Hausarzt 03/2021

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Österreichische Post AG, MZ16Z040661M, 32. Jahrgang, RMA Gesundheit GmbH, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien

Praxis-Magazin für Primärversorgung mit Sonderteil pharmazeutisch

03/2021

Seltene Erkrankungen in der Praxis

Praxiswissen: Krebs des Mannes Hodenkrebs, Prostata- und Peniskarzinom

Schmerz nach Trauma Der Behandlungsalgorithmus des komplexen regionalen Schmerzsyndroms

ab S. 16


Online Webinar Sa, 24. April 2021 Einladung zur Fortbildungsveranstaltung

in Linz Niedergelassene ÄrztInnen im Dialog mit KlinikerInnen • Kostenlose Teilnahme • Unabhängige Fortbildung

Themen: Fette Beute – Cholesterinsenkung zwischen Guidelines und Praktikabilität Heißes Eisen – Diagnose & Therapie des Eisenmangels in und nach der Schwangerschaft Augen auf – Häufige Augenprobleme in Praxis und Klinik (K)ein Kinderspiel – Watchful waiting versus gefährliche Verläufe in der kinderorthopädischen Betreuung

Podiumsdiskussion: Visionen der (haus-)ärztlichen Versorgung

Anmeldelink: www.minimed.at/dialogtag-linz

Veranstalter:

Rückfragen an office@gesund.at. DFP-Punkte in Planung Änderungen vorbehalten.


Foto: © RMA Gesundheit

Hausarzt extra

Editorial Sapere aude! Wir schreiben das Jahr 1650: Die Aufklärung nimmt ihren Anfang. Die Vernunft gilt als universelle Urteilsinstanz, mit der sich Vertreter derselben von althergebrachten und starren Vorstellungen sowie Ideologien befreien wollen. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“, schreibt Immanuel Kant 1784 in der Berliner Monatsschrift und führt weiter aus: „Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (…) den Schritt zur Mündigkeit außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen.“ Freiheit bedeutet für Kant, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. (…) Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht! Der Offizier sagt: räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsoniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsoniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!).“ Wir schreiben das Jahr 2021: 227 Jahre später haben Kants Schriften wohl nicht an Aktualität verloren und stimmen nachdenklich. Althergebrachte und starre Vorstellungen gewinnen wieder an Land und populistische sowie politische Eskapaden rütteln an den Grundfesten der Demokratie. Dagegen verbreiten sich krude Theorien unter dem Deckmantel der Gegenaufklärung und schmücken sich perfide mit der Krone der Aufklärung. Sapere aude – wage es, weise zu sein! Brauchen wir eine Aufklärung 2.0?

Zuschriften, das Lob und auch die Kritik. Ich hoffe, das HAUSARZT-Team und ich konnten Ihnen in den letzten vier Jahren eine für die Praxis wertvolle und auch unterhaltsame Lektüre bieten. Mit Frau Mag. Karin Martin wird eine versierte Medizinjournalistin das Ruder übernehmen und diese Tradition fortführen. Bleiben Sie gesund – und alles Gute für Ihre Zukunft! Ihr

Emanuel Munkhambwa Redaktionsleiter RMA Gesundheit GmbH emanuel.munkhambwa@gesund.at

Abschied Geschätzte Leserinnen und Leser, die Pandemiezeit hat bei manchem einen Nachdenkprozess ausgelöst – so auch bei mir. Wie ist das bisherige Leben verlaufen? Wie soll es in Zukunft aussehen? Ich habe den Entschluss gefasst, den Verlag RMA Gesundheit GmbH und damit auch das Fachmagazin Hausarzt zu verlassen und künftig in der Kommunikationsabteilung eines Krankenhauses zu arbeiten. Sehr herzlich bedanke ich mich bei Ihnen für die

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Hausarzt inhaltlich

medizinisch

06 Herz und Alkohol – auf die Menge kommt es an Differenzierte Bewertung des Alkohol­ konsums bei kardiologischen Patienten

09 Hoffnung für Patienten mit Vorhofflimmern Aktuelle Studien beleuchten präventive und therapeutische Aspekte

12 Wenn dem Herz die Luft ausgeht Ärzte sehen Anginapectoris-Beschwerden kritischer als Patienten

35 Schmerz nach Trauma Der Behandlungsalgorithmus des komplexen regionalen Schmerzsyndroms

44 DFP: Praxiswissen: Krebs des Mannes Hodenkrebs, Prostataund Peniskarzinom

51 Behutsamer Weg zur Diagnose Demenz Hausärzte können früh Impulse geben und vernetzen

49 CED-Management in Pandemiezeiten Aktualisierte Leitlinie* mit 23 Empfehlungen

53 Asthma oder COPD? Für die Unterscheidung ist ein Broncho­ spasmolysetest ein MUSS

73 Impressum

Rare Diseases

16 Fragiles Lungengerüst erkennen Die unspezifischen Symptome der idiopathischen Lungenfibrose erschweren die Diagnose

18 Ich sehe was, was du nicht siehst … Neue Wege in der Diagnostik am Beispiel der erblichen Netz­ hautdystrophien

22 ATTRv: Vererbte Amyloidablagerungen Rasch progrediente Neuropathie bzw. Herzinsuffizienz als Leitsymptome

25 Schwellungen ohne Allergiebeteiligung Beim hereditären Angioödem zeigen Anti­ histaminika und Co keine Wirkung

extra

14 Wie Mitgefühl, Fürsorge und Berührung unser Herz stärken Die komplementäre Pflegemethode Therapeutische Berührung etabliert sich in Österreich

40 Simulationstrainings für pflegende Angehörige Eine innovative Möglichkeit, Kompetenzen und Sicherheit für die häusliche Pflegesituation aufzubauen*

42 5G: Ärztliche Ab- und Aufklärung Umgang mit Patienten, die sich vor neuen Technologien fürchten

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28 FCS: Triglyzeridspiegel deutlich erhöht Das Familiäre Chylo­ mikronämie-Syndrom (FCS) bedingt eine strenge Ernährungsweise

30 Gestörte Blutgerinnung Menorrhagien können auf ein von-WillebrandSyndrom hinweisen

33 Neurofibromatose Typ 1 erkennen Unter anderem sind Café-au-Lait-Flecken für diese Erkrankung typisch

pharmazeutisch

56 Update Apothekenmarkt Die vergangenen 12 Monate im Überblick

58 Ausblick auf die Entwicklung des Pharmamarktes 2021 Wie die COVID-19-Pandemie die pharmazeutische Landschaft verändern wird

60 COVID-19-assoziierte Diarrhö Pathophysiologische Mechanismen und Therapieoptionen

65 Die Saison der Früh­blüher beginnt Kreuzreaktionen bei Pollenallergien beachten

68 Phytotherapeutika bei unkomplizierter Zystitis Pflanzliche Diuretika und Harnwegsdesinfizientien in der Therapie und Prophylaxe


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Hausarzt medizinisch

Herz und Alkohol – auf die Menge kommt es an Differenzierte Bewertung des Alkohol­konsums bei kardiologischen Patienten KA

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Foto: © shutterstock.com/ 80's Child

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und wenige Jahre später in Bayern das Münchener Bierherz. Die erste Erklärung für die beobachtete Herzschwäche bei Winzern bzw. Bierkutschern war aber nicht der angenommene hohe Flüssigkeitskonsum, der sich nach damaliger Auffassung dann teilweise in den Beinen und der Pleura ansammelte – vielmehr war es wohl die heute gut untersuchte alkoholinduzierte Kardiomyopathie. Ebenso stellt das als „Holiday Heart“ bekannt gewordene Vorhofflimmern nach Alkoholkonsum eine nicht zu unterschätzende Nebenwirkung dar. Es ist mittlerweile für Frauen und Männer nachgewiesen worden – teilweise bei niedrigen Triggermengen von nur ein bis zwei Getränken.

Schädliche versus protektive Effekte

Alkohol ist in Österreich für eine hohe Zahl von Erkrankungen verantwortlich. Diese gehen auf sein Suchtpotential, seine kanzerogene Wirkung und seine bewusstseinstrübenden Eigenschaften zurück. Aus Alkoholmissbrauch resultieren viele psychische Erkrankungen, erhöhte Krebserkrankungsraten und Unfälle. Auf das Herz bezogen, sind die Effekte des Alkohols heterogener und hinsichtlich der koronaren Herzerkrankung wirkt die Substanz in maßvollen Mengen sogar protektiv. Daher scheint es ratsam, den Konsum von Alkohol bei kardiologischen Patienten differenziert zu bewerten.

Von Wein- und Bierherzen … Zweifellos hat Alkohol auch im kardiovaskulären System pathologische Effekte. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Südwesten Deutschlands das Tübinger Weinherz beschrieben

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Diesen zweifellos nachteiligen Wirkungen stehen aber auch Daten gegenüber, die zum einen bei Menschen mit mäßigem Alkoholkonsum eine Mortalitätsreduktion zeigen, welche vor allem auf eine Verringerung kardiovaskulärer Ereignisse zurückzuführen ist. Zum anderen scheint auch die Art des alkoholischen Getränks eine Rolle zu spielen, wobei Wein in den meisten vergleichenden Studien die positivste Wirkung entfaltete. Bereits 2007 konnten O`Keefe et al. eine u-förmige Kurve bezüglich der Mortalität und des Alkoholkonsums in einem sehr großen Kollektiv beschreiben. Beim Konsum geringer Mengen von Alkohol (durchschnittlich eines halben Getränks pro Tag) kam es zu einem steilen Abfall der Mortalität von ~15 %, verglichen mit jener von abstinenten Personen. Anschließend stieg diese Kurve wieder an, jedoch wesentlich flacher, sodass eine Mortalität, die sich mit jener von Alkoholabstinenten vergleichen ließ, erst bei ca. 2,5 Getränken (Frauen) bzw. vier Getränken pro Tag (Männer) gezeigt werden konnte.

Die Rolle des Einkommensstatus Drei sehr große Analysen aus den letzten Jahren bestätigten größtenteils diesen Effekt und differenzierten die Beobachtung noch ein wenig. Eine in dem Fachjournal Lancet publizierte Analyse mit 155.722 Patienten der sehr großen prospektiven PURE-Studie zu kardiovaskulären Risikofaktoren unterschied hierbei zwischen Ländern mit hohem, mittlerem und niedrigem Einkommen. Interessanterweise zeigte sich nur in den Ländern mit hohem Einkommen bei moderatem Alkoholkonsum eine signifikante Mortalitätsreduktion. Die Analyse von Alkohol als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen im Allgemeinen bzw. für Myokardinfarkt oder Schlaganfall im Speziellen ergab: Es war kein nachteiliger Effekt zu erkennen. Eine noch größere Analyse (ebenfalls in Lancet erschienen), die im Rahmen der EPIC-CVD-Datenbank an 599.912 Patienten mit Alkoholkonsum aus Ländern mit hohem Einkommen durchgeführt wurde, zeigte ein noch differenzierteres Bild. So war mit steigendem Alkoholkonsum (gegenüber der Kontrollgruppe mit bis zu 100 g Alkohol pro Woche) die Rate von Schlaganfällen, tödlich endender Hypertonie und Aortenaneurysmata signifikant erhöht. Die Rate tödlicher Myokardinfarkte war jedoch bis hin zu hohen durchschnittlichen Alkoholmengen von 350 g pro Woche signifikant reduziert. Die Daten von O`Keefe bestätigend, zeigte sich aber schon bei > 100 g Alkohol pro Woche wieder ein Anstieg der Mortalität, der gegenüber den „Wenig-Trinkern“ einer Reduktion der Lebenserwartung von sechs Monaten (bei 100-200 g/Woche), von ein bis zwei Jahren (200-350 g/Woche) bzw. von vier bis fünf Jahren (> 350 g/Woche) bei einem 40-Jährigen entsprach.

Und die Sekundärprophylaxe? Hinsichtlich der Sekundärprophylaxe nach stattgehabtem Myokardinfarkt gibt es deutlich weniger Daten. Die größte


Hausarzt medizinisch

Gründe für positive Effekte Den günstigen vaskulären und hierbei vor allem koronarvaskulären Effekten liegen vermutlich mehrere Ursachen zu Grunde. Einerseits ist eine günstige Beeinflussung anderer kardiovaskulärer Risikofaktoren beschrieben. So nimmt das Diabetesrisiko bei mäßigem Alkoholkonsum ab (und bei hohem Alkoholkonsum wieder zu). Andererseits weisen Patienten mit Alkoholkonsum höhere HDL-Werte auf als abstinente Menschen. Eine günstige Wirkung auf die Gefäßsteifigkeit konnte mit experimentellen Daten an Ringpräparaten aus menschlichen Koronararterien nur für Rotweine festgestellt werden. Klinische Daten mit einem Beobachtungshorizont von 25 Jahren zeigten kürzlich, dass sich bei moderatem Alkoholkonsum (bis 112 g/Woche) die Gefäßelastizität am besten erhalten ließ. Sowohl abstinente Personen als auch

Autor: Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Dirk von Lewinski Klinische Abteilung für Kardiologie, MedUni Graz

Menschen mit höherem Alkoholkonsum litten unter einer rascher fortschreitenden Steifigkeit des arteriellen Systems, welche mit sequentiellen Messungen der Pulswellengeschwindigkeit über den gesamten Beobachtungszeitraum erfasst wurde.

Art des Konsums ist entscheidend Einen Aspekt, der für die Bewertung von Alkoholkonsum ebenfalls wichtig ist, stellt die zeitliche Dimension des Konsums dar. Während die Gesamtmenge des getrunkenen Alkohols beispielsweise in Irland und Frankreich nahezu dieselbe ist, wird der überwiegende Teil davon in Irland an Freitagen und Samstagen konsumiert, wohingegen sich in Frankreich der Konsum über die Wochentage nahezu gleichmäßig verteilt. Schreibt man nun dem Alkohol eine positive Wirkung zu – wie einem Medikament, dann erscheint die kontinuierliche Gabe bei einer Substanz mit relativ kurzer Halbwertszeit selbstverständlich sinnvoller als die kumulierte Gabe am Wochenende. Dieses bessere Einnahmemuster in Frankreich kann neben den zusätzlichen

„Es liegen robuste Daten für eine niedrigere koronarvaskuläre Morbidität bei mäßigem Alkoholkonsum vor.“

Foto: © Sissi Furgler

verfügbare Studie an knapp 2.000 Patienten beschreibt aber auch hier eine verminderte Sechs-Jahres-Mortalität bei den Patienten mit mäßigem und moderatem Alkoholkonsum gegenüber abstinenten Personen. Ausgewertet wurde hier allerdings der Alkoholkonsum bis zum Herzinfarkt. Und man nahm an, dass sich dieser nicht wesentlich in den Jahren nach dem Infarkt verändere. In einer weiteren ähnlich großen Analyse ließ sich dieser günstige sekundärprophylaktische Effekt aber nur bei Weintrinkern nach­weisen.

Inhaltsstoffen im (Rot-)Wein (Phytophenole wie Flavonoide und Stilbene, z. B. Resveratrol) ebenfalls für das „French Paradox“ verantwortlich sein. Passend zu dem kontinuierlicheren Einnahmemusters zeigt Frankreich eine niedrigere kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität gegenüber anderen europäischen Ländern, was sich durch das Herausrechnen der jeweils konsumierten Weinmengen angleicht.

Fazit Zusammenfassend liegen also robuste Daten für eine niedrigere koronarvaskuläre Morbidität sowie für eine reduzierte Gesamtmortalität bei mäßigem Alkoholkonsum vor. Allerdings lehrt uns die Erfahrung, dass viele Menschen bzw. Patienten einen mäßigen und kontrollierten Konsum wegen des Suchtpotentials nicht durchhalten können und von der koronaren Morbidität abgesehen fast durchgehend negative Effekte vorherrschen. Folglich kann keine allgemeine Empfehlung für Alkoholkonsum zur positiven Beeinflussung der KHK abgegeben werden. < Literatur beim Autor.

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Hoffnung für Patienten mit Vorhofflimmern Aktuelle Studien beleuchten präventive und therapeutische Aspekte Vorhofflimmern (VHF) stellt die häufigste Form der Arrhythmie dar, die Inzidenzen und Prävalenzen steigen weltweit. Die Mortalitätsrate von Menschen mit Vorhofflimmern ist zwar langfristig rückläufig, jedoch verglichen mit jener von Menschen ohne Vorhofflimmern noch deutlich erhöht (die Überlebenszeit von Patienten mit VHF ist durchschnittlich um zwei Jahre reduziert).1 Daraus wird ersichtlich, dass die Fortschritte in der Therapie des VHF und seiner Folgeerkrankungen zwar für Optimismus sorgen, aber die Prävention und die Behandlung jener Herzrhythmusstörung die moderne Medizin weiterhin herausfordern. Nachfolgend ein Überblick über neue Forschungsergebnisse zu diesem Thema.

Präventive Aspekte Im Sinne der primären Prävention des VHF gilt es, beispielsweise das Thema Alkoholkonsum zu berücksichtigen. Eine Analyse von mehreren prospektiven Beobachtungsstudien im European

Heart Journal2 ergab, dass bereits der Konsum von etwa einem alkoholischen Getränk pro Tag auf Dauer mit einem erhöhten Risiko einhergeht, an VHF zu erkranken. Das Risiko steigt, je höher der Alkoholkonsum ist.

Früherkennung: Pflaster mit ein­ gebautem EKG Im Bereich der sekundären Prävention gibt es ebenfalls Neuigkeiten. Ein kleines Pflaster mit eingebautem EKGGerät kann VHF bei Risikopatienten frühzeitig erkennen. An einer rezenten randomisierten Studie3 nahmen 856 Personen teil, die 75 Jahre oder älter waren, einen hohen Blutdruck hatten, jedoch kein bekanntes VHF. Im Vergleich zur Kontrollgruppe, welche statt des Rhythmuspflasters die medizinische Standardversorgung erhielt, wurde in der Verumgruppe VHF zehn Mal häufiger erkannt. Insgesamt wurde das Rhythmuspflaster gut vertragen. Nach der Diagnose VHF bekamen 75 % der Patienten ein blutverdünnendes Medikament zur Schlaganfallprophylaxe. Das Rhythmuspflaster könnte ergo als effektive Methode fun-

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Hausarzt medizinisch gieren, um stummes VHF zu erkennen und frühzeitig therapeutische Maßnahmen einzuleiten.

Schlaganfallprophylaxe und Adipositas In der tertiären Prävention stellen die neuen bzw. direkten oralen Antikoagulantien (NOAK bzw. DOAK) ein wesentliches Standbein der Schlaganfallprophylaxe dar. Jedoch sind in Zulassungsstudien und weiteren Arbeiten gewisse Subgruppen unterrepräsentiert. Im Rahmen einer aktuellen retrospektiven Studie4 wurden die Wirkung und die Sicherheit dieser Substanzgruppen bei adipösen VHF-Patienten untersucht (n = 7.642). Das Ergebnis: NOAK eignen sich zur Schlaganfallprophylaxe bei adipösen Patienten mit VHF – Wirksamkeit und Sicherheit sind in allen BMIGruppen vergleichbar, selbst bei sehr hohem BMI. Trotz der Limitationen des retrospektiven Studiendesigns tragen die Ergebnisse zur Verbesserung der Evidenzlage einer sicheren und effektiven Anwendung von NOAK im Rahmen der Schlaganfallprophylaxe auch bei adipösen Patienten bei.

Ereignisrate auftritt. Aktuelle Leilinien empfehlen für die ersten drei Monate nach Implantation den Einsatz von VKA.

Neuigkeiten in puncto Therapie des VHF Last, but not least noch zwei rezente Studienergebnisse zur Aufrechterhaltung des Sinusrhythmus und der Frequenzkontrolle:

Katheterablation als Erstlinien­ therapie Der Einsatz von Antiarrhythmika wird in den aktuellen Leitlinien als Initialtherapie für die Aufrechterhaltung des Sinusrhythmus bei symptomati-

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DOAK bei VHF und biologischer Mitralklappenprothese Eine weitere Subgruppe, die kürzlich in Bezug auf DOAK untersucht wurde, bilden Patienten mit VHF und biologischer Mitralklappenprothese. In der multizentrischen RIVER-Studie5 wurden 1.005 Patienten mit VHF und einer biologischen Mitralklappenprothese randomisiert in eine DOAK- und eine Vitamin-K-Antagonisten(VKA)-Gruppe eingeteilt. Die DOAK-Gruppe war im primären Endpunkt (Tod jedweder Genese, Schlaganfall, TIA, systemische Embolie, Klappenthrombose, Herzinsuffizienz-Hospitalisierung oder schwere Blutung nach zwölf Monaten) nicht unterlegen. Auch Blutungsereignisse kamen in dieser Gruppe nicht häufiger vor. Da bei fast einem Fünftel der Patienten die Klappenimplantation weniger als drei Monate vor Studieneinschluss erfolgt war, lieferten die Ergebnisse der Studie zusätzlich einen Hinweis, dass auch bei einem frühen Beginn der Antikoagulation mit DOAK keine erhöhte

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schen Patienten empfohlen – trotz ihrer begrenzten Wirksamkeit und erheblichen Nebenwirkungen. Die randomisierte EARLY-AF-Studie6 verglich die Effizienz der Katheterablation als Erstlinientherapie mit dem Einsatz von Antiarrhythmika zur Aufrechterhaltung des Sinusrhythmus bei bisher unbehandelten symptomatischen paroxysmalen VHF-Patienten (n = 303). In jener Gruppe, die eine Kryoballonablation als Erstlinientherapie erhalten hatte, traten signifikant weniger wiederkehrende atriale Tachyarrhythmien auf und auch die Belastung der wiederaufgetretenen Arrhythmie bei den Ablationspatienten war geringer (Number needed to treat = vier).

Allerdings fehlen aufgrund des geringen Nachbeobachtungszeitraums Daten in puncto Langzeit-Outcome, zudem war die Studie nicht gepowert, um Aussagen über das kardiale Outcome zu treffen. Dennoch sollte erwogen werden, die Katheterablation als Erstlinientherapie einzusetzen – anstatt wie bisher das Scheitern der medikamentösen Antiarrhythmie-Therapie abzuwarten.

Digitalis-Therapie zur Frequenz­ kontrolle Für den Therapieansatz der Frequenzkontrolle stehen Betablocker, Calciumantagonisten vom Verapamil-Typ sowie Digitalisglykoside zur Verfügung. Betablocker werden häufig bevorzugt eingesetzt, da sie in der Therapie der Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion (HFrEF) günstige Effekte zeitigen. Doch die Evidenz der prognoseverbessernden Wirkung von Betablockern bei Herzinsuffizienz und zusätzlich bestehendem VHF ist deutlich schwächer. In der kleinen, aber methodisch hochwertigen RATE-AF-Studie7 (160 Patienten mit permanentem symptomatischem VHF) erwies sich eine Digitalis-Therapie nun erstmals in einer randomisierten prospektiven Studie als mind. äquipotent zu Betablockern. Im primären Endpunkt Lebensqualität und in dem Maß der erreichten Frequenzsenkung bestand kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Hingegen war die Digitalis-Therapie bezüglich subjektiver Beschwerden und in den sekundären Endpunkten – Höhe des NT-proBNP oder unerwünschte Nebenwirkungen – überlegen. Neben der geringen Zahl der Teilnehmer ist die Beschränkung auf Fälle mit einer größtenteils erhaltenen Ejektionsfraktion als Limitation der Studie zu nennen. Anna Schuster, BSc

Literatur: 1 Vinter N et al., BMJ 2020;370:m2724. 2 Csengeri D et al., European Heart Journal. (2021) doi:10.1093/eurheartj/ehaa953. 3 Gladstone DJ et al., JAMA Cardiol. nu 24 (2021). doi:10.1001/jamacardio.2021.0038. 4 Kaplan RM et al., J Am Heart Assoc. 2020;9:e017383. 5 Guimarães HP et al., N Engl J Med 2020; 383:21172126. 6 Andrade JG et al., N Engl J Med 2021; 384:305-315. 7 Kotecha D et al., JAMA. 2020;324(24):2497-2508.


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Wenn dem Herz die Luft ausgeht Ärzte sehen Angina-pectoris-Beschwerden kritischer als Patienten KA

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Mit einer Prävalenz von bis zu 4 % zählt Brustschmerz zu den regelmäßigen Beratungsanlässen in der Praxis von Hausärzten und Internisten. Wenn sich ein Patient mit diesem Leitsymptom vorstellt, muss der Arzt entscheiden, ob ein schwerwiegendes Krankheitsbild vorliegt und sofort gehandelt werden sollte oder ob abgewartet werden kann. Das Hauptaugenmerk der Differenzialdiagnose liegt dabei auf der koronaren Herzkrankheit (KHK) bzw. dem akuten Koronarsyndrom als potenziell lebensbedrohliche Verlaufsformen. Neben den Ergebnissen der Anamnese und klinischen Befunderhebung beeinflussen auch epidemiologische Parameter wie die KHK-Prävalenz die Entscheidungsfindung. Im primärärztlichen Setting sind 8-15 % der Brustschmerzanfälle durch eine KHK verursacht.

Symptome werden teils fehlgedeutet Die Schmerzen dauern bei der stabi­ len Angina pectoris bekanntlich oft

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nur wenige Minuten, können aber jenen des Herzinfarkts gleichen, in den linken Arm bis in die Hand, in beide Arme, in den Hals, in die Zähne oder in den Bauch ausstrahlen. Übelkeit und Erbrechen treten häufig auf. Anginapectoris-Beschwerden werden deshalb manchmal als Magen-, Zahn- oder Schulter- und Armschmerzen fehlgedeutet. Wichtig: Bei Frauen äußern sich die Symptome nicht so sehr in Form ausgeprägter Schmerzen, sondern oft als Engegefühl in der Brust oder als Atemnot. Ändern sich die Anzahl und die Dauer der Anfälle und treten Schmerzen auch in Ruhe oder bei geringer Belastung auf, spricht man von einer instabilen Angina pectoris. Gefäßerweiternde Medikamente sprechen nur mehr unzureichend an. Es besteht akute Herzinfarktgefahr. In der Primärversorgung ist es deshalb wichtig, Symptome auftretender Angina-pectoris-Anfälle genau zu beobachten, um Veränderungen frühzeitig erkennen zu können.

Unterschiedliche Einschätzung Eine rezente Studie* wollte herausfinden, ob sich die Schweregradeinteilung der Angina pectoris mittels der CCSKlassifikation (Canadian Cardiovascular Society) durch den behandelnden Arzt davon unterscheidet, wie der Patient selbst die Schwere einschätzt. Und tatsächlich zeigten sich beachtliche Unterschiede. Über ein Drittel der insgesamt 1.654 Patienten mit einer stabilen ischämischen Herzerkrankung hatten nach eigener Aussage keine Symptome einer Angina pectoris. Die Einschätzung der Ärzte war eine andere: Laut ihnen litten 12,4 % an einer moderaten und 7,5 % an einer schwerwiegenden Herzenge. Auch bei der Patientengruppe mit einer instabilen Angina pectoris gingen die Einschätzungen von Medizinern und Patienten auseinander: 110 der 895 Patienten, also etwas über 12 %, gaben im Fragebogen an, keine Symptome zu haben. Knapp 11 % der Ärzte stuften sie hingegen in die CCS-Klasse II (moderat) und 35 % in die CCSKlasse III oder IV (schwerwiegend) ein. Aus diesen deutlichen Abweichungen schlussfolgern die Studienautoren, dass die Aussagen der Patienten über den aktuellen Status ihrer Symptome an Bedeutung gewinnen sollten. Das gelte insbesondere, wenn über eine Operation, etwa eine Revaskularisierung, nachgedacht werde. Die Diskrepanz zwischen der Einschätzung des Arztes und jener des Patienten habe durchaus Auswirkungen auf die Auswahl der Patienten, die für Plaquesprengungen & Co. in Frage kämen. Generell sei es interessant zu wissen, dass die Patienten selbst den Schweregrad ihrer Erkrankung oftmals nur abgeschwächt wahr­nähmen. Mag.a Karin Martin

* Saxon JT et al. (2020). DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2020.7406.


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Wie Mitgefühl, Fürsorge und Berührung unser Herz stärken Autorin: Gabriele Wiederkehr, MSc Pflegepädagogin und Pflegeexpertin, Vorsitzende d. Bundesarbeitsgemeinschaft Freiberufliche Pflege d. österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV) www.oegkv.at www.oegkv.at.

Foto: © Cornelia Maria Gregor

„Pflege beinhaltet die kreative Kunst der Berührung.“

Berührung, Nähe und das sanfte Handauflegen sind wertvolle nonverbale Möglichkeiten, Mitgefühl und Fürsorge zu vermitteln. Auch bei Menschen mit Herzerkrankungen können physische, psychische, psychosoziale und spirituelle Schmerzen durch die Schaffung von Wohlbefinden (Comfort Care) gelindert werden. Komfort ist nach der Comfort Theory (nach Katherine Kolbaca) ein unmittelbar wünschenswertes Ergebnis der Pflege. Berührungen im therapeutischen Sinne verbessern das allgemeine Wohlbefinden und aktivieren Selbstheilungskräfte. Ziel der komplementären Pflege-

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methode ist die Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts, hervorgerufen durch Tiefenentspannung und positive Gefühle. Besonders in berührungsarmen Situationen wie im Krankenhaus, im Pflegewohnheim oder bei Menschen mit schweren (Herz-)Erkrankungen konnte sich die Therapeutische Berührung (Therapeutic Touch) etablieren.

Gesundheitsförderung durch ein positives Gefühlserleben Therapeutic Touch basiert auf der Annahme, dass der Mensch ein komple-

xes schwingendes Energiefeld ist. Das bioenergetische Verfahren bewirkt, dass stagnierte Lebensenergie (auf Chinesisch: Qi, auf Indisch: Prana, auf Japanisch: Ki) wieder zum Fließen gebracht wird. Die Zentrierung und die Intention der Anwender ermöglichen es, Trost, Hoffnung, Mut und Zuversicht mit den Händen zu vermitteln. Therapeutic Touch ist eine intentionale therapeutische Intervention am menschlichen Energiefeld und wird komplementär, also ergänzend zur Schulmedizin eingesetzt. Jede Anwendung verfolgt ein klares Ziel, beispielsweise die Auflösung von Stagnation, die Ableitung von Hitze und energetischem Stau und die Modulation eines Ungleichgewichts. In diversen Studien der Psychoneuroendokrinimmunologie wird die unmittelbare Verschränkung der menschlichen Seele mit dem Nervensystem, dem hormonellen System und dem Immunsystem untersucht. Die Verringerung von seelischen Belastungen erzielt eine positive Wirkung auf die Gesundheit auf allen anderen Ebenen. Achtsamkeit, Mitgefühl, Zeit und motivierende Worte wirken re-

Foto: © Gabriele Wiederkehr, privat

Die komplementäre Pflegemethode „Therapeutische Berührung” etabliert sich in Österreich


Hausarzt extra gulierend auf den Hormonhaushalt und setzen Glücksbotenstoffe frei.

Pflegemethode Therapeutic Touch Die ganzheitlich orientierte klinische Fertigkeit Therapeutic Touch (TT) wurde in den 1970er-Jahren von der Krankenpflegerin und Pflegewissenschafterin Dr. Dolores Krieger gemeinsam mit Dora Kunz, Heilerin und Theosophin,

an der Universität New York entwickelt. Heute zählt TT zu den effektivsten Möglichkeiten der Gesundheitsförderung und Vorsorge, denn in Hunderten klinischen Studien konnten maßgebliche Erfolge betreffend Entspannung, Stressreduktion, Angst- und Schmerzlinderung, Stärkung des Immunsystems, beschleunigte Wundheilung, Linderung von psychosomatischen Symptomen, verbesserten Schlaf, Regeneration und Reduktion des chronischen Erschöp-

X Infobox: Selbstständig durchführbare Übungen zur Stärkung des Herzens

Bewegen Sie Schultern und Arme durch Händereiben, Klatschen, Dehnen, Kreisen … Üben Sie Bewegungen aus dem Qigong: Sanftes Klopfen der Herzpunkte am Brustbein und zwischen den Schulterblättern erweckt den Brustkorb. Legen Sie Ihre Hände auf Ihr Herz, lächeln Sie sich innerlich zu und spüren Sie sich in Ihr emotionales Herz. Konzentrieren Sie sich in Meditation und Stille auf das Herzzentrum und bringen Sie Liebe zum Fließen. Hören Sie Musik, die Ihnen Freude bereitet und sanft Ihr Herz berührt (Laute von Delfinen, Gesang, sakrale Musik, klassische Musik …). Aktivieren Sie Ihre Sinne durch berührende, schöne, heilsame Geschichten, Gedichte, Bilder. Massieren Sie sanft das Brustbein in Herzhöhe (Rosenöl).

fungssyndroms (Fatigue) nachgewiesen werden.* Definition: „Therapeutic Touch ist eine Heilmethode, bei der mit Hilfe der Hände menschliche Lebensenergien bewusst gelenkt und harmonisiert werden, mit dem Ziel, den Körper zur Heilung zu aktivieren.“ (Krieger 2012) Die komplementäre Pflegemethode Therapeutic Touch wird im Rahmen einer berufsspezifischen einjährigen Weiterbildung gemäß Gesundheitsund Krankenpflegegesetz § 64 von Angehörigen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Kranken- < pflege in Österreich erlernt und kann an gesunden und kranken Menschen angewendet werden. Die Weiterbildung wird am Zentrum Lebensenergie Wien* angeboten. Literatur Kolcaba, K. (2014). Pflegekonzept Comfort. Theorie und Praxis der Förderung von Wohlbefinden, Trost und Entspannung in der Pflege. Bern: Hans Huber Verlag. Krieger, D. (2012): Therapeutic Touch. Die Heilkraft unserer Hände. Bielefeld: Lüchow Verlag. Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramts Österreich (2016): Bundesgesetz über Gesundheits- und Krankenpflegeberufe (Gesundheits- und Krankenpflegegesetz – GuKG). StF: BGBl. I Nr. 108/1997 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfr age=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10011026 8.3.2021.

Genießen Sie muskelentspannende Methoden wie Massagen am Rücken, an den Armen. Klopfen Sie einander in einer Partnerübung den Rücken ab. Nützen Sie die heilsame Wirkung der Natur – der Bäume, Blumen, des Himmels, der Sonne, des Meeres, der Berggipfel oder der Weite der Wüste. Stets heilsam wirken Liebe, Lachen, wohltuende Berührungen bzw. Umarmungen auf das emotionale Herz.

* www.zentrum-lebensenergie.at

X HAUSARZT-Buchtipp Berührende Pflege. Therapeutic Touch. Wirkung und Techniken, von Wiederkehr, Gabriele, Springer Verlag Wien (ET Mai/Juni 2021).

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Hausarzt Rare Diseases

Fragiles Lungengerüst erkennen Die unspezifischen Symptome der idiopathischen Lungenfibrose erschweren die Diagnose 100.000 Einwohner steigt. Des Weiteren erkranken Menschen, die geraucht haben oder rauchen, eher als jene, für die Nikotinabusus nie ein Thema war.“

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Erschwerte Diagnosestellung

Die idiopathische Lungenfibrose (IPF) ist eine chronische, progrediente, nicht reversible Lungenerkrankung. Sie gilt als häufigste Form der Lungengerüst­ erkrankung bzw. als „häufigste Erkrankung aus der Gruppe der idiopathischen interstitiellen Pneumonien“* und resultiert aus einer gestörten Wundheilung, die mit einer Überaktivität von Fibroblasten und in weiterer Folge mit einer zunehmenden Vernarbung des Lungengewebes assoziiert ist. Dies wiederum führt zu einer eingeschränkten Beweglichkeit der Lunge, was die Sauerstoffaufnahme erheblich erschwert. Zu den pathophysiologischen Prozessen zählen fehlerhafte Reparaturmechanismen bei Dysfunktion der Epithelzellen, die Aktivierung von Fibroblasten, oxidativer Stress, vaskuläres Remodeling, genetische Veränderungen und Alterungsprozesse (Seneszenz).* Die IPF gehört aufgrund ihrer Prävalenz von 8,2 Fällen pro 100.000 Einwohner zu den Rare Diseases.

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Höheres Alter, höheres Risiko In Österreich sind etwa 10.000 Menschen von einer Lungengerüsterkrankung betroffen, ca. 1.700 von einer IPF. Der IPF-Spezialist und Oberarzt an der Klinischen Abteilung für Pneumologie am Universitätsklinikum Krems, Dr. Klaus Hackner, erläutert: „Hinsichtlich der Zahlen liegen unterschiedliche Angaben vor. Laut dem ‚European IPF Network‘ leiden in Europa etwa 750.000 Menschen an einer Lungengerüsterkrankung. Wie viele genau an einer IPF erkrankt sind, lässt sich nur schätzen.“ Allerdings stehe fest, dass Männer viel häufiger betroffen seien als Frauen und das Alter eine große Rolle spiele. „Das Erkrankungsalter ist meist höher, nämlich über 60. An den Erkrankungszahlen lässt sich die Altersabhängigkeit gut erkennen, denn vor dem 40. Lebensjahr kommt die IPF kaum vor, während zwischen dem 60. und dem 70. Lebensjahr die Prävalenz auf 150 bis 250 Fälle pro

Da die IPF mit unspezifischen Symptomen assoziiert ist, gestaltet sich die Diagnose oftmals schwierig, was wiederum die Prognose verschlechtert. Dr. Hackner erklärt: „Die Erkrankung geht mit belastungsabhängiger Atemnot und trockenem Reizhusten einher. Diese Symp­ tome treffen bedauerlicherweise auch auf eine Vielzahl anderer Lungenerkrankungen sowie kardialer Krankheiten zu, etwa auf Herzinsuffizienz. Je weiter die IPF fortschreitet, desto eingeschränkter ist die Belastbarkeit. Die Atemnot nimmt zu, meist schon in Ruhe.“ Als zusätzlicher Hinweis für eine IPF gelte das klassische basale, respiratorische, feine Knisterrasseln. „Dieses auch Sklerophonie genannte endinspiratorische Phänomen tritt bei der Auskultation auf und klingt wie ein Klettverschluss.“ Bestehe der Verdacht auf IPF, erfolge die Diagnosestellung, die auf verschiedenen Säulen basiere. „Zunächst ist ein ausführliches Anamnesegespräch unabdingbar, um andere Erkrankungen ausschließen zu können. Man sollte die Patienten dabei nach Auslösern von Lungenfibrosen befragen. Dazu gehören andere Systemerkrankungen, Kollagenosen oder rheumatische Erkrankungen. Medikamente können Lungenfibrosen ebenso hervorrufen wie eine Schadstoffexposition in der Luft.“ Einen weiteren wichtigen Schritt stelle die körperliche Untersuchung dar, die neben der Auskultation die Ermittlung allfälliger Trommelschlägelfinger beinhalte, so Dr. Hackner. „Die Erhebung der Lungenfunktion ist ebenfalls von großer Bedeutung, sowohl die kleine, die der Hausarzt durchführen kann, als auch die komplette beim Lungenfacharzt. Darüber hinaus sollte eine Blutgasanalyse erfolgen.“ Als wichtigstes diagnostisches


Mittel gilt laut dem Experten für IPF aber die hochauflösende Computertomographie (HRCT) des Thorax. „Der radiologische Befund und die Zusammenschau von Klinik und Symptomatik erlauben uns, die Verdachtsdiagnose zu erhärten, was eine Überweisung an ein spezialisiertes Zentrum nach sich ziehen sollte.“

Lebensqualität verbessern Wenngleich die IPF als unterdiagnostiziert gilt und nicht heilbar ist, besteht heutzutage die Möglichkeit, die Erkrankung so zu managen, dass Exazerbationen verhindert werden und sich die Prognose der Patienten – auch hinsichtlich einer Lungentransplantation – verbessern lässt. Dazu Dr. Hackner: „Zu den antifibrotischen medikamentösen Behandlungsformen gehören seit 2011 Pirfenidon, das die Fibroblastenproliferation und die Kollagensynthese hemmt und dreimal am Tag eingenommen werden muss, sowie seit 2015 der Tyrosinkinase-Inhibitor Nintedanib, der unter anderem den FGF-, PDGF- und den VEGF-Rezeptor hemmt. Letzterer ist ein Fibroblastenwachstumsfaktor, der ein relativ breites Wirkspektrum hat und interessanterweise auch als Angiogenesehemmer bei malignen Tumoren angewendet wird. Dieses Präparat ist alle zwölf Stunden einzunehmen.“ Die Wirkstoffe verlangsamen den Krankheitsverlauf bzw. den Lungenfunktionsverlust, reduzieren oder verhin-

Experte zum Thema: OA Dr. Klaus Hackner Klinische Abteilung für Pneumologie, Universitätsklinikum Krems, Leiter des Arbeitskreises ILD – Österreichische Gesellschaft für Pneumologie

dern Exazerbationen und steigern so die Lebensqualität. Nebenwirkungen wie Diarrhö oder Übelkeit könne man bei Bedarf mit Wirkstoffen wie Loper­amid bzw. Metoclopramid behandeln, macht der IPF-Spezialist aufmerksam. Die mit Pirfenidon vergesellschaftete Fotosensibilität lasse sich durch ein Sonnenschutzmittel mit hohem Lichtschutzfaktor gut in den Griff bekommen. „IPF-Patienten sollten ohnehin regelmäßig kontrolliert werden, weshalb es essenziell ist, mögliche Nebenwirkungen zu besprechen und die Betroffenen diesbezüglich zu briefen. Auch die Leberwerte sollten bei Einnahme von Nintedanib sowie von Pirfenidon regelmäßig erfasst werden. Ich halte es für sehr wichtig, Hausärzte mit ins Boot zu holen. Wir als Fachärzte sollten Fragen zu Nebenwirkungen zeitnah beantworten können und Allgemeinmedizinern die Möglichkeit geben, Rücksprache mit uns zu halten. Schließlich sehen sie die Patienten häufiger als wir.“

COVID-19 steigert Mortalität Nachdem die Corona-Pandemie mittlerweile ein Jahr andauert und schon für

„Ich halte es für sehr wichtig, Hausärzte mit ins Boot zu holen. Schließlich sehen sie die Patienten häufiger als wir Pneumologen.“ gesunde Menschen ohne Vorerkrankungen eine potenzielle Gefahr darstellt, ist das Risiko für IPF-Patienten ungleich höher und darf nicht außer Acht gelassen werden. „Hinsichtlich der Mortalität haben sie ein erhöhtes Risiko“, gibt Dr. Hackner zu bedenken. „Deshalb hat die Österreichische Gesellschaft für Pneumologie bereits sehr früh darauf hingewiesen, dass Menschen mit Fibrosen und IPF zu den Risiko­gruppen gehören. Sämtliche Schutzmaßnahmen müssen rigoros umgesetzt werden. Die antifibrotische Therapie sollte man im Falle einer COVID-19-Erkrankung unbedingt fortsetzen. Denn es hat sich gezeigt: Die Fibrose verschlechtert sich, wenn die Medikamente wegen einer Corona-Infektion abgesetzt werden. Wir haben uns dafür ausgesprochen, dass Fibrose- und IPF-Patienten bevorzugt geimpft werden, und hoffen, dass dies so bald wie möglich erfolgen wird.“ Mag.a Sonja Streit

Literatur: * Behr et al., S2K-Leitlinie zur Diagnostik der idiopathischen Lungenfibrose, German Guideline for Idiopathic Pulmonary Fibrosis, Thieme Pneumologie, Online publiziert: 30.03.2020.

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Ich sehe was, was du nicht siehst …

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Neue Wege in der Diagnostik am Beispiel der erblichen Netzhautdystrophien

Experte zum Thema: A.o. Univ. Prof. Elmar Aigner Universitätsklinik für Innere Medizin I/Gastroenterologie und Hepatologie, Uniklinikum Salzburg

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HAUSARZT: Unspezifische Symptome bei seltenen Erkrankungen führen zu falschen, zu späten bzw. zu gar keinen Diagnosen. Welche diagnostischen Mittel stehen heute zur Verfügung? Prim. REITSAMER: Seltene Erkrankungen treten in fünf pro 10.000 Einwohner auf, was bedeutet, dass man in der täglichen Praxis sehr selten damit konfrontiert wird. Das Auge ist also nicht geschult. Bei einem grauen Star oder einer typischen Makuladegeneration kann mit entsprechender Geräteunterstützung sehr sicher diagnostiziert werden. Bei seltenen Erkrankungen ist dies nicht der Fall, weshalb sie unterdiagnostiziert sind. Neben funktionellen Verfahren wie der Beurteilung der Sehschärfe, des Gesichtsfelds oder der Nervenleitgeschwindigkeit werden in der Augenheilkunde auch morphologische bzw. anatomische Methoden, etwa Fundus-Foto, Angiographie zur Beurteilung der Gefäße oder die Optische Kohärenztomografie (OCT) zwecks Beurteilung der Struktur und des Aufbaus der Netzhaut, zur Diagnostik herangezogen.

Worauf sollten Hausärzte bei der Diagnostik, im Speziellen von IRD, achten (siehe auch Infobox)? Prim. REITSAMER: Das Erkennen ist für Hausärzte besonders herausfordernd, da es eine Vielzahl von seltenen Augenerkrankungen im Formenkreis der IRD gibt, welche unterschiedliche Symptome aufweisen und verschiedene Verläufe haben. Das Wichtigste ist die Familienanamnese, da es sich bei IRD um erbliche Erkrankungen handelt. Im Falle von Sehbeschwerden unklarer Genese sollte an den Facharzt überwiesen werden, bei Verdacht auf eine IRD überweist dieser wiederum an ein Spezialzentrum (Anm. d. Redaktion: Details siehe Tabelle „Diagnostische Abklärung“). Nur für wenige IRD steht eine

Experte zum Thema: Prim. Univ.-Prof. Dr. Herbert Reitsamer Vorstand der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie, Uniklinikum Salzburg

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Die Diagnostik von seltenen Erkrankungen gestaltet sich wahrlich nicht einfach, das trifft auch auf erbliche Augenkrankheiten zu. Der Knackpunkt ist die Heterogenität derselben mit über 100 Krankheitsbildern, über 270 involvierten Genen und über 300 Genloci.* Vor welchen Herausforderungen die Medizin sowie im Speziellen die Augenheilkunde steht und welche Möglichkeiten der Einsatz von Artificial Intelligence (AI) in der Diagnose von seltenen Augenerkrankungen wie den erblichen Netzhautdystrophien (IRD) künftig eröffnen wird, erklären Prim. Univ.-Prof. Dr. Herbert Reitsamer und Assoz. Prof. Dr. Elmar Aigner, beide vom Uni­ klinikum Salzburg, im HAUSARZTInterview.


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Hausarzt Rare Diseases Therapie zur Verfügung, etwa für eine spezielle Form der Retinitis pigmentosa, die das RPE65-Gen betrifft.

Prof. AIGNER: Durch die Überprüfung des Ergebnisses seitens des Arztes lernt die AI laufend dazu und verbessert sich.

Wo stößt die Augenheilkunde hinsichtlich der Diagnose aktuell an ihre Grenzen? Prim. REITSAMER: Die Grenzen sind mannigfaltig. Die Symptome sind nicht immer spezifisch und es ist nicht einfach, anhand der Symptombeschreibung eines Patienten einen klaren Hinweis zu erhalten, um welche Erkrankung es sich handelt. Mit den zuvor erwähnten Verfahren kann zwar spezifischer diagnostiziert werden – insbesondere bezüglich der IRD –, jedoch ist auch damit keine abschließende Ausschlussdiagnostik möglich. Eine detaillierte Diagnostik bieten genetische Verfahren sowie die Analyse bestimmter Blutparameter – beispielsweise können Hormone indirekte Hinweise für das Vorliegen einer seltenen Netzhaut­ erkrankung geben. Für deren Durchführung muss der Arzt allerdings einen Anlass haben. Künftig könnten uns AI-Unterstützungssysteme hierbei helfen.

Wie wird sich die Medizin durch AI in naher Zukunft ändern? Prof. AIGNER: Aktuell können Ärzte die unspezifischen Symptome oft nicht zuordnen, die Rate der Fehldiagnosen ist sehr hoch bzw. wird häufig keine Diagnose gestellt. AI wird im Bereich der Diagnose bereits in einigen Jahren führend sein, und nicht mehr zwingend die Ärzte – zumindest was Patienten im Erwachsenenalter betrifft. Prim. REITSAMER: AI wird uns auch bei der Verlaufsdiagnostik unterstützen, sie wird also Aussagen darüber treffen können, ob ein Befund besser oder schlechter geworden ist – z. B.: Das Volumen einer Schwellung hat zu- oder abgenommen. Gewisse Teile der Diagnostik lassen sich damit bis zu einem gewissen Grad automatisieren. Durch entsprechendes Training wird die AI auch dazu befähigt, longitudinale Prognosen sowohl für bereits erkrankte als auch für heute noch gesunde Menschen mit entsprechenden Risikofaktoren zu erstellen. Um bei letzteren Personen eine Überdiagnostik mit falsch positiven Ergebnissen zu vermeiden, muss der Fokus auf jene Ergebnisse gelegt werden, die eine Erkrankung in den nächsten zehn Jahren ausschließen. Diesen Patienten kann sofort Entwarnung gegeben werden, die anderen sind genauer zu untersuchen. Prof. AIGNER: In einigen Jahren wird die Computerrechenleistung nicht nur groß genug sein, um einzelne Erkrankungen zu erkennen, sondern sie wird auch die AI dazu befähigen, automati-

Sie arbeiten beide an einem Forschungsprojekt der Paracelsus Medizinischen Universität (PMU), um die Diagnostik von seltenen Erkrankungen mittels der AI zu erleichtern. Dürfte ich Sie bitten, davon zu berichten? Prof. AIGNER: In dem Forschungsprojekt, welches das Uniklinikum Salzburg gemeinsam mit der PMU und der Firma Symptoma durchführt, werden Krankenakten der letzten Jahrzehnte auf seltene, nicht diagnostizierte und vordefinierte Erkrankungen im Erwachsenenalter gescreent. Die AI findet Muster mittels semantischer Textanalyse von Arztbriefen sowie Labor- und Bildbefunden. Prim. REITSAMER: Die AI errechnet daraufhin eine Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer bestimmten Erkrankung. Liegt die Wahrscheinlichkeit bspw. bei 60 %, wird der Patient zu einer Spezialdia­ gnostik eingeladen, die oft eine genetische Analyse mit Next-Generation-Sequencing beinhaltet. Dank der Information der AI sehen Ärzte genauer hin, was die dia­ gnostische Treffsicherheit erhöht.

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siert Daten aus Krankenakten mit aktuellen Vitaldaten zu verknüpfen. Prim. REITSAMER: Wenn die AI nicht nur ophthalmologische Daten, sondern auch solche zu Parametern wie Gewicht, Medikamenten, Genetik etc. sowie Verlaufsdaten zur Verfügung hat und alle Daten miteinander verknüpft, lässt sich die diagnostische Treffsicherheit deutlich erhöhen – und es können auch bislang unbekannte pathophysiologische Zusammenhänge erkannt werden. AI wird außerdem eine Präzisionsmedizin hinsichtlich der Diagnose mit Biomarkern und der individuell passenden Therapie ermöglichen. Welche Vorteile bzw. Gefahren sehen Sie im Einsatz von AI? Prof. AIGNER: AI kann blinde Flecken in der Medizin besser abdecken, als spezialisierte Fachärzte es heute vermögen. Davon werden Patienten direkt profitieren. Eine Gefahr stellen sowohl die Verfügbarkeit von individuellen Gesundheitsdaten im öffentlichen Raum als auch deren Kommerzialisierung dar. Wenn sensible Daten in die Hände von Konzernen, Versicherungen oder auch von Arbeitgebern gelangen, geht der Schutz der persönlichen Gesundheitsdaten verloren. Obgleich ich die AI befürworte, bereitet mir das Kopfzerbrechen. Ist denn die Medizin dazu bereit, AI zu verwenden? Prof. AIGNER: Schon heute werden von großen Firmen durch das Suchverhalten und die Einkäufe von Kunden recht genaue Analysen des Gesundheitszustandes von Letzteren generiert. Patienten stehen AI meist offen gegenüber, zumindest jene, die Smartwatches

X Tabelle: Diagnostische Abklärung bei Verdacht auf eine erbliche Netzhautdystrophie Schritt 1 Abklärung von klassischen Symptomen (u. a. von Nachtblindheit, Nystagmus, lichtsuchendem Verhalten)

Schritt 2

Anamnese und Stammbaumanalyse

Schritt 3 Klinischer Befund durch ophthalmologische Untersuchung (inkl. der Perimetrie, OCT, Autofluoreszenz und ggf. Elektrophysiologie

Patient zeigt Hinweise für erbliche Netzhauterkrankung: Bestätigung durch molekulargenetische Untersuchung (bspw. RPE65-Mutation für erbliche Netzhautdystrophie) oder Überweisung an ein Spezialzentrum


Hausarzt Rare Diseases und andere digitale Devices in diesem Bereich nutzen. Mediziner haben hingegen eher einen konservativen Zugang, für sie sind das Arzt-Patienten-Gespräch und die ärztliche Kunst unersetzlich. Gerade in den konservativen Fächern wird AI unumgänglich sein, und das früher, als den Skeptikern lieb ist. Das ärztliche Berufsbild wird sich anpassen müssen. Prim. REITSAMER: Ich bin davon überzeugt, dass Ärzte derzeit keine Angst vor der Zukunft haben müssen, denn die Roboter werden uns nicht ersetzen. Ganz im Gegenteil: AI wird es uns erlauben, noch „individueller“ auf Patienten einzugehen. AI wird auch eine Ökonomisierung erzielen, da Erkrankungen früher behandelt sowie eine höhere Treffsicherheit bei der Diagnostik und der Wahl der Therapie erzielt werden kann. Die Interviews führte Emanuel Munkhambwa.

X Infobox: Anzeichen und Symptome von erblichen Netzhauterkrankungen (IRD) Visusbeeinträchtigung: Verlust der Sehschärfe: kleine Kinder < 20/200; Jugendliche/Erwachsene3 20/200. Eingeschränktes Sichtfeld: Patienten geben „Tunnelblick“ an. Eltern geben an, dass kleine Kinder bei schlechten Lichtverhältnissen gegen Gegenstände liefen. Reduziertes Farbsehen Nachtblindheit Erschwerte Dunkeladaption Lichtempfindlichkeit Fundusanomalien: Ältere Patienten mit Pigmentveränderungen, Netzhautdystrophie, Gefäßattenuation, Optikus­ abblassus Fehlende Fundus-Autofluoreszenz Physische Anomalien: Nystagmus Fehlendes Fixieren und Folgen bei Kleinkindern Andere Systeme/Organe: Einige IRD können zu Syndromen führen und weitere Systeme/Organe beeinträchtigen, bspw. bewirkt das Usher-Syndrom einen Hörverlust. Elektrophysiologisch:

* RetNet: Genes and Mapped Loci Causing Retinal Dihttps://sph.uth.edu/retnet/home.htm; Zugriff: seases; https://sph.uth.edu/retnet/home.htm 19.02.2021.

Ganzfeld-Elektroretinogramm (ERG) vermindert bzw. nicht messbar

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ATTRv: Vererbte Amyloidablagerungen

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Experte zum Thema: Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Löscher Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck

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Rasch progrediente Neuropathie bzw. Herzinsuffizienz als Leitsymptome

Neurologische Beschwerden

+++ Auf rasch progrediente Neuropathien achten +++ Wirksame kausale Therapien der ATTR-PN und ATTR-CM verfügbar +++ Krankheitsbeginn in Österreich vorwiegend nach dem 50. Lebensjahr +++ Später einsetzende Wild-Typ-TTR-Amyloidose vermutlich unterdiagnostiziert +++ Amyloidosen bezeichnen im Allgemeinen die Ablagerung von abnorm gefalteten Proteinen als nicht lösliche Fibrillen im Gewebe – die wohl bekannteste Manifestationsform stellt die AlzheimerKrankheit dar. Daneben existieren aber auch Amyloidosen, die zu den seltenen Erkrankungen zählen, etwa die hereditäre Transthyretin-Amyloidose, abgekürzt als ATTRv[ariant]. Bei dieser führt eine genetische Mutation dazu, dass das vorwiegend in der Leber gebildete Transportprotein TTR in Monomere zerfällt, anstatt stabile Tetramere zu bilden. Die Monomere verklumpen sich anschließend zu Fibrillen, die sich in unterschiedlichen Geweben ablagern können. Man unterscheidet zwischen der neurologischen Manifestationsform mit Polyneuropathie (ATTR-PN) und der kardialen Form mit Kardiomyopathie (ATTR-CM). Zudem gibt es gemischte Varianten.

Typische Verläufe identifizieren In der Literatur wird die ATTRv häufig durch den Beginn um das 30. Lebens-

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jahr charakterisiert, der Onset inkludiert meist autonome Symptome (wie Durchfälle) und Gewichtsverlust. „Das trifft aber nur auf die klassische hereditäre Form zu, die in Endemiegebieten wie Portugal, Schweden oder Japan verbreitet ist“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Löscher, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck. „Außerhalb dieser Endemiegebiete kommt es meist zu einer Late-Onset-Amyloidose, bei der die Symptome mit 50 bis 60 Jahren beginnen und nur wenige autonome Zeichen vorliegen. Interessanterweise sind die Mutationen im TTR-Gen aber häufig dieselben wie in den Endemiegebieten.“ Bei den Patienten, die in deutschen und österreichischen Zentren betreut werden, ist die gemischte Form der TTRAmyloidose am häufigsten (45 %), gefolgt von einer vorwiegend neurologischen (30 %) bzw. kardialen Symptomatik (25 %).1 Die diagnostisch wichtigsten Beschwerden werden nachfolgend dargestellt.

„Das Kardinalsymptom, das die ATTRPN von anderen Neuropathien unterscheidet, ist die sehr rasche Progredienz“, macht der Neurologe aufmerksam. „Innerhalb einiger Monate kann man deutliche Verschlechterungen beobachten. Die Neuropathie ist mit einer Gangunsicherheit assoziiert und führt unter Umständen rasch zu Lähmungen.“ Darüber hinaus sollte an eine Amyloidose gedacht werden, wenn die Hände sehr früh von der Neuropathie betroffen sind. „Eine Red Flag stellt in diesem Zusammenhang ein beidseitiges Karpaltunnelsyndrom in der Patientengeschichte dar“, gibt Prof. Löscher zu bedenken. Die Neuropathie könne auch mit einem Gewichtsverlust einhergehen, autonome Funktionsstörungen, z. B. gastrointestinale Symptome, eine erektile Dysfunktion, eine orthostatische Hypotonie oder Harninkontinenz1, seien hierzulande – wie bereits erwähnt – eher selten.

Kardiologische Beschwerden Bei der ATTR-CM bzw. bei Mischformen stehen klassische Herzinsuffizienzsymptome im Vordergrund. „Tagesmüdigkeit, Kurzatmigkeit beim Treppensteigen, eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Belastungsdyspnoe und Beinödeme weisen auf eine geschwächte Herzleistung hin“, so Prof. Löscher. Im weiteren Verlauf könne es auch zu einem Aszites oder einer Lebervergrößerung kommen, „aber glücklicherweise suchen die Patienten uns im Normalfall schon viel früher auf.“

Genetik zur Diagnosesicherung Im Rahmen der neurologischen Untersuchung können anhand einer

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Hausarzt Rare Diseases Gewebebiopsie Amyloidablagerungen festgestellt werden. „Jedoch macht man das heutzutage kaum mehr, da sich genetische Untersuchungen einfach und schnell durchführen lassen und auch schon relativ günstig geworden sind. Bei Verdacht auf eine ATTRv kann man also direkt die genetische Testung vornehmen“, so Prof. Löscher. Bestehen kardiale oder Mischformen, sind in der Echokardiographie und der kardialen MRT typische Veränderungen erkennbar, etwa hinsichtlich der Wanddicke, der Füllungsmuster und der linksventrikulären Ejektionsfraktion bzw. des aus der MRT ersichtlichen Late-Gadolinium-Enhancements. Statt einer Biopsie kommt immer häufiger die nicht invasive Skelettszintigraphie zum Einsatz.2 „Sie ist sehr spezifisch und gut zur Diagnose der kardialen Amyloidose geeignet. Zwecks Sicherung der Diagnose wird danach eine genetische Testung eingeleitet“, macht der Experte aufmerksam.

aus Infobox 2 ersichtlich ist, konsultieren die meisten Patienten bereits im PNP-Stadium 1 einen Arzt. Die Ansatzpunkte der Medikamente sind verschieden: Der als erster zugelassene Wirkstoff Tafamidis stabilisiert das TTR-Tetramer, während Inotersen und Patisiran als „gene silencer“ fungieren und mittels Antisense-Oligonukleotiden bzw. mRNA-Interferenz die TTR-Synthese hemmen.3 „Die Progression der Neuropathie kann durch die kausale Therapie verzögert oder im besten Fall sogar aufgehalten werden“, berichtet der Experte. Neuere 2-Jahres-Daten zeigen auch, dass die Wirksamkeit zumindest über diesen Zeitraum anhalte. „Für die Therapie der kardialen Amyloidose ist derzeit nur Tafamidis zugelassen“, ergänzt Prof. Löscher. „Hier zeigte sich in Studien eine Reduktion der Mortalität und im Beobachtungszeitraum kam es auch zu weniger Hospitalisierungen als in der Kontrollgruppe.“

Kausale Behandlung verfügbar

Symptomatische Behandlungsmöglichkeiten

Während die Lebertransplantation früher als einzige kausale Therapiemöglichkeit galt, stehen mittlerweile auch medikamentöse Therapien zur Verfügung, die in der Lage sind, den Krankheitsverlauf zu modifizieren. „Die Lebertransplantation ist nur bei Patienten unter 50 Jahren ein Thema. Da es in Österreich aber ausschließlich ältere Patienten gibt, haben wir keinen einzigen mit transplantierter Leber“, berichtet Prof. Löscher. Für die ATTR-PN sind drei unterschiedliche Wirkstoffe zugelassen (siehe Infobox 1). Alle sind für das PNP-Stadium 1 (nach Coutinho) geeignet, wenn noch keine Gehhilfen erforderlich sind, bzw. zwei auch für das PNP-Stadium 2, wenn bereits Gehhilfen benötigt werden. Wie

Ergänzend können folgende Therapien eingesetzt werden, um die Symptome zu mildern: • Polyneuropathie: Geeignet sind eine Schmerztherapie mit Medikamenten, die für neuropathische Schmerzen zugelassen sind (beispielsweise mit Pregabalin, Gabapentin oder trizy­ klischen Antidepressiva), sowie eine Physiotherapie. • Kardiomyopathie: Prinzipiell gelten dieselben Therapieempfehlungen wie für Patienten mit Herzinsuffizienz. Allerdings steht in der Praxis der Einsatz von Diuretika im Vordergrund, da Betablocker und ACE-Hemmer auch in niedriger Dosierung zu einer symptomatischen Hypotonie führen können und mitunter schlechter vertragen werden als bei nicht amyloidbedingter Herzinsuffizienz.4

X Infobox 1: Kausale Therapie der ATTR Zugelassene Substanzen bei Polyneuropathie: Tafamidis: oral, für Stadium 1 Inotersen: subkutan, für Stadium 1 & 2 Patisiran: intravenös, für Stadium 1 & 2 Zugelassene Substanzen bei Kardiomyopathie: Tafamidis: oral

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Mortalität durch frühe Zuweisung senken Wird die ATTRv nicht entsprechend diagnostiziert und behandelt, liegt das mittlere Überleben bei etwa zehn Jahren nach Auftreten der ersten Symptome. „Es wäre wichtig, dass niedergelas-

X Infobox 2: Hereditäre TTR-Amyloidose in Österreich5 Im Rahmen einer 2020 publizierten Studie wurden österreichische Patienten mit ATTRv begleitet: Alter beim Onset: Median: 61,7 Jahre, Range: 45-80 Jahre Zeit bis zur Diagnose: Median: 21,8 Monate Initiale Beschwerden: kardial: 54,5 %, Polyneuropathie: 22,8 %, gemischt: 13,8 %, gastrointestinale und andere Beschwerden: 9 % NYHA-Klasse bei Erstvorstellung: 0: 18 %, I: 9 %, II: 64 %, III: 9 % PNP-Stadium bei Erstvorstellung: 0: 54,5 %, 1: 55,5 %

sene Ärzte früh an eine ATTRv denken und die Patienten zur Abklärung überweisen. In den meisten Bundesländern etablieren sich bereits AmyloidoseZentren“, berichtet der Neurologe. Bei der laufenden Betreuung der Patienten müsse lediglich darauf geachtet werden, dass sie regelmäßig ihre Rezepte bekämen, bzw. sei im Fall einer Verschreibung von Patisiran die intravenöse Therapie zu begleiten. „Tafamidis und Inotersen nehmen die Patienten eigenständig ein bzw. spritzen es sich“, so der Experte. „Auch bei älteren Patienten soll an eine TTR-Amyloidose gedacht werden“, unterstreicht Prof. Löscher. Denn die Wild-Typ-TTR-Amyloidose trete in der Mehrzahl der Fälle jenseits des 70. Lebensjahres auf. „Patienten haben meist leichtere und weniger rasch progrediente Neuropathien als bei der ATTRv. Kardiale Probleme stehen im Vordergrund“, informiert der Neurologe. Die Prävalenz sei bislang unterschätzt worden – so könnten ein Viertel der über 80-jährigen und 13 % der über 60-jährigen Patienten mit Herzinsuffizienz vom HFpEF-Typ an dieser Form der Amyloidose erkrankt sein.3 Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc

Quellen: 1 Hund E et al., Akt Neurol 2018; 45: 605-616. 2 Arnheim K, CardioVasc 2019; 19: 63. 3 Ihne S et al., Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 159-66. 4 Yilmaz A et al., Kardiologe 2019; 13: 264-291. 5 Auer-Grumbach M et al., J Clin Med 2020; 9: 2234.


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Schwellungen ohne Allergiebeteiligung

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Beim hereditären Angioödem zeigen Antihistaminika und Co keine Wirkung

Das hereditäre Angioödem (HAE) ist – bis auf den sehr seltenen Typ III – durch einen C1-Inhibitor-Mangel charakterisiert. Anders als bei etwa 80 % der Angioödeme, die durch Histamin vermittelt werden, führt beim HAE der vasoaktive Botenstoff Bradykinin zur Schwellung des Gewebes. Die Ödem­ attacken verlaufen rezidivierend. Betroffene Familien zu identifizieren und über die Erkrankung aufzuklären, hat einen großen Stellenwert, da Patienten Notfallmedikamente einlagern müssen. V. a. bei Larynxödemen besteht akuter Handlungsbedarf.1,2 Leider dauert es häufig lange, bis Betroffene die richtige Diagnose erhalten, weil insbesondere die Magen-DarmSymptomatik sehr unspezifisch ist. Durch eine eingehende Anamnese können Hausärzte dazu beitragen, zwischen histamin- und bradykininvermittelten Angioödemen zu unterscheiden. Das ist insofern wichtig, als beim HAE andere Präparate für die Behandlung eingesetzt werden müssen und Todesfällen durch

Ersticken nur so vorgebeugt werden kann.3

kann neben anderen anamnestischen Faktoren (siehe Tabelle) den Verdacht auf eine Vermittlung durch Bradykinin erhärten. Zudem zeigt eine probatorische Therapie mit Antihistaminika und Gluko­ kortikoiden beim HAE keine Wirkung. Die Ödeme können bis zu einer Woche lang bestehen bleiben.1 Den rezidivierenden Attacken gehen manchmal Prodromi wie Abgeschla-

In der Regel keine Urtikaria Werden die Ödeme durch den Botenstoff Histamin ausgelöst, entstehen in vielen Fällen jene juckenden Quaddeln, die für die Urtikaria typisch sind. Für ein HAE ist das jedoch ungewöhnlich und

X Tabelle: Unterscheidung zwischen der Vermittlung durch Histamin und jener durch Bradykinin1

Anamnese

Ödeme Urtikaria Ansprechen auf Antihistami­ nika und Glukokortikoide

Histaminvermittelte Angioödeme

Bradykininvermittelte Angioödeme

Negative Familienanamnese; Angioödem tritt oft einmalig und ohne GI-Beschwerden auf

Positive Familienanamnese; rezidivierende Symptomatik, Manifestation im 1. oder 2. Lebensjahrzehnt, GI-Beschwerden möglich

Meist im Gesicht

Meist im GI-Trakt oder an den Extremitäten

Häufig

In der Regel nicht

Ja

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Hausarzt Rare Diseases genheit, Durstgefühl, depressive Verstimmung, Aggressivität und ein Erythema marginatum voraus. Etwa 50 % der Betroffenen berichten von solchen Prodromi. Ödemattacken treten hauptsächlich in folgenden Körperregionen auf:1,2 • Haut: Schwellungen an Extremitäten, im Gesicht und an den Genitalien; selten mit Juckreiz, häufig mit Spannungsgefühl, gelegentlich mit Schmerzen. • Magen-Darm-Trakt: starke, krampfartige Bauchschmerzen, Übelkeit, wässriger Durchfall, manchmal begleitender Aszites. • Larynx-/Pharynx: Ödeme, die ca. 1 % der Fälle ausmachen; mitunter nach Zahnoperationen oder Tonsillektomie (siehe Infobox 1); können zur Erstickung führen. Weitere betroffene Regionen stellen in seltenen Fällen Hypo- oder Oropharynx, Zunge, ableitende Harnwege oder andere Organe dar. Zu beachten ist, dass die Magen-Darm-Attacken bei manchen Patienten auch ohne Hautsymptome auftreten, weswegen sie leicht mit einem akuten Abdomen oder einer Appendizitis verwechselt werden können.2

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Notfälle identifizieren Patienten, die Larynx- oder Pharynxödeme aufweisen, müssen als Notfall behandelt werden. Wenn eine hochgradige Dyspnoe vorliegt, besteht akute Lebensgefahr. Ärzte sollten bei Ödemen im Kopf-Hals-Bereich sicherstellen, dass die Atemwege frei sind, Sauerstoff verabreichen und den Oberkörper hochlagern. Eine frühzeitige Intubation ist bei inspiratorischem Stridor, zunehmender Schwellung trotz passender Therapie und sinkender Sauerstoffsättigung einzuleiten. Danach sollten die behandelnden Mediziner eine stationäre Aufnahme und Überwachung der Patienten veranlassen.1 Treten wässrige Diarrhöen in Kombination mit einem Aszites auf, kann der daraus resultierende Flüssigkeitsverlust eine Hämokonzen­ tration mit Kreislauf-

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symptomen bis hin zum Schock hervorrufen.2 Die Hypovolämie lässt sich mit einer Infusionstherapie verhindern.1

Laborwerte zur Klassifikation Im Rahmen der Labordiagnostik werden bei Verdacht auf ein HAE drei Parameter erhoben:2 • C1-Inhibitor-Aktivität, • C1-Inhibitor-Konzentration, • C4-Konzentration. Die Ergebnisse helfen dabei, Typ I (85 %) von dem selteneren Typ II zu unterscheiden. Liegt Typ I vor, betragen die Werte weniger als 50 % des Referenzwerts – lediglich C4 kann sich in Einzelfällen im Referenzbereich befinden. Bei Typ II sind die C4-Konzentration sowie die Aktivität des C1-Inhibitors verringert, während die Konzentration des C1-Inhibitors normal oder sogar erhöht erscheint.1,2 Da die Werte in den ersten Monaten nach der Geburt noch stark schwanken können, sind die genannten Parameter erst nach dem zwölften Lebensmonat aussagekräftig. Trotz eingeschränkter Zuverlässigkeit können sie bereits davor diagnostische Hinweise geben.2 Sind die klinischen Symptome und die Laboruntersuchungen eindeutig, ist der genetische Nachweis einer Mutation nicht notwendig. Erbracht werden sollte er jedoch bei widersprüchlichen Ergebnissen, etwa zwischen C1-Inhibitor-Aktivität und klinischem Erscheinungsbild.2

Von Akuttherapie bis Langzeitprophylaxe Das Behandlungsziel besteht darin, on demand eine wirksame Therapie bereitzuhalten, aber auch Ödemattacken generell vorzubeugen. Zur akuten Therapie von Ödemattacken im Rahmen eines HAE des Typs I und II eignet sich ein Konzentrat, das die Kallikrein-KininKaskade korrigiert, welche durch den C1-Inhibitor-Mangel gestört ist. Unabhängig vom Schweregrad der Schwellungen tritt eine Linderung der Symptome etwa 30 Minuten nach der Injektion des Präparates ein. Das Sicherheitsprofil der

X Infobox 1: Mögliche Triggerfaktoren für Attacken2 Zwar treten die meisten Ödemattacken spontan und ohne einen ersichtlichen Auslöser auf, jedoch konnten auch einige mögliche Triggerfaktoren identifiziert werden: Traumen – u. a. Stöße, Druck, Zahnoperationen, Tonsillektomie, Intubation, psychische Stresssituationen, grippale Infekte und Erkältungskrankheiten, Menstruation oder Ovulation, Östrogene in Form von Kontrazeptiva oder einer Hormonersatztherapie, Einnahme von ACE-Hemmern oder Sartanen. Cave: Bei Operationen treten die Ödemattacken vier bis 36 Stunden nach dem Eingriff (im Schnitt: 14 Stunden danach) auf!

C1-Inhibitor-Konzentrate ist sehr günstig. Allerdings sollten Hausärzte – wie bei allen Patienten, welche Plasmapräparate erhalten – auf eine ausreichende Hepatitis-B-Immunisierung achten. Eine Kurzzeitprophylaxe sollte vor (zahn-)medizinischen Eingriffen erwogen werden, eine Dauerprophylaxe insbesondere bei mehr als zwölf schweren Attacken pro Jahr bzw. einer HAE-Symptomatik an mehr als 24 Tagen pro Jahr.1,2 Neben den C1-Inhibitor-Konzentraten gibt es die Therapiemöglichkeit mittels eines Bradykinin-B2-Rezeptorantagonisten bzw. eines gefrorenen Frischplasmas, wobei Letzteres nur dann eingesetzt werden sollte, wenn keines der anderen Präparate verfügbar ist. Patienten sind in jedem Fall in der Heimselbstbehandlung zu schulen, zudem müssen Ärzte sie daran erinnern, einen Notfallausweis sowie Dosen des verordneten Präparates zur Selbstadministration mitzuführen.1,2 Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc Quellen: 1 AMBOSS, Angioödem, Stand: 08/2020. 2 Bork K et al., Leitlinie: Hereditäres Angioödem durch C1-Inhibitor-Mangel, Allergo J Int 2019; 28: 16-29. 3 Hahn J et al., Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 489-96.

X Infobox 2: Information für Patienten Patienten haben die Möglichkeit, sich auf zwei Portalen mit Österreichfokus über ihre Erkrankung zu informieren: Österreichische Selbsthilfegruppe für HAE: www.hae-austria.at Infoportal HAE: www.hae-erkennen.at


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FCS: Triglyzeridspiegel deutlich erhöht

Foto: © shutterstock.com/ Arif biswas

Das Familiäre Chylomikronämie-Syndrom (FCS) bedingt eine strenge Ernährungsweise

In Österreich sind etwa 20 bis 30 Personen von der seltenen angeborenen Fettstoffwechselstörung FCS betroffen, die mit stark erhöhten Triglyzeridkonzentrationen im Plasma einhergeht. Menschen mit FCS weisen neben der damit verbundenen Chylomikronämie meist eine der folgenden Problematiken auf: rezidivierende Pankreatitis, Hepatosplenomegalie, Lipaemia retinalis oder eruptive Xanthome.

Auffällige Blutwerte

Foto: © Thomas Stulnig, privat

Die autosomal-rezessive Störung wird meist durch Mutationen in der Lipoproteinlipase verursacht und führt zur Akkumulation von Chylomikronen im Plasma und damit zur Hypertriglyzerid­ ämie.1 Die Chylomikronen bzw. großen Lipoproteine, die der Darm während der Nahrungsfettaufnahme bildet, zeichnen für die extrem hohen TriglyExperte zum Thema: Prof. Dr. Thomas Stulnig Vorstand der 3. Med. Abt. und Karl Landsteiner Institut für Stoffwechselkrankheiten und Nephrologie, Klinik Hietzing, Wiener Gesundheitsverbund

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zeridwerte verantwortlich, wie Prof. Dr. Thomas Stulnig, Facharzt für Innere Medizin sowie Experte für Stoffwechsel und Hormone, erläutert: „Wer unter FCS leidet, weist eine bis zu hundertfach erhöhte Triglyzeridkonzentration im Plasma auf. Der Referenzwert liegt bei 150 mg/dl. Bei diesen Patienten beträgt der Wert nicht selten schon im Kindesalter > 1.000 mg/dl und sinkt praktisch nie unter 200 mg/dl.“ Das mache Betroffene stark anfällig für eine rezidivierende akute Pankreatitis, eine schwerwiegende Komplikation, die mit erhöhten Triglyzeriden einhergehe. „Wenn die Patienten sich immer in einem deutlich erhöhten Bereich befinden und andere Faktoren ausgeschlossen werden können, sollten Hausärzte an eine erbliche Stoffwechselstörung denken.“ Auffällig ist ein milchiges Serum, auf dem sich nach einer Nacht im Kühlschrank eine aus Chylomikronen bestehende Rahm-

„Wer unter FCS leidet, weist eine bis zu hundertfach erhöhte Triglyzeridkonzentration im Plasma auf.“

schicht bildet. Patienten berichten von Bauchschmerzen und viele sind, wie bereits erwähnt, von rezidivierenden Pankreatitiden betroffen. Zu den sekundären Faktoren, die ausgeschlossen werden müssen, zählen u. a. Alkoholmissbrauch und ein entgleister Diabetes. Auch eine medikamentenassoziierte Hypertriglyzeridämie sollte ausgeschlossen werden.1

Compliance erforderlich Da das Risiko, eine Pankreatitis zu entwickeln, mit der Höhe des Triglyzeridspiegels korreliert, steigt dieses bei Spiegeln von über 2.000 mg/dl kontinuierlich. Akute abdominelle Schmerzattacken, die eine Hospitalisierung erfordern können, sind die Folge. „Die Lebensqualität der Patienten leidet enorm darunter“, so Prof. Stulnig. „Deshalb ist eine möglichst frühe genetische Abklärung unabdingbar. Diese sollte an einer spezialisierten Abteilung erfolgen.“ Ist die Diagnose eindeutig gestellt, setzt ein gutes Leben mit FCS eine Lebensstilmodifikation voraus, wie Prof. Stulnig darlegt: „Über eine fettarme Ernährung allein lässt sich die Erkrankung nicht immer zufriedenstellend managen. Betroffene dürfen


nur 10-15 % des täglichen Energiebedarfs bzw. 15-20 g Fett pro Tag zu sich nehmen.“ Die lebenslange fettarme Ernährung gilt als Eckpfeiler der Therapie von FCS.2 Jene sollte idealerweise zu 50 % aus Triglyzeriden mit mittelkettigen Fettsäuren, den sogenannten MCT-Fetten, bestehen, da diese für einen geringeren Anstieg der Triglyzeride im Blut sorgen. Sie gelangen zumeist direkt über die Pfortader in die Leber und werden nicht in Form von Chylomikronen über den Ductus thoracicus in die Blutbahn transportiert. Des Weiteren sollten Erkrankte Alkohol meiden. Eine FCS-assoziierte Ernährung bedarf nicht nur der Disziplin und Mitarbeit von Patienten, sondern sollte auch mit der Unterstützung von Ernährungsberatern geplant werden.

Pharmakologisch entgegenwirken 2019 wurde mit Volanesorsen ein Medikament zur Behandlung einer ausgeprägten Hypertriglyzeridämie zugelassen. Prof. Stulnig führt aus: „Dabei handelt es sich um ein Antisense-Oligonukleotid, das zur Therapie von FCS-Patienten mit hohem Pankreatitis-Risiko zugelassen ist. Der Wirkstoff bindet selektiv an die ApoC-III-mRNA und erzielt dadurch einen Abbau derselben, was die Synthese des Proteins ApoC-III verhindert. Auf diese Weise kann der Körper Triglyzeride über LPL-unabhängige Reaktionswege abbauen.“ Weil Pankreatitiden bei Menschen mit FCS häufiger vorkämen als bei Patienten, die lediglich unter hohen Triglyzeridwerten litten, stelle neben der speziellen Ernährungsform die sehr wirksame medikamentöse Behandlung eine wichtige Säule der Therapie von FCS dar. „Das Präparat kann Bauchspeicheldrüsenentzündungen verhindern. Da Betroffene außerdem an Konzentrationsstörungen (dem sogenannten „brain fog) leiden, die mit den sehr hohen Blutfettwerten zusammenhängen, ist das Medikament für die Patienten auch in dieser Hinsicht ein Segen. Eine belastende Diät, Bauchschmerzen, die entzündete Bauchspeicheldrüse sowie Störungen der Konzentration – all das kann die Psyche massiv beeinträchtigen.“

Fazit Der Experte plädiert dafür, bei Patienten mit hohen Triglyzeridspiegeln ganz genau hinzuschauen, da manche Erkrankte erst als Erwachsene oder im Rahmen einer Schwangerschaft und der damit einhergehenden Untersuchungen entdeckt werden. Patienten mit persistierenden Triglyzeridspiegeln von über 1.000 mg/dl, die therapieresistent seien und keine Sekundärursachen zeigten, sollten unbedingt an ein Expertenzentrum überwiesen werden. Mag.a Sonja Streit

Literatur: 1 Falko JM., Familial Chylomicronemia Syndrome: A Clinical Guide For Endocrinologists. Endocr Pract. 2018 Aug;24(8):756-763. 2 Baass et al., Familial chylomicronemia syndrome: an under-recognized cause of severe hypertriglyceridaemia. J Intern Med. 2020 Apr;287(4):340-348.

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Gestörte Blutgerinnung

Foto: © shutterstock.com/ Marian Weyo

Menorrhagien können auf ein von-Willebrand-Syndrom hinweisen

Das von-Willebrand-Syndrom (vWS) gilt als die häufigste angeborene Blutgerinnungsstörung und betrifft etwa ein Prozent der Bevölkerung. „Im Gegensatz zur Hämophilie, der klassischen Bluterkrankheit, wird das vWS autosomal vererbt, sodass sowohl Mädchen als auch Buben betroffen sind“, erläutert ao. Univ.-Prof. Dr. Werner Streif,

Foto: © MUI

Experte zum Thema: Ao. Univ.-Prof. Dr. Werner Streif Department für Kinderund Jugendheilkunde, Medizinische Universität Innsbruck (MUI)

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Department für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Innsbruck (MUI). Unabhängig ob der von-Willebrand-Faktor (vWF) verringert ist (Typ 1), praktisch vollständig fehlt (Typ 3) oder einfach nicht normal funktioniert (Typ 2) – immer kommt es zu einer erhöhten Blutungsneigung (siehe Tabelle S. 32).1

„Eine sorgfältige Familienund Individualblutungsanamnese kann nicht durch einfache Screeningtests wie PT und PTT ersetzt werden“

Eingehende Blutungsanamnese nötig „Das vWS ist typischerweise gekennzeichnet durch einen ‚mukokutanen‘ Blutungstyp, es treten also vor allem Schleimhaut- und Hautblutungen auf, hingegen weniger Blutungen in tiefe Strukturen, wie Muskeln und Gelenke“, macht Prof. Streif aufmerksam. Der Blutungstyp hänge dabei stark vom Alter ab. „Eines der ganz charakteristischen Hauptsymptome, das wir bei betroffenen Frauen sehen – sowohl bei jugendlichen gleich mit der Menarche als auch bei erwachsenen –, stellen Menorrhagien dar.“ Außerdem trete häufig Nasen-

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Hausarzt Rare Diseases bluten auf, sowie verlängertes Bluten bei kleinen Wunden und ganz variabel vermehrtes Bluten bei Operationen. „Wenn Kinder beim Zahnen bluten oder leicht blaue Flecken bekommen, können das ebenfalls Hinweise für ein vWS sein“, so der Experte. Da Typ 1 und 2 meist eine milde bis moderate Blutungsneigung aufweisen, muss gezielt nachgefragt werden. „Die Diagnose ist auch heute noch nicht ganz einfach“, warnt Prof. Streif. Denn: „Der vWF wird durch die normalen Screeninguntersuchungen, etwa mittels PTT und PT, nicht erfasst bzw. nur dann, wenn gleichzeitig der Faktor VIII niedrig ist, was besonders bei der schweren Form Typ 3 der Fall ist.“ Eine molekulargenetische Untersuchung führe zudem gerade bei vWS-Typ 1 häufig nicht zur Diagnose. Deshalb sei die Blutungsanamnese essentiell. „Ärzte sollten daran denken, auch die vWF-Aktivität bestimmen zu lassen“, unterstreicht der Experte. Die Untertypisierung kann in der Praxis nur in Speziallaboren erfolgen und benötigt die Untersuchung der Bindungsfähigkeit zu Faktor VIII, die elektrophoretische Beurteilung der vWF-Multimeren-Banden und die Untersuchung der Thrombozytenaggregation (RIPA-Test). Aber, so Prof. Streif: „Nicht jede niedrige vWF-Aktivität ist ein vWS; beim vWS liegt die Aktivität unter 30 bis 40%. Menschen mit Blutgruppe 0 haben physiologischerweise eine deutlich niedrigere vWF-­Aktivität.“

Leichtes bis schweres vWS behandeln Bei kleineren Blutungen (z. B. aus Nase oder Mund) kann die Hämostase oft durch eine verlängerte Kompressionszeit erreicht werden. Außerdem eignen sich topische hämostatische Wirkstoffe. „Das Antifibrinolytikum Tranexamsäure (TXA) ist die Basistherapie bei durch vWS verursachten Blutungen“, erklärt Prof. Streif. Der Wirkstoff ist bei zahnärztlichen Eingriffen oder bei Menorrhagie sehr wirksam und wird in Tablettenform oder als lokale Spüllösung (auch Mundspüllosung bei Zahnfleischbluten) eingesetzt. Starke Menstruationsblutungen können zudem durch den Einsatz von kombinier-

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X Tabelle: Manifestationsformen des vWS5 Typ

Prozentuale Verteilung

Charakteristika

vWS-Typ 1

ca. 80 %

Quantitativer Mangel an vWF

vWS-Typ 2 A/B/M/N

15-20 %

Qualitative Beeinträchtigung des vWF

vWS-Typ 3

ca. 1 %

Vollständiges Fehlen von vWF und niedriger Faktor VIII

selten

Bei schweren Grunderkrankungen durch verschiedene Mechanismen, wie Verbrauch bei Herzfehlern oder Malignomen durch Komplexbildung mit anderen Plasmaproteinen

Erworbenes vWS

ten oralen Kontrazeptiva vermindert werden.1,2 Bei schweren Ausprägungen von vWS ist eine perioperative Gabe eines FaktorVIII-hältigen vWF-Konzentrates notwendig. Zumeist findet eine Substitution sowohl vor als auch nach der Operation für einige Tage statt.1 Die Autoren der Leitlinie empfehlen, für zumindest drei Tage nach der Operation einen Zielwert der Aktivitätslevel von Faktor VIII und vWF von ≥ 0,5 IU/ml anzustreben. Eine Langzeitprophylaxe mit Faktorenkonzentraten, dazu können laut Prof. Streif auch (rekombinante) vWF-Konzentrate ohne Faktor VIII empfohlen werden, ist dann in Erwägung zu ziehen, wenn aus der Patientengeschichte starke und häufige Blutungen ersichtlich sind.3 Das Antidiuretikum Desmopressin (DDAVP) kann einmalig in hoher Dosis gegeben, im Körper gespeicherten vWF freisetzen und einen vWF-Mangel kurzfristig korrigieren. Geeignet ist Desmopressin besonders für vWS-Typ 1 und eingeschränkt nach Testung für Typ 2.1,3 „Die sehr kurze Wirksamkeit und die Gefahr der Wasserintoxikation durch die antidiuretische Wirkung sind immer zu beachten“, so Prof. Streif. Für Kinder unter zwei Jahren, Schwangere, Menschen mit Anfallsleiden und koronarer Herzkrankheit ist Desmopressin nicht geeignet.

Spezielles Management erforderlich Manche häufig verordneten Medikamente sind für Patienten mit vWS nicht

gut verträglich. „Nach der Anwendung von Medikamenten, welche die Plättchenfunktion hemmen, können sich vorhandene Symptome verstärken“, berichtet Prof. Streif. Arzneimittel wie ASS (z. B. Aspirin®), NSAR (z. B. Voltaren®) und Clopidogrel (z. B. Plavix®) verstärken eine vorhandene Blutungsneigung.4 „Paracetamol, Coxibe und Morphinderivate können bei bestehender Indikation eingesetzt werden“, so der Experte. Einen Spezialfall stellt indessen das seltene erworbene vWS dar. Es kann sekundär bei Herzfehlern wie Aorten­ stenosen, hämato-onkologischen oder Autoimmunerkrankungen auftreten.5 „Dabei profitieren die Patienten oft am meisten von einer effektiven Behandlung der Grunderkrankung. Auch im späteren Lebensalter auftretende und mit dem vWS assoziierte Angiodysplasien mit konsekutiven gastrointestinalen Blutungen sind am besten mit endoskopischen Maß­ nahmen zu behandeln“, meint Prof. Streif abschließend. Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc

Quellen: 1 Heidinger K, Von-Willebrand-Jürgens-Syndrom, e.Medpedia, Springer Verlag/Springer Medizin Verlag, abgerufen am: 24.02.2021. 2 Swami A & Kaur V, Clinical and Applied Thrombosis/ Hemostasis 2017; 23(8): 900-910. 3 Connell NT et al., ASH ISTH NHF WFH 2021 guidelines on the management of von Willebrand disease, Blood Advances 2021; 5(1): 301-325. 4 AMBOSS, Von Willebrand disease, Stand: 12/2020. 5 AMBOSS, Blutgerinnung und hämorrhagische Diathesen, Stand: 11/2020.


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Neurofibromatose Typ 1 erkennen

Foto: © Alicia Baumgartner, privat

Neurofibromatose Typ 1 (NF1) ist ein Tumorprädispositionssyndrom, bei welchem im Laufe des Lebens (neben anderen Beschwerden) Tumoren in multiplen Organsystemen entstehen können. NF1 wird meist im Kindesalter symptomatisch. Die Prävalenz der NF1 liegt bei 1/3.000 Lebendgeburten. Als erbliche Erkrankung ist NF1 angeboren, ist also bei der Geburt schon vorhanden, auch wenn Erkrankungszeichen erst zu einem späteren Zeitpunkt auftreten. Konkret wird NF1 autosomal dominant vererbt, das heißt, dass für Kinder eines Elternteils mit NF1 eine 50%ige Wahrscheinlichkeit besteht, die fehlerhafte NF1-Genvari-

Autorin: Dr. Alicia Baumgartner Pädiatrische Neurofibromatose-Ambulanz, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, MedUni Wien

ante zu erben und ebenfalls an NF1 zu erkranken.

Symptome von NF1 Das klinische Bild der NF1 variiert somit sehr stark und kann selbst innerhalb einer Familie mit ein und derselben Genveränderung sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Nachfolgend sind die häufigsten Manifestationen der NF1 zusammengefasst: Café-au-Lait-Flecken: Menschen mit NF1 haben fast immer sechs oder mehr Milchkaffeeflecken (Größe von > 5 mm vor der Pubertät; > 15 mm danach), die für gewöhnlich von Geburt an vorhanden sind oder innerhalb der ersten Lebensjahre auftauchen. Lisch-Knötchen sind Pigmentklümpchen der Iris des Auges, die üblicherweise im Kindesalter auftauchen. Weder verursachen sie medizinische Probleme, noch beeinträchtigen sie das Sehvermögen.

Sommersprossen treten nicht nur in Hautbereichen auf, die regelmäßig der Sonne ausgesetzt sind, sondern typischerweise auch in der Achselhöhle (axilliäres Freckling) und in der Leiste (inguinales Freckling). Milchkaffeeflecken ebenso wie Sommersprossen und Lisch-Knötchen sind harmlos, helfen aber oft dabei, NF1 zu diagnostizieren. Neurofibrome, die häufigsten und namensgebenden Tumoren der NF1, sind gutartige Geschwülste. Man unterscheidet kutane von plexiformen Neurofibromen. Letztere wachsen verstreut oder als Knötchen entweder unter der Hautoberfläche oder tiefer im Körper, haben die Neigung, größer zu werden und sich mit gesundem Körpergewebe zu verflechten. Da plexiforme Neurofibrome ein Risiko von 10 % haben, bösartig zu werden, müssen plötzliches Wachstum oder diesbezügliche Schmerzen unbedingt beachtet und rechtzeitig weiter abgeklärt werden. Gutartige Nerventumoren können am gesamten Körper auftreten, bei ca. 10 % der Betroffenen findet sich jedoch eine Entartung bestehender Nerventumoren zu malignen peripheren Nervenscheidentumoren (MPNST), die eine infauste Prognose haben, falls sie nicht rechtzeitig erkannt und entfernt werden. Außerdem besteht ein erhöhtes Risiko, Gliome (v. a. Optikusgliome, also niedriggradige Tumoren der Sehbahn, aber auch höhergradige Hirntumoren) zu entwickeln. Ungefähr 15 % der NF1Betroffenen entwickeln Sehbahntumoren, die manchmal auch zu Sehkraftverlust, einer Einschränkung des Gesichtsfeldes oder zu Schmerzen hinter dem Auge führen können. Weitere gehäuft auftretende Tumoren sind u. a. Brustkrebs, Phäochromo­ Autor: Assoc. Prof. Dr. Amedeo Azizi Pädiatrische Neurofibromatose-Ambulanz, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, MedUni Wien

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Foto: © beigestellt

Foto: © Dr. Amedeo A. Azizi

Unter anderem sind Café-au-Lait-Flecken für diese Erkrankung typisch

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Hausarzt Rare Diseases zytome und Stromatumoren des Darms. Aus diesem Grund wird bei Frauen mit NF1 ein Brustkrebsscreening ab dem Alter von 35 Jahren angeraten. Neben onkologischen Manifestationen haben Personen mit NF1 auch ein erhöhtes Risiko, Knochenanomalien wie Skoliosen (Wirbelsäulenverkrümmung) in circa 10 %, Tibia-Dysplasien in circa 5 % (mit oder ohne Pseudarthrosen = falsche Gelenke) sowie selten Keilbein-Dysplasien zu entwickeln. Bluthochdruck, Minderwuchs, Makrozephalie, vorzeitiger oder verspäteter Pubertätsbeginn sowie Lern- und Konzentrationsschwäche oder Epilepsie stellen weitere mögliche Symptome dar. Entwicklungsverzögerung und Lernstörungen: Bereits im frühen Kindesalter sind manchmal Entwicklungsverzögerungen wie verspätetes Krabbeln, Sitzen, Gehen und Sprechen feststellbar. Zu einem späteren Zeitpunkt können auch Lernstörungen in Form von Schwierigkeiten mit dem Schreiben, der Konzentration und dem Fokussieren beobachtet werden. Weitere Symptome: NF1 kann, wie bereits erwähnt, sehr unterschiedlich verlaufen und daher mannigfaltige Krankheitsmerkmale aufweisen. Neben Schmerzen (Kopfschmerzen) können auch Störungen des Wachstums oder des Herz-Kreislauf-Systems (hoher Blutdruck, Herzklappenfehler, Nierenarterien-Stenosen) auftreten.

Diagnose von NF1 Viele Symptome (Krankheitsmerkmale) treten altersabhängig und somit erst im Verlauf der Erkrankung auf, sodass eine Diagnosestellung insbesondere bei jungen Betroffenen schwierig sein kann. Tabelle 1 beinhaltet die Diagnosekriterien. Oft werden Personen mit einer milden Form der NF1 erst sehr spät oder gar nie diagnostiziert. Manchmal wird erst bei Diagnosestellung von Kindern klar, dass auch ein Elternteil von NF1 betroffen ist. Die Magnetresonanztomographie ermöglicht es, plexiforme Neurofibrome und Optikusgliome zu erkennen und zu kontrollieren. Molekulargenetische Untersuchungen können maßgeblich zu einer raschen Diagnosestellung beitragen.

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X Tabelle 1: NF1-Diagnosekriterien Die Diagnose gilt als gesichert, wenn mindestens zwei der folgenden klinischen Merkmale erfüllt sind: Sechs oder mehr Café-au-Lait-Flecken von einer Größe von mindestens 5 mm im Kindesalter, bzw. von 15 mm nach der Pubertät. Zwei oder mehr Neurofibrome oder ein plexiformes Neurofibrom. Sommersprossenartige Flecken (Freckling) in der Leisten- oder Achselgegend. Sehnervtumor (Optikusgliom). Zwei oder mehr Lisch-Knötchen. Charakteristische Knochenfehlbildungen. Vorhandensein eines Verwandten ersten Grades (Geschwister, Eltern) mit NF1.

Therapie bei NF1 Zu betonen ist, dass Menschen mit NF1 keine wesentliche Verkürzung der Lebenserwartung haben. Bei Verläufen mit sehr milden Symptomen und kaum merkbaren Beeinträchtigungen sind therapeutische Interventionen oft nicht notwendig. Bei schwereren Verläufen richtet sich die Therapie nach den Beschwerden. Liegen Entwicklungsverzögerungen oder Lernstörungen vor, können neuropsychologische Unterstützung und Frühförderung sinnvoll sein. Regelmäßige Routineuntersuchungen für Kinder und Erwachsene sollten eine klinische und neurologische Untersuchung sowie Visusprüfung (bei Kindern), Blutdruckmessungen und Wachstumsmessungen beinhalten, um im Falle von neurologischen oder ophtalmologischen Auffälligkeiten, Hypertonie oder zunehmendem Kopfumfang eine frühzeitige Diagnose und falls nötig Behandlung beginnen zu können. Bei Optikusgliomen und plexiformen Neurofibromen kommen, wenn dies notwendig ist, Chemotherapie, chirurgische Eingriffe und zielgerichtete medikamentöse Therapien zur Anwendung. Schmerzen lassen sich mittels vieler verschiedener Therapieoptionen behandeln. Wichtig ist, dass neu auftretende Schmerzen in einem plexiformen Neurofibrom ein Zeichen von Bösartigkeit sein können und sofortiger Aufklärungsbedarf

besteht. Kosmetische Beeinträchtigungen können unter Umständen mit operativen Verfahren gemildert werden.

Was Hausärzte tun können Allgemeinmediziner sind meist die ersten Ansprechpartner für Patienten. Ihnen kommt die wichtige Aufgabe zu, bei der Präsentation von Kindern sowie Erwachsenen mit charakteristischen Haut­ erscheinungen, etwa CALM oder Neurofibromen, an die Differentialdiagnose NF1 zu denken. Sie sollen Verdachtsfälle an ein spezialisiertes Zentrum für NF1 weiterleiten, wo (falls indiziert) mit einer gezielten Abklärung begonnen werden kann. Patienten mit NF1 benötigen eine umfassende klinische Betreuung, einige Untersuchungen können auch im niedergelassenen Bereich durchgeführt werden. Im Vordergrund steht für Hausärzte die zumindest jährliche klinische Untersuchung inklusive genauer Statuierung des Nervensystems. Schmerzhafte, schnell wachsende Knoten oder neue Funktionseinschränkungen stellen wichtige Warnsignale dar und erfordern umgehend eine weitere Abklärung. Im Kindesalter ist außerdem auf regelmäßige Messungen von Größe, Gewicht, Kopfumfang sowie Blutdruckwerten zu achten. Auf diese Weise können Hausärzte einen wichtigen Beitrag für die frühe Erkennung von NF1 und zur Minimierung von möglichen Komplikationen leisten sowie das Management der Patienten verbessern. < X Infobox: Hilfe für Patienten und Angehörige Der Verein NF Kinder, eine gemeinnützige Patientenorganisation, setzt sich für Menschen mit Neurofibromatose jeden Alters in ganz Österreich ein. Servitengasse 5/16, 1090 Wien www.nfkinder.at kontakt@nfkinder.at NF-Kinder-Expertisezentrum Gebäude: Kliniken am Südgarten – Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien www.nf-zentrum.at


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Schmerz nach Trauma Der Behandlungsalgorithmus des komplexen regionalen Schmerzsyndroms „Schmerzpatienten“ stellen als Patient­ enkollektiv im klinischen Alltag eine große Herausforderung dar. Viele von ihnen leiden an einem komplexen regio­ nalen Schmerzsyndrom (CRPS). Was versteht man darunter und wie kann man mit dem Problem umgehen? Ein Einblick in den Behandlungsalgorithmus des CRPS.

Was ist das CRPS? Das CRPS ist definitionsgemäß ein chronisches Schmerzsyndrom, welches einen

bunten Symptomenkomplex umfasst und in den meisten Fällen nach einem auslösenden Ereignis distal an einer Extremität entsteht. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Schmerz sowohl in seiner Intensität als auch in seiner Dauer jeglichen herkömmlichen Verlauf nach ähnlichem Trauma verhältnismäßig übersteigt.1,2 Der chronische Schmerz ist laut der „International Association for the Study of Pain“ (IASP) definiert als „Schmerz, der über die normale Dauer der Gewebeheilung hinaus persistiert“. Für diesen Prozess wird bei einer Abwe-

Das Wichtigste in Kürze Es ist wichtig, dass Allgemeinmediziner ein CRPS rechtzeitig erkennen, denn mit den Behandlungsansätzen, welche in diesem Artikel beschrieben sind, und mit einer frühzeitigen Intervention kann eine weitgehende Remission der Beschwerden erzielt werden. Wird das CRPS über Jahre verkannt, kann in vielen Fällen nur noch die periphere Nerven­ stimulation (PNS) als Ultima Ratio der Therapie helfen. Typischerweise geht dem CRPS ein auslösendes Ereignis voraus, oftmals sind es Frakturen oder Operationen. Meist sind die Extremitäten betroffen, die oberen etwa doppelt so häufig wie die unteren. Ein multimodaler Therapieansatz ist essentiell für eine erfolgreiche Behandlung. Die PNS bietet eine sinnvolle Behandlungsoption bei CRPS im Spätstadium, wenn herkömmliche Therapien versagt haben.

senheit von anderen Faktoren „normalerweise eine Dauer von drei Monaten angenommen“.3 Beim CRPS gilt der Schmerz selbst als Erkrankung, wohingegen er sich bei sekundären Schmerzsyndromen als Symptom einer ihm zugrundeliegenden Erkrankung manifestiert. Aktuell werden bei CRPS zwei verschiedene Subgruppen unterschieden: das CRPS I und das CRPS II. Ersteres, ehemals auch als Morbus Sudeck oder sympathische Reflexdystrophie bezeichnet, entsteht ohne einen ersichtlichen ihm zugrundeliegenden Nervenschaden. Das CRPS II hingegen, früher auch als Kausalgie bekannt, zeichnet sich dadurch aus, dass ihm stets eine Läsion peripherer Nerven vorausgeht.5

Ursachen und Verteilungsmuster Typischerweise folgt das CRPS auf ein auslösendes Ereignis, meist ein Trauma.2 Am häufigsten handelt es sich dabei um Frakturen. Operationen und andere Verletzungen können ebenfalls eine Rolle spielen.6 In populationsbasierten Studien zeigten sich über 40 % der untersuchten CRPS-Fälle als Konsequenz einer Fraktur.7,8 Frauen scheinen 3,4-mal

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Foto: © beigestellt

Autor: Univ.-Doz. Dr. Werner Girsch Spezialambulanz für Periphere Nerven- und Plexuschirurgie, MedUni Graz

häufiger betroffen zu sein als Männer, und zwar mit einem Altersgipfel von 6170 Jahren. Auch ist die obere Extremität etwa doppelt so oft betroffen wie die untere.7 Während also meistens ein Trauma das auslösende Ereignis eines CRPS darstellt, spricht man in 3-11 % aller Fälle von der Manifestation eines CRPS ohne kausalen Zusammenhang.11 Ob

ein CRPS tatsächlich spontan auftreten kann, wird weiterhin kontrovers diskutiert. Das CRPS II kennzeichnen – jedenfalls klinisch – vor allem die ständigen (auch nächtlichen) Schmerzen mit brennendem, ziehendem Charakter. Diese sind selten belastungsabhängig und kaum empfindlich in Hinblick auf Analgetika. Lokal findet sich oftmals ein positives HoffmanTinel’sches Zeichen, welches fakultativ ausstrahlt. Objektivieren lässt sich das CRPS mittels einer Schmerzskala wie der Visuellen Analogskala (VAS) oder der Numerischen Rating-Skala (NRS). Dabei erfüllt das CRPS die Definition einer NRS von > 7 sowie der Schmerzen von

X Infobox: Klinische Diagnose des CRPS anhand modifizierter Budapest-Kriterien12 1. Anhaltender Schmerz, der durch das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird. 2. In der Anamnese findet sich mindestens ein Symptom aus drei der vier folgenden Kategorien: Sensorisch: Hyperästhesie und/oder Allodynie Vasomotorisch: Asymmetrie der Hauttemperatur und/oder Veränderung der Hautfarbe Sudomotorisch/Ödem: Ödem und/oder Veränderung beim Schwitzen und/oder Asymmetrie beim Schwitzen Motorisch/trophisch: reduzierte Beweglichkeit und/oder motorische Einschränkungen (Dystonie, Tremor, Paresen) und/oder trophische Veränderungen (Haut, Haare oder Nägel) 3. Zum Zeitpunkt der Untersuchung muss mindestens ein Symptom aus zwei der vier folgenden Kategorien nachgewiesen werden: Sensorisch: Hyperalgesie auf spitze Reize (z. B. Nadelstich) und/oder Allodynie (Schmerz bei Druck auf Gelenke, Knochen und/oder Muskeln) Vasomotorisch: Asymmetrie der Hauttemperatur und/oder Veränderung der Hautfarbe Sudomotorisch/Ödem: Ödem und/oder Veränderung beim Schwitzen und/oder Asymmetrie beim Schwitzen Motorisch/trophisch: reduzierte Beweglichkeit und/oder motorische Einschränkungen (Dystonie, Tremor, Paresen) und/oder trophische Veränderungen (Haut, Haare oder Nägel) 4. Es gibt keine andere Diagnose, die diese Schmerzen erklärt.

Autorin: Dr.in Isabelle Sawetz Spezialambulanz für Periphere Nerven- und Plexuschirurgie, MedUni Graz

über sechs Monaten.Die genaue Diagnose erfolgt anhand der modifizierten Budapest-Kriterien (siehe Infobox).12

Behandlung des CRPS – multimodaler Ansatz Aufgrund der noch weitgehend unerforschten, komplexen Pathophysiologie des CRPS sowie der multiplen Beschwerden und des individuell unterschiedlichen Verlaufes stellt die Therapie des CRPS eine große Herausforderung dar. Ein standardisiertes Konzept konnte bis dato noch nicht festgelegt werden. Therapeutische Maßnahmen beinhalten medikamentöse, nichtmedikamentöse, physio- bzw. ergotherapeutische, psychologische bzw. psychiatrische und interventionelle Methoden. Je nach klinischem Erscheinungsbild sollte die Behandlung individuell angepasst werden.13 Experten sind sich jedoch einig, dass eine funktionelle Therapie, sprich Physio- und Ergotherapie, im Fokus stehen sollte, auch wenn invasive Methoden für die Behandlung verwendet werden. Das zielt darauf ab, begleitend eine Normalisierung der funktionell beeinträchtigten Extremität zu bewirken.14

Behandlungsalgorithmus im Detail

a.p. Röntgenaufnahme einer Patientin mit implantiertem Neurostimulator und position­­ierten Elektroden im Bereich des linken Plexus brachialis.

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a.p. Röntgenaufnahme eines Patienten mit implantiertem Neurostimulator und position­ierten Elektroden im Bereich des linken N. ischiadicus.

Der Behandlungsalgorithmus untergliedert sich in folgende Bereiche: • Konservativ  • Mikrochirurgisch operativ  • Schmerzpflaster  • Periphere Nervenstimulation Konservativ: Die konservative Behandlung sollte nach Ausschluss mechanischer Ursachen (z. B. Tumoren) über einen Zeitraum von maximal drei bis sechs Monaten erfolgen. Dabei ist ein interdisziplinäres Management essentiell: • medikamentös: NSAR, Opioide, ­Novalgin, Gabapentin

Foto: © Andrea Walcher

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Hausarzt medizinisch • Ergotherapie, Physiotherapie: Nerven-mobilisierungsübungen, Nachtlager­ungsschiene, manuelle Lymphdrainage • physikalische Therapie: Ultraschall, CO2, Laser • Bandagist: Kompressionsstrumpf/-bandage • Psychologie: Schmerzverarbeitung

Mikrochirurgische Intervention Hierbei geht es um die Beseitigung mechanischer Ursachen. Als Beispiele sind Tumorektomien sowie die Entfernung von allfälligen Ganglien, Implantaten etc. zu nennen. Ebenso können mikrochirurgische Neurolysen bei Nervenkompressionssyndromen indiziert sein. Bei Verdacht auf Nervenkompressionssyndrome ist eine umfassende Untersuchung des Patienten erforderlich. Diese beinhaltet eine umfangreiche klinische Untersuchung inklusive spezifischer Tests (z. B. Semmes-Weinstein-­ Monofilament-Testung zur Objektivierung der Sensibilität), eine elektroneurographische Abklärung sowie die Bildgebung mittels eines hochauflösenden Ultraschalls bzw. weiter­führend mittels einer MRT.

Schmerzpflaster Schmerzpflaster auf Capsaicin-Basis bieten einen weiteren Therapieansatz bei CRPS, wenn konservative Therapien und mikrochirurgisch-operative Eingriffe versagt haben. Das Pflaster, welches hochkonzentriertes Chilliextrakt enthält, destruiert temporär Nervenenden in der Haut. Die Anwendung des Pflasters setzt voraus, dass bei den Patienten ein begrenztes dysästhetisches Hautareal definiert werden kann. Nach den eigenen ärztlichen Erfahrungswerten zeigt sich bei etwa 50 % der mit Schmerzpflaster behandelten Patienten eine gute bzw. sehr gute Wirkung: Dies bedeutet im Konkreten: Eine Schmerzreduktion findet ohne negative Nebenwirkungen statt.

Periphere Nervenstimulation Die genaue Wirkungsweise der direkten peripheren Nervenstimulation (PNS) wurde bis heute nicht vollständig geklärt. Einen wichtigen Grundstein zur Elektrotherapie legten Melzack und Wall 1965 mit ihrer „Gate-ControlTheory“.15 Nach wie vor ist die Evidenz im Bereich der peripheren Nervenstimulation spärlich. In der 4. überarbeiteten Edition der Therapie-Guidelines von Harden et al. aus dem Jahr 2013 wird die PNS als „sinnvolle Option bei Spätstadien des CRPS, bei herkömmlichem Therapieversagen“ beschrieben. Dieser Aussage legten die Autoren Studienergebnisse zugrunde, die eine Schmerzreduktion von über 50 % bei Patienten mit CRPS und implantiertem Neurostimulationssystem zeigten.5 Zur zentralen Nervenstimulation im Rückenmark (SpinalCord-Stimulation; SCS) gibt es hingegen reichlich Evidenz. SCS hat eine Level-1-Evidenz (stärkste Evidenz) bezüglich der Behandlung von CRPS.17 Das technische System, welches bei der PNS angewendet wird, und auch die Parameter der Stimulation sind dieselben, die bei der SCS zum Einsatz kommen.

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Hausarzt medizinisch

PNS im LKH Graz Seit 2019 sind im LKH Universitätsklinikum Graz zwölf Patienten mit CRPS I oder II für die Implantation eines peripheren Nervenstimulationssystems ausgewählt worden. Die Indikati-

onsstellung erfolgt hierbei anhand von vier Selektionskriterien: • Diagnose eines CRPS I oder II nach modifizierten Buda­pest-Kriterien,12 • Schmerzen über mehr als sechs Monate (Definition des chronischen Schmerzes),

X Abbildung: Behandlungsalgorithmus und multimodaler Therapieansatz bei CRPS14 Nach Versagen medikamentöser Therapien und mikrochirurgischer Eingriffe an peripheren Nerven kommt als Ultima Ratio die periphere Nervenstimulation zum Einsatz.

Psychologische Intervention

Diagnose CRPS

Medizinische Intervention Medikamente: NSAR, tryzyklische Antidepressiva, Opioide, Antikonvulsiva, Kortikosteroide etc. CapsaicinSchmerzpflaster

Operationen an peripheren Nerven: Neurolysen, Tumorektomien, Entfernung von Ganglien, Implantaten etc.

Neurostimulation: PNS Physio-/ Ergotherapie

Psycho

therapie

Wiedererlangung der Funktion der Extremität

therapie

Schmerz

• Schmerzen anhand eines NRS oder VAS von ≥ 6, • Versagen aller konservativen und operativen Therapiekonzepte. Das verwendete System (Boston Scientific Inc) besteht aus einem implantierbaren Anteil, aus Elektroden und dem Impulsgeber sowie aus externen Komponenten, einem Steuer- und einem Ladegerät, die via Induktion die Einstellung und Veränderung der Stimulationsparameter und das erneute Aufladen des Impulsgebers erlauben. Unter den zwölf behandelten Patienten waren fünf Männer und sieben Frauen im mittleren Alter von 46,3 (24-58) Jahren. Eine Patientin litt an einem CRPS I, die anderen elf Personen an einem CRPS II. Der mittlere Schmerzscore wurde von den CRPS-II-Patienten präoperativ mit durchschnittlich 7,9 (± 1,4) auf der zehnteiligen NRS-Skala angegeben. Neun Patienten erhielten Elektroden im Bereich der oberen Extremität, zwei Patienten im Bereich der unteren und eine Patientin an der oberen und der unteren Extremität. Nachdem sich bei sämtlichen Patienten in der Testphase eine Schmerzreduktion von zumindest vier Punkten auf der NRS-Skala gezeigt hatte, wurden alle zwölf Patienten mit einem definitiven Impulsgenerator versorgt. Die durchschnittliche Schmerzreduktion belief sich dabei auf 4,5 (± 2,1) Punkte. Der durchschnittliche postoperative Schmerzscore der Patienten betrug 3,35 (± 1,4) Punkte auf der NRS-Skala.

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Hausarzt medizinisch Essentiell für den Behandlungserfolg ist die Einbindung des PNS-Systems in ein multimodales Behandlungskonzept: in Physio- und Ergotherapie sowie begleitende Psychotherapie und stationäre Schmerzrehabilitation. Dadurch soll neben der psychischen Modulation der Schmerzempfindung auch eine zerebrale Reintegration der durch das CRPS desintegrierten Extremität erfolgen.

Konklusion In Anlehnung an bereits seit Jahrzehnten bestehende wissenschaftlich fundierte Konzepte für die Behandlung neuropathischer Schmerzen wurde der Behandlungsalgorithmus an der Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekon­ struktive Chirurgie im LKH Graz entsprechend adaptiert. Dadurch sind wir in der Lage, die Schmerzen von vielen stark leidenden Patienten zu reduzieren. Anhand eines multimodalen Therapieansatzes14 aus dem Jahr 1998 wird die Wichtigkeit des interdisziplinären Managements verdeutlicht und unser adaptiertes Behandlungsschema dargestellt: Statt früher oftmals durchgeführter peripherer Nervenblockaden nehmen wir nach Versagen medikamentöser Therapien die oben erwähnten mikrochirurgischen Eingriffe an peripheren Nerven vor. Sollte ein Behandlungserfolg ausbleiben, kommt als Ultima Ratio die periphere Nervenstimulation zum Einsatz. In diesem Artikel wurde deshalb ein Fokus auf die periphere Nervenstimulation gelegt, da jene spezielle Behandlungsform bei CRPS österreichweit nur an der Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie des LKH Universitätsklinikum Graz angeboten wird. Abschließend ist zu betonen, dass es sich beim CRPS gemäß WHO-Kriterien um eine psychosomatische Erkrankung handelt, was bedeutet: Sowohl Psyche als auch Soma müssen bei der Behandlung berücksichtigt werden. Die betroffene Extremität muss nach der zerebralen Desintegration reintegriert werden. Als „Ersatz“ für den nicht mehr vorhandenen Schmerz haben gezielte Reedukationsprogramme mithilfe von Physio- und Ergotherapie, aber auch Psychotherapie im Sinne einer Schmerzrehabilitation zu erfolgen, damit die Wahrnehmung der Extremität normalisiert werden kann und sich somit die Lebensqualität des Patienten verbessert. Dies verdeutlicht, weshalb ein multimodaler Therapieansatz essentiell für den Behandlungserfolg ist. < Literatur: 1. Bruehl S, BMJ. 2015 Jul 29;h2730. 2 Brunner F, Z Für Rheumatol. 2017 May;76(4):335-47. 3 Pain terms: a list with definitions and notes on usage. Recommended by the IASP Subcommittee on Taxonomy. Pain. 1979 Jun;6(3):249. 4 Mitchell SW et al., Clin Orthop. 2007 May;458:35-9. 5 Harden RN et al., Pain Med. 2013 Feb;14(2):180-229. 6 Żyluk A, Puchalski P., J Hand Surg Eur Vol. 2013 Jul;38(6):599-606. 7 de Mos M et al., Pain. 2007 May;129(1–2):12-20. 8 Sandroni P et al., Pain. 2003 May;103(1–2):199-207. 9 Beerthuizen A et al., Pain. 2012 Jun;153(6):1187-92. 10 Moseley GL et al., J Pain. 2014 Jan;15(1):16-23. 11 Rooij AM et al., Eur J Pain. 2010 May;14(5):510-3. 12 Harden NR et al., Pain. 2010 Aug;150(2):268-74. 13 Żyluk A, Puchalski P. Neurol Neurochir Pol. 2018 May;52(3):326-33. 14 Stanton-Hicks MD, Pain Pract. 2002 Mar;2(1):1-16. 15 Melzack R, Wall PD. Science. 1965 Nov 19;150(3699):971-9. 16 Woolf CJ et al., Pain. 1980 Apr;8(2):237-52. 17 Deer TR et al., Pain Med. 2020 Feb 8;pnz353.

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Hausarzt extra

Simulationstrainings für pflegende Angehörige Eine innovative Möglichkeit, Kompetenzen und Sicherheit für die häusliche Pflegesituation aufzubauen*

Foto: © 2dreamproductions

heitsdienstleistungen zu verbessern. Im Wesentlichen bietet das Simulationstraining den Lernenden eine kontrollierte und sichere Lernumgebung, ohne die Patienten einem Risiko auszusetzen. Die moderierte Diskussion nach dem Training (Debriefing) wird als der wesentliche Aspekt des Simulationstrainings beschrieben. In jener können Teilnehmer ihre Leistung reflektieren sowie ihre Stärken und ihr Verbesserungs­ potenzial identifizieren.4

Die Vorteile des Simulationstrainings 71 % der 462.179 Pflegegeldbezieher in Österreich (Stand: 31.12.2018)1 werden von Angehörigen zu Hause betreut (zum Teil von mobilen Diensten unterstützt). Somit sind geschätzte 801.000 Menschen auf irgendeine Art und Weise in die Pflege und Betreuung ihrer hilfsbedürftigen Familienmitglieder zu Hause eingebunden.2 Als größtem „Pflegedienst der Nation“ – wie sie zuweilen bezeichnet werden – kommt pflegenden Angehörigen eine beträchtliche Bedeutung zu, weil ohne sie ein Leben zu Hause für viele Menschen unmöglich wäre.3 Oft verfügen pflegende Angehörige aber nicht über hinreichendes Wissen und die nötigen Kompetenzen, um ihre hilfsbedürftigen Familienmitglieder daheim adäquat zu unterstützen, zu beX Infobox: Wissenswertes für die ärztliche Praxis Hausärzte fungieren vor allem in ländlichen Regionen nach wie vor als eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Anlaufstelle für pflegende Angehörige. Neben medizinischen und rechtlich-administrativen Fragen zur häuslichen Pflege- und Betreuungssituation sind es vor allem Fragen zu Unterstützungsmöglichkeiten, die an sie gestellt werden. Folglich sollten Hausärzte unbedingt über die speziellen Beratungs- und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige informiert sein, damit sie Betroffene bestmöglich beraten und weitervermitteln.

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treuen und zu pflegen. Vielfach fehlen den pflegenden Angehörigen auch die Fähigkeiten, um auf ihre eigene Gesundheit zu achten und Krankheiten in Zusammenhang mit ihrer oftmals belastenden Betreuungstätigkeit vorzubeugen.

Wissens- und Kompetenz­ erwerb Pflegekurse für pflegende Angehörige stellen somit ein für Public Health relevantes Angebot dar, das sich an diese ebenso große wie wichtige Bevölkerungsgruppe richtet. Die Kurse dienen vorrangig dem Wissens- und Kompetenzerwerb. Darüber hinaus sollen sie den pflegenden Angehörigen die Möglichkeit bieten, ihre Ressourcen und Potentiale zu nützen, ihre Gesundheit zu fördern, ihre Selbstwirksamkeit zu steigern und ihre Lebensqualität zu verbessern. Eine innovative Option, über herkömmliche Pflegekurse hinausgehende, praxisrelevante Kompetenzen für diverse häusliche Pflegesituationen zu erwerben, sind Simulationstrainings für pflegende Angehörige. Worum handelt es sich dabei? Unter einem Simulationstraining wird eine Lernmethode verstanden, bei der Situationen aus dem wirklichen Leben nachgebildet werden, um die Sicherheit, Effektivität und Effizienz von Gesund-

Studienergebnisse zeigen, dass Simulationstraining die Sicherheit erhöhen, Fehler verringern, das klinische Urteilsvermögen und die klinischen Fähigkeiten verbessern sowie ein größeres Selbstvertrauen der Lernenden fördern kann.5 Urs-Beat Schaer, Skills Trainer und Fachmann für Simulation am Berner Bildungszentrum (CH), erklärt den Mehrwert dieser Lernmethode: „Im Simulationstraining werden Pflegehandlungen in den Mittelpunkt gestellt, welche die Kursteilnehmer üben können. Viele solcher Übungen ergeben ein Lernfeld, in dem die Lernenden ihre Handlungen immer wieder durchführen können. Die Erfolge werden sichtbar und führen zu mehr Lernfreude. Fehler werden ebenfalls erkannt. Da sie aber am Simulator gemacht werden, nimmt der Patient keinen Schaden. Sie können


Hausarzt medizinisch besprochen und Strategien zu ihrer Vermeidung entwickelt werden. Für mich heißt das: Patientensicherheit durch Simulationstrainings. Das ist der Mehrwert, der an erster Stelle steht.“

Trainingszentrum in Graz Seit 2018 bietet das Albert Schweitzer Trainingszentrum der Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz jene Lernmethode nun auch in seinen speziell für pflegende Angehörige entwickelten Pflegekursen an. Pflegende Angehörige erhalten hier die Möglichkeit, pflegerisches Handeln unter professioneller Anleitung in einer kleinen Gruppe zu erlernen. Zudem können sie ihre Kompetenzen hinsichtlich unterschiedlicher Pflegethemen und spezieller Krankheitsbilder simulationsbasiert erweitern. Durch die Methode der Simulation werden die Teilnehmer gezielt auf ihre häusliche Betreuungssituation vorbereitet. Zu diesem Zweck wurde eine Musterwohnung eingerichtet, die einen typischen Haushalt repräsentiert. In der alltags­nahen Umgebung werden Pflege- und Betreuungstätigkeiten geübt, was den Transfer des Gelernten in die Pflegepraxis der Angehörigen erleichtert. Dank der simulationsbasierten Pflegekurse ist es möglich, Sicherheit in der Betreuung zu gewinnen und Pflegekompetenzen zu stärken, wie eine Kursteilnehmerin berichtet: „Das Training gab mir viel Sicherheit für den Alltag. Ich konnte auf zahlreiche schwierige Situationen mit meiner Mutter gelassener reagieren.“ Weitere Informationen zum Albert Schweitzer Trainingszentrum finden Sie unter www.ggz.graz.at/de/Einrichtungen www.ggz.graz.at/de/Einrichtungen. Goldgruber Judith, Jerusalem Anna, Löffler Kerstin

Literatur: * Auszug aus: Goldgruber J, Jerusalem A & Löffler K (2021). Praxisrelevante Kompetenzen für Pflegesituationen zu Hause. Simulationstrainings für pflegende Angehörige als wirkungsvolle Lernmöglichkeit. ProCare, 26(1-2): 28-31. 1 Österreichischer Pflegevorsorgebericht 2018. https://broschuerenservice. sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=719, Zugriff: 03.11.2020. sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=719 2 Nagl-Cupal M et al. (2018). Angehörigenpflege in Österreich. Einsicht in die Situation pflegender Angehöriger und in die Entwicklung informeller Pflegenetzwerke. https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/ Download?publicationId=664, Zugriff: 03.11.2020. Download?publicationId=664 3 Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger. Daten und Fakten. https:// www.ig-pflege.at/hintergrund/datenundfakten.php, Zugriff: 03.11.2020. 4 Meakim C et al. (2013). Clinical Simulation in Nursing. 9: 3-11. 5 Busaidy KF (2019). Oral Maxillofac Surg Clin North Am. 31(4): 621-6. 6 Shah A et al. (2019). Otolaryngol Clin North Am. 52(6): 995-1003.

X Infobox: Die Geschichte der Simulationstrainings Die Geschichte der Simulationstrainings reicht weit zurück: bis ins 6. Jahrhundert – zum Schachspiel. Um 1900 begann man damit, Flugsimulatoren in der Luftfahrt einzusetzen. Im Gesundheitsbereich war die Anästhesiologie Vorreiter in der Verwendung von Simulationstrainings. Laerdal entwickelte Anfang der 1960er-Jahre den Simulator „Resusci-Anne“. Dieser Simulator unterstützt bis heute das Training der Mund-zu-Mund-Beatmung und Reanimation. Zur selben Zeit entwickelten Abrahamson und Barrows Simulationen anhand von Schauspielpatienten, die immer noch häufig zum Einsatz kommen. Die heutigen High-Fidelity-Patientensimulatoren wurden erstmals in den späten 1960er-Jahren von Abrahamson verwendet und von Gaba und Good weiterentwickelt.6

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Hausarzt extra

5G: Ärztliche Ab- und Aufklärung

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Umgang mit Patienten, die sich vor neuen Technologien fürchten

Nicht nur mRNA-Impfstoffe, sondern auch neue Funk-Standards wie 5G können bei manchen Patienten zu Skepsis und Verunsicherung führen. Wie im Rahmen einer Podiumsdiskussion im Herbst 2020 festgestellt wurde (siehe HAUSARZT 11/2020), vermag die Angst vor dem Unbekannten sogar krankzumachen. Schon seit etwa 30 Jahren ist das Konzept der „Toxikopie“ bekannt, bei welcher Vergiftungserscheinungen auftreten, obwohl sich keine Giftbelastung in der Umwelt nachweisen lässt.1 „Prof. Kofler aus Innsbruck hat damals dieses Phänomen erforscht – heute nennt man es Nocebo-Effekt“, berichtet Univ.-Prof. Dr. Gerald Haidinger vom Zentrum für Public Health der MedUni Wien, und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirat Funk (WBF). „Als die Eisenbahn erfunden wurde, gab es ebenfalls Ängste, dass der Mensch keine höheren Geschwindigkeiten als 40 km/h aushal-

Foto: © MedUni Wien

Experte zum Thema: Univ.-Prof. Dr. Gerald Haidinger Facharzt für Sozialmedizin / Public Health, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin, Zentrum für Public Health der MedUni Wien, und WBF-Vorsitzender

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ten würde. Neue Technologien bringen häufig eine gewisse Skepsis auf Seiten der Anwender mit sich“, ergänzt er. Andererseits gebe es auch viele „early adopter“, welche neuen Technologien gegenüber sehr offen seien.

Was ist neu an 5G? Paradoxerweise ist an der 5G-Technologie gar nicht so viel neu, wie es auf den ersten Blick scheint. „Das Neue an 5G ist das Protokoll, das verwendet wird. Die Funktechnik selbst nützen wir schon seit Jahrzehnten“, erläutert Prof. Haidinger. „Das Protokoll erlaubt es Maschinen, direkt und sehr schnell miteinander zu kommunizieren.“ Das sei etwa bei selbstfahrenden Autos relevant, die auf Ampelschaltungen oder beim Einparken rasch reagieren müssten, aber auch bei automatisierten Fertigungsprozessen in der Industrie.

„In vielen Fällen kann bereits ein Gespräch über seine Sorgen dem Patienten helfen und eine heilende Wirkung entfalten.“

„5G wurde nicht primär für das Telefonieren mit dem Handy entwickelt“, unterstreicht der Sozialmediziner. „Aber: Wie es aussieht, gibt es momentan keine wissenschaftlich-medizinischen Argumente gegen den Ausbau von 5G.“ Bei der Konsensus-Konferenz des WBF, welche Ende des vergangenen Jahres stattfand, wurde nach Durchsicht von rund 130 Studien2 festgestellt: „Eine Gefährdung der Gesundheit des Menschen durch Mobilfunk ist nicht wahrscheinlich.“ Prof. Haidinger hält dazu fest: „Die Studienqualität nimmt zwar in vielen Bereichen ab, jedoch werden auch jedes Jahr gute Studien publiziert, die zeigen, dass höchstwahrscheinlich keine gesundheitliche Gefährdung von der Nutzung dieser Technologie ausgeht. Wir beobachten die österreichische Bevölkerung bereits seit den 1950er-Jahren – und wenn von Funkwellen ein gesundheitliches Risiko ausginge, dann würden wir das im Spektrum der Gesundheitsstörungen feststellen können. Das können wir aber nicht.“

Patienten ernst nehmen Laut WHO sollen sich Ärzte nicht so sehr auf das Bedürfnis der Patienten konzentrieren, elektromagnetische Felder zu umgehen, aber sehr wohl die entsprechenden Symptome ernst nehmen und abklären (siehe Infobox). Zu den Symptomen einer Elektromagnetischen Hypersensitivität (EHS), die von den Patienten postuliert wird, zählen u. a. dermatologische Beschwerden wie Rötungen, Brennen und Prickeln, aber auch Müdigkeit, Schwindel, Konzentrationsprobleme und Übelkeit.3 „Durch psychische Kräfte kann sich ein enormes Spektrum körperlicher Beschwerden auftun – das wird uns im Medizinstudium möglicherweise nicht ausreichend vermittelt“, meint Prof. Haidinger. „Aus wissenschaftlicher Sicht ist in einigen Studien bereits nachgewiesen worden, dass es sich hierbei um ein psychisches Phänomen handelt, das in Feldversuchen eindeutig belegt wurde. Wir ver-


Hausarzt extra fügen über kein Sinnesorgan, welches uns befähigen würde, Funkwellen wahrzunehmen – aber genau diese Tatsache kann natürlich Angst machen.“ Hausärzte können vorab einige Faktoren erheben: Hinter den Symptomen könnten auch andere im Haushalt befindliche Expositionen stecken, Vitamin- und Spurenelementdefizite sowie ein erhöhter Alkohol- oder Drogenkonsum vorliegen. „All das muss man abklären und den Patienten ernstnehmen“, so Prof. Haidinger. Ob Krankheitssymp­ tome nun aus tatsächlichen Bedrohungen resultierten oder ob eine Krankheit durch die Angst vor einer Bedrohung entstanden sei, spiele dabei eine untergeordnete Rolle. „Wir haben es mit einem kranken Menschen zu tun und wir müssen versuchen, diesem Menschen zu helfen“, appelliert Prof. Haidinger an seine niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Träten Symptome wie Kopfschmerzen oder Schlaflosigkeit auf, könnten jene dazu genutzt werden, etwa eine Abklärung bei einem Facharzt für Neurologie oder Psychiatrie zu veranlassen.

Aufklärung hilft gegen die Angst „In vielen Fällen kann bereits ein Gespräch über seine Sorgen dem Patienten helfen und eine heilende Wirkung entfalten“, so der Mediziner. „Wie bei der Corona-Impfung sollten Hausärzte auch in puncto 5G auf Basis des derzeitigen Wissens argumentieren.“ Hierbei könne z. B. darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Funk um eine nicht-ionisierende Strahlung handle, welche keine Schäden am Erbgut hervorrufen könne. Eine lokale Erwärmung sei zwar durch die Mikrowellen möglich, „aber der menschliche Körper ist so gebaut, dass er mit Wärme sehr gut umgehen kann.“ Die besagte Erwärmung komme einerseits von der Batterie des Handys, andererseits von den Mikrowellen, die ausgesendet würden, aber das sei „nichts, was uns ängstigen müsste oder schädigen könnte.“ In Studien wird auch immer wieder der oxidative Stress diskutiert. „Dieser konnte zwar nachgewiesen werden, allerdings ist belegt, dass solche Effekte in der Zelle rückgängig gemacht

X Infobox: Empfehlungen der WHO3 Ärzte sollten … … eine medizinische Untersuchung einleiten, um alle spezifischen Ursachen der Symptome zu identifizieren, … eine psychologische Untersuchung einleiten, … den Arbeitsplatz und die häusliche Situation des Patienten in Hinblick auf Faktoren beurteilen, die zu den Symptomen beitragen könnten (schlechte Luft oder Beleuchtung, Lärm, Ergonomie, Stress etc.).

werden können“, erklärt Prof. Haidinger abschließend. Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc Quellen: 1 Kofler W, Umweltängste, Toxikopie-Mechanismus, komplexes evolutionäres Coping-Modell und die Notwendigkeit neuartiger Auflagen für genehmigungspflichtige Anlagen. In: Aurand K, Hazard BP & Tretter F (Hrsg.), Umweltbelastungen und Ängste; 1993. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2 Wissenschaftlicher Beirat Funk (WBF), Konsensusbeschluss, WBF-Expertenforum 2020, 11/2020. 3 World Health Organization, Fact sheet N°296: Elektromagnetische Felder und öffentliche Gesundheit – Elektromagnetische Hypersensitivität (Elektrosensibilität), 12/2005.

Mobilfunk: Elektrosensibel durch 5G?

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Neue Infomappe mit Empfehlungen für die allgemeinmedizinische Praxis Ärzte für Allgemeinmedizin sind oft erste Ansprechpartner für Menschen, die gesundheitliche Beschwerden auf eine Umweltunverträglichkeit wie Elektrosensibilität (EHS) zurückführen – und sie werden mit einer hohen Erwartung an die Behandlung konfrontiert. Die Symptome solcher Patienten sind jedoch in der Regel unspezifisch und lassen keinen Rückschluss auf ihre Ursache zu. Um Hausärzte im Umgang mit diesen Patienten zu unterstützen, wurde eine Informationsmappe entwickelt, die Handlungsempfehlungen der WHO sowie Vorschläge für das Vorgehen in der hausärztlichen Praxis enthält, über den technischen Hintergrund informiert und mit gängigen Mythen aufräumt. Die Empfehlungen basieren auf aktuell gültigen Bewertungen, auf Konsensus-Empfehlungen unabhängiger nationaler und internationaler Institutionen sowie auf den Erfahrungen von Experten.

X Bestellhinweis Infomappe „Idiopathische Umweltintoleranz“ (kostenlos) Herausgeber: Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin (GHUP) Bestellformular:

E-Mail: office@ehs-info.eu Download unter: http://ehs-info.eu

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Hausarzt DFP

DFP-Punktesammler

L I T E R AT U R

Praxiswissen: Krebs des Mannes

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Hodenkrebs, Prostata- und Peniskarzinom

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Im Jahr 2017 wurden in Österreich über 22.000 Krebsneuerkrankungen bei Männern dokumentiert. Neben Lungenkrebs und Darmkrebs dominieren in der Statistik auch geschlechterspezifische Krebsarten. Jüngere Männer, die an Krebs erkranken, sind am häufigsten von Hodenkrebs betroffen. Mit dem Alter nimmt hingegen der Prostatakrebs stark zu, während das Hodenkrebsrisiko sinkt.

Typische Symptome des Hodenkrebses Bösartige Tumorerkrankungen des Hodens zählen zu den selteneren Krebserkrankungen. Sie machen 2 % der Neuerkrankungen aus und sind für 0,1 % der Krebssterbefälle in Österreich verantwortlich. Was diese Krebsart so speziell macht, ist die Tatsache, dass sie in einem jungen Alter auftritt. Insbesondere Männer zwischen 20 und 40 Jahren sind von Hodenkrebs betroffen. Liegen ein testikuläres DysgenesieSyndrom, Hodenkrebserkrankungen von Verwandten ersten Grades, ein kontralateraler Tumor und/oder eine testikuläre intraepitheliale Neoplasie (eine Präkanzerose) vor, ist von einem erhöhten Hodenkrebsrisiko auszugehen. Typische erste Symptome der besagten Krebserkrankung sind eine schmerzlose Schwellung oder eine Verhärtung in einem Hoden. Aufgrund dieser sehr subtilen Anzeichen ist es ratsam, bei jungen Patienten im Rahmen der jährlichen Vorsorgeuntersuchung eine Abtastung vorzunehmen. Außerdem sollte jenen die regelmäßige Selbstkontrolle ans Herz gelegt werden. Bei Verdacht auf Hodenkrebs ist der Patient an einen Urologen zu überweisen. Dieser führt eine Ultraschalluntersuchung durch und bestimmt bei sonographischem Verdacht auch entsprechende Tumormarker.

Behandlung des Hodentumors 95 % aller Hodentumoren sind Keimzelltumoren. Die operative Entfernung des kranken Hodens fungiert als Therapie der ersten Wahl. Eine adjuvante Chemotherapie ist bei einer Metasta-

Autor: OA Dr. Johannes Buchegger FEBU Abteilung für Urologie und Andrologie, Ordensklinikum Linz Elisabethinen www.ordensklinikum.at

sierung erforderlich und bei Risikofaktoren des Primärtumors ohne Metastasierung empfohlen. Dabei kommen Cisplatin-Zytostatika zum Einsatz. Handelt es sich um Mischtumoren mit einer Teratomkomponente, folgt auf die Chemotherapie eine operative Entfernung des Resttumors. Teratome gelten als resistent gegen Chemotherapeutika. Die Heilungschancen bei Hodenkrebs sind im Allgemeinen sehr gut, da ein Großteil der Patienten in einem nichtmetastasierten Stadium vorstellig wird. Aber auch metastasierte Hodenkrebsfälle weisen gute Heilungschancen auf. Bei Bedarf gibt es alternative Chemotherapieschemata. Zusätzlich kann eine autologe Stammzelltransplantation durchgeführt werden. Eine Immuntherapie steht bei Hodenkrebs nicht zur Verfügung.

Nachsorge: Testosteronmangel beachten Hausärzte sollten in der Nachsorge insbesondere auf den Testosteronwert achten. Mehr als 20 % der orchiektomierten Patienten leiden – zumeist früher als die männliche Allgemeinbevölkerung – unter einem niedrigeren Testosteronspiegel. Dieser Hormonmangel verursacht Beschwerden wie Antriebsschwäche, Libidoverlust, Potenzstörungen, Muskel-, Knochenschmerzen und Muskelschwund. Solchen Symptomen sollte große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Weitere 25 % der Patienten weisen eine „kompensierte Testosteronverminderung“ auf. Das bedeutet, dass die Hoden eigentlich zu wenig Testosteron produzieren würden – via Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse werden sie jedoch zu einer höheren Produktion angetrieben. In diesem Fall ist der Testosteronwert normal, die „übergeordneten“ Hormone jedoch erhöht.

Foto: © Werner Harrer

Hausarzt DFP Liegt ein manifester Testosteronmangel vor, so sollten Hausärzte eine Knochendichtemessung veranlassen. Es ist wichtig, den Patienten zu körperlicher Aktivität zu ermutigen. Sport und Bewegung helfen dabei, die Muskelmasse zu erhalten – was sich wiederum positiv auf den Testosteronspiegel auswirkt. Wenn nötig, sollte der Patient an eine andrologische Abteilung oder an einen andrologisch tätigen Urologen überwiesen werden. Diese entscheiden, ob eine Hormonsubstitution (Injektion, Gel etc.) sinnvoll ist. Bei aktuell bestehendem Kinderwunsch sollte eine externe Testosteronzufuhr unterlassen werden, weil es dadurch zu einer FSHSupprimierung und folglich zu einer verminderten Spermiogenese kommt. Hat ein Patient bei Neudiagnose eines Hodentumors einen Kinderwunsch, so sollte vor der Therapie unbedingt eine Kryokonservierung durchgeführt werden. Mehr über dieses Thema lesen Sie in der Hausarzt-Ausgabe 9/2019 unter www.minimed.at/archiv. www.minimed.at/archiv

Prostatakrebs: PSA-Wert erheben Prostatakrebs ist die häufigste Krebsart beim Mann. 2018 erkrankten in

DFP-Pflichtinformation Fortbildungsanbieter: Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) Lecture Board: Dr. Erwin Rebhandl Arzt für Allgemeinmedizin (Geriatrie), Präsident der OBGAM – OÖ Gesellschaft für Allgemein- und Familien­ medizin Prim. Dr. Ernst Rechberger Abteilung für Innere Medizin I (Gastroenterologie und Hepatologie, Hämatoonkologie, Nephrologie mit Dialyse, Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen), Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried

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Hausarzt DFP Österreich 6.018 Männer daran – der Anteil an den Krebserkrankungen des Mannes beträgt 27 %! Jeder neunte durch Krebs verursachte Todesfall bei Männern lässt sich auf ein Prostatakarzinom zurückführen. Der Altersgipfel liegt bei 60-65 Jahren. Kamen bereits Prostatakrebsfälle bei Verwandten ersten Grades vor, ist das Krebsrisiko erhöht. Auch Männer afrikanischer Herkunft weisen ein höheres Risiko auf. Es gibt noch weitere Faktoren, welche die Entstehung von Prostatakrebs begünstigen können: Gonorrhoe, eine Infektion mit HPV 16 sowie Zigarettenkonsum.

Ab dem 45. Lebensjahr (bei erhöhtem Risiko ab dem 40. Lebensjahr) ist eine Vorsorgeuntersuchung empfehlenswert. Im Idealfall wird sie in einem ein- bis zweijährigen Intervall durchgeführt. Zusätzlich zu einer digital-rektalen Untersuchung sollte dabei der PSA-Wert ermittelt werden. Die Ausgangswerte dieses Tumormarkers, die in jüngeren Jahren erhoben werden bzw. wurden, bieten eine sehr gute Vergleichsmöglichkeit. Sie sind eine essenzielle Information, dank welcher Karzinome frühzeitig entdeckt und gegebenenfalls die Indikation für eine Biopsie gestellt werden kann.

X Infobox 1: Risikobestimmung des Prostatakarzinoms durch den Gleason-Score

Behandlung von Prostatakrebs

Der Gleason-Score ergibt sich aus dem histologischen Erscheinungsbild des Prostatakrebses in den Biopsaten und letztendlich aus dem Operationspräparat. Dabei werden jeweils die häufigste und die zweithäufigste Wachstumsart des Karzinoms in den Gleason-Graden 3-5 (gering bis sehr aggressiv) beurteilt. Die Summe daraus ist der Gleason-Score, der bei 6 ein Niedrig-, bei 7 ein Intermediär- und bei 8-10 ein Hochrisikokarzinom abbildet. Danach richtet sich die weitere Behandlung.

Liegt die Lebenserwartung des Patienten bei mindestens 20 Jahren, dann ist die Prostataentfernung die Therapie der Wahl im nichtmetastasierten Stadium. Bei einer fokalen Behandlung eines lokal begrenzten Prostatakarzinoms besteht eine gute Chance, den Patienten mit einer Operation zu heilen. Auch fokale Therapien mittels eines hochintensiven fokussierten Ultraschalls (HiFU) und via irreversible Elektroporation der Prostata (IRE) werden bei kleinen Tumoren in

Österreich angeboten. Sind bereits Metastasen vorhanden, kommt in erster Linie eine systemische Behandlung in Betracht – etwa eine Hormontherapie und/oder eine Chemotherapie. Darüber hinaus gibt es einen großen Prozentsatz von Niedrigrisikokarzinomen (siehe Infobox „Gleason-Score“), die keine negativen Auswirkungen auf die Lebenserwartung des Patienten haben. Zwei Fünftel X Infobox 2: Diagnosesicherheit bei Prostatakrebs Neben den Operationstechniken haben sich in den vergangenen Jahren auch die Untersuchungsmethoden stark verbessert. Dank der Magnetresonanztomographie sind die Befunde aussagekräftiger geworden und bieten wichtige Informationen zur Lokalisation und Wahrscheinlichkeit von Prostatatumoren. Für zusätzliche Diagnosesicherheit sorgen inzwischen auch Hochfrequenz-Ultraschallgeräte, die bei Prostatabiopsien zum Einsatz kommen. Diese arbeiten mit einer Frequenz von 29 Mhz (im Vergleich zu 5-7 Mhz bei regulären Ultraschallgeräten) und liefern Informationen, die annähernd mit jenen einer MRT vergleichbar sind.

Hausarzt DFP – Das Wichtigste in Kürze Hodenkrebs betrifft jüngere Männer zwischen 20 und 40 Jahren. Erste Symptome sind eine schmerzlose Schwellung oder Verhärtung in einem Hoden. Im Rahmen der jährlichen Vorsorgeuntersuchung sollte eine Abtastung durchgeführt werden. Bei Verdacht auf einen Hodentumor muss der Patient an einen Urologen überwiesen werden. Das Hodenkrebsrisiko ist bei einem testikulären Dysgenesie-Syndrom, Hodenkrebserkrankungen von Verwandten ersten Grades, einem kontralateralen Tumor und/oder einer testikulären intraepithelialen Neoplasie erhöht.

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Die operative Entfernung des kranken Hodens stellt die Therapie der ersten Wahl dar. In der Nachsorge sollte unbedingt auf den Testosteronwert geachtet werden. Dieser kann bei orchiektomierten Patienten verringert sein.

ab dem 40. Lebensjahr) eine Vorsorgeuntersuchung empfehlenswert. Dabei sollte zumindest der PSA-Wert erhoben und eine digital-rektale Untersuchung durchgeführt werden.

Prostatakrebs ist der häufigste Krebs beim Mann. Der Altersgipfel liegt bei 60-65 Jahren.

Im nichtmetastasierten Stadium wird die Prostata operativ entfernt. Je nach Indikation können auch eine Radiohormontherapie und/oder eine Chemotherapie zum Einsatz kommen.

Das Risiko ist bei Prostatakrebserkrankungen von Verwandten ersten Grades, bei Männern afrikanischer Herkunft, aber unter anderem auch bei Gonorrhoe, einer Infektion mit HPV16 sowie bei Rauchern erhöht.

Die Behandlungen können Potenzprobleme hervorrufen. Nach einem operativen Eingriff ist auch Inkontinenz möglich. Hausärzte sollten Patienten proaktiv auf solche Beschwerden ansprechen.

Bei Männern ist ab dem 45. Lebensjahr (im Falle eines erhöhten Risikos


Hausarzt DFP aller Karzinompatienten leben mit dieser Diagnose zehn Jahre oder länger.

Auswirkungen der Prosta­ta­ krebstherapien Die Therapie des Prostatakarzinoms kann sich auf die Lebensqualität des Patienten auswirken. Da bei der Prostataentfernung auch das umliegende Nervengewebe in Mitleidenschaft gezogen werden kann, können – nach einer Operation – Inkontinenz und sehr wahrscheinlich Potenzprobleme auftreten. Dank neuer OP-Methoden,

etwa durch roboterunterstützte Operationstechniken, verbessert sich vor allem die Frühkontinenz und es kommt zu weniger Blutverlust bei der Operation. Bei der Radiohormontherapie kommt es zu keiner Inkontinenz, allerdings sind mit einer Latenzzeit von ein bis eineinhalb Jahren auch Potenzstörungen möglich. Hausärzte sollten ihre Patienten proaktiv auf jene immer noch sehr schambesetzten Probleme ansprechen. Vor allem, wenn bei Patienten Müdigkeit, Abgeschlagenheit oder eine depressive Verstimmung festgestellt werden.

Peniskarzinom: HPV-Impfung empfohlen Äußerst selten kommt das Peniskarzinom vor, seine Inzidenz beträgt 1/100.000. Die Ursachen dieses Plattenepithelkarzinoms sind vielfältig. Schwere Raucher sind eher davon betroffen. Studien legen außerdem nahe, dass das Peniskarzinom unter anderem mit den HPV-Subtypen 16 und 18 in Zusammenhang steht. Ebenso wie gegen Gebärmutterhalskrebs kann die HPV-Impfung gegen ein Peniskarzinom einen gewissen Schutz bieten. Sie sollte vor der Vollendung des zwölften Lebensjahres verabreicht werden. <

DFP-Literaturstudium im HAUSARZT

L I T E R AT U R

So machen Sie mit: Entsprechend den Richtlinien der ÖÄK finden Sie im Anschluss an den Fortbildungsartikel Multiple-Choice-Fragen. Eine Frage gilt dann als richtig beantwortet, wenn Sie von den vorgegebenen Antworten alle richtigen angekreuzt haben. Für eine positive Bewertung ist erforderlich, dass Sie 2 der 3 Fragen richtig beantworten. In diesem Fall wird 1 DFP-Fachpunkt angerechnet. Online lesen und beantworten: Dieser Fortbildungsartikel inkl. Test steht online auf www.meindfp.at noch 2 Jahre zur Verfügung. Wenn Sie dieses elektronische Angebot nutzen, erhalten Sie auch die Teilnahmebestätigung elektronisch. Wenn Sie E-Mail oder Post bevorzugen: Schicken Sie den beantworteten Fragebogen bitte per Mail als Scan-Dokument an office@gesund.at oder per Post an Redaktion HAUSARZT, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien. Einsendeschluss: 30. September 2021.

DFP-Fragen zu „Praxiswissen: Krebs des Mannes“ Die Anzahl der richtigen Antworten ist nach jeder Frage in Klammern ange­geben.

1

Wie hoch ist der Anteil der Hodenkrebs-Patienten, die nach einer Resektion an einer „kompensierten Testosteronverminderung“ leiden? (1 richtige Antwort) Etwa 25 %. Etwa 5 %. Mehr als 60 %.

2

Sie haben ein Fortbildungskonto? JA – dann buchen wir Ihre DFP-Punkte automatisch! Dazu brauchen wir Ihre ÖÄK-Ärztenummer und E-Mail-Adresse: NEIN – ich möchte meine Teilnahmebestätigung

Bei einem Gleason-Score von 10 liegt ein … (1 richtige Antwort) … besonders aggressiver Hodentumor vor. … besonders aggressiver Prostatatumor vor.

per Post erhalten

per E-Mail erhalten

Bitte gut leserlich ausfüllen und E-Mail-Adresse angeben:

… Niedrigrisiko-Prostatakarzinom vor.

3

Welche Krebsart steht nicht in Zusammenhang mit dem HPVSubtyp 16? (1 richtige Antwort)

Name

Anschrift

Peniskarzinom. Prostatakarzinom.

PLZ/Ort

Hodenkrebs. E-Mail

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Hausarzt medizinisch

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CED-Management in Pandemiezeiten

Foto: © shutterstock.com/ sdecoret

Aktualisierte Leitlinie* mit 23 Empfehlungen

Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa benötigen auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie eine umfassende Betreuung. Ein Addendum der S3-Leitlinie zu Morbus Crohn und Colitis ulcerosa gibt dafür 23 Empfehlungen. Die Autoren halten fest, dass CED-Patienten generell kein erhöhtes Risiko hätten, an COVID-19 zu erkranken, ausgenommen Patienten mit einer immunsuppressiven Therapie. Infizieren sich CED-Patienten mit SARS-CoV-2, müssen sie hinsichtlich einer Verschlechterung des Gesundheitszustands genau beobachtet werden, da eine COVID19-Erkrankung wegen der vorliegenden Komorbiditäten und Risikofaktoren schwerwiegend verlaufen kann.

Diagnose und Prävention Während der Pandemie sollte sich eine persönliche Vorstellung von Patienten an der medizinischen Dringlichkeit orientieren, die der behandelnde Arzt mit dem Patienten festlegt. Die kontinuierliche Betreuung kann auch per Telemedizin erfolgen. Patienten mit akuten Beschwerden müssen weiterhin ungehindert Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung haben. Routineuntersuchungen von Patienten in Remission sind laut Leitlinie nicht zwingend erforderlich.

Um die Gefahr einer Doppelinfektion zu verringern, sind Impfungen gegen Influenza und Pneumokokken ratsam. Obligat sind die Prävention und die Behandlung einer Malnutrition, da diese eine Immundefizienz verstärkt, das Risiko von Komplikationen erhöht sowie nachteilige postoperative Krankheitsverläufe begünstigt.

Therapeutische Besonderheiten CED-Patienten, die eine immunsuppressive Therapie erhalten, haben kein erhöhtes Risiko, einen schweren Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion zu erleiden. Deshalb sollten Immunsuppressiva bei einer leichten bis mittelschweren COVID19-Erkrankung nicht reduziert werden. In der Leitlinie wurden aber auch einige Ausnahmen bzw. weitere Besonderheiten definiert, die es zu beachten gilt: • Eine länger dauernde Therapie mit systemischen Steroiden (insbesondere in Dosierungen von > 20 mg Prednisonäquivalent/Tag) sollte möglichst vermieden oder – soweit klinisch vertretbar – reduziert und beendet werden. • Es gibt keine Hinweise dafür, dass TNF-Antikörper, Ustekinumab und Vedolizumab das Risiko eines ungünstigen Verlaufs einer COVID19-Erkrankung erhöhen. Die Therapie mit diesen Substanzen kann im Einzelfall pausiert werden.

• Eine Verlängerung der Infusionsintervalle für TNF-Antikörper oder Vedolizumab wird nicht empfohlen. • Bei Patienten mit schwerer COVID19-Erkrankung sollte die Therapie mit Thiopurinen, Methotrexat und Tofacitinib unterbrochen werden. • Bei einem akuten Schub sollte bevorzugt eine Biologikatherapie eingesetzt werden, weil mit einem rascheren Wirkungseintritt im Vergleich zu einer hochdosierten systemischen Steroidtherapie zu rechnen ist. • Bei Patienten in stabiler Remission mit einer kombinierten Anti-TNFAntikörper-/immunsuppressiven Therapie (Thiopurin, MTX) sollte das Immunsuppressivum abgesetzt werden. Eine Wiederaufnahme der Behandlung ist nach Ausheilung der Erkrankung und nach zwei negativen PCR-Tests sinnvoll. • Bei Patienten in Remission sollte keine Umstellung einer intravenösen Infliximab-Therapie auf ein subkutanes Therapiekonzept mit alternativen Biologika erfolgen. • Ist eine Neueinstellung der Biologikatherapie vonnöten, sollte bei gleichwertiger Erfolgsaussicht eine subkutane Formulierung eingesetzt werden. Emanuel Munkhambwa Quellen: * Stallmach A et al., Addendum zu den S3-Leitlinien Morbus Crohn und Colitis ulcerosa; Z Gastroenterol 2020; 58: 672-692.

X HAUSARZT-Tipp: Kostenlose Darmkrebsvorsorge-Hotline CED-Patienten haben ein erhöhtes Risiko, an Darmkrebs zu erkranken und daran zu versterben. Im Darmkrebsmonat März ruft die „Selbsthilfe Darmkrebs“ zu Vorsorge-Darmspiegelungen auf und bietet eine kostenlose Vorsorge-Hotline an. Mehr Informationen unter www.selbsthilfe-darmkrebs.at. www.selbsthilfe-darmkrebs.at

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Behutsamer Weg zur Diagnose Demenz Hausärzte können früh Impulse geben und vernetzen X Infobox 1: Mögliche Differentialdia­ gnosen bei Vergesslichkeit Psychiatrische: u. a. Depression, Delir, psychotische Erkrankungen.

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Neurologische: u. a. Schlaganfall, zere­ brale Blutung, entzündliche Erkrankungen des Gehirns, Morbus Parkinson, SchädelHirn-Traumata. Internistische: u. a. metabolische und endokrinologische Störungen, Schilddrüsenerkrankungen, Vitaminmangel, Mangelernährung. Weitere: u. a. Stress und Belastung, Medikamente, Drogen.

Foto: © feel image-Fotografie

Immer wieder wird der Mythos postuliert, dass es ohnehin keine adäquaten Behandlungsmöglichkeiten bei Vorliegen einer Demenz gebe – weswegen Hausärzte mitunter davor zurückschrecken, die Diagnose zu stellen.1 In der allgemeinmedizinischen Praxis bleibt zwar oft wenig Zeit für eine eingehende Abklärung, jedoch können Allgemeinmediziner viel zur optimalen Versorgung von Menschen mit Demenz und deren Familien beitragen. „Einerseits können Hausärzte im Rahmen der Diagnostik andere Erkrankungen identifizieren, die behandelt werden können (siehe Infobox 1). Andererseits wird der Verlauf einer Demenzerkrankung positiv beeinflusst, wenn die medikamentöse Therapie frühzeitig einsetzt und sowohl die Betroffenen als auch die Angehörigen psychoedukativ und psychotherapeutisch betreut werden“, unterstreicht Prim. Dr. Christian Jagsch, Leiter der Abteilung für Alterspsychia­ trie und Alterspsychotherapie, LKH Graz II. Hinzu komme noch der ethische Experte zum Thema: Prim. Dr. Christian Jagsch Leiter der Abteilung für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie, LKH Graz II, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie (ÖGAPP)

Aspekt, dass ein Patient das Recht habe, zu erfahren, ob er erkrankt sei – und sich entsprechend auf seine Zukunft vorbereiten könne. „Am Anfang der Erkrankung können viele Angelegenheiten noch gut geregelt werden, etwa Patientenverfügung oder Testament, die bei einer weiter fortgeschrittenen Demenz schwierig handzuhaben wären“, so der Experte.

Gesundenuntersuchung als Gesprächsanlass Meist falle den Betroffenen und den Angehörigen selbst bereits auf, dass die kognitiven Fähigkeiten nachließen. „Leider denken immer noch viele Ärzte, dass ein alter Mensch ruhig schon ein bisschen vergesslich sein dürfe. Aber: Es ist nicht normal, wenn Patienten eine verstärkte Vergesslichkeit zeigen“, betont Dr. Jagsch. Es gebe zwar eine leichte Vergesslichkeit im Alter, aber diese würde bei einem Besuch in der Ordination nicht auffallen. „Ein guter Trick, den „Ein gutes Vorgehen ist, im Rahmen der Gesundenuntersuchung eine kurze Überprüfung der kognitiven Fähigkeiten vorzunehmen. Es haben sich der Uhren-Test oder der 3-Wörter-Uhren-Test bewährt.“

wir Hausärzten gerne empfehlen, ist, im Rahmen der Gesundenuntersuchung eine kurze Überprüfung der kognitiven Fähigkeiten vorzunehmen. So kann man mit dem Patienten ins Gespräch kommen und eine weitere Abklärung einleiten.“ Hierbei sei ein sensibles Vorgehen vonnöten. „Wichtig ist außerdem, dass die Hausärzte sehr gut vernetzt sind: So können sie Betroffene dabei unterstützen, einen niedergelassenen Facharzt oder eine Spezialambulanz zu finden oder auch die Leistungen von Psycho-, Physio-, Ergotherapeuten, klinischen oder Neuropsychologen in Anspruch zu nehmen“, macht Dr. Jagsch aufmerksam. Den Angehörigen sollte zudem eine Selbsthilfegruppe empfohlen werden. Weil durch eine Demenzerkrankung eine große Last auf den Schultern der Familie liegt, sollte in der allgemeinmedizinischen Praxis auch speziell auf das Wohlbefinden dieser Personengruppe geachtet werden.2 „Das wären mögliche Aufgaben, die Hausärzte gut übernehmen könnten.“

Differentialdiagnosen ausschließen Geht man von Vergesslichkeit als einem der Hauptsymptome einer Demenz aus, gibt es viele Differentialdiagnosen, die es auszuschließen gilt. Psychiatrische, neurologische und internistische, aber

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Hausarzt medizinisch z. B. auch bestimmte Medikamente können hierbei eine Rolle spielen (siehe Infobox 1). „All diese möglichen Syndrome muss man abklären bzw. ausschließen“, erinnert Dr. Jagsch. Bezüglich jener Medikamente, die eine Demenz imitieren können, erklärt er: „Ein häufiger Verursacher einer kognitiven Beeinträchtigung sind Benzodiazepine – es gibt viele Menschen, die leider davon abhängig sind.“ Daneben können bspw. Opiate oder verschiedene Antibiotika delirogen wirken. Laut Leitlinie sind zudem eine Hyponatriämie sowie eine laufende Medikation mit Substanzen wie Amitriptylin, Oxybutynin, Scopolamin und Tiotropium eine häufige Ursache für kognitive Störungen, die sich in der Hausarzt-Praxis manifestieren.2 Die diagnostischen Kriterien für die Demenz sind in der Infobox 2 zusammengefasst. „Die Diagnostik gestaltet sich leider manchmal herausfordernd, weil durch Laboruntersuchungen und Bildgebung viele Wege anfallen, die für ältere Menschen mitunter nur schwer zu bewältigen sind“, berichtet der Experte aus der Praxis.

Multimodale Therapie hilfreich Je früher die Diagnose (Alzheimer-) Demenz gestellt werden kann, desto mehr Therapiemöglichkeiten stehen zur Verfügung. „Im Frühstadium eignen sich Acetylcholinesterasehemmer oder Ginkgo biloba zur Behandlung, im weiteren Krankheitsverlauf kann auch Memantin eingesetzt werden“, erklärt Dr. Jagsch. „Parallel dazu ist es ganz wichtig, seinen Lebensrhythmus beizubehalten und körperlich sowie kognitiv zu trainieren – angepasst daran, welche Fähigkeiten noch erhalten sind.“ Wird ein Antidementivum verordnet, sollte die Gelegenheit genutzt werden, um die bestehende Medikation zu überprüfen, weil Interaktionen und Nebenwirkungen dadurch vermieden werden können. „Beispielsweise kann es bei Patienten mit bestehenden Herzrhythmusstörungen zu einer Bradykardie kommen, wenn ein Antidementivum verabreicht wird“, warnt der Experte. „Man muss genau überlegen, was die Gabe eines Antidementivums bewirken könnte, und es macht oft Sinn, auf das

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Phytopharmakon Ginkgo biloba zurückzugreifen, weil es dadurch seltener zu Interaktionen mit anderen Medikamenten kommt.“

Vorliegen von kognitiven oder verhaltensbezogenen Symptomen, die …

Komorbide Angst erkennen

1. … das Funktionieren bei alltäglichen Tätigkeiten beeinträchtigen,

Ebenso müssen Komorbiditäten bei der Behandlung der Demenz berücksichtigt werden. Einerseits entstehen diese oftmals, wenn Patienten von ihrer Diagnose erfahren und sich Sorgen um die Zukunft machen. „In diesem Zusammenhang spielen das ärztliche Gespräch, Psychoedukation und Psychotherapie eine große Rolle“, hebt Dr. Jagsch hervor. Andererseits können Ängste als psychologisches Begleitsymptom der Demenz auftreten: Bis zu 20 % der Betroffenen leiden unter Angststörungen. Jene treten damit ähnlich häufig in Kombination mit einer Demenz auf wie Depression, Schlafstörungen und Aggression. Am weitesten verbreitet ist die generalisierte Angststörung, die sich nicht nur durch anhaltende Angst, sondern u. a. auch durch Unruhe, Reizbarkeit, flache und schnelle Atmung oder Atemnot sowie durch eine körperliche Anspannung äußert.3 „Bei mittelschweren bis schweren Demenzerkrankungen sehen wir oft, dass Ängste, welche die Patienten zuvor gut unter Kontrolle hatten, wieder in den Vordergrund treten“, so der Experte. „Medikamentöse Therapien mit Phytopharmaka oder Antidepressiva sind hilfreich – oder auch vorübergehend Benzodiazepine in geringer Dosierung, wenn es zu massiven Angstzuständen kommt.“ Randomisierte, kontrollierte Studien im Bereich der Phytotherapie zeigen deren Verträglichkeit auch bei älteren Patienten: Kasper berichtet vom Einsatz von Lavendelöl, Johanniskrautextrakt und Ginkgo-biloba-Extrakt in den jeweiligen Indikationen Angststörungen, Depression und Demenz bei Patienten über 60 Jahre. Der Autor stellte anhand von vier Studien die Effektivität der pflanzlichen Wirkstoffe in der genannten Altersgruppe fest und unterstreicht, dass es sich bei den Phytotherapeutika um gut verträgliche Alternativen zu synthetischen Arzneimitteln handele.4 Auch den Angehörigen kommt bei Ängsten eine bedeutende Rolle zu:

X Infobox 2: Diagnostische Kriterien für eine Demenz

2. … im Vergleich zum vorherigen Zustand eine Verschlechterung darstellen, 3. … nicht durch eine psychische Erkrankung oder ein Delir erklärbar sind. 4. Die Diagnostik erfolgt durch die Kombination von Eigen- und Fremdanamnese sowie der objektiven Bewertung der kognitiven Leistung durch eine kognitive Testung/klinisch-kognitive Untersuchung (oder neuropsychologische Testung). 5. Mindestens zwei der folgenden Bereiche müssen beeinträchtigt sein: Gedächtnisfunktionen, Verstehen und Durchführen komplexer Aufgaben, Urteilsfähigkeit, räumlich-visuelle Funktionen, Sprachfunktionen, Verhalten/Persönlichkeit. Quelle: Adaptiert nach: NIA-AA-Kriterien für die allgemeine Demenz (McKhann et al., 2011)

„Verhaltensstörungen im Rahmen der Demenz können der Interaktion zwischen den betreuenden Angehörigen und den Betroffenen geschuldet sein“, berichtet Dr. Jagsch. So sei es möglich, dass Unsicherheiten und Unklarheiten in der Familie im Umgang mit dem Erkrankten bei diesem Angst verursachten. „Diesbezüglich macht es Sinn, die Angehörigen zu beraten oder im Rahmen einer Selbsthilfegruppe zu schulen, wie sie mit den verschiedenen Verhaltensstörungen umgehen sollen. Denn wir wissen aus Studien, dass die Angst bei den Angehörigen und den DemenzPatienten deutlich weniger wird, wenn sie gut betreut sind.“ Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc Quellen: 1 Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Demenz – DEGAM-Leitlinie Nr. 12, Stand: 2008. 2 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) & Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) (Hrsg.), S3-Leitlinie „Demenzen“, Stand: 01/2016. 3 Franken G, Heilberufe / Das Pflegemagazin 2018; 70(9): 28-32. 4 Kasper S, Wien Med Wochenschr 2015 Jun; 165(1112): 217-28.


Hausarzt medizinisch

Asthma oder COPD?

Foto: © shutterstock.com/ AlexLMX

Nur wer eindeutig zwischen Asthma und COPD differenziert, kann eine erfolgreiche Therapie einleiten. Eine sorgfältige Anamnese sollte bereits zur richtigen Diagnose führen (siehe Tab­ elle S. 26). Für die Bestätigung fehlt dann „nur“ noch die Lungenfunktionsuntersuchung. Diese sollte folgende Fragen beantworten: • Wie viel Luft kann aus- und eingeatmet werden? • Wie viel Luft kann wie schnell ausgeatmet werden? Ist die Lungenfunktion eingeschränkt und liegt eine obstruktive Ventilations-

störung (häufigste Ventilationsstörung) vor, lautet die nächste Frage: Ist die Obstruktion teilweise oder gänzlich reversibel? Mit Hilfe des Bronchospasmolysetests, auch Broncholysetest genannt, lässt sich diese Frage beantworten. Dem Autor zufolge sollte eine Lungenfunktionsuntersuchung stets einen Bronchospasmolysetest einschließen. Wer sich dieses Vorgehen angewöhnt, wird immer wieder einmal eine Reaktion bzw. Verbesserung zu sehen bekommen, obwohl eine „normale“ Lungenfunktion das nicht hat erwarten lassen! Merksatz: Eine Lungenfunktion ohne Bronchospasmolysetest ist unvoll­ ständig!

Welcher Bronchospasmo­ lysetest? Grundsätzlich muss zwischen dem akuten und dem protrahierten Bronchospasmolysetest unterschieden werden. Bei einem akuten Bronchospasmolysetest ist wie folgt vorzugehen: • Lungenfunktionsprüfung (= Leerwert), • Inhalation eines Bronchospasmolytikums, z. B. zwei Hübe aus einem Do-

Foto: © Thomas Hausen, privat

Für die Unterscheidung ist ein Bronchospasmolysetest ein MUSS Experte zum Thema: Dr. Thomas Hausen Facharzt für Allgemein­ medizin, Essen, Deutschland

sieraerosol (Beta-Agonist oder Anticholinergikum), • Wiederholung der Lungenfunktionsprüfung nach zehn bis 15 Minuten bei vorheriger Inhalation eines BetaAgonisten* bzw. nach ca. 30 Minuten bei vorheriger Inhalation eines Anticholinergikums. Zu beachten ist, dass die kurz wirkenden Beta-Agonisten nach drei bis fünf Minuten 80 % ihrer Maximalwirkung erreicht haben. Deswegen kann der Folgetest in der Praxis bereits nach zehn bis 15 Minuten durchgeführt werden. Der „verzögerte“ Broncholsyetest kommt zum Einsatz, wenn der Verdacht auf ein Asthma (Reversibilität = Diagnosekriterium) besteht, eine scheinbar „fixierte“ Obstruktion aber die Diagnose als falsch erscheinen lässt. Eine Wiederholung der Lungenfunktionsprüfung sollte entweder 14 Tage nach 20-40 mg Prednisolonäquivalent/Tag (Prednisolon kann bis zu vier Wochen ohne Probleme abrupt abgesetzt werden) erfolgen – oder nach vier bis sechs Wochen, in denen mindestens zwei Mal täglich eine mittelhohe Kortison­dosis inhaliert wurde.

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Hausarzt medizinisch X Tabelle: Unterscheidungsmerkmale von extrinsischem/intrinsischem Asthma und COPD1 Asthma

COPD

extrinsisch

intrinsisch

Alter

ab Kindesalter

> 40 Jahre

> 40 Jahre

Allergien

+

meistens negativ

Ø

familiäre Prädisposition

+

Ø

Ø

Raucher

ja oder nein

meistens

Beginn

plötzlich

schleichend/akut

Entzündung

eosinophil

neutrophil

Schleimhautschaden

reversibel

Auswurf

reversibel?

irreversibel

selten (glasig, zäh, selten gelblich)

häufig (klar bis eitrig)

anfallsartig, insbesondere nachts, meistens trocken anfallsartig anfallsartig (Auslöser oft bekannt) (Auslöser unbekannt)

Husten Luftnot

regelmäßig bei Belastung

Obstruktion

reversibel

nicht immer reversibel

nicht reversibel

Broncholysetest

positiv

positiv bis negativ

in der Regel negativ

Peak-Flow-Werte

schwankend

evtl. schwankend

stabil

Hyperreagibilität

+++

+++

Ø–+

NO-Wert

hoch

hoch

niedrig

Infektneigung

nein (?)

nein/ja

ja

Nasenpolypen

eher negativ

häufig

nein

X Abb.: Asthma oder COPD? Unterschiedliche Reaktionen im akuten Bronchospasmolysetest bei Asthma (links) und COPD (rechts). Bei dem Asthmatiker bessert sich der FEV1-Wert um 37 % = positiver Bronchospasmolysetest mit Teilreversibilität. Die verbleibende Obstruktion ist ein Hinweis für eine über lange Zeit unzureichende bzw. für eine unterlassene antientzündliche Therapie und für das abgelaufene Remodeling mit der funktionellen (fixierten) Obstruktion. Bei der Patientin mit COPD bestätigt die ausbleibende Änderung die Diagnose.2 Patient A

Patient B

6

6

4

4

2

2

0

0

-2

-2

-4

-4

-6 Parameter

EGKS Soll

Messwert

%

BTest

%

Parameter

IVC

6.08

4.94

81

6.18

101

FEV1

4.75

2.89

60

4.61

80

58

72

74

FEV1 % VC

EGKS Soll

Messwert

%

BTest

%

IVC

2.88

3.48

121

3.82

133

97

FEV1

2.47

1.52

61

1.72

70

92

FEV1 % VC

80

43

55

45

57

Quelle: Th. Hausen 4/2013

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Interpretation des Ergebnisses (siehe Abb.) Ein negativer Bronchospasmolysetest bedeutet keine Besserung des FEV1Werts bzw. eine Besserung um weniger als 15 % oder 200 ml. Ein positiver Bronchospasmolysetest bedeutet eine Besserung des FEV1-Werts um mehr als 15 % oder 200 ml. Bessert sich bei einem negativen Bronchospasmolysetest die FEV1 wie eben beschrieben, kann von einer gewissen Hyperreagibilität ausgegangen werden. Im Falle einer COPD muss an einen ACO (Asthma-COPD-Overlap) gedacht werden. Dann empfiehlt es sich, eine antientzündliche Therapie mit einem ICS (inhalierbares Kortikosteroid) wie bei Asthma für mindestens drei Monate zu versuchen. Solch ein Therapieversuch sollte mit der Überlegung unternommen werden, dass die Prognose des Asthmas zwar positiv beeinflusst, die COPD aber nur rein symptomatisch behandelt werden kann, und ein Übersehen ein Fort­ schreiten erlauben würde. Bei einem positiven Bronchospasmolysetest kann überdies zwischen einer teilweisen und einer vollständigen Reversibilität der Obstruktion unterschieden werden. Die völlige Reversibilität einer Obstruktion dient als Hinweis für die fehlende anatomische Fixierung derselben. Bei teilweiser Reversibilität muss davon ausgegangen werden, dass das Krankheitsbild bereits fortgeschritten ist und dass schon eine gewisse anatomische Fixierung der Obstruktion (Remodeling, funktionelle Obstruktion) vorliegt. Die Differenz des FEV1-Werts (siehe Abb.) stellt ein Maß für die Intensität der Schleimhautentzündung bei Asthma dar. Nur dieser Teil der Obstruktion lässt sich durch eine ausreichend bemessene sowie regelmäßig und korrekt vorgenommene antientzündliche Therapie beein­flussen. <

Literatur: 1 Hausen Th., Asthma und COPD für die Hausarztpraxis Thieme 2011. 2 Hausen Th., Pneumologie für die Praxis ElsevierVerlag 2017.


Hausarzt informativ

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Hausarzt pharmazeutisch

Update Apothekenmarkt Die vergangenen 12 Monate im Überblick +++ 4,7 Mrd. Euro Umsatz AVP/KKP* am gesamten Retail-Markt +++ Zahl der verkauften OTC-Packungen ging um 6,8 % zurück, Umsatz stieg um 0,2 % +++ Rx-Markt wuchs um 7,3 % +++ Markante Zuwächse bei Beruhigungs- und Schlafmitteln +++ 2,6 Mio. Euro Umsatz mit den Top-5-OTC-Neueinführungen +++ Hausapothekenmarkt erzielte ein Plus von 7,8 % nach Wert (FAP) +++

OTC-Markt: Daflon® unangefochten auf Rang 1 (siehe Infobox 1) Der OTC-Markt wuchs insgesamt lediglich um 0,2 % nach Wert und liegt nun bei 913 Millionen Euro. In den vergangenen zwölf Monaten wurden fast 70 Millionen Packungen verkauft – das bedeutet einen Rückgang von 6,8 %. An erster Stelle rangiert nach wie vor das Venenmittel Daflon® vor Voltadol® Forte Schmerzgel. Auf den dritten Rang ist Bepanthen® Wund- und Heilsalbe vorgerückt. Neu im Ranking der Top 10 sind Ibumetin® forte Schmerztabletten gelistet. Die übrigen 63,6 Millionen (- 7,7 %) OTC-Packungen, die nicht auf den Rängen 1 bis 10 vertreten sind, sorgten für 834 Millionen Euro Umsatz, das entspricht einem Rückgang von 0,4 %.

X Infobox 1: Top-10-OTC-Präparate nach Umsatz 1. Daflon® Filmtabletten (500 mg, 30 Stück) 2. Voltadol® Forte Schmerzgel (150 g) 3. Bepanthen® Wund- und Heilsalbe (50 mg, 30 g) 4. Passedan® Tropfen (100 ml) 5. Chlorhexamed® Forte alkoholfreie Lösung (0,2 %, 300 ml) 6. Bepanthen® Wund- und Heilsalbe (50 mg, 100 g) 7. Voltadol® Forte Schmerzgel (100 g) 8. Ibumetin® forte Filmtabletten (400 mg, 40 Stück) 9. Thomapyrin® Tabletten (60 Stück) 10. OMNi-BiOTiC® STRESS Repair Pulver (28 Beutel à 3 g)

OTC-Klassen: einige Rückgänge, markante Zuwächse Obwohl Husten- und Erkältungsmittel Umsatzeinbußen von 15,9 % verzeichnen mussten, blieb diese Kategorie an der Spitze des Rankings der führenden OTC-Klassen. Auf Rang 2 sind unverändert Produkte für den Verdauungstrakt zu finden, allerdings mit 0,2 % Umsatzrückgang. Vitamine und Mineralstoffe (+ 12,5 %) gehörten coronabedingt zu den Gewinnern, tauschten mit Schmerz- und Rheumamitteln (+ 1,8 %) die Plätze und belegen nunmehr Rang 3. Die größten Zuwächse (+ 19,2 %) verzeichneten – aufgrund der Pandemie – Beruhigungs-, Schlafmittel und Stimmungsaufheller (Rang 10). Auch Tonika, Geriatrika, Melissengeiste und Immunstimulantia (Rang 8) legten mit einem Plus von 18,2 % ordentlich zu. Ab Rang 5 änderte sich nichts mehr im Ranking der Top 10. Haut- und Schleimhautmittel (+ 5,5 %) finden sich hier vor Herz- und Kreislaufmitteln (- 0,2 %) sowie Mitteln für Blase und Fortpflanzungsorgane (+ 2,5 %). Augenmittel (+ 4,1 %) liegen auf Platz 9.

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Neueinführungen am OTC-Markt mit Dr. Böhm® an der Spitze (siehe Infobox 2) Die Neueinführungen am OTC-Markt waren im vergangenen Jahr für 11,8 Millionen Euro Umsatz verantwortlich, 2,6 Millionen davon entfielen auf die fünf führenden Handelsformen. An der Spitze findet sich Dr. Böhm® Gelenks complex Brausegranulat, eine Kombination aus fünf Gelenk- und Knorpelbausteinen, Vitaminen und Spurenelementen, die für die Beweglichkeit der Gelenke und die Elastizität der Bänder sorgt. Dahinter folgen Novanight® Tabletten mit pflanzlichen Inhaltsstoffen und Melatonin für einen erholsamen Schlaf und AustroHEMP CBD Naturöl aus Biohanfsamen mit natürlichem CBD. Das Ranking der Top-5-OTC-Neueinführungen wird von der Fieberblasencreme Activir Duo und dem kühlenden Rubaxx® Cannabis CBD Gel komplettiert.

X Infobox 3: Die Top 5 der rezeptpflichtigen Neueinführungen (nach Wert) 1. Vyndaqel® Weichkapseln (61 mg, 30 Stück) 2. Dupixent® Fertigpen (300 mg, 2 ml) 3. Kaftrio Filmtabletten (75/50/100 mg, 56 Stück) 4. RinvoqTM Retardtabletten (15 mg, 28 Stück) 5. Lenvima® Hartkapseln (4 mg, 60 Stück)

X Infobox 2: Die Top-5-OTC-Neueinführungen 1. Dr. Böhm® Gelenks complex Brausegranulat, 30 Stück 2. Novanight® Tabletten, 340 mg, 20 Stück 3. AustroHEMP CBD Naturöl plus, 840 mg, 20 ml 4. Activir Duo Creme, 2 g 5. Rubaxx® Cannabis CBD Gel, 120 g

Topumsätze für verschreibungspflichtige Neueinführungen (siehe Infobox 3) Die rezeptpflichtigen Top-5-Neueinführungen sorgten im vergangenen Jahr für 26,0 Millionen Euro Umsatz. An erster Stelle des Rankings steht Vindaqel® zur Behandlung der seltenen Wildtyp- oder hereditären Transthyretin-Amyloidose bei erwachsenen Patienten mit Kardiomyopathie. Dahinter folgen der monoklonale Antikörper Dupixent®, der bei atopischer Dermatitis und Asthma zum Einsatz kommt, und Kaftrio, eine Tripeltherapie aus Ivacaftor, Tezacaftor und Elexacaftor, welche bei Mukoviszidose verwendet wird. Das Top-5-Ranking wird mit dem JanuskinaseHemmer RinvoqTM gegen rheumatoide Arthritis und mit dem Onkologikum Lenvima® zur Behandlung von Schilddrüsen- und Leberkrebs komplett.

Plus am Hausapothekenmarkt (siehe Infobox 4) Der Hausapothekenmarkt verzeichnete im vergangenen Jahr einen Umsatz von 366 Millionen Euro FAP, das ist ein Plus von 7,8 %. Fast 25 Millionen Einheiten wurden verkauft ( - 2,0 %). Im Ranking der Top-10-Arzneimittel in der Hausapotheke änderte sich im Vergleich zum Vorjahr auf den Rängen 1 bis 4 nichts: Xarelto®, ein Antikoagulans, liegt vor Eliquis®, ebenfalls ein Gerinnungshemmer, und vor Humira® gegen rheumatoide Arthritis sowie vor einer zweiten Handelsform von Eliquis®. Neu in den Top 10 im Vergleich zum Vorjahr sind der Gerinnungshemmer Lixiana® auf Rang 8, Cosentyx®, ein Interleukin-Inhibitor gegen Psoriasis, PsoriasisArthritis und axiale Spondyloarthritis, auf Rang 9 und RoActemra®, ein monoklonaler Antikörper gegen Entzündungen wie rheumatoide oder idiopathische Arthritis, auf Rang 10.

X Infobox 4: Hausapotheke: die Top-10-Arzneimittel nach Umsatz 1. Xarelto® Filmtabletten (20 mg, 28 Stück) 2. Eliquis® Filmtabletten (5 mg, 60 Stück) 3. Humira® Injektionslösung im Fertigpen (40 mg, 2 Stück, 0,4 ml) 4. Eliquis® Filmtabletten (2,5 mg, 60 Stück) 5. Zytiga® Filmtabletten (500 mg, 56 Stück) 6. Stelara® Injektionslösung in der Fertigspritze (90 mg, 1 ml) 7. Revlimid® Hartkapseln (10 mg, 21 Stück) 8. Lixiana® Filmtabletten (60 mg, 28 Stück) 9. Cosentyx® Injektionslösung im Fertigpen (150 mg, 2 Stück, 1 ml) 10. RoActemra® Injektionslösung im Fertigpen bzw. in der Fertigspritze (162 ml, 4 Stück, 0,9 ml) Autorin: Mag.a Birgit Weilguni

* erstattungsfähiger RX-Markt, bewertet zum Krankenkassenpreis (KKP), nicht erstattungsfähiger RX-Markt & Consumer Health, bewertet zum Apothekenverkaufspreis (AVP), keine Berücksichtigung von Rabatten und Preismodellen Quellen: IQVIA PharmaTrend, hochgerechnete Apotheken-Sell-out-Daten (AVP), MAT 12/2020., IQVIA DPMÖ, Großhandelslieferungen an Hausapotheken (FAP), MAT 12/2020.

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Ausblick auf die Entwicklung des Pharmamarktes 2021

Foto: © Stefan Baumgartner, privat

Wie die COVID-19-Pandemie die pharmazeutische Landschaft verändern wird „Wir befinden uns in einer Phase der Transformation.“ Mit diesen Worten leitet Mag. Stefan Baumgartner, General Manager der IQVIA Marktforschung GmbH, seinen Vortrag mit dem Titel „Ausblick auf den Pharmamarkt 2021“ ein. Klar sei, dass die COVID-19-Pandemie das Gesundheitssystem verändere, und das wiederum habe direkte Auswirkungen auf die pharmazeutische Industrie. Mag. Baumgartner geht von einem negativen Wachstum des globalen Pharmamarktes im Jahr 2020 aus und schätzt dieses auf 0,9 %. 2021 werde es wieder ein tatsächliches Wachstum von 2,5 % geben, wobei die Indikationsgebiete Onkologie, Diabetologie und Immunologie für 90 % jenes Wachstums verantwortlich zeichnen würden,

Experte zum Thema: Mag. Stefan Baumgartner General Manager, IQVIA Marktforschung GmbH

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prognostiziert Mag. Baumgartner. Es ist „natürlich äußerst schwierig zu bewerten, wie das Wachstum wirklich ausfallen wird, weil die Entwicklungen dieser Pandemie mit einer sehr großen Unsicherheit behaftet sind“, merkt Mag. Baumgartner an. Dennoch lassen sich Trends ableiten, die zeigen, welche Themen aufgrund der Pandemie nun in den Vordergrund treten werden.

Budgetäre Belastungen und Margendruck Jene Summen, die für Arzneimittel aufgewendet werden, machen 15 % des Gesundheitsbudgets aus. Zwar sind solche Ausgaben unter dem Druck der Pandemie im Moment höher, doch ist mittelfristig nicht zu erwarten, dass das Arz-

„Wir müssen davon ausgehen, dass eine digitale Transformation in Gang gesetzt wird.“

neimittel-Budget wachsen wird. „Eher im Gegenteil: Bei der derzeit hohen budgetären Belastung des Gesundheitssystems liegt es nahe, dass in Bezug auf Arzneimittelausgaben zukünftig Einsparungspotentiale gesucht werden“, meint Mag. Baumgartner. Wegen diverser Faktoren sei davon auszugehen, dass es zu einem Margendruck kommen werde. Aus der UmsatzPerspektive werde es bspw. im Pricing und im Market Access tendenziell mehr Barrieren geben und das Zahler-System werde Rabatte verlangen, so der Experte. Einzelne Forschungsprojekte und klinische Studien verliefen im vergangenen Jahr langsamer, ergo werden die daraus resultierenden Produkte später auf den Markt kommen. Ebenso wird der Druck von der Kostenseite zunehmen, denn ein Thema, dem nun ein höherer Stellenwert zukommt, ist die Liefersicherheit. Investitionen werden erforderlich sein, um größere Lager zu unterhalten und um vermehrt auf eine Inlandsverlagerung der Produktion bzw. auf eine Produktion innerhalb Europas setzen zu können.


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Generika und Biosimilars Auch Generika und Biosimilars werden einen noch höheren Stellenwert haben als zuvor. „Diesbezüglich wird es vonnöten sein, dass das Zahler-System neue Vereinbarungen mit den Herstellern solcher Arzneimittel trifft. Es gilt, neue Modelle zu entwickeln, welche budgetäre Erfordernisse berücksichtigen und die Liefersicherheit aufrechterhalten“, betont Mag. Baumgartner. Ein genauer Blick auf die Landschaft der Generika und Biosimilars zeigt, dass ein Drittel der Small-Molecule-Generika aus fünf Bereichen kommt: Schmerz, Antibiotika, blutdrucksenkende Präparate, andere Produkte aus dem kardiovaskulären Bereich und die Produkte der Onkologie. Gleichzeitig „gewinnen Biologika bzw. patentfrei werdende Biologika und Biosimilars wesentlich an Bedeutung“, führt Mag. Baumgartner aus. So habe es im Zeitraum von 2010 bis 2014 28 Milliarden Dollar durch patentfrei werdende Produkte gegeben. In der Periode von 2021 bis 2025 werde wieder derselbe Betrag frei, allerdings werde die Zusammensetzung anders sein. Zwischen 2010 und 2014 seien die Small Molecules für 82 % dieses patentfrei werdenden Volumens verantwortlich gewesen, in der Zeit von 2021 bis 2025 würden es nur mehr 57 % sein, erklärt Mag. Baumgartner.

Veränderungen im Customer Engagement Auch die qualitative Zusammensetzung des Customer Engagements wird sich verändern: „Wir müssen davon ausgehen, dass eine digitale Transformation in Gang gesetzt wird“, macht der Experte aufmerksam. Vergleicht man etwa die Kontaktpunkte der pharmazeutischen Industrie mit Vertretern der Gesundheitsversorgung von Oktober 2019 mit jenen von Oktober 2020, lässt sich feststellen, dass die Kontakte insgesamt nur um einen Prozentpunkt zurückgegangen sind, sich die Anteile der verschiedenen Kanäle jedoch verschoben haben. Während die direkten Marketing-Maßnahmen (direkte Mailings, Telefongespräche) ähnlich hoch geblieben sind, gab es einen Rückgang von Face-to-FaceKontakten. Die direkten digitalen Marketing-Elemente (E-Mailings, E-Detailings, E-Meetings) sind hingegen gestiegen. Mag. Baumgartner empfiehlt, gerade in jenem Bereich effizienter zu werden und Kundenkontakte zunehmend zu „orchestrieren“ – d. h. ein zielgerichtetes und ganzheitliches Kommunikationskonzept für den Arzt anzubieten. Dafür ist es unabdingbar, all jene Themen und Kontakte zu kennen, die besonders interessant für den jeweiligen Vertreter der Gesundheitsversorgung seien, sodass er bestmöglich damit „bespielt“ werden könne. „Und genau in diesem Bereich wird das Thema Exzellenz liegen, sich hier anpassungsfähig zu zeigen und sich optimal darauf vorzubereiten“, unterstreicht Mag. Baumgartner abschließend. Anna Schuster, BSc Quelle: Pressegespräch: IQVIA – Überblick Pharmamarkt 2020 und Ausblick 2021, 12.02.2021.

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COVID-19-assoziierte Diarrhö

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Pathophysiologische Mechanismen und Therapieoptionen

Für den Eintritt in die Wirtszelle bindet das SARS-CoV-2-Virus an ACE2-Rezeptoren an der Zelloberfläche.

COVID-19 ist zwar primär eine Erkrankung der Atemwege, jedoch zeigen nicht wenige Patienten auch eine gastrointestinale Beteiligung. In manchen Fällen sind das sogar die einzigen Beschwerden. Das gastro­ intestinale Symptom mit der höchsten klinischen Relevanz ist die Diarrhö.

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Stark schwankende Daten zur Prävalenz Die Angaben zur Prävalenz einer Diarrhö im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung schwanken stark von Studie zu Studie und liegen im Bereich von 1050 % der Infizierten. Weitere häufig auftretende gastrointestinale Symptome

sind Appetit- und Gewichtsverlust (4050 %) sowie Übelkeit, Erbrechen und/ oder Bauchschmerzen (10 %).1 Oftmals geht das Auftreten von gastrointestinalen Beschwerden mit einer allgemeinen Verschlechterung des klinischen Verlaufs einher. Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse untersuchte die Daten von 4.265 COVID-19-Patienten

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Hausarzt pharmazeutisch aus 20 Studien und kam zu dem Schluss, dass die Symptome Durchfall, Übelkeit und Erbrechen mit einem höheren Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs korrelierten. Für die Symptome Bauchschmerzen und Appetitlosigkeit konnte kein Zusammenhang gefunden werden. Männer waren generell häufiger von Magen-Darm-Beschwerden betroffen als Frauen.2

le. Über die Rezeptorbindungsdomäne des Spike-Proteins dockt SARS-CoV-2 an der Zelloberfläche an ACE2-Rezeptoren an. Während des Infektionsprozesses werden ACE2-Rezeptoren gemeinsam mit dem Erreger internalisiert und von TMPRSS2 gespalten. Allerdings steht dem Körper dadurch weniger ACE2 für andere wichtige Prozesse zur Verfügung.3

Pathophysiologische Mechanismen

Schutzwirkung von ACE2

Die pathophysiologischen Mechanismen einer COVID-19-assoziierten Diarrhö sind Gegenstand aktueller Forschungen. Als wahrscheinlich gilt, dass es durch die Virusinfektion zu einer erhöhten intestinalen Permeabilität und infolgedessen zur Malabsorption kommt. Zudem spielen möglicherweise zwei körpereigene Proteine eine entscheidende Rolle im Krankheitsgeschehen: nämlich ACE2 (AngiotensinConverting Enzyme 2) und TMPRSS2 (transmembrane Serinprotease 2). Beide Moleküle werden in großer Dichte in den Enterozyten coexprimiert. Das SARS-CoV-2-Virus hat eine hohe Affinität zu ACE2 und benötigt diese Struktur für den Eintritt in die Wirtszel-

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Neben seiner Funktion als Oberflächenrezeptor hat ACE2 als Enzym auch eine Reihe schützender positiver Effekte im menschlichen Körper. So spielt ACE2 eine wichtige Rolle im Renin-Angiotensin-System (RAS) und agiert dort als Gegenspieler der schädlichen Wirkungen von Angiotensin-2. Letzteres wirkt über die Aktivierung von AT1-Rezeptoren vasokonstriktiv, proinflammatorisch, apoptotisch und fibrotisch. ACE2 hydrolysiert überschüssiges Angiotensin-2 und begrenzt dadurch jene negativen Effekte. Im Gastrointestinaltrakt kommt ACE2 zudem gemeinsam mit dem Aminosäure-Transporter B0AT1 vor. Dieser B0AT1/ACE2-Komplex reguliert im

intestinalen Epithel die Aufnahme von Aminosäuren aus der Nahrung. Fehlt hierfür ACE2, wird u. a. zu wenig Tryptophan aufgenommen und dadurch die Homöostase der Darmflora gestört. Die Zusammensetzung der rund 100 Billionen Bakterien im Mikrobiom verändert sich: Die Anfälligkeit für Entzündungen und Diarrhöen ist erhöht, die lokale und systemische Immunantwort gestört. Nach COVID-19-Infektionen wurden mehrfach ein Verlust der bakteriellen Diversität und eine Vermehrung von opportunistisch pathogenen Keimen beobachtet. So zeigte eine kürzlich publizierte Studie einen Zusammenhang zwischen einer verminderten ACE2-Funktion sowie schweren Krankheitsverläufen und postulierte, dass Störungen des Darmmikrobioms eine bislang zu wenig beachtete Rolle im Krankheitsgeschehen haben.4

Das Darmmikrobiom thera­ peutisch beeinflussen Bei der Wahl der Therapie sind der Schweregrad der COVID-19-Erkrankung, bestehende Begleiterkrankungen sowie Dauer und Intensität der

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Hausarzt pharmazeutisch Diarrhö zu berücksichtigen. Eine orale Rehydratation mit entsprechend formulierten Elektrolytlösungen ist generell das Mittel der Wahl, da der immense Flüssigkeitsund Elektrolytverlust eine große Gefahr für den Körper darstellen kann.5 Viral und bakteriell verursachte Diarrhöen sollten grundsätzlich nicht mit Arzneistoffen wie Loperamid behandelt werden, denn diese hemmen die Darmperistaltik. Zu bedenken ist auch, dass die häufig für die COVID-19-Behandlung eingesetzten antibiotischen und/oder antiviralen Wirkstoffe zusätzlich zu einer Störung der Darmflora führen können und damit selbst eine Diarrhö auslösen oder verschlechtern können. Der Vorzug sollte Präparaten gegeben werden, welche das Darmmikrobiom positiv beeinflussen. In Anbetracht der zuvor diskutierten Pathophysiologie scheint das Mikrobiom ein logisches therapeutisches Target und die Behandlung mit Probiotika folglich eine plausible Strategie zu sein. Nicht nur für verschiedene probiotische Kulturen, sondern auch für das – ausschließlich lokal wirksame – Antibiotikum Rifaximin wurden günstige Effekte bei einer Dysbiose des Dünndarms nachgewiesen. Die Substanz kann das Mikrobiom offenbar gezielt modulieren und damit die Symptomatik einer ganzen Reihe von Beschwerden – darunter Reizmagen, Reizdarm, Divertikel und bakterielle Fehlbesiedelungen – günstig beeinflussen.6 Inwieweit diese Eigenschaften auch bei einer COVID19-assoziierten Diarrhö greifen, ist unklar. Darüber hinaus ist die Gabe von konventionellen Antidiarrhoika – z. B. medizinischer Kohle, Tanninen oder Apfelpektinen – möglich, wenngleich aktuell keine ausreichende Evidenz für ihren generellen Einsatz im Rahmen einer COVID19-Erkrankung vorliegt. Sie wirken jedoch ganz allgemein einer Schädigung der intestinalen Epithelzellen entgegen.

Der Einfluss von Vitamin D auf ACE2 und COVID-19 Im Übrigen könnte auch ein bestehender Vitamin-DMangel einen Einfluss auf den Schweregrad einer COVID-19-Erkrankung haben. Der Zusammenhang ist einerseits durch die bekannten immunmodulatorischen Wirkungen von Cholecalciferol erklärbar. Andererseits hat Vitamin D interessanterweise einen hemmenden Effekt auf das RAS und reguliert auf diesem Weg u. a. entzündliche Prozesse. So konnte kürzlich experimentell bestätigt werden, dass Vitamin D die ACE2/ACE-Ratio zugunsten von ACE2 beeinflusst. Das führt zu einer verstärkten Hydrolyse von Angiotensin-2 und reduziert so die proinflammatorische Zytokinausschüttung.7 Mag.a Dr.in Irene Senn

Quellen: 1 Cheung K et al. Gastroenterology 2020;159(1):81-95. 2 Arjmand B et al. Gastroenterol Hepatol Bed Bench 2020 13(4):321-330. 3 Hoffmann M et al. Cell 2020;181:271-280. 4 Viana SD et al. Ageing Res Rev 2020;62:101123. 5 D‘Amico F et al. Clin Gastroenterol Hepatol 2020;18(8):1663-1672. 6 Gatta L et al. Aliment Pharmacol Ther 2017;45:604-616. 7 Mansur JL et al. Clin Investig Arterioscler 2020;32(6):267-277.

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Die Saison der Früh­blüher beginnt Kreuzreaktionen bei Pollenallergien beachten der Pollenallergie (auch Hyposensibilisierung, Allergie-Impfung). Im Idealfall erfolgt eine Kombination jener Behandlungsmöglichkeiten. Eine Allergie darf nicht unbehandelt bleiben, weil sonst die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich diese zu einem allergischen Asthma auswächst. Außerdem gilt es, Kreuzreaktionen zu beherzigen, denn nicht nur das bekannte Allergen an sich kann für einen Allergiker kritisch werden.

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Die Frühblüher und ihre Kreuzreaktionen

Zu den allergenen Frühblühern zählen in erster Linie Bäume wie Hasel, Erle, Birke und Esche. Die Blüte der Gräser beginnt etwas später, Ende April/ Anfang Mai, und dauert bis in den September an. Die Behandlung von Pollenallergien besteht generell aus drei Säulen: der Vermeidung des Kontakts mit

dem Allergen (beispielsweise mithilfe der Pollenflugvorhersage, des Einsatzes von Pollenfilter-Masken etc.), der medikamentösen Symptomlinderung (z. B. Antihistaminika, Mastzellstabilisatoren, Glukokortikoide, Anti-IgE-Behandlung) und der Immuntherapie als praktisch einzige „ursächliche“ Behandlung

Innerhalb der Pflanzengruppen, etwa der Birkengewächse, sind Kreuzreaktionen üblich. Sie basieren meist auf deren enger Verwandtschaft. Ähnlich verhält es sich mit Kreuzreaktionen mit Nahrungsmitteln (Näheres zu Nahrungsmittelallergien: siehe auch HAUSARZT 02/21). Nahrungsmittelallergien stehen häufig in Zusammenhang mit Pollenallergien. Bedingt ist das durch eine Ähnlichkeit der Proteinoberfläche jener Allergene. Ein Beispiel hierfür stellt das Birkenpollen-Nuss-KernobstSyndrom dar: Ein Birkenpollenallergiker reagiert allergisch auf den Verzehr eines Apfels, weil das Immunsystem

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Erle (Alnus)

Eschen werden zu den Ölbaumgewächsen (Olaeceae) gerechnet und blühen von März bis Mai. Allergologisch werden sie oft übersehen. Kreuz­reaktionen mit Verwandten sind möglich (siehe Tabelle). Hauptallergen: Fra e1.

Die Erle zählt ebenfalls zu den Vertretern der Birkengewächse. Ihre Blütezeit erstreckt sich von Dezember bis Juni. Die Allergenität ist mäßig bis hoch. Ihr Hauptallergen Aln g1 ist zu > 90 % mit Bet v1 identisch.

Birken blühen von April bis Mai/Juni und wie ihr Name verrät, gehören sie zur Familie der Birkengewächse (Betulaceae). Birkenpollen sind hoch allergen und stellen das wichtigste Baumpollenallergen dar. Das Hauptallergen Bet v1 ist für seine zahlreichen Kreuzreaktionen bekannt.

Esche (Fraxinus)

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Birke (Betula)

Die Hasel gehört der Familie der Birkengewächse an und blüht von Jänner bis April. Die Allergenpotenz und Allergenpräsenz sind als mäßig einzustufen. Hauptallergen: Cor a1.

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das Protein im Apfel (Mal d1) für ein Protein im Birkenpollen hält (Bet v1). Auf eine Lebensmittel-Kreuzreaktion liefern Symptome wie Jucken im Mundund Rachenraum, Mund-, Zungen- und Lippenschwellungen, Heiserkeit, ein Taubheitsgefühl, eine Schwellung der Augenlider und Verdauungsprobleme erste Hinweise. Nachfolgend eine Übersicht über typische Frühblüher. Mögliche Kreuzreaktionen sind der Tabelle zu entnehmen.

Anna Schuster, BSc

Literatur: www.pollenwarndienst.at (abgerufen am 02.03.2021).

X Tabelle: Mögliche Kreuzreaktionen von früh blühenden Pflanzengruppen Birkengewächse Kreuzreaktionen mit Nahrungsmitteln: Kern- und Steinobst, etwa Apfel, Pfirsich, Kirsche, Nüsse (vor allem die Haselnuss), Mandeln, Tomaten, Sellerie, Karotten; exotische Früchte wie Jakobsfrucht (Jackfrucht), Avocado, Kiwi, Litschi, Maracuja und Mango

Kreuzreaktionen mit Pollen von: Birke, Erle, Hasel, Hainbuche, Hopfenbuche, Buche, Eiche, Edelkastanie, Platane

Ölbaumgewächse

Hasel (Corylus) Kreuzreaktionen mit Pollen von:

In dieser Gruppe sind noch keine Kreuz­ reaktionen mit Nahrungsmitteln aufgefallen.

Esche, Ölbaum (Olive), Flieder, Forsythie, Liguster, Jasmin

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Süßgräser Prinzipiell kreuzreagieren Pollen der Gräser untereinander und mit Getreidearten. Dennoch muss ein Allergiker nicht unter allen blühenden Gräserarten leiden.

Kreuzreaktionen mit Nahrungsmitteln:

Als besonders allergen werden derzeit folgende Arten eingeschätzt:

Getreide, Getreidemehl, Erdäpfel, Tomaten, Erbsen, Bohnen, Linsen, Melone, Soja, Erdnüsse

Knäuelgras, Glatthafer, Raygras und unter den Getreiden Roggen. Weniger problematisch scheinen Schilf, Hafer und Hundszahngras zu sein.

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Phytotherapeutika bei unkomplizierter Zystitis Pflanzliche Diuretika und Harnwegsdesinfizientien in der Therapie und Prophylaxe

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Harnwegsdesinfizientien

Eine Zystitis wird meist durch Bakterien der Darmflora verursacht – Antibiotika sollten jedoch wegen zunehmender Resistenzen nur dann eingesetzt werden, wenn es unumgänglich ist. Eine bedeutsame Ergänzung in der Therapie und Prävention von Harnwegsinfekten stellen Phytotherapeutika dar.

Diuretika als Durchspülungstherapie Klinisch äußert sich die unkomplizierte Zystitis meist durch Schmerzen bei häufigem Harndrang. Zunächst kann eine symptomatische Therapie erfolgen, beispielsweise eine Erhöhung der Trinkmenge.1 Diuretika bzw. Aquaretika steigern die Harnmenge, ohne die Elektrolytausscheidung zu erhöhen, und eignen sich daher als Durchspülungstherapie. Spätestens bei Beschwerdepersistenz muss die symptomatische Behandlung durch eine antibiotische Therapie ergänzt werden.1 Um eine Anreicherung des antibiotischen Wirkstoffs in der Blase zu ermöglichen, ist unmittelbar nach der Einnahme darauf zu achten, dass das Harnvolumen nicht erhöht wird. Im Anschluss an die Antibiotikatherapie ist hingegen eine Behandlung mit Diu-

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retika sinnvoll, um rezidivierende Harnwegsinfekte zu vermeiden. Werden Diuretika verwendet, gilt es, auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr hinzuweisen – idealerweise in Form von Teezubereitungen. Außerdem darf bei Ödemen infolge einer eingeschränkten Herz- oder Nierenfunktion keine Durchspülungstherapie erfolgen.2 Eine Auswahl bewährter Diuretika kann der Tabelle entnommen werden.

Aufgrund ihrer antibakteriellen Wirkung bilden Harnwegsdesinfizientien die zweite Gruppe der Arzneidrogen, die bei der unkomplizierten Zystitis eingesetzt werden können. So sind unter anderem Präparate mit Bärentraubenblättern, weißem Sandelholz und mit senfölglykosidhaltigen Pflanzen, etwa Brunnenkressekraut, Kapuzinerkressekraut oder Meerrettichwurzel, zur unterstützenden Behandlung von Harnwegsinfektionen zugelassen.4 Nach der S3-Leitlinie4 kommen jene Phytotherapeutika auch als Präventionsmaßnahme infrage, wenn Frauen unter einer häufig rezidivierenden Zystitis leiden. Bärentraubenblätter und weißes Sandelholz sollten nicht länger als einen Monat eingesetzt werden. Anna Schuster, BSc Literatur: 1 AMBOSS: Urozystitis, Stand: 02/21. 2 Liste der Monographien der Kommission E (BGA/ BfArM). 3 Kubelka W, Länger R: Pflanzliche Arzneispezialitäten aus Österreich 2001/2002, 2. völlig überarbeitete Auflage 2001, Krause & Pachernegg Verlag für Medizin und Wirtschaft. 4 Interdisziplinäre S3-Leitlinie: Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten, Stand: 04/2017.

X Tabelle: Phytotherapeutika (u. a.) als Durchspülungstherapie bei entzündlichen Erkrankungen der ableitenden Harnwege2,3 Pflanze

Wirkung(en)

Mittlere Tagesdosis (Zubereitungen entsprechend)

Brennnesselkraut

diuretisch

8-12 g Droge

Hauhechelwurzel

diuretisch

6-12 g Droge

Birkenblatt

diuretisch

mehrmals täglich 2-3 g Droge

Goldrutenkraut

diuretisch, antiphlogistisch, spasmolytisch

6-12 g Droge

Liebstöckelwurzel*

diuretisch, spasmolytisch

4-8 g Droge

* Hinweis: Bei längerer Anwendung von Liebstöckelwurzel sollte auf UV-Bestrahlung sowie intensives Sonnenbaden verzichtet werden (Furanocumarine können Phytodermatosen hervorrufen). Keine Anwendung bei akuten entzündlichen Erkrankungen des Nierenparenchyms sowie bei eingeschränkter Nierenfunktion.


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X Impressum Herausgeber: RMA Gesundheit GmbH, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien. Medieninhaber: RMA Gesundheit GmbH, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien, Tel. 01-74321708114, office@gesund.at. Geschäftsführer: Johannes Oberndorfer, Gerhard Fontan. Redaktionsleitung: Emanuel Munkhambwa. Redaktion: Mag.a Karin Martin, Anna Schuster, BSc. Layout/Konzept: ZORN health, Philipp Wolf. Lektorat: Mag.a Katharina Maier. Produktion & Grafik: Michael Bauer, MFA. Cover-Foto: shutterstock.com/ Ellerslie. Verkaufsleitung: Mag.a Birgit Frassl, birgit.frassl@gesund.at. Kundenbetreuung: Mag.a Dagmar Halper, dagmar.halper@gesund.at, Alexander Schunk, alexander.schunk@gesund.at. Druckerei: Bösmüller Print Management GesmbH &­Co. KG. Verlags- und Herstellungsort: Wien. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Verlages wieder, sondern fallen in den Verantwortungsbereich der AutorInnen. Der Inhalt von entgeltlichen Einschaltungen und Beilagen sowie die Angaben über Dosierungen und Applikationsformen liegen außerhalb der Verantwortung der Redaktion oder des Verlages und sind vom/von der jeweiligen AnwenderIn im Einzelfall auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt, verwertet oder verbreitet werden. Mit „Bezahlte Anzeige“ gekennzeichnete Beiträge/Seiten sind gemäß §26 Mediengesetz bezahlte Auftragswerke. Grundlegende Richtung: Unabhängige österreichische Fachzeitschrift für niedergelassene ÄrztInnen. Der HAUSARZT – Praxis-Magazin für Primärversorgung – ist ein interdisziplinäres Informations- und Fortbildungsmedium. Offenlegung: https://www.gesund.at/impressum

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