VIERZEHN 10: MIT KRIMINELLER ENERGIE & ÜBER DEN DILETTANTISMUS

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ISSN 1868–7962

vierzehn Halle 14

Leipziger Baumwollspinnerei, Spinnereistr. 7, 04179 Leipzig, fon +49 341 /492 42 02, www.halle14.org, office@halle14.org

N ov em b e r 2012

Inhalt: Ausstellung: mit Krimineller Energie ..................................................................... 4 Man nannte ihn Pri ber .................. . . .......................................................................... 1 8 Ausstellung: Ăœber den Di lettantismus .................................................................... 20 Kingdom Paradise 2012 ............................................................................................. 31 gastausstellungen 2012 . . ......................................................................................... 32 atelierprog ramme ..................................................................................................... 34

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Mit krimineller Energie Ăœber den Dilettantismus


n eu i g k e i t e n HALLE 14 ist fertig! Es ist vollbracht! Der Traum einer sanierten, langfristig nutzbaren HALLE 14 ist endlich in Erfüllung gegangen. Im Juli 2012 wurde der dritte Bauabschnitt beendet. Seit August 2011 hatten umfangreiche Bauarbeiten in den fünf Etagen der HALLE 14 stattgefunden. Sie brachten die lang ersehnte Gebäudesanierung zu Ende, die mit Dach- und Fassadeninstandsetzung im Jahr 2009 begonnen hatte. Zu verdanken ist dieser Meilenstein einer umfangreichen Förderung aus dem Stadt-Land-Bund-Programm Stadtumbau Ost und der großzügigen Förderung der Leipziger Baumwollspinnerei Verwaltungsgesellschaft mbH.

Kreative Spinner: In Solomons Haus Namens- und Impulsgeber für das diesjährige Jahresprogramm unseres Kunstvermittlungs­ projektes ist der utopische Roman »Nova Atlantis« (1626) des englischen Philosophen Francis Bacon (1561—1626). Als Visionär entwirft Bacon im 17. Jahrhundert eine Zukunftswelt, die auf neuen wissenschaftlichen Errungenschaften und der kontinuierlichen Aneignung von Wissen basiert. Ausgehend von Bacons sprichwörtlich gewordener Aus­ sage »Wissen ist Macht« wird die Aktualität dieses Verhältnisses vom heutigen Standpunkt aus beleuchtet. Zahlreiche spannende Projekte und Workshops fanden bereits statt, die an die Arbeiten ausgewählter Gegenwartskünstler anknüpfen, die sich intensiv mit Fragen nach der Verwirklichung und dem Scheitern von Zukunftsvisionen beschäftigt haben. Durch das Einbeziehen aktueller wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse werden die Projektteilnehmer zum Entwerfen eigener Zukunftsutopien aufgefordert und bei der künstlerischen Umsetzung unterstützt. Mit dem seit September laufenden Projekt »In Solomons Haus« wurde beispielsweise ein Gesprächsraum geschaffen, in dem Wissenschaftler des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften Schülern aus zwei Leipziger Schulen sowie Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig einen Einblick in den wissenschaftlichen Status quo der Neurologie ermöglichten. In anschließenden Gesprächsrunden wird ein Ausblick in die zukünftigen Ent­wicklungen unserer Gesellschaft gewagt und diskutiert. Im November steht die prakti­ sche Umsetzung der lang erarbeiteten individuellen Entwürfe im Mittelpunkt. Abschließend wird am 31. Januar 2013 eine Ausstellung der entstandenen Werke in der Ausstellungsfläche der HALLE 14 zu sehen sein.

Unsere neue Produktionsetage

Dank an den Universal Cube! Ein Willkommen an den Artist Pension Trust!

Zeitgleich mit dem dritten Bauabschnitt entstanden im Rahmen unseres EU-Projektes Second Chance elf Ateliers im 1. Ober­ geschoss der HALLE 14, die nun seit Anfang 2012 für Stipen­­­dien- und Residenzprogramme, Kooperationsprojekte und von Künstlern genutzt werden. Dazu zählen beispielsweise drei selbst­ständige Künstlerresidenzen, die wir Ihnen auf den Seiten 34 und 35 vorstellen.

Nach fünf Jahren hat die experimentelle Ausstellungsplattform Universal Cube der Klasse Joachim Blank ihre Aktivität beendet. Wir danken Joachim Blank, Andreas Grahl und ihren Studenten für die Bereicherung der künstlerischen Vielfalt der HALLE 14. Seit 2012 können wir auf einer neu geschaffenen Fläche im 2. Obergeschoss den Artist Pension Trust (APT) begrüßen. Es handelt sich dabei um eine Organisation, die Künstlern, weil sie sonst keine Altersvorsorge hätten, eine langwierige finanzielle Sicherheit anbietet. APT lagert in der HALLE 14 einen Teil seiner Sammlung. HALLE 14 ist derzeit auf der Suche nach gemeinnützigen Kunst­ initiativen, die langfristig das 2. Obergeschoss mit einem eigenständigen Ausstellungsprogramm beleben.

Temporärer Kunstraum F40 Die Stiftung Federkiel, Initiatorin und Langzeitförderin der HALLE 14, eröffnet am 17. November 2012 den temporären Kunstraum F40 in der Friedrichstraße 40 in Berlin mit einer Ausstellung des Künstlers Thomas Thiede.

Und? Nun! Gemeinsam mit dem D21 Kunstraum Leipzig und dem Kunstverein Leipzig veranstaltete die HALLE 14 2012 ein vom Leipziger EUProjekt Creative Cities unterstütztes Netzwerkprojekt, das zum Ziel hat, die Kunstvereine in den Neuen Bundesländern an einem Tisch zusammenzubringen und gemeinsame Strategien zu entwickeln, um sich gegenseitig zu stärken. Im Rahmen des Projektes wurden drei Podiumsgespräche mit Vereinsvertretern und weiteren Experten zum Selbstverständnis (29.6.), zur Rolle der Kunstvereine in der Stadtentwicklung (31.8.) und zum Fundraising (26.10.) veranstaltet. Die Veranstaltungen und Ergebnisse werden demnächst auf der Webseite www.positiv-pragmatisch.de dokumentiert.

Call for Members! Die HALLE 14 beteiligte sich in diesem Jahr an dem von der Kultur­stiftung des Bundes ausgelobten Wettbewerb »Call for Members«. Die Zahl der neugewonnenen Mitglieder reichte zwar nicht für eine Platzierung in den vorderen Reihen, dennoch freuen wir uns über 25 neue Fördermitglieder, denen wir an dieser Stelle herzlich danken. Auch Ihre Fördermitgliedschaft (140 Euro, erm. 40 Euro pro Jahr) würde uns sehr freuen und der HALLE 14 sehr helfen. Sie können sich online anmelden (www.halle14.org/ foerdermitglieder) oder uns einfach anrufen (0341/492 42 02).

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E d i to r i a l

In zehn Jahren um die Welt Liebe Leserin, lieber Leser, vor zehn Jahren begann für die HALLE 14 – 128 Jahre nach Gründung der Leipziger Baumwollspinnerei – eine neue Zeitrechnung. Das Jahr Null, ein Jahr der Suche und einer ersten Findung, endete mit dem Symposium »Wie Architektur sozial denken kann« und der ersten Ausgabe unserer projektbegleitenden Zeitung »vierzehn«, deren zehnte Nummer Sie in den Händen halten. Das Vermächtnis jener Tagung – nämlich, dass wir Leerstand als neue Basis, wenn nicht gar Luxus begreifen sollten, Abschied als Neubeginn, Entdichtung als Raumgewinn, Entschleunigung als Zeitgewinn und Vorläufigkeit als Chance für Spontaneität und Flexibilität, um den Rückbau zum Aufbau und das Schrumpfen zum Wachsen zu kehren – ließ uns seither keinen der zurück­ liegenden Tage los. Unsere Findung ist mitnichten abgeschlossen, trotz zahlloser Veranstaltungen, 19 Ausstellungen, trotz Kunstbibliothek und -vermittlungsprogramm, auch der Tatsache zum Trotz, dass die HALLE 14 von einer großen Unbekannten in Leipzigs Kulturlandschaft zu einer berechenbaren Größe mit identifizier­ barem Programm wurde und – davon nicht zu trennen – trotz wesentlicher Neuerungen am Gebäude, mit anderen Worten: Was unterscheidet die HALLE 14 vom internationalen Verkehrsflughafen Berlin Brandenburg? Dass seit 2012 sämtliche Brandschutzauflagen erfüllt sind. Doch wenn Sie sich demnächst persönlich auf Ihren Entdeckungstouren durch unser neues Reich der Mitte (inmitten der Spinnerei) ein Bild von den neuen Sprinkleranlagen und Brandschutztüren, den Fluchtwegen und -treppenhäusern machen, dann möge Ihre Kunstausbeute eher im über­tragenen Sinne als solche verstanden werden, die sich im schöngeistig-erbau­ lichen Rahmen bewegt – sprich vorzugsweise wenn schon mit krimineller Energie, dann ohne Straftatbestand. Die Vermählung von Kunst und Kriminalität im 21. Jahrhundert nahm einer (oder nahmen mehrere) unserer »Besucher« während der Ausstellung »Mit krimineller Energie« wortwörtlich und ent­wendete/n am 16. Juli die aus Eurobanknoten ge­nähte Deutschlandfahne des Künstlers Lourival Cuquinha. Als sich keiner der 188 perforierten Scheine wieder einfand, war klar: Wir wurden beklaut – trotz Wachschutz, Alarmanlage und Bewegungsmeldern! Dank des zuverlässigen Versicherungsschutzes konnte die Fahne übrigens ersetzt und bis zum 18. November 2012 in unserem Partnerkunstverein, der ACC Galerie Weimar, erneut installiert werden. Ein weiteres Novum – nun aber auf der Habenseite – stellt die Tatsache dar, dass erstmalig seit Bestehen der HALLE 14 gleich beide großen Jahresausstellungen unseres Vereins, »Mit krimineller Energie« und »Über den Dilettantismus«, von der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert wurden, was nicht zuletzt den 39 Künstlern aus 18 Ländern und ihren Produktionen zugute kam. Diese Publikation dokumentiert beide Ausstellungen kombiniert im Doppelpack. Nun reichen sich also unsere Jahresthemen 2012 – Dilettantismus und Verbrechen – die Hand. Mehr noch hat es den Anschein, als würden sie in einer Beziehung zueinander stehen. Eine innere Verstrickung lässt sich auch für unsere Ausstellungsleitmotive 2013, »To Have and Have Not« zum Thema Habgier und »The Politics and Pleasures of Food« nicht abstreiten – wir sind selbst gespannt. Aber bleiben wir noch kurz bei den diesjährigen Ausstellungen. Im Frühjahr ging es uns um Fragen wie: Können der kriminelle Künstler und künst­ lerische Kriminelle unser Sein »nutzbringend«

verändern? Ist der Künstler ein Weggefährte des Verbrechers – mit verrückter Kreativität, als Seismograf der Gesellschaft, ohne Moral, nur getrieben von der Kraft der Freiheit? Im Herbst 2012 hingegen beschäftigen uns Fragen wie: Gehört dem professionellen Amateur die Zukunft? Was passiert, wenn sich Künstler nach der Versuch-und-Irrtum-Methode auch mal disziplinfremd betätigen und das Spezialis­ tentum spielerisch in den Ring bitten? Kann der künst­lerische Dilettant seinen beschädig­ten Ruf wieder abwerfen und zum freiheitlich agierenden (Kunst-)Liebhaber eigener Sache werden? Begleitende Veranstaltungsreihen sind in der HALLE 14 inzwischen nicht mehr nur flankierende Maßnahmen, sondern das Salz in der Suppe, vielleicht sogar der zu erreichende Gipfel. Ein solches Gipfeltreffen wird unser Festival der Dilettanten: Vom 9. bis zum 11. November geben sich in elf Veranstal­tungen, Shows, Konzerten, Turnieren sowie an fünf Messe­ständen 28 Referenten, Künstler und andere Messeteilnehmer die Klinke in die Hand – immer auf der Suche nach Leipzigs Super­dilettanten. Wie schon in den Vorjahren hüpften auch in diesem Sommer unsere Vereinsherzen in höhere Sphären, als über unsere Fläche hinaus zeitgleich große und großartige Ausstellungen an die Öffentlichkeit gingen – gleich drei Kunsthallen übereinander! Initialidee der Ausstellung »Jack in the Box« war, dass der Künstler oft selbst sein bestes Modell ist und das künstlerische Selbstbild seit jeher in Darstellung und Reflexion von der eigenen Person und Rolle in der Gesellschaft zeugt. Um das Archiv des im August 2012 verstorbenen Fotografen Reinhard Mende mit Aufnahmen von DDR-Industriebetrieben sowie DDR-Produkten, die auf der Internationalen Messe in Leipzig vorgestellt wurden, gruppierte sich die von Doreen Mende, Estelle Blaschke und Armin Linke kuratierte Ausstellung »Doppelte Ökonomien«. Bereits zum zweiten Mal (nach 2011) wurden in der HALLE 14 außerdem alle aktuellen Kunst­ werk-Förder­an­käufe der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen in der Ausstellung »WIN/WIN« der Öffentlichkeit vorgestellt. Veranstaltet vom Zentrum für zeitgenössische Fotografie Leipzig e.V., lag der Fokus des 5. Festi­ vals für Fotografie f/stop auf dem Begriff des Dokumentarischen und auf der Problematik der fotografischen Berichterstattung. Eine Ausstellung aus der österreichischen Fotosammlung des Bundes, »DLF 1874 – Die Biografie der Bilder«, kuratiert von Ruth Horak, ließ Werk und Autor in einer Inventur von Ideen, Produkten, Orten und kulturellen Normen zwischen Konstruktion und Zufall aufeinander treffen. Und so mannigfaltig unser Angebot 2012 ist, so soll es auch 2013 wieder werden: Daher hier ein kurzer Ausblick auf das Frühjahr. Der Ausstellung »To Have and Have Not« liegt folgende Idee zugrunde: Habsucht, Geiz und Raffgier galten einst als Hauptlaster und Vorstufe der Todsünden. Doch scheint das biblische »niemand lebt davon, dass er viele Güter hat« im Gegensatz zum allseits praktizierten »take from the needy and give to the greedy« weltfremder denn je. Die fragwürdige Logik des Profits und der Konsum- und Fortschrittsspirale, die staatliche Subventio­nierung privater Wirtschaftsbereiche bei gleichzeitiger strikter Privatisierung erzielter Profite, die totalitäre Durchökonomisierung aller Lebens­bereiche sind Indizien dafür, dass Wucher und Egozentrik als allzu menschliche Bedürfnisse und Triebfedern der Evolution wie

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eh und je das Weltbild prägen. Wir werden 26 Künstler präsentieren, die diese Themen kritisch beleuchten. Und bedenkt man, auf welche Art multinationale Konzerne Kapital aus Wasser und Lebensmitteln schlagen, könnte man behaupten, unsere zweite, die Herbstausstellung 2013 mit dem Titel »The Politics and Pleasures of Food«, knüpfe the­ma­ tisch nahtlos an ihre Vorgängerin an: Die Nahrungsaufnahme bestimmt unser Leben. Und Essen ist Ausdruck gesellschaftlicher Verhält­ nisse: Mit der Globalisierung hat sich der Lebensmittelmarkt zunehmend in Netze politischer Signifikanz verstrickt, Nahrung spielt eine Schlüsselrolle im politischen Widerstand, im Grassroot-Aktivismus. Essensskandale sorg(t)en für Kontroversen; die Kriege des 21. Jahrhunderts werden um Nahrungsmittel und Wasser geführt werden. Wie fühlen und denken Konsumenten jenes Jahrhunderts darüber, was sie essen und trinken? Und was ist noch so Neues passiert seit Zeitungsausgabe Nr. 9? Zum Beispiel, dass auch andere Kunstinitiativen in der HALLE 14 ihr Domizil gefunden haben: Sie tragen Namen wie PILOTEN­ KUECHE, APT, A room that … oder One-sided Story. Schon lesend erkennt man, die bringen neuen Wind rein. Zudem werden die im Rahmen des EU-Projekts »Second Chance« entstandenen Ateliers im ersten Stock nun ganzjährig von Künstlern genutzt und auch sie verleihen dem Haus neue Impulse. Auch personell hat sich Einiges getan: Sophia Littkopf, Initiatorin des Leipziger Hörspielsommers, hat im August die Geschäftsführung der HALLE 14 übernommen. Andreas March, langjähriger Vorstandsvorsitzender des Radio-BlauVereins Leipzig, verwaltet seit Juni die Finanzen. Hannah Moser ist unsere neue Pressechefin und ersetzt damit Michael Arzt, der sich künftig organisatorisch-kuratorischen Aufgaben widmen wird. Um co-kuratorische und veranstaltungsorganisatorische Aufgaben verdient gemacht haben sich im letzten halben Jahr Katja Meyer und Ann-Kathrin Rudorf. So kann es nun vorangehen in der HALLE 14, dem mittlerweile komplett sanierten Kunstzentrum von 20.000 bespielbaren Quadratmetern, mit dem erhaltenen Charme einer Industrieanlage, das innerhalb von zehn Jahren quasi aus dem Nichts, aus Ruinen auferstanden ist. Hier kann sie sozial denken, die Architektur. All unseren Förderern, Sponsoren und Spendern, die die Baumaßnahmen sowie die Projekte der HALLE 14 ermöglicht haben, möchten wir noch einmal herzlichst für ihre Unterstützung danken. Die vergangenen zehn Jahre waren – und das nicht nur, weil sich Künstler aller Kontinente bei uns zu Hause fühlten – wie eine Reise um die Welt. Und wenn wir uns weiter so drehen bzw. manchmal auch die Welt sich um uns dreht, können wir uns auf etwas gefasst machen. Ihre Sophia Littkopf Geschäftsführerin HALLE 14 Ihr Frank Motz Kurator HALLE 14


auss t e l l u n g : 2 8. 0 4.   —   2 9. 0 7. 2 0 1 2

Mit Krimineller Energie Kunst und Verbrechen im 21. Jahrhundert

deutsch

english

Politikern, Polizisten und Staatsanwälten zum Trotz, das Deviante, Kriminelle und Mörderische sind unauslöschliche Bestandteile aller Gesellschaften. Ungeheure zivilisatorische Anstrengungen wurden von der archaischen Gesellschaft – in Form des Rituals und der Verbannung – bis zur modernen – in Gestalt des industriellen Gefängniskomplexes, der Sicherheitsindustrie und repressiver Architektur – aufgeboten, um Normen, Ge- und Verbote aufrechtzuerhalten. Während die Zivilisation bemüht ist, das Gemeine, Gefährliche, Beängstigende zu unterbinden, ist der Trickster-Künstler vielleicht der Einzige, der – quasi stellver­ tretend – neben dem Verbrecher die Grenzen des Erlaubten, Wohlanständigen und Opportunen auslotet. Eine der Sozialfunktionen des Künstlers ist von alters her die des Seismografen der Gesellschaft, er kostet vor, stapelt hoch, justiert neu, bricht Tabus, lebt und spielt vor, tut als ob, tauscht die Rollen, stellt (sich oder sein Umfeld) verquer oder auf den Kopf. Mitunter geht er dabei sehr weit, überschreitet Grenzen und Gesetze, mal als scheiternde Existenz, experimentierfreudiger Dilettant, Andersdenkender oder Sehnsüchtiger mit Hoffnungspotenzial. Nicht selten wird er aus verschiedenen Motiven selbst zum Täter oder mimt einen Kriminellen, weil er nur durch das Verlassen der Norm seiner Botschaft genügend Ausdruck zu verleihen glaubt, wie André Breton 1930 in seinem Manifest definierend bestätigt: »Der einfachste surrealistische Akt besteht darin, mit dem Revolver in der Hand auf die Straße zu laufen und so viel man kann blind in die Menge zu schießen.« Bereits die Romantiker waren versessen auf Banditen, Hexen oder die Femme fatale, die entweder eine Art Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft oder irrationale und unkontrollierbare Leiden­ schaften verkörperten. Die Ausstellung zeigt Parallelen, Wechselwirkungen, Abgrenzungen im Verhältnis zwischen Kunst und Verbrechen auf und überprüft, ob, wie Joseph Beuys meint, Künstler und Verbrecher wirklich Weggefährten sind, weil beide über eine verrückte Kreativität verfügen, ohne Moral sind, nur getrieben werden von der Kraft der Freiheit. Dass dabei ein eigener Wirtschaftskreislauf mit Arbeitsplätzen und Renditen entstand, sei uns ein Indiz, dass Kriminalität nicht nur negativ zu Buche schlägt. Vor allem geht es aber darum, zu ergründen, auf welche Art kriminelle Künstler und künstlerische Kriminelle unser Sein »nutzbringend« verändern, uns mit unkonventio­nellen Lösungsangeboten aus der »Alternativlosigkeit« führen, Freiräume öffnen, wo die Diktatur der Angepassten herrscht, Tabuisiertes in den Mittelpunkt stellen, repressive Gewalt in reale (Auto-)Aggression verwandeln, Überkommenes unterwandern.

WITH CRIMINAL ENERGY – ART AND CRIME IN THE 21ST CENTURY In defiance of politicians, police and prosecutors, the deviant, the criminal and the murderous are enduring constituent parts of all societies. From ritual and exile to the prison-industrial complex, the security industry and repressive architecture, tremendous civilizing efforts have been mustered by societies ancient as well as modern, to maintain norms, rules and prohibitions. While civilization is anxious to eliminate what is base, dangerous and frightening, the trickster-artist is perhaps the only one, who, like the criminal – working, as it were, on behalf of society – plumbs the borders of what is permissible, upright and appropriate. One of the social functions of the artist from time immemorial has been that of societal seismograph: he samples, shows offs, realigns, breaks taboos, tries out, acts as if, changes roles, uses himself or his environment as a roadblock and turns everything on its head. Now and then he goes too far, oversteps borders and laws, sometimes as a failure, an experiment-happy dilettante, a dissenter or a hope-inspiring dreamer. It is not seldom that for different motives he even becomes the culprit or acts a criminal, because he believes that only through the aban­ donment of the norm is his message granted enough expression. As André Breton confirms in his 1930 manifesto: »The simplest Surrealist act consists of dashing down into the street, pistol in hand, and firing blindly, as fast as you can pull the trigger, into the crowd.« As early as the Romantics, artists were fascinated with bandits, witches or the femme fatale as embodiments of a sort of society beyond the society or irrational and uncontrollable passions. The exhibition draws parallels and demarcations between art and crime, highlighting the interactions between the two and checks, as Joseph Beuys said, artists and criminals are really companions because both command a mad creativity and are without morality, driven only by the power of freedom. That crime develops an economy of its own, with jobs and profits within itself, is one sign that it doesn’t have a solely negative effect. More importantly, however, it is a matter of feeling out which kind of criminal artists and artistic criminals »profitably« change our Being, lead us away from the »lack of alternatives« with offers of unconventional solutions, open up free spaces to overpower the dictatorship of the conformist, put what is taboo in the centre, transform repressive force into real (self-)aggression and subvert the obsolete.

Impressum Herausgeber: HALLE 14 e.V., Spinnereistraße 7, 04179 Leipzig, vertreten durch Geschäftsführerin Sophia Littkopf (V.i.S.d.P.) Redaktion: Michael Arzt Kurator der Ausstellungen: Frank Motz, Katja Meyer (Assistenz) Texte: Michael Arzt, Ariane Barth, Katharina Bese, Wednesday Farris, Marianne Henke, Ruth Horak, Frenzy Höhne, Sophia Littkopf, Doreen Mende, Katja Meyer, Frank Motz, Sarah Riedel, Monica Sheets, Thilo Streubel

Fotos: Bernard Akoi-Jackson (S. 21 l.), ArtRoom gUG (S. 34 o.), Michael Arzt (S. 7 l., S. 19), Mole Auréliene (S. 8), Claus Bach (S. 5 o., S. 12, S. 13, S. 14 r., S. 16, S. 18, S. 21 r., S. 22, S. 23, S. 24 l., S. 25, S. 26, S. 27 r., S. 29 l., S. 31), Robert Beske (S. 2 u., S. 35), Denis Bury (S. 33 u.), Lourival Cuquinha (S. 5 u.), Nathalie van Doxell (S. 6), Wednesday Farris (S. 1 o.), Frenzy Höhne (S. 32 u.), Kel Glaister (S. 24 r.), Florian Göttke (S. 7 r.), Gruppe PRODUZIEREN (S. 32 o.), Ulla Karttunen (S. 9), Oleg Kulik (S. 10), Paul Etienne Lincoln (S. 27 l.),

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Antonio Vega Macotela (S. 11 r.), Teresa Margolles (S. 11 l.), Michael Moser (S. 2 l.), Anna Odell (S. 14 l.), Laure Provost (S. 28), Hendrik Pupat (S. 34 u.), Andreas Riedel (S. 15 r.), Nedko Solakov (S. 15 l.), Wenzel Stählin (S. 33 o.), Peter Haakon Thompson (S. 29 r.), Michael Townsend (S. 31), Trummerkind (S. 17), Thomas Tudoux (S. 30 l.), Nomeda & Gediminas Urbonas (S. 30 r.) Grafikdesign: Kristina Brusa, Andrej Loll Druck: PögeDruck, Leipzig Auflage: 3.000 Stück


KÜ NSTLER c Lourival Cuquinha (BR)

Die Verhä ltnisse zum Tanzen bringen

Lourival Cuquinha gehört – wie viele der »kriminellen« Künstler in dieser Ausstellung – zu denjenigen, die konsequent über Freiheit und ihr Verhältnis zur Kultur und Gesellschaft reflektieren. Er versucht dabei den Status von Künstler und Werk immer wieder neu in Frage zu stellen, sich den Mechanismen des Kunstmarktes zu entziehen oder sie gezielt für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Für Ausstellungsbeiträge bietet Cuquinha stets Alternativen gegenüber der traditionellen Raumnutzung an, die institutionellen Gegebenheiten gleichermaßen bestätigend wie kritisierend. Nicht selten haben seine humorvollen, an den Grenzen des Legalen angesiedelten Aktionen eine politische Dimension, wobei sie sich vorzugsweise aus seinen persönlichen Erfahrungen und Eindrücken heraus entwickeln und den öffentlichen Raum mit einbeziehen. Im Zentrum der Ausstellung errichtete Cuquinha eine CCTVSkulptur: Ein Totem aus zwei Überwachungskameras und einem Monitor, auf dessen Vierfachsplitscreen zwei Echtzeitauf­nahmen aus der Ausstellung sowie zwei dokumentarische Filme von Cuquinhas »Image OFF(-)« genannten Aktionen zu sehen sind, welche er bereits in verschiedenen Städten weltweit durch­ geführt hat. An den Kameras hängt jeweils eine Sturmmaske, die sich der Ausstellungsbesucher zur Wahrung seiner Identität überstreifen möge. Weitere Masken hat Cuquinha in der Nähe von Überwachungskameras in der Leipziger Innenstadt verteilt. Mit Klebehaken sind sie dort an Häuserfassaden befestigt. Diese Masken können von den Passanten für ein entsprechendes Wegstück benutzt werden, um unerkannt die elektronischen Augen der Stadt zu passieren, und anschließend wieder abgelegt werden. Am Tag der Ausstellungseröffnung hatte Cuquinha eine Gruppe professioneller Capoeira-Tänzer für eine zweistündige Per­ formance engagiert, die sich eng an einer traditionellen Spielform des Kampftanzes, der »Roda«, orientierte. In der »Corpo de Secretas (Body of Secret)« benannten Version trugen die Tänzer allerdings deutsche Polizeiuniformen – eine Idee, die vom Auftritt einer Capoeira-Gruppe in Cuquinhas Heimatland Brasilien inspiriert ist, bei dem sich eine Reihe ernst blickender Geset­ zeshüter bewegungslos vor der Bühne aufgebaut hatte. Die Arbeit und deren Titel nehmen Bezug auf die Verfolgung von Capoeiristas von der Kolonialzeit bis in die jüngere Vergangenheit Brasiliens. Capoeira ist von jeher ein Symbol des Kampfes und Widerstands der schwarzen oder sozial benachteiligten

Uniformismus – Finanzkunstprojekt, 2012

Bevölkerungsschichten gegen die Macht der Polizei und auto­ ritärer Regime. Die Performance führte den Kontrast zwischen der scheinbar spielerischen Leichtigkeit dieser Ausdrucksform – vor dem Hintergrund ihrer wechselvollen Geschichte – und der Unbeweglichkeit von Staatsmacht vor Augen. Für diese Ausstellung produzierte Cuquinha außerdem eine sehr reizvolle, in aufwändiger Handarbeit genähte deutsche Flagge aus Fünf-, Zehn- und Fünfzig-Euroscheinen und einer Fahnenstange aus 50- und 5-Cent-Münzen mit einem Gesamtwert von 3.555,75 Euro. Da die Scheine während ihrer Verarbeitung zu Kunst ihren ökonomischen Wert behalten, kann man die Arbeit im Prinzip auch jederzeit wieder zerstören und als Zahlungsmittel einsetzen. Die Fahne ist Teil einer ganzen Reihe von Projekten Cuquinhas unter dem Stichwort »Financial Art«, die sich ironisch mit Marktgesetzen und Konzepten der nationalen Identität sowie deren künstlichen Grenzziehungen befassen. Zuletzt versteigerte er im Rahmen der »Jack Pound Financial Art’s Auction« auf der Kunstmesse Frieze in London (2010) erfolgreich eine Fahne aus englischen Pfund-Noten. Cuquinha erklärt sein Finanzkunst­ konzept so: »Leute geben mir Geld für die Flagge, d.h. sie investieren es und ich verarbeite es weiter, in diesem Fall zu einer deutschen Flagge. Dann verkaufe ich sie auf einer Auktion und die Investoren erhalten ihre gewonnenen Anteile zurück. Geld gegen Geld, Spekulation gegen Spekulation. Diese ganze Wertschöpfungskette der Kunstflagge ist nichts weiter als eine riesige Illusion, aber alle Beteiligten profitieren davon. Nicht einmal der Petrodollar ist so gut wie diese Flagge.« 1975 in Olinda (BR) geboren, lebt und arbeitet in Olinda (BR), São Paulo (BR) und London (UK).

Image OFF(-), 2008—2012, Videostills

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KÜ NSTLER D – E Nathalie van Doxell (FR)

Zeichnungen van Doxells auf vereinzelten Fotos sind hingegen von den Tätowierungen der Gefangenen inspiriert. Seit langem schon interessiert die Künstlerin sich für die Symbolsprache dieser uralten und in allen Gefängnissen der Welt praktizierten Kulturtechniken. Es ist insbesondere der spezifische Motivkanon von Häftlingen, der van Doxell nahe geht, weil er auf radikale Weise Fragen zu den grundlegenden Begriffen jeder Zivilisation und zur Abgrenzung von Gut und Böse aufwerfe. Die Wahl des Formats, die grafische Aufbereitung und die Trennung von Profilund Vorderansicht zur Gestaltung einer seriellen Anordnung verleihen den »Mutmaßlichen Verbrechern«, so die sinngemäße Übersetzung des Titels, jene kritische Vieldeutigkeit, die viele von van Doxells Arbeiten kennzeichnet. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Leid und Schönheit, Intimität und distanzierter Observierung, zwischen Zeitdokument und künstlerischer Arbeit, Wirklichkeit und Fiktion. www.vandoxell.com 1960 in Paris (FR) geboren, lebt und arbeitet in Paris (FR) und New York (US).

mörder aus lei denschaft »Um unschuldig zu sein, im legalen oder religiös-moralischen Sinne, müssen wir uns einer ganzen Reihe von sozio-ethischen Prinzipien unterordnen, die einer binären Logik folgen. Entweder ist man unschuldig oder man ist es nicht. Wäre es möglich, nur ein bisschen unschuldig zu sein?« (Joshua Decter) Für die Arbeit »Présumés Coupable« übersetzte die medienübergreifend arbeitende Fotografin Nathalie van Doxell, im Auftrag der Sammlung J+C Mairet, Polizeifotos des französischen Kriminalanthropologen Alphonse Bertillon (1853—1914) in künst­ lerische Serien. Bertillon entwickelte um 1880, basierend auf einem anthropometrischen Maßsystem, erstmals eine geschlossene Methode zur Personenidentifizierung. Obwohl dieses »Bertillonage« genannte Verfahren wegen seiner übermäßigen Komplexität, der Möglichkeit von Verwechslungen und der Abhängigkeit von der Messgenauigkeit bald durch Fingerab­ drücke ersetzt wurde, sind einige seiner Elemente bis heute im kriminalpolizeilichen Erkennungsdienst erhalten geblieben und Teil der biometrischen Vollerfassung. Dazu gehört auch die Vorgabe, jeden Verhafteten einmal von vorn und im Profil abzulichten, wobei ein strikt durchgeführtes Protokoll jegliches Pathos der Porträts ausschließen sollte. Aufnahmestudio und Kameras, Beleuchtung und Drehstühle waren standardisiert, sodass weder dem Ausführenden, noch dem »Klienten« eine Interpretation erlaubt war. Ziel sollte es sein, den »wahren« Charakter des Kriminellen unverstellt festzuhalten. Darüber hinaus war Bertillon aber ebenso an einer deutlichen Abgrenzung seines Ateliers von einem bürgerlichen Fotostudio gelegen, mit dessen Aufkommen damals das jahrhundertelange Bildnisprivileg der Herrschenden endgültig gebrochen wurde. Dass nun jedoch auch Kriminelle und Asoziale in den Genuss des Fotografiert­ werdens kommen sollten, war anfangs höchst umstritten.

Brock Enright (US)

Martyrien -Service – sofort buch bar Die US-Amerikanerin Margot wird angewiesen, nach Berlin zu fliegen. Am Flughafen angekommen, verbindet man ihr die Augen und verfrachtet sie in ein Auto. Nach einer nicht enden wollenden Fahrt soll sie aussteigen und wird durch ein Gebäude über etliche Treppen und Korridore geführt. Schließlich setzt man sie auf einen Stuhl. Sie hat das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Als man ihr die Augenbinde abnimmt, realisiert sie, dass sie sich auf einer Theaterbühne befindet. Im Rahmen einer Inszenierung von Schillers »Die Räuber« des Deutschen Nationaltheaters in Weimar wird sie vor den Augen des Publikums von einem Schauspieler gefoltert. Zuvor hatte Margot die Agentur »Videogames Adventure Services« damit beauftragt, ihr für 7.000 Dollar ein Abenteuer auf den Leib zu schneidern. Sie wollte an einen dunklen Ort geführt werden. Da ist sie nun. »Videogames Adventure Services« wurde 2002 vom Künstler Brock Enright und dem Harvard-Absolventen Felix Pauls gegründet. Bereits als Kunststudent hatte Enright, der schon als Jugendlicher ein Faible dafür bewies, die Grenzen seiner Freunde und Verwandten auszutesten, begonnen, »Auftragsentführungen« anzubieten. Auf Wunsch einer Freundin brach er in ihre Wohnung ein, fesselte sie und ihre Mitbewohnerin und warf sie in seinen Kleintransporter. Mit verschiedenen Provokationen riskierte er zudem den Rausschmiss aus der Uni. So urinierte er in eine Ecke des Seminarraums, wischte die Pfütze mit seinem T-Shirt auf und zog es danach wieder an. Der Unterstützung seines Professors, der die kunsthistorische Linie von Dada und Fluxus verstand, ist es zu verdanken, dass Enright sein Studium doch noch beenden konnte. Im Anschluss spezialisierte er sich darauf, das Leben von Menschen zu infiltrieren, Statisten in ihren Alltag einzuschleusen und dort Dinge zu inszenieren, die wie Zufall wirken mögen, tatsächlich jedoch einem Drehbuch folgen. »Ich finde, in New York muss man aus allem eine Firma machen«, konstatierte Enright und bot mit seiner Agentur nunmehr maßgeschneiderte Grenzerfahrungen an. Dafür nutzt er gleich einen ganzen Mitarbeiterstab sowie ein Netz verschiedenster Kontakte, so auch Barkeeper oder Feuerwehrmänner. Da läuft schon Mal ein brennender Mann durch eine Hotellobby, in der einer seiner Kunden wartet. Eine Zeit lang konnten Sammler über seine Galerie – 2008 trennten sich Künstler und Galerist aufgrund unüberwindbarer Differenzen – die »Designer-Kidnappings«, oder, wie er sie nennt, »Ordeals« (dt.: Zerreißproben, Martyrien) buchen. Die Interessenten wurden dann zu einem unbestimmten Zeitpunkt entführt, geknebelt und gefoltert, um endlich das zu bekommen, was sie wirklich wollten, nämlich die unmittelbare Einbindung in die Kunst­pro­ duk­tion. Mittlerweile hat Enright über 100 Ordeals geplant, durchgeführt und dokumentiert. Auf Wunsch erhielten seine Kunden

Présumés Coupables, 2003, Serie C, Lambda-Farbfotografie auf Aluminium, Sammlung J+C Mairet, Paris

Van Doxells digital vergrößerte Versionen der ehemals fast passbildgroßen Aufnahmen (8 × 6,5 cm) enthüllen so nicht nur eine enorme Plastizität, sondern lassen aufgrund ihrer grafischen Eingriffe eben jene Dimension hervortreten, die Bertillon fern lag: die Individualität und Ausdruckskraft von Menschen eines vergangenen Jahrhunderts – schuldig oder nicht. Für jede Serie gibt eine gesonderte Tafel, beschrieben von einem zehnjährigen, »unschuldigen« Mädchen, über die Täter – allesamt Mörder aus Leidenschaft – Auskunft, wobei sich die Zeilen an den lapidaren Vermerken auf der Rückseite der Originale orientieren. Die

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KÜ NSTLER e – g Rationale Impulse scheinen sich dabei oftmals erst in zweiter Instanz einzuschalten – ein Umstand, der auch in unserer modernen Medienwelt nach wie vor eine geradezu magische Verbindung zwischen einer Person und ihrem Abbild erzeugen kann. Die gesellschaftliche Rolle und Funktion von Bildern sowie das Verhältnis von nachahmender, symbolischer und politischer Repräsentation gehörten daher auch zu den Dreh- und Angelpunkten von Göttkes Arbeit, wobei er oftmals den öffentlichen Raum in seine Praxis einbezieht. In der HALLE 14 zeigt Göttke »Me and Saddam« (2008), eine Foto­ collage aus zahlreichen Schnappschüssen, die er von Posie­ renden neben Husseins Wachsfigur im »Madame Tussauds« (London) gesammelt hat. Ihre Anordnung richtet sich horizontal nach dem Entstehungsjahr sowie vertikal nach der Haltung der Personen gegenüber ihrem künstlichen Bildpartner – von »neutral bis freundlich«, sogar umarmend und küssend, bis »neutral bis feindlich«, also auch schlagend, erdrosselnd oder schießend. Auf diese Weise werden sie nicht nur zum Zeugnis einer intimen wie volksnahen Meinungsumfrage von histo­ rischem Format, sondern illustrieren vor allem die Popularität eines verbrecherischen Staatsoberhauptes bis hin zu einer politisch abstrakt gewordenen Kultfigur der Massenmedien, einem Star zum Anfassen in Tussauds‘ Kabinett. Darüber hinaus ist in der Ausstellung ein kleiner »Stand-Up Saddam« (2007) zu bestaunen – eine Miniatur eines berühmten Monuments in Bagdad, dessen groß inszenierter und gefeierter Sturz unter Mithilfe US-amerikanischer Soldaten am 9. April 2003 die ganze Welt über diverse Medienkanäle mitverfolgen konnte. Göttke gibt ihr die Form einer Spielzeugpuppe aus Holz, die sich mit Hilfe eines Fingers erst zum Kippen und dann wieder zum Aufstehen bringen lässt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Unruhen in Syrien entwickelt Göttke zur Zeit auch ein Zertifikat für die Produktion einer entsprechenden Spielfigur des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, die im Falle seines Sturzes produziert und unter den Zertifikatkäufern verlost wird. Über die genauen Konditionen und den Stand des Projekts kann man sich auf seiner Webseite informieren. www.floriangoettke.com 1965 in Gelsenkirchen (DE) geboren, lebt und arbeitet in Amsterdam (NL).

Connie’s Correspondence, 28. April 2012, raumgreifende Installation und Performance (Detail)

auch DVDs oder Fotos zur Erinnerung an dieses außergewöhnliche Erlebnis. Die Nachfrage reißt dabei nicht ab: »Ich wollte keine Narben, und ich wollte nicht in Lebensgefahr geraten, aber ich wollte mich zu Tode fürchten«, bekundet einer von Enrights Klienten. Es ist ein Spiel, eine Art Reality-Game, in dem der Künstler mit seinen »Opfern« wie mit Versuchskaninchen experimentiert und diese für den kompletten Kontrollverlust, das totale Ausgeliefertsein, dieses Schreckens- und Erwartungs­­spiel auch noch bezahlen. Es ist Kunst, in der sich das Werk als Andenken in die Psyche des Sammlers einschreibt. Im chaotisch verwüsteten Ausstellungsraum der HALLE 14 hat der Künstler Fährten gelegt: bunte Klebepunkte, vor sich hin schimmelnde Zitronen, Kritzeleien, Fotografien und einen Strohhut. Was ist hier passiert? Am Tag der Eröffnung konnten die Besucher mit Enright via Video-Ton-Liveschaltung aus Brooklyn kommunizieren: Vollkommen bandagiert, mit Blut bespritzt und in einem heruntergekommenen, zugemüllten Raum agierend, glich er einem Monstrum aus der Horrorwelt. Er fügte sich mit einer Schere Verletzungen zu, spritzte sich den Saft einer Zitrone ins Auge, hantierte mit Feuer und machte sich an seinen Genitalien zu schaffen. Die Interaktion mit einem seiner »Opfer« in Leipzig, einer jungen Frau aus dem HALLE-14-Team, der er verschiedene Anweisungen gab, schien bei ihr einen verstö­renden Trancezustand zu verursachen – zurück blieb jedenfalls das Gefühl einer virtuellen Misshandlung. Mit der Performance »Fightamin’s Records« hatte Enright erneut das gesamte Geschehen manipuliert und die HALLE 14 – trotz der transatlantischen Entfernung – zu einer Bühne seiner Exzesse werden lassen. www.semagoediv.com 1976 in Norfolk (US) geboren, lebt und arbeitet in New York (US).

Florian Göttke (DE) Ein Steh - auf - Diktator zum An fassen Einen Krieg führt man nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Bildern. Von solchen medialen Konstruktionen der Geschichte erzählt eindrucksvoll und präzise die Publikation »Toppled« (2010, dt.: »Gestürzt«) von Florian Göttke. Sie versammelt hunderte Presse- und Amateurfotografien von gestürzten Statuen des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein (1937— 2006), die er im Internet gefunden und als Buch zusammengestellt hat. Sie dokumentieren die unterschiedlichen Gebrauchskontexte und den Bedeutungswandel der Monumente, ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Raum, ihre Zerstückelung oder Eingliederung in ausländische Militärmuseen. Die Foto­ grafien zeugen von einem Prozess der Entweihung und Erniedrigung von Zeichen totalitärer Macht, von einer Transformation hin zu Stellvertretern eines besiegten Regimes und von ihrer symbolischen Umdeutung in Antikriegsprotesten. Unterschiedlichste Verhaltensweisen und Emotionen kommen dabei bei den Abgebildeten und auch bei den Betrachtern zum Tragen und offenbaren trotz akuter Bilderflut eine intensive und komplexe Beziehung zwischen dem Abbild und seinen Repräsentationen.

Stand-Up Saddam, 2007, Holzfigur

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KÜ NSTLER k Adolfo Kaminsky (FR)

Nach der Befreiung wird der nunmehr 20-jährige Kaminsky als staatlicher Fälscher vom französischen Geheimdienst engagiert, um dessen Spionagetätigkeit in Deutschland zu ermöglichen. Doch als man ihn nach Beendigung des Zweites Weltkriegs auch um die Vervielfältigung von Karten für Indochina bittet, lässt ihn seine antikolonialistische Haltung den Dienst umgehend quittieren. Die Umstände zwingen Kaminsky erneut in die Illegalität. In Sammellagern gestrandeten KZ-Überlebenden verhilft er unter Führung der zionistischen paramilitärischen Untergrund­ organisation Hagana zur illegalen Einreise in das Britische Mandatsgebiet Palästina, der sogenannten Alija Bet. Obwohl er selbst lieber im laizistischen Frankreich bleibt, ist er stolz, seinen Anteil an der Gründung Israels beigetragen zu haben. 1957 nimmt das französische Jeanson-Netzwerk, eine Unterstützerorganisation des algerischen FLN, mit ihm Kontakt auf – der algerische Unabhängigkeitskampf und ein baldiges Ende des Algerien­ krieges liegen auch Kaminsky am Herzen. Weitere Befreiungs­ bewegungen in Südamerika beginnen sich erfolgreich an ihn zu wenden. Bald darauf unterstützt er auch Aufständische gegen Diktatoren wie Salazar in Portugal, Franco in Spanien und das Regime der Obristen in Griechenland sowie die südafrikanische Anti-Apartheidsbewegung und die tschechischen Reformer während des Prager Frühlings. 1967 ist er für Freiheitskämpfer und Gehorsamsverweigerer aus 15 verschiedenen Ländern gleichzeitig tätig. Über all die Jahre gilt es für Kaminsky, den schmalen Grat zwischen Widerstand und Terrorismus zu wahren, also möglichst neutral zu bleiben und niemals gezielte Gewaltakte zu unter­ stützen, sondern vielmehr »Beihilfe« zur Meinungsfreiheit und politischen Formierung staatlich unterdrückter und verfolgter Gruppierungen zu leisten, indem man das Leben der Beteiligten mit neuen Identitäten vor Gefängnis oder Tod schützt. Um seine Unabhängigkeit zu garantieren, lehnt Kaminsky die Bezahlung seiner Fälschertätigkeiten stets kategorisch ab und ist somit trotz zweier Jobs (einem legalen und einem illegalen) dauernd pleite. Weder die künstlerische Arbeit und berufliche Verwirklichung als Fotograf noch Liebe, Familie und Vaterschaft lassen sich lang­ fristig mit den Heimlichkeiten und Gefahren des Untergrund­ lebens vereinbaren. Namens- und Wohnortwechsel sind die Regel, nicht selten bleibt auch die Gesundheit auf der Strecke. Erst 1971, als Kaminskys Ruhm ihn mit 46 Jahren endgültig »verbrannt« hat, wie es im Fälscherjargon heißt, d.h. die Fahnder ihn aufzuspüren drohen, setzt er sich nach Algerien ab, beginnt Fototechnik und Druck zu unterrichten, heiratet erneut und kommt in dem zur Ruhe, was er seither sein »Bonusleben« nennt. 1982 flieht er noch ein letztes Mal, nun wieder zurück nach Frankreich, da in Algerien Autoritarismus und politischer Islam erstarken: Ein Jude, eine liberale Frau und drei »Mischlings­ kinder« passen nicht in diese Welt. Rückblickend sagt Kaminsky über seine Fälschertätigkeit: »Auf meine Art und mit den einzigen Waffen, die mir zur Verfügung standen (…), habe ich in fast dreißig Jahren eine Realität bekämpft, die zu unerträglich war, als dass ich sie hätte mit ansehen können, ohne etwas zu tun, weil ich überzeugt war, dass man den Lauf der Dinge zu ändern vermag.« Im Rahmen der Ausstellung würdigte die HALLE 14 Adolfo Kaminskys humanistisches Lebenswerk in einer raumgreifenden Fotoin­ stallation. Auf einem Arbeitstisch konnten Bilder von gefälschten Pässen begutachtet werden. Weitere Fotografien zeigten seine Arbeitsutensilien. Die Biografie »Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben« (München 2011) seiner Tochter Sarah Kaminsky stand Neugierigen zur Leküre zur Verfügung. 1925 in Argentinien geboren, lebt in Paris (FR).

Ein F ä lscherleben

Angefangen hatte alles in einem als Maleratelier getarnten, notdürftig ausgestatteten Chemielabor im besetzten Paris, wo Doppelagenten der »6.« – einer Geheimsektion des Generalverbands der Israeliten Frankreichs (UGIF) – verzweifelt versuchten, jüdische Bürger vor dem Abtransport in die Konzentrations­lager zu warnen und ihnen mit falschen Papieren die Flucht zu ermöglichen. Die UGIF war eine offiziell vom Vichy-Regime ein­gesetzte jüdische Organisation, die sich aus staatlich kon­fisziertem jüdischem Vermögen finanzierte und unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit dabei half, die systematische Deportation ihrer »Schützlinge« vorzubereiten. Der Tipp zur Entfernung einer angeblich unlöschbaren Tinte machte die Résistance auf den gerade mal 16-jährigen Adolfo Kaminsky aufmerksam. Zwei Jahre zuvor hatte dieser während einer Färberlehre seine Faszination für chemische Prozesse entdeckt, Experimente gemacht und sich im Selbststudium Kenntnisse angeeignet, die nun für den Widerstand gegen die National­sozialisten von unschätzbarem Wert sein sollten. Kaminskys Forschergeist und Engagement erwiesen sich für das umfangreiche Netzwerk der Résistance schnell als so unersetzlich, dass er ein eigenes, nur ihm bekanntes Labor einzurichten begann, in dem er Tag und Nacht schuftete, um den steigenden Bedarf an immer aufwändigeren Dokumenten bedienen zu können – in einer Woche konnten es Hunderte sein. Vom Gelingen jedes einzelnen Papiers – egal ob Pässe, Führer­ scheine, Geburtsurkunden, Lebensmittelmarken oder Passierscheine – hingen Leben oder Tod ab, nicht zuletzt das Schicksal etlicher Kinder. Unter Extrembedingungen und in der dauernden Angst, entdeckt zu werden, leistete Kaminsky unablässig filigrane Arbeit, entwickelte neue Analyse- und Fälschungsmethoden, baute mit den einfachsten Mitteln komplizierte Apparate nach und ermöglichte mit seiner anfangs noch vollständig impro­ visierten Ausrüstung sogar Fotogravuren und Lichtdruck – der Zufall und die politischen Umstände ließen ihn über Nacht zu einem Leonardo da Vinci des Fälschens werden.

Fälschungen von Adolfo Kaminsky, 2012

Es war der Beginn einer langen »Karriere« als genialster und gefragtester Dokumentenfälscher Europas, aber auch eines Lebens im Untergrund. Die Familiengeschichte des wiederholten und erzwungenen Exils sollte sich für Adolfo Kaminsky fortsetzen. Seine Eltern begegneten sich 1916 in Paris, nachdem sie als russische Juden vor den Pogromen und der politischen Unter­drückung geflohen waren. 1917 mussten sie nach Argentinien einschiffen, weil ihnen als linken Russen nach der Oktoberrevo­lu­tion die Ausweisung aus Frankreich bevor stand und der Erste Weltkrieg eine Heimreise unmöglich machte. Nachdem alle drei Söhne in Argentinien zur Welt kamen, beschloss man Anfang der 1930er in »das Land der Freiheit« zurückzukehren. Damals ahnte niemand, dass 1943 die Internierung der Familie in das Sammel­lager Drancy bei Paris folgen sollte. Nur aufgrund ihrer argenti­nischen Papiere konnte der Vater gerade noch einmal recht­zeitig ihre Entlassung erwirken und einen Abtransport in ein Vernichtungslager verhindern. Kaminskys Mutter war bereits drei Jahre zuvor während einer Zugfahrt von den Nazis ermordet worden.

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KÜ NSTLER k

Donna Criminale: Capitalism as Religion – Market Criticism as Crime, 2012 (Detail)

Ulla Karttunen (FI)

die heutigen Tendenzen, das Leben selbst in allen Bereichen, von der Gesundheitsversorgung über geistige Errungenschaften bis hin zu sozialen Beziehungen und Selbstentwürfen, wie ein erfolgsorientiertes Warengut zu behandeln. In der HALLE 14 breitete sich die ortsspezifische Installation »Donna Criminale: Capitalism as Religion – Market Criticism as Crime« (2012) rhizomartig über nahezu die Hälfte der Ausstellungsfläche aus. Auf einer Leine reihten sich »dreckige Wäsche«, rottriefende weiße Folien und Gummihandschuhe mit rätsel haften Parolen aneinander: »Hygienische neoliberalistische Blutsarbeit macht frei« oder »Farbe bedeutet pure Kriminalität«. Eine Landschaft aus Reinigungsutensilien wie Plastikeimern, Abdeck­ planen und Schläuchen nahm eine ganze Serie von Karttunens »digitalen Ikonen« in sich auf – düstere Frauen­porträts aus einer fantastischen Halbwelt. Sie transformierten Berühmtheiten und Werbefiguren in das, was sie niemals sein wollen: namenlose Heiligen- oder Märtyrerdarstellungen. Eine geköpfte und erhängte Braut mit einem ausufernden Schleppenkleid aus Toilettenpapier stand im Zentrum dieser »Biennale der Gelynchten«, in der neun großformatige, Kinoplakaten ähnelnde Schautafeln, Anknüpfungspunkte zu Karttunens Gesellschaftskritik vor dem Hintergrund ihrer eigenen Künstlerbiografie lieferten: Die Arbeit thematisierte die Doppelmoral und Heuchelei im Umgang mit legalisierter oder »sauberer« Gewalt in den Medien, versuchte aber auch, die andauernde Produktion ebenso verlogener Waren unter dem Deckmantel der Sinnbefriedigung aufzuzeigen. Der Titel »Donna Criminale« (dt.: »Kriminelles Weib«) geht zurück auf den Begründer der positivistischen Kriminologie Cesare Lombroso (1835—1909), dessen ähnlich lautendes Buch die weibliche Sexualität hinsichtlich ihres verbrecherischen Potenzials untersucht. Seine eugenischen Betrachtungen konstruieren dabei eine »Tätertypenlehre«, d.h. einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Physiognomie und erblichen Veranlagung einer Person, bis hin zur Beweisführung mit »anomalen« Gesichtsausdrücken. Karttunens Arbeit spielte auf solche weiblichen Erkennungsmerkmale und Zähmungs­versuche der »Gattung Verbrecher« an, wobei in ihren Augen archaische Bestrafungs-

das kriminelle wei b

Einer reichlich schizophrenen und bedenklich rückständigen Zensurpolitik der finnischen Behörden sah sich 2008 Ulla Karttunen ausgesetzt, als ihre Installation »Virgin Whore Church« (dt.: »Jungfrau-Hure-Kirche«) zur fadenscheinigen Projektionsfläche für Polizei, Gericht und Medien ausartete und genau entgegen ihrer ursprünglichen Intention mit der Verbreitung von Kinderpornografie in Zusammenhang gebracht wurde. Der Name leitet sich von Webseiten ab, auf denen Pornodarstellerinnen als »virgin whores«, »teen sluts« oder »teen babes« bezeichnet werden, während die »Kirche« einem abgenutzten garagen­ artigen Planenzelt nachempfunden war, um den massenhaft alltäglichen und wie nebenbei ablaufenden Gebrauch pornografischer Inhalte zu signalisieren. Das Recherchematerial lag auf dem Boden verteilt, so dass man darüber hinweg steigen musste. Es handelte sich um hunderte Bilder von sehr jungen oder zumindest jung aussehenden Pornostars in Aktion, die Karttunen in nur wenigen Stunden problemlos von kostenlosen Internetseiten heruntergeladen hatte, wobei jedoch keine Opfer von Straftaten gezeigt wurden. Ein Begleittext erklärte die genauen Hintergründe der Arbeit und wies sie nicht zuletzt als Kritik am riesigen Pornomarkt und dem »Do-it-yourself«Celebritykult im Internet aus, für den sich die Mädchen bereit­ willig hergeben – ein Phänomen, das die Künstlerin u. a. als »virtuellen Sklavenmarkt« bezeichnete. Doch bereits einen Tag nach Eröffnung der Ausstellung beschlagnahmte die Polizei auf eine Besucheranzeige hin die Bilder und die Galerie baute die Arbeit ab. Das nun folgende, in vielen Punkten haltlose und widersprüchliche Strafverfahren, gegen das sich die Künstlerin später auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wehrte, führte sogar zu einer Verurteilung Karttunens. Solche Art fehlgeschlagene kritische Konfrontation von Kunst und Wirklichkeit bildet den Hauptfokus der Künstlerin, wobei sie kontinuierlich die Grenzen zwischen Theorie und Praxis auslotet. Dreh- und Angelpunkte ihrer Arbeit sind zudem die steigende Marktkonformität und Fetischisierung von Kunstprodukten sowie

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KÜ NSTLER k – m methoden wie das Steinigen und Lynchen als Massenspektakel heutzutage durch deren »hygienisch kulturpolitische und mediale Version« lediglich erweitert würden: »Die Kriminalität der Exekutierten wurde und wird nach wie vor auf eine bestimmte Vorstellung oder ein Konzept reduziert, das die moralische Panik rechtfertigen und die Gemeinschaft stärken soll, indem sie ein allgemeines Feindbild entwirft«, so Karttunen. Die Idee der Putzfrau erscheint ihr als Prototyp eines sprachlosen, sozial niedrig gestellten und in den Augen der Gesellschaft fehlgeschlagenen Bürgers – nahezu die Beschreibung eines Kriminellen also. Sozialkritische Künstler allerdings seien, wie in ihrem Fall, in einem neoliberalen System manchmal sogar schlimmer dran, jedenfalls wenn ernsthafte Kapitalismuskritik zu einem kriminellen Akt stilisiert wird und erfolgreiche Geschäfte, wie das Werben für Bestseller-Pornomarken, gar nicht erst zur Debatte stehen. www.ultrabkarma.wordpress.com Lebt und arbeitet in Joensuu (FI).

Vorläufig zumindest. So wie Malewitsch das Thema Malerei mit seinem schwarzen Quadrat abgehakt hat. Im Inneren der Kuh wurde mir klar, dass da keine Realität ist, und das bedeutet, dass es sie immer noch zu entdecken gilt.« Als die Pariser Kunstmesse FIAC vor einigen Jahren Fotografien des Ereignisses feilbot, wurden diese allerdings als illegale Pornografie eingestuft und auf Anordnung der Staatsanwaltschaft von der Polizei konfisziert. Doch Kulik schlüpft in viele Rollen. Im von Kriminalität gebeutelten Moskau und angesichts eines nicht vorhandenen Kunstmarkts versuchte er 1996, sein Geld als »Police Dog« zu verdienen, indem er die Besucher eines Nachtclubs auf Drogen und Waffen inspizierte. 1999 baumelte er dann in Gestalt eines schillernden Gürteltiers von der Decke des Museums für moderne Kunst in Antwerpen. In seinem Heimatland gründete er sogar eine »Tierpartei«, mit der er sich 1995 im Stierkostüm ver­klei­­det als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen ankündigte. Jedenfalls schaffte er es damals mit seinen programmatischen Aufführungen bis ins Fernsehen. Verfolgt man die ganze Linie seiner vielseitigen Aktivitäten mit den unterschiedlichsten Tieren, oder als »Artist-Animal« in deren Rollen schlüpfend, tritt deutlich deren politische und philosophische Intention zu Tage. »Zoophrenie« nennt Kulik selbst dieses Konzept, das die kulturelle Domestizierung des Menschen und den vorherrschenden Anthropozentrismus überwinden soll. Indem er sich scheinbar in das »primitive« Stadium eines Tieres zurückfallen lässt, wirft er nicht zuletzt die Frage auf, wie es eigentlich um das »Wesen« unserer eigenen Gattung bestellt ist. Es waren vor allem die Performances »Mad Dog« (Moskau, 1994), »Reservoir Dog« (Zürich, 1995), »Dog House« (Stockholm, 1996) und »I Bite America and America Bites Me« (New York, 1997) in seiner Galerie und anderen namhaften Kunstinstitutionen, die Kulik weltweit bekannt machten und ihm den Ruf eines der kontroversesten, aber auch repräsentativsten Künstler Russlands einbrachten. Als »Hunde-Künstler« protestierte er dort u.a. gegen die Umwandlung des künstlerischen Lebens in materiellen Besitz. Nackt, auf allen Vieren, bellend und an seiner Eisenkette reißend ging er auf die Besucher los, biss sie, pinkelte ihnen vor die Füße oder hielt draußen in der Kälte den Verkehr auf. Jede dieser (teilweise in Kollaboration mit ähnlich rebellischen Künstlern wie Alexander Brener stattfindenden) Aktionen endete damals auf die gleiche Weise, mit der Fest­nahme Kuliks durch die Polizei; mit Ausnahme einer, bei der er von Anfang an in einem Käfig saß. In der HALLE 14 waren die Performances innerhalb einer begehbaren Videoinstallation wieder zu erleben. Mittlerweile ist Kulik über fünfzig und wider Willen ein Star – 2011 hat er für das Pariser Théâtre du Châtelet Händels »Messias« inszeniert. 1961 in Kiew (UA) geboren, lebt und arbeitet in Moskau (RU).

Oleg Kulik (RU)

i bite america and america bites me

I Bite America and America Bites Me, 1997

Zwei Leitmotive kennzeichnen Oleg Kuliks Kunst: Eine Obsession für das Animalische, mit seiner absoluten Ehrlichkeit und emotionalen wie physischen Nacktheit gegenüber dem Publikum, und eine gewisse Transparenz, die seinen radikalen Auftritten etwas Diszipliniertes verleiht, obgleich sie sich in sozialen Grenzbereichen bewegen: »Wenn wir die Perspektiven einer anderen biologischen Spezies in die ästhetische Praxis involvieren, wird es eine neue Renaissance geben, und einen künstlerischen Boom, der heutzutage noch schwer vorstellbar ist. (…) Wir müssen das Programm der menschlichen Entwicklung ändern«, so benennt der Konzeptualist seine Strategie. Ver­stehen kann man Kuliks Ansatz nur vor postsowjetischem Hin­tergrund, doch seine Botschaft ist universell. Kulik zeigt sich deutlich unbeeindruckt von der sogenannten Humanität und verleiht in Form von »tierischen« Aktionen seiner Abscheu gegenüber der menschlichen Korruptheit Ausdruck. Gleichzeitig liefert er (auf theoretischer Ebene) eine kompromisslose Vision der Zukunft, was nicht selten zu Missverständnissen geführt und ihm den Ruf eines Verrückten eingebracht hat. Seine frühen Performances in den 1990er Jahren, kurz nach dem Fall der Sowjetunion, entsprangen unmittelbar der brutalen russischen Wirklichkeit. Damals offenbarte er mit »Deep into Russia« (1993) – wohl einer seiner schockierendsten Gesten – erstmals seine Vorliebe für Tiere, als er seinen Kopf in der Vagina einer Kuh versenkte, um neu geboren zu werden. Nach dieser Peinigung – man weiß nicht genau, ob für ihn oder die Kuh – erklärte er: »Das Thema Wirklichkeit habe ich für mich abgehakt.

Antonio Vega Macotela (MX)

auftraggeber aus dem knast Antonio Vega Macotelas Arbeiten verstehen sich als konkrete Eingriffe in soziale Strukturen und werden gleichzeitig zu deren Sinnbild, wobei er vorzugsweise mit Menschen interagiert, die unter Extrembedingungen leben oder arbeiten. Seine Werke drehen sich vor allem um das Konzept Zeit, um Wertkreisläufe oder Rituale und kritisieren die enge Verbindung ökonomischer und sozialer Erfahrungshorizonte. Für Macotela ist Kunst ein Werkzeug mit dem Potenzial, die Richtung des Alltäglichen zu verändern und neue, möglicherweise alternative Sinnzusam­ men­hänge anzubieten. Eine dieser Extrembedingungen ist für ihn das Leben im Gefängnis. Und so hat er, obwohl er selbst nie ins Gefängnis musste, doch über 500 Stunden dort verbracht, um sich mit den Be­ dingungen vor Ort auseinanderzusetzen. Im engen Kontakt mit den Häft­lingen, deren Vertrauen er zunächst einmal gewinnen musste, lernte er ein Machtsystem kennen, das sowohl auf kriminelle Perfektion, als auch auf physische und mentale Überlebens­strategien in den verschiedensten Bereichen aus­ gerichtet ist: »Bis zu einem gewissen Grad funktioniert das

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KÜ NSTLER m Objekt, das ihm viel bedeutete. Um es einzutauschen, sollten ihm die Häftlinge ihrerseits etwas anbieten, das ihnen noch wertvoller erschien, wobei diese Vorgänge mehrmals wiederholt und die verschiedensten Dinge »wertsteigernd« von Hand zu Hand gereicht wurden. Im Gegenzug überbrachte Macotela Nachrichten in das nahe gelegene Frauengefängnis. Das Video »Time Exchange 16« dokumentiert, wie Ivan dem Künstler seine Atemzüge widmete – im gleichen Moment und so lange, wie dieser Zeit mit Ivans Großvater verbrachte, mit ihm aß und redete, so wie Ivan es immer tat. 1980 in Mexiko-Stadt (MX) geboren, lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt (MX).

Time Exchange 16, 2006—2011, Videostill

Teresa Margolles (MX) Leichenschau

Gefängnis wie eine Universität, in der die Produktion und Ver­ mittlung von Spezial­wissen gelehrt wird.« Um diese Techno­ logien zu »extrahieren«, entwickelte er u. a. das Projekt »The wind blows wher­­ever it wants to« (2010, dt.: Der Wind weht, wo immer er will). Die Grundidee war, jeweils einen Dialog zwischen einem Ökonomen und einem Dieb, einem Philosophen und einem Hochstapler sowie einem Psychoanalytiker und einem Erpresser herzustellen, wobei die angeheuerten Spezialisten mäeutische Techniken, d.h. sokratisches Fragen, anwenden sollten, um das Wissen der Häftlinge ans Licht zu befördern. Dies gelang ihm, indem er Telefongespräche mit Häftlingen aus dem Gefängnis in eine nahezu leere, als Resonanzraum dienende Ausstellungshalle des Universitätsmuseums für moderne Kunst (MUAC, Mexiko-Stadt) schallen ließ. Aus den stenografischen Aufzeichnungen der Teilnehmer bildete Macotela später den Satz »Der Wind weht, wo immer er will«. In seinem jüngsten und bisher umfangreichsten Projekt »Time Exchange« betrieb Macotela individuelle Tauschgeschäfte mit Insassen des ehemaligen Vorzeigegefängnisses Santa Martha Acatila in Mexiko-Stadt, heute nur noch eine der überfülltesten Haftanstalten Mexikos. Zwischen 2006 und 2011 wurde er über 300 Mal buchstäblich zu einem Agenten des Lebens außerhalb der Gefängnismauern, hinter denen nun wiederum Kunst entstand. Innerhalb eines zuvor vereinbarten Zeitraums verrichtete Macotela im Namen seiner jeweiligen »Auftraggeber« ver­ schie­dene Aufgaben, nicht selten sehr persönliche Dinge, und dokumen­tierte diese im Audio- oder Videoformat. Im Gegenzug erfüllten die »Auftraggeber«, also die Häftlinge, simultan meist ebenso intime Aufgaben und schufen unter Anleitung des Künstlers kleinere Objekte, Zeichnungen oder Installationen. Jede Woche war Macotela mehrmals innerhalb und außerhalb des Gefängnisses aktiv: Er bat Angehörige um Vergebung, ging mit Müttern tanzen, fungierte für einen Tag als Vater oder las einem sterbenden Familienmitglied im Krankenhaus einen Brief vor; in der Zwischenzeit zählte und beschriftete Fernando seine Narben, verwandelte De la Mora ein Basketballspiel in Konkrete Poesie oder zeich­nete Ivan eine akustische Karte seiner Umgebung. Der Tausch von Zeit also galt ihnen als Währung – auch das einzige, was den Häftlingen als Zahlungsmittel zur Verfügung steht. Jeder Zeittausch wurde katalogisiert und das Ergebnis zu einem individuellen Kunstwerk erklärt, das Macotela nunmehr als sein eigenes präsentiert. Die Zeit bzw. die Aufzeichnungen, mit denen er dafür »bezahlt« hat, gehören hingegen ganz seinen Projektpartnern und werden daher auch nie ausgestellt. Manchmal tauschte man aber auch direkt spezielle Fähigkeiten: Dafür zum Beispiel, dass Macotela der Tochter eines Insassen das Lesen beibrachte, zeigte dieser ihm, wie man mit einem Schnürsenkel jemanden umbringen kann. Mit Blick auf ihre kreativen Überlebenstech­no­logien gründeten einige Insassen sogar ein Künstlerkollektiv mit dem Namen »The Rashes« (rash = dt.: Ausschlag) – Macotela agiert als ihr Vermittler und stellt ihre Erfindungen der Öffentlichkeit vor. Im Rahmen der Ausstellung sind knapp 100 Fotografien von Tauschgegenständen aus der Serie »Time Exchange 279—289« zu sehen. Hierfür gab der Künstler zehn Insassen jeweils ein

94 minutes, Videostill

Teresa Margolles ist Pathologin und Künstlerin gleichermaßen. Nach ihrem Studium der Kunst und Kommunikationswissen­ schaften erwarb sie zusätzlich ein Diplom in forensischer Medizin. Sie nimmt sich der Opfer von Gewaltverbrechen an und macht diese, deren Körper – und damit auch die Erinnerung an sie und das, was ihnen widerfahren ist – zum Gegenstand ihrer künstlerischen Arbeit. Ihr mexikanischer Kollege Santiago Sierra schreibt über sie: »Margolles’ Werk ist eine Daueranklage der Mörder durch das schlagkräftige Mittel, der Gesellschaft die Leichen ihrer Opfer auf den Tisch zu legen.« Im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main wurden die Besucher 2004 von Seifenblasen begrüßt: glitzernd, zerbrechlich, schön – Vergänglichkeitssymbole aus Leichenwaschwasser. Unter dem Motto »Worüber sonst können wir sprechen?« bespielte Margolles den Mexikanischen Pavillon auf der 53. Biennale von Venedig. Dort wischten Angehörige von Opfern des mexikanischen Drogenkrieges jeden Tag zur gleichen Zeit die Böden mit dem Blut ihrer toten Verwandten. Im Obergeschoss hingen mit Blut und Schlamm verkrustete Laken, die ehemals zur Reinigung von Tatorten dienten; einige mit Gold bestickt mit sogenannten »Narcomessages«, die oft auf den zerschun­ denen Körpern der Ermordeten zu finden sind – Botschaften des Hasses im Revierkampf der Gangs. Im Museum Fridericianum in Kassel ließ Margolles 2010 eine meterlange Linie in eine Wand schlitzen und mit Körperfett füllen – ein Verweis auf die vielen Leichenfunde, bei denen die offenen Schnittstellen abgetrennter Körperteile das Innere bloßlegen. Zudem verdunkelten 40 in Erde und Körperflüssigkeiten getränkte Stoffe die Fenster an der Außenfassade des Kunsttempels und ließen ihn unter Einfluss der Witterung »bluten«. Die sozialen, ökonomischen und politischen Lebensverhältnisse in Mexiko sind bereits seit zwanzig Jahren das Thema der Künstlerin. Leichenschauhaus, Anatomiesaal und die Straßen von Mexiko-Stadt dienen ihr als unerschöpfliches Atelier – hier findet sie die stummen Zeugen der brutalen Lebensrealität in einer überfüllten Mega-City: Opfer von Gewaltverbrechen, Drogen­ tote, Verkehrstote, nicht identifizierte Leichen, Orte, an denen Bandenkriege, Hinrichtungen, Überfälle und Verfolgungen

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KÜ NSTLER m – n stattgefunden haben. Im Gegensatz zu ihren frühen Projekten im Rahmen der Gruppe SEMEFO (Servicio Médico Forense, dt.: Gerichtsmedizinischer Dienst) entwickelte Margolles für ihre Arbeiten bald eine stark reduzierte, minimalistisch anmutende Sprache, die ihre tiefe Emotionalität und Dramatik jedoch schonungslos eröffnen, sobald das Publikum ihrem rigorosen Realismus in der Materialwahl auf die Spur kommt. Auf diese Art sucht sie nach Wegen, Gewalt und Tod vor allem hinsichtlich ihrer existenziellen Auswirkungen zu thematisieren und setzt sich gleichzeitig mit deren allgemeiner Tabuisierung ausein­ ander – dicht an der Grenze des Darstellbaren und an der Grenze der Kunst. Die in der HALLE 14 gezeigte Videoarbeit »94 minutes« scheint zunächst nichts weiter als ein Abspann zu sein. Allerdings waren die Mitwirkenden nicht Teil einer Filmrealität, sondern Prota­ gonisten der ungeschminkten Wirklichkeit. Nach einer Weile wird deutlich, dass es sich um eine schier endlose Liste von Ermordeten und deren Todesumständen in der mexikanischen Stadt Culiacán handelt. Hier wurde Margolles 1963 geboren und ist selbst mit den Narcos, den Drogendealern, aufgewachsen. »Heute sind sie überall«, erzählt sie. Wer nicht zu ihnen gehöre, leide unter ihnen, habe in seinem Umfeld Opfer zu beklagen. Dennoch profitierten viele zwangsläufig von der wuchernden Ökonomie im Umkreis ihrer Geschäfte: »Und wenn es auch nur so ist, dass sich die Dealer in deinem Imbiss ihre Tacos kaufen. 1963 in Culiacán (MX) geboren, lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt (MX).

warteten. Es gab nie ein Museum und es gibt bis heute keines – ganz entgegen der daraufhin kurzzeitig aufflammenden Beteuer­ ungen vieler lokaler Organisationen, sich tatsächlich um die Entstehung solch einer Einrichtung zu bemühen. Insofern kann Moudovs Langzeitprojekt »Fragments box#2« wohl auch als ironischer Versuch gedeutet werden, sich seine eigene »Arche Noah der Kunst« zu schaffen. Diese 2002 begonnene Sammlung von Werkelementen von berühmten und weniger bekannten Künstlerkollegen hat er sich über die Jahre aus unterschied­ lichen Institutionen, Museen und Galerien weltweit zusammengestohlen, anfangs noch wahllos, später immer differenzierter und anspruchsvoller. Die zahlreichen unerlaubt entwendeten Ausstellungsstücke, wie ein Dia von Douglas Gordon, ein Stück Rost von Joseph Beuys oder eine Eierschale von Marcel Broodthaers, werden katalogisiert und wiederum in selbst gebauten Modulkoffern präsentiert, die deutlich an die Boîteen-valise des ersten großen »Ideen-Künstlers« Marcel Duchamp oder die Arbeitsweise des Fluxus-Vertreters Robert Filliou erinnern. Das Stehlen ist dabei nur ein Aspekt und eher Mittel zum Zweck – viel mehr interessieren Moudov die Bedingungen des Sammelns und die institutionellen Schwierigkeiten, die das Projekt verursachte, wobei nach wie vor Fragen der Repräsentation sowie Macht und Deutungshoheit im großen Sinnspiel Kunst zur Debatte stehen. Ihrem ursprünglichen Kontext entzogen, entfalten die Objekte in Moudovs Piratenkollektion jedenfalls ihre ganz eigene Form und Bedeutung. Schlussendlich baten viele Künstler sogar darum, in den Schachteln ausgestellt zu werden. Mit seinem Ausstellungsbeitrag »Right Hand, Middle Finger« (2012) hinterlässt Moudov ebenfalls eine mehrdeutige Spur. Der vielsagende Metallschnitt eines Abdrucks seines rechten Mittelfingers wird geradezu zur ikonischen Geste seiner künstlerischen Praxis und ihrer Inspirationsquellen. Spitzfindig changiert er zwischen künstlerischer Autorschaft und Readymade, Minimal Art und Kontextkunst, wobei er die gegenwärtigen Tendenzen zur biometrischen Vollerfassung des Bürgers höhnisch konter­ kariert – eine Praxis, die nicht nur dem Aufbau umfassender staatlicher Überwachungsstrukturen dient, sondern bei deren geplanten automatisierten Abfragen einer zentralen Computerdatenbank Kritiker längst mit vielen fälschlich als Verbrecher identifizierten Unschuldigen rechnen. Abgesehen vom gezielten Missbrauch und leichterer Zugriffsmöglichkeiten auf die gespeicherten Informationen, nicht nur für Kriminelle, spielt dabei auch die Fehleranfälligkeit und Fälschungsunsicherheit von biome­ trischen Daten wie elektronischen Fingerabdrücken eine Rolle. 1975 in Sofia (BG) geboren, lebt und arbeitet in Sofia (BG).

Ivan Moudov (BG)

rechte han d, mittelfinger

Right Hand, Middle Finger, 2012, Metall, Laserschnitt, schwarz lackiert

Dorota Alicja Nieznalska (PL)

Bei Ivan Moudov gehören die Irritation und feine Sabotage der alltäglichen Ordnung zum künstlerischen Programm. Spielerisch fordert er Gesetze und Verhaltensregeln heraus, unterwandert sie jedoch immer nur so weit, dass sie sich gewissermaßen selbst kommentieren. »Es ist eine Frage des subtilen Unterschieds zwischen der Legalität und Illegalität der Aktionen«, so Moudov, die Aneignung der Verhältnisse wird dabei Teil der Strategie. Es kommt ihm vor allem darauf an, konkrete Erfahrungen und Brüche in sonst gewohnheitsmäßig reproduzierten und in ihren Vorgaben akzeptierten Lebensbereichen zu provozieren. Kon­se­ quenterweise muss auch die innere Logik der Kunstwelt und ihr Verhältnis zur Gesellschaft immer wieder in sein Visier geraten. Als bulgarischer Polizist verkleidet, »regelte« Moudov beispielsweise in verschiedenen europäischen Städten eigenmächtig den Verkehr oder strapazierte die Vorfahrtsregelung eines Kreisverkehrs in Weimar so lange, bis ein Weiterkommen un­mög­lich wurde. 2005 kündigte er die Eröffnung des ersten bulgarischen Museums für Zeitgenössische Kunst (MUSIZ) in einem alten Bahn­ hofsgebäude seiner Heimatstadt Sofia an. Dank einer umfangreich inszenierten PR-Kampagne erschienen hunderte Gäste, darunter Journalisten, Politiker und Kunst­begeisterte, zur Einweihungsparty. Bei ihrer Ankunft fanden sie allerdings nichts, außer ebenso irritierte Gäste und Menschen, die auf ihren Zug

haken kreuz un d dornen krone

Dorota Alicja Nieznalska verwendet meist eine sehr klare, historisch wie ideologisch aufgeladene Symbolsprache, um Mechanismen von Leid und Gewalt zu thematisieren; ein Umstand, der bei oberflächlicher oder voreingenommener Betrachtung leicht zu einer eindimensionalen Interpretation ihrer Arbeiten verleiten kann. Jedoch sind es nicht zuletzt die Widersprüche und Abhängigkeiten innerhalb von Machtverhältnissen und Identitäts­ zuschreibungen, die im eigentlichen Fokus ihrer Betrachtungen stehen. Formen staatlicher und gesellschaftlicher Repression, die Schizophrenien religiöser Dogmen, Geschlechterrollen, Sexualität und Fetisch-Phänomene bilden dabei die bevor­ zugten, oftmals eng verknüpften Bereiche ihrer skulpturalen Re- und Dekonstruktionen. Vor zehn Jahren führte dies in Nieznalskas Heimatland Polen zu einer nahezu mittelalterlichen Hetzjagd auf die Künstlerin. Anlass war die Installation »Passion« in der Galerie Wyspa in Gdańsk (2001/02), für die sie die großformatige Farbfotografie eines nackten männlichen Unterleibs an einem Metallkreuz befestigt hatte. Auf einer Videoleinwand sah man dazu den verzerrten Gesichtsausdruck eines Mannes beim Gewichtheben, wobei die Ursache für seine Mimik durch den begrenzten Bild-

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KÜ NSTLER n – o

Dorota Alicja Nieznalska, Jewellery 1 & 2, 2010, Aluminium, Swarovski-Steinchen

Anna Odell (SE)

ausschnitt nicht klar erkennbar und damit für die Deutung offen war. Thema war die Konstruktion und Kritik von Maskulinität, doch konservative Katholiken liefen Sturm gegen die Arbeit, verurteilten sie als unmoralisch und blasphemisch. Einige behaupteten schlichtweg, sie veranschauliche den »Penis von Christus«. Manche Gegner drohten sogar mit Mord und Schädelrasur (so wie sie während des Zweiten Weltkriegs bei Frauen Anwendung fand, die sich mit Deutschen eingelassen hatten). Die Galerie wurde schließlich unter Mitwirkung der lokalen Kunstakademie von den Behörden geschlossen und Nieznalska auf Anklage der »League of Polish Families« – einer klerikal-nationalistisch orientierten Partei, die 2004 mit 15,2 % der Stimmen in das Europäische Parlament gewählt wurde – wegen Beleidigung religiöser Gefühle zu sechs Monaten Sozialarbeit verurteilt. Außerdem durfte sie das Land vorerst nicht mehr verlassen. Die museal und wie Reliquien inszenierten Objekte in der Ausstellung nehmen direkt Bezug auf diese streckenweise traumatischen Erfahrungen. Ein Hakenkreuz (»Jewellery 1«) und eine Dornenkrone (»Jewellery 2«) aus Aluminium scheinen mit feinen Brillanten überzogen. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die teuren Edelsteine jedoch lediglich als einfaches SwarovskiGlas. Der zynische Akzent dieser Gegenüberstellung der als Diptychon präsentierten Objekte spielt auf Nieznalskas eigene Situation an, in der sie – noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts – mit einer Form von Stigmatisierung konfrontiert und für lange Zeit von der aktiven Teilnahme am künstlerischen Leben ausgeschlossen war. Obwohl diese Symbole für sich genommen ganz unterschiedliche Epochen, Ideologien und Ereignisse repräsentieren, werden sie in ihrer Interpretation gleichermaßen zu Vorwänden für Hass, Machtausübung und Terror. Indem sie diese Zeichen der Herrschaft und des Leids zu bloßen Oberflächenphänomenen und Objekten der Gier stilisiert, bringt sie nicht zuletzt die Anmaßung und Heuchelei dogmatischer Anschau­ungen zum Ausdruck – seien sie religiös oder politisch motiviert. Dabei beharrt Nieznalska auf ihrer schwer verdau­lichen und provokanten Bildsprache, wobei sie sich den Skandal und billigen Glanz als Aufmerksamkeitsstrategie in unserer heutigen Medien- und Popkultur gezielt zunutze macht und ihn auf die Spitze treibt. In der düsteren und klaustrophobischen Atmosphäre, in der ihre Installation »Crime« präsentiert wird, rotieren dagegen vier riesige Stahlklingen direkt auf Höhe des menschlichen Herzens. Gemeinsam formen sie ein massives Kreuz, das durch blutrotes Licht beleuchtet ist, wodurch sich die kreisenden Schatten in eine schwarze Swastika vor rotem Hintergrund verwandeln. Dieser sonderbar bedrohliche »Ventilator« lässt die zerstörerische Mordmaschinerie des kriminellen Nazi-Systems regelrecht spürbar werden. Derartig eindringliche Vergegenwärtigungen von Gewalt und historischen Ereignissen, unter Rückgriff auf eine ideologiepolitisch stark vereinnahmte Ikonographie, bilden wohl das augenfälligste Merkmal von Nieznalskas Kunst. www.nieznalska.com 1973 in Gdańsk (PL) geboren, lebt und arbeitet in Gdańsk (PL).

Von der Ausg renzung des Wahnsinns Im Januar 2009 lief Anna Odell nachts spärlich bekleidet und offenbar verwirrt auf Stockholms Liljeholmen-Brücke auf und ab und verharrte gelegentlich über den eiskalten Wogen des Mälarensees. Besorgte Passanten hielten sie für selbst­mord­ gefährdet und riefen die Polizei, die Odell unter heftigem Widerstand in die psychiatrische Notaufnahme des St.-GöranKrankenhauses einlieferte, der größten Nervenheilanstalt in Schweden. Dort fixierte man sie mit Gurten an einem Bett und verabreichte ihr Medikamente. Am nächsten Tag teilte sie der zuständigen Oberärztin mit, dass ihr desolater Zustand nur – und im besten Sinne der Kunst – inszeniert war. Die ließ die falsche Patientin nach ihrer Erklärung gehen, jedoch nicht, ohne sie anzuzeigen. Das Stockholmer Amtsgericht verurteilte Odell später wegen gewaltsamen Widerstands gegen die Staatsgewalt und unredlichen Verhaltens zu einer Geldstrafe. Der Medienrummel, der diesen Prozess über Monate begleitete, war dabei zunächst nicht intendiert. Ursprünglich sollte die Aktion erst im Rahmen der Graduiertenausstellung an der Stockholmer »Konstfack« (Akademie für Kunst, Handwerk und Design) publik werden, bei der die Künstlerin heimlich aufgenommenes Bildund Tonmaterial sowie eine Dokumentation des Projekts als Abschlussarbeit unter dem Titel »Okänd, Kvinna 2009-349701« (dt.: »Unbekannt, Frau 2009-349701«) einreichte. Diese Bezeichnung stammt von dem Krankenblatt, das bei ihrer Aufnahme in die psychiatrische Klinik angefertigt wurde. Doch bereits vor seiner endgültigen Fertigstellung und Präsentation löste das Projekt eine Debatte über die Freiheit der Kunst und der staatlich geförderten Bildung aus, ohne dass jemand das fragliche Material überhaupt gesehen oder eine Stellungnahme der Künstlerin gehört hatte. Odell selbst hinterfragt vor allem das Konzept der Psychiatrie mit all seinen Voraussetzungen und Schlussfolgerungen: Wer hat das Recht, jemanden für psychisch krank zu erklären? Wer bestimmt über die Art der Behandlung und entwickelt deren Methoden und wer definiert die Normen sozialen Verhaltens? Es ist kein Zufall, dass der Diskursphilosoph Michel Foucault in seiner historischen Analyse von Machtstrukturen immer wieder auf die Psychiatrie zu sprechen kommt, um zu zeigen, wie eng Macht mit der Produktion von Wissen bzw. mit bestimmten Denksystemen zusammenhängt, und dass »Wahnsinn« in erster Linie ein Begriffskonstrukt ist, das nicht nur eine Geschichte hat, sondern vor allem durch gesellschaftliche Ein- und Ausschlusspraktiken erzeugt wird. Die Tatsache, dass Odells simulierte Psychose ernst genommen wurde, mag verständlich sein, trotz allem läuft sie dem Anspruch der Psychiatrie zuwider, auf wissenschaftlichen Methoden und Fakten zu beruhen, die ihre Praxis rechtfertigen sollen. Auf der anderen Seite ist nicht klar auszumachen, auf welcher »Seite« die Künstlerin selbst steht. Ist sie ein Opfer der Umstände oder benutzt sie andere für ihre Zwecke? Konkreter Anlass der Arbeit war nicht zuletzt Odells

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KÜ NSTLER 0 – s Im wohl fairsten Bericht des Franzosen Antoine Bonnefoy über Priber heißt über sein »Paradies«: »…daß es in seiner Republik keine Herrschaft geben solle, daß alle dort gleich sein sollten, daß er die Leitung nur wegen seines Verdienstes als Gründer übernehmen wolle; daß sich im übrigen seine Lebensbedin­ gungen in keiner Weise von denen der anderen unterscheiden würden, daß die Unterkunft, die Möbel und die Kleidung gleich und einförmig sein sollten ebenso wie das Leben, daß alle Güter gemeinsam sein sollten und daß jeder nach seinen Fähigkeiten für das Wohl der Republik arbeiten sollte; daß die Frauen dort in der gleichen Freiheit wie die Männer leben sollten; daß es dort keine Heiratskontrakte geben würde und daß es in ihrem Belieben stehen würde, jeden Tag den Mann zu wechseln; daß die Kinder, die geboren werden, der Republik gehören und versorgt und in allem unterrichtet würden, wozu sie begabt seien; daß als einziges Recht das der Natur etabliert würde, und daß Verstöße durch ihr Gegenteil bestraft werden sollten wie bei der Talion.« Über das temporär inszenierte »Pribermuseum« hinaus erinnert die HALLE 14 an den vergessenen Idealisten aus Sachsen und mutmaßlichen Geistesverwandten der »kriminellen« Künstler dieser Ausstellung mit der Ausschreibung eines ChristianGottlieb-Priber-Reisestipendiums. Die Stipendiaten Michael Townsend und Emily Bryant werden zu den verschiedenen Lebensstationen Pribers in Europa und Nordamerika reisen und dabei sein verlorenes Manuskript »Kingdom Paradise« neu schöpfen (siehe dazu Seite 31). 1697 in Zittau (DE) geboren, vermutlich um 1748 in Fort Frederica (heute US) gestorben.

Unbekannt, Frau 2009-349701: Die Brücke, 2009, Videostill

eigene Psychose im Jahre 1995, als sie all diese Erfahrungen tatsächlich schon einmal durchlebte. Die Begegnung mit einer Frau, der es ähnlich erging, bewog sie schließlich zu einer Re-Inszenierung ihrer Geschichte. »Unbekannt, Frau 2009-349701« wird in der HALLE 14 erstmals in Deutschland vorgestellt. Insgesamt besteht die Arbeit aus fünf Filmen unterschiedlicher Länge: Diese dokumentieren Odells simulierten Selbstmordversuch und die Festnahme (»Bridge«), ihr Geständnis mit der Reaktion der Ärztin (»Avslöjanet«) – diese beiden sind hier zu sehen – und die Gerichtsverhandlung (»Rättegangen«). Sie enthalten aber auch Interviews, (nach­ gestellte) Bilder aus dem Krankenhaus, Fernsehbeiträge und eine eigene Stellungnahme (»Epilog«) sowie Recherchemate­rial aus den verschiedenen Phasen des Projekts (»7 Samtal«). www.annaodell.dk 1976 in Örebro (SE) geboren, lebt und arbeitet in Nørre Nebel (DK).

Christian Gottlieb Priber (DE)

Von einem, der auszog, das Königreich Paradies zu gründen Von alters her haben Menschen von gerechteren Gesellschaften und besseren Welten geträumt und ihre Ideale in literarischen Utopien niedergelegt. Ein nahezu unbekannter Nachfahre Platons und Vorläufer Rousseaus ist der Freidenker und Abenteurer Christian Gottlieb Priber, der 1697 in der sächsischen Kleinstadt Zittau geboren wurde. Er war ein Avantgardist der Menschenrechte, träumte von sozialen Utopien und sprengte Rassenschranken. Doch im Gegensatz zu manchem berühmten Utopisten wollte der gut bestallte Jurist und Frühaufklärer seine Vorstellung in die Praxis umsetzen. In Alabama sollte sein »Himmelreich auf Erden« (Heinrich Heine) – er taufte es »Königreich Paradies« – gegründet werden: Alle Schranken, ob Eigentum, Rasse, Klasse oder Geschlecht, wären dort aufgehoben. Sein Entwurf eines idealen Gemeinwesens ist im 18. Jahrhundert das einzige uns bekannte Beispiel einer weltlichen Utopie unter einer Vielzahl religiöser Lebensentwürfe. Seinen abenteuerlichen Weg von Zittau über London in die englische Kolonie South Carolina in Nordamerika, seinen Kulturwechsel zu den Cherokee und seine Haftzeit und seinen mutmaßlichen Tod in Fort Frederica auf der St.-Simons-Insel beschreibt der Artikel »Man nannte ihn Priber« von Ariane Barth ab Seite 18 dieser Zeitung. Über 250 Jahre geriet dieser außergewöhnliche Mensch in Vergessenheit. Das Manuskript, in dem er seine Utopie der ersehnten Republik beschreibt, gilt als verschollen. Durch Zufall entdeckte die deutsche Kulturjournalistin Ursula Naumann diese historische Ausnahmefigur in einem Lexikon und war so beeindruckt, dass sie zehn Jahre lang nach Spuren seines Lebens recherchierte. Ihre Entdeckungen fasste sie in ihrem Buch »Pribers Paradies. Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis« (Die Andere Bibliothek, Frankfurt am Main 2001) zusammen. Dieses Buch ist mit einigen weiteren Dokumenten zu Pribers Leben Teil der Ausstellung. Im Galerieraum erklingen vier Berichte von Zeitgenossen Pribers, die ein ebenso kontroverses wie facettenreiches Spekulieren über dessen Person bezeugen.

Ulrike Dornis, Priber bei den Cherokee, 2009, Öl auf Leinwand

Nedko Solakov (BG)

Sti lle ti raden gegen Di e Da Oben Seit den 1980er Jahren hat Nedko Solakov ein verspieltes wie bissiges Œuvre geschaffen, das die Gültigkeit jedes Repräsen­ tationssystems grundsätzlich in Frage stellt und statt dessen lieber fantasievolle Geschichten erzählt, die in einem umfassenden multimedialen Werkkosmos Gestalt annehmen. Egal ob Fotografie, Installation, Performance oder Malerei, seine poetisch-absurde, selbstironische, oftmals radikale Sprache ist unverkennbar und richtet sich nicht selten auch gegen ein westlich geprägtes Kunstverständnis und seinen Betrieb. Seine anti-monumentalen »Kritzeleien« und hintergründigen Eingriffe in den Ausstellungsraum stellen die Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen des Publikums auf die Probe, wobei Solakov immer wieder das Fragmentarische und Unabge­ schlossene als einen grundlegenden Wesenszug der modernen Kunst betont, die den Betrachter auffordert, den Kreis der Reflexion selbst zu schließen. Die politische Brisanz seiner Arbeiten kommt vor allem in der Auseinander­setzung mit Kon­ formitätsvorstellungen, Glaubensfragen und einer offen kritischen Haltung gegenüber dem Problem der Meinungsfreiheit zum Tragen.

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KÜ NSTLER s – t und der Aufmerksamkeit hinsichtlich seiner gegenüber der Schweiz kritischen Aktionen bei, für die er sich immer wieder wegen zivilen Ungehorsams vor Gericht verantworten musste. Dem Mauerfall zum Trotz emigrierte er am 13. November 1989 weiter nach Ost-Berlin. Dort stellte er noch im darauf folgenden Jahr erneut einen Asylantrag, womit die DDR-Behörden so kurz vor der Wiedervereinigung natürlich überfordert waren. Der Künstler sah sich nun endgültig in die Illegalität gezwungen. Auf Vernissagen schickte er Doubles vor und wurde vor allem als »G.P. Adam« bekannt. Sein amtlicher Familienname lautete Meister, doch den hatte er für immer abgelegt. Nachdem eine Rehabilitierung Tellmeisters durch den damaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer zunächst scheiterte – Gründe waren dessen eigene Visa-Affäre sowie die Skandalschlagzeilen des Schweizer Botschafters –, konnte der Künstler 2008 im Rahmen einer feierlichen Performance schließlich erstmals wieder einen Ausweis in den Händen halten, der nunmehr auf sein Pseudonym Adam Tellmeister ausgestellt war. Mit seinem Wahlnamensvetter, der historischen Figur des Schweizer Natio­nal­ ­helden Wilhelm Tell, setzt er sich einerseits kritisch auseinander, andererseits arbeitete er auch von jeher an einer Aktualisierung dieses Mythos. In Vorbereitung auf seine »Repatriierung« in die Schweiz hatte er sich von über 100 Schweizer Künstlern »Heimatpäckli« nach Berlin schicken lassen, die ihm einen Vor­ ge­schmack hinsichtlich der aktuellen Lage liefern sollten. Illegalität – als außerparlamentarische Opposition für Einzelkämpfer – hält Tellmeister für ein Schweizer Kulturgut, das durch die bio­ metrischen Erfassungsmaßnahmen gefährdet sei. Bevor er die Rückreise antrat, entfernte er daher bei einer erfolgreichen »biometrischen Operation« zunächst den Erkennungschip samt Antenne aus seinem neuen Schweizer Pass. Doch zur Rückkehr kam es bis heute nicht. Nachdem die Berliner Galerie Substitut und die Kunsthalle Luzern 2009 im Rahmen einer geplanten Retrospektive die konzeptionelle Verfremdung seiner Arbeit anstrebten und sich nicht auf die »vergangenheitsbewälti­gen­ den« Projektvorschläge des Künstlers einlassen wollten, wurde eine entsprechend inszenierte Heimkehr in die Schweiz bis auf weiteres vertagt. Tellmeister wehrt sich bis heute gegen seine Kriminalisierung und strebt nicht nur eine vollständige Rehabilitierung, sondern auch eine finanzielle Entschädigung für seine über Jahre ausgefallenen Sozialversicherungsbeiträge an. In der Ausstellung zeigte er acht großformatige Zeichnungen der »Islam-Kollektion« (2012). Karl Mays Arbeitsmethode nicht unähnlich, hat Tellmeister aus seinem Berliner Atelier heraus stereotype Eindrücke über den Islam gesammelt und in eine Mischung aus christlich geprägtem Heiligenbild, Orientalismus sowie dem Islam entlehnten Darstellungsweisen gebracht, teilweise vom Koran inspiriert. Vorstellungswelten der Medien und Berichte aus zweiter

Silent (But As Rich As Only The Bulgarian Language Can Be) F Words, 2009, Videostill

Auftakt für eine Sprache, in der er Fiktives mit Fakten vermischt, ist seine Arbeit »Top Secret« (1989/90). Sie thematisiert die frühere Zusammenarbeit des jungen Künstlers mit dem bulgarischen Geheimdienst, die er laut eigenen Angaben nach sechs Jahren 1983 beendete. In dem kleinen hölzernen Karteikasten mit 179 Karten, Skizzen und Fotos darf man nicht stöbern, denn sie sind so lange streng geheim, bis die bulgarische Staatssicherheit ihre Archive öffnet. Zu seiner Ausstellung gehören allerdings ein Video, in dem Solakov die Dokumente erläutert, sowie Katalogtexte mit eigens autorisierten Versionen zu den Hintergründen seiner damaligen Tätigkeit. Diese wurde jedoch bis zum heutigen Tag nicht bestätigt, und so changiert die Arbeit zwischen Fake, historischer Wahrheit, geschichtlicher und persönlicher Aufarbeitung und dem für Solakov typischen sarkastischen Künstlerkommentar. Zum ersten Mal ausgestellt im Frühjahr 1990, auf dem Höhe­punkt der politischen Wende nach jahrelanger kommunistischer Herrschaft, sorgte das Werk für heftige Diskussionen. Das in Form eines künstlerischen Akts formulierte Bekenntnis Solakovs ist – laut Museum of Modern Art in New York – immer noch einmalig im Kontext des europäischen Postkommunismus und zu einer Ikone seiner Zeit geworden. »Silent (But As Rich As Only The Bulgarian Language Can Be) F Words« von 2009 spricht im wahrsten Sinn des Wortes leisere und eben dadurch deutliche Töne. In der Videoarbeit streift Solakov energisch durch die Straßen der drei wichtigsten Institutionen Bulgariens – Parlament, Präsidentensitz und Ministerium in Sofia – um sich für kurze Zeit fluchend und beleidigend vor ihnen und den Menschen im Inneren aufzubauen, allerdings ohne dass er seiner Mimik tatsächlich eine hörbare Stimme verleiht. Der stumme, keineswegs resignative Protest wird einmal mehr zum ironischen Bezugsfeld für die Irrelevanz und Unterdrückung nicht hoffähiger Meinungen vor dem autoritären Fassadenspiel korrupter Systeme. www.nedkosolakov.net 1957 in Cherven Briag (BG) geboren, lebt und arbeitet in Sofia (BG).

Adam Tellmeister (CH)

die karl-may-methode

Über 23 Jahre war Adam Tellmeister Fahnenflüchtiger. Er hätte gern Zivildienst gemacht, den gab es in der Schweiz aber noch nicht. Als 1986 der Einberufungsbescheid ins Haus flatterte, zog er nach Venedig, wo er sich mit Freskenmalerei durchschlug, bis ihm die Idee kam, in Deutschland Asyl zu beantragen. Im Essener Rathaus war man auf Asylbewerber aus der Schweiz nicht vorbereitet und erteilte anfangs sogar Hausverbot. Erst ein Anwalt sorgte dafür, dass der Antrag auf politisches Asyl bearbeitet, wenn jedoch letztlich aus diplomatischen Gründen abgelehnt wurde. Für Tellmeister der Beginn einer lebensumspannenden Kunstperformance, nicht zuletzt als Überlebensstrategie, die ihn zunächst nach Amsterdam, im Oktober 1989 dann nach West-Berlin führte. In der Schweiz galt er längst als Unperson und »Nestbeschmutzer«, doch der stetige Medienrummel trug wohl nicht unwesentlich zum Absatz seiner holografischen Bilder

5. Fatima az-Zahra, aus: Islamische Kollektion, 2012, Ölkreide auf Papier, Gauche, Tinte

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KÜ NSTLER T Avdei Ter-Oganian (RU)

Hand über politische Ereignisse speisen die Inhalte der Zeich­ nungen, wobei es vor allem um eine Beschreibung von Religion als Bürde und Instrument geht, die immer auch Gewalt ausüben muss, gegen andere und sich selbst. Gleichzeitig kommentieren die Darstellungen die permanente Produktion von fiktiven Fremdbildern in unseren Köpfen. Formal ähnelt die Serie Tellmeisters »Asia-Kollektion«, in der ebenso Stilmittel, Kleidung und Gesten bewusst durcheinander gebracht und nur von fachkundigen Augen differenziert werden können; 2013 sollen auch eine Balkansowie Deutsch-Kollektion folgen. Dem Betrachter werden hier also keine religiösen Symbole oder arabische Schriften erklärt, vielmehr erschließt sich – wenn überhaupt – nur die stereotype Aussage. Denn um die Bildkomposition tatsächlich deuten und die Arbeit verstehen zu können, bedarf es einer intensiveren Auseinandersetzung mit ihrem kulturellen Kontext, nicht zuletzt auch mit der arabischen Sprache. Ein Gutachten des Islamwissen­ schaftlers und ehemaligen Direktors für Islamische Kunst im Pergamonmuseum Berlin, Claus-Peter Haase, das Tellmeister in Auftrag gegeben hatte, kam zu folgender Einschätzung: Die bildliche Darstellung des Propheten Muhammad sei auch für nicht besonders religiöse Muslime heute immer ein Problem, insbe­sondere von nicht-muslimischer Seite. Es würde meist ein herabwürdigender Zweck vermutet, selbst wenn er nicht unbedingt dahinter stehe. Insofern seien die Darstellungen nicht »ungefährlich«, im Sinne einer Herausforderung verletzter reli­giö­ ser Gefühle, vor allem mit Blick auf die teilweise verstümmelten arabischen Beischriften. Er riet Tellmeister dazu, Sicherheits­ maßnahmen zum Schutz der Zeichnungen zu treffen. www.adamtellmeister.ch 1961 in Sumiswald (CH) geboren, lebt und arbeitet in Berlin (DE).

stalin – ein häschen

Avdei Ter-Oganian gehört wie Oleg Kulik zu jenen charismatischen Künstlerfiguren, die für einen radikal kontroversen und individualistischen Aktionismus in der russischen Kunst Anfang der 1990er Jahre stehen und mittlerweile unter dem Label »Post Soviet Art« und als »Virus im Putin-System« die Runde machen. Wohl spätestens 1998 wurde Ter-Oganians Name in Russland auch außerhalb der Kunstsphäre bekannt, als er mit dem Projekt »Desecration of Holy Objects« (dt.: »Schändung heiliger Objekte«) die Idee des Ikonoklasmus parodierte und Objekte zer­störte, die von jeher traditionelle russische Werte verkörpern – Ikonen. Anlässlich der Eröffnung der internationalen Kunstmesse »Art Manege« in Moskau schaltete er dazu folgende Anzeige: »Sehr geehrte Kenner der zeitgenössischen Kunst, hier können Sie ausgezeichnetes Ausgangsmaterial für Gotteslästerung erwerben«. Als er dafür wegen Anstiftung religiöser Unruhen zu zwei Jahren Haft verurteilt wird – in einem Land, das politisch bedingt immer sehr religionsfeindlich eingestellt war und erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endgültig die Freiheit des Glaubens auch im Gesetz verankerte – flieht er; erst nach Berlin, dann nach Prag. Trotz seines Exils wird er auch weiterhin regelmäßig in Moskau ausgestellt, er selbst jedoch setzt vorerst keinen Fuß mehr in die Heimat. Konzeptuell arbeitet Ter-Oganian häufig mit Mitteln der Appropriation Art, d.h. mit der ironischen Aneignung von künst­lerischen Vorlagen durch Zitieren und Kopieren, um sich zur Tradition der Avantgarden im 20. Jahrhundert in Beziehung zu setzen und diese – bestätigend wie kritisch – zu aktualisieren. Im damals ersten von Künstlern geführten und 1991 von ihm mitbegründeten Projektraum Moskaus stellte er u. a. die ursprüngliche Funktion von Marcel Duchamps Readymade »Fontäne« (1917) wieder her, indem er das rekonstruierte Urinal an die Galeriewand montierte und die Besucher zu einer Benutzung des Kunstwerks zwang, da die sanitäre Anlage in der Galerie zuvor verschlossen und entsprechend viel Bier in Umlauf gebracht worden war. 2010 provozierte Ter-Oganian erneut einen prominenten und diesmal

Avdei Ter-Oganian, Inscriptions in Russian, 2012, Graffiti, Sprühfarbe, Faserstift

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KÜ NSTLER T eindeutig politisch motivierten Zensurfall, als die russische Regierung die Ausstellung seiner Serie »Radical Abstraction« im Pariser Louvre im Rahmen des »Deutsch-Französischen Jahres« verhindern wollte. Die problematischste Arbeit war laut dem russischen Ministerium für Kultur ein formal dem Suprematismus entlehntes Gemälde mit der Beschriftung: »Diese Arbeit fordert Sie dazu auf, ein Attentat auf den Staatsmann Wladimir Putin zu verüben, um seinen politischen Machenschaften ein Ende zu bereiten.« Der Gehalt dieser minimalistischen, nahezu ornamentalen Bilderserie und ihrer angriffslustigen Titel war natürlich etwas komplexer. Vor allem thematisierte Ter-Oganian die enorme Diskrepanz zwischen dem radikalen Anspruch der Kunst und ihrer faktischen Harm­losigkeit. In der Ausstellung und auf dem Gelände der Leipziger Baumwollspinnerei hat der Künstler provokante und agitatorische Graffitis in russischer Sprache (»Inscriptions in Russian«) an die Wände gesprüht, die sich in ihrem Zynismus und ihrer Auflehnung gegenüber dem autoritären russischen Regime nur zu überbieten scheinen, tatsächlich jedoch latente Widersprüche in sich tragen. Sender und Empfänger der Botschaften sind nicht klar auszu­machen. So stehen sich z.B. folgende Aussagen gegenüber: »Ein totalitäres kommunistisches Regime ist die beste Zukunft für Europa«, »Stalin wird euch wie ein Häschen vorkommen«, »Tod Eurer verfickten Ordnung!«, »Jeder, der Rechts wählte, fährt an die frische Luft Sibiriens«, »Und kommt mir nicht mehr mit dem beschissenen Wert des menschlichen Lebens«, »Kunst tötet hinterfotzige Wichser« oder »Nur prole­ tarische Kunst ist wahre Kunst«. Zur Debatte steht dabei nicht nur die gesellschaftliche Utopie und Ideologie schlechthin, d.h. mit all ihren repressiven Sackgassen, sondern auch das kritische Potenzial der Kunst selbst sowie Ter-Oganians eigene Rolle in dieser Gratwanderung aus konkreter politischer Verantwortung, theoretischer Stellungnahme und der Wahrung der künstlerischen Unabhängigkeit. »Autonome Kunst«, die versucht, ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten zu folgen und sich dem System zu entziehen, kann sowohl zur Irrelevanz als auch zu Markt- und Gesellschaftskonformität verdammt sein. Auf der anderen Seite kann eine engagierte Kunst schnell zu einer ideologisch verblendeten oder politisch funktionalisierten Sprache degene­ rieren. Trotz seines Vorwurfs an die Kunstwelt, bisweilen allzu trivial und oberflächlich zu sein, nutzt Ter-Oganian die Kunst als Ausdruck seines Protestes: »Kunst oder Tod!« lautet eine der Parolen, wobei unklar bleibt, ob sie voller Pathos ernst gemeint ist oder und doch bloß plakative Schmiererei ist? Zur Eröffnung reflektierte Ter-Oganian im Rahmen der Performance »Avant-gardism in a particular country. Looking at Russia as a political emigrant« über die aktuellen Zustände in seiner Heimat, deren Zensurpolitik ihn ins tschechische Exil trieb. Er stellte seine eigene Arbeit vor und setzte sie ins Verhält­ nis zum ge­sellschaftsutopischen Projekt der Avantgarden wie auch zum Mainstream der zeitgenössischen politischen Kunst in Russland. 1961 in Rostow am Don (RU) geboren, lebt und arbeitet in Prag (CZ).

The Secret Apartment in the Mall, 2003—2007

pation wurden vier Jahre, in denen sie sich nach und nach ein komfortables, 70 m² großes Appartement in der mit etwa 230 m² zur Verfügung stehenden Fläche einrichteten, wobei sie nun auch von den Annehmlichkeiten in der Mall profitierten. Trummerkind betrachteten es nicht zuletzt als ihre Bürgerpflicht, das Wertpotenzial dieses ungenutzten Raums voll auszuschöpfen, denn auf dieser Basis hatte man damals auch einen Computer befragt, der besagtes Stadtgelände als ideal für Geschäfte und Parkplätze identifizierte, wohingegen die Meinungen der Einwohner ignoriert wurden. Doch nur wenige Monate bevor die heimlichen Untermieter »ihr schönstes Weihnachtsfest« zelebrieren, endlich eine Toilette einbauen und ihre selbsternannte Eigentums­ wohnung zu 100 Prozent beziehen konnten, flogen sie auf. Der Sprecher der Gruppe, Michael Townsend, bestand darauf, dass es sich bei der Aktion weder explizit um ein Kunstprojekt noch um eine willentliche Respektlosigkeit gegenüber dem Mall-Personal, der Stadt oder der Polizei handelte. Mit denen verstand er sich nach seiner Festnahme sogar erstaunlich gut und provozierte hauptsächlich Neugier und ein Schmunzeln bei allen Beteiligten. Nur General Growth Properties, der Eigentümer der Providence Place Mall, zeigte sich wenig amüsiert. Nachdem eine anfängliche Anklage wegen Terrorismus fallen gelassen wurde, versuchte sich der Konzern vor Gericht, nachdem die Geschichte auch international in den Medien bekannt wurde, das Urheber- und Vermarktungsrecht für das Projekt »The Secret Apartment in the Mall« zu erstreiten – allerdings ohne Erfolg. Townsend bekam dennoch lebenslanges Hausverbot für die Mall, was in einer Stadt wie Providence schon mal zum Problem werden kann, jedenfalls wenn der einzige Apple-Store oder spezielle Haushaltswaren nur noch in der Mall zu finden sind. In der Ausstellung war Trummerkind mit einem Tape-Art-Wandbild vertreten, dessen Wachsen man über einen Livestream im Internet unter tapeart.com verfolgen konnnte. Lebensgroße Silhouetten an den Wänden der HALLE 14 riefen »Das Geheime Appartment im Einkaufszentrum« noch einmal in Erinnerung und spielten auf die ehemaligen Bewohner und ihre Tätigkeiten vor Ort an. Mit »Tape Art« sind kollaborative Wandbilder aus speziellem Klebeband gemeint, die ohne weiteres auf Fassaden, Bürgersteigen oder sonstigen Oberflächen in der Stadt angebracht werden können, ohne die Bausubstanz zu zerstören. Mit diesem Medium arbeiten Michael Townsend und sein Kollege Colin Bliss seit über zwanzig Jahren. Was ursprünglich in einer nächtlichen Guerilla-Aktion mit ephemeren, immer wieder wechselnden Motiven begann, bringt ihnen mittlerweile Auftrags­ arbeiten ein, die über den ganzen Globus verteilt realisiert werden. Dabei geben sie ihre Praxis an zahllose Interessierte weiter, um auch ihnen eine sichtbare Stimme im öffentlichen Raum zu verleihen. www.trummerkind.com 2003 in Providence (US) gegründet.

Trummerkind (US)

Geheimappartement für Trümmerkin der

Nachdem Michael Townsend und seine Frau Adriana Yoto den öffentlichen Raum ihrer Stadt durch den Bau einer riesigen Shopping Mall dominiert sahen und zeitgleich ein altes Fabrik­ge­ lände mit Künstlerateliers abgerissen wurde, starteten sie 2003 ein äußerst ungewöhnliches Experiment: Da die neue Mall mit allem für sich warb, was zum Leben und für die Gesundheit wichtig sei und darüber hinaus eine außergewöhnliche Shoppingund Lifestyle-Erfahrung versprach, nisteten sie und sechs weitere Freunde sich in einem leerstehenden Gebäudetrakt des Einkaufszentrums ein, mit dem Ziel, nichts zu konsumieren, sondern lediglich den Reiz dieser Ikonen amerikanischer Gegenwarts­kultur genauer zu studieren. Als Künstlergruppe nannten sie sich fortan »Trummerkind«. Aus der spontanen Okku-

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Hintergrund Man nannte ihn Pri ber

von Ariane Barth

Ein unglaublicher Typ ist aus der Geschichte aufgetaucht: ein Sachse als echter Vorläufer von Old Shatterhand. Er wollte im Indianerland ein »Paradies« der freien Liebe ohne Eigentum und ohne Rassen- und Klassenschranken begründen. Es begab sich Anno 1735 in der sächsischen Klein­stadt Zittau, dass der wohlbestallte Advokat Christian Gottlieb Prieber auf Nimmerwiedersehen verschwand. Zurück hinter der doppelten Stadtmauer, in der engen Welt mit starrer Rangund Kleiderordnung wie auch manch anderem Regelungswahn blieb seine Ehefrau Christiana Dorothea nebst vier Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren. Der entfleuchte Gatte war nicht bloß ein frühes Opfer der Midlife-Crisis, die nach ihm noch Heerscharen vom Zigarettenholen nicht mehr heimkehren ließ. Vielmehr brach er auf in eine moderne Utopie. Er war ein Vor­läufer Rousseaus und Nachfahre Platons, ein Avantgardist der Menschenrechte, der kommunistisch zu träumen wagte und die Rassenschranken sprengte. Obendrein war er Urfeminist und Vordenker der freien Liebe, die sich die Kommune 1 im 68er-Rausch spektakulär herausnahm. Kaum zu fassen: Dieser Idealist, dieser Fantast kam ziemlich weit im Land der Indianer. Er war ein Vorbote des guten Deutschen, den ein anderer Sachse, der weltberühmte Karl May, eineinhalb Jahrhunderte später in Winnetous Reich schickte, aber er war keine Fantasiegestalt wie Old Shatterhand. Christian Gottlieb Prieber war wahrhaftig echt, »eine faszinierende Figur«, so urteilte der amerikanische Anthropologie-Professor Charles Hudson, der ein Standardwerk über die Indianer des Südostens verfasste. Zufällig entdeckte ihn die Germanistin Ursula Naumann, als sie, um eine langweilige Wartezeit in einem Amster­ damer Archiv zu überbrücken, in einem kolo­ nialgeschichtlichen Lexikon blätterte: Sofort verknallte sie sich in die nur knapp beschrie­ bene, gleichwohl schillernde Person. Sie reiste dem Utopisten nach, sie forschte ein Jahr­zehnt nach Quellen, was sie sich nur leisten konnte, weil ihr Mann kein Abenteurer wie Prieber war, sondern als Linguistik-Professor die Familien­ existenz in einem Bürgerhaus bei Erlangen sicherte. Ihr Puzzle »Pribers Para­dies« erschien in einem nostalgisch gestalteten Band der von Hans Magnus Enzensberger heraus­gegebenen »anderen Bibliothek«. Der Gentleman aus Zittau ließ sein e fallen, als er sein altes Leben abstreifte und in London um eine Schiffspassage bei den »Trustees for Establishing the Colony of Georgia« ersuchte.

Es handelte sich um eine Clique von 21 wohl­ habenden Männern, die seit drei Jahren als Treuhänder die Besiedlung eines riesigen Areals an der amerikanischen Ostküste mit armen Leuten betrieben. Georgia sollte mit dem gestrengen Reglement »No negros and rum« ein Puffer in einem Spannungsgebiet werden: In South-Carolina, der englischen Kolonie der gierigen weißen Sklavenhalter, lag eine Rebel­lion der schwarzen Übermacht in der schwülen Luft, in Florida trumpften die Spanier auf, und im fieberverseuchten Mississippi-Delta waren die Franzosen in einen Sumpf von Intrigen und Verrat verstrickt, nachdem sie den eingeborenen Stamm der Natchez barbarisch ausgerottet hatten. Das also war die geopolitische Folie, die sich Priber für sein revolutionäres Experiment aussuchte. Ihm wurden von den Trustees 20 Hektar Land in Savannah zugeteilt, einer gerade entworfenen Stadt, die heute als atmosphä­ rische Perle der USA gilt. Da aber kam er nie an. Stattdessen tauchte er im wüsten Charlestown auf, wo tausende von Sklaven an den Kais verschachert und englische Luxuswaren um­geschlagen wurden. Im Dezember 1735 inse­rierte er dort mehrfach in der »South-CarolinaGazette«, dass er seine Herrengarderobe samt Perücken und Gamaschen verkaufen wolle, auch »Gewehre, Pistolen, Schießpulver, eine silberne Repetieruhr, ein Schwert mit einer vergoldeten Silberscheide, englische Sämereien, Betten und eine schöne Kommode, sehr günstig gegen Bargeld«. Zivilisatorisch abgespeckt, aber mit einer Kiste voller Bücher und Schreibzeug auf dem Packpferd, zog er in die Wildnis. Er war Ende 30, für den einen Zeitgenossen »hässlich«, für den anderen »ein kleiner alerter Mann mit einem angenehmen Äußeren und einem äußerst durchdringenden Blick», »ein notorischer Schurke«, »ein betriebsamer, listiger Bursche« mit »einschmeichelndem Benehmen« und »einer scharfsinnig tiefdringenden Beurteilungskraft«, kurzum ein »sehr außergewöhnliches Wesen«. Zwei Jahre später sichteten ihn Trader bei den Cherokee-Indianern am Fuße der Appalachen in Great Tellico, einer Ansiedlung aus hell­ schimmernden Häusern an den glasklaren Gewässern. Kein beißender Rauch lag in der Luft, in der reinlichen Atmosphäre aß man eine gesunde, nur viel zu lang gekochte Kost, etwa blaue Eier, und schlief auf bequemen, mit weichen Fellen bedeckten Bettgestellen. Äußerlich war Priber kaum von den Einge­bo­ renen zu unterscheiden. Er trug einen Lendenschurz und gebundene Mokassins, sein Haar

Ulrike Dornis, Pribers Abschied von der Familie in Zittau, 2012, Öl auf Leinwand

war nach ihrer Art geschnitten, sein Gesicht bemalt, sein Körper mit Bärenöl gesalbt. Selbstverständlich hatte er, der bereits Englisch, Französisch, Spanisch, Holländisch und Lateinisch konnte, die Sprache der Cherokee gelernt, so gründlich, dass er an einem Lexikon arbeitete. Es gab zwar nur wenige Wörter, die aber durch komplizierte Zusammensetzungen differen­zierte Aussagen ermöglichten wie »Wasser-zumEssen-bereitet« (Suppe) oder »Sich-fortgesetzt-oben-befindender-Ort« (Himmel). Mit den Indianern ging Priber jagen und fischen. Auch teilte er ihr Vergnügen an einem Spiel mit Schlägern und einem Ball aus abgeschabtem Rehleder. Zwar nannten Rothäute die Weiß­ häute oft »Niemande« aus einem »verfluchten Volk« und verachteten sie als fett, feige und besitzgierig, aber dieser ganz besondere Weiße wurde in einen der sieben matrilinearen Clans aufgenommen. Er nahm sich die Häuptlingstochter Clogoittah zur Frau oder sie ihn. Bei den Cherokee herrschte eine Freizügigkeit der Frauen, die dem Trader James Adair suspekt als »Petticoat-Regierung« vorkam. Adair, der aus dem schottischen Kleinadel stammte, war ein gebildeter, aber verwilderter Mann, wettergegerbt, vernarbt, versoffen, eine Existenz zwischen den Welten. Für die weiße Krösus-Gesellschaft von Charleston war einer wie er deklassiert. Dagegen pflegten sich Trader wie er im indianischen Gebiet wie die kleinen Fürsten aufzuspielen. Bei Adair, der mit einer Indianerin vom Stamm der Chickasaw zusammen lebte, kam zur Gewinnsucht noch ein ethnologisches Interesse: Er schrieb ein Buch über die Bräuche der Indianer, gesättigt von Überheblichkeit, aber aufschlussreich über Priber. Nachdem sich die beiden kennen gelernt hatten, korrespondierten sie eine Zeit lang. Da aber Adair für die Cherokee ein Teufelssekretär war und ihnen die Schrift generell als schwarze Magie erschien, angesichts derer sie sich blind und hilflos fühlten, stellte der Deutsche den Briefwechsel ein. Der Trader Ludovick Grant, auch ein Schotte, der den Kolonialherren als Agent diente, hetzte gegen den dubiosen Fremden bei den Cherokee. Denn der Advokat machte den Indianern klar, dass ihnen die Engländer einen großen Teil ihres Landes abgetrickst hatten und sie ihre Interessen künftig geschickter wahren sollten. Bei den Beratschlagungen im Regierungshaus, in dem das heilige Feuer brannte, ergriff Priber das Wort. Als Freund des Häuptlings Moytoy fungierte er als »Staatssekretär« (Adair) oder gar als »Premierminister« (Grant). Durch Bildung,

Ulrike Dornis, Priber im explodierenden Fort Frederica, 2012, Öl auf Leinwand

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Hintergrund

so strebte er als Fernziel, sollten die Stämme des Südostens befähigt werden, eine indianische Konföderation zu schließen und das Joch der Europäer abzuschütteln. Fürs Erste, so riet Priber, sollten die Cherokee bessere Bedingungen für die Abnahme ihrer Felle herausholen, indem sie sowohl mit den Engländern als auch mit den Franzosen handelten. Da aber die Geschäfte mit den Indianern durch die Verführung zum Alkohol oder Schnickschnack wie Spiegel und Glasperlen ein Schlüssel der Bündnispolitik waren, witterte der Spion Grant in Priber einen Spion der Franzosen, der ein Überlaufen der Cherokee bewerkstelligen wolle. Das stimmte zwar nicht, animierte aber die britischen Kolonialherren von South-Carolina wie Georgia zur Jagd auf den weißen Aufrührer. Als die von Sklaven eingeschleppten Pocken unter den Eingeborenen wüteten, und entstellte Überlebende sich die Kehle durchschnitten, mit zugespitzten Rohren erstachen oder ins Feuer stürzten, als der Alkohol die Davongekommenen verdarb und die Ernte verfaulte, baten die Cherokee die Franzosen um Hilfe, vergeblich. Dagegen stellten ihnen die Engländer Mais gegen die Hungersnot zur Verfügung. Zugleich wurde 1739 der Colonel Joseph Fox mit zwei Männern in Marsch gesetzt, »to bring down Dr. Priber«. Zunächst versuchte der Soldat, den Deutschen durch Briefe aus Tellico zu locken. Schließlich stellte er ihn auf dem Platz vor dem Be­ratungshaus. Aber Priber hielt eine derart eindrucksvolle Rede, dass der als hitzig bekannte Colonel öffentlich beschämt dastand. Die Indianer gewährten ihm freien Abzug und gaben ihm sicherheitshalber ein paar Krieger mit auf den Weg. Die missglückte Expedition kostete 402 Pfund. Der französische Voyageur Antoine Bonnefoy begegnete Priber nicht gerade freiwillig, legte aber in seinem Journal den wohl zuverlässigs­ten Bericht nieder, den die Autorin Naumann in einem festungsartigen Kolonialarchiv in Aixen-Provence aufstöberte. Bonnefoy befand sich 1741 auf dem Weg von Nouvelle Orléans zum französischen Fort St. Louis, als sein KanuKonvoi auf dem Ohio in einen Hinterhalt von etwa 80 »Wilden« geriet. Sie nahmen vier Franzosen gefangen und legten ihnen nach Sklavenart hölzerne Kragen um. Einen verletzten Schwarzen jagten sie davon, als er ihnen aber orientierungslos folgte, überließen sie ihn ein paar jungen Kriegern zum Skalpieren. Nach einer Reise von 15 Wochen auf Flüssen oder zu Fuß über Portagen, auf denen die Kanus getragen wurden, unterbrochen immer wieder durch Jagdtage, erreichte die Gruppe Tellico. »Beim ersten Schrei unserer Wilden kamen alle Frauen zu dem Ort gelaufen, wo wir waren«, berichtete Bonnefoy. Jedem Franzosen wurden ein weißer Stock und eine Rassel in die Hand gedrückt, dann mussten sie drei Stunden lang singen, worauf ein Festmahl von Süßkartoffeln, Maisgrütze, Büffel, Bär und Reh folgte. Am andern Morgen wurden die Körper der Fremden bemalt und von jedem ein Büschel Haar am Fuße eines Baumes begraben. Gegen Waren eingetauscht, wurden die Franzosen von angesehenen Cherokee adop­tiert und wie ihresgleichen behandelt. »Es gab dort«, so schildert Bonnefoy, »auch einen Deutschen, der uns auf Französisch sagte, dass ihm das Unglück, das uns zugestoßen war, sehr Leid tue, aber dass es vielleicht unser Glück sein würde, was er uns zu einem späteren Zeitpunkt erklären wollte.« Was »Pierre Albert« schließlich ausmalte, war das »Königreich Paradies«, eine Republik, die er alsbald am Alabama-Fluss auf noch besserem Land als dem der Cherokee zu

Titelkupfer der »Noveaux Voyages« des Baron Lahontan, 1703, Reproduktion (links); Indianer beim Spiel, 1724, Reproduktion aus Joseph-Francois Lafitaus »Moeurs des sauvages ameriquains« (rechts)

gründen gedachte. Dort sollte es keine Herrschaft geben, sondern »Freiheit vollkommen gewährleistet sein«. So entsprach es einem ihn schon als Student faszinieren­den Naturrecht, eine edle, durch die Vernunft ein­gegebene Disziplin, über die einige große deutsche Gelehrte Vorlesungen hielten. Priber sah in seinem amerikanischen Traumland vor, »dass alle dort gleich sein« und »alle Güter unter ihnen gemeinsam sein sollte«. Ein jeder sollte nach seiner Fähigkeit zum Wohl des Ganzen arbeiten. Dass es keine Heiratskontrakte geben und die Frauen in der gleichen Ungezwungenheit wie die Männer leben sollten, ließ Bonnefoy argwöhnen, die Paradies-Frauen könnten geneigt sein, »jeden Tag den Mann zu wechseln«. Die revolutionäre Geschlechter­ordnung wurde von dem Agenten Grant gründlich missverstanden, meldete er doch über die geplante Republik, »dass sogar ihre Frauen gemeinsam sein sollten«. In dem durchaus moralischen Paradies sollten Verstöße nach Pribers Vorstellung »durch ihr Gegenteil bestraft werden«. Vorbild dürfte die indianische Praxis gewesen sein, bei einem Dieb dessen ehrliche Grundsätze hervorzuheben oder bei einem furchtsamen Krieger die gezeigte Tapferkeit zu rühmen – eine Beschämung, die von manch einem schlimmer als der Tod durch Marter empfunden wurde und sich als sehr wirksam erwies. Pribers Rechtssystem kam bei dem Gouverneur von Georgia als Asyl des Lasters an: »Alle Verbrechen und Ausschweifungen sollten toleriert werden, bis auf Mord & Faulheit.« Gleichwohl hatte der charismatische Deutsche an die hundert englische Gefolgsleute gewonnen, die in Carolina ausschwärmten, um für weiteren Zulauf ins Paradies zu sorgen. Angehörige aller Nationen, aller Farben und Rassen waren willkommen, entlaufene Sklaven, Gestrandete, Kriminelle, Verfolgte. Bonnefoy, den Priber freikaufen wollte, verzichtete auf sein Glück und flüchtete als »die Wilden sich dem Suff hingegeben hatten«. Die zwei Landsleute, die mit ihm gingen, verlor er bei einer abenteuerlichen Flussfahrt auf einem selbstgebauten Floß aus Schilf. Nach einem Monat kam er im französischen Fort Toulouse an. Der Kommandant, unter dem er vor Jahresfrist gedient hatte, erkannte ihn nicht, »so entstellt war ich«. Als Priber 1743 das Einflussgebiet der Cherokee verließ und das Land am Alabama ansah, erschossen bestochene Creek seinen schwarzen Begleiter und nahmen ihn gefangen. Er wurde nach Augusta gebracht, einem Außenposten der Trader, wo sie sich im Frühjahr samt der

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verrohten Mannschaft ihrer Packhorse-Men mit etwa 2.000 Pferden zum Geschacher und Geschiebe in der Kolonialpolitik einfanden. Sein endgültiges Refugium fand der Utopist in Fort Frederica auf der St. Simon’s Insel vor der Küste Georgias. Er hatte Tag und Nacht einen Wächter vor seiner geräumigen Zelle, aber er trug seine Gefangenschaft mit philosophischer Gelassenheit. »Mein Geist erhebt sich über das Unglück, in dieser Zelle kann ich mich eines wahreren Glücks erfreuen«, so pflegte er zu sagen. Als gebildeter, höflicher und hochinteressanter Mann gehörte er beinahe zur Gesellschaft, so oft besuchte man ihn. Als das Opposumschmalz einer Soldatenfrau Feuer fing und das Munitionsdepot entzündete, weigerte sich Priber, das unmittelbar daneben liegende Gefängnis zu verlassen. Er rechnete sich aus, dass die Bomben senkrecht in die Luft steigen und die Splitter horizontal fliegen würden, so dass er in der Nähe des Detonationszentrums sicherer wäre. Nach stundenlangen Explosionen, als wenn die Welt unterginge, wie sich Zeitgenossen ängstigten, steckte der Traum­tänzer Priber seelenruhig seinen klugen Kopf unter dem Federbett hervor. Von Fort Frederica ist, wie die Reisende Naumann erkundete, nur ein schäbiger Ruinenrest geblieben. Das ursprüngliche Tellico fand sie versunken in einem Stausee. Von Pribers sächsischem Zweig machte sie Nachkommen aus, die keine Ahnung von ihrem bemerkenswerten Vorfahren hatten. Auf Pribers indianische Tochter Creat, die mit dem Häuptling Doublehead fünf Kinder hatte, geht ein Dschungel von Stammbäumen zurück. 17 Jahre nach Pribers Ge­ fangennahme eroberten die Cherokee das in der Nähe von Tellico gebaute Fort Loudon und töteten 30 britische Soldaten. Vorher füllten sie den Mund des Kommandanten mit der Erde, nach der er so hungrig war. Der Tüftler Sequoyah entwickelte ein eigenes Cherokee-Alphabet. Alsbald druckte der Stamm Bücher. 90 Jahre nach Pribers Erscheinen proklamierte er eine unabhängige Cherokee-Nation mit einer eigenen Gesetzgebung. Die Rache der Weißen war grausam. Wie Vieh wurden 13.000 Cherokee auf einen Kältemarsch über 1.500 Kilometer getrieben, ungefähr ein Viertel starb auf dem »Trail of Tears«. Präsident Andrew Jackson, der für die legalen Voraussetzungen der Deportation gesorgt hatte, ziert noch heute die 20-Dollar-Note, »ein Mörder«, wie der HollywoodStar Johnny Depp in Erinnerung rief. Er ist zu einem Achtel Cherokee und vielleicht um allerlei Ecken mit Priber verwandt.


auss t e l l u n g : 1 5. 09.   —   1 8.1 1. 2 0 1 2

Über den Dilettantismus deutsch

english

Die Bedeutung des Begriffs »Dilettantismus« hat sich über die Jahrhunderte gewandelt. Nachdem der Dilettant zunächst nichts anderes als eine sich liebhaberisch – oder auch: ohne das Metier zu beherrschen – der Kunst oder Wissenschaft widmende Person war, ist die Bedeutung »Kunstliebhaber« oder »Freund des Schönen« (dilettieren kommt vom lateinischen delectare: »sich erfreuen«) allgemeinsprachlich inzwischen veraltet. Der Begriff bezeichnet nun den »sich in einem Fach betätigenden Nichtfachmann« oder schlimmer noch den Misstrauen erweckenden, Unheil anrichtenden »Stümper«. »Der Dilettant verhält sich zur Kunst wie der Pfuscher zum Handwerk«, erklären Goethe und Schiller 1799 in ihrer Schrift »Über den Dilettantismus« und setzen ihn in Opposition zum Genie. Und doch scheint es, als seien das Laienhafte, die Liebhaberei, das Unstudierte und das Autodidaktische wesentliche Triebkräfte unserer (und früherer) Gesellschaften, ohne die unsere Welt heute anders aussähe. Dies gilt besonders, wenn sich der Dilettant von der Oberfläche entfernt und seine Tätigkeit ernsthafter, selbstdisziplinierter, tiefgründiger betreibt, wenn neben der ihm typischen Zurückhaltung, Neugier und Unbekümmertheit gegenüber Konventionen professionelle Einstellung, Hinterfragen und Skepsis Einzug halten: Der Patentamtssachbearbeiter Albert Einstein entwickelte in seiner Freizeit die Relativitätstheorie, der Buchdrucker Benjamin Franklin erfand den Blitzableiter, die Papierfabrikanten Joseph-Michel und Jacques-Étienne Montgolfier stiegen in die Lüfte, der Priester Gregor Mendel gilt als »Vater der Genetik«, Charles Darwin begann als unschlüssiger Enthusiast. Konkrete Poesie, Absurdes Theater, Konkrete Musik, Dadaismus, Punk, aber auch van Gogh, Andy Warhol und Joseph Beuys setzen den Reigen des (Pseudo-)Dilettantischen in der Kunst fort. Individuelle Handhabe und Eigensinn, die sich auch im Unfertigen, Unperfekten manifestieren können, Querdenken hinein in andere Disziplinen und der Widerstand gegen Standards, Prinzipien und Methoden vermeiden eindimensionales Denken, führen oft zu neuen Erkenntnissen und schützen vor selbstgefälligem Expertentum, das nicht selten zum Dogmatismus mutiert, der wiederum Ursache dilettantischer Fehlentscheidungen werden kann. Der Dilettantismus wird – künstlerisch gewendet – zum Freiheitsbegriff, zur lohnenswerten künstlerischen Praxis. Zwischen seinen Bedeutungen und Widersprüchlichkeiten lässt sich’s nutzbringend oszillieren, spielerisch entdecken, kritisch an der Zukunft werkeln. Gehört dem professionellen Amateur die Zukunft? Die Ausstellung stellt 19 Künstler vor, die sich eher intuitiv als vorsätzlich auf einem holprigen Weg nach dem Prinzip des »Trial and Error«, des »Learning by Doing« als Übersetzer, Dramatiker, Autobauer, Ethnologen, Sportler, Konstrukteure oder Ingenieure betätigen und das Spezialistentum spielerisch in den Ring bitten.

On Dilettantism The concept of »dilettantism« has changed over the centuries. The word »dilettante« comes from the Latin delectare: »to enjoy or delight.« Originally, the dilettante was just a person devoting himself to an art or science out of admiration and enthusiasm, without mastering this profession. The meaning »art lover« or »aesthete« has, in the meantime, fallen out of general use. Now the concept indicates a »non-specialist working in a specialized field,« or worse yet, the mistrust-arousing, havoc-playing »dabbler.« In their 1799 treatise »On Dilettantism« Goethe and Schiller declared: »The dilettante is to art as the tinkerer is to craft,« and set the dilettante in opposition to the genius. And yet it seems as if the amateur, the hobbyist, the enthusiast, the unlearned, the unschooled, and the autodidact are significant driving forces of societies past and present. Without them our world today would look quite different. This is particularly true if the dilettante removes himself from the superficial and pursues his activity more seriously, with more self-discipline and in greater depth, when – in addition to his typical reticence, curiosity, and the unconcern with which he views convention – he also develops a professional approach, skepticism, and a tendency to question. The patent examiner Albert Einstein developed the theory of relativity in his spare time, the printer Benjamin Franklin invented the lightning rod, the paper manufacturers Joseph-Michel and Jacques-Étienne Montgolfier climbed the skies, and the monk Gregor Mendel is hailed as the »father of genetics.« Even Charles Darwin began as an indecisive enthusiast. Concrete Poetry, Theatre of the Absurd, Musique concrète, Dadaism, and Punk, as well as van Gogh, Andy Warhol, and Joseph Beuys fostered (pseudo) dilettantism in art. Individual approaches and willfulness (traits which, admittedly, can also become manifest in the incomplete and imperfect), lateral thinking across disciplines, and the opposition to standards, principles, and methods help avoid one-dimensional thinking, often lead to new knowledge, and protect against a self-complacent expertise, which frequently degenerates into dogmatism that can lead back to dilettantish bad decisions. Dilettantism, when turned to artistic use, becomes a sense of freedom, a worthwhile artistic exercise. Between dilettantism’s meanings and contradictions one can beneficially oscillate, playfully discover, and critically putter about in the future. Does the future belong to the professional amateur? This exhibition presents 19 artists who try to move intuitively rather than premeditatedly on a rough path, who follow the principles of »trial and error« and »learning by doing« as translators, playwrights, car makers, ethnologists, athletes, designers, and engineers, and who challenge the rules of specialists.

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KÜ NSTLER A – B Bernard Akoi-Jackson (GH)

Hagen Betzwieser (DE)

bürgerschulung für bessere bürokratie

Picknick mit Chemiebaukasten

»Wenn der unbeirrbare Aufruf zum Handwerk und zum veralteten Formalismus ausgereizt ist, erlangt die Kunst, die es ernst meint, ihre belebende Kraft aus dem Glauben, dem Wagemut und einer bestimmten Lebhaftigkeit. Sie entwickelt sich also viel besser im Geist der Freiheit und Verspieltheit.« (Bernard Akoi-Jackson) Diese Verspieltheit ist das Kennzeichen von Bernard AkoiJacksons Arbeiten und seinem Umgang mit dem künstlerischen Schaffen. Akoi-Jackson vermischt zeitgenössische Symbole verschiedener Kulturen, um das Thema des Nomadentums und der Vertreibung durch Denkmäler der Migration anzusprechen. Wie die Themen sind auch Akoi-Jacksons Arbeiten und deren Bedeutungen nicht statisch angelegt, sondern stetig im Fluss. Der Austausch mit dem Publikum ist für ihn zentral, weshalb er es zum Lesen und nochmaligen Lesen seiner Arbeiten einlädt. Er fordert die Betrachter auf, die Rolle eines Kritikers, Kurators oder Kunstwissenschaftlers einzunehmen. So wird das Werk zu einer gemeinsamen Leistung von Künstler und Publikum, von Experte und Amateur. Das Prinzip des Trial-and-Error spielt sowohl für den Entstehungsprozess als auch die Interpretation eine essenzielle Rolle, so dass seine Arbeiten sich mit der Zeit verwandeln. »REDTAPEONBOT T LENECK« (2006/2012) ist eine Installation, die durch die aktive Teilnahme des Publikums zur Performance bzw. erst zum Kunstwerk wird. Auf einem Schreibtisch steht bürokratisches Handwerkszeug bereit: Telefon, Wecker, Aktenordner, Stifte. Ausstellungsbesucher können hier in die Rolle des Sachbearbeiters schlüpfen – symbolisch, in dem sie sich einen roten Overall überziehen. Ein Blatt mit konkreten Handlungsanweisungen liegt parat. Der Titel ist ein Wortspiel: »Red tape« – wortwörtlich »rotes Band« – ist im Englischen ein bildlicher Ausdruck für (überflüssige) Bürokratie, dessen Ursprung wahrscheinlich im 16. Jahrhundert liegt, als große Stapel Amtsdokumente mit rotem Band gebündelt wurden. »Bottleneck« (dt.: Flaschenhals) bezeichnet einen Engpass, also beispielsweise eine Stelle, an der ein bürokratisches Verfahren ins Stocken gerät. Ursprünglich begann das Projekt 2006 als Kommentar auf das koloniale Erbe der Bürokratie in der öffentlichen Verwaltung Ghanas. Es präsentiert eine pseudo-formale oder quasi-offizielle Situation, in der Papiere und Dokumente sortiert und arrangiert werden sollen. Die stark ritualisierten Abläufe riefen in der Vergangenheit bereits unterschiedlichste Reaktionen der Teilnehmer hervor: von Irritation über Langeweile bis hin zu Sorgfalt und Vergnügen. Hier ist jedermann eingeladen, die Position und den Status eines »Experten« in Bürofragen einzunehmen und innovativ mit der Aufgabenstellung umzugehen. Als Laie taucht man in die Welt der Bürokraten, übernimmt sozusagen dilettantisch deren Arbeit. Gewisse Fragen bleiben sicher nicht aus. 1979 geboren, lebt und arbeitet in Tema und Accra (GH).

Ein Eimer Voll Teilchen (A Bucket of Particles), 2012, Installation

Das von Hagen Betzwieser gegründete und geleitete »Institut für Allgemeine Theorie« (IAT) soll als Labor für omnidisziplinäre Gedankenexperimente zur Bildung einer »allgemeinen Theorie« beitragen, die möglichst nichts in der Grauzone zwischen Wissenschaft und Fiktion oder Kunst und Handwerk außer Acht lässt. Organisation und Gestaltung verleihen dem Institut auf den ersten Blick eine unwiderlegbare Autorität. Die am häufigsten verwendete Forschungsmethode des I AT ist die freie Feldforschung, die sich den unterschiedlichsten Fragen widmet, zum Beispiel: Wie ist es möglich, mit Hilfe des Sternenlichts auf der Erde Feuer zu entzünden? Sie dient der Erzeugung von Daten mittels Beobachtung, unbewusster Präzision, gefährlichem Halbwissen und willkürlicher Behauptungen. Denn wachsende, omnipräsente und akzeptable Informationen reduzieren in der Wissenschaft und Forschung zunehmend die natürliche Neugier und deren wichtigste Instrumente: die Beobachtung und die Kritik. »Revolutionsfunkende Begeisterung soll erneut entfacht werden, wie sie in der frühen Wissenschaft jedem zugänglich war und große Individuen aller Richtungen hervorbrachte«, erklärt Betzwieser. In diesem Sinne sei nichts unmöglich, was nicht unvorstellbar ist, wie einer seiner Mentoren, Prof. Hubert J. Farnsworth (Futurama), einst anmerkte. Mit dem Projekt »Ein Eimer Voll Teilchen« (2012) fragte Betzwieser nun, was geschehen würde, wenn man einen Eimer voll Atome hätte, aus dem man beliebig schöpfen könnte, um Dinge wie mit einem Lego-Bausatz neu zu konstruieren. Bei der Arbeit mit Lego-Steinen ist das Ergebnis für den Laien leicht verständlich, man erkennt meist schnell in welche Richtung sich das Konstrukt entwickelt. Der Code von molekularen Verbindungen ist für die meisten von uns jedoch unverständlich, selbst wenn noch letzte Reste an Wissen aus dem Chemieunterricht in unserer Erinnerung umhergeistern. Nichtsdestotrotz erinnern sich sicherlich viele an die bunten Kugel-Steckverbindungen, mit denen uns die Welt der kleinsten Teilchen nahegebracht werden sollte, auch wenn die Gesetze und Codes, für die sie stehen, längst verblasst sind. Bei einem Picknick im Garten mit einer Schachtel voll »bunter Atome« entstanden an einem Nachmittag unter rein ästhetischen Gesichtspunkten wild konstruierte Moleküle, deren Code anschließend von der Chemikerin Nadine Pisarski auf ihre Existenz, Noch-Nicht-Existenz oder Verwandtschaft zu real existierenden Molekülen geprüft wurde. Oxo-Butandial, 2-Propenal und 1-Methoxy-3-Methylen-Cyclopentan heißen Betzwiesers Kreationen. Der Laie und die Wissenschaftlerin sitzen sich in einer ungezwungenen Situation gegenüber. Das Dilettantische bekommt eine neue Bedeutung zugewiesen, indem eine fach­ liche Sicht, die unvoreingenommen das offenkundig Falsche bewertet und einschätzt. Hagen Betzwieser besetzt mit seiner Arbeit den schmalen Grat zwischen Kunst und Wissenschaft, der mit dem Dilettantischen Hand in Hand geht. Gemeinsam mit der britischen Künstlerin Sue Corke ging Betzwieser unter dem Label WE COLONIZED THE MOON der Frage nach, wie eigentlich der Mond riecht. Es gibt Berichte von Mondreisenden

REDTAPEONBOTTLENECK, 2006/2012, Videostills

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KÜ NSTLER B – C wie dem Apollo-16-Astronauten Charlie Duke über den Geruch, den sie wahrnahmen, als sie nach ihreren Mondmissionen im Raumschiff den Helm abnahmen. Corke und Betzwieser beauftragten den Parfümeur Steven Pearce diesen künstlich herzustellen. Zur Eröffnung offerierte das Künstlerduo in dem Gruppenexperiment »Massive Live Moon Smelling« Neugierigen, den Duft des Mondes zu riechen. Dicht gedrängt wurde eine Vielzahl an Helium­ballons, die den Duft des Erdtrabanten auf­ bewahrten, zum Platzen gebracht und ein Wolke Mondduft, der an kalten Staub oder Sand bei Frischluft erinnerte, ergoss sich über die Versuchsgruppe. www.iat-research.com / www.wecolonisedthemoon.com 1974 in Neckarhausen (DE) geboren, lebt und arbeitet seit 1997 in Stuttgart (DE). Seit 2008 arbeitet Betzwieser mit Sue Corke als WE COLONISED THE MOON zusammen.

Künstler selbst wie von einem Boot auf dem Meer hinaus blickt. Ein weiteres Video dokumentiert den Prozess des Malens und wieder Auslöschens des Gemalten und lässt dabei zugleich als Installation die Anwesenheit des Künstlers imaginieren. Indem er dieses »neue und unerforschte Gebiet« eines Fleckes in der Wand immer wieder mit präzisen Konturen nachzeichnete und übermalte, versuchte der Brite, eine Topografie seiner eigenen Fantasie zu erschaffen, deren »visuelle Erfindung« an Leonardo Da Vincis »Traktat über die Malerei« anknüpft. Demnach ist eine Grundvoraussetzung eines solchen Kunstwerkes die Kenntnis aller Komponenten, aus denen es sich zusammensetzen soll, dazu zählen auch landschaftliche Elemente wie Steine und Pflanzen. Es ist die kunsttheoretische Auffassung des Renaissancemalers, die Bourns Fähigkeit zur Visualisierung bis in die Gegenwart prägt, und aus deren Verständnis heraus für den Betrachter eine fiktive Welt entsteht, die nicht nur dazu im Stande ist, die reale zu kommunizieren, sondern diese selbst auch zu verbessern. Bourns topografische Untersuchung kann nicht zuletzt als Kritik an Googles »World View«-Programm gelesen werden. In jedem Fall aber stellt es den Versuch dar, das Mysteriöse und Metaphysische der Dinge zu rehabilitieren und die Welt mit einer brennglasähnlichen Detailauffassung wieder zu subjektivieren. Dass das Mystische Bourn aber auch in der Realität unterkommt, erfuhr er neulich auf einer Reise nach Schottland, bei der er im Meeresarm Firth of Clyde im Südwesten Schottlands auf eine Insel namens Isle of Bute stieß. Deren zerklüftete Küstenlandschaft erinnerte ihn an ebenjene Landschaft, die er aus seiner Fußleiste entstehen ließ und von der er bis dahin dachte, sie sei lediglich Produkt seiner Fantasie. 1953 in London (GB) geboren, wo er lebt und arbeitet.

Ian Bourn (GB)

Lan dschaft mit Scheuerleiste

Jeanette Chavez (CU)

Skirting, aus dem Projekt: Peninsula, 2011—2012, Multimedia-Installation

Einigkeit un d Recht un d Freizeit

Für Jeanette Chavez geht das Dilettantische oft mit einer hoffnungsvollen Einstellung einher, die sich aus einem ungebrochenen Vertrauen in die Möglichkeit speist, waghalsige Projekte oder Träume tatsächlich realisieren zu können, auch wenn es sich letztlich wieder nur um Illusionen handelt. Sie vertritt hier gewissermaßen einen Begriff des Dilettantismus, mit dem letztlich jeder angesprochen ist, der sich – entgegen aller Regeln, Konventionen, Qualifikationsfragen oder sogenannter Sachzwänge – in Veränderung übt. Die soziale Utopie wie die Kunst werden zur dilettantischen Unschuld erklärt und umgekehrt; eine Unschuld, die erlaubt, bestimmte Verhältnisse zu reflektieren und in Frage zu stellen und so dokumentieren die Arbeiten der kubanischen Künstlerin eine obsessive, sich mehrende Sehnsucht nach Veränderung in einer Realität, die von konstanter Heuchelei und Verdrängung durchdrungen ist. In diesem Sinne verstehen sich ihre Performances, Installationen, Videos und Fotografien als eine Art »Bewusstseinsöffnung«, die Visionen einer Gesellschaft enthüllt, welche durch das Ego, den Schein, die Zensur und Unterordnung des Einzelnen ge- und verformt wurde. Der permanente Widerspruch zwischen Ideen und Handlungen sei dabei Ausdruck eines tiefsitzenden Konflikts zwischen

Ian Bourn ist ausgebildeter Maler, der seit den 1970ern vor allem im Film- und Videobereich arbeitet und zahlreiche experimentelle Geschichten produzierte. Das Dilettantische hilft ihm oft als künstlerische Strategie. Seine Arbeiten kreisen um Ausschnitte seiner eigenen Vergangenheit, um Sprache, Humor und Imagination. Oft erschafft er fiktionale Charaktere, die durch ihre tragikomische Gebrochenheit an irgendetwas zwischen Tony Hancock und Harold Pinter erinnern. Da gibt es den Amateur Phil beispielsweise, der seine Abende damit verbringt, den Modell-Bausatz eines »Boeing B-29 Superfortress Bombers« – der größte und leistungsfähigste Langstreckenbomber aus US-amerikanischer Produktion, der während des Zweiten Weltkriegs und noch in der Anfangsphase des Kalten Krieges im Dienst war – zum Leben zu erwecken, dabei aber das Scheitern seines eigenen Lebens erzählt und tagebuchähnliche Geständnisse zwischen Selbstmitleid und –ironie zum Wiederaufbau seines zerbrochenen Egos verwendet. Phil, Dilettant im eigenen Leben und eine tickende Zeitbombe, die nur darauf wartet hochzugehen, wird dabei – wie viele der Charaktere in Bourns Filmen – von ihm selbst verkörpert. Es entsteht so ein spannungsgeladener visueller Diskurs zwischen Realität und Fiktion, Metapher und Absurdität, zwischen Autobiografie und Zeitgemälde. In den letzten Jahren hat sich Bourn zunehmend wieder an die Malerei angenähert und versucht seither nicht nur seine Expertise für Film in diese Arbeit mit einfließen zu lassen, sondern er verbindet beide Ausdrucksformen. So entstehen komplexe Gebilde zwischen Installation, Performance und Ausstellung-inder-Ausstellung. Eine dieser komplexen Arbeiten, die stets ortsspezifisch konzipiert und präsentiert werden, ist in der HALLE 14 zu sehen: »Peninsula« (dt.: »Halbinsel«) ist eine performative Video- und Malerei-Installationen, die auf dem bereits im ACC in Weimar gezeigten »Skirting« (dt.: »Fußleiste«) basiert. Ausgangspunkt von »Peninsula« bildete der Ausschnitt einer ausgefransten Tapete und einer Fußleiste seines eigenen Wohnraumes, aus dem Bourn eine felsige Küste entstehen sieht, auf die der

Integration, 2011, Videostill

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KÜ NSTLER c – d dem Menschen als sozialem Wesen und dem System als politischer Struktur. Chavez’ Fokus liegt vor allem auf den Machtverhältnissen zwischen individuellem und sozialem oder politischem Körper, wobei sie nicht zuletzt von den autoritären Zuständen in ihrem Heimatland Kuba geprägt ist. Diese Machtverhältnisse versucht sie in ihren Arbeiten stets sichtbar zu machen oder Ideologien mit einer poetischen Sichtweise zu durchkreuzen. Dabei ist die Bereicherung und Weiterentwicklung ihrer Arbeit durch den Austausch mit anderen Menschen, Denkarten, Konzepten von Kultur, Macht und Ethik von entscheidender Bedeutung. Die in der HALLE 14 gezeigte Installation »Aufbau des Kommunismus« (2012) ist ein sehr sprechendes Beispiel dieser Sichtbarmachung von Ideologie. Eine gemauerte Wand, rot angestrichen, symbolisiert die politische Staatsform ihres Heimatlandes Kuba. Der Besucher kann interaktiv den Kommunismus einreißen: Mit schweren Metallkugeln, dem Kugelstoßen gleich, wird das Mauerwerk mit Gewalt bearbeitet und soll am Ende durchbrochen werden. Bis dahin müssen die Einschlaglöcher nachgemalt werden, um symbolisch den äußeren Anschein des funktionierenden Kommunismus zu wahren. Ein Spiegelbild Kubas als bröckelnde Diktatur, die sich an beinahe jeder Hauswand des Landes ab­ lesen lässt. Chavez hat ihrer autoritären Heimat mittlerweile den Rücken gekehrt und lebt in Deutschland. Über ihre Versuche der Inte­ gration in das künstlerische »Exil« berichtet das Video »Inte­ gration« (2011), einer Gratwanderung zwischen Kulturen und Identitäten. Darin setzt sich Chavez bis zur Verzweiflung dem Versuch aus, die deutsche Nationalhymne zu singen. Doch ihre spanische Sprachherkunft macht ihr dabei sichtlich Mühe. Bei genauem Hinhören ist u. a. auch ein dilettantisches »Einigkeit und Recht und Freizeit« zu vernehmen. In der vierteiligen Videoinstallation »Programa de Danza para miembros de las Fuerzas Armadas Revolucionarias. La Danza dentro de la Instrucción de Infantería« (dt.: »Tanzprogramm für die Mitglieder des Militärs«, 2012) werden – auf vier nacheinander einsetzenden Sequenzen – Szenen marschierender Soldaten u. a. der nationalsozialistischen Diktatur gezeigt. Der Marsch wird zum Tanz, die Massen zur Choreographie. Diese Arbeit ist eine Weiterentwicklung von Chavez’ Idee, eine militärische Tanzanleitung in die Militärausbildung zu integrieren und damit grazilen Tanz mit stoischer Befehlsbefolgung zu verbinden. Die Entwicklung des Tanzes im Bereich des Militärs könnte auch neue Wege des Lernens erkunden, Körper und Geist verbinden, zur Bereicherung von Selbsterkenntnis und Auffassungsgabe gegenüber der Umwelt beitragen. Doch geht es Chavez weniger darum, sie als Tänzer auszubilden, sondern Soldaten tanzen zu lassen. 1980 in Havanna (CU) geboren, lebt und arbeitet in Weimar (DE).

auch der ästhetischen Qualität der Ausstellungsstücke. Die neue Installation »The Ethnographer at Home« (2012) nähert sich mit feiner Beobachtungsgabe und einer gehörigen Portion Humor einem Typus des neuzeitlichen Jägers und Sammlers, der in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus künstlerischer Praktiken geraten ist: dem Ethnologen. Doch begibt sich Dion nicht in eine einseitige Kritik des kolonialen Habitus mit dem dieser Forscher gemeinhin attribuiert wird. Er entwaffnet vielmehr einen Typus, indem er ihn in seiner Klischeehaftigkeit vorführt: Zu Reise­reli­ quien – etwa in Form fotografischer Aufnahmen – mischen sich Zeichen der Standes- und Statusreminiszenz. Als Ensemble bildet diese Anordnung eine spannungsgeladene Konstellation aus anheimelnder Wohnzimmeratmosphäre und vorgeführter Kon­ struktion des Exotischen. Bemerkenswert sind dabei vor allem die subtile Verschränkung unterschiedlicher Zeit- und Raum­ ebenen: So finden sich in diesem nur scheinbar historisch anmutenden Ambiente neben Anspielungen auf historische Forscher – die verwendeten Fotografien sind zum Teil Reproduktionen der ethnologischen Aufnahmen, wie sie beispielsweise Christoph von Fürer-Haimendorf auf seinen Nepalreisen gemacht hat – auch Zitate aus dem Alltagsleben: Den Gin beispielsweise kann man mühelos im Supermarkt erwerben. Die Arbeit ist mithin zugleich ein Interieur der Erinnerung wie ein pointierter Blick auf unsere Zeit.

The Great Munich Bug Hunt, 1993, Installation

Auch mit der zweiten Arbeit – eine Serie von verschiedenen Jagdkostümen – beweist sich Dion erneut als Virtuose der Klassifikation. Er arbeitet zwischen Naturwissenschaften und Kunst, um die Naturgeschichte sozial-historisch zu analysieren und als Typologie menschlichen Kulturwillens zu beschreiben. Die Ästhetik des Nebeneinanders von Kunst- und anderen Sammelobjekten, die Dion für seine kritische Weltsicht entwickelt, ist ausgefeilt und subtil wie in einer Kunst- und Wunderkammer der Renaissance. Die Serialität vieler seiner Arbeiten bemüht die altehr­ würdige Wissenschaftstradition der Enzyklopädie. Scheinbar spielerisch, ohne Nostalgie und Romantik vermag es Dion, subtile Kulturunterschiede auszumachen. Ihm gelingt es, aus der Jagd gleichzeitig eine Psychologie und Archetypik des Jagens abzuleiten. Die vier fiktiven, klischeebesetzten Jagdkostüme erzählen von unterschiedlichen Zeiten und Kontinenten: der amerikanische Trapper (»Frontiersman«), der weiße, afrikanische Großwildjäger (»Great White Safari Hunter«), der prähistorische Höhlenmann (»Caveman«) und der nordamerikanische Bogenjäger (»North American Bow Hunter«). Die Kulturen der Jagd werden hier sichtbar, wobei es der Künstler vermeidet, den tief im Menschen verankerten Jagdtrieb zu verurteilen. Er stellt zur Diskussion, pointiert oder dramatisiert die bekannten Szenarien. Aber Mark Dion ist auch Psychologe, der den Besucher dazu bringt, über sich selbst als Typ nachzudenken: Schließlich ist jeder Mensch ein Jäger – in welcher Art auch immer. 1961 in New Bedford (US), lebt und arbeitet in New York City und Pennsylvania (US).

Mark Dion (US)

die g rosse münchner kä ferjagd

»Alles, was ich an der Kunst mag, könnte man in der Wissenschaft nicht gebrauchen: Ironie, Metaphorik, Humor. (…) Für die Wissenschaft würden sie eine Entweihung bedeuten. Sie sucht nach Dingen jenseits der sozialen Geschichte, nach absoluten Gesetzmäßigkeiten.« (Mark Dion) Für Mark Dion ist der Dilettantismus interessanter als das Expertentum. Die Ideen zu seinen detailreichen Installationen, Skulpturen und Fotoarbeiten, in denen er die Phänomenologie der Wissenschaften als fachkundiger Amateur von innen heraus zu erfassen sucht, entstehen aus seiner Passion für Botanik und Naturkunde, wobei er zeitgleich in verschiedene Rollen ihrer Repräsentanten schlüpft – Fachkundige, Konservatoren, Museologen. Während seine künstlerische Sprache der institutionskritischen und ortsspezifischen Kunst des späten 20. Jahrhunderts entstammt, ist sie formal der Sammelsurien der Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts verwandt. Speziell ihre »Fehler«, Vag­ heiten und das Fragmentarische eröffnen individuelle Zugangsmöglichkeiten zu den behandelten Wissenschaftsthemen, aber

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KÜ NSTLER g – j Anna Gierster (DE)

es gi bt immer et was zu tun

Die Arbeiten der Leipziger Künstlerin Anna Gierster besitzen das Signet des Berufsdilettantischen. Derzeit setzt sie ihre Kreativität bei der Erfindung kleiner Haushaltshelfer wie ToilettenpapierAufrollern und elektrischen Sockentrocknern ein. Zuvor wurde die Absolventin der Bauhaus-Universität Weimar mit großformatigen Pappkarton- und Heißkleber-Installationen überregional bekannt, die grundlegende, soziokulturelle Fragen und Probleme unserer Zeit, auf die Gierster bewusst doppelbödig reagiert, in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Die Leichtigkeit des Materials stand in diesen Installationen oft dem Schwergewicht der Intention gegenüber. Exakte Nachbildungen von Objekten wie z.B. die eines Satellitenempfängers liefern mit unübersehbarem Charme Spiegel- und Trugbilder und lassen den Rezipienten zum direkten Ansprechpartner, zum Benutzer und Entdecker werden. Giersters Modelle spiegeln die Realität und lassen sie in der theoretischen Modellhaftigkeit zu Zerrbildern der Wirklichkeit werden. So erscheint die komplizierte »reale Welt« in ihren Pappmodellen vereinfacht, Geräte verlieren ihre einschüchternde Präsenz. Die Frage der Funktionalität thront unsichtbar über den Werken. »Es gibt immer was zu tun« (2012) proklamiert ihre neue Arbeit, in der sie die nachgebaute Welt hinter sich lässt und die Tücken des Do-it-yourself anhand realer Objekte demonstriert. Der humorvoll-säuerliche Bezug auf den Hobbyheimwerker, den die Werbung von Baumarktketten zum zivilisatorischen Helden stilisiert, erschließt sich per erkaltetem Gemisch, in dem eine dilettantisch vergessene Schaufel von der nur allzu leicht überschrittenen Grenze zwischen »Wollen« und »Können« erzählt. Giersters Arbeit verschreibt sich dabei mit einfachsten Mitteln der zeitgenössischen Gesellschaft, deren Mitglieder zunehmend das Professionelle durch sich nur allzu schnell selbst überlebendes Halbkönnertum und Pseudowissen ersetzen, um schließlich daran zu scheitern. www.annagierster.de 1981 in Landau (DE) geboren, lebt und arbeitet in Leipzig (DE).

Aesthetic Error (Candlestick and Buttonhole), 2012, Videostill

ihrem jeweiligen Konzept folgen zu lassen und nicht umgekehrt. Die nötigen Fertigkeiten zur Realisierung einer Idee erarbeitet sie sich also meist während der Entstehung eines Werks anstatt sich von vornherein auf eine Gattung oder künstlerische Methode festzulegen. Für ihr Schriftwerk »In Camera. Ein Lesedrama für die Galerie« hat Kel Glaister ein Drehbuch produziert, das auf Jean-Paul Sartres 1944 uraufgeführtes Drama »Geschlossene Gesellschaft« (frz.: »Huis Clos«) basiert. Es handelt sich dabei um ein Theaterstück, das von zwei Frauen und einem Mann erzählt, die nach ihrem Tod in einem wie die Hölle anmutenden Raum eingesperrt sind und in dieser Situation die Grundprinzipien menschlicher Beziehungen neu erproben, um sie schließlich scheitern zu lassen. Glaister hat diesen Klassiker aus der Sicht einer Dilettantin, denn sie versteht sich nicht als Autorin, neu bearbeitet, ihn in Kunstwerkform gebracht. Protagonisten sind ein Künstler, ein Kunstwerk, für das als Allegorie eine wunderschöne Frau steht, ein Zuschauer und schließlich Glaister selbst, die ihre Beziehungen zu einander reflektieren. Im Dialog mit dem Künstler kommen Ansichten zu Tage, die den Kunstbetrieb zwischen Produktion und Ausstellung kritisch ins Visier nehmen. Glaister zeigt in der HALLE 14 außerdem zwei Videoarbeiten »Candlestick and Buttonhole« (2012) sowie »Signal« (2012), die in Leipzig entstanden. Beide Arbeiten gehören zur Serie »Aesthetic Error«. In »Candlestick and Buttonhole« schlängelt sich eine Frau um ein Geländer mit einer Art Taschenlampe im Mund mit der Absicht den Raum und unsere Wahrnehmung davon ins Wanken zu bringen: Die Kamera ist unscharf, das Bild verwackelt. Ebenso schattenhaft bleibt »Signal«, dessen Bildausschnitt einen Blick aus einem Fenster zeigt. Draußen erkennt man schemenhaft eine aufflackernde Lampe. Die gesamte »Aesthetic Error«-Serie zielt somit auf eine Lücke, die gerade nicht das sein will, was es zu sein vorgibt; denn nichts bezeugt die Abwesenheit künstlerischen Genius’ mehr, als der Rückgriff auf die Allegorie – so die Künstlerin. www.kelglaister.wordpress.com 1984 in Melbourne (AU), lebt und arbeitet in Melbourne (AU) und Glasgow (GB).

Karl Hans Janke (DE)

die Psychiatrie als weltlabor

Karl Hans Janke war ein Patient in der geschlossenen Psychiatrie mit unzweifelhaft technischer Begabung, ein Künstler und Konstrukteur, ein Vertreter der Außenseiterkunst. Er bastelte und zeichnete, hielt Vorträge und korrespondierte mit Unternehmen und öffentlichen Institutionen. Janke wuchs auf dem Land in Kolberg (Pommern) auf, wo seine Eltern eine kleine Landwirtschaft betrieben. In einer Werkstatt auf dem Hof seiner Eltern tüftelte Janke schon früh an eigenen Erfindungen. Aus gesundheitlichen Gründen wurde Janke der Dienst im 2. Weltkrieg erlassen. Nach dem Krieg stirbt sein Vater. Er bleibt alleine mit seiner Mutter. Als auch diese 1948 stirbt, verwahrlost Janke zusehends. Er ist aufmüpfig und zuweilen zieht er durch sein Verhalten die Aufmerksamkeit der Staats­

Es gibt immer was zu tun, 2012, Betonmischer, Beton, Schaufel

Kel Glaister (AU)

Schönheitsfeh ler Die Australierin Kel Glaister aus Melbourne sieht sich selbst gern als Dilettantin: »Das erlaubt es mir, jeglichen Horizont anzupeilen, ohne Bedenken, ein bestimmtes Set an Werkzeugen und Fähigkeiten, für deren Erlangung man Jahre benötigt, komplett beherr­ schen zu müssen. Ich kann einfach mittendrin loslegen. Die Trialand-Error-Methode ist für mich eine ganz alltägliche Art des Wissenserwerbs.« Ihre künstlerische Handschrift ist facettenreich und changiert zwischen verschiedenen Arten der Kunstproduktion, wobei sie versucht, die bestmögliche Form einer Arbeit

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KÜ NSTLER J – K Eleni Kamma (GR)

gewalt auf sich. Nach einem öffentlichen Eklat wird er in die Psychatrie Hubertusburg in Wermsdorf eingeliefert, die er sein Leben lang nicht mehr verlässt. Von 1948 an entstehen in den fast 40 Jahren bis zu seinem Tod über 4.000 Werke. In dieser Zeit behauptet Janke, auch Abendkurse an der Technischen Universität Berlin besucht, ein Dolmetscher-Examen abgelegt sowie in Greifswald drei Semester Zahnmedizin studiert zu haben. Nachgewiesen ist die Immatrikulation in Greifswald für ein Semester Zahnmedizin. Er gibt an, er hätte in Großenhain sein Geld als Konstrukteur verdient und Töpfe genietet sowie eine kleine Werkstatt zur Spielsachenherstellung betrieben. Er sieht sich selbst als Erfinder, Ingenieur, Künstler und Genie und formuliert seine eigenen Theorien zur Geschichte des Weltalls, der Evolution und zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. Janke sah sich als Mensch, dessen Lebens­aufgabe es war, das Energieproblem der Welt zu lösen. Seine Gedanken kreisten um das Thema »Motoren und Energie«. Dr. Peter Grampp, Chefarzt für Psychiatrie im Krankenhaus Hubertusburg stellte fest: »Aufgrund des autistischen Syndroms ist er nicht zu wirk­ lichem Kontakt fähig und kommuniziert über seine Bilder.« Eine Manie des Erfindens trieb Janke, der ständig an neuen, zum größten Teil, technischen Ideen tüftelte. Die pure Neugier, ein Hinterfragen der Welt – ein Ansatz also, der Wissenschaftler und auch Künstler antreibt, ganz egal, ob nun schizophren oder nicht. Gerade dieses Spannungsfeld macht seine Arbeiten so faszinierend: Denn egal, ob sein »Atom-Generator« oder seine »Raumtrajekte« wirklich funktionieren, der Grundgedanke bleibt die ständige Skepsis an der Realität, den Dingen an sich. Janke hörte nicht auf mit den Fragen, den Entwicklungen, Stillstand wäre eine Art Kapitulation an die Gegebenheiten, denen er sich ständig widersetzte. In der Ausstellung befinden sich u. a. Skizzen, die das »elektrische Phänomen der Erde« erklären. Grundlage vieler seiner Überlegungen war die Annahme, dass die Erde über elektrische Energie verfügt. In einem seiner Vorträge, die Janke in der Klinik abhielt, erklärt er: »Dieses Bild zeigt einen Querschnitt unserer Erde mit ihren Metallmassen, radioaktiven, zentralen Feuern und ihrer Lufthülle, die, durch die Erdrotation bedingt, sich in Spiralen, wie eine Radiospule, um den Erdkörper aufrollt! Durch die Sonne als Sensibilisator – und die Polströmung aufgeladen, speichert unsere Erde die riesigen Mengen an Elektrizität, die wir nur anzapfen brauchen! Dazu wird – nach meiner Technik – nur ein ganz geringes Quantum an reaktiver Substanz benötigt, ca. 24 % dessen, was im Sowjetischen Reaktorkraftwerk verbraucht wird, weil ich diese Strahlenmassen in geschlossenen Röhrenkolben zur Anwendung bringe!« www.karl-hans-janke.de 1909 in Kolberg/Pommern (DE) geboren, lebte seit 1950 in der Psychiatrischen Landesanstalt Hubertusburg in Wermsdorf (DE), wo er 1988 starb.

Narration querbeet Kammas Arbeitsweise bewegt sich in einem breiten Spektrum verwendeter Medien: Zeichnung, Video, Performance aber auch Künstlerbücher gehören dazu. In ihrer künstlerischen Arbeit erforscht Eleni Kamma Lücken und Widersprüche innerhalb kultureller Erzählungen und narrativer Strukturen. Sie sucht nach Zwischenräumen und interpretiert Ordnungssysteme, Beschreibungs- und Klassifizierungsstrategien neu. Sie untersucht dabei das Verhältnis von Klischee und Stereotypen und wie diese im Prozess der Bildung von Geschichte und von Bedeutung ihren Niederschlag finden. In ihren jüngeren Arbeiten beschäftigt sie sich damit, wie Wort und Bild koexistieren und Bedeutung schaffen können, indem sie diese durchbrechen oder scheinbar Bedeutung kollabieren lassen. Kamma verwendet dabei Methoden des Verschiebens, Wiederholens und der Maßstabsveränderung. Die so entstehenden Strukturen umkreisen einen Raum zwischen Wiederholung und teilweise assoziativer Zusammengehörigkeit. Ihre eigene Sammlung aus Büchern, Benutzerhandbüchern, Texten, Illus­ trationen, Fotokopien dient ihr sowohl als Informationsarchiv als auch als Ausgangspunkt und Auslöser für weitere Arbeiten. Vorhandenes Material wird nach einem neu arrangierten Bedeutungsgeflecht geordnet beziehungsweise bestehende Ordnungen aufgebrochen. Die Arbeiten von Kamma entfalten sich selbst oftmals als permanente Übersetzungen und Übertragungen, die sich dem Ungesagten, Unausgedrückten widmen. Das Thema Gartenbau interessierte Kamma bereits in zahlreichen Zeichnungen und Collagen, die gefundenes Bildmaterial mit großer Aufmerksamkeit auf das Detail zeitaufwändig neu zusammensetzen. Einem ähnlichen Prinzip folgt auch die in der Ausstellung gezeigte Stop-Motion-Animation »76 Days (Root and Branch)« (2007). Sie reflektiert das Entstehen eines künstlichen Gartens aus verschiedenen Kunststoffelementen, Gläsern und Spielzeug. Die Künstlerin interessiert sich dabei besonders für die Übergänge. Das Video zeigt die Schaffung eines utopischen Gartens, der überall entstehen kann, wo Zeit und Fantasie regieren. Sie selbst sagt zu ihrer Arbeit: »Die Struktur meiner Bildräume folgt meinen zerbrochenen ›griechischen‹ Wurzeln. Sie sind das Ergebnis eines andauernden, obsessiven Handwerks, eines Kompositionsprozesses der Bearbeitung, des Wiederholens und Einfügens. Meine Kopiervorlagen sind Druckwerke und konzentrieren sich auf die unscharfe Grenze zwischen Natur und Kultur.« Mit »En Parergo I (a bywork for Weimar)« (2012) präsentierte Kamma in der Weimarer Station der Ausstellung einen visuellen Kosmos, der mit der Geschichte des Papierfaltens verbunden ist und lud die Besucher ein, sich selbst in dieser Kunst zu ver­ suchen. Deren Ursprünge sind vielfach mit Spekulationen verbunden, wobei Fragen der Autorschaft über nationale Grenzen

Karl Hans Janke, Zeichnungen, o.J

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KÜ NSTLER K – L hinaus berührt werden. Der 1989 in Bayern gegründete Verein »Origami Deutschland« verfolgt eine Bildungstradition, die bis in die Zeit des Schuldpädagogen Friedrich Fröbel (1782—1852) reicht. Dieser führte Origami als Teil eines ganzheitlichen Lernens ein und wurde u. a. zur Inspirationsquelle für die Bauhausbe­ wegung. Zwischen ephemerer Installation, Informations- und Ausbildungsstätte griff Kammas Projekt das Thema »Dilettantismus versus Professionalität« auf. Die Tätigkeit des Faltens sei gleichermaßen ein räumlicher wie skulpturaler Akt. Die Installation verändert sich aus dem Umgang der Besucher mit dem angebotenen Material heraus. www.elenikamma.com 1973 in Athen (GR) geboren, lebt und arbeitet in Brüssel (BE) und Maastricht (NL).

Die Nietzsche-Gedächtnishalle, 2012, Installation

Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben« (1874) ausgestellt – eine Meditation über den Wert und die Wertlosigkeit von historischem Wissen. Die Bücher sind chronologisch angeordnet, von einer frühen, 1924 datierten Ausgabe bis hin zu einem Hörbuch aus dem Jahr 2011. Ein Copyright-freier digitaler Ausdruck kann von den Besuchern gelesen werden. Die Publikationen sind Teil eines andauernden Archivs. www.adamknight.co.uk Adam Knight ist 1982 in Bedford geboren. Er lebt und arbeitet in London (GB). Simone Bogner ist 1982 in Schorndorf geboren. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Weimar (DE). En Parergo I (a bywork for Weimar), 2012

Paul Etienne Lincoln (GB)

Krisen bew ä ltigungs ­a pparaturen

Adam Knight (GB) & Simone Bogner (DE)

Seit mehr als 30 Jahren erschafft der britische Künstler Paul Etienne Lincoln sorgfältig durchkonstruierte allegorische Maschinen. Diese detailversessene Projekte beruhen oftmals auf jahrzehntelangen Recherchen und Experimenten, wobei sich Lincoln – einem Universalgelehrten gleich – eines umfassenden Wissens aus Geschichte, Wissenschaften, Technologie, Literatur, Kunstgeschichte und so weiter bedient. In der Aus­ stellung werden anhand von mit Schautafeln vergleichbaren Pigmentdrucken die vielfältigen Bezüge drei seiner Projekte veranschaulicht. Der »Panhard Special« (1976/2007) – der Prototyp eines insektenähnlichen Automobils – war der erste komplexe Mechanismus des Künstlers, mit dessen Bau er im Sommer 1976 während der ersten Ölkrise begonnen hatte. Ziel war es, ein Fahrzeug mit dem denkbar saubersten Verbrennungsmotor zu entwickeln und dessen »Beatmung« sowie die Beziehung von Mensch und Maschine zu erforschen. Der luftgekühlte »Panhard & Levassor Tigre-Motor« von 1959 wird mit Lachgas, Flüssigpropangas und Leinsamenöl betrieben. Durch einen speziell angefertigten Anzug ist der Fahrer mit der Maschine verbunden, erfährt so jede Veränderung im Betrieb des Autos und kann auch seine Kör­ pertemperatur genau regulieren. Alle Elemente des »Panhard Special« wurden manuell entworfen und hergestellt, ohne spezielles Ingenieurswissen oder den Rückgriff auf marktübliche Teile. Die im Laufe von vier Jahren entwickelte Konstruktion entstand jedoch vor allem intuitiv. Der »Equestrian Opulator« (1986—2000/2010) ist ein ausgefeiltes und universelles Instrument für Liebhaber von Pferderennen – eine Ikone der Überlegenheit im Publikumssport. Diese veritable Stützvorrichtung für die feine Gesellschaft jeden Ranges, ob arthritisch oder betrunken, soll Langeweile oder Müdigkeit in jeder Hinsicht mindern und eine Haltung von ausgesprochener Ehrbarkeit sicherstellen. Die leichte, aber stabile Konstruktion aus Aluminium und Titan ist der perfekte Begleiter für alle Rennstrecken weltweit und auf das Vielseitigste einsetzbar. Zum Gerät gehört auch eine Übersicht von 30 internationalen Rennstrecken, die sich wahlweise durch ihre interessante Streckenführung, ihre Qualität und Präzision in der Geländeorganisation oder durch ihre geografische Lage auszeichnen. Für Perfektionisten steht zudem eine umfangreiche Ausstattung in verschiedenen Designs

Unter Umgehung des Kompetenzgefühls

Adam Knights ästhetische und konzeptuelle Visionen realisieren sich in (teilweise bewegten) Bildern, die zwischen Worten und Objekten, Klängen und erstarrten Dingen oszillieren, gleichermaßen verschleiert wie enthüllt. Die Methoden des Amateurs erlauben es ihm, die übliche Kritik künstlerischer Praktiken zu verschieben – das Schisma zwischen Erfolg und Scheitern – und sie vor allem als Unternehmungen ins Offene zu adressieren. In seinen eigenen Worten: »Das Amateurhafte war schon immer ein Weg, sich als Künstler zu bewähren. Ich bin mir der Gesten und Rituale sehr bewusst, die man anerkennt und bestätigt, um sich als Künstler auszuweisen. Ich habe immer versucht, diesen Prozess zu untergraben. (…) Sobald ich mir wie ein Experte vorkomme oder ein gewisses Kompetenzgefühl entwickle, traue ich mir nicht mehr und gehe auf ein anderes Forschungsgebiet über. (…) Ich interessiere mich eher für das Künstlerische in marginalen Aktivitäten und die relevanten Kritiken, die das hervorruft, als notwendigerweise Künstler zu sein.« Grundlage des laufenden Projekts, das Knight hier präsentiert, sind die Forschungen der Kunsthistorikerin Simone Bogner und des Architekten Maurizio de Rosa über die ehemalige NietzscheGedächtnishalle in der Humboldtstraße 36a in Weimar. Das Gebäude wurde von dem deutschen Architekten Paul SchultzeNaumburg geplant und von 1937 bis 1944 durch die Weimarer Baufirma Bischoff errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Halle für die Nutzung eines Radiosender umfunktionalisiert und umgebaut. Der letzte Nutzer, der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), zog dann im Jahr 2000 aus. Die Installation legt den Fokus auf die Rolle Bogners innerhalb des Forschungsprozesses. Das Video basiert auf einem Interview mit Bogner, in dem sie über das Projekt entlang ihrer Forschungsarbeit und individuellen Zugangsweisen zum Thema spricht. Es ist aus einer ganzen Reihe von Antworten auf Fragen zusammengeschnitten, die Knight über mehrere Monate an sie richtete. Die Video-Slideshow enthält Bilder, die noch während der Recherchen von Bogner und de Rosa entstanden – sie wurden von Knight als Echtzeit-Reaktionen auf Bogners Antworten inszeniert. In einem zweiten Element der Installation werden verschiedene Ausgaben von Nietzsches Abhandlung »Vom

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KÜ NSTLER l – M zur Verfügung, die nicht nur die Funktionalität des Opulators steigert, sondern auch kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigt und entsprechende Vorlieben bedient. Das »Bad Bentheim Schwein« (2009—2011) ist ein Projekt, das dazu beitragen soll, einen verlorenen Garten aus dem frühen 18. Jahrhundert im Bentheimer Wald wieder neu zu erschaffen – einer der ersten französischen Gärten nach barockem Vorbild (Versailles) in Deutschland. Das Projekt setzt sich aus drei Teilen zusammen: Erstens dem mechanischen »Bad Bentheim Schwein« selbst; zweitens dem »Schweineschloss«, einer architektonischen Fantasie in Form einer riesigen Eichel, die einem Eishaus (einer Vorform des Kühlhauses) nachempfunden ist, das dem französischen Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux (1736—1806) zugeschrieben wird; sowie drittens neun Sparschränken, die in Kneipen und Kultureinrichtungen in und um Bad Bentheim herum aufgehängt wurden und Sparklubs dazu ermuntern sollen, an die Schönheit ihrer Umwelt zu denken und das geplante Paradies zu finanzieren. Das »Bad Bentheim Schwein« wurde nach dem Vorbild dieser seltenen Rasse, dem »Bunten Bentheimer«, geformt; es trägt eine verzierte Metall­ rüstung, welche auf deutsche Harnische aus dem 15. und 16. Jahrhundert verweist. Sein Inneres ist hohl. Den größten Teil nimmt eine Orgel ein. Der Schwanz des Tieres ist die Kurbel. Zwanzig speziell präparierte Pfeifen unterstützen die Stimm­ gebung des Schweins; der »Zitzenzufallsmechanismus« stellt sicher, dass das Schwein das gleiche Lied nie zweimal singt. Jedes Jahr kommen neun ausgewählte Patrone aus den um­ liegenden Sparclubs im »Schweineschloss« zusammen, um an einer der Schweinezitzen zu ziehen. Der Dirigent ergreift den Schweineschwanz und lässt so das bekannte hiesige Jagdlied »Ich schieß den Hirsch im wilden Forst« erklingen. Der Schwei­ nemeister belohnt den Dirigenten mit einer Eichel, die an das Schwein verfüttert wurde. Sie wanderte durch das Schweinemaul, um anschließend komplett vergoldet aus dem Schweineanus auszutreten. Diese Trophäe wird zur jeweiligen Kneipe oder Kultureinrichtung des Dirigenten zurückgebracht und ein neu­ gepflanzter Baum im Barockgarten wird nach ihm benannt. 1959 in London (GB) geboren, lebt und arbeitet in New York City (US).

Art Class (erased), 2012, Neun gefundene Gemälde

und dekonstruiert. Das Fragmentarische, Unvollkommene und scheinbar Nebensächliche rückt in den Fokus. So hat Macbeth beispielsweise seit Beginn seiner eigenen Ausbildung zahlreiche Gemälde gesammelt, die – gerade weil sie in irgendeiner Form »falsch« oder unfertig sind – etwas offenbaren, das vollendete und gewissermaßen selbstbewusste Gemälde nicht zeigen. Bei »Artclass (erased)« (2012) – von denen Macbeth neun für die Ausstellung ausgewählt hat – handelt es sich um eine größere Serie von Gemälden, die einst übermalt wurden, um sie als klare Fehlversuche zu kennzeichnen und die bisherigen Anstrengungen in einer zerstörerischen Geste als ungenügend zu bewerten. Ihr ursprüngliches Ziel aber scheint noch durch. »Artclass (double portrait)« (2012) hingegen zeigt zwei Porträts aus einem Malereikurs für Amateure. Das selbe Modell wurde aus zwei leicht versetzten Blickwinkeln gemalt, erscheint aber eigenartig verschieden. Auch eine dritte Arbeit steht im Zu­ sammenhang der »falschen Bilder«: Botticellis »Primavera« (Frühling, um 1482/1487) gehört zu den bekanntesten und am häufigsten reproduzierten Werken der abendländischen Kunst. Botticelli behandelte gerne allegorische Themen, die bei der intellektuellen Elite des Hofes der Medici sehr beliebt waren, aber eine heutige Deutung erschweren. Die Bedeutung des Bildes hat im Laufe der Zeit unterschiedliche Interpretationen erfahren und gilt bisher in der Kunstwissenschaft als nicht überzeugend geklärt. Hier hat sich jemand an einer Kopie des Alten Meisters versucht. Mit Blick auf ihre jeweiligen Vorbilder oder Referenzarbeiten, deren Intentionen und Ansprüche sind diese Werke nicht einfach nur »schlecht«, sondern scheinen durch einen »brillant deplazierten Optimismus« auf eine ganz eigene Weise verbindlich. Indem sie die Diskrepanz zwischen dem Verständnis, der Ambition und der tatsächlichen Ausführung einer Arbeit noch erkennen lassen, verraten sie etwas über die Malerei, die sich jenseits der Fähigkeiten eines professionellen Künstlers abspielt. Gerade weil sie daran scheitern, den Konventionen des künst­ lerischen Schaffens zu folgen, stellen sie etwas Sonderbares und Bedeutungsvolles dar. Ein Grund, warum sich Macbeth zu diesem Thema berufen fühlt, ist die Tatsache, dass eines der Gemälde von ihm selbst stammt – identifizieren wollte er es nicht, und zwar aus einer Zeit, in der er erklärtermaßen weder Ahnung noch klare Vorstellungen von (seiner eigenen) Kunst hatte und viel kopierte. Wie die Sammlung »falscher« Gemälde thematisieren auch die Installation »Arch« (dt.: »Bogen«, 2012) und »Boxes« (dt.: »Kartons«, 2012) eher die Sehnsucht, als das Gelingen der Kunst. Während die »falschen« Gemälde abgelehnte und aussortierte Bilder in ihrem Anspruch und Gelingen hinterfragen, werden in diesen Installationen die Malwerkzeuge selbst zur poetischen Geste – durch eine skulpturale Zweckentfremdung. Die Installation »Boxes« versammelt eine Vielzahl von Kartons – in der Größe vom kleineren Schuhkarton bis hin zur Umzugskiste variierend – die oben offen und mit je einem kleinen Holzstöckchen versehen sind. Jedes dieser Stöckchen wurde in weiße Disper­ sionsfarbe getaucht, als habe der Maler vor Arbeitsantritt die Farbe gerührt. So wird unsere Aufmerksamkeit auf eine scheinbar

Bad Bentheim Schwein 2009—2011, 2011, Pigmentdruck

Rory Macbeth (GB)

Von der Wah rheit des Unvollkommenen Die Leidenschaft zu Malen scheint mehr als jede andere Kunstform mit dem Dilettantismus liiert. Nicht verwunderlich also, dass Rory Macbeths dies zum Gegenstand seiner künstlerischen Auseinandersetzung macht. In seinen Werken spielt er oft auf den Akt des Malens an, Werkzeuge der Malerei werden als Stellvertreter eines romantisch-klischeebeladenen Ideals befragt

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KÜ NSTLER M – S nebensächliche Tätigkeit gelenkt und sie schlägt einen Bogen vom Malen als Kunst und Malen als Handwerk. »Arch« hingegen verbindet Macbeths Arbeiten in der Ausstellung geradezu sinnbildlich. Mit diesem Bogen aus aneinander festgebundenen Pinseln bezieht sich Macbeth einerseits auf die sogenannte Fibonacci-Folge: Deren bis ins Unendliche reichende Zahlen ergeben sich jeweils aus der Summe ihrer beiden Vorgänger, so wie hier auch die Pinsel nacheinander angeordnet sind. Der Quotient zweier aufeinander folgender Fibonacci-Zahlen nähert sich aber wiederum dem für die Malerei so wichtigen Goldenen Schnitt an. Andererseits hat Macbeth den englischen Maler William Hogarth im Sinn, der 1753 in seiner kunsttheoretischen Schrift »The Analysis of Beauty« eine bestimmte S-artige Kurvenform als Grundlage eines Objekts auf der Fläche oder im Raum als »Line of Beauty and Grace« verabsolutierte. Macbeths Bogen versucht auf ganz eigene, etwas unbeholfene Art seine »Schönheitslinie« zu definieren und scheitert an seiner Länge, die allein noch nicht ausreicht, um ein Zeichen zu setzen. Doch gerade in der Unfähigkeit, Größe zu erreichen, liegt eine höhere Wahrheit. 1968 in Schottland geboren, lebt und arbeitet in Leeds und London (GB).

riesige Kakerlake erwacht und als solche aus seinem nor­malen Leben gerissen und von seiner Familie geächtet wird. Stattdessen entspinnt sich nun die tragikomische Geschichte von Gregor, einem Mann, der sich – sowohl literarisch als auch psychologisch – auf einer Irrfahrt durch einen Krieg befindet, in dem Betty (eine neue, aus der »fehlerhaften« Übersetzung geborene Figur) als seine gefallene Heldin erscheint. Doch so wie eine konventionelle Übersetzung niemals vollkommen dem Originaltext entsprechen kann, kann es auch keine absolute Bedeutungs­untreue geben. Das Ergebnis ist jedenfalls mehr als kafkaesk. »The Wanderer by Franz Kafka« (seit 2010) liegt bereits zu zwei Dritteln vor, wobei Macbeth – je nach Übersetzungsstand – für jede Ausstellung eine neue Ausgabe anfertigt. Auf Grundlage dieser Übersetzung entstand – gemeinsam mit der französischen Videokünstlerin Laure Prouvost – das Skript zu »The Wanderer«, dessen Hauptfiguren eine Reihe von zunehmend bizarren und mysteriösen Erfahrungen durchmachen. Die in der HALLE 14 vorgestellte Videoarbeit »The Wanderer (Betty Drunk)« (2012) ist der zweite Akt dieser noch unabgeschlossenen, sechsteiligen Serie, die letztlich einen ganzen Film ergeben soll. www.laureprouvost.com Laure Prouvost ist 1978 in Lille (FR) geboren, lebt und arbeitet in London (GB).

Rory Macbeth (GB) & Laure Prouvost (FR)

Die Verwan dlungen der Verwan dlung

Per Olaf Schmidt (DE)

Die beiden entscheidenden Nenner in Rory Macbeths Œuvre sind, wie er selbst sagt, »der ständige Kampf zwischen dem Idealen und Realen« sowie »die Idee einer Oberfläche, die eine Form von Illusion erzeugt oder selbst verkörpert.« In beiden Fällen bezieht sich sein Einsatz von unorthodoxen künstlerischen Mitteln auf jene westliche Tradition, die stets das Perfekte und die Zeiten Überdauernde anstrebt, und kommentiert die Absurdität eines solchen Anspruchs. Unorthodox ist demnach auch das Vorgehen mit dem sich Rory Macbeth dem Übersetzungshandwerk nähert: Seit über drei Jahren übersetzt er nun schon Franz Kafkas »Die Verwandlung« vom Deutschen ins Englische – allerdings intuitiv, ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein und ohne Wörterbuch oder sonstige Hilfsmittel. Ist ein Satz einmal gesetzt, so die Regel, darf er nicht mehr angerührt werden. Macbeths Version hat daher nur wenig mit der ursprünglichen Erzählung gemein, in der Gregor Samsa eines Morgens als

Per Olaf Schmidts künstlerischer Dilettantismus greift spontane Impulse eines Moments meist unmittelbar für die Umsetzung seiner Arbeit auf. Kontrollierte Improvisation und Zufall, unkaschierte Sollbruchstellen der Bricolage-Ästhetik, synästhetische Schlussfolgerungen und Widersprüche formen vorzugsweise sein Material. Gebrauchsgegenstände reißt er aus ihrem funk­ tionalen Kontext, zerlegt sie in ihre Einzelteile und setzt sie in spielerischer Heimarbeit neu zusammen. Das Ergebnis dieses erfinderischen Prozesses sind vielgestaltige, intermediale Maschinen, die den »Monolith unserer gesellschaftlich genormten Sinneswelt« mit ganz eigenen Setzungen konfrontieren. Alltagsleben und Techno­logie werden in poetisch-humorvolle Installationen verwandelt. In der HALLE 14 stellt der Künstler, Filmemacher und Musiker Schmidt sein jüngstes Experiment »Schmetterling-Effekt Pro­

Bricolage statt Biohacking

Rory Macbeth & Laure Prouvost, The Wanderer (Betty Drunk), 2012, Videostill

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KÜ NSTLER s – t Ländern aufzutauen. In Thompsons Projekt benutzt er sein eigenes Hobby als Mittel der Kunstproduktion und um die Welt des Tischtennis mit jener der Kunst zu verbinden. Mittels offener Workshops und Spielstunden, Besuchen von Gasttrainern und wöchentlichen Turnieren entwickelt er neue Beziehungen mit und zwischen Kunst- und Tischtennisenthusiasten. So organisierte er das ursprüngliche »Ping Pong Diplomacy«-Projekt in Portland mit der ehemaligen Profi-Tischtennisspielerin Judy Hoarfrost, die 1971 als Teil des Tischtennisteams in China war. Nach einem gemeinsamen Spiel kamen Künstler und Ex-Profis ins Gespräch. In der Ausstellung der HALLE 14 steht die Tisch­ tennisplatte allen Besuchern als Mittel der Gemeinschaftsförderung zur Verfügung. www.peterhaakonthompson.com Lebt und arbeitet in Minneapolis (US).

Schmetterling-Effekt Prothese, 2012, Installation

these« (2012) vor. An die Errungenschaften genetischer Züchtungsmethoden anknüpfend, möchte auch er die Vorteile und Stärken einer Spezies nutzen, um die körperlichen Beschränkungen einer anderen zu überwinden. Da die Erkenntnisse in der Mikrobiologie, Genmanipulation und im Biohacking seine »geistigen Kapazitäten überfordern«, greift Schmidt auf Mittel zurück, die er beherrscht: Beobachtung, Bildaufnahmen, reflektive Semiotik, Do-It-Yourself und Basteln. Auf diese Weise kann er dennoch am großen »Projekt Zivilisation« teilhaben und seinen Beitrag zum kulturellen Fortschritt leisten. Für das fantastische Konstrukt, das unterschiedlichen Anwendern gegenüber offen zu sein scheint, stellte er mithilfe von Videotutorials unter anderem sein eigenes Plastik her. Eine freischwingende Kamera filmt den Flügel eines präparierten Schmetterling. Durch Erschütterungen im Raum schwingt die Kamera und damit das Bild, dass zunächst auf einen Fernsehapparat übertragen wird, von dessen Mattscheibe aus ein Sensor das schwankende Helldunkel an eine flackernde LED überträgt. Diese digitalen Bildvorgaben stimulieren die Bewegungen der langen weißen Flügel der Prothese und hauchen dieser Erfindung Leben ein. Schwingt die Kamera, schwingt auch der Ersatzfalter. Doch nicht leichtfüßig schwebend, sondern behäbig und schwer. Die Übertragung der Kraft scheint dem Flügelschlag die Leichtigkeit zu nehmen. www.perolafschmidt.info 1980 in Gifhorn geboren, lebt und arbeitet in Gifhorn und Berlin (DE).

Ping Pong Diplomacy, 2012, Partizipatorischer Raum für Tischtennis und künstlerischen sowie sportlichen Austausch

Thomas Tudoux (FR)

effektivit ä tstheorie

Mit der Überbewertung von Arbeit, Fortschritt, Vollautomatisierung und Nützlichkeit sind wir zu Sklaven der Hyperaktivität geworden. Jedermann ist freiwillig »super busy« oder will zumindest keine Zeit verschwenden. In seinen doppeldeutigen Arbeiten verleiht Thomas Tudoux diesem Wahnsinn Ausdruck. Schwankend zwischen Faszination und Kritik hat er es auf die Erforschung der alltäglichen Ekstasen und den Rhythmus des genormten Lebens abgesehen. In Form von Zeichnungen, Videos oder Multimedia-Installationen versucht er, den Einfluss gesellschaftlich vermittelter Wertmaßstäbe zu stören. Für Tudoux gerät der Dilettantismus zum Widerstandsakt, wenn er vor allem durch die Aussicht auf Genuss motiviert ist und um der Sache selbst willen betrieben wird. So stellt er das Effizienz-, Profitabilitätsund Nützlichkeitsdenken grundlegend in Frage, das kaum mehr Improvisation, Ziellosigkeit oder Faulheit zu erlauben scheint – nicht mal im Urlaub. In diesem Sinne entwirft »DE EFFICACITATIS VICTORIA« (dt.: »Der Triumph der Effizienz«, 2012) eine Welt, in der das Dilettantische absolut verboten wäre. Tudoux hat für seine »Lehrstunden des alltäglichen Lebens« Zeichnungen von Maarten van Heemskerck (1498—1576) aktualisiert und nach gegenwärtigen ästhetischen Maßstäben karikiert. Weit entfernt von der humanistischen Kultur, die das Motiv der Zeichnung – nur scheinbar eine alte Druckgrafik – inspirierte, leitet sich die Allegorie aus der Werbung für den bekannten Energy Drink »Red Bull« ab, der Leistungsstärke in jeder Lebenslage als oberstes Gebot anpreist. In der triumphalen Prozession begleiten sechs Archetypen des zeitgenössischen Menschen die geflügelten Bullen, Tag und Nacht. Sie ziehen den Wagen der Zeit, getragen von den Flügeln der Effizienz, die auf einer Weltkugel das Geschehen antreiben. Die Werbefiguren – der Sportler, der Orgiast (»zügelloser Schwärmer«), der junge Mann, der Arbeiter, der Fahrer, die Frau und die Effizienz – lehnen sich an Superhelden verschiedener Comics an und wurden vor eine Landschaft mit mehreren Monumenten gesetzt, die symbolisch für die Ideologie des sinnentleerten Wettbewerbs, der Arbeit, der Zeitökonomie und des Erfolgs

Peter Haakon Thompson (US)

Spiel , Satz , Sieg für die Diplomatie Peter Haakon Thompson beginnt seine Projekte nicht selten, indem er versucht, sich eine Frage aus seinem eigenen Leben zu beantworten: Warum kann er nichts auf Somalisch sagen, obwohl Minneapolis doch eine ganz ansehnliche somalische Gemeinde hat? Wie würde ein Haus zum Eisfischen auf einem gefrorenen See funktionieren, wenn sein primärer Zweck ein künstlerischer wäre? Diese Fragen zeugen von einer Neugier über die Welt, einem Interesse an den Menschen und Thompsons persönlichem Hinterfragen seiner Beziehung zu beiden. Projekte wie »Lehre mich deine Sprache« leben von der gemeinsamen Nutzung ganz alltäglicher Fähigkeiten und Hobbys als eine Form von Erkundung. Thompson nutzt in seinen künstlerischen Ansätzen seine für den mittleren Westen nicht unübliche Naivität und den aufrichtigen Optimismus eines Anfängers. Er stellt Schilder, Zelte, Schlitten und als Eisbrecher dienende Hütten her, die dem Zusammenspiel und Dialog förderlich sind. »Ein großer Teil meiner Arbeit basiert darauf, Tools und Geräte herzustellen, die es mir ermöglichen, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die ich normalerweise nicht treffen würde«, sagt Thompson. »Ich bin immer wieder fasziniert von Wissen, das nicht als ausgesprochenes Fachgebiet einer Person angesehen wird.« Zu »Ping Pong Diplomacy« (2012) wurde Thompson vom ebenso betitelten Trip des US-amerikanischen Tischtennisteams 1971 durch China inspiriert. Die Profiathleten agierten als Amateur­ diplomaten und halfen, die Beziehungen zwischen beiden

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KÜ NSTLER T – U stehen. Die lateinische Signetschrift der Zeichnung verheißt: »Der Triumph der Effizienz. Ich bin die Effizienz, welche die Menschheit zu Beschleunigung und Fortschritt drängt. Zwei mächtige rote Bullen ziehen meinen Wagen höher und stärker herauf, bis an unerreichte Grenzen. Ich verleihe Flügel, um das Leben im Fluge zu durchqueren und schnell Erfolg und Reichtum zu erlangen.« Auch Tudouxs interaktive Videoinstallation »Streets of rage« (2010—12) erzählt vom Zwang zur Effizienz. Den kurzen Videoclip hat Tudoux an einer Ampelanlage in Quebec (Kanada) auf­ genommen und mit der Musik des Videospielklassikers »Sonic. The Hedgehog« unterlegt, dessen Hauptfigur als ein Held der Geschwindigkeit gelten kann. Der Clip wird erst gestartet, wenn der Besucher durch Passieren einer Lichtschranke Teil des Geschehens wird. Diese scheinbar einfache Kombination bewirkt eine komplexe Verschränkung von Alltag und Videospiel. Das ungeduldige Abwarten an der Ampel mutiert zum Spiel mit Geschwindigkeit und der Besucher befindet sich inmitten einer Situation, aus der es kein Entrinnen gibt. Die Maschine hat die Kontrolle übernommen. Die Musik steigert das Gefühl von Stress, der Countdown generiert noch mehr Stress. Es bleibt unklar, ob wir am Ende gewinnen oder verlieren, die genormte Zeit läuft einfach ab. Der Titel, ebenfalls eine Anspielung auf ein Videospiel, zeigt die Doppelbödigkeit der Arbeit. www.thomas.tudoux.free.fr 1985 in Rennes (FR) geboren, wo er heute lebt und arbeitet.

Karaoke-Performance des ABBA-Songs »Money Money Money«, aufgeführt von Freiwilligen, die Angestellte der Lithuanian Savings Bank spielen, 2009, Videostill

baltischen Staaten von 1987 bis 1991 nannte man die »Singende Revolution«, weil ihre Anhänger mittels öffentlichen, kollektiven Singens von verbotenen Nationalhymnen und Volksliedern gegen die sowjetischen Machthaber demonstrierten. Diese Revolution brachte Litauen postkolonialen Kapitalismus als paradoxe Konsequenz politischer Freiheitsstrebens. Der Kapitalismus, der den Sozialismus ersetzte, bedeutet wilde Privatisierung und entsprechende Unterdrückung. Doch »Großvaters Marxismus« war in Litauen schnell vergessen und der Kapitalismus wird aufgrund seiner verführerischen, mondänen Markt-Wohlfahrt positiv wahrgenommen: Kaugummi, Bananen, Jeans, Sex, Geld und … ABBA. Selbst wenn man nicht den Songtext verstehen sollte, haben diese Rhythmen und Melodien der »neuen Utopien« die Körper der Menschen durchdrungen. Im Rahmen eines »Active and Funny«-Trips zur Documenta 12 im Jahre 2007 nahmen Nomeda und Gediminas Urbonas eines der zentralen Motive der Ausstellung – Bildung – und die damit verbundene Einladung zum Mitmachen ernst und luden Lehrer und Studenten der Trondheim Art Academy (KIT) zu einem Zeichenkurs vor Ort ein. Thema und Modell der KIT-Gruppe war die Giraffe von Peter Friedl (»The Zoo Story«). Das ausgestopfte Tier hatte halbgeschlossene Augen, ein verbrauchtes Fell und schien von einem Amateur-Präparator gefüllt worden zu sein. Angeblich ist sie im einzigen palästinensischen Zoo tot umgefallen, als die israelische Armee ein Versteck der Hamas angriff. Friedl behauptete, die Giraffe sei eine migrierende Form – ein anderes Motiv der Schau – und vermittle eine größere Wahrhaftigkeit als die Flut der Bilder, welche die Medien aus dem Kriegsgebiet senden. Außerdem sollte das Werk offen für weitere Geschichten sein, die ganz eigene Bedeutungen entfalten. Jene politisch-ästhetische Dimension war es, auf die man mit der pädagogisch motivierten Intervention eingehen wollte, nicht zuletzt mit Blick auf die institutionellen Gegebenheiten. Doch in Kassel war man nicht so begeistert von der Aktion wie erwartet und verwies die Zeichengruppe mehrmals des Hauses. »The Liquid Archive« (2012) ist eine Maschine, die mit Archiv­ methoden experimentiert und Entwürfen des »Charles River Projects« von 1972 vorführt. Der Leiter dieses Projektes György Kepes (1906—2001) am Center for Advanced Visual Studies (CAVS) des Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo Gediminas Urbonas derzeit lehrt, hatte die einflussreiche Idee, ein Wasseraufbereitungssystem künstlerisch sichtbar zu machen, anstatt es wie üblich zu kaschieren. Obwohl das Projekt nie umgesetzt wurde, gilt es als Ursprung vieler wichtiger Ideen der Enviromental Art. Die Installation lässt den Betrachter körperlich in eine Nebelwolke und damit auch konzeptuell ins »River Project« eintauchen. Auf die Wolke wird eine Zusammenstellung von Recherchematerial projiziert. Sie ist ein Sinnbild für die Idee, dass man vom Menschen veränderte und soziale Umwelten als »erweiterten Körper« verstehen kann. www.nugu.lt Gediminas Urbonas ist 1966 in Vilnius (LT) und Nomeda Urbonas ist 1968 in Kaunas (LT) geboren. Sie leben und arbeiten in Cambridge (US) and Vilnius (LT).

DE EFFICACITATIS VICTORIA, 2012, Bleistift auf Papier

Nomeda & Gediminas Urbonas (LT)

hausbesetzung in der documentahalle

Nomeda und Gediminas Urbonas erforschen mit interaktiven und interdisziplinären Methoden die Konflikte, Widersprüche und Brüche, die durch die ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen in den ehemaligen Sowjet-Republiken entstanden sind. Dabei entwickeln sie künstlerische Praktiken, die darauf zielen, organisatorische Strukturen zu entwerfen und die Frage nach Freiheit neu stellen. Sie nutzen die Kunst, um öffentliche Räume für Interaktion und Engagement zu öffnen, lokale Gemeinschaften zu ermuntern und deren kulturelle und politische Imaginationskraft zu wecken. Die Zusammenarbeit mit sehr unterschiedlichen Gruppen ist bei vielen Arbeiten des Künstlerpaars zentrales Element. Sie umfassen daher häufig kollektive Aktivitäten wie Workshops, Vorträge, Diskussionsrunden, Fernsehprogramme, Chatrooms und öffentlichen Protest. Ihre prozessorientierten Arbeiten entstehen dabei an den Schnittstellen zwischen Kunst, Technologie und sozialer Kritik, wobei die Urbonas Experten verschiedener Disziplinen genauso wie Laien einbeziehen, um sich ihrem Forschungsgegenstand zu widmen. In einer Karaoke-Performance singen als Mitarbeiter der Lithunian Savings Bank (LTB) verkleidete Freiwillige den ABBASongs »Money, Money, Money«. Diese Performance fand am Tag vor der Privatisierung dieser letzten staatlichen Bank Litauens statt. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich ein breites Assoziationsfeld: Das nationale Streben nach Unabhängigkeit der

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Studio14 Kingdom Paradise 2012 Christian Gottlieb Pribers visionär-utopische Energien und kompromisslose Bereitschaft zur Grenzüberschreitung machen ihn zum historischen Fixstern der Ausstellung »Mit krimineller Energie«. Seine Flucht in die neue Welt und sein neun Jahre umfassendes Abenteuer als »Adoptivsohn und Premierminister« der Cherokee und Planer seiner utopischen Republik »Kingdom Paradise« verkörpern vieles von der innovativen Kraft, die man sich von der Kunst erhoffen mag. Um nicht lediglich in die Vergangenheit zu blicken, sondern auch neue Taten zu ermöglichen, hat die HALLE 14 im Mai 2012 im Rahmen dieser Ausstellung das Christian-Gottlieb-Priber-Reisesti­ pen­dium von insgesamt 5.000 Euro ausgeschrieben. Künstler weltweit waren eingeladen, sich bis zum 22. Juni 2012 mit einer Projektidee zu bewerben, wie sie auf einer Reise den Spuren des sächsischen Frühaufklärers auf seinen Lebensstationen Zittau (Deutschland), London (Großbritannien), Charleston, dem ehemaligen CherokeeGebiet in Tennessee sowie Fort Frederica auf der Insel St. Simons (heutige USA) folgen würden. Der »Open Call« wurde weltweit an circa 500 Kunstexperten mit der Bitte versandt, ihn an infrage kommende Künstler weiterzuleiten. 38 Bewerbungen aus 19 Ländern trafen bis zum Fristende ein. Eine Kunstfachjury, der die Künstlerin Antje Schiffers (Berlin, DE), die Autorin des Buches »Pribers Paradies« Ursula Naumann (Baiersdorf, DE) und der Kurator der Ausstellung Frank Motz (Weimar, DE) angehörten, bestimmte am 1. Juli 2012 ihren Favo­riten: ein US-amerikanisches Duo aus der Historikerin Emily Bryant und dem Künstler Michael Townsend aus Providence, Rhode Island. Ihr Ziel ist es, eine neue Version von »Kingdom Paradise«, Pribers verlorenem Manuskript, in dem er seine Vision einer gerechten Gesellschaft darlegte, zu schreiben. Sie wollen den Inhalt der verschollenen Utopie in Äußerungen der Menschen wieder finden, die sich im Moment an den Orten aufhalten, die Priber während seiner Suche nach dem Paradies besuchte. Im August 2012 begaben sich Bryant und Townsend auf Spurensuche im sächsischen Zittau sowie in Görlitz und Bautzen. Das Ergebnis dieser Recherche ist das Wandbild »Captured in Paradise« aus Spezialklebeband, das als »Tape Art« Teil der zweiten Station der Ausstellung »Mit krimineller Energie« (25. August — 18. November 2012) in der ACC Galerie Weimar ist. Derzeit reist das Duo durch die Südstaaten der USA, es recherchiert in zahlreichen lokalen Museen und begibt sich auf Jahrtausende alte Pfade der Cherokee.

Emily Bryant auf den letzten Meilen des Unicoi Turnpike. Es besteht kein Zweifel, dass Priber hier entlang kam.

Emily Bryant und Michael Townsend, Captured in Paradise, Tape-Art-Wandbild, ACC Galerie Weimar, 2012 (Detail)

Aus Tennessee berichten sie: »Flaches Land erstreckt sich im Überfluss vor einer Bergkette in naher Ferne. Die TellicoEbene, die Bühne für Pribers Paradies, mutet an wie das Zentrum der Erde. Dieses von Gletschern eingeebnete Land gibt dir das Gefühl, ange­ kommen zu sein. Kein Zweifel, dass sich ein Deutscher weit entfernt von seinem Geburtsort hier unmittelbar zu Hause fühlt. Wir schlafen in einer Hütte auf der Ebene und verbringen die Tage damit, Pribers Fuß­stapfen zu verfolgen. Die letzten, verbliebenen Meilen des sich schlängelnden Unicoi Turnpike, der Pribers Weg ge­ wesen sein muss, sind vom Wald verschlungen. Der uralte Weg, der womöglich die CherokeeNation mit Charlestown, North Carolina, verband, ist heute ein Mosaik aus befestigten Straßen. Straßen, die über 10.000 Jahre von amerikanischen Ureinwohnern bevölkert wurden, bevor sie ihnen den Untergang brachten, angefangen beim Konquista­doren De Soto und endend in den tragischen Abkommen derer, die das Land kontrollieren wollten. In der Stadt auf der TellicoEbene werden wir einen Ort finden, um die Geschichte von Pribers Reise und seinen Beziehungen zu bemerkenswerten Menschen, die ihm halfen, seine Träume vom Kingdom Paradise wahr werden zu lassen, mit anderen zu teilen.« Um Ideen der Menschen zu Utopien zu sammeln, nutzen Bryant und Townsend eine Vielfalt an Methoden. Sie errichten »Paradieszonen« auf öffentlichen Plätzen, schaffen kollektive PriberErinnerungswand­bilder aus Spezialklebeband und halten informelle Bildungs­ r unden über Pribers Leben ab. Die Dokumente dieser Aktionen bilden die Grundlage für eine Fortsetzungsver­ sion von »Kingdom Paradise«. Das Endergebnis wird digital im Internet für alle zugänglich veröffentlicht und in Leipzig und Weimar präsentiert. Übrigens haben beide Stipendiaten bereits vor ihrer Christian-Gottlieb-Priber-Reise in den Südstaaten gelebt und gearbeitet. Aus dieser Erfahrung heraus erscheint ihnen die Idee, eine Utopie in Alabama zu etablieren, undenkbar. »Alabama ist heute eine statistische Dystopie«, schreibt Emily Bryant. Das Bildungsniveau ist eines der niedrigsten in den Staaten. Hohe Kindersterblichkeit und Fettleibigkeit der Einwohner prägen einen der ärmsten Bundesstaaten der USA. Doch

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Bryant zeigt sich fasziniert von Pribers schrankenlosem Optimismus und unwahrscheinlichem Aktionsdrang. Sie sieht in seiner Reise »unglaubliche Mög­lichkeiten, etwas über unsere eigenen Hoffnungen und Träume zu lernen«. Michael Townsend ist immer wieder fasziniert von historischen Figuren, die im Alleingang durch Handlungen, die als verboten oder irrsinnig erachtet wurden, ihre moralistischen Visionen verfolgt haben, um eine eigene Gesellschaft zu begründen. Er selbst hatte mit seiner Gruppe Trummerkind vor Jahren versucht, ein »Paradies« im Herzen eines kommerziellen Sehnsuchtsraums, einer Shopping Mall, zu schaffen. Wie bei Priber endete auch dieses soziale Experiment in Haft (siehe Beitrag in dieser Zeitung zu Trummerkind). Bryant und Townsend haben bereits in dem Projekt »375 Jahre Roger Williams« im Rahmen der 375-Jahrfeier ihrer Heimatstadt Providence zusammengearbeitet. In dem »utopischen Rebellen« Roger Williams hätte Christian Gottlieb Priber wohl einen wahren Freund gefunden. Bereits 100 Jahre vor Priber siedelte Williams harmonisch unter den Narrangansett-Indianern auf Rhode Island, wo er bald die Stadt Providence unter den Prinzipien der religiösen Freiheit und universellen Toleranz gründete. Dieser radikale Denker ist der Architekt der ersten Verbesserungs­ bestrebungen in den Vereinigten Staaten und die Auswirkungen seiner standhaften Vision sind bis heute weltweit spürbar. Anders als bei Priber sind Williams Gedanken, Bemühungen und Folgen gut dokumentiert. Welche Spuren Bryant und Townsend von Pribers Träumen auf ihrer Reise zusammentragen, wird sich zeigen, wenn das »Kingdom Paradise 2012« vollendet ist.


ga s tau s s t e l lu n g e n 2 0 1 2 Do ppelte Ökonomien

Vom Lesen eines Fotoarchivs aus der DDR (1967 — 1990)

Blick in die Ausstellung »Doppelte Ökonomien«, 2012

Wie lässt sich ein Archiv von ca. 19.500 Bildern ausstellen? Wie geht man mit Fotografien eines verschwundenen Landes, einer vergangenen Zeit um? Den Ausgangspunkt des Forschungsund Ausstellungsprojekts »Doppelte Ökono­ mien« bildet das Fotoarchiv des freischaffenden Fotografen Reinhard Mende, der im Auftrag des Warenzeichenverbands der DDR, AKA Electric, die Produktion in Volkseigenen Betrieben (VEB) und die Internationale Leipziger Messe von 1967 bis 1990 dokumentiert hat. Der Unmöglichkeit, einen Archivkorpus räumlich und thematisch auf­ zuführen, stellten die Kuratoren eine kollektive Praxis als Methode der Aktualisierung gegenüber. Künstler, Theoretiker, Wissenschaftler und ehemalige Protagonisten wurden eingeladen, das Archiv zu sichten und zu kommentieren. In zeitgenössischen künstlerischen und räum­ lichen Positionen, historischen Dokumenten, wie Vintage-Prints und Messekatalogen sowie Interviews, wurden die Fotografien Mendes und die daraus resultierenden Fragen u. a. zur Rolle des DDR-Designs, des Archivs, der sozialistischen und kapitalistischen Bildproduktion oder die Beziehungen der DDR zum ehemaligen sozialisti­ schen wie nicht-sozialistischem Wirtschaftsgebiet

behandelt. Jeder dieser Blicke auf die Fotografien Mendes aktiviert eine neue und einzigartige Gegenwart des Bildes und ermöglicht eine vielstimmige Aufführung des Archivs. Zu dem Konzept der Aus­stellung, die in der dritten Etage der Halle 14 gezeigt wurde, gehörte es, mit dem offenen Raum von ca. 2.000 m² und den bereits existierenden Hängungsflächen zu arbeiten. Von dem Berliner Architektenbüro Kuehn Malvezzi entworfen, orientierte sich das Ausstellungs­ display an den vier konzeptuellen Ebenen der Ausstellung Archiv, Künstler, Kontext und Interviews mit dem Ziel, ein Beziehungs­ geflecht zwischen den Archivfotografien, der Kunst und den ausge­stellten Objekten herzu­stellen. Insbesondere durch den konkreten Bezug des Archivs zu Leipzig öffnete die Ausstellung einen Raum, in welchem persönliches Erinnern und lokales Leben mit internationaler Kunst aktiv in Ver­ bindung stand. Diese beson­dere Konstellation wird einzigartig im Vergleich mit den weiteren Stationen in der Schweiz bleiben. Zum Projekt erscheint ein Buch bei spector books. Eine Webseite wird den bereits bearbeiteten Bildteil des Archivs online stellen.

Mitwirkende: Reinhard Mende, 1930—2012, Fotograf (DE); Bettina Allamoda, *1964, Künst­ lerin (DE); Addis Belete, *1976, Fotograf (ET); Peter Herbert Beyer, *1933, Designer (DE); Fabian Bechtle, *1980, Künstler (DE); Hans-Otto Bräutigam, *1931, Diplomat (DE); KP Brehmer, 1938—1997, Künstler (DE); Haile Gabriel Dagne, *1941, Erziehungswissenschaftler (ET); Paola de Martin, *1965, Designhistorikerin (CH); Harun Farocki, *1944, Künstler (DE); Mark Fisher, *1968, Theoretiker (GB); Laure Giletti, *1986, Grafik­ designerin (FR); Otolith Group, Kodwo Eshun, Theoretiker, *1967 und Anjalika Sagar, *1968, Künstlerin (GB); Sven Johne, *1976, Künstler (DE); Matthias Judt, *1962, Wirtschaftshistoriker (DE); Kiluanji Kia Henda, *1978, Künstler (AO); Helgard Hirschfeld, *1949, Archivarin (DE); Valeria Malito, *1984, Designstudentin (IT) und Katja Saar,  *1984, Designstudentin (DE); Kuehn Malvezzi, Archi­tek­ ten (DE, IT); Katrin Mayer, *1974, Künstlerin (DE); Allan Sekula, *1951, Künstler/Theoretiker (US) und Noël Burch, *1932, Kritiker/Filme­ macher (US); Kerstin Stakemeier, *1975, Kunsthistorikerin (DE); Philip Ursprung,  *1963, Kunsthistoriker (CH); Thomas Weski, *1953, Kurator (DE); Malte Wandel, *1982, Künstler (DE); Christopher Williams, *1956, Künstler (US, DE) Kuratoren: Armin Linke, Doreen Mende und Estelle Blaschke (Gruppe PRODUZIEREN) Zeitraum: 6. Mai — 1. Juli 2012 www.doubleboundeconomies.net Stimmen zur Ausstellung: »Auf jeden Fall möchte ich nochmal betonen, wie intelligent und komplex die Ausstellung Doppelte Ökonomien in Leipzig gelungen ist. Was durch das Projekt diskutiert wird, ist ein wich­tiger Beitrag zum Verständnis deutscher und europäischer Ver­hält­nisse des Kalten Krieges. Und das eben nicht nur aus der Sieger­perspek­tive.«, Jörg Bader, Direktor des Centre de la photographie, Genf »Euch gelang mit der Ausstellung ein Blick auf die ökonomische Situation, der so noch nicht gewagt wurde. Er kommt ohne die übliche Agitation und Propaganda aus, zeigt aber klare inhaltlich Linien. Deshalb fand ich die Ausstellung wirklich gut.«, Ute Richter, Künstlerin, Leipzig

JACK IN THE BOX So lange es das Porträt in der Kunst gibt, ist der Künstler oft selbst sein bestes Modell gewesen. Seit jeher zeugt das künstlerische Selbstbild sowohl von der Darstellung als auch von der Reflexion der eigenen Person und Rolle in der Gesellschaft. In dieser visuell geprägten Welt muss sich das Selbst schließlich ständig mit Zuschreibungen und Vor-Bildern auseinandersetzen. Wir scannen und bewerten unser Gegenüber in der Regel in nur wenigen Sekunden; Aussehen, Erscheinung, Gestik, Haltung … Aha! Wenn nun aber die Exposition des Körpers und der Einsatz des Ichs auf ungewohnte Weise vollzogen, bewusst in unge­lenke Bahnen gerückt, überzeichnet oder umkonstruiert wird, können Freiräume für die Wahrnehmung und Neubewertung entstehen. Videoperformances, Installationen, Objekte, Grafiken und Fotografien eröffneten ein breites Spektrum der Selbstinszenierung, das die Künstler mal beispielhaft, mal aufopferungs­bereit, mal selbstverliebt, mal reinszeniert – immer aber als Protagonisten ihrer künstlerischen Intentionen zeigte. Das Motiv des Clowns, das mit dem Ausstellungstitel eingeführt wird, verbildlicht darüber hinaus die ambivalente gesellschaft­liche Funktion des

zu schaffen, gab zunächst den Anstoß für dieses Projekt. Mit der Entdeckung, dass die eigene Person in allen sieben künstlerischen Strategien eine zentrale Rolle spielt, reifte auch das inhaltlich spannende Thema. Immer wieder in verschiedene Rollen zu schlüpfen, hat sich schließlich auch in allen Phasen der Planung der Ausstellung »JACK IN THE BOX« als wichtiges Element herausgestellt. Cindy Cordt, Stefan Hurtig, Nadine Neuhäuser, Frenzy Höhne, Carolin Weinert, Diego Vivanco, Michael Petri (v.l.n.r.)

Künstlers in der heutigen Zeit. Er ist in der privilegierten Lage, in unzählige Rollen zu schlüpfen; er schafft sich eine Bühne zur selbstreflexiven Nutzung ebenso, wie er das Alltägliche in absurdes Theater verwandeln kann. Als Meisterschüler der Klasse für Intermedia von Alba D’Urbano an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig befinden wir uns in einem Übergang vom behüteten Studium an der Akademie auf die Bühne der internationalen Kunstwelt – erklärtes Ziel und große Herausforderung zugleich. Präsenz und Wahrnehmung für unsere Arbeit in einem Rahmen außerhalb der Institution

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Künstler: Cindy Cordt, Frenzy Höhne, Stefan Hurtig, Nadine Neuhäuser, Michael Petri, Diego Vivanco, Carolin Weinert Zeitraum: 28. April — 27. Mai 2012 www.facebook.com/jackintheboxausstellung Zur Ausstellung ist ein Katalog (72 Seiten) im Selbstverlag erschienen. Er kann über die Künstler der Ausstellung bezogen werden.


ga s tau s s t e l lu n g e n 2 0 1 2 DLF 1 874 – Die Biog rafie der Bi lder

Eine Inventur der Voraussetzungen Eine Ausstellung aus der österreichischen Fotosammlung und der HGB Leipzig, initiiert von Gudrun Schreiber (Wien) und Günther Selichar, Klassen für Media Research, HGB Leipzig.

Blick in die Ausstellung »DLF 1874 – Die Biografie der Bilder«, 2012

»I will not make any more boring Art« war bei der letzten Biennale auf den Dächern Venedigs zu lesen und hat alle zum Schmunzeln gebracht, die wieder einmal zu dieser meinungsbildenden Show mit dem Wissen über die zweifelhafte Verherrlichung von Kunst bei einem solchen Großereignis gepilgert waren. Was John Baldessari mit dieser und anderen Bemerkungen über Kunst in den ausgehenden 1960er und 1970er Jahren angezettelt hat, war eine Befragung ganz grundsätzlicher Bedingungen von Kunst und künstlerischer Produktion. Unter welchen ökonomischen und intellektuellen Voraussetzungen kann Kunst entstehen, welchen Anforderungen unterliegt sie, wie wird sie rezipiert und reüssiert am Markt? Damit verknüpft ist die Frage nach dem Tun, nach den Einflüssen, Schaffenskrisen und dem Aufraffen. Hanna Karnapke von der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) hat ergänzt: »Wir machen keine langweilige Kunst mehr! Sondern Kunst aus Langeweile!« Fast 50 Jahre nach den frühen selbstreflexiven Formulierungen sind der kritische Zugang und das Befragen der eigenen Arbeit ein etabliertes Thema, das mit großer Beständigkeit wiederkehrt.

WIN/ WIN 2012

Auch in dem mehrteiligen Projekt »DLF 1874 – Die Biografie der Bilder. Eine Inventur der Voraussetzungen«, die diesen Herbst in der HALLE 14 zu Gast war, ist die Frage nach dem eigenen Tun und den Entstehungsbedingungen der Bilder zentral gewesen: Zur Hälfte aus der österreichischen Fotosammlung bestückt, die seit 1981 mit rund 8.500 Werken zu den größten nationalen Sammlungen für Fotografie zählt, und zur anderen Hälfte – auf Einladung von Prof. Günther Selichar – von neuen, zum Thema entwickelten Arbeiten von Studierenden und Lehrenden der HGB getragen, entstand eine sehr eloquente Ausstellung, die die enge Bindung eines Wer­kes an seinen Autor und die Umstände, unter welchen Bilder entstehen, abbildete: von den Entscheidungen, möglichen Ressourcen und Quellen, den medialen Werkzeugen bis zu den ökonomischen und persön­lichen Voraussetzungen. Notizen, Ideen, Vor­haben, ein Anlass… Kein Foto entwickelt, aber die Sounds der Dunkelkammer aufgezeichnet, kein Foto gekauft, aber Keywords der Bild­agenturen gesammelt, ein Gemälde in China beauftragt, aber nicht bekommen.

Künstler: Annegang, Fine Bieler, Lena Brüggemann, Christoph David, Werner Feiersinger, Silke Fischer-Imsieke, Susanna Flock, Alba Frenzel, Marie Gimpel, Marco Habeck, Ulrike Hannemann, Martin Höfer, Michael Höpfner, Rainer Iglar, Susanne Käßner, Krüger & Pardeller, Marta Kryszkiewicz, Philipp Kurzhals, Tatiana Lecomte, Mahony, Dorit Margreiter, Christian Mayer, Susanne Miggitsch, Nils Mollenhauer, Gregor Neuerer, Martin Reich, Tina Ribarits, Anne Rombach, Gabriele Rothemann, Constanze Ruhm, Lorenz Schreiner, Stefanie Schroeder, Sandra Schubert, Günther & Loredana Selichar, Elfie Semotan, Heidi Specker, Margherita Spiluttini, Wenzel Stählin, Michael Strasser, Sofie Thorsen, Hayahisa Tomyasu, Monique Ulrich, Hannes Waldschütz, Manuel Washausen, Jonas Wilisch, Katrin Winkler, Anita Witek, Lisa Zwielich Kuratorin: Ruth Horak Zeitraum: 15. September — 21. Oktober 2012 Nachzulesen sind alle 48 Beiträge in einer dreiteiligen Publikation, erschienen im Verlag Fotohof: »DLF 1874 – Die Biografie der Bilder. Eine Inventur der Voraussetzungen«, Hg. bmukk, 156 Seiten, dt./engl., Fotohof Edition, ISBN: 978-3-902675-69-9, € 19,—

Die Ankäufe der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen

Seit 2005 unterstützt die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen durch Förderankäufe junge Künstler mit Schaffensmittelpunkt oder Wohnsitz in Sachsen. Ziel ist die öffentliche Anerkennung und finanzielle Unterstützung der Künstler. Dafür stehen der Kulturstiftung jährlich ca. 140.000 Euro zur Verfügung. Über die Auswahl entscheidet ein unabhängiger Beirat aus fünf Kunstexperten. Die Ankaufsentscheidung fällt der Fachbeirat vor den originalen Kunstwerken. 2012 wurden 33 Werke von 26 Künstlern angekauft. Neben der direkten Förderung der Produzenten ist es ein weiteres Ziel der Kulturstiftung, die Werke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bereits zum zweiten Mal wurden daher auf Initiative der Kulturstiftung alle angekauften Kunstwerke kurze Zeit nach der Juryentscheidung in der Ausstellung »WIN/WIN 2012« in der HALLE 14 vorgestellt. Alle angekauften Werke gingen nach Beendigung der Ausstellung an die Sammlung des Kunstfonds der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, eine der bedeutendsten Sammlungen sächsischer Kunst nach 1945. Sie umfasst mehr als 25.000 Werke aller Disziplinen der bildenden Kunst, darunter Malerei, Skulptur, Grafik, Fotografie, Kunstgewerbe, Konzept-, Video- und Installationskunst sowie Arbeiten im öffentlichen Raum.

Künstler: Yasmin Alt, Jens Besser, Laura Bielau, Sven Braun, Annedore Dietze, Thomas Flemming, Maike Freess, Jay Gard, Matthias Hamann, Mark Hamilton, Helene Heyder, Sara Hoppe, Kai Hügel, Eduard Klein, Claudia Kleiner, Thomas Moecker, Jana Morgenstern, Bastian

Blick in die Ausstellung »WIN / WIN«, 2012

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Muhr, Juliana Ortiz, Julius Popp, Jens Schubert, André Schulze, Anija Seedler, Markus Uhr, KlausDieter Weber, Jim Whiting Zeitraum: 9.—17. Juni 2012 www.kdfs.de


at e li e r p ro g r a m m e A room that ... »Nur wenn die Zukunft uns intensiver gegen­ wärtig wird, kann es auch in der Zukunft eine Gegenwart geben«, so Roald Muspach, der als Strategieberater den Wandel von Unternehmen mitgestaltet, die lernen müssen, das Heute besser wahrzunehmen, um daraus andere Antworten für das Morgen zu entwickeln. »Diese Fokusfrage, was wir noch wahrnehmen und für uns persönlich entdecken, ist immer an jenen Orten besonders gegeben, wo wir mit fremden Bildern und Formensprachen konfrontiert werden. Dieses zentrale wirtschaftliche und gesellschaftliche Thema wollte ich mit einem gemeinnützigen Förderauftrag verbinden – weibliche Perspektiven junger Gegenwartskunst. Wir haben uns bewusst für die HALLE 14 entschieden, die sich als offener Experimentierraum neuer Formate und Inhalte internationaler Gegenwartskunst etabliert hat.« Da Künstlerinnen trotz Emanzipation und trotz ihrer rein quantitativen Überzahl an den Kunsthochschulen, auf dem Kunstmarkt, in Museen, auf Biennalen und bei Kunstpreisen auch am Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch unterrepräsentiert sind, hat Muspach sich entschlossen, in deren Zukunft zu investieren. Er hat das Atelierprogramm »A room that …« ins Leben gerufen, das genau am neuralgischen Punkt dieser Fehlentwicklung – der Übergangsphase zwischen Kunstakademie und -markt – ansetzt. Im April 2012 hat ArtRoom als Träger von »A room that …« seine gemeinnützige Unternehmer­ gesellschaftstätigkeit aufgenommen. Für das Atelierprogramm sind – auch diese Entscheidung scheint geradezu strategisch – drei der neugeschaffenen Studios in der gemeinnützigen HALLE 14 im kunstgeschäftigen Spinnerei-

biotop reserviert. Zwei der Studios werden für ein Jahr an jeweils eine Künstlerin vergeben, während das dritte als Showroom dient. Hier befindet sich das Haupttätigkeitsfeld des selbsterteilten Förderauftrags. Hier sollen Dialoge mit der zeitgenössischen Kunst initiiert werden, die Betrachter sollen Teilnehmer werden. ArtDialogA lautet eine weitere Wortschöpfung für das Mittendrinsein in einer Zukunft, die mehr Transparenz, mehr Beteiligung, mehr Perspektiven, mehr Selbst­ bestimmung, mehr Ästhetik verspricht. Neben dem Förderauftrag hat sich »A room that …« auch einen Erziehungsauftrag erteilt. Kunstsammler und vor allem diejenigen, die es vielleicht werden mögen, sind ausdrücklich gern gesehene Gäste, genauso wie die Jüngsten unserer Gesellschaft. Ihnen will »A room that …« eine Bühne sein. Zum Frühjahrsrundgang 2012 präsentierte »A room that …« in einer Eröffnungsausstellung die ersten beiden Atelierstipendiatinnen Kathrin Henschler und Laura Eckert, eine Malerin und eine Bildhauerin, die beide an der Burg Giebichenstein in Halle an der Saale studiert haben. Kathrin Henschler wechselte nach einem Jahr Studium am Londoner Camberwell College of Arts nach Leipzig an die Hochschule für Grafik und Buchkunst, wo sie 2009 ihr Diplom mit Auszeichnung erhielt. Laura Eckert diplomierte 2011 an der »Burg« bei Bruno Raetsch. Beide arbeiten für ein Jahr Tür an Tür an neuen Werken. Zu den Spinnerei-Rundgängen und auch zwischendurch werden der aktuelle Stand der Kunstproduktionen in den beiden Stipendiaten­ ateliers, aber auch Kunstwerke von Gastkünstlern im Showroom der Kunstinitiative von »A room that …« präsentiert.

Showroom mit einer Skulptur von Laura Eckert und einem Gemälde von Kathrin Henschler, 2012

A room that … Besucher: Halle 14, Leipziger Baumwoll­ spinnerei, 1. OG, Spinnereistraße 7, 04179 Leipzig Post: ArtRoom gUG, Goethestraße 9, 04109 Leipzig www.artroom-leipzig.de

K.A.I.R. Košice Artist in Residence Die multiethnische 240.000-Einwohnerstadt Košice war schon häufiger Hauptstadt auf Zeit, einst de facto Hauptstadt Oberungarns (17. Jahrhundert), Sitz der Slowakischen Räterepublik (1919) und Übergangshauptstadt der Tschechoslowakei (1945). Die Nähe zu Ungarn, aber auch zur Ukraine und zu Polen, ist bis heute geschichtsund kulturprägend. 2013 wird die ostslowakische Universitätsstadt wieder Hauptstadt – nämlich mit Marseille gemeinsam Kulturhauptstadt Europas – sein. Teil der umfangreichen kulturellen Aktivitäten ist der Aufbau des Künstlerresidenzprogramms K.A.I.R. Seitdem K.A.I.R. mit dem internationalen Projekt »Shaping the NEW« zum Thema Künstlermobilität in Mittel- und Osteuropa seine Tätigkeit aufnahm, schickt es gleichermaßen Künstler aus der Ostslowakei zu Atelieraufenthalten bei Partnerinstitutionen in die Republik Moldau, in die Ukraine, nach Deutschland, Frankreich und ab 2013 nach Japan, wie es internationale Künstler einlädt, nach Košice zu kommen, um dort für drei Monate zu arbeiten und mit lokalen Künstlern zu kooperieren; Atelier, Wohnung, Stipendium und Reisekosten inklusive. HALLE 14 stellt als deutscher Projektpartner ostslowakischen Künstlern ein Atelier zur Verfügung. Bereits zweimal hat K.A.I.R. Stipendien in Leipzig öffentlich ausgeschrieben. Als erste K.A.I.R.Stipendiatin war die Künstlerin Eja Devečková vom 15. September 2011 bis 15. Januar 2012 in Leipzig zu Gast. Devečková setzt sich in ihrer Kunst mit den Spielregeln des Kunstbetriebs, seinen Einschluss- und Ausschlussmechanismen auseinander. 2007 schuf sie zehn neue Gesten für die Gebärdensprache, damit auch Gehörlosen und Taubstummen zentrale Vokabeln wie Videoinstallation, Netzkunst, Multimedia etc. des aktuellen Kunstgeschehens zur

Open Studio von Radovan Čerevka, 2012

Verfügung stehen. Als Diplom präsentierte sie ein Kuratorenkaraoke. Auf einer Bühne konnten die Besucher aus Texten von 24 slowakischen Kuratoren auswählen und sie intonieren. Während ihres Aufenthalts in Leipzig hat sie Künstlern und Kuratoren in Leipzig und Weimar ein Grundvokabular Slowakisch beigebracht, um sich in der slowakischen Kunstszene orientieren und Smalltalks während Galerieeröffnungen bestreiten zu können. Außerdem hat sie Interviews mit ihnen geführt, wie sie sich selbst in Ausstellungen verhalten. Die dabei entstan­ denen Videos präsentierte sie gemeinsam mit anderen älteren Arbeiten bei einem abschließenden Open Studio. Von Mitte Juni bis Mitte September 2012 arbeitete der Künstler Radovan Čerevka in Leipzig. In seinen Arbeiten untersucht Čerevka die Be­ ziehung zwischen der medialen Kriegs- und Katastrophen­berichterstattung und ihren Konsumenten im relativ friedlichen Europa. Eine Reihe von Modellen, Drucken und Installationen, die den Titel »Reutersdrama« (2007—) trägt, hat eine Auswahl von Fotografien und Grafiken der

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Nachrichtenagentur Reuters zur Grundlage. Dreidimensio­ nale Infografiken verschiedener Ereignisse, die Čerevka eine Zeit lang gesammelt hatte, dienten ihm als Vorlagen für 3DModelle von Schmugglertunneln an den Grenzanlagen zum Gazastreifen, von einem Gefecht in Falludscha (Irak, 2004), der Geiselnahme von Beslan (Russland, 2004) usw. Von Leipzig aus begann er in einem neuen Projekt Direktkontakt aufzubauen: Er arbeitet kooperativ mit slowakischen Soldaten, die in Afghanistan stationiert sind, und einem Einwohner Afghanistans zusammen. Materialien werden in das kriegsgebeu­ telte Land geschickt beziehungsweise von dort exportiert. Sie bilden die Grundlage für eine neue Arbeit. Doch Kooperation braucht Zeit. Zum Abschluss seines Aufenthalts präsentierte er neue Arbeiten aus seinen Quellenstudien. Die Video-, Sound- und Performancekünstlerin Zuzana Žabková ist die zweite K.A.I.R.-Stipen­­dia­tin 2012. In Leipzig wird sie ihrem Interesse an lokalen Utopien und romantischen Projektionen folgen und daraus neue Arbeiten entwickeln. Man darf also gespannt sein, wie man auch gespannt sein darf, wie sich diese kulturellen Bestrebungen in Košice zum Kulturhauptstadtjahr entfalten, welche Impulse die K.A.I.R.-Sti­pendiaten in die Slowakei mit- bzw. zurückbringen. Also Košice als Reiseort für 2013 vormerken! K.A.I.R. Košice Artist in Residence c/o Košice 2013 – European Capital of Culture, Kukučínova 2, Košice 04001, Slowakische Republik www.kair.sk


at e li e r p ro g r a m m e One - si ded Story

Das Gemeinschaftatelier von One-sided Story, 2012

Die US-amerikanische Künstlerin Candace Goodrich kam nach ihrem Malereistudium an der New York Academy of Art im September 2010 für vier Monate nach Berlin, um ihre eigenen Kunstwerke auszustellen und ihre Arbeitstechniken weiterzuentwickeln. Von Oktober 2011 bis Januar 2012 war sie Gastkünstlerin des Leipziger Artistin-Residence-Programms PILOTENKUECHE. Nach diesem Aufenthalt entschied sie sich, in Leipzig zu bleiben und ein eigenes Artist-inResidence-Projekt ins Leben zu rufen. Hier fühlt sie sich, ihre Kunst und ihr Residenzprojekt gut aufgehoben, da die Kunstszene eng vernetzt und offen für Neuankömmlinge ist. Gerade die Spinnerei ist für sie eine kleine Stadt, wo Neu­ linge nicht isoliert sind und sofort in Kontakt mit anderen treten können. Außerdem ist sie fasziniert von der künstlerischen Qualität der Leipziger Kunst. Das zeitlich auf anderthalb Jahre begrenzte und themenbasierte Programm heißt »One-sided Story«. Es agiert von einem Gemeinschafts­ atelier im 2. Obergeschoss des Seitentrakts der

HALLE 14 aus. Die Besonderheit des Residenzprogramms ist eine transatlantische Kooperation mit der Alumni-Organisation der New York Academy of Art (NYAA) sowie des kroatischen Künstlerbundes (HDLU) mit Sitz in Zagreb. »Onesided-Story« lädt Absolventen der NYAA und Mitglieder der HDLU, aber auch andere Künstler nach Leipzig ein, um im Gemeinschaftsatelier Kunst zu produzieren, sich auszutauschen und als Gruppe die deutsche und vor allem die Leipziger Kunstszene zu erkunden. Wesentlicher Bestandteil ist dabei der Austausch zwischen westlichen und östlichen Kulturkreisen. Goodrich organisiert verschiedene Aktivitäten vor Ort, durch die ein intensiver Kontakt zwischen den einzelnen Künstlern hergestellt wird. Dazu zählen Atelierbesuche bei Leipziger Künstlern, um deren Arbeitsweisen und Techniken kennen zu lernen, und Besuche von Ausstellungseröffnungen. So fand im Sommer ein gemeinsamer Ausflug zur documenta (13) nach Kassel statt. Goodrich bezieht bewusst Wünsche und Vorstellungen der teilnehmenden Künstler ein. Um die Gastkünstler schnellstmöglich in Leipzig zu integrieren, initiierte Goodrich einen Austausch mit der Initiative für zeitgenössische Stadtentwicklung im Leipziger Westen, die das Gemeinschaftsgartenprojekt »Annalinde« betreibt. So entstehen auch Kontakte zu Personen außerhalb der Baumwollspinnerei und der Leipziger Kunstszene. Parallel sind immer sieben bis acht US-amerikanische und kroatische Künstler für zwei bis fünf Monate gemeinsam vor Ort und arbeiten in ihren unterschiedlichen künstlerischen Medien. »Onesided Story« beschäftigt sich mit der Idee, dass aus einer globalen Sicht zu jeder Geschichte

zwei oder mehr Seiten gehören und wir dennoch oft nur eine von diesen – nämlich die eigene – beachten. Es geht dabei um die Bedeutung der zahlenmäßigen Überlegenheit der Menge gegenüber dem Individuum. Medien, Regierungen, Staaten und Individuen beachten häufig nur die Seite einer Geschichte, die für ihre Absichten am vorteilhaftesten ist, vertreten oft nur diese eine Perspektive und schränken so unseren Blick auf die Welt ein. Dieses Thema kann von den teil­ nehmenden Künstlern frei interpretiert werden. Das Hauptaugenmerk richtet sich darauf, den Kontakt zu neuen Künstlern und Personen herzustellen, Projekte zu organisieren und dadurch ein Künstlernetzwerk zu erschaffen. Besonders wichtig ist dabei das Agieren auf internationalem, lokalem und individuellem Level. Die entstandenen Kunstwerke werden nach Abschluss des Projektes in einer Publikation veröffentlicht. Ausgewählte Werke werden im September 2013 im Rahmen einer großen Abschlussausstellung in Zagreb gezeigt. Goodrich selbst wird auch nach »One-sided Story« in Leipzig bleiben.

vorübergehend Leiter des Programms, bis die US-amerikanische Kunstvermittlerin Fridey Mickel Anfang 2010 den »Steuerknüppel im Cockpit« übernahm. Anfang März 2012 ist die PILOTENKUECHE ins 1. Obergeschoss des Kunstzentrums HALLE 14 umgezogen. Pro Runde, so nennen die »Piloten« die Residenzphase von Bewerbung bis abschließender Gruppenausstellung, werden sechs bis acht nationale und internationale Künstler zu einem drei- bis viermonatigen Aufenthalt eingeladen. Eine Jury, die sich zum Teil aus ehemaligen »Piloten« rekrutiert, wählt die neuen Gastkünstler aus. Die Bewerber werden aus dem international funktionierenden Netzwerk, durch Empfehlungen alter »Piloten«, durch Bekannte und Freunde ausgewählt. Auf einer Fläche von 300 m² teilen sich die Künstler ein Gemeinschaftsatelier und arbeiten individuell an ihren eigenen Projekten im Bereich der bildenden Künste. Sie können selbst entscheiden, wie sie die Zeit, den Raum und die verschiedenen Möglichkeiten auf dem Spinnereigelände nutzen. Das Großraum­ atelier als gemeinschaftlicher Arbeitsplatz ist für die »Piloten« rund um die Uhr geöffnet. Die Räumlichkeiten stehen als Atelier, als diskursive Plattform samt Küche und Sofaecke und als Ausstellungsfläche zur Verfügung. Das Ziel ist eine kollektive organisierte Abschlussausstellung. Bis dahin erfolgt ein intensiver Dialog über individuelle Ideen und Arbeitsweisen. Die Künstler werden hier temporär in eine Gruppe eingebunden, aus der sich ein dauerhaftes Netzwerk entwickeln kann. Die Stärkung eines internationalen Netzwerks zwischen den ehemaligen, aktuellen und zukünftigen Piloten steht im Fokus von Mickels Bemühungen. Aus Anlass des fünfjährigen Bestehens baut das Team ein Archiv mit

Zeitschriftenartikeln, Fotografien und Künstler­ interviews aller bisherigen »Piloten« – es waren unglaubliche 70 in 18 Runden – auf. Mickels Ambition ist es, »ihre Piloten« nach dem Aufenthalt international zu vertreten und zu vermitteln und sie somit in der aktuellen Kunstszene zu etablieren. Viele Ehemalige sind übrigens in Leipzig geblieben, so zum Beispiel Mark Matthes und Candace Goodrich, die beide im Nachgang eigene Austauschprojekte initiiert haben. Wer Interesse hat, den Künstlern beim Arbeiten über die Schultern zu schauen, kann in der PILOTENKUECHE an jedem Samstag vorbeischauen – dann ist offiziell Besuchstag.

One-sided Story c/o Halle 14, Leipziger Baumwollspinnerei, 2. OG, Spinnereistr. 7, 04179 Leipzig www.onesidedstory.com

PI LOTEN KUECHE Mit dem ersten Schritt in die PILOTENKUECHE betritt man eine gemütliche Wohnküche, bestehend aus einer Küchenzeile sowie einem großen Tisch, an dem verschiedene Sitzmöglichkeiten zum Verweilen einladen. Die »Chefpilotin« Fridey Mickel begrüßt die Besucher freundlich. Auch die im dahinter liegenden Gemeinschaftsatelier arbeitenden Künstler von fünf verschiedenen Kontinenten sind Besuchern gegenüber offen. Bei der PILOTENKUECHE handelt es sich um ein künstlerisches und kuratorisches Format zur Förderung der Kunstproduktion und -präsenta­ tion, des Austauschs über Kunst und der Vernetzung der einzelnen Akteure. Die auf Gruppen­ dynamik basierende Künstlerresidenz wurde 2007 vom Wiener Künstler Christoph Mayer als Austauschprojekt zwischen Wien und Leipzig gegründet und befand sich bis Ende 2011 im 2. Stock der Halle 18 auf dem Gelände der Leipziger Baumwollspinnerei. Mayer hat damit ein alter­ natives Produktions- und Vermittlungsformat etabliert, das den Austausch von Künstlern fördert, egal ob diese frisch von der Kunsthochschule kommen, renommiert sind, oder sich schlicht des Wertes von gemeinschaftlichem Arbeiten, Kommunikation und Austausch bewusst sind. Dabei handelt es sich weder um eine Produzentengalerie, die sich im Strudel von Ökonomie, Konkurrenz, Einzelkünstler und Gruppe positionieren muss, noch um eine öffentlich geförderte Stiftung, die institutionelle Kunstförderung betreibt. Die PILOTENKUECHE ist auch keine Kunsthalle, deren Konzept von Kuratoren verantwortet wird. Vielmehr ist sie eine mit geringsten finanziellen Mitteln und großem persönlichen Einsatz informell geführte Struktur zur Förderung von Kunst und Diskurs. Im Jahr 2009 wurde der ehemalige »Pilot« Hendrik Voerkel

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Chefpilotin Fridey Mickel in der »Kueche«, 2012

PILOTENKUECHE c/o Halle 14, Leipziger Baumwollspinnerei, 1. OG, Spinnereistr. 7, 04179 Leipzig www.pilotenkueche.de


Über den Dilettantismus: Festival & Messe Programm Freitag, 9. November 2012 20 Uhr: Der Dilettantismus und die Musik IV Kammermusik mit Werken von Theodor W. Adorno, Arrigo Boito, Emmanuel Chabrier, Charlie Chaplin, Alma Mahler, Friedrich Nietzsche und Eric Satie sowie einer Performance von Rory Macbeth

Sonnaben d, 1 0. November 2012 11 Uhr: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. The Truth(s) about Nietzsche Memorial Hall Künstlergespräch in englischer Sprache mit Adam Knight und Simone Bogner

20 Uhr: Dilettantenstadl. Dilettieren, Dilatieren und Dilektieren Die Show mit Christoph Graebel und Claudius Nießen, einer Jury und dem Dresdner Gnadenchor

Sonntag, 11. November 2012 11 Uhr: Ans Eingemachte! Von Beeren, Birnen und Bohnen Eine Veranstaltung in drei Akten (Akt III – Die Verköstigung), Musikalische Begleitung: ISSDASSJAZZ ! 13 Uhr: Ping Pong Diplomacy. Ein Tischtennisturnier Dilettanten-Tischtennis unter professioneller Anleitung, Training und Turnier mit den »Leutzscher Füchsen«

11 Uhr: Kreative Spinner: Gemeinsam dilettieren Großeltern-Enkel-Vormittag

16 Uhr: Avanti Dilettanti. Der Dilettantismus der Klassiker Ein Vortrag von Jens-Fietje Dwars

12 Uhr: Strom ohne Ende Klangexperiment mit Thomas Becker, Tobias Schillinger, Matthias Uhlig und Vincent Weiß

17 Uhr: The Green Fields Studio  Jamsession für alle, Profis und Dilettanten

14 Uhr: Die Elenden sollen essen Klaviermusik und Künstler­gespräch in englischer Sprache von und mit Rory Machbeth und Kurator Frank Motz

Sonnaben d, 1 0. November, und Sonntag, 1 1. November 2012

16 Uhr: The Toaster Project. Or A Heroic Attempt To Build A Simple Electric Appliance From Scratch Ein Vortrag in englischer Sprache von Thomas Thwaites

ab 11 Uhr: MESSE mit dem »Dilettantin Produktionsbüro«, den »Leutzscher Füchsen«, der OffenSiWe (Leipziger Siebdruckwerkstatt), Strom ohne Ende, Thomas Thwaites und anderen.

Unterstützen Sie uns als Fördermitglied ! Freund der HALLE 14 : 140 Euro  /Jahr Freund der HALLE 14 mit Partner: 140 Euro + 40 Euro /Jahr Ermäßigt: 40 Euro /Jahr

Ebenso freuen wir uns über ihre spende! Kontonummer: 61 23 774 008 / BLZ: 101 201 00 / Weberbank Berlin Weitere Informationen unter +49 341 / 492 42 02 und www.halle 14.org/foerdermitglieder

HALLE 14 wird gefördert durch

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Mit krimineller Energie – Kunst und Verbrechen im 21. Jahrhundert wird gefördert durch

Über den Dilettantismus wird gefördert durch

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