukunftsstrategie und Marktentwicklung | Halbleiterindustrie | Deutschland und Europa.

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entscheidenden Chip Design Bereich und verfügen durch lokale Ansiedlung globaler Chip Hersteller über 14 Prozent der weltweiten Produktionskapazitäten, die sie konsequent weiter ausbauen

Im Vergleich dazu werden in der EU neun Prozent der Chips entworfen und acht Prozent hergestellt. Europa und insbesondere Deutschland haben ihre Stärken im Bereich der Sensoren, Aktuatoren und der Leistungselektronik, die für die Energie und die Mobilitätswende entscheidend sein werden. Weitere Stärken Europas finden sich z. B. bei chemischen Grundstoffen, dem Maschinen und Anlagenbau sowie im Bereich der Kommunikationstechnologien. Vor diesem Hintergrund würde der Aufbau einer geschlossenen Wertschöpfungskette in einer einzelnen Region einer Boston Consulting Group Studie16 zufolge Investments von ca. einer Billion Euro erfordern und zu einer signifikanten Verteuerung von Mikroelektronik im Bereich von 35 bis 65 Prozent führen. Eine vollständig geschlossene Wertschöpfungskette in jeder Region ist nicht notwendig, um die eigene technologische Souveränität zu gewährleisten. Eine gegenseitige Abhängigkeit gepaart mit alternativen resilienten Ansätzen ist ausreichend. Funktionierende globale Wertschöpfungsnetzwerke sind eine Grundvoraussetzung für eine weiterhin hohe Innovationsgeschwindigkeit und bezahlbare Halbleiterprodukte.

Der weltweite gravierende Halbleitermangel wird in absehbarer Zukunft voraussichtlich bestehen bleiben und in der EU vor allem die Automobil und Industrieelektronikbranche am stärksten betreffen. Die folgenden Maßnahmen geben Empfehlungen zur Bekämpfung der Lieferengpässe und zum Erlangen technologischer Souveränität in der komplexen Halbleiter Wertschöpfungskette

2.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Deutschland und Europa müssen für ihre industriellen und staatlichen Akteure in Konflikt und Krisensituationen ein hohes Maß an unabhängiger Handlungsfähigkeit gewährleisten. Dazu gehört neben einer breiten Forschungsbasis auch die Fähigkeit, kritische mikroelektronische Komponenten krisenfest beziehen zu können sei es aus eigener Produktion oder durch Lieferketten, die nicht politisch oder anderweitig manipulierbar sind. Eine solche Resilienz muss in erster Linie durch enge Kooperationen entlang der Halbleiter Wertschöpfungsnetzwerke und durch einen ausbalancierten und diversifizierten Zugang aller Branchen zu Produktionskapazitäten sowie Rohstoffen erreicht werden.

Deutschland ist als Forschungsstandort mit seiner engen Vernetzung von technischen Hochschulen, Forschungsinstituten und Unternehmen in einer guten Ausgangslage, die nun aber auch wirtschaftspolitisch gezielt genutzt werden muss. Dies bedeutet zum einen, bestehende Produktionskapazitäten zu erweitern und Kompetenzen insbesondere beim Chip Design aus und aufzubauen. Vorhandene Design Kompetenzen für Hardware, Embedded Software und Automatisierungslösungen sollten beginnend bei Universitäten auf breiter Basis ausgebaut werden. Durch die Generierung von produktspezifischem IP für die europäische Halbleiter Wertschöpfungskette u. a. basierend auf dem Open Source Ansatz RISC V sollten die Kompetenzen bei Halbleiterlösungen für die wichtigen nationalen Sektoren Automobil, Maschinenbau, Elektronik, Energie, Sicherheit und Kommunikation weiter verbessert werden.

Daneben müssen bestehende Stärken ausgebaut werden, die sich aufgrund der ausgeprägten europäischen Systemintegrationskompetenz ergeben. Denn den Begriff „Leading Edge“ nur auf Halbleiter Strukturgrößen von unter fünfnm anzuwenden, wäre falsch. So sind z. B. die bedeutenden Leistungs halbleiter weit jenseits von fünfnm und Sensorzellen im Bereich von bis zu 350 nm in ihren Klassen „Leading Edge“. Gleichzeitig sind Chips auf Basis von Strukturgrößen < fünfnm im Bereich AI / ML,

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16 Boston Consulting Group and SIA (2021) Strengthening the Global Semiconductor Supply Chain in an Uncertain Era April.

5G / 6G und HPC „Leading Edge“. Daher muss das Design, die Schaffung geistigen Eigentums und die Produktion im Bereich eines richtig verstandenen „Leading Edge“ Konzeptes ausgebaut werden. Daneben bedarf es gezielter Förderung von IP Entwicklung im Bereich 5G / 6G, Edge Computing / Edge AI, Elektromobilität, Cybersicherheit, KI sowie Raumfahrt und Verteidigung, um Schwächen zu adressieren und bestehende Potenziale zu nutzen.

Das Thema Halbleiter / Mikroelektronik darf nicht als separates Themenfeld im Bereich F&E verstanden werden, sondern muss als ein Kernaspekt technologischer Souveränität integraler Bestandteil der nationalen und europäischen Industriestrategie sein. Kernkompetenzen im Bereich Halbleiter sind unerlässlich nicht nur für die industrielle Zukunft Europas, sondern auch für die Erreichung der ambitionierten Nachhaltigkeitsziele der EU. Nur durch die zielgerichtete Entwicklung von energieeffizienten Halbleitertechnologien vor allem in den Sektoren Industrie, Automobil und Energie, kann der Europäische Green Deal erfolgreich umgesetzt werden. Der Leistungselektronik kommt dabei als Schlüssel technologie ebenso eine zentrale Rolle zu wie den effizienten Prozessoren. In diesem Kontext ist es wichtig, dass die gesamte Wertschöpfungskette einbezogen wird, einschließlich zentraler Input Materialien, wie z. B. Polysilizium und Silizium Karbid basierte Halbleiter. Neben den Zielen des EU Green Deals ist auch die Sicherung europäischer Infrastrukturen vor Cyberangriffen mittels leistungsfähiger Hardware von Bedeutung.

EU Chips Act

Bis 2030 soll die Halbleiterproduktion in Europa gemäß dem Zielbild der Europäischen Kommission mindestens 20 Prozent der Weltproduktion betragen. Um dieses Ziel zu erreichen, stützt sich die aktuelle europäische Halbleiterstrategie auf zwei Initiativen. Die Allianz für Prozessoren und Halbleitertechnologien soll als Dachorganisation fungieren, in der politische Entscheidungsträgerinnen und träger, Forschungsorganisationen sowie Branchenführer an der Entwicklung einer Roadmap für ein europäisches Halbleiter Ökosystem arbeiten. Der von der Europäischen Kommission am 8. Februar 2022 veröffentlichte Entwurf des European Chips Act zielt darauf ab, ein „modernes europäisches Chip Ökosystem einschließlich der Produktion“ zu schaffen. Ausgestattet mit 43 Milliarden Euro, hat der EU Chips Act das Potenzial, Europa als globalen Player in der Chipfertigung zu stärken und die ökologische und digitale Transformation des Standortes Europa erfolgreich voranzutreiben. Das EU Chipgesetz umfasst drei Dimensionen: (i) Stärkung von Forschung und Innovation für Halbleiter (durch elf Milliarden Euro in Chips for Europe), (ii) Förderung von First of a Kind Fabriken für Halbleiter in Europa und (iii) Monitoring und Maßnahmen für Krisen Modus wie Exportbeschränkungen Informations und Auftragsverpflichtung. Insbesondere vor dem Hintergrund des globalen Wettbewerbs erachtet die deutsche Industrie die Aussicht auf öffentliche Unterstützung für den Aufbau eines europäischen Halbleiterökosystems, insbesondere europäischer First of a Kind Anlagen, als sehr positiven Schritt zur Erreichung der Resilienz der Lieferkette. Wir begrüßen die geforderte Transparenz entlang der Chiplieferketten Gleichzeitig erachtet die deutsche Industrie die Maßnahmen des Krisenmodus (Allokation beziehungsweise Monopolisierung des Kaufs von Chips einschließlich der staatlichen Definitionshoheit) als ordnungspolitisch sowie wettbewerbsrechtlich bedenklich. Das EU Chipgesetz sollte vielmehr internationale Allianzen mit gleichgesinnten Partnern stärken, etwa durch Handelsabkommen, die auf gegenseitigen Abhängigkeiten beruhen.

Neben der Europäischen Union streben derzeit auch mehrere andere Länder insbesondere die Vereinigten Staaten und China eine Erhöhung ihrer Halbleiterproduktionskapazitäten an. Eine allgemeine Erhöhung der Halbleiterproduktionskapazitäten ist angesichts der steigenden Nachfrage in allen Branchen von größter Bedeutung. Daher werden das „Important Project of Common European Interest“ Mikroelektronik und Kommunikationstechnologien (IPCEI ME/CT), für das derzeit Vorschläge

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bewertet werden sowie der Vorschlag der Europäischen Kommission für einen EU Chip Act als strategischer Rahmen sehr begrüßt. Nichtsdestotrotz sollten die Europäische Kommission und die EU Mitgliedstaaten globale Wertschöpfungsketten statt Protektionismus und globale Kooperation statt eines globalen Subventionswettlaufs anstreben. Während die Unternehmen auf globaler Ebene einen erheblichen Halbleitermangel erleben, sollte die halbleiterbezogene Politik und die Initiativen der verschiedenen Regionen und Länder weltweit aufeinander abgestimmt werden, um sicherzustellen, dass das globale Halbleiterangebot in Zukunft der globalen Nachfrage entspricht.

Das Halbleiter Ökosystem ist global aufgestellt. Initiativen, wie das Transatlantic Trade and Technology Council (TTC), sollten daher verstärkt genutzt werden, um die Kernkompetenzen von Europa und Nordamerika zu stärken und gleichzeitig enger zusammenzuarbeiten. Eine engere transatlantische Kooperation ist eine entscheidende Voraussetzung, um die Wettbewerbsfähigkeit der Halbleiterindustrie in beiden Regionen zu stärken. Zur Verbesserung der Zusammenarbeit sollten internationale Standardisierungs Roadmaps und technische Normung vorangetrieben werden. Zudem sollten gleiche Marktzugangs und Wettbewerbsbedingungen sichergestellt werden. Konkret bedeutet das einen gegenseitigen Abbau von Investitionshemmnissen, die Vermeidung neuer Handelsbeschränkungen sowie die Koordinierung von Exportkontrollmaßnahmen. Ein weiterer relevanter Punkt ist die Entwicklung gemeinsamer Strategien zur Sicherung der Halbleiterlieferkette sowie ein gemeinsames Verständnis von „Leading Edge“ Halbleitern, um sicherzustellen, dass öffentliche Investitionen (Zuschüsse und Steueranreize) den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen aller Industriesektoren entsprechen. Vor diesem Hintergrund befürwortet die Transatlantic Business Initiative (TBI) des BDI die jüngste Änderung der Europäischen Kommission des befristeten Rahmens für staatliche Beihilfen zur Unterstützung nationaler Halbleiterprojekte im Rahmen des Wiederaufbaufonds.

3. Daten, Cloud & Edge

3.1 Ausgangslage

Die Verfügbarkeit vertrauenswürdiger Dateninfrastrukturen stellt eine wichtige Voraussetzung für die Förderung einer verantwortungsvollen Datennutzung, das Heben von Innovationpotenzialen sowie die Wahrung der digitalen Souveränität von Staat, Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen dar. Von besonderer Bedeutung sind dabei vertrauenswürdige Cloud Infrastrukturen, da cloud basierte Lösungen aufgrund ihrer Performanz und Skalierbarkeit viele innovative Geschäftsmodelle und Dienste (etwa im Bereich eGovernment) überhaupt erst möglichen. Verlässliche, sichere und datenschutzkonforme Cloud Lösungen sind daher in Zeiten einer unaufhaltsam fortschreitenden Digitalisierung unabdingbar. Bis dato ist der Cloud Markt allerdings stark von US amerikanischen Anbietern dominiert.17 Eine Stärkung europäischer Cloud Kompetenzen ist daher von hoher Bedeutung.

Eine zunehmende Relevanz kommt darüber hinaus Edge Computing Lösungen zu, bei denen die Daten dezentral „am Rand“ eines Netzwerks, d. h. auf der Ebene der einzelnen Komponenten (z. B. Endgeräte, Sensoren, Mikrokontroller), verarbeitet werden. Zu den Vorteilen einer solchen Netzwerkarchitektur zählen unter anderem minimale Latenzzeiten, sodass Daten praktisch in Echtzeit analysiert und verarbeitet werden können. Diese Eigenschaften führen dazu, dass Edge Computing Lösungen auch im industriellen Umfeld von großer Bedeutung sind. Auch branchenübergreifend wird diese Relevanz in den kommenden Jahren noch deutlich zunehmen, da Schätzungen zufolge künftig 80

17 Statista

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(2022). Marktanteile der führenden Unternehmen am Umsatz im Bereich Cloud Computing weltweit im 2. Quartal 2022 2. August.

Prozent der Daten lokal verarbeitet werden.18 Europäische Unternehmen weisen bei Edge Technologien besondere Stärken auf, sodass eine sehr gute Ausgangssituation besteht, um dauerhaft eine führende Rolle im Bereich des Edge Computings einzunehmen. Dem Aufbau souveräner europäischer Datenökosysteme kommt auch vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung zu, um sowohl bestehende Fähigkeitslücken (im Bereich des Cloud Computings) zu schließen als auch vorhandene Stärken (im Bereich des Edge Computings) weiter auszubauen.

Um das Potenzial souveräner europäischer Datenökosysteme vollends ausschöpfen zu können, bedarf es neben einer Stärkung technologischer Grundlagen und Schlüsselkompetenzen zudem rechtsicherer und praktikabler Rahmenbedingungen für den Transfer und die Verarbeitung von Daten innerhalb transnationaler Wertschöpfungsnetzwerke. Gerade für die global hochgradig vernetzte deutsche Industrie ist diese Voraussetzung von überragender Bedeutung. Mit dem „Schrems II“ Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 16. Juli 2020 (Rechtssache C 311/18 Schrems II / Privacy Shield) ist das rechtliche Fundament für internationale Datenübertragungen brüchig geworden. Die Konsequenzen des Schrems II Urteils des EuGHs wirken sich nach wie vor massiv auf die weltweit vernetzte deutsche Wirtschaft aus. Die Rechtsunsicherheiten bei internationalen Datentransfers hemmen die digitalen Innovationen der Wirtschaft, z. B. die (Weiter )Entwicklung datengetriebener Geschäftsmodelle sowie grenzüberschreitende Datennutzung und Kooperationen, die zum Erhalt und Wiederaufbau der zurzeit besonders belasteten Wirtschaft von größter Bedeutung sind. Die Folgen des Schrems II Urteils spüren neben größeren auch kleinere und mittlere Unternehmen, die Daten in der Cloud speichern, Software US amerikanischer Anbieter einsetzen, auf sozialen Netzwerken präsent sind und Webkonferenzsysteme internationaler Anbieter nutzen. Insofern ist die grundsätzliche Einigung zwischen der EU und den USA vom 25. März 2022 zur Schaffung eines „Trans Atlantic Data Privacy Framework“ ein erster Schritt in Richtung einer neuen Rechtsgrundlage für den Transfer personenbezogener Daten in die USA, aber noch keine finale Lösung. Eine neue Rechtsgrundlage für den Transfer ist dabei auch nicht vor Ende 2022 zu erwarten.

3.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Vor dem Hintergrund des bestehenden internationalen Wettbewerbs ist der Aufbau einzelstaatlicher Lösungen innerhalb der EU auf Dauer nicht erfolgversprechend. Stattdessen muss konsequent ein gesamteuropäischer Ansatz verfolgt werden. Europa sollte im Cloud Bereich nicht das Ziel verfolgen, einen europäischen Hyperscaler nach dem Vorbild bestehender US-amerikanischer und chinesischer Modelle nachzubauen Stattdessen kommt es darauf an, die Entstehung vertrauenswürdiger Dateninfrastrukturen zu fördern, die auf europäischen Wertvorstellungen basieren und allen Marktteilnehmern offenstehen, die definierte technische und regulatorische Kriterien erfüllen. Der in der Europäischen Datenstrategie vorgesehene „europäische Cloud Zusammenschluss“, laufende Projekte wie beispielsweise Gaia X sowie das von der Bundesregierung auf EU Ebene maßgeblich vorangetriebene Important Project of Common European Interest zum Aufbau der nächsten Generation von Cloud Infrastrukturen und Services in Europa (IPCEI CIS), das dediziert auch Edge Technologien mit einschließt, stellen vor diesem Hintergrund wesentliche Ansätze zur Stärkung der europäischen Souveränität im Bereich des Cloud und Edge Computings dar, die vom BDI ausdrücklich unterstützt werden.

Hinsichtlich der rechtsicheren Datenübertragung auf internationaler Ebene können adäquate Lösungen nur auf der politischen Ebene gefunden werden, durch Angemessenheitsbeschlüsse, zuvörderst

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18 BMWK (2021). IPCEI Nächste Generation Cloud Infrastrukturen und Services | Europa gemeinsam auf dem Weg zur Cloudinfrastruktur der Zukunft. 25. Mai.

durch eine zügige Erarbeitung des „Trans Atlantic Data Privacy Frameworks“ für den EU US Datentransfer als schnelles Nachfolgeabkommen zum EU US Datenschutzabkommen „Privacy Shield“ erreicht werden. Zudem sollte die EU Kommission ihre Anstrengungen auch im Hinblick auf weitere Drittstaaten verstärken. Hierzu sollten neben dem Erlass von Angemessenheitsbeschlüssen für konkrete Drittstaaten auch die EU Standarddatenschutzklauseln (Standard Contractual Clauses, SCC) anwenderfreundlicher überarbeitet werden, um so datenschutzkonforme, internationale Datentransfers zu vereinfachen und weitere Entwicklungen in einer globalisierten Wirtschaft digital und analog zu fördern.

4. Rohstoffpolitik

4.1 Ausgangslage

Rohstoffe sind Schlüssel zur Erreichung des Green Deal

Rohstoffe stehen am Anfang der Wertschöpfungskette aller innovativen Technologien und Anwendungen. Ohne Rohstoffe keine Digitalisierung und Industrie 4.0, keine Energiewende und E Mobilität, kein Green Deal, keine Erreichung der Pariser Klimaziele. Die europäische Industrie ist daher auf eine sichere und nachhaltige Rohstoffversorgung angewiesen. Die wachsende Bedeutung von Zukunftstechnologien für eine dekarbonisierte, digitale Wirtschaft und Informationsgesellschaft führt weltweit zu einem stark steigenden Rohstoffbedarf, vor allem an metallischen und mineralischen Rohstoffen. Pro Zukunftstechnologie, welche beispielsweise in Windkraftanlagen oder E Autos zum Einsatz kommen, wird eine größere Anzahl verschiedener Rohstoffe benötigt. Auch strategische Schlüsselbranchen wie Sicherheit und Verteidigung sind auf kritische Rohstoffe angewiesen. Dieser Bedarf wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Jedoch wird der freie und faire Zugang zu Rohstoffen oftmals durch handelsverzerrende staatliche Maßnahmen behindert. Zusätzlich erschweren hohe Länderkonzentrationen bei kritischen Rohstoffen einen sicheren Rohstoffzugang. Erschwerend hinzu kommt eine verstärkte geopolitische Zuspitzung.

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Verfügbarkeitsrisiko von Rohmaterialien nach Technologien und Sektoren
Quelle: Europäische Kommission

Kritikalität bei Metallen für Zukunftstechnologien

Europa ist reich an Rohstoffen, hat aber signifikante Importabhängigkeiten bei vielen kritischen Metallen. Dabei konzentriert sich die Gewinnung und Verarbeitung dieser für Zukunftstechnologien notwendigen Rohstoffe häufig auf wenige Länder wie China (Seltene Erden), die Demokratische Republik Kongo (Kobalt), Chile (Lithium) oder Südafrika (Platingruppenmetalle).

Wichtigste Lieferländer von kritischen Rohstoffen an die EU

*Anteil an weltweiter Produktion

Quelle: Europäische Kommission

Die Liste der kritischen Rohstoffe der EU Kommission umfasst mittlerweile 30 Rohstoffe (Stand 2020), 2010 waren es noch 14. Rohstoffe wie Lithium oder Kobalt für die Energieerzeugung wurden neu aufgenommen. Die Kritikalität eines Rohstoffs bemisst sich laut EU Kommission aus der Relevanz für die industrielle Endverwertung in der EU, die Substituierbarkeit und Recyclingfähigkeit sowie potenzielle Versorgungsrisiken durch eine hohe Konzentration der globalen Produktion in einem Land, eine hohe Importabhängigkeit der EU, Handelsbeschränkungen und die politische Governance in einem Land (inklusive Umwelt und Menschenrechtsaspekten)

Wachsende Rohstoffnachfrage und steigende Preise

Gleichzeitig wächst die Rohstoffnachfrage weltweit. Als Folge der zunehmenden Nutzung von Elektrofahrzeugen, mobilen Elektrogeräten und stationären dezentralen Energiespeichern wird laut EU Kommission erwartet, dass allein die Nachfrage nach Lithium Ionen Batterien in den nächsten zehn Jahren jährlich um mehr als 30 Prozent ansteigen wird.

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14

Lithium*

Dysprosium

* des raffinierten Angebots (Stufe II) anstelle des Erzangebots (Stufe I)

Anstieg der Nachfrage nach gesamtem Graphit im Verhältnis zu natürlichem Graphit

Graphit**

Szenario mit hoher Nachfrage

Szenario mit mittlerer Nachfrage

Szenario mit geringer Nachfrage

Quelle: Europäische Kommission

Die hohe Nachfrage und ein zugleich begrenztes Angebot führen zu steigenden Preisen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung19 könnten die Preise für Kobalt bis zum Jahr 2030 um bis zu 500 Prozent steigen, bei Lithium um bis zu 180 Prozent, bei Nickel um rund 160 Prozent und bei Kupfer um rund 70 Prozent. Europa steht hier als Käufer im Wettbewerb mit anderen Weltwirtschaftsmächten.

19 DIW (2022). DIW Wochenbericht Nr. 4/2022. Daten basierend auf Quellen der International Energy Agency, Schwerhoff und Stuermer (2020), US Geological Survey, IWF.

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Wachsender Rohstoffbedarf x mal mehr x mal mehr x mal mehr x mal mehr x mal mehr x mal mehr
**
Kobalt
Neodym Nickel

4.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Um den strategischen Abhängigkeiten entgegenzuwirken, müssen die vielfältigen Ursachen in den Blick genommen werden: Neben der global steigenden Rohstoffnachfrage und der Konzentration von Lager , Gewinnungs und Verarbeitungsstätten sind auch Konsolidierungsprozesse im europäischen Bergbau, ein fehlendes globales Level Playing Field, die Zunahme staatlicher Eingriffe sowie geringere Investitionen in neue Explorationsprojekte zu nennen. Im Bereich Bergbau stellen sich zudem Herausforderungen durch den langen und risikoreichen Zeithorizont von Projekten, mögliche Veränderungen beim Bedarf und Disruptionen durch Innovationen, ebenso durch die Bindung an Lagerstätten, die hohen Eintrittsbarrieren und Preissetzungsmonopole. Schließlich fehlt gesellschaftliches Bewusstsein und Akzeptanz für die heimische Rohstoffförderung.

Drei-Säulen-Strategie der nachhaltigen Rohstoffversorgung

Um die strategischen Abhängigkeiten zu verringern, ist es entscheidend, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten alle drei Säulen einer nachhaltigen Rohstoffversorgung verfolgen, d. h. erstens, die Stärkung der heimischen Rohstoffgewinnung, zweitens die Sicherung eines fairen Zugangs zu Rohstoffen aus dem Ausland und drittens den Ausbau der Kreislaufwirtschaft.

EU-Aktionsplan und Rohstoffallianz: Die EU hat im Herbst 2020 einen Aktionsplan zu kritischen Rohstoffen verabschiedet, um Verwundbarkeiten in der Rohstoffversorgung zu verringern. In Rahmen dessen hat die EU im September 2020 die European Raw Materials Alliance (ERMA) gegründet. Die ERMA arbeitet an der Entwicklung einer Investitions Pipeline für eine europäische Wertschöpfungskette für Seltene Erden und Permanentmagneten für E Autos. In Bezug auf Seltene Erden sollen durch identifizierte europäische Projekte bis zu 20 Prozent des europäischen Bedarfs an Rohstoffen bis 2030 gedeckt werden. Generell sind Vorkommen der verschiedenen

kritischen Rohstoffe in der

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benötigten
6 14 35 106 37 217 16 8 44 38 13 Kupfer Nickel Kobalt Lithium 2020 2030 2040 Quellen: DIW/Boer, International Energy Agency, Schwerhoff und Stuermer, US Geological Survey, IWF * in Tausend US Dollar pro Tonne Preisentwicklung bei Netto Null Emissionen Szenario*

EU vorhanden. So zeigt das Beispiel Lithium, dass eine Förderung auch in Deutschland, Tschechien und Serbien möglich ist.

Europäische

Deutschland

Tschechien

Serbien

Spanien

Österreich

Finnland

*Stand 2021 in Tonnen Quelle: Handelsbaltt

Eine hochrangige Arbeitsgruppe zu Magnesium, einem für viele Branchen wie z. B. die Automobilindustrie wesentlichen Rohstoff, soll Ideen dafür entwickeln, dass 15 Prozent der weltweiten Produktion bis 2030 in Europa stattfindet. Dabei stellt allerdings weniger das Vorkommen und Extraktion des Primärrohstoffs eine Herausforderung dar als die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der Metallproduktion insgesamt, beispielsweise mit Blick auf die Energiepreise. Auch müssen Planungs und Genehmigungsverfahren auf nationaler beziehungsweise regionaler Ebene beschleunigt und vereinfacht werden. Zwei Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) im Bereich Batterien umfassen zudem bereits Projekte mit Blick auf nachhaltigen Bergbau, Veredelung und Recycling. Ein eigenes IPCEI zu kritischen Rohstoffen ist aus Sicht der Industrie zu begrüßen und wäre entlang der IPCEIKriterien auszugestalten

Investitionen / Finanzierung: Dabei spielt auch das Thema Investitionen beziehungsweise. Finanzierung eine Rolle. Der EU und den Mitgliedstaaten stehen verschiedene Fonds zur Verfügung, welche für Rohstoffprojekte eingesetzt werden könnten, so beispielsweise die Recovery and Resilience Facility (RRF), das Programm NextGenEU, der Venture Fond InnoEnergy oder Programme von EIB und EBRD. Zusätzlich ist seitens ERMA ein eigener Fonds speziell für Investitionen in kritische Rohstoffe geplant und auch die Europäische Batterieallianz hat angekündigt, einen Investitionsfonds in der Höhe von 400 Millionen Euro für nachhaltige Batteriematerialien einzurichten. Eine Einsatzmöglichkeit könnte die Beteiligung an außereuropäischen Minen sein. Aus Sicht der deutschen Industrie wäre dabei die Verzahnung der verschiedenen Finanzierungsaktivitäten sowie die Ausgestaltung des Fonds nach marktwirtschaftlichen Prinzipien zentral. Im Rahmen der EU Taxonomie muss verhindert werden,

Europäische Souveränität stärken | Zur offenen strategischen Autonomie 17
2.700.000 1.300.000 1.200.000 300.000 270.000 50.000 50.000
Portugal
Lithium Reserven*

dass der Bergbau als nicht nachhaltig eingestuft und entsprechend Investitionen in Explorations und Abbauprojekte erschwert werden. Die beschlossenen EU Grundsätze für nachhaltige Rohstoffe illustrieren dabei das Verständnis der Mitgliedstaaten in Bezug auf die nachhaltige Rohstoffgewinnung (von der Exploration bis nach der Stilllegung) und Verarbeitungstätigkeiten. Mögliche Kriterien sollten den wesentlichen Beitrag von umweltverträglichen Bergbau , Verarbeitungs und Recyclingaktivitäten zu den Zielen des Green Deals der EU anerkennen.

Strategische Rohstoffpartnerschaften: Schließlich setzt die EU auf strategische Rohstoffpartnerschaften. Bislang wurden diese mit Kanada und der Ukraine geschlossen. Weitere sind für Serbien, interessierte Länder in Afrika sowie deren Nachbarschaft geplant. Entscheidend wird sein, verschiedene Marktzugänge zu Drittstaaten zu erreichen. Die EU sollte sehr zügig nachhaltige Rohstoffallianzen mit afrikanischen Partnern schmieden, privatwirtschaftliches Engagement politisch flankieren und sowohl durch Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit für Regierungsbehörden und lokale Unternehmen vor Ort als auch Finanzierungsinstrumente wie Garantien für europäische Unternehmen unterstützen. Diversifizierung mit relevanten Drittmärkten muss durch einen Abbau handelspolitischer Hürden gefördert werden. Die europäischen Rohstoffinteressen müssen sich folglich in der EU Handelspolitik sowie der (Energie / Industrie )Außenpolitik, gerade auch mit gleichgesinnten Partnern wie den USA, Japan und anderen wiederfinden.

Die politischen Aktivitäten können Unternehmen insbesondere bei den Themen Diversifizierung, Rohstoffmonitoring für kritische Rohstoffe sowie Lagerhaltung (z. B. durch steuerliche Incentivierung) unterstützen und marktwirtschaftliche Anreize für Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft setzen.

5. Energieversorgung

5.1 Ausgangslage

Zeitenwende für Europas Energieversorgungssicherheit

Energiewirtschaftliche Fragen sind auf europäischer Ebene zur geopolitischen Strategie und Sicherheitsfrage geworden. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht die Energieversorgungssicherheit Europas unter harter Prüfung und zeigt vergangene Fehleinschätzungen über die geopolitischen und ideologischen Motivationen Russlands auf. In den letzten Jahren wurde nicht weniger, sondern mehr Energie aus Russland importiert und zu wenige Alternativen geschaffen. Dies führte zu beträchtlichen Abhängigkeiten gegenüber Russland, insbesondere bei den Gaslieferungen. Lange wurden marktwirtschaftliche Interdependenzen und die sogenannte „Friedensdividende“ als ausreichende Absicherungsmechanismen für die europäische Versorgungssicherheit angesehen (“Wandel durch Handel”). Obwohl die EU historisch ihre Handelsbeziehungen und Diplomatie erfolgreich als außenpolitisches Instrument benutzen konnte und es auch immer noch tut, ist eine geopolitische Verschiebung hin zu mehr Realpolitik unvermeidlich und benötigt nun auch in der Energiepolitik eine neu ausgerichtete politische Haltung.

Die Marktanteile Russlands bei der EU Energieversorgung verdeutlichen die im Laufe der Jahre entstandene Asymmetrie zwischen den beiden Austauschpartnern. Im Jahr 2021 deckten russische Lieferungen 39 Prozent der gesamten europäischen Gas Importe, 29 Prozent der Öl Importe und über die Hälfte der Kohle Importe. Andere Bezugsländer für Europas Gasbedarf sind Norwegen (21 Prozent), Algerien (acht Prozent) und Qatar (fünf Prozent). Durch eine höhere Flexibilität im internationalen Ölmarkt kann die EU aus weitgelegeneren Regionen wie die USA (neun Prozent), Norwegen (acht Prozent), Saudi Arabien (sieben Prozent), das Vereinigte Königreich UK (sieben Prozent), Kasachstan

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18

und Nigeria (beide sechs Prozent) beziehen.20 Innerhalb der EU zeigen sich jedoch große Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten im Ausmaß der jeweiligen Abhängigkeiten. So ist das Industrieland Deutschland als größter Abnehmer von russischer Energie größeren wirtschaftlichen und geopolitischen Risiken ausgesetzt als z. B. Frankreich. Ein solidarisches und abgestimmtes Handeln aller Mitgliedstaaten sollte daher im gemeinsamen Interesse sein.

Wachsende Energienachfrage und anhaltend hohe Preise

Die militärische Instrumentalisierung von Energielieferungen ist nicht die einzige Erklärung für die Notwendigkeit einer verbesserten europäischen Energieversorgungssicherheit. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2021 sind die Energiepreise in der EU und weltweit stark angestiegen. Dies stellte die europäische Industrie bereits vor dem Krieg in der Ukraine vor große Herausforderungen. Die Situation ist mehreren konkordanten Faktoren zuzuschreiben: erhöhter post pandemischer Gasverbrauch in Asien (insbesondere Anstieg der LNG Nachfrage) und ein kalter Winter 2020/21, die durch die geopolitischen Anspannungen mit Russland und Öl und Kohle Embargo noch weiter verschärft wurden. Dass die Energiepreiskrise sich auf absehbare Zeit nicht entschärfen wird, zeigen die hohen Terminpreise für die nächsten Jahre. Die hohen Energiekosten treffen europäische Industrien besonders hart. In manchen Sektoren sind die Produktionskosten um fast 50 Prozent gestiegen.21 Insbesondere energieintensive Unternehmen stellt dies vor enorme Herausforderungen. Diese Aussichten sind nicht nur für die deutsche Industrie ein Problem. Vielmehr stellen sie ein Risiko für europäische und globale Lieferketten dar. Die Auswirkungen einer Produktionsstörung in einem Sektor kann negative Auswirkungen bis hin zum Produktionsstopp auch auf vor wie nachgelagerte Industriezweige haben. Dieser “Kaskadeneffekt” könnte z. B. infolge einer Produktionskrise in der Chemieindustrie geschehen, deren Erzeugnisse in 90 Prozent aller Produktionsprozesse in anderen Fertigungsbereichen benötigt werden.

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22 20 Eurostat (2020). From where do we import energy? Brüssel. 21 Eurostat (2021). Energy statistics an overview . Brüssel. 22 Ntv.de (2022). Chemieverband kritisiert Vorrang für Privathaushalte | Debatte um Gas Verteilung 11. Juli. Köln. 0 50 100 150 200 250 300 Quelle: Macrobond Europäische Gaspreisentwicklung von Juli 2020 bis Juni 2022

Robuste Lieferketten sind dabei von besonderer Bedeutung bei der Umsetzung der Energiewende.22 Der Zugang zu kritischen Rohstoffen ist mitentscheidend für einen erfolgreichen Ausbau einer nachhaltigen Energieversorgung. Diesem Aspekt muss u. a. die europäische Handelspolitik und Rohstoffstrategie Rechnung tragen.

Systemwechsel im Energiemarkt

Zurzeit stehen die EU und Deutschland vor einer dreifachen Herausforderung: die geopolitische Krise mit Russland und die daraus resultierenden unmittelbare Energiekrise, die Bekämpfung der durch die COVID 19 Pandemie und der heranwachsenden globalen Klimakrise 23 Daher ist ein funktionsfähiger und resilienter Energiesektor für die Aufrechterhaltung des Betriebs kritischer Infrastrukturen und für eine rechtzeitige wirtschaftliche Erholung unerlässlich. Allerdings ist er aufgrund der Marktliberalisierung und der Integration erneuerbarer Energien zunehmend komplexer geworden. Tatsächlich durchläuft der Energiesektor derzeit einen tiefgreifenden Wandel hin zur Dekarbonisierung der gesamten Wirtschaft, getragen von der Entwicklung variabler erneuerbarer Energiequellen wie Wind und Solarenergie. Die bevorstehende Elektrifizierung ganzer Sektoren, wie z. B. des Straßenverkehrs, wird zudem die Schockanfälligkeit und Komplexität des europäischen Energiesystems erhöhen 24 Daher ist es wichtig, die Digitalisierung und Dezentralisierung des Energiesystems zügig voranzutreiben und ein stabiles und grenzüberschreitendes Stromnetz in Europa aufzubauen. So wird der Ausbau des Hochspannungsnetzes in Deutschland und Europa als unbedingt notwendige Maßnahme angesehen, um die zukünftige Stromversorgung zu gewährleisten.25 Die Abkehr vom Erdgas wirft auch große Bedenken hinsichtlich der künftigen Deckung des saisonalen Wärmebedarfs und der Spitzenlastabdeckung in Stromsystemen auf. Bereiche, die auf Gas zum Heizen angewiesen sind, darunter auch Teile der Industrie, sind nicht ohne weiteres durch Elektrizität ersetzbar.

5.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Prioritäten schaffen und die Abstimmung einer koordinierten EU-Energiepolitik

Angesichts der sich zuspitzenden Energienotlage müssen koordinierte Handlungsprioritäten auf EU Ebene ergriffen werden. Die EU Kommission präsentierte am 18. Mai 2022 ihre REPowerEU Initiative, welche kurzfristig die Abfederung hoher Energiepreise und die Gewährleistung der Versorgungssicherheit für den nächsten Winter vorbereiten soll. Langfristig setzt die EU auf eine Beendigung ihrer russischen Energieimportabhängigkeit. Zur Finanzierung des Pakets stellt die EU zusätzliche 210 Milliarden Euro für erstens einen beschleunigten EE Ausbau, zweitens eine Diversifizierung der Energieimporte und drittens Energieeinsparungen zur Verfügung.

Zur Bewältigung der Notlage sollen Endkundenpreise gemildert und stark exponierte Unternehmen unterstützt werden. Dafür stünden Instrumente wie Preisregulierungs und Transfermechanismen zum Schutz der Verbraucher und der Wirtschaft, vorübergehende Besteuerung von Zufallsgewinnen („windfall profits“) oder die Verwendung höherer Einnahmen aus dem Emissionshandel zur Entlastung privater Verbraucher zur Verfügung. Gleichzeitig müssen Vorkehrungen für eventuelle Gasknappheiten im kommenden Winter getroffen werden. Im Industriebereich sieht die EU ein enormes

23 Heffron, R. J., Körner, M. F., Schöpf, M., Wagner, J., & Weibelzahl, M. (2021). The role of flexibility in the light of the COVID 19 pandemic and beyond: Contributing to a sustainable and resilient energy future in Europe Renewable and Sustainable Energy Reviews, 140, 110743.

24 Nolting L. (2021) Die Versorgungssicherheit mit Elektrizität im Kontext von Liberalisierung und Energiewende, Institute for Future Energy Consumer Needs and Behavior RWTH Aachen University

25 Deutsche Energie Agentur (dena) (2022) Abschlussbericht dena Netzstudie_III. Januar. Berlin.

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Gaseinsparungspotential von über 35 Milliarden m3, vor allem in den Bereichen nichtmetallische Mineralien, Zement, Glas und Keramik, Chemieproduktion und Raffinerien 26

Die Substitution von Kohle, Öl und Gas in industriellen Prozessen kann dazu beitragen, die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu verringern und gleichzeitig den Übergang zu saubereren Energiequellen in die Wege zu leiten Kurzfristig zeigt sich allerdings, dass das Substitutionspotenzial von Erdgas in der deutschen Industrie begrenzt ist. Für die nächsten Winter kommt für Unternehmen vor allem leichtes Heizöl als Substitutionsprodukt von Erdgas in Frage. Zur Umstellung auf klimafreundliche Energieträger wie Strom, Wasserstoff oder Biomasse benötigen Unternehmen längere Vorlaufzeiten 27 Bis zur vollständigen Versorgung mit erneuerbaren Energien kann die Energieversorgungssicherheit also nur durch einen intelligenten Mix verschiedener Energiequellen erreicht werden.

Daher bleibt die Frage, welche Beschaffungspartner für Primärenergieträger wie Öl und Gas in Betracht kommen sollten 28 Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) spielt eine entscheidende Rolle beim Ersatz von russischem Erdgas, da es aus weit entfernten Regionen der Welt kommen kann und keine unflexible Infrastruktur wie Pipelines benötigt. Dennoch muss die Importinfrastruktur für LNG (z. B. LNG Terminals) in der EU und insbesondere in Deutschland ausgebaut werden. Diese Infrastruktur können gegebenenfalls als Einspeisepunkt für importierten Wasserstoff genutzt werden.

Die Chance der Energiewende für die Energieversorgungssicherheit

Die Beschleunigung des EE Ausbaus im Rahmen des REPowerEU Pakets und des Green New Deals trägt sowohl zur Verringerung der Emissionen als auch zur Reduzierung der einseitigen Importabhängigkeit der Mitgliedstaaten von fossilen Brennstoffen bei. Die aktuelle Energiekrise ist daher auch eine Chance, die Versorgungssicherheit Europas neu zu positionieren. Da alternative Energien fast überall auf der Welt produziert werden können, ergeben sich Diversifizierungsmöglichkeiten. Die Umsetzung der Energiewende heißt jedoch nicht, dass die EU künftig energieautark sein wird. Sie wird weiterhin auf Energieimporte aus Drittländern angewiesen sein, insbesondere bei grünen Molekülen. Daher gilt es nun, strategische und geopolitische Diversifizierungspläne zu entwickeln, die den kurz- und langfristigen Zielsetzungen der EU entsprechen. Dabei ist es besonders wichtig, dass bei internationalen Energiepartnerschaften sowohl wirtschaftliche Kriterien als auch politische Risiken berücksichtigt werden, um die Anfälligkeit des europäischen Energiesystems gegenüber den geopolitischen Machtverhältnissen autokratischer Regime zu minimieren. Das grundleitende Prinzip sollte jeweils sein, dass kein Land als einziger Bezugspartner bei Energie, Vorprodukten und Rohstoffen auftritt, wie es heute zum Beispiel bei China im Bereich der Solarzellen der Fall ist.29 Ebenfalls müssen politische und gesellschaftliche Themen wie Menschenrechte und Umweltschutzkriterien mit in die Entscheidungsprozesse aufgenommen werden. Allgemein sollten vorbeugende Maßnahmen und Absicherungsmechanismen für den Fall zukünftiger wirtschaftlicher, technischer oder politischer Krisen auf europäischer Ebene getroffen werden.

Zur langfristigen Substitution von russischem Erdgas durch erneuerbare Energien kommen insbesondere Wasserstoff und Biomethan in Frage. Wasserstoff wird vor allem in der Industrie eine große Rolle spielen müssen, insbesondere in den sogenannten „hard to abate“ Sektoren, wo die direkte

26 Europäische Kommission. (2022). REPowerEU: erschwingliche, sichere und nachhaltige Energie für Europa. Brüssel.

27 BDI Erdgas Umfrage (2022). Abteilung Klima und Energiepolitk (unveröffentlichte Umfrage). Juni. Berlin.

28 Lang, J., & Hohaus, P. (2017). Europäische Energiesicherheit Politische Rahmenbedingungen | Industrielle Energiestrategie (pp. 19 34). Springer Gabler, Wiesbaden.

29 Manuel, A., Singh, P., & Paine, T. (2019). Compete, Contest and Collaborate: How to Win the Technology Race with China. The Technology and Public Policy Project. Freeman Spogli Institute for International Relations at Stanford University. Stanford. California.

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Elektrifizierung technisch oder wirtschaftlich kaum möglich sein wird. Unter anderem in der Schwerindustrie und Chemieindustrie bieten „Powerfuels“ (nachhaltige Kraftstoffe) vielversprechende Transformationsmöglichkeiten der zukünftigen Energiesysteme.30 Wasserstoff kann als Energiespeicherlösung für das Stromsystem verwendet werden und trägt zur Sektorenkoppelung der Energiesysteme bei. Daher müssen die Elektrolysekapazität und grenzüberschreitende Wasserstoffinfrastruktur schnell ausgebaut werden sowie pragmatische internationale Normen und flexible Grünstrombezugskriterien erarbeitet werden. Wichtig ist eine Technologieoffenheit beizubehalten, da in der Anlaufphase erneuerbarer und kohlenstoffarmer Wasserstoff parallel produziert werden müssen, um den Hochlauf nicht unnötig zu bremsen. Da grüner Wasserstoff in anderen Teilen der Welt zu wesentlich geringeren Kosten hergestellt werden kann, sind Wasserstoffimporte und Energiepartnerschaften entscheidend. Eine Abschottung des europäischen H2 Marktes sollte in diesem Sinne vermieden werden. Stattdessen muss die EU die Verhandlungen von klaren H2 Standards und Kriterien auf europäischer und internationaler Ebene vorantreiben. Die Diversifizierung der Partnerschaften dient dazu, neue einseitige Abhängigkeiten von wenigen Anbietern zu vermeiden und einen echten und "gesunden" Wettbewerb für den schnellen Hochlauf des Wasserstoffs zu ermöglichen.

Neben einer erhöhten Energiesicherheit bietet die Energiewende der EU die Möglichkeit, sich weiterhin als Vorreiter in der Entwicklung sauberer Technologien zu positionieren und als Technologieexporteur neue Absatzmärkte zu erschließen. Die Industrie wird eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Produktion von Geräten und Komponenten spielen, die für eine schnelle Umstellung des Energiesystems von zentraler Bedeutung sind (z. B. Elektrolyseure). So wie die Dekarbonisierung nicht zu einer Deindustrialisierung Europas führen darf, müssen Maßnahmen zur Versorgungssicherheit die Einbeziehung der Industrie ermöglichen. Um die Technologieführerschaft Europas im Bereich erneuerbarer Energien zu konsolidieren, sollten Entwicklungsprojekte bereits heute gefördert werden, da Innovationen und deren Umsetzung von der ersten Grundlageforschungen über technologische Machbarkeitsstudien sowie Pilot und Demonstrationsanlagen bis hin zur Markteinführung üblicherweise mehr als eine Dekade dauern. Neue Förderinstrumente und stabile regulatorische Rahmenbedingungen sind daher entscheidend, um im internationalen Technologiewettlauf mithalten zu können. Zu den bestehenden politischen Instrumenten zur Umsetzung der Klimaziele und zur Förderung des Technologie und Brennstoffwechsels gehören z. B. Carbon Contracts for Difference (CCfDs), Leitmärkte für grüne Rohstoffe und Quoten für klimaneutrale Produkte. Gleichzeitig muss neben der beschleunigten Einführung dieser Schlüsseltechnologien auch der frühzeitige Aufbau von Infrastrukturen erfolgen (z. B. ein Wasserstoffverteilungsnetz).

6. Weltraumpolitik

6.1 Ausgangslage

NewSpace, die Kommerzialisierung von Raumfahrt und ihre zunehmende Verzahnung mit der Non Space-Wirtschaft, gewinnt weltweit an Bedeutung. Im digitalen Zeitalter ist Raumfahrt Schlüssel für Zukunftstechnologien wie autonomes Fahren, Industrie 4.0, das Internet der Dinge (IoT) oder globale Konnektivität in Echtzeit an jedem Ort der Welt. NewSpace trägt dazu bei, unsere Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltiger, digitaler und innovativer zu machen und die Wettbewerbsfähigkeit in vielen Bereichen zu stärken.

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30 Europäische Kommission (2020). EU reference scenario 2020 | Energy, transport and GHG emissions Trends to 2050. Brüssel.

Für den globalen Umwelt und Klimaschutz und mehr Nachhaltigkeit auf der Erde leistet NewSpace wichtige Beiträge. Satelliten liefern kontinuierlich und über territoriale Grenzen hinweg präzise Daten und Informationen über die Atmosphäre, die Luft und Wasserqualität oder den Zustand von Böden und Pflanzen. Diese Daten tragen erheblich zum besseren Verständnis des Klimawandels und anderer Umweltphänomene bei und unterstützen wirksame Maßnahmen zum Klima und Umweltschutz. Laserkommunikation, Cloud Computing und künstliche Intelligenz helfen dabei, Daten und Informationen schneller und effektiver für individuelle Anwendungen zu nutzen.

Auch zur Erreichung gesellschaftlicher und politischer Nachhaltigkeitsziele wie der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen (UN) kann NewSpace beitragen. Maßgebliche Beiträge kann NewSpace für effektiven Katastrophenschutz sowie präventives und reaktives Krisenmanagement bei Naturkatastrophen wie Überflutungen oder Waldbränden leisten.

NewSpace birgt immenses Potenzial für datenbasierte Geschäftsmodelle, integrierte Wertschöpfungsketten und Innovationen weit über den Raumfahrtsektor hinaus. Bereits heute haben 76 Prozent der deutschen NewSpace Unternehmen Kunden außerhalb der Raumfahrtindustrie Tendenz steigend. Unternehmen aus Branchen wie Logistik und Verkehr, der Landwirtschaft, der Versicherungsbranche, dem Energiesektor oder der Rohstoffindustrie nutzen satellitenbasierte Daten und Dienste für das Flottenmanagement, die Präzisionslandwirtschaft, die Identifikation und Bewertung von Schäden bei Naturkatastrophen oder für das Monitoring von Infrastrukturnetzen. Für die Stadt und Raumplanung und Smart Cities bietet NewSpace ideale Möglichkeiten.

Als branchenübergreifender Wachstums und Innovationstreiber trägt die Raumfahrt erheblich zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas, zur Schaffung von hochwertigen Arbeitsplätzen sowie zu gesellschaftlichem Wohlstand bei. Raumfahrt ist folglich ein Querschnittsthema von gesamtwirtschaftlicher Relevanz. Dies sollte sich auch in den Strukturen und der Aufstellung der Bundesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden und Institutionen widerspiegeln.

Die breite Vielfalt des NewSpace-Ökosystems in Deutschland und Europa mit einem Mix aus Startups, kleinen und mittelständischen sowie etablierten Unternehmen und Systemintegratoren ist eine große Stärke. Gleichzeitig hat sich der Abstand in der Raumfahrt zwischen Europa auf der einen sowie den USA und China auf der anderen Seite in den letzten Jahren erheblich vergrößert. Ob bei Raketenstarts, dem Aufbau von Mega Konstellationen im All oder in der astronautischen Raumfahrt, nicht europäische Tech Konzerne dominieren erneut. Europa läuft Gefahr, in einem zentralen Zukunftsfeld den Anschluss zu verlieren. Die bestehenden Förderinstrumente sind häufig unflexibel, zu stark auf Forschung fokussiert und stammen oftmals noch aus dem letzten Jahrtausend.

NewSpace ist von strategischer Bedeutung für die außen und sicherheitspolitische Urteils und Handlungsfähigkeit. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Bedeutung satellitenbasierter Daten noch verdeutlicht. Weltraumsysteme sind längst eine kritische Infrastruktur. Ein Ausfall hätte weitreichende gesamtindustrielle Auswirkungen.

Die Zusammenarbeit in der Raumfahrt zwischen Russland und der European Space Agency (ESA) wurde in weiten Teilen beendet, u. a. die Kooperation im Bereich der Sojus Trägerraketen und die Nutzung des europäischen Weltraumbahnhofs in Kourou. Dies ist bedeutsam, weil im vergangenen Jahr mehr Sojus Raketen (7) als originär europäische Raketen (3 Ariane, 3 Vega) unter europäischer Flagge gestartet sind.

Europäische Raketen wie die Vega enthalten Komponenten (insbesondere Triebwerke) aus ukrainischer und russischer Produktion. Ergänzend kommt hinzu, dass der Start der neuen Ariane 6 später

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als ursprünglich geplant erfolgen wird. Im Ergebnis fallen somit Starts mit Sojus und Vega Raketen auf unbestimmte Zeit weg, und Ersatz ist absehbar nicht in Sicht. Gleichzeitig stehen auch weniger US Transportkapazitäten als Alternative zur Verfügung. Ob und wann die neue Ariane Rakete dies kompensieren kann, ist offen. Die bestehende Ariane 5 ist ein Auslaufmodell.

Wer heute nicht investiert, kann morgen nicht mehr souverän handeln und muss später den doppelten Preis zahlen. Die Abhängigkeit von den Sojus Raketen sollte Deutschland und Europa ein warnendes Beispiel sein.

6.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Eine zunehmend datenbasierte und vernetzte Industrie und Informationsgesellschaft ist darauf angewiesen, über die kritischen Infrastrukturen und Dienste jederzeit selbstbestimmt zu verfügen. Der freie Zugang zum Weltraum mit eigenen Trägersystemen ist dabei zwingende Voraussetzung, um die strategische Souveränität Deutschlands und Europas zu gewährleisten. Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine droht Europa seinen Zugang zum All zumindest temporär zu verlieren. Die Zeitenwende in der Sicherheitspolitik ist auch und insbesondere eine Zeitenwende für die europäische Raumfahrt. Die Auswirkungen sind dramatisch.

Europa und die Bundesregierung sollten jetzt dringend handeln. Gerade Deutschland ist in der Verantwortung, weil es über das in Europa führende NewSpace Ökosystem verfügt, die größte Volkswirtschaft mit den entsprechenden Ressourcen besitzt und zudem gesamtwirtschaftlich am stärksten vom Ausfall der Infrastruktur im All betroffen wäre.

Notwendig ist jetzt dringend eine deutliche und nachhaltige Erhöhung des nationalen Raumfahrt Programms, eine Unterstützung der kommerziellen Microlauncher und eine Bereitstellung von Startplätzen in EU Kontinentaleuropa. Die privatwirtschaftliche Initiative für eine europäische Startplattform in der Nordsee war nie relevanter als heute. Dort sollte es eine baldige Genehmigung geben. Deutschland sollte eine Erhöhung des Nationalen Programms für Innovation und Weltraum auf Höhe des französischen Niveaus zügig realisieren. Paris und Berlin sollten für Europa an einem Strang ziehen.

Zudem braucht es einen Systemwechsel in der europäischen Raumfahrt nach amerikanischem Vorbild, bei dem der Staat primär als Kunde auftritt. Staatliche Institutionen könnten durch Ankeraufträge viel stärker von innovativen Lösungen und Diensten profitieren. Aufträge sind die effizienteste und ordnungspolitisch beste Form der Unterstützung.

Dafür braucht es auch die politische Ambition, bestehende Strukturen und Prozesse stärker an der NewSpace Dynamik auszurichten. Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland und Europa auf staatlicher Ebene das Potential noch nicht ausschöpfen.

Die astronautische Raumfahrt wird mit der Rückkehr der Menschen zum Mond weiter an Bedeutung gewinnen. So planen Peking und Moskau gemeinsam eine Mondstation. Im Gegensatz zum zivilen Artemis Programm der USA ist das chinesische Vorhaben militärischer Natur.

Es braucht daher einen europäischen Einstieg in die astronautische Raumfahrt. Europa hat zwar Astronauten, aber keine eigenen Raumfahrzeuge. Allein der Transport von europäischen Astronauten mit SpaceX zur Internationalen Raumstation ISS kostet rund 150 Millionen Dollar. Dabei gäbe es auch in Europa ambitionierte Unternehmen und Start ups, um die Entwicklung von Raumschiffen wettbewerblich zu realisieren. Ohne einen Einstieg in die astronautische Raumfahrt mit eigenen Raumschiffen wird Europa langfristig im All in der Bedeutungslosigkeit versinken.

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7. Sicherheit und Verteidigung

7.1 Ausgangslage

Russland hat mit der Annexion der Krim 2014 und dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine die grundlegenden Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur zerstört, die nach 1990 gemeinsam aufgebaut wurden: das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Achtung der Souveränität anderer Staaten, die freie Bündniswahl sowie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Gleiches gilt für die Prämisse, dass eine enge ökonomische Verflechtung militärische Auseinandersetzungen verhindere. Die regel und rechtsbasierte Ordnung, auf der das moderne Europa fußt, sieht sich nun einem Staat gegenüber, der das Recht des Stärkeren praktiziert.

Der russische Angriff auf die Ukraine macht nicht nur den Wert von Sicherheit und militärischer Abschreckung deutlich. Er zeigt auch, dass es ohne die USA keine Sicherheit und kein Frieden in Europa gibt. Ihre politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung sind entscheidend für den anhaltend ungebrochenen Widerstand der Ukraine. Der starke Beistand der USA kann jedoch, beispielsweise durch innenpolitische Entwicklungen oder strategische Schwerpunktsetzungen, jederzeit reduziert werden. Europäische Diskussionen um eine strategische Autonomie bedürfen daher mehr denn je einer konkreten Umsetzung. Im Zentrum steht dabei, wie die EU Sicherheit gewährleisten und bei künftigen Konflikten glaubhafte Abschreckung bieten kann im Notfall auch ohne Rückgriff auf die transatlantischen Partner.

Das Ziel strategischer Autonomie ist weder die Abkopplung von transatlantischer Sicherheit noch eine übermäßige Aufrüstung zum Zwecke der Abschreckung und Verteidigung. Ziel ist vielmehr die politische Überlebens und Gestaltungsfähigkeit Europas in der Zukunft, die Fähigkeit Sicherheit sowohl im Inneren der Union zu gewährleisten als auch „eigene außen und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen […], um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig, umzusetzen.“ Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, dass hier erheblicher Nachholbedarf besteht. Deutschland und die EU haben sich zu lang in Sicherheit gewogen und in Abhängigkeiten begeben, die ihre Gestaltungs und Handlungsfähigkeit nun erheblich einschränken und einer strategischen Autonomie diametral entgegenstehen.

7.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Eine „Zeitenwende“ muss die Reduktion dieser Abhängigkeiten zum prioritären Ziel haben. Notwendige Bedingungen dafür sind, neben dem politischen Willen und angemessenen institutionellen Strukturen, eigene technologischen Fähigkeiten sowohl militärisch als auch zivil. Diese bilden die unabdingbare Grundlage dafür, kritische Abhängigkeiten zu reduzieren und stattdessen Voraussetzungen für globales Gestaltungspotenzial zu schaffen. Technologische Entwicklung und Innovation müssen somit ins Zentrum der Debatte um die Ausgestaltung der sicherheits und verteidigungspolitischen Autonomie der EU rücken.

Landes- und Bündnisverteidigung

Das Ziel strategischer Autonomie verlangt, dass Schlüsseltechnologien und Produktionsfähigkeiten für die Landes und Bündnisverteidigung von Europa weitgehend selbst bereitgestellt und gesteuert werden. Dafür ist es unabdingbar, dass Wirtschafts und Industriepolitik, insbesondere für den rüstungstechnologischen Sektor, künftig eng mit europäischen Sicherheitsinteressen verzahnt wird. Dabei gilt es, die Bandbreite an Technologien in den fünf Dimensionen Land, Luft und Weltraum, See und Cyber und Informationsraum abzudecken.

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Entsprechend der Logik von Ausstattungs Effizienz, Interoperabilität, Skaleneffekten sowie Kostenteilung braucht es dafür einen engeren Schulterschluss europäischer Staaten. Brüssel setzt dabei nur den Rahmen und schafft Anreize. Die Umsetzung steht und fällt mit den Mitgliedstaaten: Deren Interessen, Strategien und Fähigkeiten sind entscheidend; sie müssen austariert und aneinander angepasst werden. Anders als die Europäische Kommission, haben „Lead Nations“ wie Deutschland und Frankreich das politische Gewicht, die Führungs , Nutzer und Beteiligtenrollen in fairer und ausgleichender Weise durchzusetzen; dieses Gewicht müssen sie nutzen europäische Förderinstrumente darauf anzupassen (und nicht etwa umgekehrt). Kooperationsvorhaben bedürfen zudem eines primären Abgleichs der Anforderungen an das jeweilige Gerät, gefolgt von einer projektspezifischen Synchronisierung der Planungs und Beschaffungsprozesse.

Im Angesicht des Krieges und den Unterstützungsleistungen gegenüber der ukrainischen Armee wird offenbar, wie divers die rüstungstechnologischen Systeme Europas sind und welch ein Hemmschuh sie sein können. Die Variantenvielfalt bedarf daher einer dringenden Reduzierung, die nur durch eine zielgerichtete europäische Rüstungskooperation erreicht werden kann. Auf der Grundlage der NATO und EDA Fähigkeitsplanungen bedarf es einer Verständigung insbesondere der zu beschaffenden Großwaffensysteme der nächsten Jahrzehnte. Dabei ist eine klar geregelte Übernahme und Strukturierung einzelner Projektbereiche entsprechend der industriellen Beitragsmöglichkeiten essenziell, wie das europäische Projekt der Eurodrohne zeigt. Die jeweilige Führungsnation muss dabei die Leitung sowohl politisch wie industriell ausüben. Gleichzeitig ist bei europäischen Programmen und Instrumenten wie dem Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) das Ziel der Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz und Innovation der (europäischen) Verteidigungsindustrie immer im Blick zu behalten: Die Maßnahmen müssen zielgerichtet wirken und Doppelstrukturen vermieden werden.

Um eine nationale global wettbewerbsfähige deutsche Sicherheits und Verteidigungsindustrie im Rahmen der Europäischen Zusammenarbeit zu erhalten, gilt es, erstens, im deutschen politischen und öffentlichen Bewusstsein zu verankern, dass die Sicherheits und Verteidigungsindustrie einen unverzichtbaren, grundlegenden Beitrag zur nationalen Resilienz, öffentlichen Sicherheit und Landes und Bündnisverteidigungsfähigkeit leistet. Ohne sie ist der Erhalt unserer Lebensgrundlagen für ein freiheitliches und nachhaltiges Leben in unserem Land schlicht nicht möglich. Ein dementsprechend umfassendes Sicherheitsverständnis bedeutet zweitens auch, konsequente Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit (security of supply) und der Finanzierungssicherheit (access to finance) der deutschen Sicherheits und Verteidigungsindustrie zu ergreifen. Hier ist ein enges Zusammenwirken von staatlichen Stellen und Unternehmen entscheidend. Ein dritter wichtiger Aspekt sind vergleichbare Marktzugangs Spielregeln im Sinne wirklicher wettbewerblicher Chancengleichheit (Level Playing Field) auf europäischer Ebene. Dies gilt umso mehr, da in anderen europäischen Ländern Unternehmen der Branche über Staatsbeteiligungen beziehungsweise Staatsaufträge subventioniert und im Exportbereich gezielt unterstützt werden. Da der Erfolg europäischer Rüstungskooperation immer auch auf der Chance eines gemeinsamen Exports an Partnernationen beruht, gilt es, nationale Alleingänge zugunsten gemeinsamer europäischer Regelungen zu vermeiden. Ein vierter entscheidender Faktor auf dem Weg zur Autonomie wird sein, wie mit der globalen wirtschaftlichen Verflechtung im Kontext geostrategischer Interessenslagen umzugehen ist: Strategische Autonomie kann nur im Zusammenspiel mit Partnern erreicht werden Partnern, mit denen man Werte, Ziele und Interessen teilt, aber auch Partner, bei denen die Schnittmenge der Gemeinsamkeiten kleiner ist. Es braucht daher eine Neubewertung von Partnerschaften mit Staaten, die weder der EU noch der NATO angehören.

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Kritische Schlüsseltechnologien: Raumfahrt

Grundlegend für eine Autonomie sind von externen Partnern weitreichend unabhängige kritische Infrastrukturen in Schlüsselbereichen, die sowohl militärisch als auch zivil wirken. Dies gilt insbesondere für die Raumfahrt: Sie ist ein Schlüssel für digitale Zukunftstechnologien und Datenverfügbarkeiten. Als fünfte militärische Dimension neben Land, See, Luft und Cyber ist der Weltraum zudem von herausragender strategischer Bedeutung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat erneut gezeigt, wie essenziell und existenziell die Nutzung von Satelliten und die von ihnen generierten Daten und Dienste für militärische Aufklärung und Operationen sind. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind ohne die Unterstützung durch Weltraumsysteme nicht mehr denkbar. Der gezielte Abschuss eines ausrangierten Satelliten mit einer Antisatellitenwaffe (ASAT) durch Russland Ende 2021 und die russischen Cyberattacken auf das System des US Betreibers Viasat zeigen, wie verwundbar die staatlichen und kommerziellen Infrastrukturen im Weltraum sind.

Neben Russland haben auch die USA und China schon längst die Bedeutung des Weltraums in der militärischen und machtpolitischen Dimension erkannt und investieren entsprechend in ihre Fähigkeiten. Europa spielt hier nicht nur eine untergeordnete Rolle der Krieg in der Ukraine zeigt vielmehr, wie abhängig wir von anderen Partnern sind: Nach dem Ende jeglicher Zusammenarbeit mit Russland hat Europa vorübergehend seinen eigenen Zugang ins All verloren. Sollte Russland europäische Satelliten hacken, stören oder abschießen, kann Europa nicht reagieren. Ein kurz und mittelfristiger Start von Ersatzsystemen ist nicht möglich. Europas kritische Intrastrukturen im Weltraum sind damit unmittelbar bedroht.

Ein Ausbau der europäischen Responsive Space Fähigkeiten, um Kleinsatelliten bei Bedarf und innerhalb kürzester Zeit mit Nutzlasten auszustatten, in den Erdorbit zu verbringen und in Betrieb zu nehmen, ist unverzichtbar. Nur sie wird die Resilienz der weltraumgestützten Infrastrukturen stärken. Als eine der führenden Weltraumnationen Europas ist Deutschland hier in der europäischen Verantwortung. Unsere hoheitlichen Systeme werden auch durch die Militärs der EU Mitgliedstaaten und anderer Bündnispartner genutzt. Bedeutende Technologietrends, die sich auf die nationale Sicherheit Deutschlands und seiner Alliierten auswirken, werden von der Privatwirtschaft und der Wissenschaft entwickelt. Für die Bundeswehr und die Streitkräfte der Partnerstaaten bieten diese Innovationen eine große Chance, eine den aktuellen und künftigen sicherheits und verteidigungspolitischen Herausforderungen angemessene Ausrüstung zu erhalten. Um diese Technologien zu identifizieren, zu validieren, zu erwerben und möglichst rasch in die Streitkräfte zu integrieren, bedarf es neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft, beispielsweise nach Vorbild der USA: Die private Raumfahrtwirtschaft in den USA konnte sich vor allem durch Aufträge der US Streitkräfte entwickeln und durch diese indirekte staatliche Finanzierung den gesamten Raumfahrtmarkt revolutionieren. Der Staat als Ankerkunde ist ein Erfolgsmodell, dass sich auch leicht auf Deutschland und Europa übertragen lassen kann und das, einhergehend mit einer Verstärkung des Engagements in der militärischen Raumfahrt, auch die Entwicklung des zivilen Raumfahrtmarktes weiter vorantreiben würde wovon am Ende der Staat als Kunde wiederum profitiert.

8. Chemikalienpolitik

8.1 Ausgangslage

Strategische Souveränität in stofflicher Hinsicht bedeutet, dass möglichst alle chemischen Stoffe unter der Voraussetzung der sicheren Verwendung eingesetzt werden können. Dem entgegen laufen jedoch aktuelle Bestrebungen auf EU Ebene. Derzeit wird im Rahmen der Überarbeitung der REACH

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Verordnung an einem „essential use“ Konzept nach dem Vorbild des Montreal Protokolls für ozonabbauende Stoffe gearbeitet. Künftig sollen bestimmte Stoffe nur noch für die Verwendung zugelassen werden, wenn ein gesellschaftlicher Nutzen belegt werden kann, wobei die Kriterien dafür noch völlig offen sind. Zudem sollen zukünftig vermehrt ganze Stoffklassen reguliert und eingeschränkt werden Beispielsweise wird derzeit pilothaft die Beschränkung des Einsatzes von per und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) vorbereitet. Bei dieser Gruppe handelt es sich um 5.000 10.000 Verbindungen mit äußerst unterschiedlichen chemischen Eigenschaften und Anwendungen.

Es steht zu befürchten, dass fortan rein nach Stoffeigenschaften vorgegangen werden wird, wobei die Anwendungsbedingungen unbeachtet bleiben. Damit erfolgt ein Wechsel vom risikobasierten Konzept hin zu einem gefahrenbezogenen Konzept. Dieser Paradigmenwechsel, der insbesondere für die aktuell anlaufende Revision der REACH Verordnung droht, birgt die Gefahr, dass die Spannbreite nutzbarer chemischer Stoffe und ihrer Kombinationen drastisch eingeschränkt wird.

Aber gerade für dringliche Innovationen wie beispielsweise in der Batterietechnik oder Photovoltaik wird ein umfangreiches Spektrum an Substanzen benötigt. Vor allem in der Halbleiterproduktion tragen bestimmte essenzielle Stoffe zu erheblichen Effizienzsteigerungen bei, deren Verwendung im außerindustriellen Bereich beschränkt ist und bleiben muss.

8.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Grundsätzlich ist bei der Beschränkung und Zulassung chemischer Stoffe zu berücksichtigen, dass die heimische Produktion von Vorprodukten in das Nicht EU Ausland verdrängt werden könnte. Dies muss angemessen im Zulassungsprozess berücksichtigt werden, v. a. um neuen strategischen Abhängigkeiten vorzubeugen. Hierbei hat sich REACH sich seit ca. 16 Jahren auf der Basis eines weithin risikobasierten Konzepts bewährt; es kam zu starken Verbesserungen beim sicheren Umgang mit chemischen Stoffen über den klassischen Arbeits und Umweltschutz hinaus. Es besteht daher keine Veranlassung, nun einen Paradigmenwechsel einzuleiten. Vielmehr muss in der praktischen Umsetzung und im Vollzug sichergestellt werden, dass die legitimen Schutzziele eingehalten werden.

Auch in Zukunft muss bei Stoffzulassungen differenziert werden zwischen einer offenen, alltäglichen Verwendung und der Nutzung innerhalb klar definierter Kreisläufe, insbesondere wenn chemische Reaktionen von Zwischenprodukten in geschlossenen Prozessen ablaufen.

Aufzulösen sind daher Zielkonflikte verschiedener EU Politiken: Die Nutzungseinschränkung gefährlicher Substanzen muss sorgsam gegen (neu entstehende) strategische Abhängigkeiten abgewogen werden. Sollte der „essential use“ Ansatz weiterverfolgt werden, müssen Souveränitätsfragen in der Beurteilung des gesellschaftlichen Nutzens Niederschlag finden. Dabei sind auch dynamische Prozesse zu berücksichtigen, wie etwa die Abwanderung von High Tech Produktionsprozessen in Nicht EU Staaten mit möglicherweise niedrigeren Umweltstandards (vergleichbar mit „Carbon Leakage“).

9. Normung und Standardisierung

Normung hat für die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft eine herausragende Bedeutung Nahezu alle weltweit gehandelten Produkte, ihre Herstellungsprozesse und die mit ihnen verknüpften Dienstleistungen haben einen direkten oder indirekten Bezug zu Normen. Auf diese Weise fördert Normung die Sicherheit und Gebrauchstauglichkeit von Produkten und Komponenten, trägt zur Rechtssicherheit bei und erleichtert den Zugang zu globalen Zielmärkten. Weltweit anerkannte und angewendete Normen bauen Handelshemmnisse ab und gleichen Marktzugangsbedingungen zugunsten des freien

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Warenverkehrs an. Damit leistet Normung einen unersetzlichen Beitrag für die Verbreitung technologischen Wissens und für fortlaufendes Wirtschaftswachstum31

9.1 Ausgangslage

In Zeiten handelspolitischer Differenzen und verstärkter Anstrengungen staatskapitalistisch geprägter Länder zur Durchsetzung ihrer industriepolitischen Interessen nimmt die strategische und politische Bedeutung der technischen Normung deutlich zu. Die europäische Wirtschaft und Politik sind hier mit neuen Herausforderungen konfrontiert.

Mit dem staatlich getriebenen Ansatz „towards a standards power“ nimmt die chinesische Regierung gezielt Einfluss auf die industriepolitische Ausrichtung des Landes. Die Volksrepublik China hat Normung als Instrument zur Umsetzung ihrer industrie und handelspolitischen Interessen erkannt und verfolgt darüber hinaus geopolitische Ziele. Dies ist legitim, allerdings unterscheidet sich das Vorgehen Chinas von den etablierten westlichen Verfahrensweisen.

Die in den letzten Fünfjahresplänen der Volksrepublik skizzierte Doppelstrategie zeigt deutliche Wirkung. Einerseits wurden innerhalb Chinas starke Kräfte entfesselt, die mit immer neuen und zunehmend anspruchsvollen nationalen Normen und Standards die Marktzugangsbedingungen in China bestimmen. Andererseits als nach außen gerichteter Komponente der Doppelstrategie bringt China zunehmend qualifizierte und technisch anspruchsvolle Vorschläge in die internationale Normung ein. Geopolitisch strebt China eine führende Position bei den internationalen Normungsorganisationen32 an. Die Verdopplung der chinesisch besetzten Technical Committees bei ISO in den vergangenen elf Jahren belegt diese Bestrebungen. Zwar haben Mitgliedstaaten der EU im direkten Vergleich weiterhin eine herausragende Rolle allein Deutschland hält über zwölf Prozent der Sekretariate bei ISO und über 17 Prozent der Sekretariate bei IEC. Westliche Staaten müssen sich dennoch auf einen verstärkten globalen Wettbewerb mit Chinas staatlich dominiertem Normungssystem einstellen. Dies gilt insbesondere für den IKT Bereich.

Auch im globalen Wettbewerb schafft China Abhängigkeiten. Mit großer Sorge wird die gezielte internationale Verbreitung von staatlich getriebenen, nationalen Technologiestandards aus China im Rahmen der „Belt and Road Initiative“ verfolgt. Die deutsche Industrie sieht die Gefahr einer Zersplitterung technischer Marktzugangsbedingungen und eine Zunahme globaler Entkopplungstendenzen.

Vor diesem Hintergrund ist ein starkes Europäisches Normungssystem (ESS) für die strategische und technologische Souveränität Europas zentral. Das ESS ist international wettbewerbsfähig und wird von der Industrie geschätzt. Nur mit der Integration des ESS in das internationale Normenwerk lassen sich europäische Initiativen wie „Global Gateway“ sowie die grüne und digitale Transformation erfolgreich und effektiv umsetzen. So ist das internationale Normenwerk im Wesentlichen widerspruchsfrei und besitzt hohe Akzeptanz und ist somit ein zentraler Baustein der starken Stellung der europäischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt.

Eine Sonderstellung besitzt die Europäische Normung als Element der Entlastung des Gesetzgebers und zur Förderung einer praxisnahen, schlanken und innovationsfreundlichen Regulierung. Die Europäische Normung zur Spezifizierung von Anforderungen aus New Legislative Framework (NLF)

31 BDI (2019) Position. Sechs Thesen zur Normung | Forderungen der deutschen Industrie an die politischen Institutionen, Normungsorganisationen, Verbände und interessierten Kreise auf nationaler und europäischer Ebene 16. Dezember. Berlin.

32 Hierzu zählen zum Beispiel: International Organisation for Standardisation (ISO), International Electrotechnical Commission (IEC) und International Telecommunication Union (ITU)

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Gesetzesakten ist dafür ein weltweit einzigartiges Erfolgsmodell. Eine politische motivierte bürokratische Überregulierung des bewährten Systems muss zwingend vermieden werden. Statt die Wurzel des wirtschaftlichen Erfolgs der EU zu schwächen, muss die EU das NLF fit für die Anforderungen der Zukunft machen und konsequent anwenden. Probleme sind zu befürchten, wenn das Regulierungsmodell nur noch zögerlich Anwendung findet und neue Harmonisierungsrechtsvorschriften nicht nach dem NLF erarbeitet werden.

Die Welt wird vernetzter, digitaler und nachhaltiger. Das Streben nach einer grünen, digitalen und zirkulären Wirtschaft bestimmt die normungsrelevanten Technologiefelder der Zukunft. Dabei werden Technologien in den Bereichen Verkehr, Energiewirtschaft, Künstliche Intelligenz, Cybersecurity, Batterien und Circular Economy eine wesentliche Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund muss der zunehmenden Bedeutung der Normung und der gestiegenen Wahrnehmung auf politischer Ebene Rechnung getragen werden. Es gilt, den erfolgreichen Bottom up getriebenen europäischen Ansatz mit dem stärker in den Fokus rückenden Top down Ansatz auf effektive Weise zu kombinieren und Prioritäten in der Normung besser abzustimmen.

9.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Um einer Fragmentierung der technischen Marktzugangsbedingungen international entgegenzuwirken und grünes und digitales Wirtschaften nach europäischen Maßstäben global zu etablieren, müssen Wirtschaft und Politik gemeinsame Zielsetzungen abstimmen und grundlegende Erfolgsprinzipien der Normung in ihrer Arbeitsweise etablieren. Normung ist ein Element im Gesamtsystem Wirtschaft und muss dementsprechend gestaltet werden: Normung ist wirtschaftsgetrieben und wirtschaftsgetragen. Die Wirtschaftsbeteiligten sorgen dafür, dass die richtigen Inhalte zur richtigen Zeit genormt werden. Normung leistet einen unersetzlichen Beitrag für die Verbreitung technologischen Wissens und für fortlaufendes Wirtschaftswachstum am Standort.

Internationale Harmonisierung vorantreiben

Wir ermutigen die Europäische Kommission sich international für das Heranziehen von internationalen Normen und Standards in marktzugangsbestimmende Regulierungen an geeigneten Stellen einzusetzen. Multi und bilaterale Gespräche in diese Richtung sollten verstärkt und verbindliche Regelungen angestrebt werden. Internationale Normen und Standards müssen künftig fester Bestandteil europäischer Handelsstrategien und abkommen werden. Das ist Voraussetzung, um die Vorreiterrolle in der Normung und Standardisierung auszubauen. Internationale Normen und Standards stärken den regelbasierten Handel und erhöhen die Resilienz westlich orientierter Staaten gegenüber systemischen Wettbewerbern. Dies ist insbesondere bei der Erarbeitung und Ratifizierung von Freihandels und Assoziierungsabkommen zu berücksichtigen.

Ausbau des wirtschaftlichen Engagements in der internationalen Normung

Um die befürchtete Fragmentierung der internationalen Normung durch eine zunehmende Implementierung von chinesischen Normen für signifikante Anteile des Welthandels zu verhindern, braucht es eine Präferenz für die aktive Mitwirkung bei der Erarbeitung internationaler Normen und deren anschließende Übernahme. Europäische Stakeholder müssen ihr Engagement in internationalen Normungsgremien aufrechterhalten und ausbauen sowie die strategische Bedeutung der Normen als Wettbewerbsfaktor und Instrument des Welthandels erkennen. Verstärkt sollte die WTO genutzt werden, um die Vorteile der Übernahme internationaler Normen und der Mitarbeit bei deren Erarbeitung aufzuzeigen.

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Anreize schaffen und Normungsprojekte fördern

Normung bedarf einer fundierten Finanzierung. Staatliche Finanzierung sollte immer auf gezielte Normungsprojekte ausgerichtet sein und nicht pauschal ausgeschüttet werden. Bei nachgewiesener Marktrelevanz können projektbezogene Förderungen des Staates die Schlagkraft der Normung international und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auch global erhöhen. Fördermodelle sollten inhaltlich auf die priorisierten Handlungsfelder und Arbeitspakete mit Praxisrelevanz bezogen sein und ausschließlich der Expertenbasis zugutekommen.

Bilaterale und multilaterale Kooperationen

Angesichts der Verflechtung europäischer Wertschöpfungsketten und der drohenden Fragmentierung technischer Marktzugangsbedingungen sind bilaterale und multilaterale Kooperationen zur Erarbeitung und anschließenden Übernahme internationaler Normen zu unterstützen und auszubauen. Nur europaweit und international anerkannte technische Regeln garantieren den Erfolg des „Global Gateway“ und weiteren europäischen Vorhaben. Um Normungsbedarfe der Zukunft frühzeitig zu erkennen und anzugehen, sind Kooperationen zu prioritären Themengebieten international und europäisch auszubauen. Nationale Sonderwege sind zu vermeiden. Das Trade and Technology Council (TTC) leistet gegenwärtig ausgezeichnete Arbeit und kann als Blaupause für die Grundlagenarbeit an weiteren Freihandels und Assoziierungsabkommen dienen. Wirtschaftspolitische Beziehungen mit gleichgesinnten Ländern sind dahingehend auszubauen.

Europäischen Binnenmarkt stärken und globale Vorreiterrolle einnehmen

Der europäische Binnenmarkt bildet für die deutsche und europäische Industrie einen unverzichtbaren, stabilen und harmonisierten Wirtschaftsraum, in dem Unternehmen Produkte nach einheitlichen Regeln vermarkten können. Als Teil des Europäischen Binnenmarktes muss sich das European Standardisation System (ESS) soweit möglich in die internationalen Normenwerke integrieren. Zukünftige Harmonisierungsrechtsvorschriften sind strikt nach den Prinzipien des „New Legislative Framework“ auszurichten33

10. Öffentliches Auftragswesen und Drittländer

10.1 Ausgangslage

Ungleiche Marktöffnung und nur geringes Gewicht der EU in Auftragsverhandlungen

Im Bereich des öffentlichen Auftragswesens hat sich ein zunehmendes Ungleichgewicht hinsichtlich des Zugangs zu öffentlichen Aufträgen in der EU einerseits und in wichtigen, insoweit noch weitgehend verschlossenen Drittländern andererseits entwickelt. Das kann zu erheblichen Nachteilen für europäische Unternehmen und zumindest mittelfristig auch zu Abhängigkeiten der EU Mitgliedstaaten von Akteuren aus Drittländern bei der öffentlichen Beschaffung führen: Während die EU Märkte für öffentliche Aufträge für Unternehmen aus Drittstaaten jenseits der EU faktisch überwiegend weit offenstehen, sind öffentliche Beschaffungsmärkte in Drittstaaten für Unternehmen aus der EU oft noch abgeschottet. Umgekehrt treten Unternehmen darunter oft auch Staatsunternehmen aus abgeschotteten Drittstaaten häufig als Bieter mit stark dumpingverdächtigen Angeboten auf EU Märkten auf. Dies

33 BDI (2022). Position. Gemeinsame Spezifikation | Ein horizontaler Ansatz zur Erarbeitung und Nutzung Gemeinsamer Spezifikationen muss im Einklang mit dem NLF stehen. 10. Juni. Berlin.

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führt zu einem unfairen Wettbewerb zu Lasten der Unternehmen aus der EU. Letztere Tendenz ist insbesondere im Hinblick auf sehr bedeutende Schwellenländer wie vor allem China zu beobachten. Angesichts einer insoweit erfolgenden Benachteiligung beziehungsweise Verdrängung europäischer Unternehmen aus EU Beschaffungsmärkten drohen eine Verringerung des Wettbewerbs und die Entstehung von Abhängigkeiten europäischer öffentlicher Beschaffer von Drittlandangeboten bei künftigen Vergaben.

Rechtlich konnte diese Entwicklung bisher kaum bekämpft werden, da viele Drittländer bislang keine Marktöffnungsvereinbarungen mit der EU im Bereich der öffentlichen Beschaffung geschlossen haben. So haben etliche Drittländer, darunter vor allem besonders wichtige Staaten wie China, Russland und Indien, bislang weder das auf gegenseitige Marktöffnung abzielende Government Procurement Agreement (GPA) der WTO unterzeichnet noch bilaterale Marktöffnungsvereinbarungen mit der EU zum öffentlichen Beschaffungswesen abgeschlossen. Hinzu kommt, dass die EU bei ihren Bemühungen zur Öffnung noch abgeschotteter Märkte bisher nicht über nennenswerte Druckmittel verfügt, da ihre eigenen Beschaffungsmärkte für Anbieter aus Drittstaaten zumindest faktisch zumeist weit geöffnet sind.

Entwicklung des „International Procurement Instrument“ (IPI) der EU

Um die vorgenannten Ungleichgewichte der Marktöffnung zu überwinden und die Verhandlungsposition der EU in internationalen Handelsverhandlungen zu stärken, hat die Kommission einen Verordnungsvorschlag für ein sogenanntes „Marktzugangsinstrument“ der EU vorgelegt, das auch als „International Procurement Instrument“ (IPI) bezeichnet wird und Regelungen für den Zugang von Anbietern beziehungsweise Angeboten aus Drittländern zu EU Märkten für öffentliche Beschaffungen schafft. Ein erster Kommissionsvorschlag erfolgte dazu bereits im Jahr 2012, ein geänderter Kommissionsvorschlag folgte 2016. Nachdem wichtige Einzelheiten insbesondere im Hinblick auf die Praktikabilität des Instruments jahrelang umstritten waren und zu einem Patt im Rat der EU geführt hatten, wurden die Beratungen zum IPI im Rat 2019 angesichts des zunehmenden Eindrucks eines „systemischen Wettbewerbs“ mit Akteuren aus Drittländern wie China wiederbelebt.

Während der BDI das IPI in Gestalt der anfänglichen Kommissionsvorschläge ebenso wie die Bundesregierung angesichts drohender negativer Nebenwirkungen abgelehnt hatte, hat der BDI 2019 für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen plädiert und gleichzeitig nötige Verbesserungen des beabsichtigten Instruments gefordert. 2021 erfolgten Einigungen auf wesentliche Änderungen der bisherigen Konzeption des IPI und wurden wichtige Kompromisse im Rat der EU und im Europäischen Parlament erzielt, die den Änderungsforderungen des BDI weitgehend Rechnung trugen. Letzte offene Fragen konnten in einem Ende Dezember 2021 aufgenommenen und im März 2022 abgeschlossenen Trilog Verfahren geklärt werden. Dabei ging es vor allem noch um die Frage, inwieweit nationale Ausnahmen von den Sanktionen nach dem IPI zulässig sind, beziehungsweise dabei Umgehungen des IPI verhindert werden können Nach der grundsätzlichen politischen Einigung vom März bedarf das IPI nun lediglich noch der sprachjuristischen Überprüfung und endgültigen Verabschiedung durch den Rat der EU sowie das Europäische Parlament. Es wird aller Voraussicht nach noch während der zweiten Jahreshälfte 2022 in Kraft treten. Als EU Verordnung gilt das IPI ab seinem Inkrafttreten unmittelbar und bedarf keiner Umsetzung in nationales Recht.

Wesentliche Inhalte des IPI

Durch das IPI wird die Kommission ermächtigt, bei Verdacht auf Marktabschottungen in einem Drittland diese näher zu prüfen und Konsultationen mit dem betreffenden Land zwecks Ausräumung der

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Probleme aufzunehmen. Sollte sich der Verdacht der Marktabschottung bestätigen und die Konsultationen erfolglos bleiben, kann die Kommission Sanktionen gegen Angebote aus dem betreffenden Drittstaat nach näherer Maßgabe des IPI verhängen. Die Sanktionen können entweder mittels Verschlechterung des Rangs des betreffenden Angebots im Bieterwettbewerb oder durch Ausschluss vom Vergabeverfahren durchgesetzt werden.

Das IPI gilt für Vergabeverfahren von Liefer , Bau und Dienstleistungen sowie von Konzessionen im Sinne der Richtlinien 2014/24/EU, 2014/25/EU und 2014/23/EU. Sanktionen können nur gegen Drittländer geltend gemacht werden, wenn diese mit der EU keine Marktöffnungsvereinbarungen über öffentliche Aufträge oder Konzessionen abgeschlossen haben oder aber eine Marktöffnungsregelung zum öffentlichen Beschaffungswesen wie das GPA unterzeichnet haben, die konkrete Vergabe aber nicht in den Marktöffnungsbereich dieses Abkommens fällt.

Maßnahmen nach dem IPI sind nur im Hinblick auf Vergaben ab bestimmten Mindestschwellenwerten zulässig. Die Kommission muss nach Durchführung eines Prüfverfahrens stets einen Schwellenwert für etwaige folgende IPI Maßnahmen, d. h. einen Mindestauftragswert für dafür in Betracht kommende Vergaben, bestimmen. Dieser Schwellenwert muss bei Vergaben von Liefer und Dienstleistungen mindestens fünf Millionen Euro und bei Vergaben von Bauleistungen und konzessionen mindestens 15 Millionen Euro betragen

10.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Der BDI begrüßt das nun abschließend verhandelte neue Instrument als wichtigen Beitrag zur Schaffung eines ausgeglichenen Zugangs zu öffentlichen Aufträgen in der EU und in Drittländern sowie zur Verhinderung künftig drohender Abhängigkeiten europäischer Beschaffungsmärkte von Unternehmen aus Drittländern. Nun kommt es darauf an, dass das Instrument konsequent angewendet wird

Wie sich die praktische Nutzung des IPI entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Zu begrüßen ist insbesondere, dass weitreichende nationale Ausnahmetatbestände, die zuletzt von einzelnen Mitgliedstaaten gefordert wurden und zu einer Aushöhlung des IPI hätten führen können, im Trilog abgewehrt wurden. Auch bezüglich der verbliebenen, grundsätzlich sinnvollen Ausnahmen muss darauf geachtet werden, dass die Geltendmachung dieser Ausnahmen nicht überdehnt wird.

Leitlinien der Kommission wesentlich für die Anwendung in der Praxis

Um die praktische Anwendung der neuen Regelungen zu erleichtern, hat die Kommission entsprechend einer Anregung des BDI die Ausarbeitung von Leitlinien zur Anwendung des IPI angekündigt, was zu begrüßen ist. Hilfreich kann das vor allem im Hinblick auf die nach dem IPI erforderliche, in einigen Fällen möglicherweise nicht ganz einfache Erklärung des erfolgreichen Bieters bezüglich der Höhe der aus Drittstaaten herrührenden Anteile seines Angebots sein Nachfolgende Berichterstattung und künftige Evaluierung wichtig

Wichtig ist schließlich auch, dass die nach dem IPI vorgesehenen Berichte über die Anwendung des IPI und Fortschritte bei den internationalen Handelsverhandlungen über Vergabemärkte ebenso wie die vorgesehene künftige Evaluierung des IPI binnen der dafür vorgesehenen Fristen erfolgen und die Ergebnisse dem Europäischen Parlament und dem Rat zeitig mitgeteilt werden. Im Rahmen der Evaluierung müssen die Funktionsfähigkeit und Effizienz der Regelung einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden. Vor allem wird es dabei um eine Überprüfung der Angemessenheit der Höhe der Schwellenwerte für das IPI, der Höhe der nach dem IPI zulässigen Anteile eines Angebots aus

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Drittstaaten und der Ausnahmeregelungen gehen. Sollte sich wesentlicher Änderungsbedarf erweisen, müssen die betreffenden Regelungen künftig entsprechend angepasst werden.

11. Drittstaatssubventionen und Binnenmarktkontrolle

11.1 Ausgangslage

Die europäischen Wettbewerbs und Beihilfevorschriften sowie die EU Vorschriften für öffentliche Auftragsvergaben spielen eine entscheidende Rolle, um faire Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt zu gewährleisten. Keines dieser Instrumente ist jedoch auf Subventionen von Drittstaaten anwendbar, die den begünstigten Unternehmen beim Erwerb europäischer Unternehmen, bei der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren oder bei sonstigen wirtschaftlichen Tätigkeiten in der EU einen ungerechtfertigten Vorteil verschaffen.

Die Europäische Union ist als offene Volkswirtschaft auf ausländische Investitionen und Importe angewiesen. Dies führt zu engen Verflechtungen und gegenseitig Abhängigkeiten zwischen der EU und ihren Handelspartnern, von denen viele als industriepolitische Maßnahme ihren Unternehmen Subventionen gewähren, die den Begünstigten einen Wettbewerbsvorteil beim Zugang zur EU Wirtschaft oder bei der Stärkung ihrer Präsenz im Binnenmarkt geben. Sofern hier kein der EU Beihilfekontrolle vergleichbarer Regulierungsmechanismus besteht, können derartige Subventionen die Wettbewerbslage im Binnenmarkt verzerren. Die subventionierten Unternehmen erhalten Wettbewerbsvorteile, die nicht aufgrund von Qualität oder Innovationsgrad ihrer Tätigkeiten entstehen, sondern vor allem aufgrund der erhaltenen staatlichen Unterstützung. Europäische Unternehmen werden dadurch aus dem Markt gedrängt.

Um die bestehende Regelungslücke zu schließen hat der Europäische Rat die Europäische Kommission im März 2019 damit beauftragt, neue Instrumente zu erarbeiten, mit denen den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen drittstaatlicher Subventionen im Binnenmarkt begegnet werden kann. Die Europäische Kommission hat im Mai 2021 einen Vorschlag über eine Verordnung über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen („Foreign Subsidies Instrument“) vorgelegt. Nach intensiven Verhandlungen haben sich die Europäischen Institutionen im Juni 2022 auf den finalen Verordnungstext geeinigt. Die neue Verordnung wird voraussichtlich Ende 2022 offiziell in Kraft treten und ab Mitte 2023 Anwendung finden. Sie soll fairere Wettbewerbsbedingungen innerhalb der EU schaffen und gleichzeitig die Offenheit des Binnenmarkts nach außen erhalten, die für die europäische Wirtschaftskraft so wichtig ist. Auf diese Weise soll die Resilienz Europas zunehmen.

Auf der Grundlage der neuen Verordnung wird die Kommission befugt, finanzielle Zuwendungen zu prüfen, die in der EU wirtschaftlich tätige Unternehmen von Behörden eines Drittstaats direkt oder indirekt erhalten und gegebenenfalls die wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen solcher Zuwendungen abzuwenden. Hierzu stehen ihr ein allgemeines Marktuntersuchungsinstrument sowie zwei anmeldebasierte Instrumente für die Prüfung von Drittstaatssubventionen im Zusammenhang mit Unternehmenszusammenschlüssen (Fusionen) und Angeboten in öffentlichen Vergabeverfahren zur Verfügung

11.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Die deutsche Industrie hat schon lang einen besseren Schutz europäischer Unternehmen vor Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt durch teilweise massiv subventionierte Unternehmen aus Drittstaaten gefordert und begrüßt daher das neue Foreign Subsidies Instrument. Gerade bei Übernahmen und öffentlichen Auftragsvergaben brauchen europäische Unternehmen faire Chancen und ein Level

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Playing Field im Binnenmarkt, das weder durch europäische noch durch drittstaatliche Unternehmen verzerrt werden darf. Es ist wichtig, faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten, um die Erholung der EU Wirtschaft in Zeiten der Wirtschaftskrise weiter zu unterstützen. Gleichzeitig ist es jedoch auch essenziell, die grundsätzliche Investitionsoffenheit der EU zu bewahren und die bürokratischen Hürden für Zusammenschlüsse und die Teilnahme an öffentlichen Auftragsvergaben so gering und schlank wie möglich zu halten.

Entscheidend wird daher sein, ob die in der Verordnung festgelegten Schwellenwerte für die Anwendung der Prüfinstrumente angemessen sind, um einerseits einen ausreichenden und effektiven Schutz vor Drittstaatssubventionen zu garantieren und andererseits nur die wirklich wettbewerbsverzerrenden Fälle aufzugreifen und den bürokratischen Aufwand für die Unternehmen möglichst gering zu halten. Aus Sicht des BDI sind die in der Verordnung angelegten Aufgreifschwellen für die beiden anmeldebasierten Instrumente außerordentlich hoch. Hier wird die Fallpraxis zeigen, ob die Schwellenwerte bei künftigen Anpassungen des Instrumentes gesenkt werden müssen, um sicherzustellen, dass das Foreign Subsidies Instrument auch tatsächlich die zur Herstellung eines Level Playing Field im Binnenmarkt relevanten Fälle umfasst.

Mit der Einigung auf den Verordnungstext ist die Arbeit nicht abgeschlossen. Viele Fragen sind auch aus Unternehmenssicht in den Verhandlungen offengeblieben. Wichtig ist nun, dass die Kommission den Verordnungstext zeitnah mit gezielten Leitlinien, Klarstellungen und Praxisbeispielen sowie einem jährlichen Bericht ergänzt, um den Unternehmen mehr Rechtssicherheit bei der Anwendung der Verordnung zu geben. So ist entscheidend, dass der Anwendungsbereich der Verordnung von vornherein klar feststeht Das Foreign Subsidies Instrument findet aufgrund des Vorrangs des WTO Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen grundsätzlich keine Anwendung auf die Einfuhr subventionierter Waren. Hier sollte die EU Kommission klarstellen, inwieweit durch diesen Vorrang die Anwendung des Instruments auf Warenlieferungen in Erfüllung öffentlicher Aufträge ausgeschlossen wird und wie es sich im Falle von Auftragsvergaben verhält, die sowohl Dienstleistungen als auch Warenlieferungen umfassen. Offen bleibt bislang auch, welche Auswirkungen der Vorrang des WTO Rechts für die Meldepflichten der Unternehmen nach dem Verordnungsvorschlag hat.

Unklar ist bislang außerdem, was exakt unter den Begriff der seitens der Unternehmen zu meldenden „finanziellen Zuwendungen“ eines Drittstaats fallen kann. Ohne klare Regelungen könnten die Berichtspflichten auch für europäische Unternehmen, die in Drittstaaten tätig sind, sehr umfangreich werden. Hier sollten Klarstellungen in ergänzenden Leitlinien helfen, die einzelnen Fallgestaltungen näher zu konturieren.

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