Herman Grimm - Unüberwindliche Mächte

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Herman Grimm

Unüberwindliche Mächte

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Erstes Capitel. Es war in einem der letztverflossenen Jahre* (* Die erste Auflage dieses Romans erschien 1867); zu Anfang des Winters, wenn der erste Schnee fällt; wo das ewig rasselnde Geräusch der Stadt wie durch den Befehl eines Herrschers plötzlich gedämpft wird als hätten Menschen und Pferde Pantoffeln angezogen und glitten die Wagen über tiefe Wolle ndecken hin; wo die Luft sich so rein und kalt einathmet und alle Creatur empfindet, wie wohlthuend und nothwendig die Kälte sei; wo man die ewige Reiseunruh: fort zu wollen oder zu müssen, um irgendwo in der Fremde die Welt besser zu genießen, überwunden hat, und die Zeit fern ist; wo das Treibjagen durch Wirthshäuser und fremde Straßen wieder von neuem beginnt; wo man ein Recht hat, zu Hause zu sein und zu Hause sich behaglich zu fühlen. An einem jener Abende, nach dem Ende der Oper, rollte eine elegante Equipage vor eines der ersten Wirthshäuser unter den Linden. Ein Herr, der neben dem Kutscher gesessen, schwang sich herunter vom Bocke, öffnete den Schlag wie ein Bedienter, und heraus stieg zuerst ein junger Mann, mit den Glanzstiefeln mitten in den weichen Schnee springend, einer älteren Dame die Hand zum Aussteigen reichend, und nach ihr einer Jüngeren, worauf sie alle drei durch die Glasthüre, die der erste Diplomat des Hotels, der Portier, mit respektvollem Lächeln öffnete, ins Haus tretend, gefolgt von einem die Gesichtszüge nicht minder liebenswürdig verziehenden Kellner der Lichter trug, die Treppe heranstiegen. Jener aber der den Schlag geöffnet, sah ihnen so weit nach als sie von der Straße sichtbar waren, rief dann, indem er in den Wagen selbst einstieg, dem Kutscher einige Worte zu, zog die Thüre sich nach und fuhr ab. Es gab nichts behaglicheres als der Anblick der kleinen Karawane auf der Treppe des Hotels. Das Vestibül, glänzend erleuchtet und mit blühenden Sträuchern ausgestellt, der unterthänige Portier, der brillante Kellner, die strahlenden Leuchter, der mit Teppichen belegte sanfte Aufgang, und endlich die drei Hauptpersonen auf seinen Stufen. Die ältere Dame voran, eine stattliche Figur mit energischem Auftreten, die Jüngere nach ihr, eine schlanke Gestalt, deren Füße so sicher und leicht einander überholten, endlich der, der ihr halb folgte, halb sich neben ihr hielt, ein Mann zwischen zwanzig und dreißig, so recht ein Typus aristokratischer Schönheit: breite Schultern, edle Züge und jene herabschauende Ruhe in jeder Bewegung, die den Herrn andeutet der zu befehlen pflegt. Oben fanden sie einen Diener, der sofort aufsprang und die Thür öffnete. Die Damen traten ein, der junge Mann zögerte einen Augenblick. Ich weiß nicht, sagte er mit fragendem Lächeln, ob ich für weiter die Erlaubniß habe? Sie sehen, daß der Thee sie so gut erwartet als uns, antwortete die ältere Dame, indem sie auf einen in der Tiefe des Salons stehenden, von einer Lampe freundlich beleuchteten Tisch deutete, welcher, als passende Illustration ihrer Worte, in der That auf mehr als zwei Personen zu warten schien. Der junge Mann lenkte die Augen dahin. Ich weiß freilich nicht, setzte sie hinzu als er eingetreten war, ob sie Lust oder Zeit haben, uns Ihren Abend noch weiter zu schenken? Die Jüngere, im Begriff, ein weiches, seidenes Tuch vom Kopfe zu binden, das sie lose über's Haar geworfen, hielt für einen Augenblick mit der Bewegung ihrer Hände daran inne und sah den jungen Mann an. Dieser, der noch immer in der Nähe der Thür stand, näherte sich ihr jetzt fast mit einem Sprunge, wie ihm bei dieser Gelegenheit zu thun hier wohl erlaubt war, und indem er ihr behülflich sein wollte, zeigte er wie sehr ihn die Einladung erfreute. Er schien, ehe er sie annahm, auf diesen Blick des jungen Mädchens gewartet zu haben. Ein zweiter Blick jedoch ließ ihn in seiner eben beginnenden Bemühung rasch wieder innehalten und seine Sorgfalt vielmehr der Mutter zuwenden, die sich dann mit seiner Hülfe ihres Mantels entledigte und nun als eine hohe, schön gebaute, wenn auch ältere Frau dastand, die, obgleich man ihr sofort ansah, daß sie keine Deutsche sei, dennoch all die Würde und behagliche Freundlichkeit ausathmete, die sie würdig erscheinen ließen, eine Deutsche zu heißen. Eine Engländerin würde um eine Spur steifer, eine Französin um einen Gedanken

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unruhiger gewesen sein. Sie griff nach einigen Briefen, welche frisch angekommen, wie es schien, auf dem Tische lagen, und setzte sich nieder um sie zu lesen. Das junge Mädchen, an der unterdeß eine Kammerjungfer thätig gewesen, untersuchte den Theekessel, ob das Wasser gehörig brodelte, der junge Mann aber nahm einen Stuhl, rückte ihn so nahe als er thun zu dürfen glaubte neben den ihrigen und sah ihr bei dem Geschäfte der Theebereitung mit einer Andacht zu, als sei ihm die Sache etwas ganz neues und habe er nächstens darüber ein Examen zu bestehen. Jeder Andere hätte das an seiner Stelle wohl auch gethan, denn schönere Hände gab es nicht als die Emmy's. Die frische Gesundheit, die ihr ganzes Wesen besaß, schien aus jeder Fingerspitze auszuströmen. Es giebt Hände, die schön sind, aber zu nichts anderem gut zu sein scheinen als um bewundert zu werden, bald etwas wächsern langweiliges bekommen und zuletzt wie ein überflüssiger Sonntagszierrath aussehen der sich entbehren ließe. Tritt aber als Zuthat zu dieser Schönheit eine gewisse Energie, die ein Gefühl giebt, diese Hände ließen sich halten und könnten selbst festhalten einmal was das Herz liebt, ohne es sich wieder entreißen zu lassen: solche Hände haben etwas entzückend unwiderstehliches. Auch war nichts in Emmy's Erscheinung, das diesen Händen nicht entsprach; zugleich nichts aber in der des jungen Mannes, das ihm nicht ein Recht zu geben schien, neben ihr dazusitzen und sich wie zu sonnen in ihrer Gegenwart. Sie werden den Winter bei uns bleiben? sagte er nach einer Weile. (Wir nennen ihn Arthur nach seinem Vornamen.) Nein, das gedenken wir nicht, entgegnete vom anderen Tische herüber die Mutter. Wir wollten uns in den nächsten Tagen mit Freunden in Dresden treffen. — Sie sind dort bekannt? fügte sie hinzu. Nein, antwortete Arthur und sah seitwärts durch das Fenster auf die Straße herab, wo die Wagen sich kreuzten und die dunkeln Menschen hin- und herströmten. In demselben Augenblicke schlug die auf dem Kamin stehende Uhr zweimal mit hellem Tone, es war halb elf, und wie dieser Klang sein Ohr traf und er die Augen wendend die Stunde sah, die der Zeiger zeigte, durchfuhr es ihn so heftig, daß er, im Gefühl seine Stirn möchte erblassen, einen Augenblick die Hand darauf legte. Rasch sich zusammennehmend aber, überwand er die Bewegung und versuchte zu lächeln. Was haben Sie? fragte Emmy. Ich? antwortete er — ich glaubte — es habe schon elf Uhr geschlagen. Sind Sie an die Stunde gebunden? fragte Emmy weiter, die das alles nicht begriff. O nein, antwortete er, und wollte wieder lächeln, konnte aber nicht verhindern, daß ein Schatten sein Antlitz überflog, der ihm, wenn auch rasch vorübergehend, einen Anflug unbeschreiblicher Traurigkeit verlieh. Emmy sah noch einmal flüchtig auf ihn hin und schwieg. Sie lehnte sich zurück, schlug die Arme untereinander, und sah wie die Spiritusflamme unter dem silbernen Kessel sich summend abarbeitete als könne sie nicht schnell genug mit dem Brennen fertig werden. Im Schweigen der drei Leute lag übrigens nichts unnatürliches. Man kam aus der Oper, hatte dort lange gehört und gesprochen, und gab sich mit Behaglichkeit der angenehmen Erschöpfung hin, die solche Genüsse nach sich ziehn. Trinken Sie den Thee stark? fragte nun Emmy und streckte ihren Arm aus, um seine Tasse zu nehmen. Diesmal antwortete Arthur mit einem Blicke auf die Mutter, indem er die vor ihm stehende Tasse zwar erhob, sie ihr jedoch zu geben zögerte. Emmy wiederholte jedoch, ohne den Arm zurückzuziehn, ruhig die Frage, und Arthur, indem er die Tasse jetzt auslieferte, antwortete, er wolle abwarten, wie sie ihm einschenke und ob sie seinen Geschmack errathen. Mama liebt ihn sehr stark, sagte sie, und nachdem sie eine Tasse mit allem versehen was dazu gehörte, erhob sie sich und trug sie der Mutter hinüber, die ganz in ihre Briefe versenkt war. Darauf kam Arthur an die Reihe, und zwar ließ sie so viel klares Wasser in dessen Tasse laufen, bis

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dieser lachend Halt! rief. Ich dachte, Sie wollten es abwarten? neckte ihn Emmy; sie scheinen ungeduldiger Natur zu sein. Und Sie — begann er, brach jedoch ab, und indem er ein Stück Zucker in seinen Thee warf, nahm er ein zweites dazu, dann ein drittes, dann ein viertes — Halt! rief Emmy jetzt, die ihm zugesehen. Sie scheinen ungeduldiger Natur zu sein, bemerkte Arthur. Sie lachten beide. Arthur fischte zwei von den Stücken wieder aus seiner Tasse heraus, that ein paar Tropfen Sahne hinzu und sah aufmerksam, wie die kleine weiße Wolke sich immer mehr ausbreitete. Es ist so behaglich hier, sagte er. Nicht wahr? erwiederte Emmy. Man hat so gar nicht das Gefühl, als gehörte man eigentlich nicht hierher, was man doch nicht thut, denn morgen oder übermorgen schon sind andere Leute hier die Herren, die aus unsern Tassen trinken und nichts von uns wissen, wie wir von denen nicht, die vor uns gegangen sind. Aber ich weiß nicht, es scheint das in unserer Zeit zu liegen: man fühlt sich heute da erst wohl, wo man so recht das Gefühl hat, man könne mit einem Schlage alles abwerfen und überall sonst sein, wo man will; aber ungebunden, durch nichts beschränkt! Ich kann Ihnen sagen, wir reisen nun schon seit zwei Jahren in Europa umher, und mir ist, als fühlte man sich dann am meisten auf dieser Erde zu Hause, wenn man nirgends an einem Punkt gefesselt ist, sondern, wie sie selbst ja rund ist und überall oder auch nirgends ihre Mitte hat, so auch überall hin sich bewegen könne wohin das Schicksal oder die Laune uns treibt. Was ist Heimath? Ein Haus haben, das uns festhält, oder es mit sich tragen wie eine Schnecke und an jeder Stelle sich zu Hause zu fühlen? Arthur hörte zu und schwieg. Zudem liegt es im germanischen Blute wohl, fuhr Emmy fort, das doch auch in uns Amerikanern fließt. Unsre Vorfahren waren ewig in Bewegung. Ihr Leben war ein Zug durch die Länder. In uns bricht diese Eigenthümlichkeit wieder durch, diese Unruhe, dieser Wandertrieb. Ein ungeheurer Erdtheil ist unsre Heimath: es ist als wollte ihn jeder bei uns überall zu gleicher Zeit besitzen. Die Eisenbahnen sind recht eine germanische Erfindung. Sie gewähren die Erfüllung unserer innersten Naturbedingung. Und wie wir, was Freiheit der Anschauungen anlangt, höher stehen in Amerika als — Sie stockte und erröthete. Arthur schwieg. Sie denken doch wohl anders darüber? sagte sie nach einer Weile, indem sie ihre Geständnisse nicht weiter fortsetzte. Ich begreife Sie als Amerikanerin, nahm er jetzt das Wort. Allein Ihre Ideen entspringen zum Theil vielleicht einer Unbekanntschaft mit dem was sie verurtheilen ohne es zu kennen, ja ohne in der Möglichkeit zu sein vielleicht es überhaupt zu begreifen. Es ist schön, sich so bewegen zu können wenn die Lust dazu treibt, aber welch' ein Glück, einen Fleck des Vaterlandes ganz genau zu kennen vor allen übrigen! Ihn zu besitzen, zu lieben von früh auf und immer wieder zu ihm zurückzukehren. Ein altes Haus, in dem man als Kind spielte, mit Bäumen umher die man selbst pflanzen sah, oder von denen man weiß, daß Vater, Großvater oder Urgroßvater sie an ihre Stelle setzten. Deren Aeste man so genau kennt, von denen man so manchen Herbst die Blätter fallen sah, so manchen Frühling an ihren aufbrechenden Knospen erlebte. Einen Teich, in dem man, so lange man lebte, diese Bäume sich spiegeln sah, ein Dorf dahinter, dessen Felder und Häuser und Gartenzäune man kennt und dessen Bewohner man aufwachsen oder sterben sah. Und ein Wald, in dem man umherstreifte, und eine Ferne, in die man von Kind auf so gern hineinschaute von der Ecke dieses Waldes aus, wo moosiges Gras wächst, in dem man so oft mit den Händen gewühlt hat wie im weichen Fell eines alten Hundes. Welch' ein Glück, das zu besitzen, im Gefühl, es nie zu verlieren. Arthur hatte, während er so sprach, mit glänzenden Blicken vor sich gesehen, als erblickte er in der Luft die Dinge die er beschrieb. Und welch' ein Schmerz, fügte ernun hinzu, das nicht mehr zu haben, und zu denken daß Andere jetzt da die Herren sind. Glauben Sie das nicht, daß uns dies Gefühl fehlte in Amerika, entgegnete Emmy mit Wärme, denn die ganze Art wie ihr Gegner die Dinge faßte, ging in seltsam erregender Weise auf sie über, wir kennen das wohl. Meine Mutter besitzt in der Nähe von NewYork ein Landhaus, unweit des Delaware gelegen und an das die ungeheuren Wälder,

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die dort noch stehen, nahe herankommen: wenn ich daran denke, manchmal, kommt mir ein Anflug unglaublicher Sehnsucht, und oft, wenn wir nahe an großen Flüssen gewohnt haben, wie am Rhein in Basel oder in Köln, und ich hörte Nachts den Strom rauschen, war mir zu Muthe, als solle mir das Herz springen und als müßten mir Flügel wachsen nach Hause. Aber sitzen bleiben für lange möchte ich dort nicht. Ich meine, der Mensch müßte die Fähigkeit allmählich verlieren, überall froh und glücklich zu sein, wenn er immer an einer Stelle rastet; und mit dieser einen Fähigkeit noch viele andere, die damit Zusammenhängen. Man muß die Völker persönlich kennen gelernt haben, man muß die Städte, die Länder, die Gebirge alle gesehen haben, um ein Gefühl zu gewinnen, was die Erde sei: ein Planet wie tausend andere, auf dem wir Menschen die Herren sind und den wir kennen lernen sollen so viel als möglich, um uns dieser Herrschaft bewußt zu sein. Wer immer auf ein und derselben Stelle sitzt, scheint mir, dem muß die Erde wie ein unendlich schreckeneinjagend großes Gebiet vorkommen, das er sich zu betreten fürchtet aus seinen engen Grenzen heraus. Wer aber ein paarmal darum herumgefahren ist, und weiß, daß man, wir mögen vordringen soweit wir wollen, überall Wege und Menschen findet, dem erst muß die wahre Freiheit sich offenbaren, deren es bedarf für den Menschen um sich selbst nicht zu hoch oder zu niedrig zu taxiren. Emmy blickte Arthur fest an als sie geendet, und erwartete eine Antwort. Auf diesen aber schien der Inhalt ihrer Rede und vielleicht mehr noch die Begeisterung mit der sie gesprochen worden war, einen solchen Eindruck zu machen, daß er sich begnügte, stumm dazusitzen und das junge Mädchen mit bewundernder Verehrung anzublicken. Aus dem Munde eines gereisten Mannes würden ihn diese Sätze wahrscheinlich zum Widerspruch getrieben haben, von Emmy aber ausgesprochen und von so strahlenden Blicken begleitet, empfingen sie die Beglaubigung hinreißender Wahrheit. Nun? sagte sie, als er durchaus keine Anstalt machte, seinerseits das Wort zu ergreifen. Mein verehrtes Fräulein, begann er endlich, was Sie sagen, ist gut und schön und sicherlich die Wahrheit. Aber wenn ich Sie ansehe, Sie ein junges Mädchen von achtzehn — Neunzehn! rief Emmy. Neunzehn, corrigirte sich Arthur, wenn ich Sie solche Gedanken, die so viel in sich greifen, mit solcher Leichtigkeit produciren sehe, dann erscheine ich mir mit allem was ich selbst erfahren und gedacht habe, wie eine arme Fledermaus, die in die Morgenröthe hinein verspätet, sich von einer Schwalbe erzählen läßt, wozu Flügel eigentlich gebraucht werden müssen. Sie in Amerika sprechen von der Erde, als könnte es bald Zeit sein, auch den Mond dazu zu erobern und dort die Republik einzuführen. Ihnen gegenüber sitzen wir armen Deutschen wie ein Dutzend Kaninchen in der Ecke eines halbdämmerigen Stalles und fressen allesammt an unserm einen halbwelken Kohlblatt, während draußen in der Sonne die schönsten Felder in die Weite grünen. Ja, so ist es, rief Emmy heiter. Die Erde ist groß, aber der Mensch ist größer. Doch damit Sie es wissen, setzte sie gutmüthig hinzu und neigte ihm die Stirn ein wenig entgegen, es sind das nicht meine eigenen Gedanken, es sind Dinge, die mir, als ich fast noch ein Kind war, ein alter Freund gesagt hat, der nicht weit von unserm Landgute, mitten im Walde ein Haus besitzt, wo er ganz einsam lebt, nur mit seinen Büchern, und freilich auch mit vielen Freunden die ihn dort besuchen. Das Häuschen liegt am Abhange eines Hügels, und man überblickt da eine unendliche Waldfläche. Da war ich einmal bei ihm, ich vergesse den Tag niemals, da deutete er mit der Hand weit hinaus und sagte, nicht wahr Kind, wie groß das ist? Ja, sagte ich. Und nun sagte er, wenn du da am äußersten Ende stehst und siehst wieder hinaus, dann siehst du noch einmal so weit, und so fort und fort, so weit du kommst: immer wirst du glauben, du sähest die Erde unendlich weit vor dir. Laß dich aber nicht irre machen Kind, sagte er, all das, so weit es ist, kannst du alles durchwandern und überwinden und all das ist nur die Decke eines armseligen kleinen Sterns, auf dem wir Menschen die Herren sind. —

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Seit der Zeit ist eine Neugier in mir erwacht, alle die Länder zu sehen, über die ich der Herr bin, und ebenso gut wie ein Kaiser oder König sich in seinem Reiche überall zu Hause fühlen muß (denn das ist wohl seine Pflicht?), kann ich auf der ganzen Erde, wo ich gerade bin, mich als regierenden Herrn und in der Heimath empfinden. Es war viel mehr die Sprache Emmy's als der Inhalt ihrer Worte, die einen immer bezaubernderen Einfluß auf Arthur ausübten. Er schwieg wieder. Er hörte ihr zu, wie man mit den Augen dem Fluge der Vögel folgt. Es war wieder still im Zimmer. Die Mutter las in den Briefen weiter. Emmy schwieg, weil ihr die Bilder, die sie aus Amerika heraufbeschworen, innen vor den Blicken stehen blieben gleichsam, und Arthur, weil die ungeheure Waldfläche die Emmy beschrieben, vor ihm sich auszudehnen und zu schimmern begann, als säße er vor dem kleinen Häuschen im Walde und sänne dort über die weite, weite Welt nach. Er dachte, ob ihm wohl, als er ein Kind war, je ein Mensch in dieser Weise gesprochen haben würde. Dahin wendeten sich endlich seine Gedanken, daß er Emmy bitten wollte, ihm von dem Manne weiter zu erzählen, als plötzlich die Uhr auf dem Kamin sich leise zu räuspern begann und den ersten Schlag von elf Schlägen that, welche in den gehörigen kleinen Pausen hart klingend nachfolgten. Arthur wandte die Augen von Emmy ab und starrte heftig auf das von der Dämmerung des Zimmers etwas verhüllte Zifferblatt, denn der Theetisch stand ein wenig entfernt vom Kamine. Aber er täuschte sich nicht: elf Uhr. Er erhob sich. Er konnte den offenbaren Schrecken, von dem er erfüllt war, so wenig bemeistern, daß Emmy die Veränderung bemerken mußte, die in seinem Wesen vorging. Um Himmelswillen was haben Sie? rief sie aus, aber doch mit gedämpfter Stimme, ihrer Mutter wegen. Arthur war ans Fenster getreten. Eben fuhr unten sein Wagen wieder vor. Da ist der Wagen, sagte er. Es will ein Ende gemacht sein. Emmy war zu ihm getreten. Sie standen einander gegenüber in der Nische des Fensters. Miß Emmy, begann Arthur, ich muß gehen. Er konnte kaum die Worte hervorbringen. Ich muß Ihnen etwas mittheilen zum Abschied, fuhr er endlich fort. Es sind wenig Worte. Sie erinnerten sich daran, wie wir uns zuerst begegneten? Es war auf dem Dampfschiffe zwischen Genua und Livorno. Nun wohl: bis auf den heutigen Tag sind die Augenblicke, wo wir da neben einander saßen, ohne uns zu kennen und ohne mit einander zu reden, die schönsten meines Lebens gewesen. Von heute ab werde ich die dazu rechnen, in denen ich Sie hier wiederfand. Ich fürchte, nein, ich weiß, wir werden uns niemals Wiedersehen. Leben Sie wohl. Er machte einen Versuch Emmy's Hand zu ergreifen; als sie es aber nicht zu bemerken schien, gab er ihn auf. Ohne ein Wort weiter zu sagen, fast ohne die Mutter zu beachten, vor der er sich flüchtig verneigte, da sie während seiner letzten Worte, aufmerksam gemacht durch das seltsame Benehmen, näher getreten war, verließ er das Zimmer. Eine kleine Weile, und man vernahm wie ein Wagen vorfuhr, zugeschlagen wurde und sich entfernte. Emmy stand da wie versteinert. Der geheimnißvolle Einfluß der Uhr, das plötzliche Abbrechen des Gespräches, in das beide so ganz versunken waren, die Abschiedsworte, die er wie ein Fieberkranker mehr herausgestoßen als gesprochen, hatten einen solchen Eindruck auf sie gemacht, daß sie sich wie betäubt fühlte. Sie meinte, alles sei nicht wahr, er müsse da noch stehn, sie hörte ihn noch und suchte ihn mit den Augen, als sei es eine plötzliche Schwäche ihres Gesichts, die ihn ihr entzog. Kind, was war denn das? hörte sie jetzt die Mutter fragen. Sie antwortete nicht. Er sagte, wir sehen uns nie wieder? fragte die Mutter weiter. Ja, ich glaube, er sagte es, antwortete Emmy, setzte sich an den Tisch, bedeckte die Augen mit beiden Händen und blieb so sitzen ohne weiter ein Wort zu sagen. Die Mutter ging Einigemale durch das Zimmer auf und nieder. Dann klingelte sie. Der Diener erschien. Sagen Sie dem Wirth, ich wünschte ihn zu sprechen. Sehr wohl. Nach wenigen Minuten erschien der Geforderte, auch ihm wie dem ganzen Personal das gewöhnliche Lächeln quer durchs Gesicht geschmiert, wobei die Hände gerieben wurden.

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Sie haben befohlen, Mrs. Forster —? Ich möchte Sie um etwas bitten, sagte Emmy's Mutter. Wir trafen heute Abend in der Oper den Herrn der soeben den Thee mit uns getrunken hat. Es ist eine alte Reisebekanntschaft von uns aus Italien. Durch einen Zufall hat er sein Opernglas hier vergessen. Nun gehen wir morgen vielleicht hier schon fort, kennen aber, wie das auf Reisen zu gehen pflegt, weder die Adresse des Herrn noch sein Hotel, und möchten ihm sein Eigenthum gern mit einigen Zeilen zukommen lassen. O, wenn Sie mir das Stück nur gütigst zurückzulassen belieben wollten, unterbrach sie der Wirth. Gewiß, es bleibt nichts anderes übrig. Doch wünschte ich, Sie möchten den Portier, dem die Equipage und ohne Zweifel der Herr vielleicht selbst bekannt sein muß, fragen, wer er ist, und wo er wohnt. Er hat in Italien Gefälligkeiten für uns gehabt, daß ich ihm gern noch, so lange wir hier find, ein paar dankende Worte nachschicken möchte. Der Wirth sagte "sehr wohl" und ging. Emmy hatte sich bei seinem Erscheinen in eine Nebenstube zurückgezogen. Nach kurzem erschien er wieder. Niemand von den Leuten im Hause kenne den Herrn. Auf die Equipage habe man kein Auge gehabt. Wir müssen also wohl annehmen, bemerkte Mrs. Forster, daß er, wie wir gleichfalls, hier nur auf der Durchreise ist. Sollte er nach dem Glase fragen lassen, so wird es unser Diener ausliefern. Ich danke Ihnen. Der Wirth verneigte sich und ging. Mrs. Forster folgte ihrer Tochter. Emmy, sagte sie und legte ihr die Hand auf die Schulter, was ist vorgefallen eigentlich? Du hast es ja gehört, antwortete das junge Mädchen leise. Du hast ja seine Worte vernommen. Er nahm Abschied. Er sagte, er käme nie wieder. Und dir geht das so nahe, Kind? Hat er dir irgend etwas gesagt, das dich das so tief empfinden läßt? Wir hätten ihn ja unter allen Umständen hier kaum wiedergesehn—? Wir wollten ohnedies morgen oder übermorgen abreisen —? O Mutter, sagte Emmy jetzt und sah zu ihr auf, ich habe das nie in meinem Leben empfunden. Wie er erst so ruhig mit mir sprach. Wie er dann plötzlich, als die Uhr schlug, zusammenschauderte. Wie er mir dann sagte, daß er so glücklich neben mir gewesen, und daß wir uns nie Wiedersehen würden — wie er dastand und die Worte einzeln von sich losriß — es durchrieselte mich etwas so furchtbares, eine solche Empfindung von Schicksal, von Verhängniß, von eisernem Zwange des Lebens und grundlosem Elend und Unglück, daß ich es dir nicht sagen und mir selbst nicht erklären kann. Gar nicht, daß ich in Verzweiflung wäre weil ich ihn nicht Wiedersehen soll, ja nur, daß ich daran dächte — warum sich nicht wiederfinden trotz allem? — Nein, nur dies Mitleid — o ein Mitleid, ein Mitleid! Sie brach in Thränen aus, warf sich auf das Bett und schluchzte wie sie in ihrem Leben nicht gethan. Die Mutter stand eine Weile neben ihr ohne das Gefühl recht zu begreifen von dem sie Emmy erschüttert sah. Sie dachte endlich, Thränen seien unter allen Umständen das beste Beruhigungsmittel. Sie hörte im Salon die Stimme des Dieners, der sie suchte. Der Wirth wünsche die gnädige Frau noch einmal zu stören. Er solle eintreten. Mit einigen sehr verwickelten Perioden erklärte derselbe jetzt, es sei ein Herr unten, d. H. auf der Treppe, d. H. vor der Thür, welcher Mrs. Forster dringend zu sprechen wünsche. Er würde ihm alle Hoffnung genommen haben, zu so später Stunde noch angenommen zu werden, wäre ihm der Herr selbst nicht als einer der gentilsten, gesuchtesten jungen Aerzte, Dr. Erwin R., hier bekannt, und wäre er nicht, ward mit einer bedeutsamen Mundverrenkung hinzugefügt, in derselben Equipage gekommen, in welcher der unbekannte Herr vorhin abgefahren. Aus diesen Gründen u. s. w. Mrs. Forster unterbrach seine Suade mit der Bitte, den Herrn Doctor eintreten zu lassen, und es erschien ein junger Mann, hoch, kräftig, mit dunklem Haar und etwas militärischem in der Haltung, gepaart mit einer gewissen geräuschlos, aber festen Art, aufzutreten, der in seinem Ensemble, noch ehe ein Wort gesprochen worden war, den günstigsten Eindruck auf Mrs. Forster machte. Nur weniger vorbereitender Erklärungen bedurfte es darauf, und der Doctor saß ihr gegenüber am Kamin, mit einer Erzählung

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beginnend, die, je länger sie ward, in um so höherem Grade Mrs. Forsters Interesse in Anspruch nahm, während Emmy, an die halboffene Thür ihres dunklen Zimmers schleichend, ungesehen mit noch größerer, ganz anders gearteter Spannung zuhörte.

Zweites Capitel. Erwin, — der Doctor wird im folgenden so bezeichnet werden — war in der anbrechenden Dunkelheit des Tages von dem die Rede ist, beim Opernhause vorübergekommen. Zweifelnd, ob er den freien Abend einmal mit Mozart'scher Musik ausfüllen solle, hatte er halt gemacht, um sich vorerst die zuschwärmenden Menschen ein wenig anzusehen. Man hofft bei solchen Gelegenheiten immer wieder, im Scheine der Dämmerung interessanten Gesichtern zu begegnen, die man bei vollem Lichte zu finden oder aufzusuchen längst müde geworden ist. Doch seine Erwartung fand sich getäuscht. Was er sah, an geraden wie an gebogenen Nasen, hatte ihm bereits die Lust überhaupt genommen, einzutreten, als eine Equipage mit Aplomb vorfuhr und zwei Damen daraus zum Vorschein kamen, von denen die eine ihn durch Schönheit und Grazie der Bewegungen sofort auf seine frühere Idee zurückkommen ließ. Im Begriff, sich ihnen nachzudrängen, hemmte jedoch ein zweiter Anblick seine Schritte. Das Straßenpublikum hatte, wie der Fall zu sein pflegt wo zu Theater, oder Bällen, oder Hochzeiten die Equipagen vorfahren, ein Spalier gebildet, zwischen dem die Insassen der Wagen den kurzen Weg von der Thür des Wagens zu der des Hauses zurücklegten. In der ihm gegenüberstehenden Reihe bemerkte Erwin, als seine Blicke für einen Moment nur die beiden Damen losließen, einen jungen Mann, dessen Augen in so deutlicher Bezauberung ihrer Erscheinung folgten, daß es dem, der den Zusammenklang dieses Spiels beobachtete, in höchstem Grade auffallen mußte. Das Antlitz ein wenig vorgestreckt, den Mund zu unbewußtem Lächeln halb geöffnet, stand er da, und es schien ein dunkles Feuer aus diesen Blicken zu strahlen. Dies aber nur die Hälfte des Erstaunens, das sich Erwins bemächtigte: denn im selben Blicke erkannte er in dem Manne einen Schulfreund, den er Jahre lang nicht gesehen. Die beiden Frauen waren Emmy und ihre Mutter, und ihr Bewunderer Arthur. Ein paar kräftige Schritte brachten Erwin an seine Seite. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und nannte seinen Namen. Der Angeredete wandte sich ihm zu. Das unstete Licht einer Laterne glänzte ihm voll ins Antlitz; kein Zweifel, Arthur war es. Aber die Überraschungen schienen nicht abbrechen zu wollen, denn mit einem plötzlichen Umschwunge war das schöne, unbewußt hingebende Spiel der Mienen fort und an seine Stelle ein gleichgültig finsterer Zug getreten, dem das darauf folgende Benehmen entsprach. Nachdem er Erwin kurze Zeit mißmüthig fremd angesehen, wandte er sich ab und wollte fortgehen. Erwin jedoch eilte hinterher und griff ihn am Arme. Mein Herr? wandte sich jetzt der Angeredete barsch ihm entgegen. Der Ton seiner Stimme jedoch ließ den letzten Zweifel schwinden, den Erwin allenfalls noch gehegt. Seiner Sache ganz sicher, legte er ihm beide Hände auf die Schultern und rief, Arthur! was? Ist es denn eine Unmöglichkeit, mich wiederzuerkennen? Arthur hielt jetzt stand. Statt irgend eines entsprechenden Zeichens freudiger Ueberraschung jedoch, sagte er ruhig und mit gezwungenem Accente, es ist sehr freundlich von Dir, mich wiederzuerkennen, allein es wäre mir lieb, Du ließest mich jetzt meinen Weg weitergehen. Gute Nacht. Und damit ein noch entscheidenderer Versuch, sich loszumachen. Erwin aber war nicht umsonst Arzt. Der Ausdruck Arthurs von vorhin, das trübselige seines Tones jetzt, überhaupt etwas hülfsbedürftiges, das trotz der zur Schau getragenen Kälte in seinem Wesen lag, erweckten beim Doctor den Entschluß, sich nicht abschrecken zu lassen. Er ereilte ihn zum zweiten Male, nahm den gleichen Schritt an, und beide wanderten die Straße entlang.

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Darf man fragen, begann Erwin, nachdem sie zwanzig Schritte so zurückgelegt, wie lange Du hier bist? Es ist, wie ich Dir bereits gesagt habe, nicht meine Absicht, mich in ein Gespräch mit Dir einzulassen, erwiederte er. Wenn Du kurz meine Frage beantwortet hättest, bemerkte der Doctor, dem sein Gefühl sagte, daß er die Beute fest habe, so hätte Dich das die Hälfte weniger Worte gekostet. Und jetzt will ich Dir etwas mittheilen, fügte er höchst energisch hinzu: Du bist, wenn ich nicht sehr irre, in der Lage, einen alten Freund brauchen zu können. Diese Ueberzeugung macht mich so hartnäckig, daß ich sogar beschlossen habe, Dich zu Deinem Hause zu begleiten. Thut mir leid, Dich nicht hierzu auffordern zu können, bemerkte Arthur kühl. Dessen bedarf es auch nicht. Du kennst mich. Ich mache mit alten Freunden keine Umstände. Wohin gehen wir, rechts oder links? Sie waren an einer der großen Querstraßen angekommen, die nach zwei Seiten hin weite, sich im Nebel verlierende Perspectiven von Gasflammen darboten. Arthur stand eine Weile und bog dann stillschweigend um die eine Ecke, womit seine Unterwerfung unter den sich aufdrängenden Eroberer ausgesprochen war. Eine Weile wurde nun kein Wort weiter gesagt. Arthur lenkte noch um manche Ecke, in stillere, endlich einsame Straßen. Vor einem großen Hause wurde halt gemacht, durch einen trüben, zugigen Thorweg ein noch dunklerer Hof erreicht, in eine finstere Thür quer gegenüber der Weg gefunden, und nun, Arthur voran, eine Treppe erklommen, von der Erwin, obgleich absolute Abwesenheit aller Beleuchtung herrschte, das Gefühl hatte, sie müsse auch bei Tage keinen besonders lichten Anblick bieten. Endlich stand Arthur, tastete im Finstern herum und zog an einer Glocke. Eine weibliche Person erschien, der die Küchenlampe, die sie dicht vor sich hielt, einen räthselhaften Schlagschatten von unten in die Höhe über das Gesicht schießen ließ, der sich wunderbar zu bewegen begann, als zum Vorschein kam, daß Arthur nicht allein sei. Sie leuchtete nun voran den Gang entlang, öffnete eine Thür und zündete zwei Kerzen an, die sie mitten auf den Tisch stellte, und ging. Erwin sah sich in einer geräumigen Stube mit mancherlei Gemälden an den Wänden, er fühlte, daß er auf einem Teppich stehe, und sah neben dem Ofen ein Canape, auf das er lossteuerte, sich niederließ und von da aus bei dem heller werdenden Glanze der Lichter den Schauplatz rings zu mustern begann. Der Tisch, auf dem diese standen, in der Nähe eines der Fenster, war ein großer Schreibtisch, wo auch ein paar Blumenstöcke ihren Platz hatten, überhaupt alles sehr ordentlich zurechtgelegt schien. Die Leuchter von schwerem Silber und alter Fasson. An den Wänden unterschied er nun verschiedene alterthümliche Schränke, der Raum zwischen ihnen mit Gemälden in goldenen Rahmen ausgefüllt. Dunkle Vorhänge bedeckten die Fenster, frische, wohlthuende Wärme herrschte in dem Raume. Und mitten drin, regungslos, Arthur mit Hut und Ueberrock, der eine Arm über die Lehne des Stuhls hängend, in tiefe Gedanken versunken. Es heißt, Mohammed habe in einer Secunde siebentausend Unterredungen mit Gott gehabt. Sicher ist, daß wir mit dem Blitze eines Gedankens unendliches zu gleicher Zeit beinahe berühren können. So erging es Erwin, vor dessen Geiste in seiner Gesamtheit plötzlich stand, was er mit Arthur erlebt von seiner ersten Bekanntschaft an. Jene Stunde, als Arthur zum ersten Male in der Classe des Gymnasiums erschien. Ein schwüler Nachmittag, wo durch die offenen Fenster die Sommerluft eindrang, in die jeder Schüler sich hinauswünschte. Arthurs Vater, ein Mann, den sein Stand, er gehörte einer uralten, reichen, gräflichen Familie an, und eine hohe Stellung im Staate zu einer der einflußreichen Persönlichkeiten seiner Zeit machten, hatte die Idee gefaßt, sein Sohn solle eine öffentliche Schule besuchen. Es kam diesem Wunsche gegenüber nicht auf Aeußerlichkeiten an, und an jenem Tage, mitten im Semester, stellte sich Arthur zum ersten Male ein. Er öffnete die Thür, that einige Schritte und sah sich wie fragend um. Aller Blicke auf ihn gerichtet, was ihn weiter nicht zu beengen schien: er fing sie sämtlich mit mehr Verwunderung als Beklommenheit auf und sah den Lehrer

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an, als bitte er um eine Erklärung. Dieser, der die Verhältnisse kannte, wies, ohne eine Sylbe zuviel zu sagen, dem jungen Grafen seinen Platz an und behelligte ihn für diesmal nicht weiter. Erwin aber, neben dem sich Arthur niederließ, war völlig eingenommen von dessen auffallender Erscheinung, und es entstand von diesem ersten Zusammentreffen an eine Freundschaft zwischen ihnen. Arthur war nicht für die Art zu lernen vorbereitet, der er jetzt seine Gedanken anpassen sollte, auch fand er sich niemals recht hinein. Er hatte ein Chaos von Dingen im Kopfe, die er jedoch weder regelrecht gelernt hatte, noch die für die Schule brauchbar waren. Indessen, man machte wenig Ansprüche an ihn. Er gehörte weder zu den Theilnahmlosen, noch zu denen welche zurückblieben, jedenfalls aber behandelte er die Schule von Anfang an als Nebensache. Er hatte etwas brillantes wenn er sprach, und zuweilen, fühlte er sich angeregt, flogen ihm die Antworten wie aus der Luft zu. Im Grunde aber war alles nur ein Spiel. Schön wie ein junger Bacchus, kräftig und wohlgeübt, freundlich, zuweilen dann wieder furchtbar verächtlich, wurde er für die übrigen Schüler anfangs ein Ziel des Angriffs. Als ihnen das mehrfach aber schlecht bekam, ließen sie ihn allmählich gewähren und bekümmerten sich nicht um ihn. Auch Erwin war aus einem gräflichen Hause, und hierin lag das natürliche Band wohl, das sie beide äußerlich zuerst zusammenhielt. Sehr bald entwickelte sich daraus ein innigeres Gefühl und dies um so auffallender, als Erwins Charakter dem Arthurs wenig gleich war. Erwin hatte etwas beinahe pedantisch pflichttreues, etwas ruhiges, stilles, zurückgezogenes. Er lernte langsam, aber es saß wie angeschraubt. Er mußte sich bedenken ehe er antwortete, sprach dann aber mit Ruhe und Sicherheit. Seine Phantasie spielte ihm niemals Streiche, wie Arthur, der ein blitzendes Talent besaß, fernliegende Dinge zu verbinden und Gedanken ins Unerhörte auszuspinnen. Arthur hatte eine überschwengliche Idee von seinem Stande, von seiner eigenen Familie und dem was er im Laufe der Zukunft zu thun hoffte, ohne allerdings noch recht zu wissen, wohin er sich wenden wolle. Doch lag auch in den Verhältnissen eine derartige Anforderung nicht. Erwin war an seinem Grafenthum weniger gelegen. Es schien ihn eher zu bedrücken, daß seinem Namen etwas beigefügt war, das die Anderen nicht auch besaßen. Er wünschte, daß sie es vergäßen und demüthigte sich oft absichtlich, um nicht in den Verdacht des Hochmuthes zu gerathen. Arthur dagegen war stolz. In der Classe nannten sie ihn den Tiger. Beim Turnen hatte einmal einer von den Stärksten sich gegen einen Schwächeren vergriffen, Arthur, nachdem er in befehlendem Tone sich eingemischt und seine Worte ohne Erfolg sah, war mit einem furchtbaren Satze auf den Unterdrücker losgesprungen. Dieser im Gefühl seiner Stärke raffte sich auf und stürmte gegen ihn los, Arthur aber, ihn ruhig erwartend, entwickelte plötzlich eine gewaltige Stärke und ließ ihn energisch ein paar Luftsprünge machen, daß der Kampf nicht wieder aufgenommen wurde. All das nun und eine Reihe anderer Erlebnisse aus jenen Zeiten wachten in Erwins Erinnerung auf. Wie sie die Sonnabend Nachmittage auf ein der Familie gehöriges, der Stadt nahe gelegenes Gut hinausgewandert waren, wo sie im Walde umherstreiften, wo Arthur ihn in die Geheimnisse der Jägerei und Fischerei einweihte, wo er ihn, längst selber ein perfecter Reiter, eine complette Reitschule durchmachen ließ, wo sie jede Untiefe des großen Sees, jeden Fleck im Walde kannten. Wie tausend Raketen zugleich aufsteigen, kam die Erinnerung daran Erwin mit einem Schlage, und als das glänzende Feuerwerk vorüber war und seine Augen wieder auf Arthurs traurigen Anblick fielen, von neuem die Frage: wie hat sich das so umgestalten können? Wie ist ihm zu helfen? Denn daß Arthur elend und geknickt sei, darüber hegte Erwin keinen Zweifel mehr. Er beschloß, wie in acuten Krankheiten, gleich scharfe Mittel anzuwenden. Sahst Du das junge Mädchen vorhin zum ersten Male? fragte er. Arthur sprang auf. Was? Welches junge Mädchen!

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Die junge Dame, die aus dem Wagen stieg am Opernhause, in deren Anblick Du so tief versenkt warst. — Ehrlich gestanden, ich begreife nicht, warum Du, wenn sie einen solchen Eindruck auf Dich machte, nicht lieber jetzt in der Oper bist, statt hier zu sitzen. Ja hier! sagte Arthur, endlich in den alten, natürlichen Ton fallend. Er warf seine Ueberkleider ab und stellte sich vor seinen Freund hin. Mein guter Erwin, sagte er, da Du einmal hier bist und wir doch alte Bekannte sind, so magst Du nun auch die Fortsetzung erfahren. Du wunderst Dich wohl über meine seltsame Wirthschaft? Ueber die steilen, dunkeln drei Treppen im Hinterhause, über die alte Köchin, über das Gerümpel daherum? Sieben Jahre mögen es nun bald her sein, daß wir uns trennten? Sechs, beinahe sieben, nickte Erwin. Arthur spreizte die Finger auseinander, und indem er daran abzählte: drei Jahre studirt, Jura, und mein Jahr abgedient, das sind drei. Ein Jahr auf dem Lande gesessen, vier. Ein Jahr auf Reisen, fünf, und ein bis zwei Jahre in dieser Höhle: macht gute sechs Jahre. Und während dieser langen Zeit —, fuhr er fort und hielt dann inne. Nun, während dieser langen Zeit? fragte Erwin. Kam, was kommen mußte, wenn freilich auch mit einem überraschenden Finale, entgegnete Arthur langsam und düster. Du kennst mich ja. Meine Phantasie war immer das Beste an mir. Ich dachte an eine glänzende Zukunft. Ich war gern auf dem Lande. Ich ging auf die Jagd, ich ritt, ich wäre vielleicht ein ganz guter Jäger oder Bereiter geworden. Ich zeichnete, ich las, ich hatte immer das Talent, mir freie Stunden zu schaffen. Ich hatte Pläne. Ich weiß zwar nicht mehr genau worin sie bestanden: eine gewisse, unbegrenzte Aussicht in die Zukunft. Ich war sehr empfindlich wenn man mir widersprach. Mein Vater fragte mich nie nach dergleichen. Er schickte mich auf die Universität. Auf irgend einem Wege mußte er dann erfahren haben, daß ich da nichts that (was auch die Wahrheit war), denn er theilte es mir scharf mit als ich wieder nach Hause kam, und ich mit einem jungen Juristen aufs Land verbannt, um mit dem das Versäumte nachzuholen. Wie schön war diese Zeit! Mich interessirten die Dinge nun, weil mir der Mann gefiel, und ich lernte tüchtig. Wir lebten ein reizendes Leben da zusammen. Der Mensch hatte sich krank gearbeitet, er war arm, und jetzt glücklich, bei uns Erholung zu finden. Ich nahm ihn in die Cur und sorgte für ihn. Er lebte wieder auf. Er war im Grunde mehr Philolog seiner Neigung nach und schwärmte von einer Reise nach Italien. Mir erschien nichts wichtiger damals, als diesen Wunsch zu erfüllen. Ich brachte bei meinem Vater mit Leichtigkeit zu Wege, daß wir in die weite Welt fortgeschickt wurden. Geld bekamen wir soviel wir wollten, und machten uns davon. Nie war ich so glücklich als auf dieser Fahrt. Er wußte alles und belästigte mich mit nichts. Dort steht sein Bild. Ich habe ihn gezeichnet. In Florenz, da - Datum steht darunter. Er war schon wieder krank damals. Erwin nahm den Rahmen in die Hand, der auf dem Tische stand. Feine, geistreiche, leidende Züge. In Neapel starb er, fuhr Arthur fort. Er bekam einen Blutsturz. Der arme Mensch, und doch war er glücklich bis auf den letzten Augenblick. Er hoffte immer wieder in die Höhe zu kommen. Arthur schwieg eine Weile und berichtete nun in größeren Sprüngen rasch das Uebrige. Wie er in Neapel dann die Nachricht erhalten, daß sein Vater von einem Schlagflusse getroffen darniederliege. Wie er ihn nicht mehr am Leben gefunden. Wie sich bald nun herausgestellt, daß alle Verhältnisse im höchsten Grade verwirrt und trostlos lagen, so daß, nachdem er bezahlt, was zu bezahlen war, und um dies zu können die Güter verkauft hatte, eben genug übrig blieb, um von den Zinsen dieser Reste eines großen Vermögens nothdürftig zu leben. Was diese Stube enthielt, waren die letzten unverkauften Reliquien der kostbaren Einrichtung des Gutes bei der Stadt, die er fortzugeben sich nicht entschließen konnte. Und in der Mitte dieser armseligen Erinnerungen er nun selbst! Planlos fortexistirend, unfähig zu wissen, wohin er sich wenden sollte, ohne Verwandte, ohne Freunde, seit länger als einem Jahre ein einsames Dasein führend. Durch einen unerwarteten

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Schlag den Gedanken entrissen, die ihm eine glänzende Karriere auf den Höhen des Lebens vorspiegelten, und in eine jämmerliche Verlassenheit hineingestürzt, bot er einen Anblick als hätten sich auf eine blühende, nur auf Sonnenglanz eingerichtete südliche Stadt, feuchte, kalte, nordische Regenwolken herabgesenkt und wichen und wankten nicht. Sein Stolz ließ ihn, als das Unheil einbrach, fast ohne zu rechnen, hingeben was die Ehre seines Namens erforderte. Man schrieb ihm das hoch an: er verstand es kaum; man suchte ihm sogar zu helfen: er lehnte es ab; man wollte ihm eine Stellung verschaffen wenn er sich zu den nöthigen Prüfungen vorbereitete, allerlei Leute, die er kannte oder die seinem Vater etwas verdankten, suchten ihn auf und brachten gute Rathschläge in Fülle, aber der Ton mißfiel ihm, in dem zu ihm gesprochen wurde, und man wandte sich ab zuletzt, da er zuerst sich abwandte. Und so geschah, was geschehen war: ein Jahr genügte, um Arthurs prächtige, aufstrebende Natur in ein bleibendes Gefühl unüberwindlichen Unglücks zu versetzen. Ausgelöscht seine hochfliegenden Hoffnungen. Ohne Thätigkeit, ohne Absichten, ohne Willen, sah er Tag auf Tag hingehen, während Erwin, der, in den letzten Jahren von früh bis spät mit Geschäften und Arbeit überhäuft, keine Zeit gehabt hatte, sich um anderes zu kümmern, als was sich nicht mit Gewalt ihm aufdrängte, keine Ahnung hatte von dem Schicksalswechsel seines Freundes.

Drittes Capitel. Arthur, nachdem er einmal in Zug gekommen, erzählte hinreißend. Zu jedem Gedanken ein eigener Accent, eine eigene Mischung von laut und leise, eigene Bewegung. Er trat vor, er trat zurück, ein Blitz seiner Augen leitete zuweilen seine Sätze ein und verfehlte seine Wirkung nicht, denn auch nicht die leiseste Spur von theatralischem Wesen oder Affection machte sich hier bemerklich. Arthurs Stimme war wohlklingend, seine Gestalt prachtvoll, seine Bewegung zuweilen heftig; so unbewußt jedoch schien er sich dieser Vorzüge, so natürlich war sein Wesen, und zugleich so wenig ward der Zusammenklang dieser äußeren Dinge zu etwas sich besonders bemerklich machendem, daß auch Erwin sich seiner Wirkung erst dann bewußt wurde, als sein Freund, nachdem er zu Ende gesprochen, ihm wieder Zeit zum Nachdenken geben zu wollen schien. Arthur war an seinen Tisch gegangen, hatte sich die Lichter näher gerückt, ein Blatt Papier vor sich hingelegt und zu zeichnen begonnen.- Als das eine Weile gedauert, erhob sich Erwin und trat zu ihm. Arthur bemerkte es gar nicht. Er schien sich für allein zu halten, all seine Sinne auf das Blatt concentrirt, auf dem er die Umrißlinien eines Profiles zog. Er war völlig versenkt in diese Arbeit, zuweilen überflog ihn ein Lächeln: die jugendliche Schönheit, die Erwin von früher her im Gedächtniß stand, trat in diesen Momenten wieder hervor, und jetzt, indem Erwin die Linien genauer betrachtete, erkannte er die Züge Emmy's. Unwillkürlich sich vorbeugend, um besser zu sehen, machte er so jedoch seine Gegenwart bemerklich. Im Zweifel, ob das indiscrete über die Schulter sehen nicht vielleicht einen Ausbruch des Unwillens erregen werde, suchte er nach etwas das Arthur ablenken sollte. Unnütze Sorge jedoch, denn Arthur, als er Erwin bemerkte, legte den Bleistift nieder und fragte, ob er erkenne, wer das sei. Jawohl erkenne ich es, sagte Erwin, erwarte aber noch immer vergeblich den Theil Deiner Lebensgeschichte, der von dieser Dame handelt. Ja, ja, sagte Arthur, lehnte sich zurück, sah ihn heiter an und hatte ganz etwas strahlendes, wie er seine Augen so auf ihn richtete. Wir fuhren von Marseille nach Neapel auf einem kleinen neuen Dampfer, der für die Donaumündung bestimmt war und den wir zufällig trafen. Ich, mein Lehrer und noch zwei, drei Herren, die einzigen Passagiere. Das Schiff ging wundervoll; Morgens bei Tagesanbruch fuhren wir in Genua ein, es war ein königlicher Anblick wie uns der Hafen langsam in die Arme nahm.

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Den Tag über blieben wir dort, durchstreiften Stadt und Umgegend und waren gegen Abend zurück. Man gewöhnt sich rasch an ein Schiff, mir war, als uns das Boot zwischen all den Schiffsrümpfen hindurch an unsern kleinen Dampfer brachte, zu Muthe, als käme ich in meiner Heimath wieder an. Die Sonne war unter, wir wollten abfahren, als ein Boot anlegte mit einer Anzahl neuer Passagiere und vielen Koffern. Es war die Dame die Du heute aussteigen sahst, ihre Tochter und einige Dienerschaft. Ich saß am Ende des Verdeckes, um den Anblick der Stadt noch einmal zu genießen, als die Damen herankamen. Sie trugen Reisehüte und Schleier. Ich war weiter nicht neugierig. Sie setzten sich in meiner Nähe nieder. Da schlug die eine, die Tochter, den Schleier zurück, und indem ihre Augen umherstreiften, trafen sie mich für einen Augenblick. Damals sah ich sie zuerst. Dann wurde es dunkel. Die Damen zogen sich zurück. Ich aber weiß, wie ich die lange Nacht dasitzend, die Sterne sah und das Meer, und diesen Blick und dies Gesicht nicht vergessen konnte. Und niemals habe ich sie vergessen seit. - In Livorno anderen Tages verließen sie uns wieder. Es waren reiche Amerikaner, erzählte mir der Capitain, die nach Florenz wollten. Ich kam ihnen wohl noch ein paarmal in die Nähe den andern Morgen, so aber, wie ich sie in jenem ersten Moment zuerst sah, hatte sie sich mir eingeprägt, und überall immer wieder tauchte mir ihr Bild auf. Und heute Abend, als ich dastehe und die Menschen ins Theater strömen, plötzlich erscheint sie mir wieder, und der Zufall will, daß sie wieder mit beiden Augen in die meinigen traf, und was ich empfand in diesem Augenblicke, war so mächtig, daß Du, als Du mich anredetest, mir wie ein Dämon vorkamst der mein Glück stören wollte. Aber warum ihr nicht nach? Warum dastehen und Dich abwenden? Warum jetzt nicht neben ihr in der Oper? rief Erwin begeistert wie Arthur selber. Ist Dir nur an den Visionen gelegen, die Du ihr verdankst, und nicht auch an ihr? Willst Du sie zum zweiten Male so wieder verschwinden lassen? Ich? rief Arthur und sprang auf. Meinst Du, ich hätte Geld übrig für Theater und Equipage? Mein Budget reicht gerade aus, das Leben zu bezahlen das ich führe, und mir ein paar Bücher zu kaufen. Was ich übrig behalte, kommt meinem Pferde zu Gute. Ich bin sparsam geworden. Er lachte ironisch. Ich kann nicht begreifen, wie Euer Vermögen so völlig hingeschwunden ist, sagte Erwin. Warum nicht, wenn Schulden da sind und man Ehre genug hat, für seinen Namen einzustehen? Freilich, es wurden mir allerlei Auswege angedeutet. Meine Familie ist reichsunmittelbar gewesen: man scheint vielleicht gefühlt zu haben — Arthurs Gesicht überflog ein Schimmer, gemischt aus bitterem Hohn und berechtigtem Stolze —, daß dergleichen Häusern gegenüber etwas wie Verpflichtung existire, aber die Ansprüche waren da, und meine Sache ist nicht, zu verweigern was mein Vater als Ehrenmann hätte zahlen müssen. Ich habe es ihnen vor die Füße geworfen, und bin ein freier Mann, der wenigstens denken und fühlen kann wie er will. Und indem er so sprach, klang seine Sprache so rein und vornehm, als wäre er einer von der Familie der alten Cäsaren, der dem Senat gegenüber zu reden hatte. Wieviel hast Du des Jahres? fragte Erwin nach einer Weile. Arthur nannte die mäßige Summe, die eben genügen mochte, Wohnung, Essen und das Unterhalten eines Pferdes zu decken. Und Du hast keine Idee, wie sich durch Arbeit das vermehren ließe? fragte Erwin weiter. Arbeit? wiederholte Arthur, dehnte das Wort und legte eine Fülle von Verächtlichkeit in den Accent, mit dem er es aussprach. Holz hacken? Was ist Arbeit für mich? Meinst Du, ich fühlte das nicht, daß ich nichts thue? Nichts, nichts! Wo aber die Stelle, auf der ich einzutreten hätte, um etwas zu thun? um zu arbeiten? was weiß ich? was kann ich? wozu bin ich tauglich? Und wenn ich mich jetzt, wo mich wahrhaftig nichts stört (er lachte wieder wie vorhin), hinsetzen wollte und lernen —: wo steckt meine Fähigkeit,

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zu lernen? Er schlug sich vor die Stirn. Da geht nichts mehr hinein — und da auch nichts mehr heraus von dem was drin sitzt. Du sollst kein Gelehrter werden, lenkte Erwin ein, niemand verlangt das. Aber bildest Du Dir ein, die Leute würden kommen und Dich bitten, der Welt hier oder dort die Ehre Deiner Person zu Theil werden zu lassen? So gut ist es keinem noch geworden so lange die Erde sich dreht, es sei denn daß man sich an Männer wandte weil man aus Erfahrung wußte daß sie unentbehrlich seien. Oder solche doch vielleicht auch, rief Arthur fast höhnisch aus, von denen sich annehmen ließe, daß sie zu brauchen wären um des Namens willen den sie tragen? Meine Voreltern haben an ihrem Platze ihren Mann gestanden. Die hätte man berauben können bis aufs letzte, wie mich, sie hätten dennoch immer ihren Rang behalten und ihren natürlichen Antheil am Staate. Hier, in unserem Vaterlande? unterbrach Erwin Arthurs Beredsamkeit. Hier und überall! rief Arthur mit Energie. Und in welchem Jahrhundert etwa? fragte Erwin weiter. In welchem Jahrhundert? fuhr Arthur auf, den dieser Widerspruch irritirte. Im — im vorigen! Bitte! — sagte Erwin kalt. Im sechszehnten! rief Arthur. Bitte! wiederholte Erwin. Und indem Arthur so von Jahrhundert zu Jahrhundert herunterging und Erwin immer mit seinem Bitte! dazwischen kam, entstand die wunderlichste Actionsscene. Ich weiß nicht, was Du willst, rief Arthur endlich, mit Deinem „Bitte!" Nur bemerken, entgegnete Erwin, daß Du ein Jahrhundert, wie Du es brauchst, niemals finden wirst. Wer kein Geld besaß, hat niemals etwas gegolten. Und wenn Du ein, zwei, drei Tausend Jahre zurückgingest, und wenn es Königssöhne selber wären: wenn sie ihr Reich nicht mehr inne hatten und es ihnen an Geld fehlte, fragte kein Mensch nach ihnen. Und ich sage Dir, rief Arthur zornig, daß diese Zeiten dagewesen sind. Ich fühle, daß es so war, und deshalb ist es so gewesen! Ich weiß, daß es Tage gab, wo man meine Stellung anders begriffen hätte, und wo es keiner Niedrigkeiten bedurfte von meiner Seite, um mir einen Platz zu schaffen, an dem ich etwas sein kann. Die Grafen, die meinen Namen tragen, drängen sich nicht auf. Meinen Stammbaum mögen sie examiniren, aber nicht mich, denn das, was brauchbar ist an mir, wird mein Auftreten zeigen, und nicht aus dem hervorgehen, was ich darüber zu sagen hätte. Aber freilich, die Zeiten sind nicht mehr die alten, und ich mache niemand Vorwürfe. Aber das Recht bleibt mir doch wenigstens, die Dinge mitanzusehen, und ruhig für mich zu leben, wo niemand meiner Kräfte bedürftig ist. Man hat mich angegangen, in das Regiment einzutreten, in dem ich mein Jahr abdiente. Ich weiß, wie viel Geld das mich seiner Zeit gekostet hat. Jetzt da wiedererscheinen; als armer, von seiner Gage abhängiger Officier? In Friedenszeiten und mit nichts in Aussicht, als besten Falles langsamem Avancement! Oder bei den Gerichten arbeiten, wo bessere Köpfe als ich die Fülle zu haben sind? Oder mir einen elenden diplomatischen Posten erbetteln? Warum nicht Eins oder das Andere von alledem? unterbrach ihn Erwin. Ueberall wirst Du junge Männer aus den ältesten, anspruchvollsten Familien in solchen Carrieren vorwärtszukommen bemüht sehen. Wohl, rief Arthur, mögen sie das thun wenn es ihnen zusagt. Ich habe nicht über Andere zu urtheilen, aber auch was Andere thun, kann nicht Richtschnur sein für das was meine Ehre verlangt. Meine Voreltern waren vor hundertundfünfzig Jahren noch regierende Herren, die Niemand als nur Gott und den Kaiser über sich anerkannten. Sie haben Schlachten gewinnen helfen, in den höchsten Regionen sich als Männer von Gewicht und Einfluß bewegend, ist ihr Name in die Geschichte des Landes ehrenvoll verflochten, und kein Makel befleckt sie als der allein, daß mit den Jahren ihre Besitztümer geringer geworden sind, bis nun, sei es durch ihre Schuld oder nicht, das letzte dahinschwand. Ich mich hineinfinden in diese heutige Wirtschaft? Einen

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einzigen Staat nur begreife ich: den, wo eine Anzahl alter, mächtiger Familien, mit oder ohne König in ihrer Mitte, an der Spitze stehen. Hier aber? Wo Parteien sich um die Oberherrschaft streiten, die nicht einmal Parteien sind! Wo jeder unausgesetzt sich selbst und die anderen über und unter sich beobachten muß, ob er nichts thue oder sage, oder sie nichts thun oder sagen, das als Auflehnung gegen die Vorgesetzten oder gegen die Parole der Partei aufgefaßt werden könnte! In dieses Polizeiwesen ich hinein? Wo man mir um Gottes willen Gelegenheit böte, mich zu erniedrigen —? Halt! rief Erwin, so liegen die Dinge nicht. Ich weiß — Arthur schnitt ihm das Wort ab. Es kommt nicht darauf an, rief er, was Du weißt, sondern was ich empfinde. Mögen Andere die Dinge anders ansehen: ich lasse jeden seinen Weg gehen. Mir aber! Soll mir nicht gestattet sein, davor zurückzuschaudern und still für mich zu leben? Niemand zu belästigen mit Bitten oder Klagen? Niemandem ein Vorwurf zu sein als sich selber? Die Thränen traten ihm in die Augen. Glaube mir, Keiner antwortet schonungsloser auf die Frage: was bin ich? und was wird das Ende sein von dem allen? — Vernichtung! Erwin sah auf den Boden und dachte nach. Der öffentliche Zustand unter dem er selbst litt und so viele leiden sah, zeigte sich in seiner ganzen Unerträglichkeit seinen Blicken. Was vermochte heute irgend Jemand zu idealen Anstrengungen im Dienste des Vaterlandes aufzufordern? Preußen, in einer unhaltbaren Stellung als europäische Macht, zerrissen durch inneren Zwiespalt, ohne Aussicht, sich mit dem übrigen Deutschland zu vereinigen und doch auf diese Verbindung als letztes Heilmittel hingewiesen, schien einer langsamen Selbstverzehrung zum Opfer zu fallen. Wer einmal in einer festen Stellung an diesen Körper gefesselt war, mochte still aushaltend das Seinige thun und weiterarbeitend seine Pflicht erfüllen: wem aber zureden wollen, frisch hineinzutreten und Befriedigung zu erwarten? Gar kein Weg that sich auf, eine Natur wie die Arthurs nach dieser Richtung hin unterzubringen. Ein Mittel, ihn zu retten, wäre gewesen, ihm eine eigene, anreizende Thätigkeit zu schaffen. Aber diese rein aus sich heraus herzustellen, dazu fehlte ihm Alles. Hätte wenigstens der Zwang dringender Armuth ihm im Nacken gesessen. Aber Arthur konnte eben leben. Besser, dachte Erwin, wenn ihm statt dieser neunhundert oder tausend Thaler, die er etwa noch auszugeben hat jährlich, nicht ein rother Heller übrig geblieben wäre. Die Fähigkeit geht ihm nicht ab, etwas zu thun, aber der Begriff des Arbeitens existirt nicht für ihn. Wie Simson, der die Mühle drehen mußte bei den Philistern, würde er das nicht für Arbeit, sondern für Sclaverei halten; und so alles. Reichthum bedarf er. Was ich Ueberfluß nennen würde, das braucht er eben nur um das Gefühl zu gewinnen, daß ihm das tägliche Brot nicht fehle. Aber er muß unter Menschen! Er muß eine Frau haben, die ihn in Verhältnisse hineinreißt, in denen seine Energie erweckt wird! Doch er ist zu stolz, um mit seinem Namen eine reiche Partie zu erkaufen. Schon den Gedanken daran würde er für die ärgste Beleidigung nehmen. Und unter seines Gleichen findet er Niemand, der ihn ohne Amt, ohne Geld, ohne Lust nur ein Amt anzutreten, zum Schwager oder Schwiegersohn haben möchte. Würde ich ihm meine eigene Schwester geben, wenn eine zu vergeben wäre? — Warum aber nicht? Und jetzt in Erwins Hirn ein Gedanke aufblitzend, den er für so brillant hielt, daß er, noch ehe er ihn zu Ende gedacht, damit losbrach. Arthur, rief er, wenn ich Dir die Möglichkeit gewahre, Deine Damen heute Abend noch zu sehen! Sie zu sprechen, ihre Bekanntschaft zu machen vielleicht? Versteh' mich wohl, nur eine einzige Begegnung, nur um Dich ein wenig aufzuheitern. Ohne jeden Zwang, ohne alle Folgen, nur um einmal wieder einen Abend zu verbringen wie in alten Zeiten, und ihr Antlitz noch einmal zu erblicken. Arthur sah ihn groß an. Du kommst mit! fuhr Erwin fort; das weitere bei mir im Hause. Damit rückte er seinen Ueberrock energisch zusammen, vermochte in der That Arthur durch sein bloßes Beispiel, sich gleichfalls fertig zu machen, und keine drei Minuten vergingen, so waren sie nach Erwins Hause unterwegs.

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Erwin wohnte in der besten Gegend. Einige mit vornehmer Einfachheit eingerichtete Räume wurden durchschritten und schließlich ein Zimmer erreicht, wo alles, was ein Herr Abends zum Anzuge gebraucht, auf das sorgfältigste parat gelegt war. Hier, lieber Arthur, begann Erwin, ein Frack! — den Du anziehen wirst; ein Paar Glanzstiefel! — ebenso funkelnagelneu; weiße Halsbinde und so weiter. Du wirst so gut sein, Dich dabei an den Abend zu erinnern, wo Du mich zum ersten Male in Deines Vaters Salons einführtest und in derselben Weise vorher aus Deiner Rüstkammer wappnetest, sowie an die vielen Gelegenheiten sonst, wo einer von uns oft des Anderen Kleider trug. Diesen Anzug brauche ich allerdings für mich, aber nicht vor elf Uhr, bis dahin steht er Dir zur Verfügung. Du hast nichts zu thun, als Dich hier jetzt umzuziehen und mir das weitere zu überlassen. Und nun ein wenig rasch. Damit ging er aus der Stube und Arthur blieb allein. Erwin zeigte in seinem Wesen etwas imperatorisches, die Verantwortung von Anderen abnehmend und sich selbst ausladendes, ganz das Gegentheil von früher, wo Arthur meistens in dieser Art die Initiative gehabt. Beider Carriere hatte dem Einen gegeben was dem Anderen genommen worden war. Dieser Stärke, der Erwin seine bereits großen Erfolge als Arzt verdankte, obgleich das gute Glück wohl ebenso viel dazu gethan, fühlte sich Arthur jetzt unterlegen. Erwins energische Zuversicht überkam ihn selber. Die vornehmen Ueberfluß ausathmende Atmosphäre des Hauses, in das er sich, wie einen Herrn darin, versetzt sah, berauschte ihn. Seine Phantasie, durch die Hoffnung, Emmy nahe sein zu dürfen, schöpferisch erregt, begann die Flügel auszubreiten wie in alten Zeiten; in kindlichem Erwartungsfieber streifte er die alte Hülle ab, um die neue anzulegen, deren ausgesuchte Feinheit und Frische ihn anmutheten, wie einen Bräutigam, der sich zur Kirche anzieht. Stufenweise fortschreitend in dieser Umwandlung schien, Stück für Stück, sein langes Exil in dunkle Verlassenheit hinein von ihm genommen zu werden. Die Erinnerung an ihre ehemalige Vertraulichkeit ließ Erwins Kleider wie eigene erscheinen. Schon war ihm ganz zu Muthe, als sei es sein Haus, in dem er sich befand, und in dem er fortan wohnen würde, als sei ein widerlicher Traum glücklich verscheucht, der ihm Bilder engen, bedrückten Lebens bisher vorgeheuchelt. Nur wie von ferne und halb nur bewußt noch, daß er eine Rolle spiele, wuchs er mit jedem Athemzuge mehr in sie hinein wie in eine Wirklichkeit. Schon fing er an sich zu beeilen, aus Furcht man komme zu spät in der Oper an; im Durchgehen wieder sah er sein Bild durch die Spiegel eilen, fort die Treppe hinunter, wo die Diener die Hausthür und den Wagen offen hielten; fort durch die Straßen nun: es war das sanfte Wogen einer Equipage wieder, die ihn schaukelte; wie in einer fremden Stadt fühlte er sich; durch dieselbe Thür, durch die er Emmy hatte eintreten sehen, schritt er jetzt, Billette fanden sich noch, gerade während eines Zwischenactes traten sie ein, und, als seien hülfreiche Genien mit im Spiele: als erstes was den umherfliegenden Blicken sich darbot, mußten ihre Augen in einer der kleineren Logen Emmy und ihre Mutter ersehen. Platz noch darin hinter ihnen. Wie klopfte Arthur das Herz, als er sich aufschließen ließ, sich still in die Loge hineinwand und auf den letzten Stuhl niedersetzte, während Erwin auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete, was vorfiele. Arthur, als er seine Augen umhergehen ließ, seit wie langer Zeit zum ersten Male wieder in dem Raume, den er in jüngeren Jahren so gut gekannt, und in welchem so alles und alles wie vordem ihn umglänzte, sah sich auf den Gipfel träumerischer Verwirrung hinaufgetragen. Der Vorhang, die Statuen des Prosceniums, das gedämpfte Menschengeräusch, von demselben Lichtgewirr bestrahlt, als nähme das nie ein Ende. Er hörte auf, darüber nachzudenken, woher, und selbst, warum er gekommen, und gab sich dem Gefühl hin das ihn beherrschte. Nun begann die Musik wieder: Mozartsche so wohl bekannte Klänge. Er glaubte nicht gelebt zu haben seit der Zeit, wo er sie zuletzt gehört. Und vor ihm Emmy! Sie hatte sich, als er eintrat, nicht umgewendet, nur die Mutter ihn flüchtig angesehen, die er respektvoll grüßte, was gemessen, aber nicht unfreundlich erwiedert ward. Im Verfolge des Actes erlaubte er sich, seinen Platz zu verändern und näher zu den Damen zu rücken. Dicht hinter

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Emmy saß er jetzt, so entzückt von seinem Dasein, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, mehr zu verlangen und gar sie anzureden vielleicht: es wäre zuviel gewesen. Am Schlusse des Actes blickte auch sie zufällig zurück und ihre Augen begegneten sich. Er wagte nicht, auch sie zu grüßen. Die Damen sprachen englisch zusammen. Arthur war das geläufig. Er horchte. Glücklicherweise hatten sie ihr Opernglas vergessen, während von Erwin bei ihm auch hierfür gesorgt worden war. Er wagte, es der Mutter anzubieten, die es unbefangen annahm. Jetzt, als sie dankend es zurückgab, faßte er den Muth, sie daran zu erinnern, daß sie, wenn auch vor länger als einem Jahre schon, sich in Italien auf ein und demselben Dampfschiffe zusammen befunden. Arthurs perfectes Englisch, die Wendung in der er das wenige sagte womit er die Dame anredete, die Mischung von Unbefangenheit und Zurückhaltung die aus seinem Wesen sprach, ließen ihn sofort als gesellschaftlich berechtigt erscheinen zu dieser Art, sich zu introduciren. Reisende, die sich wiedertreffen, bilden zudem eine Art Freimaurergesellschaft, wo Zutrauen von vornherein einander zugetragen wird. Emmy wandte sich nun auch an ihn und sprach unbefangen mit, auch sie erinnerte sich jetzt jener Fahrt und all der kleinen Nebenumstände, die Arthur vorbrachte. Er aber, der so lange nicht in dieser Weise mit Menschen geredet, entfaltete ein so liebenswürdiges, vertrauenerweckendes, sohnsartiges Wesen der Mutter, ein so bruderartiges der Tochter gegenüber, daß sich das bei Leuten die viel gereist sind, so leicht findende Familiengefühl bald auf das behaglichste einstellte. Die Damen setzten voraus, daß auch er fremd sei in der Stadt, sie fragten nicht, woher er käme, noch wohin er ginge, sie fühlten, worin Amerikaner so geübt sind, den Gentleman in ihm heraus und betrachteten ihn als ihres Gleichen, so zu sagen als ihren Verbündeten. Ueber Arthur aber war etwas gekommen, was die Verzauberung, in der er lebte, nun vollständig machte. Sein Elend vergessen. Zurückversetzt er in die alten Zeiten (die ja nicht so gar lange hinter ihm lagen), wo die Sorge um irdische Dinge ihm eben weiter keine Mühe gemacht, als hier und da zu befehlen oder unbesehen das Geld zu geben das man verlangte. Er meinte auf Reisen zu sein und als Fremder sich an einem idealen Orte zu befinden. Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn dies große, schwirrende, deutsche Publikum plötzlich italienisch oder französisch gesprochen. Und als im Laufe des letzten Actes Erwin, der ihn stets beobachtet hatte, seinen Bedienten in die Loge zu ihm sandte, ob der Herr Graf etwas zu befehlen hätte, kam ihm der Mensch so ganz wie sein eigener Bedienter und der Wagen, von dem gemeldet ward, an welcher Thür er Vorfahren werde, als der seinige vor, daß er die Mäntel der Damen zu bringen befahl, und da sich ihr eigener Diener, auch hierfür schien ein guter Genius gesorgt zu haben, verspätet hatte, auf das unbefangenste um Erlaubniß bat, sie nach Hause fahren zu dürfen. Und so geschah es, was erzählt worden ist. Und nur das eine war Arthur im Gedächtnisse zurückgeblieben: daß elf Uhr die Stunde sei, zu der die Berechtigung, diese Zauberkleider zu tragen, unwiderruflich ihr Ende erreiche. Alles andere hatte er vergessen. Nicht bemerkt, wie Erwin, der sich neben den Kutscher geschwungen, in einer Art Uebermuth über das Gelingen seines Planes selbst den Bedienten gespielt und am Hotel den Schlag geöffnet; ihn selbst dann nicht erkannt, als Erwin im Ton und der Stellung eines Kammerdieners ihm die Worte nachgerufen: Punkt elf wird der Wagen wieder vorfahren, Herr Graf. Die Stunde aber hatte sich ihm eingeprägt, und, als er dem betäubenden Eindrücke der Oper entrückt, still neben Emmy saß, war der erste Schlag der Uhr vom Kamine her wie ein gespenstisches Memento an sein Ohr gedrungen. Er überwand es jedoch. Er wollte diese letzte halbe Stunde noch rein genießen. Morgen, wußte er, war der Traum für immer vorüber, jetzt wenigstens ihn noch festhalten. Als dann die unbarmherzige Stunde aber kam, erschütterte es ihn um so stärker. Die letzten Worte hatte er gesprochen ohne zu wissen und zu wollen, die Treppen war er hinabgestürzt und in den Wagen einsteigend und fortgerissen von

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Emmy in Verzweiflung gefallen, bis er bei Erwin als die Beute eines Gefühls anlangte, das dessen tiefstes Mitleiden erregte. Erwin hatte gar keinen Werth auf das Innehalten der Stunde gelegt, ja vorausgesetzt, Arthur werde, nachdem alles so gut gegangen, sich wenig um Zeit und Stunde kümmern. Er erwartete ein fröhliches Gesicht, begeisterte Erzählung, Dank, Hoffnungen und Pläne. Da sah er ihn eintreten, bleich, seinen Blicken ausweichend, und nachdem er sich zuerst in einen Stuhl geworfen, sogleich wieder aufspringen und mit großen Schritten durch das Zimmer gehen. Nun, Arthur? rief er endlich. Ja, nun? sagte dieser und stellte sich vor ihn. Der Zweck ist ja erreicht. Ein Betrug mehr in der Welt gespielt, und ein Betrüger mehr auf der Stelle wenigstens auch bestraft worden! Betrug? starrte ihn Erwin an. Ja, Betrug, rief Arthur wild, indem er die Kleider abzureißen begann wie ein Wahnsinniger der ins Wasser springen will. Was anders als Betrug? Diesen Leuten die Idee beigebracht zu haben, man sei reich und glücklich. Welch erbärmliche Schauspielerei, der ich die paar Stunden wurmstichigen Glückes verdankte. Unwürdig meiner und meines Namens. Warum mich verführen? Warum mich nicht diese Erinnerung als einen nie erlöschenden Stern rein vor mir stehen lassen, und wäre es ewige, trübe Jahre hindurch, statt mich in ihre Nähe zu Hetzen, damit ich den Nektar kostete und jetzt für immer vernichtet bin! O erfrischt würde sie mich haben diese kurze Erscheinung. Warum mir mit Gewalt mehr geben wollen? Was habe ich Dir gethan, daß Du mir gegen meinen Willen diesen Schein des Glückes schafftest, den nichts festhält, der mich mein Elend um so furchtbarer fühlen läßt? Sie gehen! Keine Gelegenheit, ihr zu Füßen den Betrug einzugestehen. Von ihr zu hören, daß sie mich nicht verachtet. Nein, erniedrigt vor mir selbst, einsam wie ein Verbrecher in seiner Zelle, schleiche ich nun so weiter, und all die Herrlichkeit, die mir ewig vor Augen steht, ist nichts als ein ewiger Hohn und ein Vorwurf! Erwin traf der Ton, in dem diese Sätze hervorgestoßen wurden, mitten ins Herz. Was er für die Ausführung eines gloriosen Planes gehalten, aus dem für Arthur vielleicht, das nämlich schwebte ihm vor, ein völliger Schicksalswechsel sich ergeben konnte, erschien ihm jetzt wie ein kindisches Spiel mit einem Herzen, dessen zartes Gefühl er nicht in Rechnung gebracht. Und was ihn vollends ergriff: der letzte Umschlag, der nach Arthurs ersten stürmischen Ausbrüchen eintrat. Denn er begann ruhig zu erzählen nun. Er sprach von Emmy's Schönheit. Er begann zu wiederholen was sie gesagt. Er schilderte was er gefühlt. Jetzt so gemessen in jedem Ausdrucke, als berichtete er von einem Anderen oder als spräche er mit sich selber. Hatten seine leidenschaftlichen Worte Erwin erschreckt vorhin, so rührte ihn jetzt diese einfache Erzählung um so tiefer. Zwei Menschen, die für einander bestimmt schienen, sollten so von einander gehen. Er wühlte in sich herum, was zu thun sei. Morgen schon wollten die Damen reisen, hatte Arthur gesagt! Heute noch mußte er sie zu sprechen suchen! Das wenigstens sollte erreicht werden, daß Arthur Emmy noch einmal begegnete. Daß sie ihm verziehe. Vielleicht, daß dies Zusammentreffen dann doch nicht das letzte war! Daß Emmy sich als ein Mädchen zeigte, von dem Arthurs Charakter verstanden und die Schicksalsaufgabe begriffen ward, ihn nicht in Einsamkeit versinken zu lassen. Entweder stand sie so hoch als Arthur sie darstellte, dann war es ihr nicht zuviel zugetraut; oder Arthur hatte sich geirrt: dann um so besser, sie noch einmal zu sehen und den Irrthum gewahr zu werden. Unter dem Vorwande, den Ball jetzt noch zu besuchen, auf dem er sich in der That einen Augenblick hätte zeigen müssen, verließ Erwin Arthur, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen, seine Rückkehr zu erwarten, und fuhr in das Hotel, wo es ihm gelang vorgelassen zu werden.

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Viertes Capitel. Als Erwin mit seiner Erzählung zu Ende war, saß Mrs. Forster eine Zeit lang schweigend da. Die Uhr, deren Schlag Arthur so sehr erschüttert, tickte, und Emmy hielt den Athem an und erwartete was ihre Mutter sagen würde. Was soll ich thun, Herr Doctor, sagte die Frau endlich, indem sie ihre Blicke auf ihn richtete. Ihre Abreise hinausschieben um wenige Tage. Arthur vielleicht Gelegenheit geben, sich Verzeihung zu erbitten. Ihm möglich machen, sich zu beruhigen. Und endlich, mir selbst verzeihen, daß ich dieses Unheil angerichtet. Meinen Sie, Herr Doctor, fragte Mrs. Forster ganz unbefangen, Ihr Freund würde die Absicht gehabt haben, meine Tochter zu heirathen, für den Fall daß er sein Vermögen nicht verloren hätte? Diese Frage kam Erwin unerwartet. Er wiederholte sie sich im Stillen. Arthur mit seinem Range, seinen Ansprüchen, seinem Adelsstolze, im vollen Besitze seines Vermögens? Die leidenschaftliche Erregung, als deren Beute er ihn eben erblickt, gab durchaus kein Recht, auf das zu schließen, was er bei ruhiger Ueberlegung gethan haben würde, im Gegentheil, sie ließ vielleicht eher einen raschen Umschlag voraussetzen. Nein! sagte ihm eine Stimme. Aber er schwieg. Sie geben mir keine Antwort? bemerkte Emmy's Mutter nach einer Weile. Sie wissen, gnädigste Frau, begann Erwin jetzt, wie kurz meine erneute Bekanntschaft mit Arthur ist. Ich habe ihnen erzählt, was ich von ihm weiß. Zu wenig, um auf eine Frage wie die Ihrige Auskunft zu geben. Sie, eine Frau, und eine Frau von Erfahrung, die Sie Arthur zudem ganz unbefangen beobachten konnten, sind sicherlich viel befähigter als ich, eine Antwort auf Ihre Frage zu finden. Diesmal schwieg Mrs. Forster. Das weiß ich, nahm Erwin das Wort, nachdem er eine Zeit lang abgewartet was sie sagen würde, daß Arthur durchaus edel angelegt ist. Aber ob solch ein Charakter, so empfindlich, mit so idealen Begriffen vom Leben, im Stande sei eine Frau glücklich zu machen, zumal eine Amerikanerin, deren Anschauungen in so vielen Dingen den unsrigen, und ganz besonders den seinigen, entgegenlaufen, wie ich annehme, ist eine andere Frage. Sie widersprechen sich da selbst, scheint mir, sagte jetzt die Frau und lenkte ihre klaren, klugen Blicke wieder auf Erwin; denn ihre Absicht, als Sie Ihren Freund dazu brachten sich uns zu nähern, war doch jedenfalls die, ihn besonders meiner Tochter nahe zu bringen. Erwin schwieg eine Weile und wagte nicht, diesen Blicken zu begegnen. Ich habe mir deshalb Vorwürfe zu machen, sagte er ernst. Man soll in das Schicksal der Menschen nicht so eingreifen wollen. Und doch, da Sie eine Frau von Erfahrung sind: halten Sie für so sehr strafbar, was ich gethan habe? Nein, erwiederte Mrs. Forster. Es war vielmehr sehr natürlich von ihrer Seite gehandelt. Aber Sie werden auch meine Frage natürlich finden. Gewiß, gnädigste Frau, und um die Antwort darauf zu erhalten, deren es bedarf, entschließen Sie sich vielleicht, Arthur zu sehen? Was Sie zu wissen verlangen, erfahren Sie dann aus eigner Anschauung. Denn ich selbst wäre, wie ich gesagt, kaum im Stande, eine richtige Entscheidung zu geben. Erwin glaubte nie einer liebenswürdigeren, klareren Frau begegnet zu sein. Das ist es, sagte Mrs. Forster, gedankenvoll. Nehmen wir an, ich wäre im Stande, mit ein paar Federzügen Ihrem Freunde zu ersetzen was er an äußeren Gütern verloren hat: würde es meiner Tochter und sein Glück sein? Erwin hatte darauf nichts mehr zu erwiedern. Es trat eine lange Pause ein. Endlich erhob sich Erwin. Die Uhr schlug eins. Da Sie Ihren Aufenthalt nun vielleicht um einige Tage verlängern, sagte er, erlauben Sie wohl, daß ich morgen einen Versuch mache, Sie zu sehen? Gewiß, erwiederte Mrs. Forster, ich bitte darum. Gute Nacht.

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Gute Nacht. Sie drückten sich die Hände und trennten sich. Erwin überlegte auf dem Heimwege ob er richtig gehandelt. Es schien ihm so. Er fand Arthur still dasitzend. Er fragte nach nichts, Erwin meinte, es sei besser, ihm heute nicht mitzutheilen, wo er gewesen und was er erreicht. Er machte ihm den Vorschlag, die Nacht bei ihm bleiben. Arthur dankte; ein Spaziergang werde ihm wohl thun, meinte er, und ging. Er war ruhiger, ruhiger als Erwin, der jetzt die Ereignisse des Abends noch einmal überlegend, immer wieder zu zweifeln begann, ob dieser zweite Schritt nicht abermals ein falscher gewesen. Das freilich konnte er sich sagen: was ihn selbst anlangte, war diese Begegnung nicht unwichtig. Die Frau hatte ihn angezogen und ein Gefühl in ihm erweckt, als sei ihm bestimmt, sie nicht sobald wieder loszulassen. Man hat manchen Menschen gegenüber auf der Stelle die Vorahnung, es sei uns vom Schicksal zuertheilt, noch viel zu erleben mit ihnen. Daß er Emmy kennen lernen müsse, erschien ihm nun fast als Nothwendigkeit, und seine Neugier in dieser Richtung hatte etwas von Ungeduld an sich. Am nächsten Morgen wollte er mit Arthur reden und dann den Damen das Resultat mittheilen. Arthur hatte währenddem einen langen, planlosen Weg begonnen. Er ging durch die verschneiten Straßen, in denen sich nur vereinzelt Leben noch regte, ohne darauf zu achten wohin er sich wendete. Sein Herz aber lenkte ihn. Nicht lange, so stand er vor dem Hotel, in dem Emmy wohnte. Er sah hinauf. Nur wenige Fenster noch waren erleuchtet. Er berechnete, welches die Zimmer wären, in denen er mit Emmy zusammen gewesen. Ein Lichtschimmer fiel durch die Vorhänge. Ob sie wohl noch wach ist? Nicht weiter dachte er. Nicht etwa: ob sie wohl an mich denkt? es kam ihm nicht in den Sinn, an eine Zukunft zu glauben mit Emmy. Aber er war festgebannt und sah hinauf, wie ein Hund zuweilen nach den Fenstern seines Herrn hinaufblickt, als erwartete er seine Gedanken von da oben. Emmy schlief nicht. Sie saß da und dachte an Arthur. Unaufhörlich durchzog ihre Stirn der Gang des Gespräches zwischen Erwin und ihrer Mutter. Wie bei einem künstlichen Wasserfall das herunterfließende Element durch einen heimlichen Mechanismus immer wieder obenauf gegossen wird, um den alten Weg zu wiederholen, zwang sie eine Kraft, die sie bis dahin noch niemals in sich arbeiten gefühlt, immer dasselbe von Anfang an wieder durchzudenken, stets dieselben Bilder von frischem zu sehen. Es war alles so seltsam, so traurig, so ganz neu. Niemals hatte sie von solchen Schicksalen gehört. Arthur schien ihr unrettbar verloren, als läge ein unbewegbarer Felsen als Grabstein auf ihm, und dann doch wieder hob sich die Last wie eine aufschwebende Nebelwolke fort; als sei es leicht, die Dinge zu glücklichem Ausgange zu wenden. Sie war reich genug, um ihm alles zu schenken ja, dessen er bedurfte. Kaum aber hatte sie das gedacht, so kam es ihr vor, als sei es doch unmöglich, und dieser Wechsel des Gefühls: einmal als lägen die Dinge leicht und hell vor ihr, und dann wieder, als seien sie unabänderlich und finster, wurde immer quälender, je länger er dauerte und hielt sie wach, als sollte sie überhaupt nie wieder schlafen. Sie trat ans Fenster, schob die Vorhänge auseinander, öffnete das Fenster und athmete die klare, sanfte Kälte der Nacht ein. Kein Lüftchen regte sich. An den Zweigen der Bäume hing der lose Schnee und der aufgehende Mond streifte aus dämmernd goldenem Lichte ihre obersten Spitzen. Unten stand eine Gestalt, dunkelschwarz, regungslos und sah empor. Emmy dachte daß es Arthur wäre. Sie wußte nicht warum, aber es schien ihr unmöglich daß er es nicht sei. Neben ihr auf dem Tische lag ein kleiner Strauß Veilchen. Sie nahm sie, ließ sie herabfallen, schloß das Fenster und löschte das Licht aus. Arthur hatte sie gesehen. Er schlich unter das Fenster, wo die Blumen im weichen Schnee lagen. Er nahm sie auf, sog ihren Duft ein und suchte dann endlich den Weg nach Hause, wo die alle Köchin neben ihrer Lampe auf dem Stuhle sitzend, schlafend seine Ankunft erwartete.

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Fünftes Capitel. Erwin erschien gegen Mittag des folgenden Tages bei den Damen. Sie waren nicht zu Hause, hatten jedoch die Bitte hinterlassen, daß er sie erwarten möge. Er saß am Fenster des Zimmers. Aerzte haben ihre eigenen Erinnerungen. Es war nicht lange her, daß er auf demselben Stuhle die Leidensgeschichte eines todtkranken Russen angehört, der seine Hülfe in Anspruch nahm. Wie viele Existenzen waren sternschnuppenartig so an ihm vorübergegangen, leuchtend nur so lange als sie an ihm vorüberstreiften, und dann wieder im allgemeinen Dunkel sich verlierend. Der Mensch wird hartherzig durch dergleichen, gleichgültig wenigstens. Erwin überlegte die Begegnungen des vergangenen Abends und sah sie bei weitem ruhiger an: das Schicksal hatte ihn zu sehr daran gewöhnt, sich da mit einer gewissen fatalistischen Kälte abzuwenden, wo nichts eingreifendes zu thun war. Und fast schien ihm jetzt, als lägen die Dinge so. Da ging die Thür auf und Emmy trat ein. Es war von der Dienerschaft versäumt worden, ihr zu sagen, daß Erwin drinnen sei. Sie hatte sich von ihrer Mutter unterwegs getrennt und war so früher als diese zu Hause. Sie fuhr zurück als sie den fremden Herrn erblickte. Erwin nannte seinen Namen. Sie erröthete. Die Kammerjungfer erschien um ihr ihre Sachen abzunehmen. Wie befindet sich Ihre Frau Mama, fragte Erwin, der es für am passendsten hielt, den Schein gelten zu lassen, als sei er um deren Gesundheit anwesend. Sie muß gleich hier sein, antwortete Emmy, die, zuerst unbefangen, plötzlich, als sie die Stimme wieder hörte, welche in der Nacht so tief ihr Herz ergreifende Dinge erzählte, sich nun verlegen, ja fast beängstigt fühlte. Sie setzte sich am Kamine nieder. Ich habe unseren armen Freund heute noch nicht gesehen, fuhr Erwin fort, indem er ihr folgte und halb neben, halb vor ihr stand. Sie schwieg. Nur einmal überglitten ihn rasch ihre Blicke. Erwins Aeußeres paßte nicht recht zu seiner Stimme, die etwas festes, aber mildes, vertrauenerweckendes hatte, während er selbst, in feinem stattlichen, starken Auftreten, wie ein Mann dastand der zu commandiren pflegt und eher zurückstößt als anzieht, wenigstens sich nicht darum kümmert, ob er das eine oder das andere thue, vielleicht überhaupt nicht um das, was man von ihm dächte. Emmy wußte selbst nicht, warum sie so urtheilte, aber die Gedanken kamen ihr eben. Sie kennen den Grafen seit langer Zeit? fragte sie. Seit meiner Kindheit, antwortete Erwin. Ueber ein Jahr lebt er jetzt in dieser Abgeschlossenheit? fuhr sie fort. Es muß furchtbar sein. Bald zwei Jahre, sagte Erwin. Ohne Freunde, ohne Verwandte, ja ohne, wie es scheint, einen Menschen überhaupt, mit dem sich ein Wort sprechen ließe. Und ohne Ziel und Thätigkeit! ergänzte Emmy. Gott im Himmel, rief sie aus, ohne Gelegenheit, etwas zu thun! Kann ein Mann das ertragen? Fühlt er nicht, daß die Welt seiner bedarf? Daß ein Mensch mit gesunden Kräften nicht umsonst da sei? Daß er sich betheiligen müsse an der Arbeit für das Wohl des Ganzen? Wir in Amerika — sie unterbrach sich plötzlich, aber ihre Augen glänzten. Sie glauben nicht, nahm sie die Rede dann wieder auf, als Erwin schwieg, wie das auffällt und zumal in Deutschland. Feiner sind hier die Leute, zarter in den Gedanken, rechtlicher in den Handlungen vielleicht, so weit sie offenbar und öffentlich geschehen; aber bei uns! Diese Thätigkeit, dieses Drängen, etwas zu thun und zu sein! Man meint, in Deutschland schliefen die Menschen, und erwachten nur dann und wann, um sich aufzuraffen und zu sehen was währenddem geschehen sei, wie man Nachts erwacht wenn ein Gewitter ausbricht: Amerika scheint ruhe- und schlaflos dem gegenüber. Hier hat man nichts als stille, abwartende Gedanken, bei uns kommt man nicht dazu: der Boden dröhnt ewig wie auf einem Dampfschiffe, und man selber geräth in dies Zittern mit hinein. Dort müßte der Graf das Leben kennen lernen? Emmy stockte plötzlich, weil sie bemerkte, daß Erwin sie scharf und unverrückt ansah. Sie hatte halb gegen den Kamin gesprochen, weniger

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um Erwins willen, als weil Arthurs Bild diese Gedanken in ihr erweckte. Jetzt ward sie inne, mit welch auffallendem Feuer sie geredet, und fühlte sich so verlegen, daß ihr alle weiteren Gedanken ausblieben. Sollten Ihnen die amerikanischen Zustände nicht doch ein wenig zu brillant erscheinen? sagte Erwin. Aus der Ferne sieht sich das anders an. In Amerika später werden Sie vielleicht weniger ungünstig von Deutschland denken. Bitte, reden Sie nicht davon, rief Emmy lebhaft. Ich bin so glücklich hier. Nun denn, entgegnete Erwin lächelnd, so sollten Sie vielleicht auch einmal darüber philosophiren, wie es komme, daß ein Land mit vielen schlechten Eigenschaften Sie so glücklich zu machen im Stande sei, daß Sie mir von einer Rückkehr nach dem Lande der Vollkommenheit zu reden verbieten? Es ist merkwürdig, sagte Emmy jetzt, Sie gehören zu den Menschen, denen gegenüber man immer ganz andere Dinge ausspricht, als man eigentlich die Absicht hatte. Und da Emmy auch dies, wenn sie es noch einmal zu sagen gehabt hätte, lieber ungesagt gelassen haben würde, schwieg sie nun hartnäckig und sah mit Sehnsucht die Thür an, ob ihre Mutter nicht käme die dann wirklich als Geschenk des Himmels eintrat. Wie befindet sich unser Patient? fragte herzhaft freundlich Mrs. Forster, indem sie Erwin die Hand schüttelte. Ich erzählte soeben Ihrem Fräulein Tochter, daß ich heute noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen. Allein ich kam in Betreff seiner mit einem Vorschlage -- Dieser Vorschlag dann die Bitte, ob die Damen ihm nicht die Ehre anthun wollten, den Abend bei ihm zuzubringen. Er sei zwar ein Junggeselle, als Arzt jedoch allgemeine Vertrauensperson. Er werde entzückt sein, den Damen mancherlei Gemälde und dergleichen zu zeigen, die sie interessiren würden. Schließlich, ihre Anwesenheit werden seinen Räumen eine Weihe geben für alle Zukunft; — alles in scherzendem Tone gesagt, auf den Mrs. Forster einging. Hiermit empfahl sich Erwin, dessen Stunden um diese Tageszeit karg zugemessen waren, nachdem er an der Thür jedoch noch einmal umgekehrt und um die Erlaubniß gebeten, an Mrs. Forsters Schreibtisch ein Billet schreiben zu dürfen. Er meldete Arthur darin mit wenig Worten, daß er ihn Abends bei sich erwarte. Wen er außerdem finden würde, ward unerwähnt gelassen. Erwin freute sich auf den Abend. Emmy hatte ihn ganz bezaubert. Diese Mischung von klaren Ansichten über das Leben, die so tapfer ausgesprochen wurden, mit einer Schüchternheit des Gefühls, die, rein ihrer Seele entspringend, von allem anerzogenen weit entfernt lag, hatte er noch nirgends angetroffen. Dazu die Mutter, in ihrer Würde gepaart mit Herzlichkeit, ohne jede Beimischung von Prätension: ein reizender, wohlthuender Lebenshauch ging von den beiden Frauen aus. Erwin strengte sich an, die Ehre zu verdienen die ihm zu Theil werden sollte. In seinen Salon bestellte er einige blühende Bäume, einen kleinen Tisch kaufte er, auf den Emmy ihre Arbeit legen sollte, und mehr dergleichen, um den Raum behaglich zu machen. Mit eigentümlichem Wohlgefühl durchschritt er die Zimmer, die bis dahin Abends immer dunkel dastanden, und erwartete seine Gäste. Sie kamen. Aber Arthur blieb aus. Weder er selbst erschien, noch während des Tages etwa eine Meldung, daß er verhindert sei. Man saß trotzdem recht frisch bei einander, und die Zeit verging rasch. Erwin unterhielt sich fast ausschließlich mit Mrs. Forster, während Emmy, im Halbdunkel sitzend, nur dann und wann ein Wort einstreute, wenn sie durch eine Frage dazu genöthigt wurde. Als die beiden Frauen sich dann wieder allein fanden, war der Mutter Erstes ein Ausdruck des Erstaunens, Arthur nicht gesehen zu haben. Wußtest Du denn gewiß, daß er kommen würde? fragte Emmy ruhig. Ich setzte es mit Sicherheit voraus, da das ganze Arrangement ja nur den einen Zweck hatte. Er war vom Doctor expreß dazu eingeladen. Gewiß und der Doctor erwartete ihn, erwiederte Emmy, ich merkte es an seiner Unruhe zuweilen. Aber ich war sicher, daß er nicht käme. Du warst sicher? rief Mrs. Forster mit dem Accente des Erstaunens. -

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Er wäre nicht gekommen, Mama, um alles in der Welt nicht, wenn ich es ihm nicht erlaubte. Gewiß, er kommt nicht ohne das! Ich wußte es wohl! Sie sprach das mit einer Art Triumph aus. Ihre Mutter sah sie an, aber schwieg. Die beiden Frauen pflegten überhaupt wenig mit einander zu reden. Diesmal indessen hatte die Mutter Gedanken, die sie absichtlich für besser hielt, nicht laut werden zu lassen. Erwin war am erstauntesten über Arthurs schweigendes Fortbleiben. Den nächsten Morgen, so früh als möglich, fuhr er bei ihm vor. Die alte Magd erklärte, der Herr sei bereits ausgegangen. Ob der Briefträger gestern nicht ein Billet gebracht? Jawohl, das habe er. Wann der Herr zurückkomme? Sie könne es nicht sagen. Sie solle bestellen daß er dagewesen. Das wolle sie. Später ging Erwin ins Hotel, wo er diesmal die Mutter Emmy's allein traf. Von Arthur war nicht die Rede. Mrs. Forster lud Erwin auf den Abend ein, und er sagte gern zu. Er kam, die Dinge verliefen ziemlich wie Tags zuvor. Emmy einsilbig und abseits, die Mutter eifrig und belebt in Darlegung amerikanischer Zustände. Unsägliche Behaglichkeit erfüllte Erwin. Er hatte bisher das neue Verhältniß so ganz nur in Bezug auf seinen Freund betrachtet, daß ihm kaum in den Sinn gekommen war, an sich selbst zu denken. Nun, da Arthur durch Geschick und, wie es schien, eigenen Willen, plötzlich wie verschwunden war, begann er seines eigenen Gefühls gewahr zu werden. Wie ähnlich und doch wie ganz anders war sein Leben gewesen mit dem Arthurs verglichen. Auch er beinahe gescheitert an dem Range, den das Schicksal ihm auferlegte. Auch er durch den Tod eines schlecht wirtschaftenden Vaters jung in eine Lage gebracht wie die Arthurs, durch natürliche Energie jedoch zu Entschlüssen getrieben, die ihn auf ganz andere Bahnen geleitet. Eben als er achtzehn bis neunzehn Jahre alt die Universität bezogen hatte, schlug das Unglück ein. Der Vater starb, Wechselschulden erschienen, von denen Niemand gewußt. Das Gut wurde verkauft, was übrig blieb, reichte eben aus, eine Existenz wie die Arthurs zu führen, eine noch geringere vielleicht. Erwin aber hatte sich Freunde auf der Schule erworben. Sein Hang hatte ihn schon längst dem Studium der Naturwissenschaften zugeführt. Mit ruhiger Ueberlegung machte er seine Disposition und wandte sich der Medicin zu. Als die Studien beendet waren und die Examina hinter ihm lagen, hatte sich ihm längst so unmerklich und sicher die Ueberzeugung aufgedrungen, sein Rang müsse ihm im Verfolg der Carriere nur im Wege stehen, daß es ihn geringe Uebewindung kostete, den Titel niederzulegen. Er blieb was er war, nur freier, unabhängiger fühlte er sich. Einen Theil seines Vermöges verwandte er jetzt dazu, wie einen großen Einsatz in eine Lotterie, sich äußerlich auf den Fuß zu stellen, den er für den Beginn einer Praxis als den vorteilhaftesten erachtete. Zwei Jahre lang mußte er vom Capital zusetzen, im dritten deckten die Einnahmen bereits was er ausgab, und so stand er jetzt da, mit solcher Zufriedenheit überblickend was hinter ihm lag, mit solchem Muthe die Zukunft ins Auge fassend, so unabhängig (unabhängiger als die alten Herren, die als seine Vorfahren in dem verkauften Familienschlosse geherrscht), daß ihm reicherer Stolz geziemte als irgend Jemand an besserer Stelle und daß er oft genug bei sich den Verlust, der ihn betroffen, die Quelle seines Glückes und seiner Zufriedenheit nannte. Nur einige Konsequenzen dieses Standeswechsels machten sich ihm fühlbar, die eine Art von Entbehrung mit sich brachten. Er hatte Verwandte, Leute die sich früher kaum um ihn gekümmert, jetzt sich durch seinen Schritt als empfindlich beleidigt betrachteten. Kaum erwägend, was ohne diesen Entschluß entstanden sein würde, betrachteten sie ihn als einen demokratisch gesinnten Abtrünnigen und zogen sich sichtbar von ihm zurück. Nach dieser Seite hin stand er so verlassen, als hätte er gleich Arthur überhaupt keine Familie mehr, verlassener vielleicht, denn diese Leute suchten ihm, schien es, förmlich nur deshalb zu begegnen manchmal, um ihm den Rücken zuzudrehen. Allein auch nach der anderen Seite hin boten sich Schwierigkeiten. Er hatte Erfolg als Arzt. Durch einige Kuren war er fast berühmt geworden. Seine angeborene Feinheit des Benehmens, gepaart mit Energie und sicherem Blicke auch für die geistige Verfassung der Patienten, vermehrten das Zutrauen, mit dem man sich an ihn wandte. Seinen Kollegen wiederum behagte weder

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sein Wesen noch sein Erfolg. Man schrieb diesen zum Theil dem geheimen Fortwirken des freilich aufgegebenen Titels zu, der aus dem Gedächtniß der Welt so leicht nicht fortzuschaffen war. Seine natürliche, allerdings etwas auffallende Zurückhaltung wurde deshalb für absichtliche Vornehmheit genommen und für die deutliche Erinnerung gleichsam daran, daß er sich immer noch für das halte, was er officiell nicht mehr sei, sein etwas verschlossenes Wesen erschien als Kälte und Stolz. Erwin sah sich allein. Man begegnete ihm mit höflicher Gemessenheit. Keine Familie in der Stadt, in der er intimer bekannt gewesen wäre. Keine freilich auch, die ihm der Mühe Werth schien. Aber er fühlte sich einsam. War ihm das Anfangs zu Zeiten nur fühlbar geworden, so mußte er gewahren, daß die Momente, in denen er es bedachte, öfter und öfter eintraten. Es regte sich das Bedürfniß nach Menschen, die sein Herz ausfüllten. Vielleicht daß die plötzliche Wärme, mit der er sich zu Arthur hingezogen fühlte, dieser Quelle entsprang; sicher aber entfloß ihr das Glück, das ihm jetzt im Verkehre mit den beiden Frauen aufging. Endlich einmal gesunde Menschen, die ihm keine Leidensgeschichten erzählten. Er athmete auf. Ein lang ersehnter Genuß: Fragen mit Wärme erörtern zu dürfen, die mit feiner Wissenschaft nichts zu thun hatten und doch sein volles Interesse in Anspruch nahmen. Niemals glaubte er einer Frau wie Emmy's Mutter begegnet zu sein. So voll tiefes Gefühl und ohne Sentimentalität. So voll Erfahrung, Weisheit beinahe mußte er es nennen. So kindlich den großen Fragen gegenüber die die Welt bewegten; ohne einen Gedanken daran selbst etwas zu sein, und doch ohne Scheu, miteinzugreifen wenn es ihr nöthig geschienen hätte. Ueber ihr Vaterland sprach sie, als wäre es eine ungeheure Familie um die es sich handelte, als ginge jedes Schicksal sie an, selbstverständlich. In Deutschland würde man geurtheilt haben, die Frau mische sich in Politik, in sociale Fragen, in Sachen die Männer allein angingen, zu denen Kenntnisse gehörten die Frauen mangelten und die sie ihrem Geschlecht nach überhaupt zu erwerben nicht geeignet seien; sie aber kümmerte sich wenig darum, welchen Namen man ihrer Thätigkeit geben werde, ob sie zugreifen dürfe oder nicht, sie griff zu; alle Interessen ihres Landes kannte sie und suchte sie täglich tiefer zu ergründen. Ihre Journale las sie, wie Berichte aus der Heimath für sie besonders abgefaßt. Von den Parteien sprach sie mit völliger Sachkenntniß wie von den Wirren eines eignen Haushaltes. Und alles ohne Anmaßung, sondern mit dem natürlichen praktischen Verstande eines Menschen, der sich mit allen Fähigkeiten um das kümmert was ihn eben angeht. Einen Menschen, der sich zurückgezogen hätte mit dem Ausspruche »laß die Dinge gehen, mich gehen sie nichts an", verstand sie gar nicht. Und das war ihr zumeist in Deutschland ausgefallen, daß Jedermann eigentlich Gründe hatte und mit Scharfsinn geltend zu machen wußte, sich um das meiste nicht zu kümmern, um Gebiete zumal, um die, ihrer Ansicht nach, man in einem Lande als Bürger nicht leben konnte ohne sich darum zu kümmern. Und gerade wenn Mrs. Forster hierüber sprach, fühlte Erwin am schärfsten was ihm fehlte, oder lieber: daß ihm etwas fehlte! ein gewisser Drang des Lebens, nicht blos als Arzt, sondern in seiner ganzen Persönlichkeit in Anspruch genommen zu werden zum allgemeinen Besten. Er fühlte, daß Kräfte in ihm lägen, die jetzt nicht geltend machen zu dürfen und ungeübt gelassen zu haben, ihm später vielleicht ein gutes Theil seiner Zufriedenheit rauben mußte. War dies der Eindruck, den Mrs. Forster auf Erwin machte, so flößte er selbst der Frau die größte Hochachtung ein. Er hatte ihr seinen Lebenslauf erzählt. Sie war lange genug in Deutschland gewesen, um zu begreifen, welches Muthes und welcher Energie zum Ergreifen und Durchführen solcher Entschlüsse es bedurfte. Niemand, meinte sie, hätte ihr bisher so gut Auskunft gegeben über die Lage der öffentlichen Verhältnisse. Mit ihren Fragen war sie bis dahin nicht zum Besten angekommen. Das Schwebende auf der einen, das Beschränkte auf der anderen Seite, das im Unendlichen Flatternde und zugleich Festgerannte, das ihr bei den meisten Explicationen über die deutschen Dinge unerträglich und unverständlich gewesen war, traf sie hier nicht an. Erwin sah die

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Lage, wie sie war, er hatte nichts verlorenes zu bedauern und erwartete nichts unmögliches. Mit einer gewissen Nüchternheit suchte er die Phänomene des öffentlichen Lebens und die handelnden Personen darzustellen und ohne Haß immer das treffende Wort zu finden. Es war ihm ein Genuß, sich hierin verstanden zu fühlen; daß Emmy sich zurückhielt, keine Entbehrung. Nichts reizenderes kannte er, als, mit der Mutter redend, manchmal den Blick auf Emmy abzulenken und zu gewahren, wie sie, mit verschränkten Armen dasitzend, dem Gespräche folgte. Sein Wunsch war, so fortleben zu dürfen, Abend für Abend so zu genießen. Nur Eins lastete auf ihm als Vorwurf: das Gefühl, wie leichtsinnig er Arthur und Emmy einander nahe zu bringen gesucht, mit den oberflächlichsten Gedanken an das was daraus entstehen möchte. Er maß sich die Schuld dessen bei, was daraus bereits entstanden war, auch für ihn. Und deshalb, wenn er Emmy gegenüber sich befangen fühlte, so war es, weil er mit Beschämung sich bewußt war, sie unbedachter Weise zur Heldin einer Situation gemacht zu haben, von der Niemand wissen konnte, wie viel peinliches vielleicht sie noch mit sich brächte.

Sechstes Capitel. Als Arthur am Morgen nach jener Nacht in sein Zimmer trat, schien die Sonne hell. Auf dem Tische standen in einem Glase die Veilchen, und Emmy's Bild, das er gezeichnet, lag daneben. Er setzte sich davor. Er war weit entfernt unglücklich zu sein. Im Gegentheil, da er nun wußte, daß sie fortgefahren seien (wie er glaubte), weit fort, in eine Ferne, in die er ihnen nicht folgen konnte, streifte dies Gefühl völliger, abgeschnittener Vergangenheit von seinen Erlebnissen alles Schmerzliche ab (für den Moment erschien es ihm so), und ohne den Abend vorher zu überdenken, ruhte er mit den Augen auf den wenigen Linien, die er in der ersten Begeisterung gezogen, und sog den Duft der Veilchen ein: beides das Einzige, das ihm von allem Glücke übrig geblieben. Arthur glaubte ganz ruhig zu sein. In keiner Weise wollte er diese Stimmung unterbrechen lassen. Er rief die Köchin herein und ertheilte ihr die umständlichsten Befehle, wie sie den Herrn von gestern Abend, wenn er etwa nach ihm fragen sollte, abzuweisen hätte. Dann ging er in die Reitbahn, wo sein Pferd stand, und ritt hinaus ins Freie. Die frische Kälte des Tages that ihm wohl. Er fühlte sich nie freier, als wenn er auf diese Weise die Wege um die Stadt durcheilend einen Anschein von Thätigkeit in sich hervorbrachte. Er machte dann den Erzieher des Pferdes, auf das jetzt wieder seine ganze Zuneigung concentrirt war. Nach Hause zurückkehrend, vertiefte er sich in ein Buch. Auch diesen Luxus erlaubte er sich. Sein größtes Interesse lag in einer Art geographisch-statistischem Studium. Er las die neuen Werke, Reisebeschreibungen zumeist, und verfolgte was in dieser Richtung geschah eifrig in den Zeitungen, eine Lectüre die er in einer kleinen Conditorei abthat, wo er täglich seinen Kaffee trank, wo Niemand ihn kannte und wo ihn der Verkehr mit den vielen zu- und abströmenden Menschen, waren sie ihm auch alle fremd und redete er niemals einen an, in einer Art Täuschung des Zusammenhanges mit der Welt erhielt. Und als er es so einige Tage lang wieder getrieben, hielt er sich für geborgen und für so glücklich als vorher. Allein er wußte nicht, daß er diesen Zustand nur einer im geheim arbeitenden Energie verdankte, die allmählich nachließ. Erwins Billet mit der Einladung hatte er am ersten Tage uneröffnet bei Seite gelegt, als ihm aber zum dritten, vierten Male gemeldet ward, der Herr sei wieder dagewesen, habe sehr bedauert ihn nicht zu finden, frage immer dringender wann er denn überhaupt zu Hause sei, und werde wiederkommen, so machte ihm das zuletzt doch Eindruck. Es ward ihm elend und verlassen zu Muthe. Er konnte nicht weiter, wenn er lesen wollte. Es drängten sich Gedanken auf an Vergangenheit und Zukunft. Ihm war als feilte und sägte etwas in seinem Kopfe, er hätte fort mögen, er begann zu überlegen ob er nicht einen Theil seines Geldes für

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eine Reise anwenden dürfe, nur um dem ewigen Einerlei zu entfliehen das unerträglich ward. Ein nagendes Bedürfniß empfand er endlich, Erwin zu sehen und über Emmy mit ihm zu reden, über die er gegen Niemand zuerst und Erwin gegenüber am wenigsten hatte reden wollen. Und einmal hineingerathen in diese Stimmung und zur Ueberzeugung gelangt, daß es unmöglich sei, sie zu überwinden, brach nun plötzlich eine solche Fluth von Verzweiflung, Sehnsucht und quälendem Ueberdenken des Geschehenen in seine Seele ein, daß er sich kaum mehr zu helfen wußte. Es war gegen Mittag des fünften Tages. Er kam von seinem Ritte zurück. Eine Ungeduld, eine Erwartung ohne Ziel, die er durch vermehrte Anstrengung hatte vertreiben wollen, zog ihn vor der gewöhnlichen Zeit nach Hause, als fürchtete er etwas zu versäumen, ohne doch zu wissen was es sein möchte. Kaum in seinem Zimmer, trieb es ihn wieder fort. Noch einmal kehrte er von der Schwelle seiner Thür zurück, nur um den Duft der Veilchen einzusaugen, die zu welken begannen. Er betrachtete sie, es durchschauerte ihn der Gedanke an die Nacht, wo sie vor ihm im Schnee gelegen hatten. Er saß eine Zeit lang da, wie abwesend, dann sprang er auf und eilte fort, ohne zu wissen wohin, aber er konnte es in seinen Wänden nicht mehr aushalten. Das Museum fiel ihm in die Augen auf seinem Wege. Er pflegte von Zeit zu Zeit da einzukehren und im Kupferstichkabinette einige Mappen durchzusehen. Wenn er dies oder jenes aus fernen Ländern gelesen hatte, suchte er dort aus dem reichen Vorrathe von Handzeichnungen und Aquarellen, die von der Hand reisender Künstler sich aufgesammelt haben, das Betreffende durchzusehen, copirte wohl auch das eine und andere. Und so stieg er denn die Treppen hinauf, trat ein und ließ sich etwas vorlegen. Er nahm keine Notiz von den wenigen Besuchern, die in dem weiten behaglichen Raume an den großen mit grünem Tuche überzogenen Tischen hier und da Platz genommen und geräuschlos betrachteten was sie vor sich hatten. Die Stille und Abgeschiedenheit that Arthur wohl, obgleich er ja meist viel tiefere Stille bei sich zu kosten pflegte. Aber es schien ihm so. Er versenkte sich in seine Blätter, ohne aufzusehen eine geraume Zeit lang, merkte auch kaum auf die welche kamen und fortgingen, als ihn zuletzt irgend etwas dennoch aufzusehen nöthigte. Vielleicht, daß es die unbewußte Wirkung von Blicken war, die auf ihm ruhten. Er sah sich um. Zwei Damen saßen eine ziemliche Strecke von ihm an einem anderen Tische, er schrak zusammen noch ohne zu wissen warum, denn die, welche es sein konnten, glaubte er ja so weit entfernt, da senkte die eine zufällig das Blatt nieder, das ihr Gesicht verdeckt hatte: es war Emmy. Was Arthur fühlte in diesem Augenblicke hatte er nie zuvor empfunden. Instinktmäßig erhob er eine der großen Zeichnungen und verbarg sich hinter ihr. Er saß da, das zitternde Blatt vor sich, unbeweglich und kaum athmend, wie ein Kind, das in der dunklen Schlafstube allein, plötzlich seine Umgebung für nicht geheuer hält und die Decke fest über den Kopf zieht. Er wollte sich bedenken, er wollte etwas thun, er vermochte weder das Eine noch das Andere. Seine Verwirrung, im Gegentheil, ward immer größer. Mit einem letzten Reste von Kraft nahm er sich endlich zusammen, stand auf, abgewendet und ohne sich umzudrehen und verließ den Saal. Kaum schloß sich die große Thür hinter ihm, so bereute er was er gethan. Langsam die Treppe hinabsteigend setzte er sich unten auf eine Bank, den Weg fest im Auge, den die Frauen herabkommen mußten. Endlich erschienen sie, Emmy und Mrs. Forster und stiegen die Stufen herunter. Arthur stellte sich so, daß er nicht gesehen werden konnte. Wie verschlang er sie mit den Blicken! Wie leicht Emmy's Gang war! Wie er bemerkte, daß ihre Augen sich dahin und dorthin wandten, suchend. Ihn vielleicht? So fragte er sich. Und sie waren noch hier? Warum? — Von Weitem folgte er ihnen bis zum Ausgang, sah sie in ihren Wagen steigen, stand da, unbeweglich, stürzte dann ein paar Schritte vorwärts um zu Erwin zu eilen und bei diesem Auskunft zu erhalten und kehrte zuletzt doch in seine eigene Wohnung zurück, wie ein Vogel in seinen Käfig, von dem aus er die Welt zu betrachten nun einmal gewöhnt ist.

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Hier nun verfiel er in eine Art innerer Raserei. Es schien ihm unmöglich, zu leben mit diesem Gedankendrang im Hirne, mit diesem die Seele zerreißenden Gemisch von Gefühlen. Zu Emmy hineilen wollte er, sich ihr zu Füßen werfen, in demselben Augenblick aber hörte er die Stimme schon, die ihm sagte, daß dies unmöglich sei. Nur die Dunkelheit erwartete er endlich (die in jenen kürzesten Tagen des Jahres bald einbrach), um nach ihren Fenstern sehen zu dürfen. Er kannte sie wohl. Er hatte sich bisher gehütet, an dem Hause auch nur vorbeizugehen, er wollte keine Erinnerungen wecken, nun stand er wieder da und starrte hinauf, aber die Fenster waren dunkel und er sah nichts. Es ergriff ihn die Idee, die Frauen könnten heute abgereist sein. Nach langen Kämpfen überwand er sich, beim Portier danach zu fragen. Nein, sie wohnten noch da und wären zum Diner beim amerikanischen Gesandten. Dies gab Arthurs Gedanken plötzlich eine ganz andere Richtung. Was war er denn? Ein armer außerhalb der Gesellschaft und der Geselligkeit lebender Verstoßener. Und Mrs. Forster und Emmy? — Reiche, anspruchsvolle, mitten in der Welt stehende Frauen, denen er trüber Irrwisch einmal über den Weg gesprungen war, dem sie auch wohl ein paar Minuten nachgeblickt, ohne wahrhaftig aber Neigung zu verspüren, sich in seine Sümpfe nachlocken zu lassen. Emmy hatte ihm die Veilchen herab geworfen: konnte das nicht ein bloßer Scherz, besten Falles eine unschuldige Freundlichkeit sein, ihn zu beruhigen? Und nun, dachte er weiter, warum ich hier auf der Straße, mit keinem Rechte mehr, irgendwo einzutreten, während mir sonst alle Thüren geöffnet waren; und sie, dort oben! Bitterkeit bemächtigte sich seiner. Pah die Welt und die Menschen! Einen letzten Blick warf er zu den dunklen Fenstern des Hotels empor und wandte sich dann zum fortgehn. — Während seiner Abwesenheit war von Erwin ein erneuter Versuch gemacht worden, bei ihm einzudringen. Die sich stereotyp wiederholenden Worte der alten Köchin hatten ihm Gewißheit gegeben, daß Arthur sich mit Absicht abschließe. Als sie ihm deshalb auch jetzt dieselbe Litanei absang, daß es dem Herrn Grafen sehr leid thue den Herrn Grafen verfehlt zu haben, daß der Herr Graf jedoch ausgegangen sei ohne zu hinterlassen wann er zurückkäme, und daß er wahrscheinlich, obgleich es schon Abend sei, doch erst sehr spät kommen werde, hatte Erwin dies ruhig angehört, die gute alte Dame dann aber einfach bei Seite geschoben und sie, nachdem sie ihm in Arthurs Stube nachgefolgt, mit dem kurzen Befehle wieder hinausgeschickt, Licht zu bringen. Dies geschah denn auch auf das Pünktlichste. Erwin war entschlossen, Arthur zu erwarten. Er ging im Zimmer umher und betrachtete sich die Dinge. Es war so seltsam, in diesem Hausrath die letzten Trümmer eines seiner Zeit grandiosen Familienbesitzes zu gewahren. Wie als erblickte man in einem Haufen alter Helme, Patrontaschen und allerlei verrostetem Waffenwerke die letzten Repräsentanten einer Armee, die eine gewaltige Macht vor Zeiten, nun mit all ihren Schrecken und all ihrer Glorie völlig vergessen war. Er sah die Gemälde an den Wänden an. Da hing in der Tracht des vorigen Jahrhunderts eine junge Dame, ein rosa Kleid, eine rothe Schleife vor der Brust und in der einen Hand mit den Fingerspitzen so zierlich eine Nelke haltend als wollte sie dem Blumenstengel den Puls fühlen? Wer war es? Wohin gegangen? Wer gedachte ihrer? Ein Herr daneben, sich selbst über die Schulter blickend, ihm entgegen, den einen Arm zierlich in die Seite gestemmt, mit breitem gewässerten Ordensbande über den blausammtnen Rücken, und unten einen Orden daran, mit kühn aufgeklexten Brillanten gemalt, den irgend ein vergessener Potentat ihm, dem vergessenen wichtigen Manne, bei einer in noch höherem Grade vergessenen wichtigen Gelegenheit verliehen. Er lächelte kalt, aber verbindlich. Vielleicht der erste Anfang des Erblächelns, das Arthur zuweilen so wohl stand. Diesem Manne einst ins Gesicht gesagt oder geschrieben zu haben, sein Urenkel oder Urneffe werde sein Bild einmal unter so elenden Umständen in den dritten Stock eines Hinterhauses flüchten, hätte vielleicht seiner Zeit einen verhängnißvollen Injurien-proceß zur Folge gehabt. Dann eine Dame mit ältlichen aber wohlconservirten Zügen, ohnfehlbar eine unverheirathete Tante, mit ein Paar Augen

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und einer Nase dazwischen, als sähe die Nase allein mehr als beide Augen zusammen, und ein Mund darunter, als wisse dieser, was die Nase gesehen, in Worten zu sagen, mit deren Spitze verglichen die Nase selber als eine der gutmüthigsten Stumpfnasen erschien. Was mochte die Tante alles erlebt haben! Wieviel Geheimnisse errathen, wo so oft gar keins war; wieviel jung in die Familie eintretenden Frauen gleich beim ersten Gruße einen Lanzenstich gegeben haben, der ihnen vom Kopf mitten durchs Herz bis in die Fersen fuhr. Ihr gesagt zu haben gar, wo und wie sie einst hängen würde in effigie, hätte dem Betheiligten ohne Zweifel Untergrabung seiner gesellschaftlichen Existenz eingetragen. Niemals wäre es verziehen worden. Und jetzt, was war übrig? Daneben Arthurs Vater: Erwin erkannte ihn auf der Stelle. Die hochmüthig herablassende Vertraulichkeit (im Grunde doch nur aus Verlegenheit stammend) und dann wieder brutale Zurückhaltung des Mannes, dem er vor Zeiten öfter begegnet war, traten ihm aufs neue lebhaft vor die Seele. Bei jenem dort mit dem Orden ein Anflug von historischer Haltung, eine gewisse Grazie des Stolzes, ein Gefühl gesellschaftlichen Uebermuthes, hier aber nur ungelenk papperne Kälte als das einzige Zeichen überragender Weltstellung. Die eine Hand zwischen zwei Knöpfe des auf der Brust geschlossenen schwarzen Rockes gezwängt, die andere wie ein halb zusammen geknicktes Taschenmesser auf die ins Gemälde hineinreichende Ecke eines Tisches neben ihm gestemmt. Dort ein flatterndes Band, an dem Diamanten hingen, hier eine Reihe Orden an kurzen Bändern auf der Brust, wie ein halbes Dutzend Klingelzüge nebeneinander. Erwin verlor sich in politisch sociale Philosophieen, indem er die beiden Portraits verglich. Das einzig Tröstende bei dem des Vaters war wirklich nur der Umstand, daß Arthur kaum eine Spur von Aehnlichkeit mit ihm hatte, so wenig übrigens wie mit all den andern Gesichtern der väterlichen Familie. Was Erwin siegreich aber von solchen Gedanken abzog, war Arthurs Mutter; er hatte das Bild nie gesehen, hier aber erkannte er sie an der Aehnlichkeit. Es giebt so Erscheinungen bei deren Auftreten man rufen möchte Ah! wie man thut, wenn bei einem Feuerwerk oder in der Oper ein blendender Effect eintritt. Ein lebensgroßes Gemälde in ganzer Gestalt. Die Frau schien dem Beschauer entgegen zurauschen und ihn dabei fest ins Auge zu fassen. Eine kühn geschnittene, aber sanft gezeichnete Nase, ein energisch modellirter, doch unglaublich weich und lieblicher Mund, ein paar dunkle, große Augen, die Brauen kräftig quer darüber, die Stirn ein wenig niedrig vielleicht und das Haar voll und mächtig sich über ihrer Mitte theilend nach beiden Schläfen hinunter. Und dem entsprechend die Schultern und Arme, die man unbekleidet sah, und der ganze Wuchs. Nur das Eine hätte sich, doch weniger als ein Wort des Tadels, vielmehr als eins des Erstaunens aussprechen lassen: sie hatte etwas, das, wäre es nicht so völlig durch die Noblesse und Lieblichkeit und sogar Unschuld ihres Auftretens ausgeglichen worden, an Oper, Schauspiel, ja vielleicht Ballet erinnert hätte. Nicht als wäre auch nur eine Spur davon wirklich vorhanden gewesen, aber der Gedanke stieg auf, es hätte sein können. Aber es war nicht, und dies entzückte an dem Anblicke. Erwin trat vor und zurück, steckte noch ein zweites Licht an und leuchtete an der Leinwand herum: auch die Malerei schien vorzüglich. Was würde aus Arthur geworden sein, wenn diese Frau, statt ihn so jung zu verlassen, gelebt und ihren Einfluß auf ihn geltend gemacht hätte? Aus welchen Gründen mochte sie den Grafen wohl geheirathet haben? War er der Mann, um eine Leidenschaft einzuflößen? War sie, so jung, so unbezwungen vom Schicksal, die Frau, ohne ein heftiges Gefühl sich hinzugeben? Erwin würde auch hier die Zeit in Gedanken rasch verthan haben, hätte ihn nicht ein anderer Anblick abgelenkt: dicht neben diesem Portrait nämlich ein anderes von so bürgerlicher Freundlichkeit, daß er lächeln mußte als er es ansah. Gar zu reizend gutmüthig blickte es aus dem Oval heraus, in das es hinein gemalt war. Auch hier gehörte die Tracht in nicht allzu lang verflossene Zeiten. Das Haar leicht gewellt, ein rosa Band hineingeflochten, eine Rose an der Seite angeheftet, und über Alles ein

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schwarzes Spitzentuch geworfen, das, die Wangen leicht umgrenzend, unter dem Kinn in eine lose Schleife geschlungen war. Das Kleid ganz bescheiden; die Augen ein wenig gedrückt und hell, während die Augen der anderen Portraits ringsherum dunkel waren; die Nase zu jenen unbestimmten Nasen gehörend, deren Form sich nicht zeichnen ließe, und unter ihr ein eben so formloser, aber lieblicher Mund: man fühlte, nur die Bewegung gab diesen Zügen Reiz, und einer anhaltenden, freundlichen Herzenswärme bedurfte es, um sie stets darin zu erhalten. Die aber fehlte auch niemals, empfand man zugleich, und vom Maler war das so glücklich aufgefaßt, daß man hätte denken können, das Gemälde walte wie ein weltliches Heiligenbild in der Stube, in der es eine Stelle gefunden. Zugleich hatte es etwas so unmittelbares, natürlich lebendiges, als sei es unmöglich, daß diese Person alt und todt sei, und Erwin versenkte sich so tief in den Reiz ihres Anblickes, daß er sich, als plötzlich hinter ihm ein Geräusch entstand, wahrhaftig umsah, ob sie nicht, als Geist neben ihm stehend, mit den Fingerspitzen ihn zart berührte. Aber sie war es nicht. Arthur war es, der eintrat. Ich betrachtete mir eben ein wenig Deine Vorfahren, sagte Erwin, in der That ganz unbefangen. Wer war die Dame? Er deutete auf die Tante mit der scharfen Nase. Ich weiß es nicht, antwortete Arthur kurz ab. Still, daß sie's nicht hört! rief Erwin. Wenn die geahnt hätte, einer ihrer Familie machte ihr gegenüber ein derartiges Geständniß! Weißt Du aber wirklich nicht, wer sie ist, setzte er hinzu, so würde ich sie ausrangiren. Sie gehört doch immerhin zur Familie, bemerkte Arthur. Das kannst Du ja nicht wissen, sagte Erwin. So lang ich mich erinnere, wenigstens, hat sie dafür gegolten, erwiederte Arthur, trat zurück, setzte das Licht, das er gleich Erwin in der Hand hielt, auf den Tisch und deutete damit seinen Willen an, die Inspection für beendet gelten zu lassen. Erwin dagegen schienen es die Gemälde angethan zu haben. Dies Dein Vater? Arthur nickte aus der Ferne. Dies Deine Mutter? Welch eine Frau! Du erinnerst Dich ihrer nicht mehr? Ich war keine drei Jahr alt, sagte Arthur, und trat mit dem Lichte wieder näher. Und diese hier? fragte Erwin und deutete auf das freundliche Gesicht mit der Rose im Haar. Arthur zuckte die Achseln. Auch von der weißt Du nichts? Nun ich wollte wetten, diese gehört nicht zur Familie. Sie gehört dazu, rief Arthur. Es war mir manchmal eine wahre Wohlthat sie anzusehen, und zu denken daß sie vielleicht eine Cousine meiner Mutter war oder dergleichen. Willst Du mir erlauben, das Gemälde einen Augenblick herabzunehmen? entgegnete Erwin lächelnd. Meistens pflegt der Name hinten darauf zu stehen samt Jahreszahl. Ich wette, sie gehört nicht zu Euch! Und ich weiß es! rief Arthur gereizt. Willst Du Dir die Mühe machen, meinetwegen, aber ich weiß es. Erwin nahm das Bild herab. Es war allerdings keine Inschrift da, aber es klebte ein Zettel auf der Leinwand. Er nahm das Licht, leuchtete nah daran und brach in ein helles Gelächter aus. Nun? rief Arthur. Lies hier! Auf dem Zettel stand, daß dieses Bild eine Kammerjungfer von Arthurs Mutter darstellte, die sich später an einen Prediger verheirathete, und die die Gräfin, weil sie sie besonders liebte, hatte malen lassen. Erwin gerieth in ein solches Lachen, daß er gar nicht bemerkte wie Arthur die Sache nahm. Er wollte das Gemälde wieder an seinen Platz hängen, als Arthur erklärte, es solle nicht wieder dahin. Erwin kehrte sich nicht daran, Arthur packte ihn am Arme. Aber warum nicht? rief Erwin; was kann die arme Person dafür, daß sie nicht Deine Tante ist? bilde Dir doch ferner ein, sie wäre es, Du hast wahrhaftig keinen Schaden davon.

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Ich will aber nicht, fuhr ihn Arthur im gereizten Tone an, und indem Erwin auf seinen Willen bestand und Arthur ihn verhindern wollte, kam es soweit, daß dieser mit seinem leichten Stocke, den er noch immer in der Hand hielt, mitten in die Leinwand hineinschlug, daß sie morsch von oben bis unten durchriß. Jetzt war es aber auch mit Erwins guter Laune vorbei. Was giebt Dir das Recht, das Andenken einer Frau zu schänden, sprach er heftig aus, die Deiner Familie vielleicht Dienste geleistet hat, von denen Niemand mehr weiß, und die Niemand von Euch mehr belohnen kann? Nicht umsonst wird Deine Mutter so großen Werth auf dieses Gemälde gelegt haben. Weil Du vorher eine Verwandte in ihr sähest, ohne irgend zu wissen wer sie sei, ehrtest und liebtest Du sie sogar, und jetzt, wo sie in Deinen Augen tief herabsinkt, schlägst Du ihr ins Gesicht, wie einem Hunde! Ist das menschlich und edel? Ist das adlig? Er war so erzürnt, daß er jetzt hätte fortgehen und Arthur ein für allemal hätte sitzen lassen können. Dieser war ruhiger, ja ernsthaft geworden. Er nahm das Gemälde, zerrissen wie es war, und hing es an die alte Stelle. Du hast Recht, sagte er. Man ist nichts mehr und besitzt nichts mehr, und entweiht, übermüthig noch immer, das Andenken derer obendrein, die uns vielleicht anhänglich wären, lebten sie noch. Denn wen habe ich, der an mir hängt, außer der alten Frau draußen, die ich wahrhaftig kaum für ihre Dienste bezahlen kann. Die zerrissene Leinwand theilte das Gemälde gerade in zwei Hälften. Eine tiefe schwarze Wunde lief der Länge nach mitten durch, dennoch lächelte der Mund immer noch wie vorher und der Charakter blieb wie er gewesen. Erwin nahm das Licht und setzte es an eine andere Stelle. Ich kann das nicht ertragen, sagte er; es kommt mir wie ein Todtschlag vor. Es ließe sich vielleicht ausbessern, meinte Arthur, und versuchte die Leinwand zusammenzudrücken. Erwin riß ihm den Arm fort, er konnte nicht mitansehen, wie Arthurs Hände auf dem guten Gesicht herumfuhren. Ich will Dir etwas Vorschlagen, sagte er; gieb mir das Bild? Arthur nickte. Er nahm es ab, die alte Köchin ward gerufen und erhielt den Befehl, es unten in den Wagen zu bringen. Es stehen draußen noch mehr Gemälde, sagte Arthur; der Platz ist leicht auszufüllen. Erwins Absicht war gewesen, Arthur von neuem auf den Abend einzuladen. Die Damen hatten nach dem Diner zu ihm kommen wollen, und er einige Leute dazu gebeten. Nun aber war er in eine Stimmung gerathen, daß er nicht davon reden mochte. Arthur selbst erwähnte Mrs. Forster und ihre Tochter nicht. Auf und nieder gehend überließ er Erwin seinen Gedanken. Es fällt mir ein, bemerkte er nach einer Weile, ich habe von jener Person sogar erzählen hören. Sie hat meiner Mutter in einer, ich weiß nicht welcher, bedenklichen Situation große Dienste geleistet. Und das Bild hing bei meiner Mutter in der Stube die nach ihrem Tode unangerührt blieb, und ich erinnere mich, wenn ich als Kind manchmal hineingerieth, sah ich dem Bilde in die Augen. Gieb es mir wieder. Lieber Freund, entgegnete Erwin, laß die Sache auf sich beruhen, willst Du? Vorerst besorge ich eine Reparatur der Leinwand und wir sehen dann weiter. Einstweilen aber möge die Dame, oder wie Du sagst, die Person, in den Hintergrund treten und Du versprichst mir heute Abend den Thee bei mir zu trinken? Arthur fühlte sogleich was dahinter steckte. Die Damen werden bei Dir sein? fragte er. Allerdings. Auch war es nicht meine Absicht Dir das zu verheimlichen. Du hast sie gesehen also? fragte Arthur lebhaft. Gewiß, alle Tage seit jenem Abend. Warum bist Du nicht gekommen als ich Dich neulich einlud? Ich hatte keine Lust. Du wünschtest aber doch selbst so sehr, ihnen wieder zu begegnen? Arthur zuckte die Achseln. Neulich Abend! sagte er und sah trübe zu Boden. Neulich Abend! Jetzt aber nicht mehr. Er fühlte, was er darum gäbe, Emmy nur ein einziges Mal wieder zu sehen wie damals, aber er empfand zugleich die Unmöglichkeit. Sein

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Stolz empörte sich. Er wäre vor Scham zu Boden gesunken. Er sprach das schließlich aus und schlug es kurz ab, zu kommen. Erwin war außer Stande, länger zuzureden. Er hatte geglaubt ihn mehr unter dem Einflüsse einer Leidenschaft zu finden, deren Stärke er zu kennen meinte. Er sah daß er sich getäuscht hätte. Und so nahmen sie ziemlich kühl Abschied voneinander und verabredeten weiter nicht, wann sie sich etwa wieder treffen wollten.

Siebentes Capitel. Arthur verfiel in ein dumpfes Brüten. Er wollte Emmy nicht sehen und sann auf die Möglichkeiten sich ihr dennoch zu nähern. Die Veilchen standen da, ihre welken Köpfe hingen über den Rand des geschliffenen venetianischen Glases, das er, so lange er lebte, auf seines Vaters Tische hatte stehen sehen. Er ließ es sich langsam drehen, wohl eine halbe Stunde saß er so, immer ein Veilchen nach dem andern betrachtend, man hätte ihn für einen Automaten halten können, der nur diese eine Bewegung zu machen verstand. Dann nahm er ein Blatt Papier und begann die Veilchen zu zeichnen, wie sie im Glase standen, Linie für Linie, und indem er so arbeitete, beruhigten sich allmählich seine Gefühle. Die Thür ging auf, die alte Köchin erschien mit einem Tuche und fing an, ganz zur Unzeit, die Möbel abzuputzen. Es war das immer die Einleitung wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. Dergleichen gab es mancherlei. Die Alte hatte viele Bekanntschaften in der Stadt und wußte stets, wie es in all den vornehmen Familien stand, mit denen Arthurs Vater früher in Verbindung gewesen. Während Graf Arthur sich zurückzog und die Brücken hinter sich abgebrochen zu haben glaubte, hielt sie eine Art Verkehr durch zweite, dritte Hand aufrecht, und es war nicht eine jener Familien, die nicht, wenn es ihr darum zu thun gewesen wäre, über Arthur die genausten Nachrichte hätte haben können. Sein Unglück war der Gesprächsgegenstand mancher gefühlvollen Kammerjungfer. Leider jedoch fragten die Herrschaften niemals nach ihm. Er hatte die alten Freunde seiner Familie durch sein hochmüthiges Verschwinden oder Ausweichen so abgeschreckt, daß sie sich für berechtigt hielten, ihn gewähren zu lassen, die Töchter interessirten sich nicht für Jemand den sie nirgends sahen und der arm war, die Mütter nicht für Jemand der keine Stellung hatte, und die Väter nicht für einen jungen Menschen der keine wollte. Viel besser hätte die Alte gethan, Arthurs Lob in reichen Kaufmannshäusern zu colportiren. Dafür aber war sie selber zu aristokratisch. Sie gehörte noch zu der alten Generation, die sich zur Familie rechnete. Wie dem nun sei übrigens, sie hatte eben in aller Eile beim Herabtragen des Gemäldes mit Erwins Bedienten und Kutscher eine kleine aber inhaltsreiche Unterredung gehabt, und nicht nur die Fahrt nach und aus dem Theater, sondern auch den Besuch im Hotel und die Scene nachher erfahren. Dies um so leichter, als Kutscher und Bedienter von ihr zu wissen wünschten, wer denn Arthur eigentlich sei. Und das Resultat dieses Tauschhandels war, daß die Alte jetzt an der Thür gehorcht und dabei herausbekommen hatte, daß Arthur im Begriffe stand, sich durch unnütze Bedenken eine reiche, schöne, junge Frau entschlüpfen zu lassen. Herr Graf, sagte die Alte, und fing jetzt sogar an auf dem Tische zu putzen, an dem Arthur zeichnete. Dieser verstand und legte den Bleistift nieder. Verzeihen Sie einer alten Frau, die nicht viel versteht. Ja, Alte. Ach gnädiger Herr Graf, ich wollte nur sagen, soll es einer alten Frau, die Sie von kleinauf kennt, nicht das Herz zerreißen, wenn sie mitansieht, wie Sie leben? Kann denn das gar nicht anders werden? Wollen Sie denn nicht heirathen? — Was, schrie Arthur auf und stieß den Stuhl zurück. Ach du mein Gott, Herr Graf, ist es denn ein Verbrechen, was ich sage? Wollen Sie denn so älter werden? Wollen Sie denn —

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Geh hinaus, sagte Arthur sanft. Sogleich! Geh! Die Alte ging. Er stand da in furchtbarer Aufregung. Er fühlte selbst nur zu wohl, daß er älter ward und nichts that, und daß ein Ende werden müsse. Aber wo ein Ausweg? Und wieder, wie er nach Hause ging wenn er es draußen nicht mehr ertragen konnte, verließ er jetzt seine Wohnung, weil er meinte, die freie Luft brächte Linderung in diesem unerträglichen Zustande. — Der Schnee war festgetreten draußen und Schlitten fuhren durch die Straßen. Die Läden leuchteten hell, die Menschen rannten durcheinander, Getöse, Gespräch, Geschrei, Leben — Leben überall, und er allein mitten drin und unthätig! Warum steht der Feind nicht vor den Thoren, fragte es in ihm, damit ich unter den Vordersten kämpfte und ein Ende fände? Hab' ich es verschuldet, daß ich erzogen ward zu etwas, das ich niemals sein kann? Wozu hab' ich Arme und Hände, und keiner bedarf ihrer? Ein grenzenloses Bedürfniß fühlte er, theilzunehmen am Leben der Menschheit, aber wo war seine Stelle? Er ging rasch, jeder wohl dachte, wenn Arthur an ihm vorüberstrich: der Mensch hat viel zu thun und hat es eilig. Er suchte Erwins Haus auf. Er sah zu den erleuchteten Fenstern auf. Seitdem er einsam war, wie oft war er so gegangen, Abend auf Abend, durch die Straßen, und hatte zu den erleuchteten Fenstern der Häuser aufgesehen, von denen ihn keines einlud, bis er in eins der Kaffeehäuser endlich eintrat, die ihn lockten von außen und in denen sich, wenn er drin war, die Einsamkeit nur noch dichter um ihn anhäufte. Mit einer Zeitung in der Hand drückte er sich in eine Ecke. Stundenlang konnte er so sitzen und die Blätter durchjagen. Auch hörte er wohl zu, wenn neben ihm gesprochen ward: Dinge, die ihn nichts angingen. Und jetzt, wo er endlich durch Erwin begonnen, mit der Welt wieder in Verbindung zu treten, als Resultat dieses Versuchs nur ein um so tieferes Hineinsinken in den alten Zustand. So irrte er umher in den Straßen und kam endlich noch einmal vor Erwins Hause an. Gegenüber, eine Treppe hoch, war eine Bierwirthschaft. Es trieb ihn hinauf. Am Fenster sitzend, mit einem Glase Bier vor sich, das er nicht berührte, eingehüllt von Tabacksqualm, Geschrei und Gelächter am Billard, dessen Spieler unaufhörlich dicht an ihm vorbeistreiften, weil er ihnen ein wenig im Wege saß, blickte er durch die angehauchten Scheiben hinüber in Erwins großen Salon. Er sah ihn dasitzen, noch ein paar Männer außer ihm, auch einige Damen und Mrs. Forster und Emmy sah er, alle um den großen Tisch. Eine Götterluft schien ihm drüben zu walten. Er sah, wie sie sich bewegten, wie sie lachten, wie Mappen geholt und betrachtet wurden; und er sah das aus diesem Höllendasein heraus; mit bohrenden Gedanken starrte er hinüber, und keine Geister kamen und bauten eine Straße quer durch die Luft und baten ihn sie zu betreten. Er ertrug es endlich nicht mehr, bezahlte und trat wieder ins Freie. Vor dem Hause auf und ab gehend wartete er den Moment ab, wo auch Emmy und ihre Mutter kämen. Eine gute Weile dauerte es, bis die Gesellschaft sich auflöste. Arthur sah die Leute einzeln oder zu mehreren aus der Hausthür treten und in belebtem Gespräche fortgehen. Er wartete wieder eine geraume Zeit. Er sah die Pferde des Wagens, in dem Emmy fortfahren sollte, ungeduldig hin und her stampfen. Jetzt öffnete sich die Thür: Erwin geleitete die Damen selbst hinunter. Er hatte der Mutter den Arm gegeben, Emmy folgte. Arthur stand da und starrte. Er sah eine Hand noch aus dem Wagenfenster sich vorstrecken und sah wie Erwin sie an die Lippen drückte. Hatte er ihn verrathen? Der Wagen fuhr ab, Arthur sprang vor und rief Erwin bei Namen, der zuerst nicht hörte, weil er den Ruf aus dem Dunkel nicht an sich gerichtet glaubte. Dann aber erkannte er Arthur und zog ihn mit sich die Treppe hinauf. Da trat er in die Räume, die eben noch Emmy beherbergt. Die verschobenen Stühle, die zerstreut umherliegenden Kleinigkeiten, die hellen Lichter überall, der Tisch mit den gebrauchten Tassen ließen ihm fast zu Muthe werden, als seien alle Gäste noch da, nur unsichtbar geworden. Dort hatte Emmy gesessen. Arthur athmete die Luft des Zimmers ein, als wolle er gesund werden durch sie. Wann reisen sie? fragte er heftig. Er hätte es nicht gethan, wenn er sich bedacht vorher. Aber er sah die Hand wieder vor

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Augen, die aus dem Wagenfenster zum Vorschein kam, und eine neue Art Unruhe kam zu der, die ihn schon verzehrte. Ich weiß es nicht, antwortete Erwin. Sie hatten doch reisen wollen? forschte er weiter. Ja, sie wollten es zuerst, aber es scheint ihnen hier zu gefallen. Sie fragten nach Dir, kannst Du wohl denken. Und Du hast ihnen mitgetheilt, daß ich nicht kommen konnte, daß es unmöglich war? fragte Arthur jetzt. Vor einer halben Stunde hätte er die Frage selbst für unmöglich gehalten. Ich habe ihnen alles erzählt, Wort für Wort, antwortete Erwin. Sie sehen's ein und bedauern es, setzte er hinzu. Was sagte sie? Wer? Emmy. Emmy? Sie saß da wie gewöhnlich und sprach kein Wort den ganzen Abend. Nicht? rief Arthur aus. Es entzückte ihn das zu hören. Es war ihm, als hätte er die glücklichste Nachricht empfangen. Warum nicht? Warum sprach sie nicht? wollte er wissen. Das könntest Du sie füglich selbst fragen, rief Erwin lachend. Warum hat das Schicksal mich verdammt zu dem, was ich bin? brach Arthur jetzt in plötzlichem Uebergange des Gefühls aus. Warum? Himmel, warum steh' ich hier, wie wahnsinnig in meiner Armuth, und bin nichts und habe nichts, das ich ihr bieten kann. Hast Du denn in der That so gar nichts? sagte Erwin ernsthaft und trat dicht vor ihn hin. Hast Du nicht Dein Herz, das Du ihr bieten kannst? Nahm Dir meinetwegen das Schicksal die Reichthümer, von denen Du meinst, daß Du sie ihretwegen besitzen müßtest: warum nicht dulden wollen, daß Du sie zurückempfängst durch sie? Aus den Händen einer solchen Frau? Warum wagst Du nicht Dich ihr wieder zu nähern, da sie es Dir erlaubt hat? Ich verdiene sie nicht, sagte Arthur dumpf und fing wieder an zu träumen. Wenn ich reich wäre, ja — Wenn Du reich wärest! Du scheinst Reichthum für etwas großes zu halten. Wenn Du sie nicht verdienst, würdest Du sie auch mit all Deinem Gelde nicht verdienen. Wenn Du sie aber verdienst, ändert das wenig, ob Du reich oder arm bist. Verdienst Du sie aber wirklich nicht, dann ist es vielleicht, weil Du — er vollendete den Satz nicht. Weil ich? fuhr Arthur auf mit dunklen Augen. Weil Du jetzt vielleicht nicht einmal mehr im Stande wärest, Dein Glück würdig zu ertragen, vollendete Erwin hart den unausgesprochenen Gedanken. Was wärest Du denn wenn Du reich wärest? Würdiger? Stärker? Besser geeignet als etwas aufzutreten, irgend etwas? Warum, als Dir alles Aeußere genommen ward, zogst Du Dich zurück in diese elende Einsamkeit, statt zuzugreifen, wo es auch war, und Dir eine Stellung zu schaffen? Ich? Arthur sah ihn verwundert an. Ja Du! Du, mit all Deinem Grafenthum! Freilich, wenn Du - - Erwin brach wieder ab. Er wollte von sich selbst reden, aber er unterließ es. Denn wozu nützte es, zu erzählen, wie energisch er selbst sich herausgerissen, wenn ähnliche Entschlüsse bei Arthur nicht ganz aus ihm selbst kamen? Das Gefühl ward in ihm lebendig, es sei unmöglich Thatkraft in diese Natur hineinzupumpen, und ein Unrecht, seinerseits dazu zu thun, daß ein Mädchen, wie Emmy, in diese Haltlosigkeit hineingezogen würde. Dennoch, kaum daß er sich wie im Fluge nur dieser Gedankenströmung hingegeben, als ihm der Verdacht aufstieg, es seien egoistische Regungen, die ihn so rechnen ließen. Sein Mitleid erwachte mit aller Stärke aufs neue, und die Hoffnung, daß gerade durch Emmy eine Rettung möglich sei. Lieber Arthur, sagte er, ich glaube, es ließe sich bei aller Wahrung Deiner Gefühle ein Weg finden, Dich Emmy zu nähern.

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Nein, es giebt keinen, erwiederte Arthur. Ich kenne Deine Herzensgüte. Du willst mich glücklich machen. Du hegst die edelsten Absichten, ich weiß es, aber es ist vergeblich. Wozu denn auch? Steht denn im Buche des Schicksals geschrieben, es sei nothwendig, daß ich glücklich werde? Bedarf die Welt dessen? Sie geht ihren Weg ebenso richtig weiter, auch wenn ich dasitze und still und langsam mich zu Grunde richte. Im Gegentheil, ich bin so sehr überzeugt in diesem Augenblick, dies eigentlich sei der Wille des Schicksals, daß es mir fast wie ein Diebstahl erschiene, Anderes zu begehren. Laß mich. Wende Deine Freundlichkeit Würdigeren zu, die es Dir besser danken. Du hast Recht: ich würde nicht einmal im Stande sein vielleicht, das Glück zu ertragen. Warum im Unmöglichen seine Kräfte verschwenden? — Lebe wohl, gute Nacht, fügte er dann hinzu und ging, ohne Erwin weiter zu Worte kommen zu lassen, zum Zimmer hinaus.

Achtes Capitel. Arthur war, als er Erwins Haus verließ, fest entschlossen, nicht mehr an Emmy zu denken und das Aeußerste zu versuchen, um sich von der Erinnerung an sie frei zu machen. Einer Nacht aber bedurfte es, um diese Entschlüsse bis auf den letzten Rest zu vernichten. Am andern Morgen saß er so zeitig als möglich auf dem Kupferstichcabinet und hielt aus dort bis zum letzten Momente, wo es geschlossen wurde. Wenn die Thür ging, durchzuckte es ihn. Er hatte sich so gesetzt, daß er sehen konnte wer eintrat. Aber Emmy kam nicht. Den Rest des Tages hielt er sich in der Nähe ihres Hotels und bis spät zum Abend sah er zu ihren Fenstern auf. Dann noch, als Alles dunkel und still war, ging er unter den kahlen Bäumen auf und nieder, und am nächsten Morgen wanderte er wieder zum Museum. Die Sehnsucht hatte so sehr jedes andere Gefühl aufgezehrt in ihm, daß er sich kaum Rechenschaft abzulegen fähig war, warum er diese Stelle so gewissenhaft wieder aufsuchte. Er glaubte da sein und warten zu müssen. Und das trieb er so fort. Erwin kam nicht mehr zu ihm. Oft ertappte sich Arthur jetzt an Erwins Thür, wohl zwei- dreimal am selben Abend war er im Begriff, da die Klingel zu ziehen. So abgethan und abgerissen schien ihm dann aber wieder dies Verhältnis daß er den Muth nicht fand, vor ihn zu treten. Was sollte er ihm sagen? Nach Emmy sich erkundigen? zu welchem Zwecke? Die Dinge standen ja wie sie gestanden hatten. Nur das Eine freilich war anders, daß Emmy immer strahlender, schöner, entzückender ihm vor der Seele schwebte. Einmal fand er sich, fast ohne zu wissen, wie er dahin gekommen, im Hotel. Er fragte den Portier, ob die Damen schon abgereist. Der Mensch erkannte ihn wieder und fragte, dienstfertig antwortend, daß sie noch da seien, ob er ihn melden solle. Arthur sah die Treppe, die er mit Emmy damals hinaufgestiegen, sie lockte ihn wie ein Magnet, eines Wortes hätte es bedurft, aber der Muth verließ ihn. Nein, sagte er, und ging. Wie hätte er vor sie treten sollen? Mit welchen Ansprüchen? Welchen Worten? Und doch war er am nächsten Morgen auf seinem alten Posten im Museum und wenn die Thür ging, meinte er, sie müsse es sein, die käme. Er wußte wohl, daß sie es nicht wäre und hoffte sogar kaum darauf, und stand trotzdem unter der Herrschaft dieses fast einem leisen Wahnsinn ähnlichen Truges, dem er sich, je länger er ihn nährte, um so weniger zu entwinden vermochte. Mechanisch ließ er die Augen auf die ihm vorgelegten Blätter fallen, eins nach dem anderen eine Zeitlang vor das Gesicht haltend, als betrachtete er es, in Wahrheit aber darauf starrend zumeist, und ohne sich Rechenschaft ablegen zu können, was er gesehen habe. Eine Reihe von Tagen hatte das gedauert. Schon war Gewohnheit bei Arthur aus diesen Besuchen geworden. Er kam tagtäglich; etwa, wie ein Kind das an die Schule gewöhnt ist, wenn es gewisse Stunden schlagen hört, unwillkürlich dahin sich auf den Weg macht, wohin es seine Pflicht ruft. Allein wie bei Arthur Alles sprungweise eintrat, so auch hier ganz plötzlich ein Rückschlag. Es sei genug, fühlte er eines Tages. Er

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kam dennoch am nächsten, jetzt aber schon im Bewußtsein, da nichts mehr zu thun zu haben. Noch ein einziges Mal beschloß er, den Platz aufzusuchen und ihn dann für immer zu meiden. Es war als hätten sich die trostlosen Gedanken, die er da gehegt, zu einer Art immer dicker werdender Atmosphäre angesammelt, die ihn forttrieb, weil er sie nicht mehr athmen konnte. Dieser letzte Morgen war nun gekommen und nur noch eine Stunde, auch er vorüber. Emmy kam nicht. Er erwartete sie längst nicht mehr. Theilnahmlos betrachtete er über den Rand der Blätter hinüber die Gesellschaft, die mit ihm zugleich da ihre Studien machte. Die meisten derer welche sich dort einfanden, kamen einmal und nicht wieder. Ein alter Herr dagegen schien fast so standhaft zu sein als Arthur. Mit helmbuschartig sich aufbäumendem Haare über die Blätter gebeugt, saß er da Tag für Tag an derselben Stelle, dem nämlichen großen grünen Tische sogar, freilich ein gutes Stück von Arthur entfernt. Dieser hatte angefangen, Rembrandts Radirungen durchzusehen, und da jener alte Herr das Gleiche that, so wurden die Mappen oft von einem zum andern von ihnen beiden getragen und so eine Art Verhältniß hergestellt. Der alte Herr fing an aufmerksam zu werden. Der junge Mensch, der mit solcher Hartnäckigkeit Rembrandts sämtliche Werke durchsah, interessirte ihn. Einige Male schon, wenn er aufgestanden war, hatte er Arthur über die Schulter gesehen. Endlich blieb er stehen, betrachtete das Blatt, das Arthur gerade vorhatte, eine von jenen kleinen Landschaften die mit so wenig Mitteln so herrliche Blicke gewähren, und sagte ein Urtheil darüber. Arthur drehte sich um und erwiederte höflich, wie das seine Art war, einige Worte der Zustimmung. Dies ermuthigte den alten Herrn in solchem Grade, daß er zwischen den Knieen rückwärtsgreifend einen Stuhl heranzog, sich setzte, mit Hand an die Blätter legte und ohne weitere Präliminarien eine Reihe von Meinungen zu äußern begann. Ich habe oft darüber nachgedacht, sagte er, ob Rembrandt wohl, wenn er solche Kleinigkeiten nebenbei arbeitete, eine Ahnung gehabt hat, welche Freude er nun schon seit Jahrhunderten so Manchem durch diese Blätter gemacht, und wie Viele in kommenden noch gleichen Genuß daraus entnehmen werden. Ist Ihnen die Frage nie aufgestiegen? Sie sind freilich jünger als ich, der ich mich nun schon länger als vierzig Jahre mit diesen Studien abgebe und in erschöpfenderer Weise erfahren konnte was sie werth sind. Ich bin wirklich nie darauf gekommen, erwiederte Arthur mit ziemlicher Kälte. Auch sind Sie wohl weniger Kunstfreund als ausübender Künstler selbst? nahm der alte Herr wieder das Wort. Dann freilich stehen Ihnen Ihre eigenen Werke näher. Wie kommen Sie darauf zu glauben, daß ich ein Maler sei oder dergleichen? fragte jetzt Arthur und konnte sich nicht erwehren, den freundlich messenden Blicken des alten Herrn ein ziemlich kalt erstauntes Gesicht entgegenzuwerfen. Entschuldigen Sie, sagte dieser mit völlig veränderter Stimme, stand auf, verbeugte sich leicht und nahm seinen alten Sitz wieder ein. Arthur schoß das Blut in die Wangen als das geschehen war. Es hatte ihm fast unverschämt geschienen, ohne weiteres darauf angesprochen zu werden, daß er ein Maler sei. Beabsichtigt hatte er nicht, dem Unbekannten die Befremdung bemerklich zu machen, die ihm die unaufgeforderte Vertraulichkeit allerdings eingeflößt: dennoch war sein Benehmen verletzend hochmüthig gewesen. Er mußte sich gestehen, daß er einen wohlwollenden älteren Mann beinahe ungezogen behandelt hatte. Er wünschte den Fehler wieder gut zu machen, denn hatte er irgend Grund, nicht hochmüthig zu sein, so war er es gerade jetzt. Ein trübes Nachdenken überkam ihn: wie viel Menschen, die es gut mit mir meinten, habe ich abgestoßen; bei wie vielen werde ich es noch thun, und welches wird das Ende sein? Er stand auf, näherte sich dem Herrn wieder und sagte mit all der Weichheit, die sein Herz beherrschte: Sie waren so freundlich vorhin, mir einige Aufschlüsse über Rembrandt zu geben: ich muß gestehen, ich weiß sehr wenig von ihm und sehe seine Radirungen hier zum ersten Male: auf wie viel Jahre etwa vertheilt sich diese ungemeine Thätigkeit?

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Der alte Herr betrachtete ihn eine Zeitlang, ehe er erwiederte. Sie sind kein Künstler, antwortete er dann, wie ich zuerst anzunehmen mir erlaubt hatte; auch kein Sammler, wie Sie selbst bemerkten; darf ich mir die Frage erlauben, was Sie antreibt, ihr Interesse jetzt besonders Rembrandts Radirungen zuzuwenden? Arthur war so verlegen um eine Antwort, daß er eine Zeitlang schwieg. Endlich brachte er ziemlich unbehülflich zum Vorschein, daß er ein allgemeines Interesse an der Kunst habe, zuweilen das Kupferstichkabinet besuche und sich auf gut Glück dies oder jenes geben lasse. Und ich hätte darauf geschworen, daß Sie ein Künstler sein müßten, sagte der alte Herr jetzt wieder freundlicher, und das Ende der Sache war, daß, als die Schlußstunde des Kabinets gekommen war, beide zusammen das Museum verließen, bis sie auf ihrem Wege an ein Haus kamen, wo der alte Herr still stand und sich beurlaubte. Arthur that es leid sich von ihm trennen zu müssen, denn der Mann hatte etwas höchst anziehendes; er war in Italien gewesen und sprach darüber in einer Weise, wie Arthur nie zuvor gehört. Dies Gefühl schien ein gegenseitiges zu sein, denn nachdem sie bereits von einander Abschied genommen, kehrte der alte Herr noch einmal um und fragte, ob Arthur nicht einen Augenblick mit ihm eintreten wolle. Ich besuche einen jungen Bildhauer, sagte er, dem ich mit allerlei gutem Rath an die Hand zu gehen pflege und den kennen zu lernen Ihnen gewiß Freude machen wird. Arthur, obgleich ihm Alles in der Welt daran gelegen war, sich jetzt nicht selbst überlassen zu bleiben und der, hätte der alte Herr ihm nicht gerade Lebewohl gesagt, den langen Tag mit ihm zusammengeblieben wäre, zögerte nun dennoch. So sehr lag ihm im Blute, sich auf der Stelle in abwehrende Positur zu setzen wenn er einen neuen Menschen kennen lernen sollte. Kommen Sie immerhin mit herein, fuhr der alte Herr dagegen fort, und indem er, obgleich rings kein Mensch zu sehen war, die hohle Hand an den Mund legte und so weitersprach: Sie sollen etwas sehen, das nicht Jedermann vielleicht zu sehen bekommt, eine Portraitbüste — eines jungen Mädchens — Er hielt plötzlich Inne, als sei das schon zuviel verrathen. Seine letzten Worte wirkten wunderbar. Arthur war so von Emmy erfüllt, als beherberge die Welt nur sie allein und müsse sie gemeint sein wenn von irgend welchem Mädchen die Rede war. Soweit ging diese Täuschung, daß ihm das Blut in die Stirne stieg, weil ihm (der alte Herr konnte ja nicht wissen wer er war) Emmy's Bildniß auf indiscrete Weise gezeigt werden sollte. Kommen Sie, erwiederte er, ich gehe mit. Sie durchschritten das Haus und einen kleinen Garten und traten ohne anzuklopfen in einen Raum ein, dessen feuchte Wärme schon seine Bestimmung verrathen haben würde, hätte nicht der Hauptanblick, der sich ihnen darbot, es ohnedies angezeigt: ein junger Mann auf der halben Höhe einer Stehleiter eifrig damit beschäftigt, an einer kolossalen Sandsteinmasse zu meißeln, die einen auf seinen Speer gestützten idealen Krieger darstellte und, wie Arthur von seinem Führer sofort belehrt ward, dazu bestimmt war eines unserer zahlreichen Schlachtfelder als Erinnerungsdenkmal der Nachwelt zu bezeichnen. Obwohl noch ziemlich zurück in der detaillirten Ausführung, wirkte das Werk bereits in bedeutendem Maße, ja, in höherem vielleicht (wie Arthur abermals durch die hohle Hand empfing), als wahrscheinlich später, wo zuviel daran ausgeführt worden sei. Doch helfe nun einmal alles Predigen nichts. Sie brauchen keine Notiz von uns zu nehmen, verehrter Freund, hatte der alte Herr dem jungen Bildhauer gleich beim Eintritte zugerufen, worauf dieser, der Aufforderung pünktlich nachkommend, mit seinem Holzschlegel den Kopf seines Meißels leise zu beklopfen fortfuhr. Bei einem Umgange im geräumigen Atelier, das mit Skizzen, Abgüssen und allerlei Sehenswerthem gefüllt war, theilte der alte Herr Arthur halbleise mit, welche Hoffnungen der junge Bildhauer errege. Er sei arm und habe sich auf das kümmerlichste emporgearbeitet, fast daran verzweifelt fortzukommen, erbärmliches kleines Werk für Bronzefabrikanten arbeiten müssen und dergleichen, bis es ihm

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endlich gelungen sei bei einer Concurrenz den Auftrag davonzutragen den er jetzt ausführe. Wenn das gethan ist, muß er mir nach Italien! setzte er hinzu. Aber sehen Sie hier! Der alte Herr stand selber da als kaum begonnene Thonbüste. Sein weißes Haar, das sich wie ein Wasservulkan von der Stirn erhob und nach beiden Seiten widerstrebend abfiel, seine Augenbrauen, sein Mund, der Alles was die Welt in sich trägt geistig durchgeschmeckt zu haben schien und leise wiederkäuend noch immer damit fortfuhr, war mit Handgreifllichstem Leben zur Anschauung gebracht. Sorgfältig legte er den nassen Lappen wieder um den Thonkloß der seine Züge trug und drehte sich dann zu dem Bildhauer um mit der Frage, wo denn die Büste sei, er wisse wohl, welche er meine. Arthur hatte schon mit den Augen gesucht, sich dann aber gestanden, daß es eine Thorheit gewesen an das zu denken, woran er gedacht. Wird gerade in Gips gegossen, sagte der Bildhauer. Oh, rief der alte Herr bedauernd und schüttelte den Kopf. Thut mir sehr, sehr leid. Aber was steht denn frischangefangenes dort? Er ging damit auf einen Modellirtisch zu, wo eine mit nassen Tüchern umhüllte Masse eine neue Arbeit verrieth. Der junge Mann kam jetzt herab, klopfte sich den Staub und die Steinstückchen aus den Falten, drückte dem alten Herrn die Hand, verbeugte sich gegen Arthur und hielt jenem dann rasch wieder den Arm fest, als er das Geheimniß enthüllen wollte. Halt, ist nicht erlaubt! rief er scherzend aber bestimmt. Was? schrie der alte Herr. Nicht mein Eigenthum! replicirte der Bildhauer, zog ihn bei Seite und sprach weiter was Arthur nicht verstand. Heute ist keine Sitzung? fragte der alte Kunstfreund dann wieder etwas lauter. Heute, nein! Aber sie hat eine Fertigkeit, sage ich Ihnen, einen Blick! überhaupt — er vollendete nicht, sondern wandte sich, um nach Arthur zu sehen, durch dessen Gegenwart er sich bei diesem Gespräche offenbar genirt fühlte. Arthur merkte es und verließ die beiden, indem er mit Blicken, die nichts sahen wie bei Rembrandts Werken vorhin, noch einmal das Atelier durchschritt. Was er über den jungen Bildhauer gehört, hatte seine Stimmung vollends deprimirt. Dies Emporarbeiten mit eigener Kraft aus der Niedrigkeit, diese Aussichten auf eine ehrenvolle Zukunft: er konnte das nicht hören ohne an sich zu denken. Freilich, wie hätte er Bildhauer werden können? Das auch kam ihm nicht in den Sinn. Mehr im Allgemeinen bedrückte es ihn, das Zerstreuende des neuen Anblicks war vernichtet, und das alte freudlose Hinausstarren in seine eigene Lebensbahn wieder das beherrschende geworden. Seine Phantasie war in solchen Fällen immer höchst bereitwillig, Vergleiche zu liefern, die das Gefühl noch verschärften. Der Anblick des Ateliers, verbunden mit den Gesprächen über Italien, erweckte in ihm ein Bild wieder, das ihm bis dahin nie zurückgekehrt war: die Erinnerung an den Marmorhof eines verlassenen Palastes, den sie, ziemlich abgelegen, fast in der Wildniß, angetroffen und durchstreift hatten. All diese Oedigkeit nun, die fensterlosen Säle mit verblaßten Malereien und abstürzenden Plafonds, das sich spaltende Marmorgemäuer der Stufen, die von außen hineinwuchernde Natur, hatten nichts Trauriges an sich, vielmehr ein höchst natürlicher Proceß schien sich hier zu vollziehen. Nur als sie in einer Nische einen Springbrunnen fanden, dessen Wasser sich allerdings nur noch eine Hand hoch erhob und dann über den Rand der vollen Schale ringsum absickerte, hatte das etwas unbeschreiblich wehmüthiges. Dieses Rinnen frischen Gewässers so für gar nichts, diese vielleicht fünfzig oder hundert Jahre dauernde vergebliche Arbeit, an der keiner Menschenseele gelegen war, ja die nicht einmal den gleichgültigsten Blick zu erfrischen Gelegenheit fand: Arthur wäre im Stande gewesen den Brunnen zu zerschlagen, nur um dieser Quälerei ein Ende zu machen, etwa wie man im Märchen Geister erlöst, die an irgend einer abgelegenen Ecke in Steinen und Stämmen sitzend auf Menschen harren. Dieses Bild kam ihm jetzt und er mußte sich selbst mit einem solchen Brunnen vergleichen. Jedes andere Wasser trieb seine Mühle oder trug seine Schiffe oder

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netzte wenigstens die Wurzeln einsamer Bäume, über die es hinfloß, er aber in sein Marmorbassin gebannt, aus ihm wurde nicht einmal mehr geschöpft um Blumen zu begießen, höchstens daß dann und wann ein Vogel kam um eine kleine Kehle voll, ein paar Tropfen, die jedes andere Wasser ihm gleichfalls geschenkt hätte, hinwegzutragen. Sehen Sie, sagte jetzt der Bildhauer leise zum alten Herrn und deutete auf Arthur, der, in solche Gedanken versenkt, sich an die Wand gelehnt hatte und mit leise niederwärts gerichtetem Kopfe finster auf den Boden sah. Sehen Sie, rief der Bildhauer, das ist der Kopf für meinen Krieger, den ich brauche! Unmöglich war mir, den alten abgeleierten, sogenannten griechischen Typus hier zu wiederholen; Leben muß ich haben, Natur! und fand keine. Der aber ist mein Mann! Haben Sie's heraus? rief der alte Herr triumphirend, indem er die Frage dann noch zweimal wiederholte. Geht Ihnen nun auf, warum ich den Mann ins Atelier gebracht habe? Hat einmal wieder Jemand, ohne selbst ein Künstler zu sein, gewußt was ein Künstler brauchen kann? Jawohl ist das ein Kopf für Sie! Meinen Sie, daß ich ihn fragen darf? fiel der Bildhauer ein. Auf der Stelle! Indem beide sich in Folge dessen nun aber in Bewegung setzten, um Arthur die Bitte vorzutragen, wurde plötzlich ein leises Pochen an der Thüre des Ateliers hörbar. Himmel! sollten sie heute doch kommen? rief der Bildhauer aus und warf, indem er der Thür zusprang, einen bezeichnenden Blick auf seinen Gönner. Sein Sie unbesorgt, rief dieser, ich werde mit dem Herrn schon den Weg unbemerkt ins Freie finden! Und während der Bildhauer die Thür öffnete, schlich er in großen Schritten eiligst in den Hintergrund, wo Arthur sich befand, den die Gerüste und der übrige mannigfache Inhalt des Atelier für die Eintretenden völlig verdeckten. Wer jetzt erschien war in der that Mrs. Forster und ihre Tochter. Emmy, die von Kind auf Talent für die Bildhauerei besaß, hatte den Wunsch geäußert, die Büste ihrer Mutter zu modelliren. Sie wollte etwas sie recht in Anspruch nehmendes beginnen und war so darauf verfallen, ihre früheren Versuche in dieser Richtung fortzusetzen. Erwin hatte auch hier den Vermittler gespielt und durch die getroffene Wahl beiden Theilen Freude und Nutzen geschaffen. Fast von selbst verstand sich, daß der junge Bildhauer die Gelegenheit benutzte, Emmy's Portrait seinerseits zu modelliren. Das allerdings war es gewesen, was Arthur vorhin sehen sollte, und er von seinem Gefühle also dennoch diesmal nicht getäuscht worden. Emmy entledigte sich ihrer winterlichen Umhüllung, trat an den Modellirtisch und begann, während die Mutter und der junge Mann einige Worte freundlicher Höflichkeit austauschten, die feuchten Tücher von der begonnenen Arbeit abzunehmen. Der Bildhauer war sobald als möglich neben ihr, um dabei zur Hand zu gehen, präsentirte ihr darauf die frischgewaschenen Modellirhölzer und zeigte sich überhaupt von einem ganz anderen Geiste beseelt als fünf Minuten früher. Es ist merkwürdig, sagte Emmy und musterte ihr Werk, so lange ich daran arbeite, bin ich immer unzufrieden. Zu Hause aber, wenn es mir in die Gedanken kommt, scheint mir die Büste ein wahres Meisterwerk zu sein, und je länger die Zeit ist, daß ich sie nicht vor Augen gehabt, um so höher steigt diese Idee von dem was ich gemacht zu haben glaube. Dann aber, wenn ich sie wirklich wieder erblicke, wie jetzt zum Beispiel, meine ich, sie sei schlechter, als es der ärgste Stümper hervorzubringen im Stande sei, und ich möchte verzweifeln, daß jemals etwas daraus wird. Das ist der beste Beweis für Ihr Talent eben, antwortete eifrigst der Bildhauer. Denn auf diese innerliche Anschauung kommt es allein an. Geschickt nachzuahmen was man vor den Augen hat, ist eine, man möchte sagen, fast thierische Eigenschaft. Ich meine, man müßte einen Affen abrichten können, in Thon nachzumodelliren was vor ihn hingestellt wird. Aber derjenige allein bringt ein Kunstwerk zu Stande, der einen Anblick in sich trägt und dieses Bild zumeist darzustellen versuchte, so daß das wirkliche Vorbild eigentlich nur zum Corrigiren des innerlich geschauten Ideals dient. — Sie werden schon vorwärts kommen, gnädiges Fräulein.

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Es ist noch gar zu ungeschickt, antwortete Emmy, während sie an dem Thone herumzuglätten begann. Immer nur große Flächen! ermahnte der Bildhauer. Nicht die Nachahmung all der kleinen Hebungen und Senkungen, sondern stets den totalen Anblick im Auge halten. — Sie werden schon etwas tüchtiges zu Stande bringen. Ausdauer aber vor allen Dingen. Daran soll es nicht fehlen, bemerkte Emmy lächelnd. Die versteht sich von selber. Sie begann stillschweigend zu arbeiten, worauf ihr begeisterter Lehrer, nachdem er eine Weile zugesehen, sich gleichfalls wieder an sein Werk begab. Währenddem hatte der alte Herr, statt sich mit Arthur davonzuschleichen, wohlverdeckt, gleich diesem, sich nicht enthalten können, mit verhaltenem Athem das Gespräch anzuhören. Gewiß eine verzeihliche Neugier. Dann aber rekognoscirte er das Terrain und meinte hinter Kisten und Kasten herum den Weg entdeckt zu haben, der ihn und Arthur ungesehen zur Thür geleiten mußte. Arthur stand noch wo er gestanden hatte. Ohne sehen zu können, wer gekommen war, fühlte er daß Jemand gekommen sei, und ohne zu verstehen was gesagt wurde, denn der Bildhauer hatte absichtlich leiser gesprochen, und die Damen waren unbewußt ihm darin gefolgt, hörte er den Klang von Stimmen, deren Flüstern ihn jedoch nicht zum Horchen aufforderte. Von jeher war ihm das besonders reizend gewesen, halb dem Gespräche Anderer zu lauschen, gleichsam nur das Geräusch der Rede zu vernehmen, und eigenen Gedanken dabei nachzufolgen. Keine angenehmere Art und Weise kannte er, sich selbst zu verlieren. Und so auch hier. Er rührte sich nicht, hörte ohne zu verstehen, und dachte ohne sich Rechenschaft abzulegen fast über den Gang seiner Ideen. Aber er fühlte sich wohl. Die fatale Stimmung, die ihn eben noch so unglücklich gemacht, war mit einer ganz entgegensetzten ausgetauscht. Nicht weit von ihm stand auf einem Marmorblocke in einem thönernen Topfe eine jener großblätterigen Palmenpflanzen (Emmy's Gedanke, sie hierher tragen zu lassen) und theilte ihre sanft geneigten großen Blätter ringsum aus. Das Gespräch war verstummt. Seine Gedanken geriethen von neuem nach Italien, nicht mehr in so traurigem Zuge wie vorhin, sondern beruhigend freundlich. Er vergaß völlig wo er war. Da fühlte er ganz leicht die Hand des alten Herrn auf seiner Schulter, der ihn halb mit Worten, halb mit Handbewegungen aufforderte, leise hinter ihm drein zu kommen. Dergleichen verstand Arthur auf der Stelle. Geräuschlos, gleich seinem Führer, auftretend, folgte er ihm, zwischen dem Gerüste, allerlei Brettern, Thonfässern und dergleichen sich durchwindend, und wäre, hätte das Schicksal sich nicht hineingemischt, sicher zur Thür des Ateliers und ins Freie gelangt. Mrs. Forster las. Emmy war in ihre Arbeit vertieft und bekümmerte sich nicht um das was um sie her sonst vorging, der Bildhauer hämmerte so laut als möglich und wünschte den beiden Besuchern innerlich tausendmal Lebewohl und Glück auf dem Rückzug. Allein der alte Herr fand jetzt seine Beresina. Ein niedriges Halbfaß mit Gyps gefüllt versperrte den Weg. Ein solide scheinendes Brett lag quer darüber hin und ein Uebersteigungsversuch wurde gemacht, im Eifer für die gute Sache jedoch dabei unterlassen, die Stärke dieses Brettes zu prüfen, und so kam es daß der alte Herr, im guten Glauben zart darüber wegzusteigen, plötzlich unter Krachen einbrach, mit beiden Beinen in den Gyps versank und durch den Einbruch sowohl, als die krampfhaften Versuche, sich wieder herauszuarbeiten, eine solche Staubwolke unter seinen Füßen aufsteigen ließ, daß er nicht anders als ein unter Donner und Dampf aus den Tiefen der Erde aufsteigender Unterirdischer dastand. Einige Bretter, an denen er sich halten wollte, fielen um, der Bildhauer, in der Idee, seine Arbeit schützen zu müssen, sprang zu, und die Blicke der Damen richteten sich nothwendigerweise nach der Stelle, woher die ungewöhnliche Erscheinung sichtbar ward. Arthur, auch wenn er sich hätte verbergen wollen, hätte jetzt nicht mehr gekonnt. Der Weg nach allen Seiten hin war versperrt. Erkannt hatte man sich bereits. Er machte eine Verbeugung, trat zwei Schritte vor und verneigte sich abermals, blieb dann aber

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wie eingewurzelt stehen, da er nicht im Stande war, seine Gedanken zu sammeln und sein Instinct ihn im Stiche ließ. Um so weniger erschrocken jedoch benahm sich der alte Herr. Aus seiner Wolke heraustretend näherte er sich unbefangen Mrs. Forster und ihrer Tochter. Meine Damen, nahm er das Wort, ich muß tausendmal um Entschuldigung Bitten der Ungeschicklichkeit wegen, mit der wir das Feld zu räumen suchten. Hätte man hier im Atelier geahnt, daß Sie heute kämen, so würden sie sicherlich nicht im Alleinbesitze dieser Räume gestört worden sein. Guten Tag, Graf Arthur, sagte jetzt Mrs. Forster und reichte ihm die Hand. Arthur ergriff sie und führte sie an seine Lippen. Ich hätte nie gewagt, hier zu sein, sagte er, wenn ich gewußt hätte, daß Sie — Mein lieber Graf, unterbrach ihn die Frau, sagen Sie das lieber nicht zu Ende, sondern betrachten wir es als einen vortrefflichen Zufall, so wieder zu einander gekommen zu sein. Ich freue mich recht herzlich. Emmy sagte kein Wort, aber als Arthur sie wie fragend ansah, reichte auch sie ihm die Hand hin, die er kaum zu berühren wagte. Wie finden Sie mein Werk? fragte sie dann sich wieder zu ihrer Arbeit wendend; natürlich unser Meister dort hat das Beste daran gethan. Nicht angerührt habe ich die Büste! rief der Bildhauer in vollem Eifer. Nun man kann auch ohne die Hände mit dem guten Rath allein das Beste an einer Sache thun, sagte Emmy, und daran haben Sie es nicht fehlen lassen. Sie nahm das Modellirholz und begann wieder zu arbeiten als sei nichts vorgefallen, während auch die Mutter den für die Sitzung arrangirten Platz wieder einnahm. Arthur endlich stand wie festgenagelt da und rührte sich nicht. Der Uebergang war ein so gewaltsamer, daß er sich kaum zu fassen wußte. Alle Hindernisse fortgeblasen, wie ein Aprilhimmel voll dicker Finsterniß sich in wenigen Minuten in Bläue kleidet. Er stand und betrachtete Emmys Hände. Er hätte sein lebenlang so stehen mögen. Als das eine Zeitlang gedauert hatte, wandte sich Emmy wieder zu ihm. Sie dürfen mir nicht zusehen, Graf Arthur, sagte sie, fragen Sie meinen Meister dort, ob das die Arbeit nicht aufhält. Ich würde Ihnen den Vorschlag machen, jetzt fortzugehen und lieber hernach zum Essen zu uns zu kommen. Nicht wahr, Mama? Die Mutter gab mit einigen, jetzt etwas weniger freundlichen Worten aufs höflichste ihre Zustimmung zu erkennen. Es würde ihr sehr angenehm sein und sie bäte den Grafen, seinen Freund in ihrem Namen gleichfalls einzuladen. Arthur versprach mit Erwin zu kommen. Es war ihm fast eine Erlösung, gehen zu dürfen. Da er nicht allein sein konnte mit Emmy, wollte er es nun am liebsten sein mit den Gedanken an sie. Er verabschiedete sich, aber er ging nicht. Er konnte nun doch nicht los von der Stelle, wo sie weilte. Unter dem Vorwande, die Statue des Bildhauers noch einmal zu betrachten, blieb er und sah bald auf den Stein, bald auf Emmy hin. Sie führen den ersten Befehl, den Sie von mir empfangen, rief Emmy zu ihm herüber, in sehr ungenügender Weise aus! Das verspricht wenig für die Zukunft. Mrs. Forster fuhr zusammen als sie ihre Tochter so reden hörte und in solchem Tone. Die besten Jugendfreunde, die auf Du und Du standen, hätten nicht ungenirter mit einander verkehren können. Liebes Kind, sagte sie, wir haben hier gar nicht zu befehlen. Es scheint in der That so, sagte Emmy ohne die in der Sprachweise ihrer Mutter ziemlich stark enthaltene Mahnung im mindesten zu berücksichtigen. Arthur nahm zum zweiten Male Abschied und ging nun wirklich. Er hatte kaum gesprochen, und wenn Mrs. Forster ungehalten war, konnte das allein Emmy gelten. An der Thür traf er mit dem alten Herrn wieder zusammen, der, gänzlich unberücksichtigt, sich fortgemacht, Arthur dann aber draußen doch erwartet hatte. Dieser jedoch würdigte ihn kaum eines Blickes und entrann ihm nach einigen nothdürftigen Höflichkeiten ohne Weiteres. Der Mann existirte nicht mehr für ihn. Wer aber überhaupt noch außer Emmy? Arthur ging durch die Menschen auf der Straße,

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als wäre er ganz allein auf der Welt nur. Ein unbeschreibliches Gefühl von Zufriedenheit belebte ihn bis in die feinsten Adern, die Erde kam ihm jugendlich und frischgeschaffen vor, und während ein Anderer vielleicht nun feste Hoffnungen zu hegen begonnen und Pläne für die Zukunft geschmiedet hätte, deren Formen bestimmte Gestalt annahmen, so daß die geistige Erhebung seines Wesens durch eine gewisse Klarheit über Wollen und Können in Grenzen gehalten und dadurch auf bestimmte, nothwendige Ziele geleitet worden wäre, fühlte sich Arthur dagegen durch keine derartige Gedanken beirrt, sondern der unbestimmten Ahnung siegreichen Glückes hingegeben; als würde er von einem Ballon in die Wolken getragen, blickte er wie aus dessen Gondel sicher und im liebenswürdigsten Sinne hochmüthig auf die kribbelnde, geschäftige Erde herab, von der er nichts verlangte und deren übrige Bewohner mit all ihrem Thun und Lassen sein Gefühl weder zu vergrößern noch zu verringern vermochten.

Neuntes Capitel. Arthur hatte seinem Freunde, den er nicht zu Hause fand, einige Zeilen hinterlassen. Erwin, als er sie überflog, begriff nicht, um was es sich handelte; es stand da: „um fünf Uhr zum Diner bei Mrs. Forster. Arthur." Durch eine Konsultation überhaupt verhindert die Einladung anzunehmen, erschien er ein wenig vor der Zeit im Hotel, um sich zu entschuldigen und zu erfahren wie das Alles zusammenhinge. Er fand Mrs. Forster allein. Sie saß da und überlegte das im Atelier Vorgefallene. Sie hatte diese Wendung der Dinge nicht erwartet. Sie fragte sich, warum, statt abzureisen, wie beschlossen gewesen war, sie Emmy's nicht einmal dringendem Wunsche, noch einige Zeit zu bleiben, so leicht nachgegeben. Emmy's Ruhe, ihr scheinbar völliges Absehen von Arthur, ihr unbefangener Verkehr mit Erwin hatten Gedanken an diesen in Mrs. Forster entstehen lassen. Nie war ihr ein Mann so erwünscht vor die Augen getreten, so völlig geeignet ihre Tochter glücklich zu machen. Seit der Zeit wo sie allein stand im Leben oft genug darauf angewiesen, sich auf ihren Instinct allein verlassen zu müssen, schien eine innere Stimme hier so deutlich zu reden, daß sie wenigstens nichts thun wollte, was erstörend eingriffe, und mit wachsender Zufriedenheit, hatte sie von Tag zu Tag den Lauf der Dinge verfolgt, die immer mehr den Anschein gewannen, als ob sie sich ihren Erwartungen gemäß gestalten wollten. Und das nun zerstört. Und doch wieder durch ihre eigene Schuld. Sie selbst ja war es gewesen, die Arthur zuerst angeredet, ihn durch entgegenkommende Freundlichkeit ermuthigt und Emmy damit gleichsam herausgefordert hatte in einen ähnlichen Ton einzufallen. Die Art aber wie diese darauf, ohne jede Einleitung, mit dem Grafen umgegangen war, hatte sie erschreckt. Gewöhnlich, oder immer vielmehr, wie Mrs. Forster ihre Tochter zu kennen glaubte, von einer beinahe stolzen Zurückhaltung, die selbst längeres Zusammenleben nicht aufzuheben vermochte, (mehr als einmal hatte ihre Mutter das zu beobachten Gelegenheit gefunden), schien Emmy Arthur gegenüber jetzt wie vertauscht, behandelte ihn halb wie ihren Sohn (dafür war sie doch zu jung) halb wie ihren Bruder (dafür stand er ihr doch zu fern), sprach mit ihm, und hinterher dann von ihm, als wisse sie genau wie er denke und fühle, und sei zweifellos vom Schicksal zu seinem Sachwalter bestellt, als wisse alle Welt darum und gebe ihren Segen dazu. In diesem Amte schien sie sogar ihrer Mutter selber Widerstand leisten zu wollen, auch wenn sich Anlaß dafür noch nicht geboten hatte. Aber die Frau wußte es. Eine ungewohnte Empfindung von Verlassenheit bemächtigte sich ihrer, der nachgebend sie sich fast gegen ihren Willen gedrungen fühlte, einem Menschen mitzutheilen wie ihr um das Herz sei. Erwin hörte sie an und erstaunte. Wenn eine solche Frau mit Bewegung von sich selbst sprach, so konnte das nicht ohne äußersten Zwang geschehen, und so sagte ihm der Umstand, daß sie sprach, mehr noch als was sie sagte. Er selbst, so sehr er

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diese Wiederannäherung Arthurs herbeizuführen gestrebt hatte, auch gegen die Gelegenheit, bei der, oder gegen die Form, in der sie erfolgt war, nichts einwenden durfte, fand sich unter der Herrschaft einer wunderlichen Mischung von Befriedigung und Unzufriedenheit. Irgend etwas beleidigte ihn. War es, daß der Zufall seine eignen guten Dienste bei diesem Zusammentreffen umgangen hatte, war es, daß er Arthur für die Zukunft als ein neues Element betrachten mußte, hinter dem er selber nun zurückstand; war es offenbare Eifersucht? Soviel fühlte er deutlich, daß, als er Emmy nicht erscheinen sah, sie dagegen im Nebenzimmer reden, einmal sogar ein paar Tacte einer Melodie summen hörte, ein schmerzliches Gefühl sich in ihm regte. Allein dies jedoch mehr Dinge zum bedenken als zum bereden. Es bot sich keine Fassung in Worten. Und so beschwiegen Mrs. Forster und Erwin einander gegenüber vieles, das ungesagt blieb, mit innerlicher Leidenschaft, während Emmy, der die Stille auffiel, nun die Thür öffnete und den Kopf ins Zimmer steckte, ihn jedoch, als sie Arthur noch nicht erblickte, freundlich grüßend wieder zurückzog. Uns beiden galt das nicht, sagte Erwin und wollte selber lachen, brachte es jedoch kaum dazu. Es ist eine sonderbare Lage, begann nach einer Weile Mrs. Forster, Dinge mit ansehen zu müssen, die uns völlig gegen die Natur sind und die wir nun obendrein noch wie etwas gutes, erwünschtes sogar zu behandeln gezwungen sind, deshalb weil sie unabänderlich erscheinen und wir selber doch nicht aus unserer Rolle fallen dürfen. Sie sehen, lieber Freund, wie sich meine Tochter Ihrem Freunde gegenüber stellt; was war da zu verhindern? Hätte ich das geahnt, ich wäre den ersten Tag auf und davon. So aber erschien es doch als das natürlichste, daß wir noch einige Zeit zugaben, um dem armen Menschen vielleicht Gelegenheit zu schaffen, wieder ruhig zu werden. Das zog sich dann so hin. Wie konnte ich wissen, was freilich nun offenbar zu werden scheint, daß bei Emmy der feste Entschluß vorhanden war, den Grafen wiederzusehen, und daß sie den Moment, wo es geschähe, mit einer Sicherheit erwartete, deren Quelle mir noch immer unbegreiflich bleibt? Niemand ist gewaffnet gegen Zufälle, und wenn diese Beiden einmal sich finden sollten, was vermochten wir dagegen? Und so: was würde es nützen, sich dawider stemmen zu wollen? oder in Kleinigkeiten ein Terrain zu verteidigen, das im Ganzen bereits verloren ist? Ich kenne meine Tochter. Sie wäre mein und meines seligen Mannes Kind nicht, wenn sie hier nicht festhielte. Meine Aufgabe ist, als unthätiger Zuschauer mit ansehen, wie dieser junge Mann, den ich weder begreife wie er ist, noch wie er werden könnte, in eine mir nicht gleichgültige Stellung hineinwächst, dicht neben mir, und nichts bleibt doch am Ende übrig als zu lächeln und ihn zu lieben, selbst wenn all das eintrifft was ich ahnend voraussehe. Und was wäre das? fragte Erwin. Sagen Sie es sich selbst? antwortete sie seufzend. Halten Sie, bemerkte nach einigem Nachdenken Erwin, für so ganz unmöglich, was ich jetzt aussprechen will? — Nehmen Sie einen jungen Mann, mit allen Gaben ausgestattet, deren es eigentlich bedarf um sich kräftig Bahn zu brechen im Leben, dennoch durch eigene Vorurtheile und durch eine in gewisser Hinsicht verderbte Anordnung unserer Verhältnisse durchaus verhindert, zu der Thätigkeit zu gelangen die ihm zusagt und für die er bestimmt ist; eines Tages aber als glücklicher Gatte einer energischen Frau in ein anders organisirtes Land versetzt und an die Spitze eines Besitzes gestellt, der ihn völlig in Anspruch nimmt: meinen Sie nicht, eine ungeahnte Entfaltung von Kräften könne da stattfinden, die in Europa niemals erfolgen würde. Scheint Ihnen daß allzu unsicher und problematisch gedacht? Nein, sagte sie, es ist mir ähnliches als Trost aufgestiegen. Aber es ist seltsam, fügte sie hinzu, wie etwas in den Zügen eines Menschen, etwas ganz unbestimmtes, Einfluß haben kann auf solche Hoffnungen. Mich erinnert der Graf ich weiß nicht, an irgend Jemand, aber immer wieder muß ich suchen, wer es sei, und es ist als wäre es nichts das mich erfreute, wenn ich es gefunden. Erzählten Sie nicht, das Landgut seines Vaters liege nahe bei der Stadt?

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Eines der mannigfachen Güter, die er besaß, allerdings, antwortete Erwin, und zugleich das, auf dem Arthur geboren wurde. Mrs. Forster sah ihn zerstreut an. Wo er geboren wurde—? wiederholte sie. Nein! rief die Frau plötzlich aus, und zwar mit einer Energie, die Erwin wie zurückfahren machte, denn es war dieses Nein offenbar die Antwort auf etwas, das innerlich in ihr vorgegangen war. Ohne sich zu kümmern jedoch, was Erwin denken möchte, setzte Mrs. Forster jetzt rasch hinzu: wie ist denn der Name seiner Familie? Arthurs? fragte Erwin. Habe ich die niemals genannt? Sie haben ihn Arthur genannt und wir ihn den Grafen, es kam auch nicht darauf an, wie er hieße. Er war ein Gentleman und Ihr Freund, einerlei welchen Namen er führte. Jetzt aber muß ich ihn wissen! Erwin nannte den Namen und setzte den der mütterlichen Familie gleich hinzu. In Mrs. Forsters Zügen aber ging, als die kurze Reihe Sylben ausgesprochen wurden, etwas außerordentliches vor. Kein Wort sagte sie, aber eine Erschütterung bewegte die Frau, wie ein Erdbeben etwa, nach dessen kurzem Stoße die Dinge ganz und unversehrt auf dem alten Flecke stehn, und das dennoch ein Gefühl zurückläßt, als hätte ebensogut Alles zusammenstürzen können. Erwin erwartete was Mrs. Forster selbst zur Erklärung dieser Bewegung sagen würde. Aber sie war ganz in tiefe Gedanken versunken, sah starr vor sich hin, lehnte sich dann zurück, legte die Hand auf den Tisch und trommelte ein paarmal leise mit den Fingern. Nach einiger Zeit erst schien sie von Erwin wieder Notiz zu nehmen. Ich kann Ihnen nichts mittheilen über die Gefühle, die der Name in mir erregt hat, sagte sie. Aber glauben Sie mir, daß ich soeben etwas erlebt habe, was ich nie für möglich gehalten hätte. Grübeln Sie nicht darüber: weder für Emmy, noch für Arthur oder für Sie soll es Bedeutung haben, aber seltsam — seltsam. Und sie versank von neuem in Nachdenken. Lassen Sie uns für heute abbrechen, sagte sie endlich. Wir sehen uns bald, nicht wahr? Sie reichte ihm die Hand. Wissen Sie, fuhr sie dann fort, indem sie ihn einige Secunden so nicht losließ, Sie könnten mir einen Dienst erzeigen? Sie stockte. Jawohl, es ist besser so, fuhr sie dann fort, gehen Sie zu Ihrem Freunde und sagen Sie ihm, es sei uns unmöglich, ihn heute zu sehen! Erfinden Sie irgend etwas! Sie wurde ängstlich: Sagen Sie ihm, es sei — ich sei nicht wohl, Emmy sei nicht wohl, es seien Freunde angekommen, wir hätten böse Nachrichten empfangen, irgend, irgend etwas. Nur für heute machen Sie mich frei! Gewiß, versicherte Erwin und nahm den Hut, um zu gehen, als in demselben Augenblicke der Diener Arthur anmeldete, der ihm auf dem Fuße folgte. Die Frau athmete tief auf. Sie sehen, es soll sein, sagte sie schmerzlich zu Erwin, welcher ging, indem er mit Arthur ein paar freundliche Worte tauschte. Er bedauerte die Frau, als er sah, wie sie sich in einer Selbstbeherrschung, die ihr offenbar hart ankam, dem Unabänderlichen fügend, Arthur mit gelassener Güte empfing. Wäre Arthur Erwin gewesen, so würde ihm an Mrs. Forster der Blick aufgefallen sein, mit dem er empfangen ward, mehr noch der, mit dem sie ihn hinterher aufmerksam betrachtete. Fast wie einen fremden Menschen überschaute sie ihn von Kopf bis zu den Füßen. Er aber ließ die Augen umhergehen, weil er Emmy vermißte. Meine Tochter wird sogleich hier sein, sagte Mrs. Forster. Er nickte freundlich. Er musterte mit Behagen das Zimmer. Es war wohnlicher eingerichtet seit jenem Abend und deutete die Absicht an, man wolle länger bleiben. Lauter Veränderungen, durch Emmy's Sorge über Mittag innerhalb weniger Stunden zu Stande gebracht. Einen Flügel hatte sie bringen lassen. Ein Blumentisch stand am Fenster. Schreibtische für Mutter und Tochter waren eingerichtet, und an den Wänden hingen in geschnitzten Rahmen eine Anzahl kostbarer Kupferstiche, gleichfalls von Emmy ausgewählt. Der letzte Anflug des Wirthshausmäßigen war fortgeschafft worden und die angenehmste Privathäuslichkeit an dessen Stelle getreten.

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Mrs. Forster konnte sich trotz ihrer ernsten Gedanken nicht erwehren, mit der unruhvollen Zerstreutheit Arthurs, der Emmy nicht einen Moment länger entbehren zu können schien, Mitleid zu haben. Ein Wagen fuhr vor, er flog ans Fenster. Meine Tochter ist drin im Zimmer, sagte sie, und rief: Emmy! Gleich Mama, schallte es zurück. Arthur war beruhigter. Zum ersten Male seit seinem Eintritt wendete er die Gedanken nun auf Mrs. Forster. Wie glücklich ich bin, sagte er, wieder hier sein zu dürfen! Wie soll ich Sie um Vergebung bitten? Seine Stimme klang überaus einnehmend, und es leuchtete kindliches Vertrauen aus seinen Augen. Mein lieber Graf, entgegnete Mrs. Forster, Sie sind in sehr unschuldiger Weise zu dem gekommen, was Sie einen Betrug nannten. Sie gingen auf die Ideen eines guten Freundes ein, dem Sie vertrauen durften, und haben sich für nichts gegeben, was Sie nicht waren. Alle Schuld hätte ja an uns gelegen, wenn wir Sie anders genommen. Ob Sie reich oder arm wären, haben wir nicht einen Augenblick bedacht, sondern uns nur gefreut einen Reisegenossen wiederzutreffen. Ich glaube, setzte sie hinzu, wir können diese Anfänge unserer Bekanntschaft ruhig als eine von den sonderbaren Launen betrachten, in denen uns das Schicksal manchmal auf Umwegen zu leiten liebt, und uns dabei zufrieden geben. Sie mögen wohl Recht haben, antwortete er, aber der Gedanke war mir trotzdem unerträglich, nicht ganz als der vor Ihnen zu stehen, der ich wirklich bin. Ich weiß nicht, ob ich je den Muth gehabt hätte, Ihnen wieder vor die Augen zu kommen. Er machte eine Bewegung, als bitte er um ihre Hand. Sie reichte sie ihm und er drückte sie an seine Lippen. Mrs. Forster betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit. Sie gleichen Ihrer seligen Mutter, sagte sie dann. Jawohl, man hat mir das öfter gesagt, erwiederte er und sah sie überrascht und fragend an. Besitzen Sie ein Bild von ihr? Ja, ein vortreffliches. Aus welcher Zeit? Arthur war durch diese weitere Frage ein wenig in Verwunderung gesetzt, da sie mit einem gewissen gewichtigen Ernste gethan ward. Meine Mutter, sagte er, heirathete sehr jung und starb früh. Das Gemälde muß in diese wenigen Jahre fallen, während derer sie sich kaum stark verändert haben wird. Mrs. Forster ging an ihren Schreibtisch und öffnete eine Schatulle, der sie ein kleines Buch in Saffian entnahm, blätterte darin und reichte es endlich Arthur aufgeschlagen hin. Meine Mutter! rief er. Eine Bleistiftzeichnung, meisterhaft mit dem spitzesten Stifte durchgeführt, hatte er vor sich, die die Züge, wie er sie so wohl sich eingeprägt, nur um vieles kindlicher jedoch zeigte. Etwas Entzückendes lag in den Linien. Meine Mutter! wiederholte Arthur noch einmal und sah das Bild an, als sollten seine Blicke ihm Leben geben. Aber woher haben Sie diese Zeichnung? Und woher wußten Sie, wen sie darstellte. Das letztere erkennt man leicht an der Aehnlichkeit, sagte die Frau und lächelte; was mein Eigenthum daran betrifft, so ist es ein sehr zufälliges. Ich hatte eine Freundin in Amerika, die mir sehr nahe stand — Mrs. Forster veränderte die Stimme als sie das sagte, Arthur aber merkte nichts — die besaß das Bild, und man schenkte es mir nach ihrem Tode, weil es immer auf ihrem Tische stand. Der Name ist hinten darauf geschrieben, und als mir Ihr Freund vorhin den der Familie Ihrer Mutter nannte, fiel mir das Zusammentreffen ein. Jetzt aber, wie gesagt, erkenne ich es auch an der Aehnlichkeit. Wer mag das gewesen sein? fragte Arthur, dennoch so ganz und gar mit Emmy beschäftigt, daß ihm der geheimnißvolle Fund nicht ein Zehntel der Gedanken erweckte, die es sonst in ihm aufgeregt haben würde. Mrs. Forster gab keine Antwort auf seine Frage.

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Arthur betrachtete von neuem das Blatt. Seltsam, sagte er, man steht sich so nah und hat sich so gut wie nie gesehen. Man möchte Fragen stellen und weiß nicht welche. Ein ganzer Strom von Trauer und Liebe steigt empor, und wohin soll man ihn lenken? Was gäbe man darum, sie noch zu besitzen! Wie Vieles wäre anders vielleicht. Und ich selbst am meisten! Wünschten Sie so sehr, daß Sie anders wären? fragte die Frau. Ich weiß nicht, ob es Undank gegen die Macht ist, die uns geschaffen hat, erwiederte er, das nicht sein zu wollen was man ist. Aber wenn ich wählen dürfte! Ich meine manchmal, ich hätte nie einen Schritt gethan, den ich nicht hinterher bereute, und nie ein Wort gesprochen, das nicht besser ungesagt geblieben wäre. Haben Sie niemals einem Menschen Gutes gethan? Das bereut man doch nicht? Gutes? fragte er und sah ihr unschuldig in die Augen; es mag wohl sein, daß ich es gethan; aber ich fürchte, ich habe kaum darum gewußt. Denn wo ich es wollte, ist es mir nie gelungen. Sie haben es vielleicht nicht allzu oft gewollt, fragte sie und milderte durch ein Lächeln die böse Frage. Immer, immer, sagte er gedankenvoll. Aber ich kenne die Menschen so wenig. Wenn ihnen etwas gut gethan hat, das von mir ausging, war es mein guter Wille vielleicht, den sie empfanden. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich einem Menschen begegnet wäre, dem ich nicht das Beste gewünscht, und keinem den ich zu hassen vermocht hätte. Aber auch das, wer weiß es? Ich möchte so gern mich aufopfern für die Menschen, aber wo ist mir einer begegnet, der auch nur verlangt hätte, daß ich die Hand erhöbe seinethalb? Und so auch das, wozu nützt es? Arthur sagte nicht die Wahrheit, indem er so von sich sprach. Oft genug hatte er Menschen Gutes gethan, und nichts erschien ihm von frühster Jugend auf als eine natürlichere Aeußerung seiner Thätigkeit. Allein er legte in angeborener Bescheidenheit so wenig Werth darauf und war sich des Gethanen in so geringem Maße bewußt, daß ihm wirklich zu Muthe war, als ständen die Dinge so, wie er sie darstellte. Mehr vielleicht nützt es in diesem Augenblicke, als Sie denken, rief Mrs. Forster, an seine letzten Worte anknüpfend. Ich zum Beispiel fühle jetzt, daß was Sie sagen, bei Ihnen aus tiefster Seele kommt. Und solche Worte zu vernehmen, ist zuweilen schon eine Wohlthat. Sie schlug das kleine Buch mit dem Bilde zu und legte es fort. Emmy trat ein, Ihre Mutter sah mit Erstaunen, daß sie ein prachtvolles neues Kleid trug. Oh, unser Freund, rief Emmy aus, und ging Arthur entgegen, ohne ihn zu erwarten. Nun, Mama, wovon handelte das Gespräch? Von ernsten Dingen, sagte Arthur leichthin. Mama, du siehst wirklich ein wenig danach aus — und wenn Graf Arthur nicht ein so ganz anderes Gesicht machte, würde ich glauben, es sei andem? Mrs. Forster antwortete nicht. Emmy's Art und Weise brachte sie außer sich und sie durfte sich doch nichts merken lassen. Sie setzte sich abseits, und unter dem Anscheine des Lesens zuhörend, wie die beiden jungen Leute miteinander sprachen, konnte sie trotz Allem nicht umhin anzuerkennen, daß etwas hinreißend liebenswürdiges in Arthurs Art lag. Und an sich selbst und vergangene Zeiten denkend, war ihr auch Emmy verständlich in ihrer unbekümmerten Zuneigung.

Zehntes Capitel. Kein Tag verstrich in der nun folgenden Zeit daß Arthur nicht mit Emmy zusammentraf. Sei es, daß sie sich zu Pferde Mittags im Freien begegneten, sei es, daß er Abends im Hotel oder bei Erwin in ihrer Gesellschaft sein durfte. Und weil dies Leben ihm nicht immer vergönnte, sie allein zu sehen: um so reizender dann, wenn der Zufall es fügte, daß sie, wie an jenem ersten Abende bei einander sitzen und sich in ein Gespräch verlieren konnten.

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Ausnahmsweise nur war dies der Fall, denn es traten verschiedene Personen auf, die, sich zuerst äußerlich ansetzend, allmählich in den kleinen Kreis hineinwuchsen. So die neuangenommene Gesanglehrerin, eine energische kleine Dame, die vom Triebe der Neugier und Selbstständigkeit in die Welt gelockt, ihre Mutter, eine Generalswitwe, und zahlreiche Schwestern mit einem großen Entschlusse auf dem Lande sitzen ließ, in der Stadt ihre musikalischen Kenntnisse verwertet und sich so eine ihren Neigungen entsprechende unabhängige Existenz gezimmert hatte. Während der Unterrichtsstunden war sie die gewissenhafte bezahlte Lehrerin, nachher und vorher das adlige Fräulein, das die ihm zukommenden Egards beanspruchte. In Paris und Rom war sie gewesen, überall ganz allein und höchst billig reisend; eine respectable Stimme wohnte in ihrem kleinen Körper und eine beherrschende Macht in ihren Fingern dem Flügel gegenüber. Dabei wußte sie Alles; die Neuigkeiten blieben an ihr hängen wie die Sonnenstäubchen am Sammet, und sich gelegentlich ausbürstend verstand sie das Interessanteste durcheinander wirbeln zu lassen. Mit Emmy sprach sie italienisch, mit Mrs. Forster englisch, beides wie ihre Muttersprache, und zu Arthur hegte sie eine an Verehrung grenzende Freundschaft, da sie ihn für das Ideal eines Mannes hielt. Niemand aber auch verstand ihn so gut zu nehmen als sie. Seinem Geiste wußte sie so zu sagen immer an der rechten Stelle ein unsichtbares Rückenkissen zuzuschieben, daß er sich bequem und behaglich fühlte. Und obgleich Arthur selbst dies nicht empfand, geschweige denn dafür dankte, ließ sie sich in ihren stillen Diensten dennoch nicht irre machen. Da erschienen ferner von Zeit zu Zeit junge Amerikaner mit Empfehlungsbriefen versehen oder befreundeten bekannten Familien angehörig. Sämmtlich mit der Absicht, europäische Bildung aufzunehmen, jeder aber mit einer mehr oder weniger eigentümlichen Methode, sich das Zusagende herauszuwählen. Einer, der ohne Latein und Griechisch zu wissen, Baskisch und Sanskrit studirte, zugleich an dem Modelle eines eigentümlichen Schiffes arbeitete; ein Anderer, der Musik trieb und zu gleicher Zeit mathematische und theologische Collegia hörte; -ein Dritter, der sich über die Natur seiner gelehrten Absichten überhaupt nicht äußerte, aber Massen von Kupferstichen jeder Art kaufte; andere mit einfacheren Neigungen; sämmtlich aber dadurch ausgezeichnet, daß sie, obgleich sie sich meistens ohne die uns nöthig erscheinenden Vorkenntnisse in die Dinge hineinbegaben, in dieser ihrer Unbefangenheit trotzdem rasch weiter kamen und sich immer genau vorgezeichnet hatten, was und wohin sie wollten. Arthur natürlich wußte mit ihnen niemals etwas anzufangen und lenkte, wenn ein Gespräch unvermeidlich war, dies jedesmal auf die amerikanischen Pferdeverhältnisse, über die er manches gelesen hatte. Niemals fragte er nach dem vor doch nicht so gar langer Zeit erst glorreich beendeten Kriege gegen die Südstaaten. Seine Meinung ging nämlich dahin, daß die meisten Schlachtenberichte auf Humbug beruhten, die Zahlen der Gefallenen erfunden und das Ganze nur als eine Speculation der nördlichen Kaufleute gegen die südlichen großen Familien zu betrachten sei, die man vermittelst Geldes und Intriguen und, was die Soldaten anlangte, mit fremden Söldnern sich zum Vortheil ins Elend gestürzt. Gegen die Damen verhehlte er das schon deshalb aber, weil Emmy's einziger Bruder in diesen Kämpfen ums Leben gekommen war. Da erschien denn auch zuweilen der junge Bildhauer, bei dem Emmy einige Morgen der Woche zu arbeiten regelmäßig fortfuhr. Außerhalb des Ateliers und seiner Arbeitskleidung freilich ein sehr schweigsamer Gast. Desto glücklicher dadurch aber, daß es ihm gelungen war, Arthur zum Modell für seinen Kriegsgott zu gewinnen. Welch eine Aussicht für Arthur, auch den Morgen schon in Emmy's Nähe so verbringen zu dürfen. Die Stunden im Atelier waren die schönsten für ihn. Den wahren Grund weshalb, machte sich Arthur selbst nicht klar: es geschah etwas, es wurde gearbeitet, und er selbst, indem er zur Vollendung der Statue so wesentlich beitrug, wenn auch nur indem er dem Bildhauer als Vorbild diente, that das Seinige. Da stand Emmy und modellirte still, manchmal zurücktretend und Arthur dann einen Blick gönnend, während die Mutter in einem Buche oder in ihren Zeitungen studirte. Es entzückte

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Arthur, Emmy's Bewegungen zu folgen und etwas wie ein Recht dazu zu haben. Emmy aber gewahrte mit einem, sie wußte nicht warum, zuweilen bis zum Aufsteigen von Thränen sie ergreifenden Gefühle, wie das kolossale Steinbild allmählich die Züge Arthurs annahm. Oft, wenn sie aufblickend von ihrer Arbeit, Arthurs Antlitz vom griechischen Helme überschattet, auf prachtvollem Halse dem breiten Panzer entwachsend, wie einen dunklen Kriegsgott herabschauen sah, war ihr, als wäre das Bild er in seiner wahren Gestalt, und Arthur selbst, wie er ging und stand und lebte, nur eine zum Verkehr mit dem geringeren Menschengeschlechts verkleinerte Ausgabe, etwa wie die alten homerischen Götter ihre Gestalt auf menschliches Maß herabsetzten wenn sie mit den Sterblichen zu thun hatten. Kein Zweifel auch, daß ohne ein solches Vorbild und ohne die Nähe eines solchen Mädchens des Bildhauers Werk nicht das geworden wäre, was es wurde. Er fühlte es selbst, er vernahm es von seinen Freunden. Man pries die Arbeit als etwas außerordentliches, das Lob sprach sich herum, die Commission, von der die Bestellung ausging, entzog sich seinem Einflusse nicht, und es kam der den Künstler beglückende nachträgliche Entschluß zu Stande, ihm auch ein reiches Piedestal, für das bis dahin nur die einfachste Form beabsichtigt worden war, in Auftrag zu geben. Hier nun konnte Arthur sogar thätig eingreifen. Er übernahm es, die Daten der Schlacht zu schaffen, deren Hauptscenen in vier Basreliefs dargestellt werden sollten. Er entdeckte bei diesem Studium, daß einer seiner nächsten Verwandten, ein Bruder seines Vaters, in diesem Treffen gefallen war. Von nun an nahm er ein Interesse am Fortgang der Arbeit, fast als ginge sie ihm zumeist an. Nur ein beschämendes Vergleichen mit dem, was er selbst bis zu diesem Tage geleistet, ließ ihn diesen Antheil still für sich behalten. Im Atelier des Bildhauers wußte nun auch der alte Kunstfreund vom Kupferstichcabinet, indem er Arthurs Bekanntschaft erneuerte, die der Damen zu machen, obgleich der Bildhauer ein für allemal von derartigen Versuchen, ihm ins Gehege zu kommen, nichts wissen wollte. Seine übrigen Freunde respectirten das pflichtschuldigst, der alte Herr aber ließ sich nicht abschrecken und setzte die Sache durch, und zwar mit solchem Glücke, daß er in kurzem Emmy's und deren Mutter vortrefflicher Freund wurde. Seines Zeichens ein ehemaliger Buchhändler, befand er sich seit undenklicher Zeit bereits auf Reisen. Das wunderlich imponirende Aeußere (der Bildhauer hatte ihn heimlich als Jupiter klein modellirt, ein Kopf, den man nicht ohne Lachen ansah), die kategorische Sprache, die ausgedehnte und gründliche Kenntniß dessen was sich auf bildende Kunst bezog, dabei die unter der oft rücksichtslos erscheinenden Form sich offenbarende liebenswürdige Zartheit der Empfindung bildeten ein ebenso unterhaltendes als Zutrauen erweckendes Ganzes. Zuweilen konnte es ihm in den Sinn kommen, die Damen im Lachen zu erhalten, und zwar nicht etwa indem er sich preisgab, sondern indem er die absonderlichsten Geschichtchen auf die feinste Weise effectvoll vorzutragen wußte; dann wieder, und zwar oft bildete ein einziger Gedanke den Uebergang, verfiel er in die entgegengesetzte Stimmung und kam mit einfacher, klarer Lebensweisheit zu Tage, für die ihm gleichfalls die selbsterlebten Belege nicht fehlten, so daß der Contrast doppelt schwer wog. Daß sich auch diese Freundschaft Abends im Hotel fortsetzte, war natürlich. Der alte Herr war Student gewesen, hatte 1816 mitgekämpft, dann als Officier bei der Zurückführung der geraubten Kunstschätze mitgewirkt, wobei ihm zuerst die Kunst sich aufgeschlossen, wollte hinterher Maler werden, übernahm jedoch, als sein Vater mit Tode abging, dessen Buchladen, wobei er seine Liebhaberei fortsetzte, und gab sich, nachdem er selber endlich einen Sohn als Nachfolger zu placiren hatte, ihr ganz und gar hin. Als Aufgabe hatte er sich gestellt, alles persönlich zu untersuchen, was Europa an Kunstwerken beherbergte. Er führte darüber genaue Tagebücher. Jetzt war er dabei, die Dinge schon zum zweiten, dritten Male durchzunehmen. Einen Koffer mit seltenen Blättern: Kupferstichen und Photographieen führte er stets mit sich und wußte mit deren Erklärung manchen Abend interessant auszufüllen.

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Durch den Ernst, mit dem er diese Beschäftigung auffaßte, nahm es seiner umherfahrenden unsteten Existenz den Schein des Launenhaften, Unnöthigen, den sie, oberflächlich aufgefaßt, hätte annehmen können. Er hatte sich ein Amt erwählt in seiner Thätigkeit, das er gewissenhaft verwaltete. Er betrachtete die bildende Kunst als eines der wichtigsten Weltmomente, und hielt die wenigen Leute die gleich ihm eine eigennutzlose Beaufsichtigung der vorhandenen Werke zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, für Staatsdiener der höchsten Art, deren Verdienste, je unscheinbarer und verborgener sie wirkten, um so weniger je nach Würden und Gebühr anerkannt oder gar belohnt werden könnten. Wie viel Familien, sagte er, die ich auf die in ihrem Besitze befindlichen Kunstschätze: alte verschmutzte Tafeln oftmals die auf Böden umherstanden, hingewiesen, sie mit einem tüchtigen Restaurator in Verbindung gebracht und durch den in ihnen erweckten Stolz auf den endlichen anerkannten Besitz dieser Kleinodien in ihrer ganzen Existenz gehoben habe. Mann, Frau und Kinder wollen nun auch verstehen was andere bewunderten, sie nehmen Antheil daran, sie wünschen vernünftig mitreden zu können davon, sie lernen das Unterscheidende der Schulen kennen, sie wenden ihre Zeit, statt sie durch musikalische und andere Lappalien zu verderben, einem wenn auch zu Anfang oberflächlichen, doch bald durch all das, was es mit sich bringt, fruchtbaren Studium der Kunst zu. Denn nichts, behaupte ich, hat solchen Einfluß auf die gesamte geistige Entwicklung des Individuums als die Ausbildung des Auges. Wie viel jüngere Künstler, fuhr er fort, die ich durch vernünftigen Hinweis auf das, was den Künstler eigentlich ausmache, erhoben und auf gute Wege geleitet habe. Diese Leute wollen immer Genie d. H. Zauberei sehen bei den großen Meistern, wo ich nur Fleiß, unermüdlich Arbeit erblicke. Es ist so bequem, von Genie zu reden, gelegentlich zu arbeiten und zuerst den Himmel, später den Staat sorgen zu lassen. — Wie viel reiche Leute aber auch, denen ich gezeigt habe, wie man bestellen müsse bei Künstlern! Ich weiß sehr wohl, pflegte er solche Predigten zu beenden, daß ich einmal hier oder dort, wenn nicht auf der Landstraße so doch an der Landstraße sterben werde, in irgend einem Neste vielleicht, das ich um eines Werkes willen ausgesucht habe, nach dem im Laufe der nächsten fünfzig Jahre vielleicht Niemand wieder fragt, wo sicher Niemand späterhin meine Ruhestätte aufsuchen wird, um auf meine müden alten Knochen einen Stein mit Namen und Jahreszahl zu wälzen (so eine Art Briefbeschwerer, mit dem man wichtige Papiere bedeckt die man auf so lange als möglich bei Seite zu legen wünscht), aber was ich gethan habe, das fühle ich und trage ich als portatives unsichtbares Monument mit mir herum, und die Erinnerung an Ihre Liebenswürdigkeit, Mrs. Forster, bildet die goldene Spitze darauf. Diese etwas geschmacklose Wendung ward von dem alten Kunstreisenden so ernsthaft vorgebracht, daß Emmy nur leicht zu lächeln wagte und ihm verständnißinnig die Hand drückte (was die goldene Spitze um gute anderthalb Fuß nachträglich erhöhte). Die Wohlthaten, die er der Menschheit geleistet zu haben glaubte, waren übrigens zuweilen sehr auf der Hand liegend. Kaum nämlich hatte er Arthurs Namen gehört, als er sofort dessen Vater als einen Mann nannte, den zu kennen er die Ehre gehabt, und nachdem er darauf einen erbschaftsmäßig genauen Katalog aller Kunstgegenstände gegeben, die sich in Besitz der Familie befunden, schloß er mit der sehr unschuldigen Frage, ob diese Schätze noch alle beieinander seien. Arthur gerieth in Verlegenheit, durfte jedoch im Hinblicke auf so manches das er gerettet hatte, antworten, ein ziemlicher Theil sei noch in seinem Besitze. Darauf konnte die Bitte nicht ausbleiben, man möge die Besichtigung gestatten. Dem war nun nicht auszuweichen. Den nächsten Morgen stand der alte Herr Arthurs Köchin gegenüber, die ihn mit mißtrauischen Blicken einließ. Der weitgereiste Kunstfreund brauchte nur ein wenig an den Verhältnissen herumgeschnuppert zu haben, um Bescheid zu wissen. Mit unglaublicher Feinheit verstand er nun Arthur zu behandeln. Er hatte großen Herrn gegenüber seine eigene Methode. Sein Amt (mit diesem Namen belegte er seine Thätigkeit) brachte ihn mit

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derart Leuten natürlich immer wieder zusammen, und da es ihm nicht allein darauf ankam, die Kunstwerke nur zu sehen, sondern auch so viel als möglich darüber zu vernehmen, so mußte er Gespräche einzuleiten suchen. Jeder Fall verlangte hier besondere Behandlung. Bürgerlichen Besitzern trat er meist entweder einfach als Autorität, oder unschuldiges Erstaunen heuchelnd, das sich gern belehren lassen mochte, gegenüber; adlige hohe Herren dagegen wollten hier tüchtig geschmeichelt, dort mit Absicht im Dunkel gelassen, da wieder mit Gründen bewundert werden, hatten über Alles unfehlbare Ansichten, ließen sich die Correctur historischer Versehen, zumal was persönliche Data anging, unter keinen Umständen gefallen, theilten dagegen, richtig angefaßt, aufs bereitwilligste und liebenswürdigste mit, was ihnen bekannt war über das Schicksal der Werke, zu denen sie sich gern in ein Verhältniß von Fürst zu Unterthan setzten, während der bürgerliche Besitzer, im Durchschnitt genommen, die Dinge eher als Waare ansah, die er unter Umständen sich abhandeln lassen könnte. Hatte der alte Kunstfreund Arthur bis dahin, den gehabten Erfahrungen zufolge, mit absichtlicher Unbefangenheit behandelt, so ließ er jetzt in der zartesten Weise seinen Ton in eine andere Stimmung umspringen, war so höflich, zurückhaltend, witzig, mit einem Worte bezaubernd, daß er nach kurzer Zeit mit Arthur alles durchgekramt, was von nachgelassenem Kunstgerümpel noch vorhanden war. Und es zeigte sich, daß in einer verstaubten Kiste, Antlitz gegen Antlitz aufeinander geschraubt, zwei kostbare kleine Niederländer steckten, wahrhaft leuchtend in unberührter Farbenfrische, zu deren Verkauf sich Arthur auf die rücksichtsvollste Weise bewegen ließ, ein Geschäft, das ihm eine Summe einbrachte, von der er nie gedacht, daß sie als Zuwachs seiner Mittel ihm jemals noch in die Hände fallen würde. Einen Theil des Geldes wandte er jetzt dazu an, sich neu zu equipiren, einen Theil, um ihn zu seinem Pferde zuzulegen, das er längst gegen ein anderes kostbareres zu vertauschen wünschte, einige hundert Thaler wechselte er in Napoleons und deponirte sie bei sich, weil ihm das das wohlthuend sichere Gefühl verschaffte, eines Tages (er wußte weder: wann, noch warum, noch wohin) auf der Stelle auf und davon zu können, und das Uebrige, immer noch einen schönen Rest, gab er seinem Banquier, um es anzulegen. Einige gute Handzeichnungen, die des alten Herrn Kennerblick gleichfalls aus einer verachteten Mappe angelte, vermehrten bald darauf dies Capital, von dem freilich Erwin in der Stille meinte, es wäre besser, daß nie ein Pfennig davon vorhanden gewesen. Alle Menschen überhaupt liebte unser Kunstfreund und verstand mit ihnen auszukommen, und nun mußte er einen von den wenigen die eine Ausnahme machten, gerade jetzt Abends bei Mrs. Forster treffen: einen alten Oberst, der bei Waterloo mitgefochten hatte und der, seit langer Zeit schon außer Dienst, sich Emmy, der er auf ihren Ritten im Thiergarten öfter an derselben Stelle zufällig begegnet war, durch respectvolles Grüßen, was von dem hochbetagten Manne nur als ein Zeichen väterlicher Freundlichkeit ausgenommen werden konnte, bemerklich gemacht, dann ausgekundschaftet hatte, wer sie sei und wo sie wohnte, und sich schließlich durch Erwin, der sein Arzt war, der Mama vorstellen ließ, nur um der Dame, wie er sagte, als alter Mann und Militär dazu zu gratuliren, wie vortrefflich ihr Fräulein Tochter zu Pferde sitze. Auch der Oberst war viel gereist, hatte dabei Kunst studirt (malte sogar selber in Oel) und pflegte seine gewonnenen Ueberzeugungen nicht zurückzuhalten. Alle Gemälde welche der alte Kunstfreund besprach, mochten sie in Italien, Frankreich, England oder Belgien stecken, der alte Oberst hatte sie gesehen und seine besonderen Ideen dabei gehabt, die er für werthvoll und berechtigt hielt und mit völliger ungenirtheit äußerte. Machte ihn dann sein gelehrter fein gebildeter Nebenbuhler auf Mißverständnisse aufmerksam, deutete an, was in Betreff dieses oder jenes Werkes durch neuere Entdeckungen unzweifelhaft festgestellt sei, und berief sich dabei auf Autoritäten, so drehte sich der Oberst mit dem ganzen Oberkörper zu ihm herum sagte: na, es ist gut, Sie können wohl Recht haben, strich sich dabei mit der hohlen Hand über den schneeweißen Schnurrbart, wandte sich wieder zu Emmy und wiederholte seine Behauptungen als sei nichts vorgefallen. Dies ärgerte den Kunstfreund allmählich so

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sehr, daß er immer erst zu etwas späterer Zeit Abends erschien und sich sorgfältig vorher beim Portier erkundigte, ob der Oberst oben sei, in welchem Falle er kehrt machte. Indessen auch der alte Oberst hatte sich ein kleines Nebenamt im Leben arrangirt. Sehen Sie, meine Gnädigste, erzählte er Mrs. Forster, ich gehe so in der Welt herum und fische mir junge Leute. Das Unglück, sehen Sie, ist, daß im Allgemeinen die jungen Männer der besseren Gesellschaft bei uns mehr Kräfte haben als sie in ihren amtlichen Stellungen gebrauchen eigentlich. Bei Ihnen in Amerika schafft sich jeder seine Thätigkeit selbst und richtet sich das Leben so ein, daß er wenigstens sagen kann, es sei sein Wille, dies zu thun und das zu lassen, und er gehe den Weg den er sich ausgesucht. Bei uns heißt es: hier gerade aus, hier rechts-, hier linksum und so weiter. Das ermüdet wohl, aber es ist doch nicht die rechte Anstrengung um Männer zu bilden. Da sitze ich nun so Abends in meiner alten Stammkneipe, wo junge Beamte und Officiere zusammenkommen, und höre was sich die liebe Jugend erzählt, und wenn mir einer der Mühe werth erscheint, fische ich ihn mir heraus und „kratze ihm die Augen aus", wie ich es nenne. Kratzen ihm die Augen aus? wiederholte Mrs. Forster. Wissen Sie, sagte er und freute sich die kleine Geschichte anbringen zu können, in Nürnberg, wo sie die Puppen für Kinder fabriciren, da setzen sie ihnen Glasaugen ein. Und hernach streichen sie den Dingern das ganze Gesicht schön weiß und roth an, und ein Arbeiter muß dann die Augen wieder herauskratzen. Und was ich thue, kommt mir gerade so vor. Ihren äußern Anstrich haben die jungen Leute weg, aber die Augen sind ihnen dabei meistens zugeschmiert worden, und finden sie sich in einer geistigen Verfassung, wo ein paar vernünftige Ansichten, von der rechten Autorität unterstützt, Wunder thun, und ich glaube, es giebt mehr als ein Dutzend, die ich so über den gemeinen Schlendrian herausgehoben und zu eigener Thätigkeit gebracht habe. Wissen Sie, das sind so Friedensbeschäftigungen eines alten Soldaten, und ist immer besser, als wenn ich Strümpfe strickte, was mir auch Niemand verwehren könnte, wenn ich Lust dazu hätte. Mehrere dieser freiwilligen Lebensschüler des alten Oberst hatten ihn dann auch neben Emmy reiten sehen und deutlich zu verstehen gegeben, es würde gewiß sehr fördernd für sie sein, wenn er eine Bekanntschaft mit der Dame in seinen Lehrplan aufnähme. Davon aber hatte der alte Herr nichts wissen wollen, denn er fand keinen recht heraus, der ihm für das Mädchen gut genug gewesen wäre, stieg ihm freilich auch dann und wann der Gedanke auf, es solle doch auf eine Probe ankommen, ob er mit einigen Zöglingen seiner freiwilligen Brigade nicht Arthur auszustechen im Stande wäre. Emmy selbst hatte etwas stilles, abwartendes in diesem Kreise. Sie konnte lebhaft sein, aber sie mußte es werden, und ward es nur dann, wenn das Gespräch sie ergriff. Mit dieser inneren Zurückgezogenheit verband sie jedoch eine Herzlichkeit des Wesens, die so stark hervortrat, daß Niemand sich ihrem wohlthuenden Einflusse zu entziehen vermochte. Sie ging stets auf Jedermanns Interessen ein, behandelte ihre Gäste, jeden wie er sich am liebsten behandelt sah, und wußte ihre Freundlichkeit auf das unschuldigste in der Art zu vertheilen, daß jeder Einzelne stets die größte Portion erhalten zu haben glaubte. Das kleine Fräulein fühlte sich nirgends in ihren Prätensionen auf geselligen Respekt so wohl verstanden, der Bildhauer wußte daß Emmy ihn ganz durchschaute und die ihn zuweilen überraschende Unbehülflichkeit, Gedanken in Worten auszudrücken, nicht für Unfähigkeit nahm, diese Gedanken überhaupt zu hegen, der alte Kunstfreund sagte sich, daß sie den Oberst aus bloßer Höflichkeit reden ließe und anhörte, und dieser seinestheils war überzeugt, daß sie viel weniger an den exacten Kenntnissen des alten Bücherwurms (wie er ihn jedoch nie laut zu nennen wagte) Gefallen fände, als an den frischen frohen Eindrücken des ungetrübten Männerblickes eines alten Kriegers (dies die Formel, in der er sein Verhältniß zur ganzen Welt zu fassen pflegte). Selbst Erwin, wenn er kam, was freilich

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nur selten der Fall war, sonnte sich dann an dieser Freundlichkeit Emmy's, obgleich er mehr als einmal den Entschluß gefaßt, lieber im Schatten zu sitzen.

Elftes Capitel. Nur ein Mensch wußte sich zu keiner dieser Personen die den allabendlichen Kreis um Mrs. Forsters Tisch bildeten, recht zu stellen: Arthur; und je öfter man ihm in solcher Nähe begegnete, um so größer ward, trotz eines trügerischen Anscheins vom Gegentheil, die Entfernung. Mit keinem Auge bemerkte Arthur auch nur die Verehrung des musikalischen Fräuleins für ihn. Weitab lag, die nun vertraulicher werdende Herzlichkeit des alten Kunstfreundes mit Zuneigung zu erwiedern. Im Gegentheil, zur Last fiel ihm, von dem Manne Dienste angenommen zu haben, die er nicht sogleich vergelten konnte. Der Bildhauer interessirte ihn der Arbeit wegen die er ausführte, sonst nicht im mindesten. Der Oberst, ein eingefleischter Bürgerlicher mit liberalen Grundsätzen, war ihm fatal. Der Mann hatte in der spanischenglischen Legion gedient, bezog von England seine Pension und brauchte keine Rücksichten zu nehmen. Schien ihn auch mit gelegentlichen Seitenblicken zu beobachten, deren prüfende Schärfe ihm mißfiel. Die jungen Amerikaner saßen Arthur im Wege. Allen zusammen aber trat er niemals natürlich entgegen, sondern entweder kalt oder mit einer Art Herablassung, die noch schlimmer war. Am stärksten jedoch kam diese Disharmonie im Verkehre mit einem jungen Manne zu Tage, der gleichfalls nicht selten Abends bei den Damen erschien und zudem der ausgesprochene Liebling der ganzen Gesellschaft wurde. Emmy hatte einen Lehrer der deutschen Geschichte verlangt. Ihre Mutter wollte die große europäische Tour nicht als bloße Vergnügungsfahrt aufgefaßt wissen, sondern wo sie sich fixirte, in Frankreich und Italien bis jetzt, hatte Emmy sich genau über die Verhältnisse der Länder unterrichten müssen. Geschichte, gegenwärtiger Zustand, Entstehung der Monumente die Fremden gezeigt zu werden pflegen, und Zusammenhang derselben mit der Entwicklung des Landes. Mit Deutschland sollte das jetzt ebenso gehalten werden. Natürlich, daß man sich wegen der Wahl eines passenden Lehrers an Niemand anders wenden konnte als an Erwin. Dieser entschied sich für einen Universitätsfreund, der als angehender Privatdocent ein noch etwas verstecktes Dasein führte, dessen ausgezeichnete Gaben jedoch viel erwarten ließen. Er bedurfte einiger Diplomatie. Der Doctor war kein Mann, der seine Zeit verkaufte, aber der sich vielleicht fangen ließ. Erwin hatte ihn selbst ebenso sehr als Emmy im Auge. Er meinte, der junge Gelehrte lebe allzu still, und wünschte ihm durch das neue Verhältniß in doppelter Weise nützlich zu sein. Da wurde denn ganz gelegentlich die amerikanische Familie aufs Tapet gebracht, die Frage nach dem passenden Lehrer ganz im Allgemeinen als momentane Verlegenheit geschildert, als eine Mission gleichsam in Betracht gezogen: gebildeten Amerikanern über deutsches Wesen die rechten Gesichtspunkte beizubringen. Endlich, wie eine zufällig aufsteigende Idee, der Vorschlag, selbst einzutreten. Als Honorar stellte sich eine runde Summe in Aussicht; mehr eine Gefälligkeit, sie anzunehmen, als Lohn für Dienste. Der Doctor fing Feuer, producirte sich eines Abends unter Erwins Aegide, fühlte sich gefesselt, ging auf die Sache ein, war nach wenigen Tagen in seiner neuen Thätigkeit mitten drin, und fing zugleich an, Abends die Rolle einer leitenden Persönlichkeit zu übernehmen. Besonders Mrs. Forster fand das größte Gefallen an ihm und zeichnete ihn aus. Nahm der Doctor das Gespräch auf, so geschah es in einer Weise, daß seine Worte den Ausschlag gaben. Seine Behandlung der schwebenden Fragen war eine so überlegene, seine Darlegung eine so scharf zerschneidende, seine Logik eine so unerbittliche, daß, wenn er mit seinen Sätzen zu Ende war, der Streit meistens als erledigt angesehen und auf etwas anderes übergegangen ward. Und indem er sich hierbei stets auf das beschränkte was er verstand, da jedoch schwieg, wo dies nicht

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ganz der Fall war, so erhielt er dadurch auf das natürlichste den Anschein, als beherrsche er dennoch auch die Gebiete, bei denen er sich meinungslos verhielt, und wolle nur nicht reden. Und da er zugleich, wenn er das Wort nahm, sich einer sanften, rücksichtsvollen Ausdrucksweise bediente, als respectire er jede andere Ansicht; ja bitte darum sie zum besten zu geben, so erweckte er keine Unlust, auch wenn er auf das bündigste entgegentrat. Bei Arthur jedoch führte dies anfangs Mißbehagen, bald sogar offene Antipathie herbei. Ihm war es natürlich, sich überall als die Hauptperson zu betrachten, und er durfte das um so sicherer durchführen, als er diese Ueberzeugung in sehr bescheidener Weise geltend machte. Wenn er sich zurückhielt, wenn er dem Andern unter allen Bedingungen das Wort überließ, wenn er, so lange er nicht in Feuer kam, nie absichtlich opponirend eine entgegengesetzte Meinung äußerte, war er jedoch angeregt, sich aussprach als sei es, sobald er nun einmal geredet, unmöglich, sich ihm nicht anzuschließen, so waren das doch nur Ausflüsse derselben Empfindung: daß er eigentlich das Wort zu geben und zu nehmen habe. Er verstand gar nicht, wie für irgend Jemand etwas beleidigendes hierin liegen könne. Niemand aber war weniger gewillt, sich dergleichen gefallen zu lassen, als der Doctor. Arthur überließ dem Doctor meistens das Feld. Wenn er sprach aber, so that er es mit der ihm gewohnten fürstlichen Ueberlegenheit, in voller Unschuld. Hierin nun ließ wiederum der junge Gelehrte ihn gewähren. Einige Male aber unterbrach Arthur den Doctor, und zwar mit dem Accente definitiven Entscheidgebens, dessen er sich so wenig bewußt war, wurde jetzt aber in dieser Prätension so scharf und zugleich so fein zurückgewiesen, daß er sich zuweilen bis zur Empörung gereizt fühlte. Der Doctor nämlich schwieg so lange als Arthur sprach, nahm dann aber, sich nun zu den Andern wendend, als wäre Arthur gar nicht vorhanden, seine eigene Erklärung genau an der Stelle wieder auf, wo er stehen geblieben war, und that das zugleich in so geschickter Weise, daß nur Arthur selbst es empfinden konnte. Dabei aber blieb es nicht: ganz gelegentlich ließ er nach einer Weile dann im Gespräche etwas einfließen, natürlich wiederum ohne sich an Arthur zu wenden, was dennoch diesem allein galt, und da dies Manoeuvre mit einer Ruhe und scheinbaren Absichtslosigkeit zur Ausführung kam, die so offenbar waren, daß Arthur, wenn er sich bedachte, sie selbst anerkennen mußte, so wirkte die jedesmalige Lection desto empfindlicher. Wäre Arthur nicht durchaus edel von Gesinnung gewesen, er hätte vom ersten Tage an seinen Einfluß dahin gerichtet, den Doctor wieder zu entfernen. Allein er sah welche Freude und welchen Nutzen Emmy aus dem Unterrichte zog, er wußte, von Erwin darüber unterrichtet, welche pecuniäre und zugleich erheiternde Wohlthat dem jungen Manne aus dem Verhältnisse erwuchs; es konnte ihm deshalb dergleichen Opposition gegen den Doctor gar nicht in den Sinn kommen. Auch war dieser niemals beißend, schroff oder höhnisch, sondern begegnete ihm mit einer Höflichkeit, an der nichts auszusetzen war. Allein der junge Gelehrte selbst schien sich zurückzuziehen. Nachdem er eine Reihe von Wochen mit einer Beharrlichkeit, die fast mit der Arthurs wetteiferte, sich Abend für Abend eingestellt hatte, blieb er mit einem Schlage fort und ließ absolut nichts von sich verlauten. Mrs. Forster fragte, nachdem die Abwesenheit einige Tage gedauert, brieflich bei ihm an, ob er krank sei. Keine Antwort. In dem Gedanken, daß er vielleicht eines Unglücks wegen, wie das ja vorkommt, weder zu antworten noch zu kommen im Stande sei, schickten sie ihren Diener, der mündlich den Bescheid brachte, der Herr Doctor ließe sich empfehlen und sei ein wenig unwohl. Das klingt ja, als hätte ihm Jemand etwas zu Leide gethan, bemerkte Arthur, der gerade anwesend war als der Diener Bericht abstattete. Wie wäre das möglich? fragte Emmy; wir haben ihm ja Alle nichts als den größten Respect bewiesen? Wir müssen unseren Freund hinschicken, fügte sie hinzu, schon wieder halb zu Arthur gewandt, und fuhr dann mit der Erklärung einer Photographie fort, welche, frisch aus New-Jork gekommen, ihr außerhalb der Stadt gelegenes Wohnhaus darstellte. Man müsse sich an Erwin wenden, war Emmy's gewöhnlicher Spruch, wenn irgendwo eine Schwierigkeit aufstieg. Erwin aber, wußte ihre Mutter wohl, hatte die letzte Zeit

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nichts von sich hören lassen, und Mrs. Forster ein Gefühl, als dürfe sie ihn nicht veranlassen, zu kommen. Es blieb also einstweilen dabei. Die entstandene Lücke aber hatte sich in den ersten Tagen fühlbar gemacht und that es von Tag zu Tage in höherem Grade. Der Unterhaltung fehlte die rechte Frische. Man hatte sich gewöhnt an den liebenswürdigen Despotismus, der mit ernsten Gedanken wie spielend einzugreifen pflegte. Man saß da und schien zu warten auf etwas. Beim Doctor war es gewesen als ständen die Töpfe immer kochend überm Feuer; man mochte verlangen, was man wollte: er brauchte nur mit einem Löffel da oder dort hineinzufahren und holte soviel man Hunger hatte, gar und fertig heraus. Bei Arthur mußte zu dem kleinsten Süppchen erst Holz gespalten, Wasser geholt, Salz gekauft und ein Löffel zum Umrühren gesucht werden. Er begann auf die unbedeutendste Frage mit weitläufigen Vorauserklärungen, zog das Entfernteste herbei und kam von der Hauptsache ab. Man mußte ihn, wenn er gut reden sollte, unvermerkt auf die Dinge und in ein persönliches Verhältniß zu ihnen bringen, dann sprach er präcis und mit den treffendsten Vergleichen. Der Doctor wußte das bei Arthur auch recht gut und verstand diese Stimmung bei ihm hervorzurufen. Mehr als einmal hatte er ihn auf diese Weise in Fluß gebracht und sein Vergnügen daran gehabt, weil Niemand ahnte daß er es gewesen der heimlich den Anstoß gab. Und nicht bloß bei Arthur hielt der Doctor so die Fäden in der Hand, sondern bei Allen. Er war in einem Momente bei Mrs. Forster eingetreten, wo in den bei ihr improvisirten Zusammenkünften eben eine Art Krisis ausbrechen wollte. Das Fräulein hatte so ziemlich ausgekramt was sich an Erfahrungen und Einfällen in ihr aufgespeichert, die beiden alten Herren nicht minder, und der Bildhauer, obgleich er so wenig äußerte, Alles erzählt was bei ihm zum Vorschein kommen konnte, der Doctor aber durch sein Eingreifen dies allgemeine Ermatten verdeckt; als er nun ausblieb, trat es desto unbarmherziger ans Licht. Vielleicht hätte Erwin helfen können. Er jedoch, um sein Gefühl für Emmy nicht weiter aufkommen zu lassen, gab sich der anstrengendsten Thätigkeit hin und war seltener als je sichtbar. Als seinen Stellvertreter nun beinahe hatte Mrs. Forster den jungen Gelehrten betrachtet, der ihr auf den ersten Blick, gleich Erwin, besser gefiel als Arthur. Was kümmerte sie, woher der Doctor kam: wohin er wollte, interessirte sie. Nicht die Stammbäume hatten Wichtigkeit für sie, die vor tausend Jahren gewachsen waren, sondern die, die heute wuchsen, um tausend Jahre vielleicht zu dauern. Am Kernholz und nicht am Reisig war ihr gelegen. Auf der Stelle hätte sie dem Manne ihre Tochter gegeben, wenn zwischen ihm und Arthur und nicht auch Erwin die Wahl gewesen wäre. Und nun blieb er fort! Wenn der Oberst, der alte Kunstfreund, der Bildhauer und Arthur so manchmal Abends dasaßen und das Gespräch eingeschlafen war, kamen sie ihr vor wie die festgenagelten Flügel einer Windmühle. Gegen das Schweigen an sich hätte sie nichts einzuwenden gehabt, in ihrer Heimath hatte sie die besten Männer oft lange so dasitzen sehen, schließlich diese Männer dann aber vor Tausenden sprechen und deren Gestürm überdonnern hören. Dies Brüten auf leeren Nestern aber brachte sie außer sich. Ihr dauerten die Dinge längst zu lang. Sie war eine praktische Frau, die aus Erfahrung zu wissen glaubte, daß wenn man das Getreide ungeschnitten lasse, die Körner aus den Aehren fielen. Es lag ihr wahrhaftig nicht daran, daß Emmy sich verheirathete. Bei solcher Schönheit, Jugend und Reichthum hätte sie ruhig sein können was diesen Punkt anlangte, wären derartige Erwägungen bei Mrs. Forster überhaupt möglich gewesen. Sie war zu stolz dazu, für die eigne Person sowohl als für ihr Geschlecht. Sie war durchaus nicht der Ansicht, daß es die natürliche Bestimmung der Frau sei, zu heirathen, in dem Falle, daß die Wahl stehe zwischen nützlich angewandter Freiheit und gleichgültigem Eintritt in eine öde Verbindung. Ganz Anderes machte sie unruhig. Niemand wußte, welchen Kampf es sie gekostet, nachzugeben, als sie erkannt daß das Schicksal den Grafen für Emmy bestimmt. Nun aber wünschte sie, daß das Schicksal sich beeilte. Sie konnte zu zittern beginnen, wenn ihr der Gedanke kam, Emmy könne Schiffbruch leiden hier mit ihrem Herzen. Denn nicht die Sorge um ihre

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Tochter allein erregte die Frau in solchen Momenten. Anderes schnitt ihr dann durch die Seele, das Niemand wußte freilich. Was auch hielt Arthur zurück? Warum diese ewige Nähe ohne offene Erklärungen? Scheute er sich, selbst zu reden, warum nicht Erwin senden? Was verbarg sich als letzter Grund dieses traumhaften Fortlebens ohne Entscheidung? Mrs. Forster war zu stolz, Erwin dergleichen auch nur anzudeuten. Aber es dämmerte ein Gefühl in ihr auf, als könne sie diesen Dingen plötzlich einmal ein Ende machen. Nicht daß sie es sich vorgenommen, aber sie war eine energische Frau, und sie wußte aus Erfahrung, daß wenn dies oder das bei ihr eine gewisse Höhe erreichte, ihre Energie die Zügel zwischen die Zähne nahm und mit ihr durchging. Vorerst wollte sie wissen, ob zwischen dem Doctor und Arthur vielleicht in der Stille etwas vorgefallen sei, das die Entfernung verursacht haben könnte. Sie schrieb Erwin, er möge ihr zu Liebe den jungen Mann aufsuchen und sich erkundigen wie es mit der Krankheit stände. Erwin that es am nächsten Morgen und fand den Doctor arbeitend wie gewöhnlich inmitten seiner gelehrten Hülfsmittel, nur nicht so heiter als früher, oder, auch das war möglich, durch Erwins Eintritt in ein unangenehmes Gefühl hineingestoßen. Nun, wie stehts? trat Erwin ein, ich komme in höherem Auftrage, um ihr Wohlbefinden zu constatiren. Ich mußte Ihren Besuch erwarten, sagte der Doctor, meine Art und Weise war nicht ganz in der Ordnung. Aber schließlich — es blieb mir nichts Anderes übrig. Nehmen Sie eine Cigarre? Sie wissen, daß ich mich auf diese Kunst leider nicht verstehe. Indessen wenn eine Cigarre Sie in höherem Grade befähigt, mir die nöthigen Aufklärungen zu geben, so möchte ich dringend bitten, ja selbst eine anzustecken. Der Doctor kam diesem Wunsche nach, that darauf, wie immer, das mögliche, auf dem Canape Platz zu schaffen für Erwin, rückte sich dann einen Stuhl heran und begann Dampfwolken auszustoßen. Ich will ganz offen sein, begann er, ich kann diese Lectionen nicht weiter fortgeben. Der Ton, in dem er dies sagte, hatte trotz einer absichtlichen Kühle und Trockenheit dennoch etwas so weiches, bewegtes, daß Erwin ein Licht aufzugehen begann. Warum nicht? da diese Frage jetzt von Ihnen herausgefordert wird, sagte er. Miß Emmy, erwiederte der Doctor und legte seine Cigarre fort, ist eine junge Dame, die — er stockte, nahm ein Buch vom Tische, dessen Blätter er wie ein Spiel Karten unter dem Finger fortlaufen ließ und wieder hinlegte. Mit einem Worte — er vollendete den Satz wieder nicht, sondern fuhr sich jetzt mit beiden Händen in die Haare, worauf er den Kopf schüttelte, dann den Versuch machte zu pfeifen, dann aufsprang, beide Hände in die Taschen seines Rockes hinten steckte, ein paarmal auf- und abging und sich endlich vor Erwin hinstellte, als habe er von diesem eine Antwort zu erwarten. Die Ihnen gefährlich zu werden beginnt, sagte dieser denn auch, indem er den jungen Mann lächelnd ansah. Sie konnten ihre Worte nicht besser wählen, sagte der Doctor, indem er sich wieder setzte. Gerade so steht es. Nehmen Sie die Sache so buchstäblich als möglich. Dieser Kreis, in den Sie mich hineingezogen haben, paßt nicht für mich. Ich fing an, nichts weiter als meine amerikanischen Abende im Sinn zu haben. Sie sehen hier (er machte eine Handbewegung dazu) alle meine Werke, das heißt ideal genommen Alles was noch nicht da ist und noch werden soll. Woher, wenn das so fortgeht, soll ich die Gedanken dafür nehmen? Meine Bücher hören wahrhaftig auf mir interessant und meine Pläne mir als nothwendig zu erscheinen. Allein das wäre ganz gut und erträglich, sogar natürlich und wünschenswerth; jedoch was Miß Forster anbelangt, so weiß ich nur zu gut, daß meine Hoffnungen, wir wollen die Gefühle die ich in dieser Richtung hege, mit diesem Namen einmal benennen, Luftschlösser sind und es bleiben würden wenn ich ihr statt dieser Armseligkeit die Hälfte eines Kaiserreichs zu bieten hätte. Nein! es mußte ein Ende gemacht werden.

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Und das aber war es nicht allein! fuhr er energischer fort, als Erwin nichts erwiederte. Ich kann nicht mitansehen, platzte er heraus, wie ein solcher Mensch ein solches Glück haben darf! Meine Philosophie geht in die Brüche darüber! Der Doctor schrie jetzt beinahe. Ich will wenigstens nicht mit dabeisitzen! Er hatte währenddem ein Buch in die Hand genommen, mit dem er in der Luft umherfuhr und das er jetzt auf den Tisch warf, daß ein halbes Dutzend, die kipprig dastanden, eins das andere anstieß, bis sie sämmtlich auf die Erde plumpsten. Das Mitansehen ließe sich ja allenfalls vermeiden, sagte Erwin ruhig, Sie brauchten den Unterricht deshalb nicht aufzugeben, der ihnen doch Freude macht und bei gehöriger philosophischer Ueberlegung auch nicht gefährlich werden sollte. Freude? rief der Doctor und sprang wieder auf. Und wenn ich Alles was ich weiß, nur zu dem einen Endzwecke gelernt hätte, um es diesem Mädchen wie ein Kinderspielzeug hinzuhalten, damit sie unter Tausenden Eins wählte und den ganzen Rest wie Kehricht zur Seite würfe, ich würde mich reichlich belohnt glauben. Welch ein Herz! Welch ein Verstand, der keine Umwege kennt! Welch ein instinctives Zugreifen nach Allem was echt ist, und natürliches Sichabwenden vom Inhaltlosen! Und nur diesem einen Manne gegenüber — wenn man diesen Grafen so nennen soll, denn er kommt mir immer vor wie ein von Vandyk oder Rubens gemalter Prinz, der nur zu Zeiten die Erlaubniß hat, aus seinem Rahmen herauszutreten und als Mensch zu nachtwandeln — ich kann es nicht mitansehen und will es nicht miterleben! Diese aus einem schlechten Romane weggelaufene Puppe, ein Sohn der Venus, von Medici und des Don Quichote, der wenn er schweigt nichts denkt, und wenn er spricht nichts zu sagen hat, dessen schwarze Augen gerade so unergründlich dunkel sind, wie wenn ich in mein Tintenfaß hineinsehe — Himmel auch, ich will nicht dabei als Zeuge fungiren, wenn die Vorsehung dieses Puppenspiel aufführt. Ich bin wahrhaftig wenig, fügte er dann ruhiger hinzu und seine Stimme nahm im Gegensatz zu dem eben Gesagten den Ton ernster Ueberzeugung an, aber mehr scheine ich mir doch zu sein als der Graf, und die Frage war erlaubt, ob ich mir zu bieten hatte, hier noch weiter den Zuschauer abzugeben. Wenn Jemand diese Frage zu stellen gehabt, sagte jetzt Erwin, so war es vielleicht schon ehe Sie kamen ein Anderer. Der Doctor sah ihn groß an und erwartete mit Recht, was kommen würde. Ich kenne Miß Emmy besser oder wenigstens länger als Sie, fuhr Erwin fort, und ebenso den Grafen länger und besser als Sie ihn kennen. Und ich glaube, Verehrtester Freund, wenn Sie mich als das, was ich bin und leiste, in Bausch und Bogen taxiren, so bin ich immerhin gut genug, um, wie viele Andere, Anspruch darauf zu haben, einmal eine Frau zu besitzen, vor der die Welt Respect hat. Ich denke, antwortete der Doctor. Wohl, aber ich habe mir, als sich die Gelegenheit, eine solche Frau zu gewinnen, vielleicht darbot, und ich dennoch gezwungen war, gleich Ihnen, mitanzusehen wie ein Anderer sie fortnahm, ich habe mir damals gesagt: dieser Verlust macht dich unglücklich, aber er hindert dich nicht in deinem Bestreben, der Welt zu nützen fortzufahren und übrigens so viel werth zu sein, als du vorher werth warst. — Und so denken Sie wohl gleichfalls? Man könnte es so ausdrücken, sagte der Doctor. Wohlan. Hier nun liegen die Sachen so: wenn der Graf, den Sie so niedrig stellen, diese Frau nicht gewinnt, so ist er verloren und sie mit ihm vielleicht. Fühlen wir beide aber uns bewogen zurückzutreten, so ist das ein Verlust, den wir zu überwinden stark genug sind. Und deshalb, mag nun der Graf in Ihren Augen gelten was er will: wir beide haben keine Ursache, weder ihn zu verurtheilen, noch sogar die Flucht zu ergreifen, um etwas nicht mitanzusehen was Sie mit großem Unrecht ein Puppenspiel der Vorsehung nennen. Denn um ein Puppenspiel würden weder Sie noch ich mich kümmern. Was Sie da sagen, entgegnete der Doctor so sanft als möglich, zeigt mir nur, wie viel Stärke Sie selber sich zutrauen. Aber Sie sind auch besser im Stande die Rolle

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durchzuführen. Ihre Thätigkeit ist eine energischere als die meinige. Meine Arbeit beruht auf Sammlung und völliger Ruhe des Geistes. Ich bin nicht im Stande, ohne eine gewisse Heiterkeit des Seelenhorizontes eines klaren Gedanken mächtig zu werden, Sie dagegen, mögen Sie in einer Stimmung sein in welcher Sie wollen, beißen die Zähne zusammen und schneiden nur um so kräftiger den Leuten Arme und Beine ab. Sie fühlen in jeder Minute Ihre Unabkömmlichkeit. Ich aber! Wie oft überfällt mich der Gedanke, daß Alles vergebens sei, wofür ich mich abmühe! Ich muß mir sorgsam eine windgeschützte Ecke aussuchen für meine Spaliere. Und schließlich: der Graf ist mein Freund nicht, wie der Ihre, dem ich mich zu opfern hätte. Ich sehe die Nothwendigkeit nicht ein, daß er besser gebettet sei als Andere. Dieser Logik zufolge glauben Sie das besondere Recht zu besitzen, ihn zu hassen, sagte Erwin, während ich es für mich nicht in Anspruch nehmen dürfte? Ich hasse Niemanden, rief der Doctor mit Heftigkeit. Meinen Sie, ich wäre verblendet? Nein, was ich nicht begreife, ist die Berechtigung, überhaupt zu existiren, für diesen Menschen. Diese complette Nichtsthuerei in seinem Lebensalter! Eingebildetheit auf Vorzüge von Vorfahren, von denen Niemand etwas weiß. Und bei alledem, welche Gaben der Natur! Ich hasse ihn wahrhaftig nicht. Ich kenne keinen herrlicheren Menschen, möchte ich sagen, aber auch keinen unnützeren. Ich aber will dieses Räthsel nicht immer wieder vor Augen haben und wie ein Dummkopf davor stehen, wie ein egyptischer Bauer heute vor einer Sphinx, von der er weder weiß wer sie gemacht hat, noch wozu sie von Nutzen ist. Sie erkennen also das Räthselhafte an in der Existenz meines Freundes? erwiederte Erwin. Flößt uns nicht jedes Räthsel aber, auch wenn wir von dessen Auflösung keinen sichtbaren Nutzen erwarten, doch eine gewisse Hochachtung ein, etwa wie eine schwierige Schachstellung, deren praktische Bedeutung unter allen Umständen gleich Null ist? Aber selbst was diesen Nutzen, ganz gemein gefaßt wie der Werth von Korn, Oel oder Petroleum, anlangt, so möchte ich Ihnen widersprechen. Sie wissen, wie bei Entdeckungsexpeditionen Gewächse zuweilen aufgefunden werden, die, bei uns importirt, sich als ausgezeichnet brauchbar erweisen und in Kürze zu wichtigen Elementen des öffentlichen Wohlstandes werden. Noch mehr, Sie wissen wie manches bei uns an der Straße liegende oder wachsende Gestein oder Gesträuche plötzlich durch die Entdeckung irgend einer ihm bisher unerkannt innewohnenden Eigenschaft als äußerst werthvoll erkannt wird. Wer hätte geahnt, daß sich aus Thonerde Aluminium fabriciren ließe, oder vor dreihundert Jahren, daß man mit Steinkohlen Heizen könne? Nun wohl, diese Eigenschaften haben diesen Mineralien von Anfang an innegewohnt, oder jene importirten Bäume und Pflanzen können Jahrtausende in der Wildniß geblüht, Früchte getragen und sich fortgepflanzt haben. Völlig nutzlos, bis der Tag kam, wo— Sie meinen, warf der Doctor spöttisch ein, es könnte irgend ein entdeckender Genius im Grafen die Elemente herausfinden, die einst für unsere Nation als von höchster Wichtigkeit erschienen, und es müsse, da dieser Reisende oder Chemiker vielleicht sobald nicht aufträte, die Race des Grafen wenigstens in voller Reinheit conservirt werden, damit das Geheimniß, von Kind auf Kindeskind fortgepflanzt, endlich, wenn die Nation einen bei etwas confusen Kenntnissen ins Unbestimmte begeisterten Genius nöthig hat, entdeckt werden könne? Im Grunde, alle unsere Helden und großen Männer haben Vorfahren gehabt, denen ein paar hundert Jahre früher Niemand ansah, wer einst aus ihren Knochen hervorwachsen würde. Und wer damals bei der Verheirathung dieser Leute seine guten Dienste leistete, that gewiß mehr als wir ihm heute danken können. Denn hätten die Vorfahren keine Frauen gefunden, wie hätten wir zu unseren großen Männern kommen sollen? Der Doctor lachte und Erwin konnte sich nicht enthalten einzustimmen. Lassen wir die Zukunft aus dem Spiele, sagte er, es handelt sich hier nicht darum, meinen Freund lächerlich zu machen. Erklären Sie ihn für so völlig unnütz, so möchte ich doch erst wissen was Sie für nützlich halten? Wer denn will heute aufstehen und in der ungeheuren Maschine unserer allgemeinen Existenz die Räder herausnehmen die entbehrlich scheinen? Wie lange beobachten wir denn ihren Gang? Und was wissen

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wir von uns selber? Fühlt nicht jeder, wie einseitig unsere Zeit sei? Wie jung in den neuen Bedingungen noch, in denen sie sich bewegt? Wissen wir so genau was uns noth thut heute, um Menschen, nur weil sich momentan keine Bethätigung findet für ihre Anlagen, als unnütz hochmüthig bei Seite zu werfen? Sie kennen, fuhr er fort, als der Doctor schwieg, jene Verse Goethe's, die er dichtete im Anblick einer alten Bergruine am Rheine. Der Geist dessen, der sie einst bewohnte, taucht vor seinen Blicken auf: Hoch auf dem alten Thurme steht, Des Helden edler Geist, Der, wie das Schiff vorübergeht, Es wohl zu fahren heißt. „Sieh, diese Senne war so stark, Dieß Herz so fest und wild, Die Knochen voll von Rittermark, Der Becher angefüllt; Mein halbes Leben stürmt’ ich fort, Verdehnt’ die Hälft’ in Ruh. Und du, du Menschen-Schifflein dort, Fahr immer, immer zu.“ Hat Goethe ein Recht, unseren Gedanken nach, diesen Menschen einen edlen Helden zu nennen, der auf uns im Schifflein unten herabsieht, als wären wir Zwerge? Ist das ein Dasein, das uns heute erlaubt zu sein schiene? Entspricht es aber nicht ganz dem was Tacitus schon von unseren Voreltern berichtet? Daß sie nur den Krieg, die Jagd, das Spiel und die Ruhe gekannt. Scheinen diese Männer so verächtlich? Und nun lesen Sie unsere alten Sagen und Gedichte, deren Inhalt das enthält was über ein Jahrtausend lang unserem Volke am edelsten erschien: was thun diese Männer? Sie schlagen sich, genießen das Dasein planlos, sind schön und stark und suchen Abenteuer. Nutzlose Umhertreiber würde man sie nennen in unseren Tagen. Erscheinen sie uns in jenen Gedichten aber verächtlich? Verlieren sie unserer Lehre von Arbeit und Nützlichkeit gegenüber ihren heldenhaften Glanz? Heute allerdings ist der moderne Begriff von Arbeit, die allein adelt, der allgemeine. Wie lange aber besteht er? Keine fünfzig Jahre; und wie lange wird er bestehen? Sollten nicht Zeiten wiederkommen, wo man fühlen wird, damit allein sei es nicht gethan? Männer seien uns nöthig, die im Sinne längst vergangener, wir nennen sie überwundener Zeiten, dadurch, daß sie nicht gerade arbeiten in unserem Sinne, sondern nur, daß sie existiren, um in Momenten wo es darauf ankommt daß ein Volk kräftig dastehe, ihre Person und nichts als das eben auf die Wagschale zu werfen? Ich habe keine Berechtigung zu sagen, daß Arthur ein solcher Mann sei, denn er hat noch keine Proben bestanden. Allein solche Zeiten könnten kommen, und ich würde für die Rolle einstehen, die er in ihnen ausfüllte. Verstehen Sie mich wohl, fuhr er fort als seinen Worten nichts erwiedert wurde, ich bin weit entfernt, Arthur als einen solchen Helden hinzustellen, das aber will ich sagen: nicht alle, die im Lichte unserer heutigen momentanen Anschauungsweise betrachtet unnütz erscheinen, sind es, und nicht jeder der, weil er fühlt daß die heutige Bewegung ihm keinen Platz gönnt, seine Kräfte zu entfalten, ist deshalb überflüssig. Arthur ist noch jung. Auch für ihn wird eines Tages die Gelegenheit kommen, sich auf seine Weise handelnd zu bethätigen. Was Sie ihm vorwerfen könnten, wäre nur, daß er, im Gefühl diesen Platz noch nicht erlangt zu haben, in Zurückgezogenheit ihn erwartet. Lassen Sie ihn, mit Emmy verbunden, nach Amerika gehen, ihn dort in Verhältnisse eintreten, innerhalb deren seine Ehrenhaftigkeit und sein Gefühl, daß eine edle Gesinnung zu wahren die Grundlage einer Existenz bilden müsse, sich wirksamer

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zeigen werden als bei uns wo sich für dergleichen Tugenden im großen Style ausgeübt selten ein Schlachtfeld bietet, wo sie meistentheils sogar im Wege stehen; dort wird ein Mann aus ihm werden wie er werden kann in so unbegrenztem Fahrwasser, während unsere stagnirenden Canäle hier ihn weder locken seine Arme zu gebrauchen, ja ihm nicht einmal Raum gönnen würden wenn er sie kräftig ausbreiten wollte. Erwin war in Bewegung gerathen. Der Doctor lächelte fein vor sich hin. Was Sie da sagen, bemerkte er endlich mit einer gewissen Hitzigkeit des Tones, scheint allerdings den Beweis zu führen, daß Ihr Freund unter einer Anzahl von Bedingungen die bei uns entweder nicht mehr vorhanden sind oder erst geschaffen werden müssen, für Amerika aber, welches Sie und ich nur von Hörensagen kennen, gleichfalls erst noch nachzuweisen wären, allerdings vielleicht im Stande sein dürfte, eine gewisse Stufe allgemeiner Nützlichkeit zu ersteigen. Warum sollen wir nicht einmal dahin kommen, Löwen und Tiger in unseren Fabriken als billigste arbeitende Kraft zu verwerthen, oder Krokodile zu satteln und als Reitomnibusse zu benutzen? Denkbar ist Vieles, möglich Alles, verständlich aber und erklärbar das Wenigste. Lassen wir bei Seite, wenn wir ehrlich streiten wollen, was Ihr Freund sein könnte, und halten uns an das was er ist— oder vielmehr nicht ist, meiner Meinung nach. Die Kälte, mit der er sprach, das wie es schien fast absichtliche Nichtverstehen dessen was an Arthurs Natur schön und bedeutend war, reizte Erwin zu einem Aufschwunge seiner Anschauungen jetzt, dem er sich nur selten hingab. Und was sind wir denn? rief er aus. Wessen rühmen wir uns, Alles in Allem genommen? Welche Resultate liegen denn vor als Ergebnisse unserer modernen Anschauung? Sind wir so sicher darüber, ob jene Naturen nicht vielleicht im Rechte wären, uns zu fragen, zu welchem Ende wir die Welt mit so viel leerem Geschrei, wachsender Unbehaglichkeit und gemeiner Unruhe erfüllen? Haben jene sich eingedrängt in dies von uns geschaffene Leben, das sie zurückweist? Gehorchen sie nicht so gut wie wir einem Triebe, der aus der Tiefe eines Wesens stammt, das sie weder gewählt noch gebildet haben, sondern das die schöpferische Natur ihnen mitgab, wie uns das unsrige? Wie kahl und nutzlos muß ihnen Vorkommen was wir treiben! Arbeit!? Wie viel bleibt übrig denn von all dem was uns zu dieser Arbeit bewegt, wenn wir Eitelkeit und Gewinnsucht abrechnen, was übrig für uns selbst bei diesem rastlosen geräuschvollen Schaffen an Zeit, um still uns in die Natur einmal zu versenken und in die Werke großer Dichter und Künstler? Haben wir mehr für sie als einen Blick im Vorbeigehen? Dringt die Schönheit ihrer Schöpfungen und Gedanken harmonisch ein in unsere Seele? Nein, weder schaffen wir das Schöne mit Andacht, noch genießen wir es in der heiligen Ruhe ohne die es fruchtlos und unverstanden in uns liegt, um bald als eine bloße Last wieder fortgestoßen zu werden. Was aber wären wir ohne Kunst und Poesie? Und was Kunst und Poesie ohne die Empfänglichkeit derer, die, mögen sie arbeitslos und nutzlos erscheinen im Sinne des Tages, all das dennoch allein vielleicht zu entdecken, zu genießen und zu befördern wissen, was in Strömungen durch das Leben und über die Erde zieht, die uns anderen verborgen bleiben! Arbeit hat die Völker groß gemacht, größer sie aber Kunst und Dichtung, und von Allem was die Griechen und Römer thaten, wird doch nur das einst in der Erinnerung der Menschen leben: daß die Griechen Homer und Pindar und Phidias und die anderen um sie her hervorbrachten, die Römer aber keinen einzigen der würdig wäre neben ihnen genannt zu werden. Die Römer aber haben die Welt beherrscht! warf der Doctor ein. Die Engländer auch, rief Erwin dagegen, und haben Shakespeare und Byron hervorgebracht, und die Spanier auch, zu gleicher Zeit aber hatten sie Gedanken für Calderon und Lopez de Vega und Cervantes, und in den Zeiten wo die Italiener kräftig und groß waren, blühten Dante und Raphael und Ariost und Tasso unter ihnen. Und wir, zu der einzigen Zeit als ganz Europa auf uns blickte, hatten Schiller und Goethe und was sich an herrlichen Namen an sie kettet, und man fühlte in diesen Zeiten bei uns, daß Tasso größeres Recht hätte zu sein wie Goethe ihn auftreten läßt, als jener Antonio den er ihm entgegenstellt und der als vollendeter Staatsmann so niedrig neben

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ihm erscheint. Und doch dieser Antonio in unseren heutigen Tagen noch viel zu ideal dastehend, weil sich bei aller Kälte und realistischer Thatkraft in ihm, zu viel feinere Bildung und höherer Flug noch bemerklich macht, mehr als man heute bei uns einem Staatsmann zugestehen möchte. Denn immer noch war er ein Mann, der diese geistige, edlere Richtung des menschlichen Lebens kannte wenigstens, wenn er sie auch verneinte, und der einen Schauder empfunden hätte inmitten der alles idealen Lebensgenusses entwöhnten niedrigen Gewöhnlichkeit, die man heute verlangt und die als das echte Merkmal eines nützlichen, praktischen Mannes angesehen wird, mag man es noch so sehr nicht Wort haben wollen und Schiller an allen Ecken Denkmäler errichten. Erwin schwieg. Wunderliche Gefühle waren rege geworden in ihm, Gedanken die er bei kälterem Blute vielleicht bezweifelt, vielleicht sogar bekämpft haben würde, und deren Echtheit ihm plötzlich in Lichtstrahlen in die Seele leuchtete. Darf ich mir eine Anmerkung erlauben? begann nach einer Weile der Doctor, indem er Erwin lächelnd ansah. Ich bitte, sagte dieser. Sie haben, sagte der Doctor, einen Stand aufgegeben, der Ihren Studien und Ihrer Arbeit, um das Wort zu gebrauchen: im Wege war. Sie haben all seine Vorurtheile abgelegt. Sie sind ein completter Bürgerlicher geworden. Aber meinen Sie selbst, daß es möglich sei, sich beim besten Willen wirklich ganz und gar von angeborenen Anschauungen zu befreien, um die Dinge so objectiv ansehen zu können, als es nöthig erscheint wenn solche Fragen erschöpfend zu entscheiden sind? Erwin erhob sich. Mochte er den Leuten die jetzt aus freier Wahl seines Gleichen waren, auch noch so unbefangen entgegentreten, immer wieder lief es zuletzt auf dieses Mißtrauen hinaus. Nicht selten hatte er bei seinen ehemaligen Standesgenossen Aehnliches bemerkt. In Debatten, bei denen es sich nur um die größere geistige Kraft der Theilnehmer handeln konnte, weil sie abstracte Themata betrafen, denen Kaiser und Sklave völlig gleich gegenüber stehen, hatte er erlebt, daß plötzlich der Standesunterschied herbeigezogen und laut oder leise als Argument geltend gemacht wurde; als ständen die welche hochgeboren sind, nicht bloß dem Throne, sondern auch der philosophischen Wahrheit näher als die bloß wohlgeborenen. Hier nun erlebte er, und nicht zum ersten Male, das Gegentheil. Sich selbst aber mußte er zwischen dem was er nicht mehr war und sein wollte, und dem das zu werden ihm die Befähigung abgesprochen ward, in eine Mitte hinausgestoßen gewahren, wo er keinen Boden mehr unter den Füßen fühlte. Er wollte gehen. Dennoch drängte es ihn, noch Eins auszusprechen. Ihr Gelehrten, sagte er, habt manchmal menschliches Gefühl wie andere Leute. Allein sobald ihr es habt, beginnt ihr es einer objectiven Betrachtung zu unterziehen. Da macht ihr denn die Entdeckung, daß dieses euer Gefühl zu der oder jener Kategorie geistiger Erscheinungen gehöre und im einzelnen vorliegenden Falle nicht einmal Anspruch auf besondere Originalität oder Prägnanz zu machen habe. Darüber aber geht euch das Gefühl selber verloren, und ihr steht da und wollt Alles mit dem sogenannten kalten Verstande zwingen. Und aus dieser eben so überraschenden, als für mich im vorliegenden Falle niederschmetternden Neuigkeit folgt? rief lachend der Doctor. Meiner Ansicht nach dies: daß nur solche Naturen ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen Gelehrte sein werden, die durch eine ganz besonders günstig ausgestattete kräftige Individualität davor gesichert sind, nicht immer und immer wieder ihr eigentliches Gefühl zu verleugnen und, statt ihm zu folgen, logische Rechnungen anzustellen. Und diese günstige Individualität fehlt mir? rief der Doctor, jetzt doch etwas aus seiner Gleichmäßigkeit aufgerüttelt, denn er war ein Mensch, der sich über die Grenze bei denen Andern schon das Blut zu Kopfe zu steigen pflegt, weit hinaus kühl und anscheinend indifferent zu halten wußte, hier aber wo es sich um Emmy handelte,

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vielleicht die Erfahrung gemacht hätte, daß solche Grenzen unter Umständen sich zu verrücken pflegen. Im vorliegenden Falle hat es den Anschein, entgegnete Erwin, ein wenig kurz und mit der Absicht, abzubrechen. Nach der Uhr sehend, bemerkte er wie viel Zeit er bereits seinen Patienten fortgenommen, drückte dem Doctor die Hand und verließ ihn ohne die Bitte um Fortsetzung der unterbrochenen Lectionen wiederholt zu haben. Bei dem Doctor aber war eine Stimmung erwacht, als sei es nun doch möglich die Gefahr aufzusuchen, statt ihr, wie bis dahin so fest beschlossen war, aus dem Wege zu gehen.

Zwölftes Capitel. Erwin wandte sich zum Hotel, um Mrs. Forster über seine Verhandlungen mit dem Doctor Rechnung abzulegen soweit es ihm nöthig schien. Er fand sie allein. Emmy sei hinausgeritten, sagte sie, das Wetter sei so herrlich heute; aber während sie bei diesen Worten in den Frühlingshimmel hineinsah, that sie das mit Blicken, die der Freundlichkeit des schönen Morgens wenig entsprachen. Noch ehe Erwin etwas gesagt, dankte sie ihm, daß er überhaupt gekommen. Und noch ehe er recht den Anfang gemacht zu expliciren weshalb der Doctor ausgeblieben sei, unterbrach sie ihn scharf: lassen Sie, lieber Freund, ich weiß was ich zu wissen brauche. Ich wollte nur sicher sein, daß Graf Arthur nicht etwa, ohne daß wir davon wüßten, ihm — nun Sie kennen seine Art zuweilen. Damit brach sie ganz ab und schwieg, während Erwin, erschöpft von dem Gefühlsaufwand, den er dem Doctor gegenüber zu Arthurs Vertheidigung hatte machen müssen, sich nicht aufgelegt fühlte, einen ähnlichen Kampf mit Mrs. Forster aufzunehmen. Denn es war ihm zu Muthe, als liege dergleichen im Bereiche der Möglichkeit. Eine solche Stimmung aber gegen Arthur hier anzutreffen, war ihm neu. In wie ungünstigem Lichte mußte er sich gezeigt haben. Mrs. Forster saß schweigend da, und Erwin hatte die beste Gelegenheit seine bedenklichen Vermuthungen weiter auszuspinnen. Haben Sie des Grafen Vater genau gekannt? fragte die Frau jetzt, aus tiefem Sinnen auffahrend. Verehrte Freundin, entgegnete Erwin, ich stand als ich Arthurs Vater zuletzt sah, in einem Alter wo man wenig befähigt ist, Männer zu beurtheilen. Stolz? — hochmüthig? — confus? — treulos? — Nicht wahr? schloß sie lebhaft diese Reihe, bei jedem Worte einen härteren Accent setzend. Sie brauchen es ja nicht selbst erfahren zu haben. Dergleichen wendet sich bald heraus und die Welt täuscht sich nie wenn sie Männern das zum Vorwurf macht. Confus? — vielleicht, erwiederte Erwin. Denn wie erklärte sich sonst, daß er seinen Sohn, ohne ihn im geringsten darauf vorzubereiten, einem ruinirten Vermögen vis-à-vis stellte und fast ins Elend stieß. Treulos aber? — Nun, so mag er das allein von der Mutter haben, sagte Mrs. Forster halblaut und vor sich hin, fast als spräche sie mit sich selber. Wer? rief Erwin. Wer? wiederholte Mrs. Forster — und indem sie einen Ton leidenschaftlicher Erregung, die plötzlich einbrach, in das kleine Wort legte, deutete sie mit dem Finger nach der Thür und zwar so scharf damit ausdrückend wen sie meinte, daß Erwin den Kopf hinwandte, weil er glaubte Arthur müsse im Eintreten sein. Jetzt aber fühlte er, daß er die Frau zu beruhigen habe. Warum urtheilen Sie so hart über Arthurs Mutter? fuhr er mit künstlicher Unbefangenheit fort. Niemals hat ein Mensch ihr etwas vorzuwerfen vermocht. Am wenigsten Treulosigkeit. Niemals ein Mensch? erwiederte die Frau mit einem Accente nun aber, der ihr etwas unheimliches verlieh. Sie befand sich offenbar unter dem Einflusse eines äußerst

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heftigen Gefühls, schien jedoch selbst den Wunsch zu hegen, sich zu bezwingen. Wir wollen unser Gespräch, begann sie ganz ruhig nun, cassiren wie man einen Brief mitten im Schreiben plötzlich einfach in Stücke reißt um einen anderen anzufangen. Der Doctor also ist krank? Nicht gerade krank, sagte Erwin jetzt, dem alle Lust vergangen war, sich auf was es auch sei heute noch einzulassen, aber nicht wohl! Er bat mich, ihn zu entschuldigen. Ich denke, er wird nächstens wieder im Stande sein, die Lectionen aufzunehmen. Erwin erhob sich mit diesen Worten. Sie gehen bald und wir sehen Sie selten, sagte Mrs. Forster, leben Sie wohl. Emmy war gar nicht genannt worden. Doch, corrigirte Erwin sich selbst als er im Fortgehen so rechnete, Mrs. Forster sagte ja, sie sei hinausgeritten. Er blickte die Straße hinunter als er aus dem Hause trat, ob er sie vielleicht entdeckte, allein es zeigte sich nichts. So recht warm und frühlingsmäßig vor der Zeit war das Wetter, und Emmy hinausgeritten, wohl im Gedanken, Arthur draußen zu begegnen. In der breiten Allee angelangt, die quer durch den Park zu der Brücke führt, traf sie ihn. Schon von weitem erkannten sich beide, und grüßten, während sie einander entgegensprengten. Es giebt Tage, wo man Sonnenschein und Jugend und Frische des Lebens doppelt zu empfinden glaubt. Zusammen eilten sie jetzt unter den Bäumen weiter: so recht eine Eile ohne Unruhe, und um so freier fühlten sie dies Glück, als sie wußten, daß sie sich am Abend sähen und so mit dem Genusse des herrlichen Morgens der Inhalt des Tages noch lange nicht erschöpft sei. Der alte Oberst kam aus einem Seitenpfade unversehens herausgetrabt und schloß sich an. Man suchte zuletzt auch die belebteren Wege auf; ohne daß ihnen daran gelegen war, bemerkten Arthur und Emmy doch mit einem gewissen Wohlgefallen, wie die Spaziergänger stehen blieben und nachblickten wenn sie vorüber kamen. An einer bestimmten Stelle des Thiergartens fanden sie dann die Mama im offenen Wagen, zu der Emmy einstieg, während ihr Pferd von einem Diener nach Hause geführt wurde. Wie vergnügt sah sie rückwärts blickend sich nach Arthur und dem Oberst um, die, nachdem sie einige Worte noch getauscht, nun auch nach verschiedenen Seiten davonritten. Aber es schien als sollte der herrliche Frühlingstag Arthur schließlich so wenig freudige Gedanken zutragen als Mrs. Forster. So ein Tag läßt an vergangene trübe Zeiten denken die man glücklich überwunden hat, wohl aber auch an zukünftige trübe die noch kommen müssen. In der schönsten Sonne des März vergißt man den April nicht, der dicht vor der Thür ist. Niemals beschleicht den Menschen stärker das Gefühl irdischer Vergänglichkeit als in solchen Momenten des ersten warmen Aufathmens der Erde, oder in den letzten des Herbstes, wo vor Winters Einbruch manchmal noch eine Woche mit warmen Frühlingswinden gefüllt sich einschiebt. Das überfiel Arthur als er langsam durch die Straßen nach Hause ritt. Wie stand er zu Emmy? Als er unter den Bäumen neben ihr hinjagte, meinte er, er müsse sie zu sich Herüberreißen, aufs Pferd nehmen und tausend Meilen davontragen bis auf einen stillen einsamen Fleck mitten in einer ewigen Wüste, die kein anderer zu durchschreiten vermöchte. Warum sagte er Emmy niemals was er empfand neben ihr? Emmy wußte selbst zu gut, warum er schwiege. Durch die Art wie sie sich zuerst begegnet waren, sich dann verloren, dann aufs neue gefunden hatten, war etwas in ihrem Verhältnisse zueinander getrübt worden. Alles war gesagt, und dennoch, nichts schien gesagt zu sein. Dinge dagegen berührt, die unerträglich waren. Ausgesprochen war doch worden, mit welchen Gedanken Erwin Emmy und Arthur zusammen zu bringen gewünscht. Wie Gift hatte das allmählich zu wirken begonnen. Jeder offenbare Schritt zu Emmy hin däuchte Arthur eine beschämende Erneuerung solcher Pläne. Wie sehr sie von ihm geliebt war, wußte sie ja, am ersten Abend hatte er es ihr gestanden. Nun aber überlief es ihn bei dem Gedanken, es könne ihm zugetraut werden, daß ihm um Emmy's Geld zu thun sei. Und was durfte er ihr bieten dagegen? Sein Rang hatte keine Wichtigkeit für Amerika, selbst wenn man ihn hätte geltend machen wollen. Emmy und ihre Mutter schienen

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Standesunterschiede nicht zu kennen, so entschieden aristokratisch sie überall aufzutreten wußten. Daß Arthur, wenn es sich um die Verbindung mit einer deutschen Familie handelte, nur eine Dame heirathen konnte, die ihm durchaus ebenbürtig war, war von Anfang an eine ausgemachte Sache. Bei Emmy hatte er nie an solche Erfordernisse gedacht. Ihr Stand als amerikanische Bürgerin (obgleich ihm Amerika verhaßt war) stellte sie auf neutralen Boden gleichsam. Arthur betrachtete sie als etwas ganz besonderes auf Erden, als einem göttlicheren Menschenschlage entstammend. Bei einer anderen Frau, selbst wenn er sie geliebt hätte, würde er sich doch umgesehen haben, wie ein Landwirth ein Gut genau kennen will, dessen Erwerb er im Auge hat. Emmy aber war wie ein Königreich das es zu gewinnen galt, wo man nicht fragt, ob es guten oder schlechten Boden hat. Wie einem Könige, der an Krieg und Schlachten denkt, in denen er siegen würde, schwebte Arthur dann die Zeit vor, wo Emmy ihm zugehörte. Niemals aber rechnete er genauer, wie und wann, wie ihn die Zukunft überhaupt so wenig kümmerte. Er fühlte sich aufblühen neben Emmy. Er begriff ein Leben ohne sie nicht mehr. Aber unnahbarer Glanz gleichsam umschwebte sie. Manchmal freilich, wenn sie ihn ansah als läge eine Frage in ihrem Blicke, durchschauerte ihn ein Gefühl von Zwang, als müsse er reden. Nach solchen Momenten verfiel er in peinigende Gedankenarbeit. Er sah die Dinge dann scharf und wie sie waren. Er fühlte es müsse etwas geschehen. Dann aber empörte sich sein Stolz, weil zur Rede kommen mußte, daß er nichts und Emmy soviel besaß, und wenn dieser Kampf eine Weile gedauert, so trat hier wieder die alte seltsame Unklarheit seines Wesens, wie ein heilsamer Nebel der die Dinge mit Schleiern überhauchte, lindernd ein, die ihm möglich machte, ein und dasselbe Ziel zu gleicher Zeit zu verfolgen und nicht zu verfolgen, gleichsam den Versuch zu machen, ob man nicht, Schritt vor Schritt zurückweichend, sich dennoch ihm zu nähern im Stande sei. Doch waren es solche Erwägungen nicht, die Arthur unglücklich machten am heutigen Tage. Nur in der Ferne lauerte das. Was er bedachte, war die Frage, warum denn die letzten Abende etwas so leeres, trockenes, mangelhaftes gehabt, und so erst gelangte er zur Erkenntniß, in welchem Maße der Doctor die Gesellschaft regiert und beschäftigt habe. Ihm däuchte das wie eine Herausforderung. Sollte ihm nicht auch gelingen, den Frauen zu gewähren was jener gewährte? Wie ein Fürst, der die Empfindung hat, der Moment sei gekommen wo man sich persönlich an die Spitze seiner Garden stellen müsse, beschloß er thätiger einzugreifen, und, da er heute Abend mit Emmy und deren Mutter allein sein würde, wie sich aus dem Kommen und Nichtkommen der Anderen allenfalls berechnen ließ, irgend etwas zu thun, das ihnen besondere Freude machte. Goethe war nicht in Allem Arthurs Lieblingsdichter, seine Iphigenie aber ein Buch, mit dem er sich wie zusammengewachsen vorkam. Sein Lehrer, der in Neapel starb, hatte mit ihr die Sehnsucht in Schlaf gewiegt zuweilen, die ihn in seiner letzten Krankheit nach Deutschland verlangen ließ um dort zu sterben wenigstens. Er war zu krank um reisen zu dürfen, zu elend oft um selbst zu lesen: in solchen Stunden saß Arthur mit dem Buche an seinem Bette, und die Verse des Gedichtes waren ihm zu etwas heiligem geworden. In seiner Verlassenheit las er so oft darin. Die Erinnerung jener Zeiten weckte es auf. Die großen Gefühle die es durchwehen, beruhigten ihn, wo die Menschen wie einfache mächtige Naturproducte aneinanderstoßen, wie Gebirgsfelsen die zum Meere hinab in rollende Bewegung gerathen und die ihre Schwere unabänderlich dahin oder dorthin stürzen läßt. Gern hätte er Emmy früher schon das Buch gegeben, aber er fand niemals den Moment dafür, er sparte es für Zeiten auf, wo er ihr noch näher stände, obgleich er mit offenen Gedanken freilich nie an solche Zeiten dachte. Jetzt meinte er, es werde ihr und ihrer Mutter wohlthun. Er meinte auch, wenn der Doctor noch so kluge Dinge vorgebracht: hier werde doch eine andere Rede und ein höherer Geist sich offenbaren. Was Arthur an dem Doctor am unerträglichsten gewesen war und oft zu fast offenem Losbruche hätte treiben können, war dessen Geschicklichkeit, die Erscheinungen, sei es was es wolle, so zu erklären, daß auch nicht der geringste unauflösbare Rest übrigblieb, während Arthurs ganze Anschauung

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darauf basirt war, daß wir auch beim sonnenklarsten Blicke doch nur dies oder jenes von den Dingen überhaupt zu sehen im Stande seien und daß ein ungeheurer unenthüllter Rückstand angenommen werden müsse, der sich stufenweise in der Zukunft, niemals aber ganz entdecken werde, und der im Verhältniß zu dem enthüllten nicht groß genug angenommen werden könne. Hier nur vermittelte Goethe in seinen Augen so herrlich dieses Hervortreten der Erscheinungen aus dem Dunkel ins Licht. Goethe gegenüber fühlte man die ungemeine Klarheit seines Blickes und doch das so ausgesprochene Selbstbescheiden an dem Wenigen dessen dieser Blick habhaft zu werden nur im Stande war. Von Geheimnissen umgeben gehen wir dahin, das war seine Lehre. Während Andere sie ihm aber als Finsternisse und Dunkelheiten erscheinen ließen, fand er sie bei Goethe als kolossale Lichtmassen gleichsam gefaßt, die zu unterscheiden es nur einer Umformung unseres Auges bedürfte vielleicht. Dergleichen gehörte zu den Gedanken denen Arthur nachzuhängen pflegte und um derentwillen Goethe ihm lieb war. Während er sich diesen Abend nun ein wenig zeitiger als gewöhnlich auf den Weg machte, denn der sich Nachmittags beziehende Himmel ließ die Zeit vorgerückter erscheinen, war in Emmy's Gefühl fast mit dem Wetter ein Umschlag eingetreten. Es dämmerte, sie saß in der Fensternische und sah die Wolken am Himmel ziehen, die aus Nordwest heranstürmend sich in ihrer Eile zu überstürzen schienen. Es giebt ein Ziehen der Wolken als lockte sie etwas, hier aber schien es als flüchteten sie. Ihre Mutter ging durchs Zimmer, stellte sich neben sie, die Hände auf dem Rücken und sah schweigend gleichfalls auf zum Himmel. Ja, ja, sagte sie nach einer Weile, ohne sich dabei zu Emmy umzuwenden, es will Frühling werden. Es ist Zeit zu bedenken für uns, daß die Dinge hier ein Ende nehmen. Statt darauf dann aber eine Antwort abzuwarten, war sie bei den letzten Worten schon, fast als hätte sie nur mit sich selbst gesprochen, vom Fenster fort und aus der Thür gegangen. Emmy fühlte Alles was hierin lag. Das mangelnde Vertrauen, die Verletztheit und die Warnung. Wie einsam saß sie da und dachte an Arthur. Wie lächelte sie beglückt als er kam, und früher noch als sie ihn erwartet. Sie glaubte sich nichts merken zu lassen, aber es lag der Schatten dennoch über ihrem Wesen. Es giebt so Tage, an denen die Sonne scheint, aber wie mit halber Kraft, als ließen durchsichtige Schleier sie nicht ganz durch und als könnten diese Verhüllungen sie bald noch mehr erbleichen lassen. Arthur, der sonst fast niemals die Stimmung fühlte von der die Menschen beherrscht waren, empfand bei Emmy jeden Athemzug der Seele gleichsam. Er stand vor ihr und sah sie an; Emmy wußte sogleich, daß er nach dem bereits suche in Gedanken, was auf ihr lasten könnte. Sie sind nicht ganz glücklich heute Abend? fragte er. Sie wissen so Vieles auf der Stelle, antwortete sie, und so auch daß der Tag trübe geworden ist für mich. Sie saß da und sah zu ihm auf; er, dicht neben ihr stehend, begegnete ihren Blicken. Dann aber wandten sie sich ab, erst er, dann sie, und sahen in den trüben Himmel hinein. Arthur zog das kleine Buch aus der Tasche. Er überraschte Emmy mit seinem Vorschlage, ihr das Gedicht lesen zu dürfen. Es war das in geistigen Dingen das erste active Eingreifen so lange sie ihn kannte. So erfreut war sie, daß nun alle Traurigkeit von ihr genommen ward. Sie sagte, es sei ihr lieber, wenn er das Stück ihr allein lese. Er sah sie strahlend an bei diesen Worten, so daß sie wie erschreckt hinzusetzte, er lese ja doch nur für sie, da der Mutter die Sprache zu wenig geläufig sei. Arthur begann. Er las wie Jemand der nicht daran gewöhnt ist seine Stimme als Instrument zu gebrauchen, ihr natürlicher Wohlklang aber, das Gefühl mit dem er las, das bei der allmählich eintretenden Monotonie des Vortrages nur um so reiner durchbrach, endlich die Schönheit der Dichtung hatten etwas entzückendes. Auch Emmy war fern von ihrem Vaterlande. Auch sie erfüllte eine aus vielen Quellen in Eins

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zusammenströmende Sehnsucht, eine Empfindung von Verlassenheit wie die Iphigeniens. Je tiefer sie eindrang, je lieblicher ward dies Gefühl. Ganz und gar versank um sie her die Welt in der sie lebte. Rein schien ihr die Erde von all dem Unheil der Geschichte, und jener Anfang der Begebenheiten noch vorhanden und wieder gegenwärtig, in den die Griechen eintraten. Sich selbst und Arthur erblickte sie dort wo das Meer zu Iphigeniens Füßen wallte, zu dem sie die Stufen des Tempels Hinabstieg. Und wenn, was sie selbst wohl bemerkt hatte, bei Betrachtung der Gegenwart Arthur kein Platz zukam, so stand er nun, da alle Anderen wie Schatten zurückwichen, groß und einfach neben ihr da, und es schien wirklich, als sei sein kolossales Abbild im Atelier des Bildhauers seine wirkliche Gestalt, für die im heutigen Leben kein Raum mehr da war und die von den Menschen nur als Kunstwerk noch verstanden wurde. Dies Leben der Gegenwart aber verlangte jetzt gerade seine Rechte: unterbrochen wurden sie durch das kleine Fräulein, das zwar alsbald begriff, warum es sich handelte, und lautlos neben der Thür durch die sie eingetreten war in einen Sessel versank, dennoch ein störendes Element für beide. Arthur las weiter, aber ihm war zu Muthe, als hätte er besser gethan, das Buch gleich zu schließen. Als die Mutter dann erschien, that er es. Er suchte nach etwas, das er als Zeichen zwischen die Blätter einlegen könnte. Emmy trug eine Blume vor der Brust: sie liebte es, alle Tage eine einzige Blüthe so zu tragen; sie griff heftig danach und reichte sie ihm. Beide schwiegen, so daß Mrs. Forster nichts übrig blieb, als mit dem kleinen Fräulein anzubinden, das gutmüthig genug war, sich längst dahin gewünscht zu haben wo der Pfeffer wächst, nun aber, da die Dinge nicht mehr zu ändern waren, und nach Innehaltung der (so würde sie es etwa genannt haben) üblichen Trauerzeit über die Störung der beiden jungen Leute, für die unter den waltenden Umständen nun keine Hoffnung auf Fortsetzung der begonnenen Stimmung übrig blieb, kräftig auspackte und gerade heute soviel lustiges, unterhaltendes mitzutheilen hatte, daß Mrs. Forster in die beste Laune gerieth. Arthur sah Emmy an: warum mußte er das ertragen neben ihr? Durfte nicht einsam mit ihr sein und ein einziges Mal nur den Schlag ihres Herzens an seiner Brust fühlen? Warum wieder sich zurückgeschleudert fühlen in die ewigen alten Wellen, die ihn ihr entgegentrugen und wieder von ihr rissen? Jetzt, wo er fühlte, daß, ein Augenblick noch, Land erreichbar gewesen wäre? Ein nagender Unmuth bemächtigte sich seiner. Und um ihn her das schneidende Geschwätz der kleinen Dame und das Lachen der Mrs. Forster, eine harte Rücksichtslosigkeit lag darin, etwas fast absichtlich feindliches. Arthur wäre am liebsten aufgesprungen, um im Freien still sich wieder zu beruhigen, statt länger diesen Hohn des Schicksals schweigend ertragen zu müssen. Allein das Schicksal begnügte sich nicht mit diesen Feindseligkeiten. Denn kaum hatte man einige Zeit in solcher unbehaglichen Stimmung ausgedauert, die sich zum Theil dadurch löste, daß Emmy den Thee zuzubereiten begann, Arthur aber sich tiefer ins Dunkel zurücksetzte und so die Unterhaltung zu vergessen suchte, die ihm vor den Ohren rauschte, als der Diener eintrat und den Doctor, den jungen Gelehrten, meldete. Wie ein elektrischer Schlag wirkte das auf jeden Einzelnen. Das Fräulein fuhr auf wie ein Vorposten der sich beim Einschlafen zu rechter Zeit noch selbst ertappt hat und schärfer auszulugen beginnt. Sie wußte wie die Dinge lagen. Ganz für sich hatte sie die Wohnung des Doctors ausfindig gemacht, vor einer Reihe Tagen bereits, war als barmherzige Schwester bei ihm eingedrungen, hatte sich gefreut ihn nicht todtkrank im Bette zu finden, durch geschickte Fragen, die sehr unschuldig klangen, herausbekommen was sein Verschwinden bedeute, und sich wieder davon gemacht mit der Ueberzeugung, der Doctor habe recht gethan das Feld zu räumen. Desto größer ihr Erstaunen, als sie ihn frisch und unbefangen eintreten sah. Mrs. Forster war entzückt ihn wieder zu besitzen. Ob er ihrer Tochter wegen fortgeblieben sei, wie ihr doch wohl aufgegangen, und jetzt ihrer Tochter wegen wiederkäme, war gleichgültig. So verarmt an geistigem Hausrath fühlte sie sich, daß sie sein Wiedererscheinen mit einer Herzlichkeit begrüßte, die keiner der Anwesenden

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bisher an ihr beobachtet hatte. Emmy auch lächelte als sie seinen Namen hörte. Arthur sah es. Ihm war nicht unbekannt, weshalb der Doctor ausgeblieben war. Erwin hatte geglaubt, es könne Arthur vielleicht vermögen, energischer zu werden, wenn er erführe, wie der junge Gelehrte dächte und wie günstig Emmy's Mutter ihm gesinnt sei. Arthur hörte das seiner Zeit ganz obenhin an. Eifersucht auf diesen Menschen zu hegen, wäre ihm nie beigekommen. Bei solchem Empfang aber, selbst von Seiten Emmy's, durchzuckte ihn plötzlich jetzt das, was Erwin hatte erreichen wollen. Unwillkürlich nahm er an, Jeder müsse das Geheimniß wissen gleich ihm, und Emmy zumeist. Und jetzt hatte dieser Mensch die Frechheit wiederaufzutreten, und Emmy lächelte! Allerdings trat der Doctor diesmal im Bewußtsein dessen auf, was er wollte. Früher hatte er sich allein nur Emmy gegenübergestellt. So hoch verehrte er sie, daß einem Wesen wie ihr in seinen Augen freistand, jeden Anderen ihm vorzuziehen. Deshalb räumte er Arthur das Feld, sein Verschwinden wie einen Befehl von ihr betrachtend, dem zu gehorchen sogar noch eine Art von Glück gewährte. Jetzt aber, da Arthur von Erwin als der berechtigtere Prätendent mit ihm selbst in Vergleich gebracht, in der besseren Legitimität gleichsam so energisch vertheidigt worden war, kamen ihm stolzere Gedanken. Von armen Eltern geboren freilich, mit Noth emporgekommen, durch ein ideales Ziel aber in seinen eigenen Augen geadelt, und im Bewußtsein nicht wenig verführerischen Lockungen materiellen Gewinnstes diesem Ziele zu Liebe ausgewichen zu sein mehr als einmal, konnte er sich, sollten Vergleiche angestellt werden, nicht mehr für so unwürdig halten, als vorher. Was ihm zuerst als ein Uebermuth erschien, betrachtete er jetzt als mögliches Ziel ehrlichen Wettstreites. Und da sich statt der erwarteten Ruhe, die er durch seine selbstauferlegte Absperrung zu erlangen hoffte, zuletzt nur die größte Unruhe einstellte, hatte er den Entschluß gefaßt, sich von neuem in die Gefahr zu stürzen. Man freute sich, ihn wiederhergestellt zu sehen. Arthur fragte theilnehmend, ob er auch gut thue Abends wieder auszugehen, eine kleine Malice, aber eine sehr unschuldige, denn der Doctor konnte nicht wissen, daß ihm die verstellte Krankheit bekannt war. Dennoch besaß der Doctor Feinheit genug, sie herauszufühlen, und war es ihm eben recht, mit einer Art Kriegserklärung so empfangen worden zu sein. Es lag eine Aufforderung darin, seinen Mann zu stehen. Völlig im Reinen mit sich, daß Emmy, wenn auch für ihn selbst tausendmal zu gut, für Arthur zehntausendmal zu kostbar sei, beschloß er nicht anzugreifen, wohl aber sich zu vertheidigen. Es galt zu zeigen vor allen Dingen, daß ihm der Muth nicht fehle. Er ging zu Emmy und drückte ihr die Hand wie ihrer Mutter, er that es dem kleinen Fräulein, das künstlich zu husten begann, und behauptete er habe sie angesteckt, wobei sie ihn, als wäre sie nie bei ihm gewesen und wisse nicht recht gut daß er hinten hinaus nach der Sommerseite wohnte, examinirte, ob sein Arbeitszimmer nicht nach Norden liege, was so ungesund sei. Die hiermit angeschlagene Stimmung dauerte an. Dem Doctor fehlte es nicht an witziger Schärfe wenn er wollte, und an der norddeutschen Kunst, den unschuldigsten Dingen an ungeahnter Stelle eine Spitze anzuschleifen. Arthur sprach kein Wort. Alles däuchte ihm Beleidigung, am meisten aber verletzte ihn, daß Emmy sich so unbefangen der Heiterkeit hingab, die mit dem Erscheinen des Doctors begonnen und, tüchtig von diesem geschürt, sich immer lustiger ausgebreitet hatte. Arthur hielt das Buch in der Hand, in welchem Emmy's Blume lag. Er sah sie an. Wie ein Andenken erschien sie ihm an einen Moment der Täuschung. Dem Doctor kam das Buch zu Gesichte und er griff darnach, unschuldig, wie Gelehrte die Gewohnheit haben ein Buch in die Hand zu nehmen das ihnen unter die Augen kommt. Arthur riß es zurück und mit einem Blicke, welcher sagte, danke Gott, daß ich Dich verhinderte, etwas zu thun das Dir schlecht bekommen wäre! Nur ein Wetterleuchten war dieser Blick, genügend aber dem Doctor das Gewitter anzukündigen das in der Luft läge. Und da er nicht die Absicht hatte, Arthur zu reizen oder ihm irgend wie wehe zu thun, so nahm er das kleine Ereigniß nur als eine Warnung, auf seiner Hut zu sein.

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Sonderbar jedoch, wie diese Unterbrechung des geistigen Stromes bei dem jungen Gelehrten sogleich den Anderen fühlbar ward. Hat ein Mensch den Oberbefehl über die Gemüther, so werden denen, die unter seinem Einflusse stehen, seine geistigen Regungen auf der Stelle offenbar. Man empfand Plötzlich, es sei etwas vorgefallen. Emmy, beinahe verlegen, denn sie hatte Arthurs Bewegung genau gesehen, bemerkte wie entschuldigend: Es ist ein Band von Goethe, Herr Doctor. Ah, Goethe lesen Sie? rief dieser. Der Graf hat mir ein wenig vorgelesen. Und was, wenn ich fragen darf? Aus Iphigenia. Eine Reihe unschuldiger Fragen und Antworten, für Arthur aber eine Reihe der schmerzlichsten Beleidigungen. Was sagen Sie zu dieser Tragödie? wandte sich der Doctor jetzt an Emmy's Mutter. Ich war nicht dabei als gelesen wurde, antwortete sie. Aha, er hat ihr allein die Iphigenie vorgelesen und sie ihre Blume hineingelegt! sagte sich im Stillen der Doctor. Würde auch wohl kaum, fuhr Mrs. Forster fort, etwas verstanden haben. Mir ist die deutsche Sprache geläufig, aber ich habe kein Gefühl für ihre dichterische Schönheit. Ich verstehe die Gedanken, wüßte aber nicht zu sagen, ob sie gut oder schlecht in Worte gefaßt waren. Ich weiß nicht warum, fuhr sie dann fort, es ist mir jedoch niemals gelungen, Goethe's Schriften das mindeste zu entnehmen das mit meinen Ideen übereinstimmte. Seine Figuren haben alle keine feste Stellung zum Leben und scheinen diesen Mangel sogar nicht einmal zu empfinden. Sie drehen sich in engen Gefühlskreisen, die arbeitende, schaffende Welt existirt nicht für sie mit ihren ungeheuren Fragen, denen gegenüber diese, wenn auch erschütternd geschilderten Verwickelungen gar zu geringfügig sind. Die Werke der antiken Dichter, soweit ich sie aus Übersetzungen kenne, überragen die Goethe's bei weitem. Sie hatte ohne einen Gedanken an Arthur gesprochen, der allenfalls als ein verspäteter Repräsentant solcher Goetheschen Romanfiguren noch hätte gelten können. Ja Arthur selbst hatte nichts von diesen Worten auf sich bezogen. Dagegen dem Doctor stieg die Befürchtung auf, das Gespräch könne in eine bedenkliche Richtung gerathen, und er nahm sich deshalb vor, in seiner Antwort den etwaigen Stein des Anstoßes soweit wie möglich zu umkreisen. Gnädige Frau, sagte er, Goethe lebte als er seine Romane schrieb in einer Epoche die durchaus verschieden von der unsrigen ist. Weder die französische Revolution hatte ihre erste, noch die von 1848 ihre zweite große Umgestaltung mit den Gemüthern vorgenommen. Eine andere Theilung in Stände, eine andere Art Verkehr, eine andere Art sich geistig zu beschäftigen, herrschte damals. Man möchte sich fast so ausdrücken: das Krystallisationsprinzip, nach welchen damals Gefühle und Gedanken in den Seelen anschossen, sei ein verschiedenes gewesen: ein ganz anderes Farbenspiel erzeugte sich so. Wollte man dies nach unseren Erfahrungen beurtheilen, so würde man auf falsche Schlüsse kommen. Dies der Grund weshalb wir vieles aus den Goethe'schen Werken heute überhaupt nicht mehr, vieles aber nothwendigerweise falsch verstehen. Wir müssen seine Zeiten studiren. Da nun aber dieses Studium ein höchst fruchtbares ist, denn jene Zeiten bilden den Uebergang vergangener, wichtiger Epochen zu der heutigen, so kann den Goethe'schen Werken dennoch niemals der Inhalt, noch die Berechtigung da zu sein und geschätzt zu werden, mangeln. Mrs. Forster warf ein, wie ihr doch kaum denkbar erscheine, daß der Charakter einer Nation sich in solchem Maße zu verändern vermöge. Das Volk ist dasselbe geblieben, erwiederte der Doctor, nur, wenn wir das Volk etwa mit unserem Boden vergleichen wollten: es lagen zu Goethe's Zeiten andere Erdschichten zu Tage. Sie wissen, wenn die oberste Krume des Ackers sich erschöpft hat, muß man tiefer gehende Pflüge anwenden. Jene zu Goethe's Zeiten noch

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fruchttragende oberste Schicht des Volkes aber ist heute ausgesogen, die Zeit, die neue Kräfte bedarf, hat tiefere Elemente aufgepflügt, fruchtbarere für das was wir heute bedürfen, und neue zugleich und anders geartete. Und so, was nicht ausbleiben konnte: die Fruchtbarkeit hat sich gesteigert, aber der Geschmack der Früchte hat sich geändert. Arthurs Stirn überzog sich dunkler. Ruhig aber noch fragte er jetzt: Was verstehen Sie unter dieser ausgesogenen obersten Krume, Herr Doctor? Sich seiner guten Vorsätze bewußt und darum Arthurs Ruhe diesmal mißverstehend, fuhr der Doctor dieser Aufforderung nachgebend fort, seine Ansichten auszubreiten. Jene Gartenerde verstehe ich darunter, die sich während des vorigen Jahrhunderts zwar dünn an sich, aber blendende Blumen tragend über Deutschland ausgebreitet: den Adel, der sich sicher an der Spitze der Dinge fühlte und sorglos sich gehen ließ; neben ihm der höhere Bürgerstand, ohne Neid, aber voller Ehrgeiz ihm nacheifernd und meistentheils zu Gnaden aufgenommen. Eine höchst anmuthige geistige Vegetation entwuchs dieser Mischung. Ein Gegensatz und zugleich eine Vereinigung war entstanden, die in fortdauernd elektrischer Berührung glänzende Erscheinungen zu Tage brachte. Die Romane Goethe's enthalten nur das: bürgerliche Bildung und Energie werden adliger Empfindungsfähigkeit nahe gebracht, und die fruchtbaren kleinen Gewitter die daraus entstehen sind die Punkte, die Goethe darstellt. Heute aber — wo besitzt der Adel noch diese Fähigkeit? Der Adel als Stand. Und wo steht ihm eine bürgerliche Gesellschaft so fein und anschmiegsam zur Seite? Der Adel ist steril und hochmüthig geworden, das Bürgerthum gewaltsam und übermächtig. Beide stehen sich egoistisch arbeitsam entgegen. Zu Goethe's Zeiten war das empfindungsvolle Nichtsthun, in dem wir bei ihm die vornehmen Herren befangen sehen, ein unbestrittenes Vorrecht, die Quelle schöner und nützlicher Folgen: heute wäre es nur die Ursache von Verwilderung und Beschränktheit. Ein bittender Blick Emmy's, der den seinigen zugleich auf Arthur lenkte, ließ den Doctor hier innehalten. Aber Mrs. Forster durchbrach unerwarteter Weise die Dämme welche Emmy so aufgeworfen hatte. Nun, weiter? rief sie. Verhält sich denn das alles in der That so, was Sie da sagen? Was, gnädigste Frau? fragte der Doctor in reinster Verlegenheit. Daß die großen Familien so unfruchtbar geworden sind an Thatkraft und Gedanken, und die tiefer aufgepflügte Masse jetzt allein Früchte trägt in Deutschland? Ich dächte Leute wie Stein, Humboldt, Buch und eine Reihe großer Feldherren hätten auch zum deutsche Adel gehört! rief jetzt Arthur dazwischen. Erstens wäre zu erwiedern, sagte der Doctor, daß es überall Ausnahmen gegeben hat, zweitens daß diese Namen letzte Ueberbleibsel der Epoche sind, von der ich eben sagte daß sie eine vergangene sei, drittens aber: glauben Sie, Herr Graf, der heutige Adel werde sich auf jene Namen etwa berufen, oder auf die Herren von Goethe und von Schiller und andere die in dieser Weise um ihren bürgerlichen Namen gekommen sind, wenn er sich auf seinen Stand etwas zu gute thun will? Thue mir auch nichts zu gute auf sie, donnerte Arthur jetzt mit ungeheurem Accente der Verachtung los. Andere Dinge, auf die es ankommt! Der Adel besitzt — Er stockte plötzlich. Emmy's Blicke waren zu mächtig. Er schwieg und lehnte sich zurück. Einen wunderbaren Anblick aber bot Emmy's Mutter dar. Sie hatte sich vorgelehnt; den einen Arm auf den Tisch gelegt und sich mit leise erhobener Schulter darauf stützend, lag die Hand zu einer kleinen aber energischen Faust geballt vor ihr. Mit durchbohrenden Blicken sah sie Arthur an, und mit einer Stimme, die einen Anflug von Zittern hatte, sprach sie: Bitte, weiter, Herr Graf. Nun, was besitzt der Adel? Es lag etwas bösartiges in ihrer Stimme. Alle Blicke waren auf Arthur gerichtet. Er aber fühlte sich plötzlich gar nicht mehr gereizt. Es erstaunte ihn selbst, sich von einer seltsamen Kühle angehaucht zu fühlen. Er blickte ruhig im Kreise umher. Da saß das Fräulein und starrte ihn an; da saß der Doctor und betrachtete ihn mit der Theilnahme eines Naturforschers, der einem Frosche einen elektrischen Strom auf das Rückenmark gelenkt hat. Da saß Emmy. Neben dem Doctor saß sie. Ein

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schauderhafter Verdacht stieg auf in Arthurs Seele: sie halte es mit den Uebrigen. Und da saß noch immer Mrs. Forster, bereit fortzufahren und auf ihre Frage selbst die schärfste Antwort zu geben. Er ahnte freilich nicht, was im Herzen dieser Frau vorging in diesem Augenblicke. Und wieder ein anderes Gefühl überkam ihn. Verächtlich erschien er sich, den Blicken dieses Kreises ausgesetzt zu sein. Unerträglich war ihm diese Erniedrigung. Was für Menschen waren denn das, die hier über ihn einen Gerichtshof bildeten? Nun, Herr Graf? rief Mrs. Forster, Sie sind uns eine Antwort schuldig. Bitte; — oder wollen Sie von mir wissen, was der Adel besitzt! Genug. Arthur erhob sich. Nein, ich danke Ihnen, sagte er mit beinahe verbindlicher Kälte zu ihr, ich glaube bereits genau zu wissen, was ich hierüber zu wissen brauche. Und indem er sich in einer leichten Verbeugung gegen die Gesellschaft im Allgemeinen verneigte, nahm er seinen Hut, schritt leicht und ruhig zur Thür und war verschwunden. Die Zurückgebliebenen saßen schweigend da. Emmy war die Zweite, die die Gesellschaft verließ. Der Doctor sprach dann zuerst. Wie bedaure ich, sagte er, die Schuld eines Auftrittes zu tragen, der so peinlich geworden ist. Ich muß gestehen, rief jetzt das Fräulein, mein werther Herr Doctor, es wäre besser gewesen, Sie hätten sich das vorher gesagt. Sie waren über die Denkungsart und den Charakter des Grafen vollständig unterrichtet, und wußten daß das kommen mußte was gekommen ist. Er ist ein Mann von Ehre und hat gethan was seine Schuldigkeit war. Mit ungemeiner Schnelligkeit hatte sie während sie das sagte ihren Mantel umgehangen, ihre Kapuze aufgesetzt und eine große Schleife darunter zugebunden, trat vor Mrs. Forster, verneigte sich und wünschte ihr einen recht guten Abend, worauf sie ohne weiteres fortging. Mrs. Forster dagegen, als sie nun mit dem jungen Manne allein war, reichte ihm die Hand. Sie haben mir einen Dienst geleistet, sagte sie. Ich? rief er erstaunt aus. Meine gnädigste Frau, ich bin so beschämt und fühle mein Unrecht, diese Dinge so aufdringerisch ausgesprochen zu haben, so tief — Wie tief? fragte die Frau ernst. War es nicht Ihre Ueberzeugung? War sie. Nun? und weshalb bereuen, ihr Worte geliehen zu haben? Sie haben Recht gehandelt. Doch gute Nacht für heute. Ich muß allein sein. Sie drückte ihm die Hand und auch er ging. Mrs. Forsters Züge trugen einen Ausdruck von Härte, der ihr sonst fremd war. Im Begriff, zu Emmy hineinzugehen, hielt sie wieder inne und dachte nach. Besser morgen erst, sagte sie leise ein paarmal vor sich hin und setzte sich an ihren Schreibtisch, wo sie eifrig zu schreiben begann.

Dreizehntes Capitel. Die Frauen sprachen diese Nacht kein Wort mehr zusammen, am nächsten Morgen erhoben sie sich ebenso schweigend. Erst als sie beim Frühstück saßen eine Weile, Emmy mit verschleierten Blicken in sich versenkt, Mrs. Forster mit Briefen in den Händen, begann die Mutter: Wir reisen heute Abend ab nach Hamburg und von da nach New-Jork weiter, sagte sie. Emmy schreckte auf und sah sie groß an. Ich weiß nicht mein Kind, fuhr sie fort, was Du denken wirst über diesen Entschluß. Er mag Dir nicht so klar sein wie mir, und kann es sogar nicht sein in all seinen Ursachen: allein er steht fest. Du hast noch nicht lange genug gelebt, um zu wissen, was das in einzelnen Fällen heißen kann, wenn ich sage: eine Sache stehe fest. Diese aber thut es. Versteh' mich recht: so fest als stände es in Stein gemeißelt. Heute Abend reisen

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wir, und wenn Du denken solltest es sei eine Aenderung möglich, so sage ich Dir jetzt gleich, daß sie unmöglich ist. Emmy erbleichte. Ich sehe wie bewegt Du bist, fuhr Mrs. Forster jetzt fort, und es thut mir sehr leid, dir etwas schmerzliches mitgetheilt zu haben. Allein es war nothwendig. Versteh' mich wohl, unter allen Umständen nothwendig. Ich werde die Vorbereitungen treffen. Was Du zu sagen hast, läßt sich unterwegs besprechen. Sie stand auf und verließ das Zimmer, und Emmy hörte wie nebenan die Dienerschaft Anweisungen empfing, die Koffer bis zum Abend parat zu halten. Dann erschien Mrs. Forster wieder, zum Ausgehen gerüstet. Ich habe, sagte sie, mit dem Banquier zu reden und unsere Pässe auf der Gesandtschaft zu besorgen. Auf Wiedersehen, liebe Emmy. Sie trat heran, küßte ihre Tochter auf die Stirn und ließ sie allein. Allmählich kehrten dem armen Kinde jetzt die Gedanken zurück. Nicht daß sie sich die Möglichkeit, die Stadt und Arthur zu verlassen, klar zu machen begonnen hätte, nein nur das erreichte sie, sich zu besinnen wenigstens, zu wem sie in dieser äußersten Noth flüchten könnte. Sie schrieb einige Zeilen an Erwin und beschwor ihn zu kommen. Erwin aber war bereits ausgefahren und kam erst um Mittag zurück, wandte nun aber seine Schritte sogleich in's Hotel. Er traf Emmy allein. Hatten ihn ihre wenigen räthselhaften Zeilen erschreckt, so rührte ihn nun ihr Anblick. Er fand sie am Fenster sitzend, die Hände im Schoße gefaltet und ihn ansehend mit erschütternder Hülflosigkeit. Liebe Freundin — sagte er. Sie bewegte sich nicht. Emmy — er nannte sie bei diesem Namen weil er sie wirklich wie ein Kind liebte. Liebes Kind, was ist vorgefallen? Thränen rannen ihr über die Wangen. Sie konnte nicht reden. Was sie endlich zuerst hervorbrachte, war kaum im Stande ihn aufzuklären. Wir reisen heute Abend — fort für immer — die Mutter ist wie Eisen — oh! Was ist geschehen um Himmelswillen? rief er. Sie sah in wieder an. Liebstes Kind, sagte er und kniete neben ihr nieder und küßte ihr die gefaltenen Hände, reden Sie, was soll ich für Sie thun? Ich weiß es nicht, sagte sie wie abwesend. Ich soll fort. Ich soll ihn nicht mehr sehen — O, lieber, lieber Freund! — Arthur? Was hat sich denn plötzliches ereignet? Was hat er gethan? Kommen Sie — reden Sie. Er hatte einige Praxis, die Dinge zu erfahren die er zu wissen wünschte, an seinen Krankenbetten gewonnen. Sie gab Antworten auf seine Fragen. Sie nannte die Namen der Anwesenden. Was Arthur gesagt. Was der Doctor gesagt. Was die Mutter gesagt. Es war als kehre ihr stufenweise das Gedächtniß zurück, und endlich war sie im Stande, ihn zusammenhängender von den Ereignissen des letzten Abends in Kenntniß zu setzen. Arthur muß die Mama um Verzeihung bitten, sagte er nach kurzem Bedenken. Das thut er nicht! rief Emmy aus. Auch ist er unschuldig. Sie haben ihn gereizt, bis auf's Blut haben sie ihn gereizt: er kann um nichts bitten. O sein armes gedemüthigtes Herz! Arthur, Sie wissen, wie hülflos er ist! O, wie er mich dauerte! Erwin machte ihr begreiflich, daß es vor allen Dingen darauf ankomme, die Mutter zu besänftigen und umzustimmen. Ich muß ihn sehen! rief Emmy. Lassen Sie uns zu ihm gehen! Sie sprang auf, als sollte es auf der Stelle sein. Liebe Emmy, sagte Erwin, erst muß er wissen um was es sich handelt. Verstehen Sie wohl? Es ist nicht nöthig. Nur sehen will ich ihn. Ich habe ein Gefühl als sei er unerreichbar verloren. Sie faltete die Hände wieder und sah ihn angstvoll bittend an. Ueberlegen wir, sagte Erwin. Es ist noch früh am Tage. Der Zug nach Hamburg geht nicht vor elf Uhr heute Abend. Ich habe schwere Kranke die besucht sein müssen, und allein können Sie nicht zu ihm gehen. Um sechs Uhr erwarte ich Sie unten an der Thür

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des Hotels. Sie kommen dann herab und wir gehen zu ihm. Je länger wir warten, um so mehr beruhigt er sich und Ihre Mutter sich. Nein, das thut sie nicht, rief Emmy geängstigt. Wohlan, so gehen wir zu Arthur auf der Stelle. Er allein kann thun was gethan werden muß. Emmy warf den Mantel um und eilte mit Erwin die Stiege hinab. Sie fuhren durch die Straßen zu Arthur. Erwin ließ sie im Wagen, um nach ihm zu sehen. Nicht lange und er kam zurück mit der Nachricht, daß Arthur ausgegangen sei. Er fuhr sie nun wieder ins Hotel. Er hatte Arthur einen Zettel zurückgelassen, daß er ihn um sechs Uhr bei sich erwarten solle. Diese Stunde verabredete er jetzt mit Emmy, und eilte dann fort weil er in der That mit Arbeit überhäuft war. Arthur war an jenem Tage nach unruhig verbrachter Nacht zum ersten Male wieder in jener trostlosen dumpfen Dämmerung erwacht, die er so ganz überwunden zu haben glaubte. Immer und immer wieder mußte er das Geschehene überdenken. Wieviel Antworten waren ihm durch den Kopf geschossen, die er Emmy's Mutter hätte geben können. Jetzt begann das unfruchtbare Bedenken von frischem. Unendliches fiel ihm ein, das er hätte sagen müssen. Ganze Reden wurden dann daraus, die seine Empfindung heftig genug darlegten. Er hatte gesprochen von dem was der Adel für Deutschland gethan. Von dem Einflusse, der durch die patriotische Aufopferung adliger Familien auf die Erhöhung und Veredlung des allgemeinen Zustandes historisch nachzuweisen sei. Von den Dynastien die sie gerettet, von den Opfern die sie gebracht. Von der Unfähigkeit der gemeinen großen Masse, geordnete Zustände zu schaffen und zu erhalten. Von der Herabgekommenheit des heutigen Lebens, entstanden durch die Erniedrigung des Adels. Vom Undank. Von der Verschlechterung der Zustände. Er gerieth in Hitze als stehe ihm eine unsichtbare Deputation, die das gesammte heutige Publikum repräsentirte, gegenüber. Es kam ihm die sonderbare Idee, niederzuschreiben was er dachte, um es als Buch in die Welt zu senden. Es schien ihm denkbar, daß wenn Viele, welche dächten wie er, sich vereinigten, eine Wendung zum Besseren mit Gewalt erzwungen werden könne. Und von all den Gedanken blieb schließlich nichts als das Gefühl der Erschöpfung und des Elends. Dann aber tauchte Emmy's Mutter vor ihm auf und der energisch herausfordernde Ton ihrer Stimme gellte ihm in den Ohren. Es schien ihm unerträglich, einer solchen Frau so ganz und gar alles Glück und Wohlsein in der Folge verdanken zu sollen. Wie anders, wenn er ihr hätte stolz gegenübertreten können und sagen: Madame, ich heirathe Ihre Tochter, aber nicht Ihr Geld und Ihre Familie. Die Unmöglichkeit das zu können erbitterte ihn. Dann, aber für Momente nur, sah er Emmy, wie in einer stürmischen Nacht der Mond voll durchbricht und alles mit besänftigendem Glanze übergießt, nun aber ebenso gewaltsam wieder von Wolken überfluthet wird und nur noch eine matte Helligkeit seine Stelle verräth. Und wirklich ganz verloren und verschwunden schien sie in diesen Finsternissen, daß er sich nicht einmal ihrer Züge klar zu erinnern vermochte dann, und der Verdacht wiederkehrte, auch sie sei wie die anderen. Sie verschwamm vor seinem Geiste. Er meinte er müsse zu ihr eilen um seine Augen wieder voll zu trinken an ihrem Anblick. Aber er ging nicht. Er träumte umher in schwankenden Gefühlen. Von dem was ihm die alte Köchin zu Mittag vorsetzte, rührte er kaum einen Bissen an und eilte dann fort in's Freie. Es war eine Art Naturtrieb bei ihm, durch heftige körperliche Bewegung Ruhe in seiner Seele zu schaffen. Der lebendigere Pulsschlag in den er so gerieth, beruhigte ihn und erfüllte ihn mit sanfteren Bildern. Es war, wie wir wissen, im Beginn des Frühlings. Die Sonne hatte sich den ganzen Tag über nicht gezeigt; es stürmte wie gestern, aber der Sturm war milde, fast schwül; die sich drängenden Wolken am Himmel wie ungeheure Ballen südlicher Luft heranjagend, und, zerrissen von den Winden, sich in feuchter Wärme ausschüttend. Arthur machte

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einen weiten Weg aus den nächsten Umgebungen der Stadt heraus, zwischen kahlen Feldern, an Hecken und Zäunen und einsamen Häusern vorüber, bis die Dämmerung einbrach und die schwarzen Zweige der Bäume, unter denen er zuletzt sich nach Hause wandte, kaum zu erkennen waren wie sie im Dunkel vom Winde hin und her gerissen wurden. Würde er Emmy sehen diesen Abend? War es möglich, bei ihr wieder zu erscheinen? Dachte sie an ihn? Erwartete sie daß er sich demüthige? ganz beruhigt däuchte er sich schon, als von neuem plötzlich wieder die Erinnerung an den vorigen Abend in ihm erwachte, alle die Gesichter ihn wie mit neubeginnendem Hohne anblickten, und eine Ahnung jetzt zum ersten Male in ihm aufstieg, als sei etwas zerrissen das sich nicht wieder heilen lasse. Arthur ging die breite Straße die mitten durch den Park auf das Thor zuführt. Er mochte etwa hundert Schritte noch bis dahin haben, als ihm die Gestalt eines Herrn im zugeknöpften Ueberrocke entgegenkam, der ihm bekannt däuchte. Gerade unter einer Laterne kreuzten sie sich und ehe er sich versah war der Herr neben ihm und hatte ihn angehalten. Mein lieber Graf — tönte es. Mein Verehrtester Baron, fühlte sich Arthur gedrungen zu antworten, er wußte selbst nicht wie, er hatte den Baron in Florenz gesehen; ein ältlicher Bonvivant, aber aus einer Familie von altem Adel, und deshalb dort seine öftere, nicht abzulehnende Begleitung. Jetzt sagen Sie mir vor allen Dingen, was haben Sie die Zeit über gethan? Wie haben Sie gelebt, mein liebster Graf? Nebenbei bemerkt, der Baron hatte sich bei Arthur in Florenz auf folgende Art verabschiedet. Er war eines Morgens erschienen, hatte mit bestürzter Miene erzählt, er empfange soeben Nachricht daß sein einziger Bruder tödtlich erkrankt sei, müsse sofort abreisen und sei ganz ohne Geld, da ein erwarteter Brief seines Banquiers ausgeblieben. Er bitte ihn daher um eine Anzahl Napoleons, die er zu Hause sofort werde anweisen lassen. Arthur gab ihm das Geld und vergaß es hinterher in dem Maße, daß er dem Baron hätte begegnen können ohne sich daran zu erinnern. Nicht so dieser, dessen Bruder sich damals übrigens im besten Wohlsein befand. Vollständig unterrichtet über Arthurs Verhältnisse, allein Anfangs nicht in der Lage, später nicht in der Absicht das Geld wiederzugeben, war er ihm mehr als einmal künstlich ausgewichen und würde ihn auch jetzt nicht angeredet haben, hätte es sich diesmal nicht um ganz andere Dinge als um diese Hand voll Napoleons gehandelt. Die Frage nach Arthurs Ergehen that er in der sicheren Erwartung, eine allgemeine ungenügende Antwort zu erhalten, that sie aber, weil er Arthur so das vorläufige Zutrauen einflößen wollte, als wisse er von nichts, und war deshalb weder erstaunt noch unbefriedigt, als Arthur mit den Worten erwiederte: Nun, ich habe eben gelebt. Und Sie, Baron? Der Baron lachte. Er hatte immer ein gewisses stilles Lachen an sich gehabt, das man eigentlich das Gespenst eines Lachens hätte nennen können, stand still, packte Arthur am Knopfloch seines Rockes und sagte: Ich werde Sie, wenn Sie erlauben, mit meinem Sohne bekannt machen. Ich wußte nicht, daß Sie verheirathet wären und schon einen präsentablen Sohn hätten, bemerkte Arthur kalt, um den Mann los zu werden. Ist auch ganz und gar nicht der Fall, lachte der Baron. Ich habe meine Familie auf andere Weise vermehrt. Ich habe nicht nur einen Sohn, sondern eine Schwiegertochter und eine ganze Familie. Ah, sagte Arthur. Wissen Sie — setzte der Baron das Gespräch fort, blieb abermals stehen und faßte Arthur abermals am Knopfloch, wissen Sie, wie der eigentliche Name meines Sohnes ist? — David! und er setzte zu diesem bereits auffallenden Vornamen einen zweiten, welcher so unverkennbar jüdisch klang, daß Arthur, dem mit einem Male die Idee aufstieg, der Baron möchte nicht recht im Kopfe sein, fast stotternd ungläubig fragend die beiden Namen wiederholte. Mein lieber Graf, nahm der Baron jetzt zu einem längeren Vortrage das Wort, wobei er mit wunderbarer Geschicklichkeit Arthurs Arm ergriff, während die andere Hand seinen Stock in der Mitte packte und mit dem in der Luft schwebenden goldenen Knopfe den

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Takt schlug gleichsam —: die Familie meines Sohnes ist seit Generationen hier ansässig, und eine in ihrem Genre höchst aristokratische Familie. Der Baron stand jetzt still, legte sämmtliche Finger der linken Hand kußhandartig zusammen, daß sie eine Spitze bildeten, und indem er bei jedem Satze den er weiter aussprach, mit dem goldenen Knopfe seines Stockes auf diese künstliche Spitze leise aufklopfte: Mein lieber Graf, dieser David ist ein ganz capitaler Kerl. Ich habe das Glück gehabt, voriges Jahr in ihm einen Sohn und Erben zu finden und zwar, sage ich Ihnen auf meine Ehre, einen der in Betreff kindlicher Ehrfurcht in keiner Weise, ich sage in keiner Weise gegen mich das mindeste versieht. Ich versichere Sie, ein Nachkomme meines eigenen Fleisches und Blutes könnte nicht aufmerksamer sein. Auch sind er und sein Frauchen vortreffliche, liebenswürdige Kinder. Sie wissen (alles dies ward Arthur in der Weise mitgetheilt, daß es ihm der Baron, der sich dicht an ihn drängte, in's Ohr halb flüsterte halb krächzte). Sie erinnern sich vielleicht des kleinen dicken fetten Banquiers, der immer alle Morgen unter den Linden und alle Abend im Theater zu sehen war? Wie aus dem Ei geschält immer und ein ganz durchtriebener Bursche. Nein, es war vor Ihrer Zeit. Nun, ich sage Ihnen: ein Exemplar seines Stammes! Das war sein Vater. Meines Sohnes nämlich. Diesem hatte er außer dem Namen David noch den andern: Baruch gegeben und daher kommt die ganze Geschichte. Jetzt nennt er sich Guido, weil er ein ungeheurer Kunstfreund ist. Ein nobler, anständiger, netter Mensch. Seine Frau eine geborene — Ja, daß weiß der Himmel, die Namen — halt! erinnern Sie sich? — Nein! schrie Arthur, der immer noch nicht ahnte, was kommen sollte, aber der sich durchaus losreißen wollte; der Baron klammerte sich aber an ihn an, es war unmöglich. Nun Einerlei, rief der Baron. Diesen Baruch David lernte ich in Florenz kennen. Seine Visitenkarte lautete: BAR Punkt und so weiter. Daraufhin nun pflegte man ihn im Auslande Baron zu nennen, und daß ließ ihn den, wie soll ich sagen, Mißklang seines Namens im Gegensatze dazu empfinden. Denn am Ende es ist kein Vergnügen, Baron genannt zu werden und Baruch zu heißen, wenn man dabei recht gut Baron sein könnte, und dem Manne fehlte gar nichts dazu als daß ihn Einer dazu machte. Kurz, um alles jetzt zu überspringen was ich Ihnen später en famillie (er wollte sich todtlachen) mittheilen werde, ich war — à propos, Ihre dreißig Napoleons bekommen Sie morgen oder wenn Sie wollen — ich war in der Lage, Baruchs pekuniäre Opferwilligkeit in ziemlich erschöpfender Weise in Anspruch zu nehmen, es stellte sich heraus was ihm dagegen seinerseits mangelte, es fand sich daß sich dem abhelfen ließe, ich, unverheirathet, der Letzte meines Hauses, ohne Anhang, ohne irgend Jemand der hätte Nein sagen können oder den es benachteiligte, wies man freie Dispositionsfähigkeit in dieser Richtung genügend nach, und das Ende vom Liede war, daß ich diesen Baruch nebst Frau und weiteren zwei Jungen von acht und zehn Jahren mit verteufelten Nasen adoptirte, daß dieselben jetzt meinen Namen führen, dem sie alle Ehre machen, und daß ich jedoch mit einem Fixum von jährlich Zweitausend, baar und sicher gestellt (dreieinhalbprocentige Pommersche), mit seiner Equipage zu meiner Disposition, mit einem Hause, einem Palais sage ich Ihnen, das ich mit meiner Familie zugleich bewohne die mich vergöttert, sorgenfrei meinen künstlerischen und literarischen Neigungen leben kann und daß ich — Jetzt aber hätte ein Herkules Arthur nicht länger gehalten! Sie! die Sprache versagte ihm, so vor Wuth bebend stand er da, — Sie! Ihren Namen! Sie? Er war nicht im Stande mehr zu sagen, aber der Ton, in dem er die Worte sprach, war deutlich genug. Nun, schrie der Baron, und stellte sich ihm mit eingestemmten Armen wie ein im Kochen überzischender Henkeltopf entgegen, was soll denn dies Sie mit diesem Accente? Etwa eine Kritik meiner Handlungsweise? Eine Kritik Ihrerseits etwa, mein allerwerthester Graf? Er fing auf das innigste an zu lachen, daß seine ganze feiste Persönlichkeit schutterte. Hier eine kurze Abschweifung. Es konnte nicht fehlen, daß Arthurs alte Köchin von der glücklichen Veränderung, welche mit ihrem Herrn vorgegangen, Notiz genommen, und daß sie, eine natürliche Folge, sich über deren Gründe unterrichtete. Eine weitere Folge war daß sie diesen

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Umschwung einigen Bekanntschaften mittheilte. Und so geschah es daß Arthur ohne davon zu ahnen der Gegenstand eines sich in der Stille ausdehnenden Gespräches geworden war und ein ganzer Kreis von Personen das größte Interesse an ihn machen. Es genügte zu wissen, eine bildschöne, ungeheuer reiche Amerikanerin sei sterblich in ihn verliebt. An vielen Stellen erinnerte man sich jetzt seines Namens wieder und erwartete was werden würde. Emmy zugleich, die noch weniger daran denken konnte, wurde auf der Straße mit Interesse betrachtet. An der Table d'hôte ihres Hotels sprach man von nichts anderem, und wenn sie mit Arthur neben sich ausritt, gaben sie beide ohne es zu wissen für eine große Gesellschaft aufmerksamer Zuschauer ein aufregendes Schauspiel ab. Eine Tradition bildete sich. Irgend jemand hatte die Vermuthung geäußert, daß Emmy jüdischer Abkunft sein möchte. Bald stand dies fest, und dies wiederum etwas was den Baron anging, der, um seinen Vaterpflichten ganz zu genügen, dafür Sorge tragen mußte daß der Salon seines Sohnes mit Persönlichkeiten von gutem Namen verproviantirt wurde, besonders solchen, denen das Vorrecht die bekannte Sylbe zu führen, den Anspruch verlieh, andere, denen dies nicht zukam, als eine niedere Race zu betrachten. Deshalb — er hatte Praxis in solchen Begegnungen — war sein Entschluß gefaßt, als ihm Arthur just in den Wurf kam. Er hakte frisch ein, schlug in Anbetracht der Umstände denjenigen Ton an, der ihm für sich selbst sowohl als für Arthur der richtigste und verständlichste schien, und erwartete nicht anders als gleich frischweg das innigste Verhältniß anknüpfen zu können. Es mußte ihn deshalb Arthurs brüske, ja beleidigende Art, abbrechen zu wollen, im höchsten Grade befremden. Er hatte bei der ziemlich ähnlichen Lage der Dinge vollkommenstes Eingehen erwartet und die Präliminarien zu weiterem Verkehr gleich feststellen wollen, indem er Arthur beim Abschied zu einem kleinen Frühstück ganz en famille auf den nächsten Morgen zu bitten gedachte, bei welcher Gelegenheit seine Schwiegertochter die Absicht hatte, die schöne, junge Amerikanerin auf einen Ball einzuladen: eine beneidenswertere Ueberraschung hätte sie ihrem Publikum wohl kaum bieten können. Statt dessen nun ein Abweisen so vieler Freundlichkeit von Seiten Arthurs. Indessen, vielleicht war das Wetter daran Schuld, und der Baron kein Mann, der nicht zu verzeihen verstanden hätte, und deshalb, nachdem er zuerst ein wenig erregt begonnen, ging es alsbald in den ihm angemessener erscheinenden Ton einer gutmüthigen Ironie über. Und das von Ihnen, fuhr er fort, mein werthester Graf, der Sie eben im Begriffe sind, Ihren alten höchst reingehaltenen Namen einer kleinen amerikanischen Jüdin zu Füßen zu legen, ich weiß nicht, ob nur für 2000 Thlr. jährlich und Equipage oder mehr — Pah! Und ehe Arthur Zeit gehabt, eine Antwort hierauf zu ertheilen, war der gute Baron außer Schußweite und im Dunkel verschwunden, in welchem Arthur in einem Zustande an Tollheit grenzender Aufregung zurückblieb. — Es war um dieselbe Zeit, daß unter dem Schleier der Dunkelheit zwei Personen durch den Thorweg des Hauses schritten in welchem Arthur wohnte, die Treppe sich hinauftasteten und vor seiner Thür ankamen: Erwin und Emmy. Emmy hatte sich nichts merken lassen. Gegen sechs Uhr wartete sie einen Moment ab, wo ihre Mutter sie nicht bemerkte, hüllte sich rasch in ihren Mantel und eilte zu Erwin hinab. Die alte Köchin machte die Augen weit auf als sie Erwin mit einer verschleierten Dame erblickte, mit der er, ohne weiteres sie zurückdrängend, auf die Stube zuschritt. Sie solle Licht anzünden, befahl er, und dem Herrn Grafen nicht sagen daß er in dieser Begleitung da sei. Dies wurde versprochen und das Versprechen gehalten. Wie in einem Traume war Emmy zu Muthe. Wie sie allmählich das Zimmer übersah. Wie sie in dem geschliffenen Glase die Veilchen bemerkte, die vertrocknet ringsum mit den Köpfen über den Rand hingen. Es machte sie schaudern. Es überkam sie von Zeit zu Zeit wie ein Fieberanfall. Erwin ging schweigend auf und nieder mit geräuschlosen Schritten. Emmy hatte den Tag über kein Wort mit ihrer Mutter gesprochen. Ihre Häuslichkeit im Hotel sah sie Stück für Stück sich auflösen, und die großen schwarzen Koffer den Weg

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verstellend mitten in den Zimmern stehen, glänzend wie Särge. Der Anblick schwebte ihr vor Augen, und mitten hindurch starrten die Augen der Bilder von den Wänden sie an. Liebe Freundin, sagte Erwin und rückte sich einen Stuhl in ihre Nähe. Sie blickte ihn an. Niemals hatten Thränen einen lieblicheren Weg genommen als die, welche ihr jetzt über die Wangen rollten. Wenn er nur käme, sagte sie leise. Er kann nicht mehr lange ausbleiben. Ich weiß nicht weshalb, sagte sie wieder, ich fürchte es fast ebenso sehr als ich es wünsche. Ich — sie ergriff Erwins Hand. Die ihre war eiskalt und bebte. Ich weiß nicht was ich fürchte, sagte sie und sah sich scheu um. Ich glaube die Bilder machen mir Angst. Auch Erwin blickte umher. Sehen Sie dort den großen Schrank und den Lehnstuhl in der Ecke daneben, setzen Sie sich dahin, es ist der behaglichste Fleck im ganzen Zimmer. Auch sieht Arthur Sie da nicht gleich und ich kann erst einige Worte allein mit ihm reden. Erwin nahm ihr den Mantel ab. Setzen Sie sich dort nieder. Arthur ist in Allem ein bischen so, daß man ihn behandeln muß. Er ist zu kindlich. Lassen Sie es mich nach meiner Weise machen. Emmy gehorchte. Der große glänzende Schrank, mit allerlei Messingwerk beschlagen, hatte etwas zutrauliches, und zwischen ihm und der Wand, ganz in der Dämmerung, war ein Lehnstuhl postirt der da wirklich einen recht behaglichen Platz hatte. Als sie von dort aus das Zimmer überblickte, erschien es angenehmer und sie fühlte sich ruhiger. Sie machte es sich bequem. Die alten Möbel gaben ihr ein Gefühl, als ständen die Dinge doch fester in der Welt als sie fürchtete. Erwin schleppte einen Folianten heran, auf den sie die Füße setzte. Wie freundlich sorgen sie für mich, rief sie und konnte schon wieder lächeln. Ich glaube, in ganz Amerika giebt es keinen so stillen, angenehmen Platz wie diesen. Denken wir an lauter Glück und Sonnenschein, sagte er. Es kann ja zuletzt doch nicht ausbleiben. Die Hauptsache ist, daß wir uns tapfer halten. Wir haben noch viel zu thun heute. Arthur in's rechte Geleise zu bringen. Ihre Mama zu überwinden. Alles wieder auszupacken. Still! Es klangen Schritte draußen? Nein, es war die alte Köchin, die über den Gang schleifte. Emmy stand auf, trat an Arthurs Tisch und setzte sich an ihm nieder; er war ihr wie ein altes Eigenthum. Dann betrachtete sie die Blätter die da lagen: sie fand die angefangene Zeichnung des Glases mit den Veilchen. Dann fing sie an, alles in Ordnung und zurecht zu legen, nahm jedes Stück einzeln in die Hand und putzte den Staub ab und sah Erwin ganz glücklich in die Augen die paar Augenblicke die das dauerte. Mitten darin aber unterbrach sie sich und sah sich um. Wohl immer wieder die Bilder? fragte Erwin. Ja, ich glaube, sagte sie. Kommen Sie, fuhr er fort, wir wollen den Leuten näher in die Augen sehen, da sind sie weniger furchtbar. Er nahm ein Licht und trat mit ihr vor das nächste. Dies Arthurs Vater, erklärte er. Sie blickte eine Spanne Zeit in die kalten Züge hinein. Ich hätte mich vor ihm gefürchtet, sagte sie. Und wer sollte denken, daß Arthur sein Sohn sei? Erwin erwiederte nichts und leuchtete weiter. Ihm selbst schien, als habe der Maler den ungünstigsten Moment des Mannes hier verewigt. Welch ein Abstich die daranstoßende Leinwand! Ah, die Mutter! rief Emmy aus und stand dem Gemälde bewundernd gegenüber. Als wäre in alten Zeiten eine nordische Nixe tief nach Süden geschwommen und aufgetaucht an der Küste Italiens, da wo eine Tochter des römischen Kaisers im Meere badete, und beide sähen sich erstaunt an, jede schüchtern aber auch muthig, doch jede in ihrer eigenen Weise, so stand Emmy der schönen Erscheinung gegenüber. Nun, was denken Sie? fragte Erwin nach einer Weile. Es ist seine Mutter. Das weiß ich wohl, sagte Emmy. Man möchte sich glückwünschen, daß man kein Mann sei und ihr nicht lebend begegnete, fügte sie hinzu und lächelte.

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Weshalb?. O, weil man sich zum Sterben glaube ich unglücklich fühlen könnte, von dieser Frau nicht geliebt zu werden, und weil sie vielleicht den Glauben erwecken könnte, eine Zeit lang, man sei es, und weil es doch nicht wahr wäre. Emmy sprach nicht zu Erwin, sondern zu dem Bilde, als sagte sie der Frau die Dinge die sie aussprach. Denn wissen Sie die alte Sage vom Prometheus, dem alle Tage die Leber gefressen wurde und alle Tage eine neue wuchs: so möchte man denken, diese Frau könne alle Tage ihr Herz verschenken und finde immer wieder ein neues spiegelblankes wie von Diamant, um es dem Nächsten zu geben. Sie müssen traurige Erfahrungen gemacht haben, sagte jetzt Erwin halb scherzend, halb ernst, daß Sie solche Dinge aussprechen. Ich? rief Emmy, als habe er sie in tiefen Gedanken gestört. Nein ich habe gar keine Erfahrungen. Ich kann mir nichts denken, als daß man sein Herz nur einmal giebt und auf ewig, ich weiß selbst nicht, wie ich zu den Gedanken gekommen bin. Es war wie eine plötzliche Quelle die aufsprang. Etwas anderes fesselte sie jetzt. Oh, rief sie, trat näher heran und fuhr sich mit der Hand auf die Brust. Nun? fragte Erwin — halt ich weiß es, rief er dann. Die Brosche! Ich würde mir nicht erlaubt haben, darauf aufmerksam zu werden, setzte er hinzu, wenn sie mir nicht zuerst die Erlaubniß gegeben. Die Sache war die. Arthur besaß als einziges Andenken an seine Mutter eine Brosche: ein prachtvoller einfacher großgeschlungener Knoten. Eines Tages war er bei Emmy erschienen und hatte von seiner Mutter zu sprechen angefangen. Dann ihr erzählt, wie diese stets eine Brosche getragen die er Emmy zeigen wolle, und dann sie gebeten, die Brosche ein einziges Mal anzustecken. Und als das alles geschehen war, hatte er sie gefragt, ob sie so lange sie in Berlin bliebe die Brosche tragen wolle, nur damit er auch diese Erinnerung daran knüpfen dürfe später. Emmy hatte seitdem den goldenen Knoten nicht wieder abgelegt, ganz vergessen aber daß er von der Mutter stammte, und ihn zu ihrer Ueberraschung hier auf dem Bilde wieder entdeckt. Wie schön sie gearbeitet ist, sagte sie, nahm sie ab und hielt sie gegen die Malerei. Wer mag sie ihr gegeben haben einmal, fragte Erwin halblaut für sich, als auch er sie in die Hand genommen. Einfach und schön! sagte er und gab sie ihr zurück. Jetzt wurden Schritte draußen hörbar. Arthur! rief Emmy und eilte auf ihren Platz neben dem Schranke, wo sie die Brosche wieder annestelte, ganz außer Athem, als sei sie bei Verbrechen und Diebstahl überrascht worden. Als würde ihr eine erstickende Decke über den Kopf geworfen, überkam sie von neuem das Gefühl dessen was geschehen war und geschehen sollte. Wie hatte sie es so ganz vergessen können? Die Thür öffnete sich und Arthur trat ein. Und wie erschien er? Als bemerkte er Erwin gar nicht, der sich ihm doch fast in den Weg stellte, ging er gesenkten Kopfes an ihm vorüber und blickte dabei mit Augen vor sich hin, die erschreckend finster waren; legte den Hut auf den Tisch und setzte sich daneben, den Kopf in die Hand gestützt, während die andere Hand auf dem Knie ruhte. Er schien völlig abwesenden Geistes. Dann sprang er auf und blickte um sich, auch immer jedoch ohne weder Erwin noch Emmy zu bemerken. Jetzt trat Erwin zu ihm und nannte ihn bei Namen. Arthur schrak zusammen. Arthur, sagte Erwin, ich erwartete Dich hier. Keine Antwort. Arthur lehnte sich an den Tisch und athmete heftig. Mein guter Arthur, wiederholte Erwin, ich habe Dich hier erwartet. Es muß Verschiedenes besprochen werden, und wir haben wenig Zeit zu verlieren. Kennst du den Baron? begann Arthur jetzt und nannte den Mann der ihn eben verlassen hatte, kennst Du ihn? Er stieß die Frage fast wie eine Drohung heraus. Kennst Du ihn? fragte Erwin erstaunt.

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Ja, ich habe ihn eben vor mir gehabt, diesen Menschen, rief Arthur, und das Neueste von sich hat er mir selbst erzählt. Nun, was denkst Du von ihm, wenn Dir die Dinge bekannt sind! Ich weiß allerlei, antwortete Erwin, jedoch nicht gerade das vielleicht, was Du das Neueste nennst. Nun, daß er den Juden Baruch David adoptirt hat, (Arthur lachte verächtlich auf nach den Worten) und daß er zweitausend Thaler dafür bekommt alle Jahr; nun, und so weiter. Hat er es Dir vielleicht auch erzählt? Erwin zuckte die Achseln. Lieber Himmel, sagte er gleichgültig, der Mann hat seine Rechnung dabei gefunden und dieser Herr Baruch ebenfalls. Er ist ein ganz guter Mensch, dem sich außer seiner Eitelkeit nichts böses nachsagen läßt. Im Gegentheil, der mit bedeutenden Beiträgen zu einer ganzen Reihe von Comites gehört, gegen deren wohlthätige Zwecke nicht das mindeste einzuwenden ist. Und das sagst Du? und weiter sagst Du nichts? Arthur stieß diese Worte mit einem Accente heraus, daß Erwin erschrak. Er sah sich Arthur genauer an und errieth nun erst, daß etwas vorgefallen sein mußte, das die furchtbare Aufregung hervorgebracht, von der er ihn beherrscht sah. Und in der That, Arthur, dem er gerade gelegen kam, Jemand angetroffen zu haben dem gegenüber er seine Gefühle auslassen könnte, hatte sich so wenig nun in der Gewalt mehr, daß er im Stande gewesen wäre, Erwin und den Baron für ein und dieselbe Person zu nehmen und seinem Freunde alles das über den Kopf zu geben, was ihm von dem Momente an, wo der Baron ihn in der Dunkelheit verlassen hatte, bis zu dem jetzigen durch die Seele gerast war. Giebt es keine Macht im Staate, um einen so infamen Handel unmöglich zu machen? donnerte er heraus. Sind wir so tief gesunken, daß dergleichen öffentlich, ja mit gerichtlicher Beihülfe geschehen kann? Lebt Niemand mehr, den das empörte ? Kein Gericht der öffentlichen Meinung? Darf solch ein Verräther der eigenen Ehre die Augen aufschlagen? Frei umhergehen? Und die Frechheit haben, einen ehrlichen, unbescholtenen Menschen, wie ich bin, triumphirend damit zu unterhalten? Er stemmte sich mit straffen Armen auf den Tisch wie auf die Brüstung einer Rednerbühne und sah Erwin mit flammenden Blicken an. Lieber Arthur, entgegnete dieser, Niemand kann den Baron hindern zu thun was er Lust hat, sobald es nicht gegen die Gesetze verstößt. Erlaubt ist was nicht verboten ist. Gefällt diesem Baron seine neue Verwandtschaft, weshalb sie ihm verbieten? Will ein reicher Mann wie dieser ehemalige Baruch sein Geld für dergleichen ausgeben und sich diese Last zu theurem Preise erkaufen, wer kann ihn da verhindern? Er bleibt doch nach wie vor — Ein Jude! warf Arthur dazwischen und belastete das Wort mit so viel Hohn, als hätte er es ein Dutzendmal im Schmutze umhergetreten und dann mit der Fußspitze aufgenommen und an die Wand geschleudert. Gut, ein Jude, ein Hebräer, ein Israelit, meinetwegen ein Chinese oder Kalmücke, antwortete Erwin. Zwischen Juden und Christen macht das Gesetz keinen Unterschied mehr. Zumal nicht den leisesten, sobald, wie hier vorauszusetzen, Uebertritt erfolgte. Auch ist dieser nicht der erste Jude der geadelt wurde. Rothschild rangirt in Paris, ja selbst in den höchsten Zirkeln Londons, mit dem ältesten Adel aus gleicher Linie, ist vollkommen ebenso adlig wie die übrigen. Jedenfalls sind die jüdischen Familien historisch viel älter als die unsrigen nachweisbar. Und dann, was hat es auf sich? Es ist doch immer ein idealer Besitz, wofür der ehemalige Baruch Sinn gehabt und Geld hingegeben hat. Er wünschte gesellschaftlich höher zu stehen. Er legt sich dadurch die Pflicht auf, mit einer gewissen Noblesse aufzutreten. Man sollte das Niemanden verdenken, und was den Baron anlangt, der keine Seele compromittirt und der unabhängig ist, so kann man es ihm bei weitem weniger übelnehmen, in seiner Noth einen Juden in den Adelstand erhoben zu haben, als man es jenen Fürsten etwa zum Vorwurfe machen könnte, die, als geborene Schützer des Adels, Rothschild und Andere erhoben haben und erheben. Und außerdem, wie ich sagte, unser Baruch wird getauft sein.

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Du vertheidigst den Menschen mithin? antwortete Arthur und seine Sprache, jetzt nur leicht ironisch gefärbt, klang plötzlich viel ruhiger. Es hätte wirklich so scheinen können, als wären Erwins Explicationen auf ihn nicht ohne Wirkung geblieben. Er lehnte sich wieder zurück wie vorhin, sah auf den Boden und nickte dabei leise mit dem Kopfe, gleichsam als seien neue Gedanken in ihm wach geworden, die er durch dieses Nicken in langsamem Takte zustimmend begleitete. Der Baron hatte gesagt: eine amerikanische Jüdin! Sollte er Recht gehabt haben? Sollte Erwin darum wissen? Sollte diese Ruhe, mit der er den Baron und die Juden vertheidigte, etwa als glücklich gefundene Gelegenheit nun zur Einleitung dienen, ihm Aufschlüsse zu geben über die Familie Forster? Sollte? sollte? sollte? eine Folgerung nach der anderen durchschauerte ihn so — und er nickte. — Verrath! lispelte ihm etwas zu, und er lächelte. — Starrte zu Boden und ließ die Gedanken weiter arbeiten und die neuen Ahnungen, die sie ihm zuführten. Wie schön er war! Ein unheimlicher Glanz lag über seinen Zügen, Emmy sah es von ihrem Verstecke aus. Mit bebender Aufmerksamkeit folgte sie dem Gespräche und hing mit den Blicken an Arthur. Manchmal hatte sie gemeint hervortreten zu müssen, als gälte es ihn aus dem Feuer oder vom Ertrinken zu retten, aber sie war durch etwas wie gelähmt und festgehalten, das ihr fast den Athem aus der Brust verdrängte. Zu sehr daran gewöhnt mit Arthur in demselben Tempo zu empfinden, ging das Fieber das diesen schüttelte, unbewußt als Zuwachs der eigenen Bewegung nun auch in sie über und klopfte in ihren Adern. Während dieses Schweigens mühte sich Erwin vergebens ab, etwas aufzufinden das Arthur auf andere Gedanken brächte und fähig machte für sich und Emmy selbst die Ruhe zu erreichen, deren er so sehr bedurfte. Lieber Arthur, sagte er endlich, lassen wir diese Dinge die wir nicht ändern können, es ist von anderm zu reden heute. Arthur sah ihn leer an und dachte immer weiter innerlich, von den neuen Anschauungen fortgerissen, die wie Feuer um sich griffen. Er hörte Erwin gar nicht. Erwin glaubte zu fühlen, daß ohne einen Uebergang hier nichts möglich sei. Längst hatte er die Gelegenheit gesucht, Arthur von sich selbst zu sprechen. Der Moment, dies zu können, schien gekommen. Und so, in der Erwartung daß nichts seinen Freund mehr beruhigen, seine unklaren Gedanken über den Stand, dem sie beide angehörten und für den Arthur so unnützer Weise so heftige Kämpfe in sich durchfocht, aufzuklären geeignet sei, als die Erzählung des Theiles seines Lebens, der sich gleichfalls aus solchen Kämpfen herausgebildet hatte, begann er davon zu reden. Wir haben niemals über Adel und Geburtsrechte eingehend zusammen gesprochen, sagte er; es ist nicht möglich, über dergleichen mit der bloßen Theorie die richtigen Ansichten zu gewinnen. Nur in praktischen Beispielen liegt das eigentlich belehrende, fördernde, und nicht in Caricaturen wie sie der Baron uns liefert, in Erlebnissen vielmehr, die diejenigen mit sich selbst durchgemacht haben, welche ein Urtheil abgeben sollen. Wie ich über den Adel denke, will ich Dir sagen. Ich schätze ein Land glücklich, das einen Adel besitzt, der auf allgemein anerkannter Basis beruhend, eine würdige Stellung Inne hat zwischen der großen Masse und der regierenden Gewalt, und der durch Besitz, Bildung und Thatkraft diese Stellung zu behaupten wirklich im Stande ist. So in England. Der Adel dort die Blüthe des Landes und als solche angesehen. Von ihm ausgehend das Große, Bedeutende, weil er anzieht und in sich aufnimmt was groß und bedeutend ist. In England, wo verliehene Adelstitel Verdienste belohnen die Jeder versteht, erhöhen sie in der That diejenigen denen sie verliehen worden sind, zu einer erhabeneren Stufe innerhalb des Volkes. Macaulay war ein großer Schriftsteller, Lord Macaulay für die Engländer ein noch größerer. Die Bürgerlichen lachen ihn nicht aus deshalb, sondern sie sagen: er hat es verdient. Dort ist der Adel ein Baum, der aus den besten Kräften der Nation seinen Saft zieht; nicht als Kreatur der Krone, sondern als Kreatur des Volkes. Die großen Familien nehmen dort die Höhen ein. Jeder möchte zu

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ihnen empor. Und dieser Wettstreit, mag er auch Unwürdige oft genug erhoben haben, hängt immer mit dem besten zusammen das das Volk bewegt seit Jahrhunderten. Anders bei uns. Niemals ist der deutsche Adel für die Freiheiten des Volkes aufgestanden. In England bildete er durch die Hochachtung der niedriger stehenden eine Aristokratie, bei uns durch hochmüthiges Herabsehen auf den Bürgerstand nur eine sich abschließende Gesellschaft. Sein Dasein hatte etwas beleidigendes. Wirkliche Vorrechte besaß er längst nicht mehr, und dennoch war eine der ersten Forderungen welche 1848 gestellt wurden: es müßten selbst diese scheinbaren Vorrechte beseitigt werden, wenn man unter die Zahl der politisch wieder wirksamen Nationen neu eintreten wolle, denn Deutschland zählte kaum mehr in den großen Fragen. Was hatten wir denn verbrochen? Hatten wir das Volk bedrückt? Bildeten wir eine Macht, die zunahm und die furchtbar werden konnte? Wollten wir uns bereichern auf Kosten der Uebrigen? Nichts von alledem. Aber eine allgemeine Ueberzeugung existirte: es könne von denen welche sich Grafen oder Freiherren nennen oder nur ihrem Namen das Wort, "von" vorsetzen dürften, nichts Gutes kommen, es fehle jeder Grund, ihnen das Recht zu gönnen, sich durch den Besitz dieser Titel oder dieser Sylbe für besser als die Uebrigen zu halten. Die so ausgezeichneten, wußte man aus Erfahrung, hatten sich im Großen und Ganzen genommen von jeher auf Seiten derer gestellt, welche die Dinge zurückhalten wollten, nur um zurückzuhalten überhaupt. Man sah etwas wie eine alte baufällige Mauer in ihnen, die aufhielt ohne zu schützen. Man wollte nicht, daß Leute das Recht hätten, sich für verdienstvoller zu halten als Andere, ohne es zu sein. Man ist seitdem aber vernünftiger geworden. Die Einsicht hat sich Bahn gebrochen, daß wir Adligen unschädlicher waren als wir schienen, und auf der andern Seite: daß wir nicht schlechter oder besser sind als alle Anderen, ja sogar daß unser Hochmuth seine guten Seiten haben könne. Wer heute die gehörige Energie besitzt, kommt auf jedem Wege vorwärts, und weiß recht gut daß ihm die Vorurtheile unseres Standes nicht mehr entgegenstehen. Man denkt deshalb nicht mehr daran, den Adel ausrotten zu wollen, so wenig man Hexen zu verbrennen geneigt ist. Wir haben eine Anzahl alter Familien mit hohem Range und Traditionen, an deren Fortsetzung ihnen gelegen ist. Diese verheirathen sich am liebsten mit ihres Gleichen und erfahren bei diesem Bestreben keinen Widerspruch. Im Gegentheil, man begreift es und man ehrt sie. Ein Graf, ein Freiherr aus gutem altem Hause wird immer und überall eine hervorragende Stellung einnehmen und als gesellschaftlich bevorzugt angesehen werden wo er auftritt. Niemand wird sich ihm auf diesem Felde entgegenstellen um ihm seinen Rang streitig zu machen. Allein, trotz alledem, repräsentiren diese Familien die Blüthe und die Kraft des Volkes? Bilden sie in irgend welchem Sinne ein geschlossenes Ganzes? Und nun jene anderen Familien, die durch die Erlaubniß ein „von" vor ihren Namen setzen zu dürfen, zu etwas Höherem erhoben worden sind: Wer denn fühlt sich niedriger neben ihnen? Jüdische Familien besitzen das Vorrecht so gut wie christliche; Gewerbetreibende und Landbauer, Beamte und Soldaten, Dichter und Buchhändler. Fast alle Tage bringen die Zeitungen dergleichen. Nur in sehr seltenen Fällen kenne ich diese Namen. Wer aber wird daran glauben, aus diesem Elemente vermöchte sich einmal ein Adel zu bilden, der als der bessere Theil der Nation betrachtet werden müsse? Was ist Adel in Deinem und meinem Gedanken? Daß Du den Titel Graf führst, oder daß Du ein Graf bist? Wer könnte Dir, wenn man Dir verböte, Dich Graf zu nennen, das nehmen: daß Du von den Männern trotzdem abstammst, deren lange Reihe Dir Deine Familie verehrungswürdig erscheinen läßt und die Du Deine Ahnen nennst? Wer vermöchte jenem Banquiersohne, der sich auf sehr unschuldige Weise zum Baron machen ließ, zu seinem Titel das noch obenein zu verleihen, daß er nicht doch ein ehemaliger Israelit bleibt, der mit dem Baron, seinem jetzigen Adoptivvater, einen Handel abschloß den beide für vorteilhaft hielten? Wer aber würde bürgerlichen Familien, jüdischen oder christlichen, die, ohne irgend welchen Titel zu führen, dennoch in ihren Vorfahren Männer verehren die für ihr Vaterland Großes gethan

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haben und mit den Besten auf gleicher Linie stehen, einreden wollen, dieses Bewußtsein sei geringer als das unsrige, und der Werth ihres Namens weniger gewichtig nur deshalb etwa weil ihm jene Vorschlagsylbe fehlt und sie ihre Frauen in den höchsten Gesellschaftszirkeln nicht verstellen dürfen? Giebt es Unterschiede der Geburt, sobald es sich um Männer handelt die wirklich etwas sind? Haben Goethe und Schiller das mindeste gewonnen oder verloren in unseren Augen, weil sie, der Weimaraner Etiquette wegen, das Recht erhielten, sich „von" Goethe und „von" Schiller zu nennen? Sind das nicht Aeußerlichkeiten endlich geworden, die gegenüber der ungeheuren Bewegung welche heute die Welt erfüllt und an der sich betheiligt zu wissen allein das ächte Gefühl dessen verleiht was man werth sei, ihren Glanz verlieren, wie Theatercoulissen auf die die Sonne scheint? Wohl dem der sich heute losmachen darf von solchem Ueberbleibsel vergangener Zeiten, um das Eine nur im Auge zu behalten: mitzuarbeiten am Wohle des Volkes und die Stelle auszufüllen an die die Vorsehung ihn stellte; der Kraft genug besitzt, wenn ein solcher Titel ihn daran verhindern sollte, ihn ruhig bei Seite zu legen, um ohne ihn seine Pflicht zu thun. Und nun auf sich übergehend, begann Erwin zu erzählen wie es ihm ergangen, wie er, gezwungen ein Studium zu ergreifen das ihn seinen Anlagen nach allein retten konnte, ruhig den entscheidenden Schritt gethan; wie es ihn zuerst einen Kampf gekostet, wie er Stand gehalten und wie er sich zur Unabhängigkeit und dem emporgearbeitet, was er jetzt nur sich selbst verdanke. Wenn ich auf meine Vorfahren stolz bin, rief er aus, auch seinerseits jetzt in Feuer gerathend, so ist es deshalb: daß ihre Kraft auf mich vererbte das gekonnt zu haben, und ich denke, wenn sie alle jetzt daständen und auf mich blickten, ich brauchte nicht zu erröthen und keinen Schritt zurück zu thun. Und, indem er so endlich die Brücke gefunden zu haben glaubte zu dem was heute zu besprechen war als das allerwichtigste, schloß er: Und Du, würdest Du um eine Antwort verlegen sein, wenn Deine Vorfahren da ringsum Dich fragten, ob Du wirklich im Begriff seiest, dem liebsten edelsten Geschöpf das die Vorsehung je einem Manne in die Arme führen konnte, aber vom stolzesten Bürgerstande den je die Welt getragen hat, deinen Namen zu geben? Würdest Du einen Moment zaudern, allen in's Gesicht zu sprechen, daß es Dein höchster Stolz sei, dies thun zu dürfen? Hast Du jemals, seitdem Du sie kennst, auch einen Moment nur daran gedacht, ob sie von Adel sei oder nicht, ja hast Du Dich nur darum gekümmert wie sie heiße oder wo sie geboren sei? Im Feuer der Rede und der Gedanken die ihn bewegten, hatte Erwin beinahe vergessen, welches der Zweck seiner Rede gewesen war. Nicht nur Arthur festzuhalten und zu überzeugen war nun sein Wunsch, sondern ebensosehr jetzt, sich selbst zu rechtfertigen vor ihm. Aus ein paar Worten die er sagen wollte, war eine lange Rede geworden. Daß Emmy ihn höre, war er sich nicht mehr bewußt. Sein sonst verschlossenes, gedämpftes Wesen hatte sich verwandelt, er schien jünger, freier und kindlicher, und der Ton seiner Worte hatte etwas von dem begeisterten Klange, der Arthur sonst fast immer eigen war. Niemand der ihn so gesehen, hätte daran gezweifelt, daß hier ein Mann stehe, der aus der besten Familie stamme, sei sie eine gräfliche oder bürgerliche, jedenfalls eine auf deren Besitz die Nation stolz sein konnte, und auf deren Dasein die Stärke des Volkes mit beruht. Ganz hingegeben an den Gedankengang dem er so Ausdruck verliehen, stand er in voller Sicherheit Arthur entgegen, es könne nichts anderes als der glücklichste Einklang ihrer beider Gefühle zum Ausbruche kommen. Freudig blickte er ihn an und erwartete was er sagen würde. Arthur sah ihm in die Augen. Woran hatte er gedacht? Viel zu heftig war er im Beginn der Rede Erwins von seinen eigenen Gedanken noch ergriffen gewesen, um etwas anderes zu vernehmen als nur den Klang einer Kette von Worten, die an sein Ohr schlugen. Erst allmählich gegen Ende begann der Sinn des Gesagten ihn zu ergreifen. Erwin, hörte er jetzt, hatte selbst seinen Adel niedergelegt — Er war ein Arzt, ein bürgerlicher Arzt, der für Geld kurirte— Der Baron war in seinem Rechte gewesen — Juden und Christen standen gleich — Erwin hatte heimlich vor ihm diese Entwürdigung seiner Person vorgenommen — Und was hatte der Baron gesagt? eine amerikanische

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Jüdin! — Und was Erwin: er habe ja nicht gefragt, wo Emmy geboren sei —: all das drang in ihn ein und tanzte wie Fieber durch seine Adern; allein — einsam — verrathen von seinem besten Freunde — angefallen von der Gemeinheit, und zurechtgesetzt, daß er das nicht als etwas natürliches begreife — wo war Emmy's Bild in diesem Augenblicke? Arthur hatte Sinn und Gefühl und Erinnerung verloren — er sah nur den Verräther vor sich, der sich endlich selbst entlarvt hatte und lächelnd vor ihm stand als seien es die edelsten Dinge die er ihm mitgetheilt —: nicht umsonst war Arthur von seinen Mitschülern der Name „Tiger" gegeben worden. Kinder fühlen wo der Grundzug einer Natur liegt und sprechen es unschuldig aus. Mit den glänzenden Blicken eines Rasenden stand Arthur vor Erwin, trat einen Schritt rückwärts, als wäre es ein ungeheurer Sprung den er zu thun hätte —: Wer sagt, schrie er, daß ich sie zu meiner Frau machen will? Wer? Wer wagt es? Er hatte fast keine Stimme es zu sagen, aber was ihm übrig blieb an Stimme war, wie jenes Lachen des Barons, nur ein Gespenst von Stimme. Erwin wurde blaß vor Schrecken. Aber Arthur! Ein leichtes Geräusch lenkte seine Augen von Erwin ab — seitwärts. Da stand sie, auftauchend aus dem Dunkel, bleich, die großen Augen auf ihn geheftet, und dann, nachdem sie seine Blicke aufgefangen einige Momente, sich wendend und wie im Schweben leise aus dem Zimmer schreitend über den Teppich der das Geräusch ihrer Schritte auftrank. Erwin ihr nach. Arthur stand allein da. Alles verschwunden. Alles aber auch in seinem Kopfe so leer von Gedanken, daß er nichts vermochte, als regungslos immer wieder dahin zu sehen wo sie gestanden, unfähig zu denken was aus ihm geworden sei oder aus ihm werden sollte. — Emmy ging wieder an Erwins Arme durch die Straßen. Sie war betäubt; nur wenn ihre Augen an den erleuchteten Läden herglitten, die sie meistens schon dem Ansehen nach kannte, fühlte sie wie sie sich in Gedanken so ganz schon als zukünftige Bewohnerin der Stadt angesehen und sich nun wieder als losgerissen betrachtete. Alles war ihr fremd; fast wie eine Erinnerung schon die sie vorwegnahm, als sei sie in Wahrheit längst weit fort und dieser Anblick nur ein Traum, der in ihr aufstieg. Wie ein Soldat in der Schlacht die Kugel zuerst nicht fühlt die ihm da oder dort plötzlich im Körper steckt, nur eine dumpfe Erschütterung, keine Schmerzen, so war ihr zu Muthe. Mit Erwin redete sie nicht. Nur an der Thür des Hotels sagte sie: Gehen Sie mit hinauf, bitte! Und als er zögerte: Thun Sie es um meinetwillen! Mrs. Forster sagte nichts als Emmy mit Erwin erschien. Nicht einmal einen bezeichnenden Blick warf sie ihnen zu. Keine drei Minuten aber war Emmy im Zimmer, so gab ein unbestimmtes Etwas der Frau zu erkennen was geschehen sei. Doch ließ sie sich nichts merken. Hier sind noch Briefe, sagte sie. Wir können direkt von Hamburg weitergehen, wir werden so gut wie erwartet sogar zu Hause. Es ist meine Anwesenheit dort dringend nothwendig. Oh, sagte Emmy matt und theilnahmlos. Möglicherweise daß wir in Hamburg morgen gleich von der Bahn auf das Schiff gehen. Ja, Mutter, sagte Emmy. Erwin bat jetzt um die Erlaubniß, die Damen mit dem Wagen abholen zu dürfen und nach der Bahn zu fahren. Es war gerade noch Zeit, ruhig und ohne Eile zusammen den Thee zu trinken. Erwin wäre gern geblieben, aber er schwankte ob er es Emmy's wegen thun oder unterlassen sollte. Emmy hatte sich auf das Canapee still hingelegt, ihre Mutter saß am Schreibtisch um einige Briefe noch rasch abzuthun, Erwin auf einem der Koffer als gehörte er selbst zu der Expedition. Eine geraume Zeit war so verflossen, als der Diener eintrat und Mrs. Forster eine Karte reichte. Der Herr sei unten und warte. Mrs. Forster rief Emmy zu sich, deutete mit dem Stiele der Stahlfeder auf die Karte und sah Emmy an. Diese schüttelte leise mit dem Kopfe und ging schweigend auf ihren Platz zurück. Sagen Sie dem Herrn, bemerkte die Mutter jetzt gegen den Diener, wir bedauerten sehr, ihn mitten in der Abreise nicht mehr sprechen zu können. Erwin wußte wer es sei,

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aber er fühlte keine Aufforderung in sich, hinauszugehen und Erläuterungen zu geben oder zu empfangen, die zu nichts mehr führen konnten. Er blieb sitzen wo er saß und spann den ins Stocken gerathenen Gedankenfaden weiter. Er sah nach Emmy nach einer Weile. Es fiel ihm auf, daß sie statt sich nieder auf das Canapee zu legen, auf halbem Wege dahin gleichsam Halt gemacht. Sie rührte sich nicht; er sah schärfer hin; er nahm das Licht und ließ es ihr grell ins Gesicht scheinen: es war blaß und wie leblos. Eine Flasche Eau de Cologne stand da; noch ehe die Mutter etwas gemerkt, goß er davon über sein Taschentuch und rieb ihr die Schläfe damit. Dann rief er leise: Mrs. Forster! Die Frau sprang auf. Miß Emmy hat sich ein wenig überangestrengt heute, sagte er ruhig. Die Frau eilte auf Emmy zu, stieß Erwin fast zurück und warf sich vor ihrem Kinde nieder, das die Augen wieder öffnete und matt lächelte. Es war nichts, sagte sie, schlang den Arm um ihrer Mutter Hals, zog ihren Kopf an ihre Brust und küßte sie. Es war wirklich nichts, Mama. Sie nahm Erwin das Tuch aus der Hand, athmete davon ein und setzte sich anders, um zu zeigen, daß sie wieder wohl sei. Jetzt will ich mich noch ein wenig ruhen, sagte sie dann, stand ohne Hülfe auf und legte sich auf ihrem alten Platze so frei und anstrengungslos nieder, daß Erwin und ihre Mutter ganz sorglos sein durften. Mrs. Forster zog ihn in die andere Stube. Sie hat Arthur gesehen? fragte sie. Ja, antwortete er. Bei Ihnen? Er schwieg. Wo? Bei ihm selbst? Ja, sagte Erwin. Und Sie waren zugegen? Und es war von einer Verbindung zwischen beiden die Rede? fuhr sie fort und ihre Stimme versagte beinahe. Ja, sagte Erwin. Mrs. Forster hielt ein Paar Augenblicke inne. Und der Graf wies meiner Tochter Hand zurück? fragte sie dann. Erwin schwieg. Sie wiederholte die Worte. Ja und nein, antwortete er jetzt zögernd. Das ist keine Antwort! rief sie. Arthur, sagte Erwin, war in einem Zustande von Erregung, der ihn unfähig machte zu wissen, was er that. Für einen Mann ist das keine Entschuldigung, sagte Mrs. Forster mit kühler Verachtung. Erwin fühlte weder Lust noch Beruf, Arthur zu entschuldigen, und schwieg. Auch Mrs. Forster schien nichts weiter hören noch fragen zu wollen. Sie gingen beide wieder zu Emmy zurück. . Wir werden ohne Zweifel heute Abend reisen können, sagte Mrs. Forster, Emmy's Haar streichelnd, als solle Erwin angedeutet werden, daß man ärztliche Bedenken nicht wünsche. Dann zu ihm gewandt: Ich kenne ihre Natur, das war vorübergehend. Nicht wahr, mein Kind? Ja wohl, Mama, rief Emmy aus, wir reisen in jedem, jedem Fall. Ich gehe, um mit dem Wagen hier zu sein wenn es Zeit ist, sagte Erwin und empfahl sich. Emmy athmete weit auf, als er gegangen war. Sie hielt ihrer Mutter Hand auf ihr Herz gedrückt. Endlich konnte sie weinen, es war eine so große Wohlthat für sie. Und dann zum ersten Male sprachen Mutter und Tochter über Arthur, und die Frau erfuhr, was in Emmy's Herzen so rein aufgeblüht und jetzt so grausam zerstört worden war. Schweigend hörte sie die Erzählung an. Sie verschob die Mittheilung von Dingen, die Emmy jetzt erfahren mußte, auf spätere Zeiten. Es leitete sie ein warnendes Gefühl, als könne die grenzenlose Verachtung, die sich ihrer gegen Arthur bemächtigt, in Emmy's Herzen ein beschönigendes Mitleid erwecken. Ein Einziges nur hätte sie jetzt fast bedauern lassen können daß ihre Abreise nicht verschoben worden war: sie sah sich der Gelegenheit beraubt, dem Grafen zu beweisen, wie gründlich sie ihn als einen elenden Wurm betrachtete, der aus dem Staube ihre Tochter anzublicken gewagt. Nur das Eine that sie was in ihrer Macht stand: es lag eine kleine photographische Karte Arthurs da, sie nahm sie, sah sie an, riß sie mitten durch und warf sie zu Boden.

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Es ist seltsam, Emmy hatte sich für so ganz unempfindlich gehalten jetzt, die Welt hätte stückweise zerbröckeln und in einen ewigen Abgrund abstürzen können, sie würde ruhig auf ihrem Platze erwartet haben bis die Reihe an sie käme, ohne nur einen Schritt zurückzuweichen; ihrer Mutter Handlung jedoch schnitt ihr auf's neue mit solcher Schärfe durch das Herz, daß sie noch einmal zu ermatten fürchtete. Sie sah die zerrissenen Stücke auf dem Teppich schimmern. (Sie konnte die Augen nicht abwenden, sie sah nur die beiden weißen Flecke. Sie verbarg es vor ihrer Mutter, aber sie ersehnte den Moment, wo diese ihren Platz veränderte. Es war draußen etwas zu bestellen, Mrs. Forster ging hinaus; wie ein Raubthier sprang Emmy auf, griff nach den Stücken und steckte sie zu sich. Allerlei alte Couverts und Zeitungen bedeckten den Boden umher, so daß die zerrissene Karte nicht auffiel. Auch bemerkte Mrs. Forster nichts, und daran jetzt zu denken und ein Auge darauf zu haben, wäre ihr doch nicht in den Sinn gekommen. — Es schlug elf Uhr. Die Damen saßen im Coupe, außer ihnen noch ein Herr und eine Dame darin. Erwin stand an der Thür und hatte die beiden Gestalten zum letzten Male im Auge. Er fror, die Luft war plötzlich eiskalt geworden und es fielen dicke Schneeflocken. Worte zu tauschen waren nicht mehr viele zwischen den Dreien. Was wäre noch zu sagen gewesen auch? Wie sehr Mrs. Forster ihn schätze, hatte sie ihm oft genug zu erkennen gegeben, und sie und Emmy wußten, was er für sie empfand. Sie nickten ihm zu aus der Tiefe des Coupe's, sie saßen an der anderen Seite und die Fremden zwischen Erwin und ihnen. Auch Emmy nickte; Erwin war glücklich, daß sie aus Versehen sein Taschentuch behalten, auf dem er ihr vorhin die Eau de Cologne gegeben. Es läutete zum zweiten Male. Einige verspätete Mitfahrende keuchten mit Mantelsäcken heran und wurden rasch in die Waggons gebracht. Es läutet zum dritten Male. Da erscheint noch Einer, geht mit großen Schritten die Reihe der Wagen entlang und kommt zu der Thür, an der Erwin stand. Eben sollte sie geschlossen werden. Erwin tritt zurück. Der Fremde zeigt sein Billet, der Schaffner öffnet die Thür wieder und läßt ihn ein. Arthur war es. Kaum das geschehen, als der Conducteur dem Maschinisten das letzte Zeichen gab; der Zug setzte sich in Bewegung. Erwin sah ihn langsam verschwinden in Dunkelheit und Schneegeriesel. Ein Gefühl schauderhafter Verlassenheit durchzuckte ihn. Seine Rolle war zu Ende; was ging ihn an, was die die davon fuhren miteinander erleben und die Kunde davon, wann konnte sie ihn erreichen? Er fuhr ins Hotel zurück. Ostensibel, um zu sagen man möge allenfallsige Sendungen an die Damen ihm zukommen lassen, eigentlich aber weil er noch Menschengesichter sehen wollte. Im Gastzimmer erblickte er den alten Oberst und den Kunstfreund bei einem Lichte allein trübselig dasitzend. Der Oberst rauchte, der andere führte, wie er in Fällen innerer Erregung zu thun Pflegte, mit seinem geschlossenen Munde (unter Zuziehung der zunächst umherliegenden Muskeln und Falten) wunderbare stillschweigende Exercitien aus. Beide erhoben sich als Erwin kam, jeder bemächtigte sich einer seiner Hände und sie alle Drei bildeten eine höchst wunderbare Gruppe. Ja, ja, die Dinge dieses Lebens müssen ein Ende nehmen, sagte der Oberst, setzte sich wieder und fuhr fort eine Weile ja, ja, ja, ja zu sagen, während Erwin, als Dritter im Bunde kein Wort äußerte und doch eine geschlagene Stunde noch in der Gesellschaft aushielt, nur weil er daran dachte, wie oft sich Emmy's liebes Gesicht in den Augen der beiden alten Herren abgespiegelt.

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Zweiter Theil. Vierzehntes Capitel. Zwei Blicke hatten Arthur empfangen als er in den Waggon eintrat: einer voll tödtlichen Schreckens, der andere voll tödtlicher Abneigung. Arthur selbst aber schien die Damen gar nicht zu sehen. Er hatte dicht neben der Thür Platz genommen durch die er eingetreten war, so daß die übrigen Passagiere ihn von Mrs. Forster und ihrer Tochter abschnitten. Auch machte Arthur keinen Versuch ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er hüllte sich tief in seinen Mantel und sah unverwandt in die finstere Nachtluft hinein, die ihm mit Schneeflocken ins Gesicht schlug. Aus Bitten der einen fremden Dame wird das Fenster dann geschlossen, und bald ist das Coupe von nichts ausgefüllt als dem gleichmäßigen Rütteln des Zuges und dem leisen Klirren der Lampe, die aus ihrer Glocke, in deren unterstem Theile ein kleiner Oelpfuhl hin und her schwankt, trübe genug auf die Insassen herabzittert und auf den Fensterscheiben das Innere des Coupe's wiederspiegelt. Auf der nächsten Station steigt der eine Fremde aus. Mrs. Forster ist im Begriff den Conducteur um andere Plätze zu bitten, als die Erwägung, daß es zuviel Ehre für Arthur sei, ihn überhaupt zu bemerken, sie diese Idee wieder aufgeben läßt. Auf der folgenden Station steigt auch die fremde Dame aus. Die Drei sind jetzt allein. Mrs. Forster öffnet das Fenster ein wenig, sie will mit dem Grafen wenigstens nicht dieselbe Luft athmen. Das Wetter ist ganz und gar umgeschlagen. Man hört den Wind pfeifen und durch die kleinen Ritzen des Fensters dringt der Schnee so dicht herein, daß Mrs. Forster das Fenster wieder ganz Heraufziehen muß. Die Scheiben sind auf ihrer Seite wie mit weißer Wolle bedeckt, während Arthur an der Seinigen die Flocken stürmen sieht und neben dem Zuge eine Reihe leuchtender Vierecke, von den Ausstrahlungen der Fenster gebildet, die mit schritthaltender Schnelligkeit in langer Folge über die weiße Fläche dahinfliegen. Die Erinnerung beginnt ihm die eben erlebten Ereignisse nun schon als weit hinter ihm liegende Thatsachen vorzumalen. Er hatte, als Erwin und Emmy gegangen waren, noch lange so gestanden. Die alte Köchin erweckte ihn zuerst wieder, die erstaunt über die Heftigkeit des Gespräches und dann das plötzliche Davongehen, nachdem sie eine Weile durchs Schlüsselloch geschaut und den Grafen regungslos wie eine Statue hatte stehen sehen, sich ein Herz faßte und eintrat. Haben der Herr Graf gerufen? Arthur schreckte mit einem Blicke auf, der sie schleunigst den Rückzug antreten ließ. Allein ihr Erscheinen war ein Anstoß, wie an den Perpendikel einer stockenden Uhr. Seine Gedanken bewegten sich wieder, und jetzt, wie um das Versäumte nachzuholen, mit rasender Geschwindigkeit. Tausendfaches was zugleich auf ihn eindrang. Das Gefühl, Emmy beleidigt zu haben. Die wahre Empfindung, daß das was Erwin ihm in Betreff seiner Standesveränderung verheimlicht hatte, nur aus Rücksicht auf ihn selbst ein Geheimniß geblieben sei. Erwin stand wie ein Held vor ihm. Ein drittes aber kam jetzt dazu. Der Mensch bedarf lebendiger Beispiele um sich selbst zu begreifen im Guten, und zu entschuldigen im Bösen. Im Hinblick auf Andere thun und unterlassen wir mehr als uns im Momente klar ist. Arthur hatte längst das Schimpfliche gefühlt, das dies absolute Nichtsthun in Jahren wo alle Kräfte auf Thätigkeit drängen und das Ehrgefühl vollendete Thaten verlangt, mit sich brachte. Darin wohl fühlte er sich berechtigt, daß er sich vorzurechnen im Stande war, an der Stelle wo er nun einmal stehe, könne er nichts vollbringen, es sei ihm verwehrt sich geltend zu machen; trotzdem aber ahnte er immer wieder, es sei hier etwas nicht in der Ordnung. Und nichts machte ihm das Wiederzusammentreffen mit Erwin so wohlthätig, als der vermeintliche Glaube: auch

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dieser lebe ja nur so hin, verwalte, passiv die Welt betrachtend, seine Güter und beschäftige sich gelegentlich mit chemischen und medizinischen Studien, mit Kunst und Politik, wie es einem hochgestellten Manne wohl anstand. Fast absichtlich hatte er vermieden in das Detail einzudringen. Arthur hatte sich wie berechtigt gefühlt der Welt gegenüber, im Anblicke Erwins. Er glaubte sich verzeihen zu dürfen, was dieser erlaubte. Diese Luftschlösser waren zerstört jetzt! Alles, was Erwin von sich erzählte, was vorhin nur in inhaltslosen Worten in ihn eingedrungen und im Ohr festgefroren war gleichsam, begann plötzlich zu klingen und sich zu wiederholen. Und indem ein ganzer, künstlich bis dahin gehegter beengender Horizont mit einem Schlage zusammenbrach, fühlte Arthur, daß als einziges wahres Gefühl seine Leidenschaft für Emmy zurückblieb, daß nichts Werth habe auf Erden neben dem Besitze ihres Herzens; und das Bewußtsein, dies für immer von sich fortgestoßen und verloren zu haben, fiel mit furchtbar beängstigender Wucht auf ihn nieder. Wie neu geboren erschien er sich, wie erwacht zur wahren Wirklichkeit des Daseins. Er stürzte in das Hotel um Emmy zu sehen, um ihre Mutter zu sehen, um ihnen zu Füßen zu fallen, sich an sie anzuklammern und mit Thränen ihre Verzeihung zu erflehen. Man wies ihn ab. Er eilte zu Erwin. Er fand ihn nicht. Er eilte zurück in's Hotel, aus dessen Thür ihm Erwin jetzt gerade in den Wurf kam. Krampfhaft ergriff er dessen Arm, Erwin aber, sich losmachend, antwortete kalt und eisern: Sie reisen heut Abend ab. Reisen ab? stotterte Arthur, den es überlief. Ja, und zwar um deinetwillen, sagte Erwin in demselben Tone. Wer sein Glück und das eines Mädchens, das er nicht verdient, so zerstört, der sollte. Er vollendete seinen Satz nicht, sondern wandte sich ab und ließ Arthur stehen. In diesen aber war ein anderer Geist gefahren. Vom Portier des Hotels erlangte er Nachricht, wohin die Reise ging. Er fuhr nach Hause so rasch die Droschke vorwärts wollte. Das aus dem Erlöse der Gemälde beschaffte Geld kam ihm jetzt zu Statten, es lag da als wäre es für diesen Zweck beschafft worden. Seinen Banquier setzte er in Kenntniß, daß er verreise. Zu seinem Pferde eilte er doch noch persönlich und nahm mit dem Stallmeister Rücksprache, ließ auch den alten Oberst bitten, es zuweilen zu reiten. Glücklich langte er dann bei guter Zeit auf der Bahn an, beobachtete aus der Entfernung wie Erwins Equipage die Damen brachte, sah in welches Coupe sie einstiegen und erwartete den letzten Moment, um sich gleichfalls hineinzubegeben. — Soweit war er gekommen. Doch was nun? Er machte während sie so weiter fuhren, keinen Versuch sich den Frauen zu nähern. So sehr es ihn drängte, sie wissen zu lassen was er fühlte, es ihn verlangte sich vor ihnen zu erniedrigen: jetzt damit zu kommen, erschien ihm wie ein unritterlicher Ueberfall. Er hoffte am nächsten Tage Gelegenheit zu finden. Bei Allem was in ihm herumtobte war dennoch das Gefühl, Emmy so nahe sein zu dürfen, ganz beglückend für ihn. Das Rütteln des Waggons erweckte Filiationen von Erinnerungen und Zukunftsgedanken, die ihn trösteten. Nur zuweilen ward ihm seltsam, wenn er der letzten Tage gedachte: wie er geschwiegen, wie er kostbare Momente versäumt, und warum? Und wenn er sich dann eingestand, es habe unbewußt seiner (vielleicht irrte er aber auch, denn er klagte sich jetzt fast zuviel an) der Unterschied des Standes ihn zurückgehalten, dann stieg ihm das Blut heiß zu Kopfe und er verwünschte das was er nun seine Verrätherei nannte. Und so von Einem zum Andern springend, im Ganzen aber doch immer das Bessere für das Gewissere haltend, ließ er sich mit Emmy vorwärtsreißen durch die Nacht und den Sturm, der allmählich den Schnee fast wie in ganzen Wolken ausschüttete und die Erde so hoch bedeckte, daß die Lokomotive dadurch behindert langsamer fuhr und auf der nächsten Station Rath gepflogen wurde zwischen den Bahnbeamten und berechnet, um wie viel Stunden man später anlangen werde. Hatte man sich mit solchen Befürchtungen von der Station entfernt, so trat sehr bald nun die Frage auf, ob man überhaupt weiter vorwärts könne. Der Schnee schien schiffsladungsweise niederzufallen, kleine Vertiefungen, welche die Bahn durchschnitt,

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waren kaum zu durchbrechen, die Schnelligkeit der Fahrt nahm immer mehr ab. Alles was man hoffte war jetzt, die nächste Station zu erreichen und von dort nach einer Hülfs-Lokomotive zu telegraphiren. Bald aber mußte dieser Gedanke aufgegeben werden. Ein Einschnitt im Terrain hatte sich mit Schnee angefüllt, daß er ein unübersteigliches Hinderniß bildete, eine Schanze, die nur durch längere Belagerung zu nehmen war. Der Zug hielt. Stimmen wurden laut nach Maßgabe des Erwachens all der Schläfer, die von dergleichen nicht geträumt. Fenster wurden niedergelassen, gerufen, gefragt in all den erleuchteten Waggons, die wie eine in die Wildniß gerathene Straße einer Stadt dastanden; ein Lärm, der zu der schweigenden Oede draußen einen wunderlichen Gegensatz bildete. Arthur öffnete die Thür und sprang ins Freie. Er versank beinahe. Die Schaffner wateten in ihren Pelzen stillschweigend umher und gaben keine Antwort, da man von ihnen Dinge wissen wollte, die nicht zu beantworten waren. Arthur erreichte die Lokomotive, die wie festgemauert dastand. Der Maschinist hatte natürlich nicht bessere Auskunft zu geben als die Schaffner. Lange Jahre sei dergleichen nicht geschehen auf dieser Bahn. Berechnen lasse sich nicht, ob das Wetter Umschlagen werde, ob man nicht vielleicht erst nach Tagen sich herausarbeiten könne, denn die Fälle waren ja erinnerlich, wo in einzelnen Jahren der Schnee haushoch gefallen sei. Jedenfalls, meinte er, müsse man bald auf der nächsten Station merken, was geschehen sei und Hülfe senden. Wann aber und was diese ausrichten könnte, war eine Frage, die sich Jeder nach Belieben beantworten konnte. Die Nacht über, das stand fest, werde man hier verharren müssen, da der Sturm eher zu als abnahm. Arthur suchte sein Coupe wieder zu erreichen. Die unvorhergesehene Calamität änderte die Verhältnisse. Es schien ihm erlaubt, den Damen, ganz wie ein Fremder, mitzutheilen wie die Dinge lägen. Zu seinem Erstaunen aber, als er wieder ins Innere des Waggons kletterte, fand er einen Mann darin und zwar einen, mit dem Mrs. Forster im Gespräche war. Er kam gerade recht, um Folgendes anzuhören: Ich weiß nicht meine verehrten Damen, aber ich sollte meinen und dann ins Englische fallend: ich kann mich nicht irren, aber, aber — nein, Sie sind Mrs. Forster aus NewJork! Sind Sie es nicht? — Ich denke, ich bin es, antwortete Mrs. Forster ihm die Hand reichend, und das ist Emmy! — Oh, Miß Emmy, schrie der Fremde jetzt mit einer Stimme als wenn ein Bär sich die größte Mühe gäbe eine Nachtigall nachzuahmen — oh Miß Emmy! — Oh — und nun begann er auch Emmy die Hand zu reichen, und ein gegenseitiges Versichern wie very glad man sei, sich wiederzufinden, fand zwischen den Dreien in einer Weise statt, die Arthur, der der stumme Zeuge dieser Scene war, mehr und mehr zur Ueberzeugung kommen ließ, dieser fremde eingemummte Mensch, dessen Gesicht er noch nicht hatte sehen können, sei von der Hölle abgesandt um seine Qualen zu vermehren. Eine furchtbare Eifersucht bemächtigte sich seiner. Endlich wandte sich der Fremde um und bemerkte Arthur, an dessen schneebedeckter Gestalt er sah daß er von draußen komme. Haben Sie mit einem der Beamten gesprochen? fragte er ihn ohne Weiteres, aber mit dem angenehmsten, wohlwollendsten Accente. Jawohl, antwortete Arthur; der Maschinist war der Meinung, wir würden die Nacht über jedenfalls an dieser Stelle verweilen müssen. Ich fürchte es, sagte der Andere. Diese Art Schnee im Frühling pflegt, wenn er einmal fällt, gründlich zu fallen. Ich weiß wirklich nicht, wozu ich rathen soll. Vielleicht sind Häuser in der Nähe, meinte Arthur; aber wie hingelangen? Und wie sie auffinden? sagte der Fremde. Ich vermuthe, die guten Leute hier am Zuge werden selbst nicht wissen wo wir sind. Ich will fragen, sagte Arthur und stieg wieder aus. Kennen Sie den Herrn? fragte der Fremde Mrs. Forster. Nein, Mr. Smith, antwortete sie. Ich bin im Augenblick wieder da, rief Mr. Smith nach einer Weile Nachdenken. Ich glaube, man wird uns bald mit Arbeitern entgegenkommen. Wenn wir ein

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Unterkommen für die Nacht fänden, wäre es allerdings gut, denn es ist kalt, und in der Kälte so still zu liegen fatal. Ich verlasse Sie auf einen Augenblick. Damit stieg Mr. Smith gleichfalls aus und traf, nach wenigen Schritten, Arthur, der mit einem der Schaffner unterhandelte. Wo wir sind, weiß ich ganz genau, sagte dieser, und zwar dicht bei einem Dorfe. Ich getraute mich im Finstern hinzufinden. Leider darf ich den Zug nicht verlassen. Sehen Sie dort in der Richtung. Beide sahen hin. Der Schneefall hatte nachgelassen, man unterschied deutlich die mattleuchtende Erde weithin von dem unendlich schwarzen Himmel, erkannte aber auch nichts als diesen einzigen Gegensatz. Ich meine es ziehen sich dort Bäume hin und zwar zwei Reihen wie sie einen Weg einzufassen Pflegen, sagte jetzt Mr. Smith indem er die Hand über die Augen hielt zum Schutze gegen den Nordwind, der im Wechsel gegen den West kalt zu blasen anfing. Nun, dann habe ich Recht, sagte der Schaffner und wir sind gerade auf dem Flecke wo ich meinte. Diese Allee führt Sie nach weniger als zweihundert Schritten in das Dorf, das wir nicht sehen, weil ein schmaler Streif Tannenwaldung quer davor liegt. Wollen Sie es wagen? Die Bäume bieten Ihnen sichern Anhalt der Richtung. Vielleicht finden Sie dort einen ganz comfortablen Aufenthalt gegen hier, wo der Wind jetzt verzweifelt schneidend wird. Was meinen Sie? wandte sich Smith zu Arthur. Unsere Damen würden eine sehr unangenehme Nacht hier verbringen, kein Mensch weiß, wie lange wir fest sitzen. Die Gesellschaft scheint es im Uebrigen zwar abwarten zu wollen, doch das ist ihre Sache. Jedenfalls haben wir nichts zu versäumen und der Zug läuft uns nicht davon. Ich stehe gern zu Diensten, sagte Arthur. Während sie so verhandelten, hatte sich ein Kreis von Leuten um sie gebildet, welche zuerst schweigend zuhörten, dann aber die geäußerten Ideen selbstständig gleichfalls aufzunehmen begannen. Da einer in Pelz gehüllt von oben bis unten und eine gestrickte Reisemütze mit rother Puschel tief über die Ohren gezogen. Ein anderer mit einem Burnus über den Kopf, dessen Spitze steif in die Luft ragt. Zwei Handlungsreisende mit Plaids bewickelt von oben bis unten und in dicken Pelzstiefeln; einer, der wie der Mann der sein Bett aufnahm und wandelte, eine weiße rothberänderte Wollendecke um sich geschlagen dasteht, in die der Wind greift; ein paar Militärs in Mänteln mit Pelzkragen; ein alter geprüfter Handlungsreisender, der so in alles Mögliche vermummt ist, daß nur die glimmende Cigarre andeutet, wo vorn und hinten sei: diese sämmtlich vereinigen sich jetzt im Entschlusse, das Dorf gleichfalls zu erreichen. Gut, ich laufe es den Damen zu sagen, rief Smith, und bin gleich wieder hier, erwarten Sie mich. Währenddem begann die übrige Gesellschaft schon unter Lachen und Schreien den Damm hinunter zu arbeiten, um die Straße drüben zu erreichen. Vortrefflich, rief Smith indem er noch einmal zurückblickt, die treten uns den Schnee fest. Es dauerte nicht lange so war er wieder da und trat nun mit Arthur gleichfalls die Fahrt an. Die vorausgeschickte Avantgarde hatte in der That eine Art Weg für sie beide hergestellt, so daß sie rasch die Allee erreichten, auf der vom Winde der Schnee ziemlich fortgebürstet worden war. Sie durchschnitten die niedrigen Tannen, dicht mit Schnee belastet und nur hier und da unter den Aesten tiefschwarze Löcher zeigend, und waren gleich im Dorfe, das dalag als hätte hier tausend Jahre lang ewiger Winter gewaltet.. Einige Reihen von kleinen Häusern sahen sie zu beiden Seiten der Straße, alle von Vorgärten oder Höfen umgeben, schneebelastet und todtenstill. Da stand die Kirche mit breitem niedrigem Thurm und nackten Bäumen umher: da wohnte der Schmied, wie eine Anzahl Räder und Ueberreste von Rädern vor einem Hause mit leerem dunklem Vorbau andeuteten. Da endlich, ein Haus weiter, erleuchtete Fenster und eine offene Thür, wie ein Lichtstreif andeutete. Arthur und Mr. Smith zogen vor, erst durch die Scheiben zu blicken. Durch Cigarrendampf, in den ein paar Talglichter ziemlich machtlos hineinleuchteten,

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schwankten die Umrisse von Gestalten, in denen sie die Reisenden erkannten. Allerlei leere Gläser standen auf einem Tische; vor dem Ofen eine verschlafene Magd, einheizend als kröche sie selber am liebsten hinterher; mitten in der Stube ein Engländer, als wäre er beim Rasirtwerden versteinert, die übrigen eine Frau mit Reden bestürmend, aus denen Kaffee, Grog und ähnliches herausklang. Hierher können wir unsere Damen nicht bringen, äußerte Mr. Smith, nachdem er eine Weile in das Chaos hineingestarrt, es muß anderweitig Quartier geschafft werden. Eine Bemerkung, der Arthur beipflichtete, obgleich ihn innerlich etwas beinahe zum Widerspruch reizte, weil Smith so ohne weiteres das Kommando übernommen hatte. Arthur fing an, das ganze Ereigniß als einen offenbaren Versuch der Vorsehung zu betrachten, ihn und Emmy sich wieder näher zu bringen. Jetzt fragt sich, welchen von diesen Palästen wir die Ehre geben, rief Smith. Die Auswahl ist schwierig, antwortete Arthur, da ein Haus wie das andere aussieht. Ich dächte, wir gingen an das erste beste. Das erste rechter Hand! rief Smith und steuerte darauf hin. Natürlich war die Hausthür verschlossen und Holzladen bedeckten die Fenster. Hollah hoh! rief er und begann auf einem der Fenster mit den Fäusten einen Wirbel zu schlagen. Zuerst keine Spur von Antwort oder nur von Bewegung im Innern. Allmählich, nachdem beide mit Klopfen einen systematischen Lärm zu Stande gebracht, gelang es, eine innerliche Stimme zu erwecken, und nach sehr mangelhaftem längerem Unterhandeln kam es schließlich dahin, daß sich der obere Theil der Hausthüre öffnete und ein Kopf mit über die Ohren gezogener Zipfelmütze herausschob, dessen Inhaber, ein älterer Mann von schwacher Fassungskraft, durch Smiths Bemühungen nun so weit gebracht wurde, den Thatbestand zu begreifen. Weibliche Stimmen mischten sich, aus verschiedenen Richtungen der Dunkelheit des Hauses entkreischend, in die Unterhaltung. Die Thür ward aufgethan, und der entgegenkommende Geruch zeigte, daß sie direkt in die Küche führte. Ein unbestimmtes Wesen war bereits damit beschäftigt, einen Haufen noch lebendiger Kohlen anzublasen und zeigte bei jedem Pust hinein, das einzige was überhaupt zu sehen war: ein hübsches, von der auffahrenden Gluth stoßweise beleuchtetes Gesicht, dessen Athem bald die Flammen erweckte. Es bot sich nun ein recht behaglicher Anblick. Der Raum war Vorplatz, Küche und Wohnstube zu gleicher Zeit. Smith erklärte den Ort für geeignet; Mrs. Forster und ihre Tochter würden sich hier vortrefflich befinden. Einstweilen bat er frisches Wasser in dem Kessel beizusetzen, damit man sich möglicher Weise warmes Getränk bereiten könne. Unter diesen Auspicien ward der Rückweg angetreten. Der Zug lag in Schweigen versunken. Aus der Ferne sah er seltsam aus, die lange Linie der Fenster strahlend wie ein Schloß mit aneinanderstoßenden Gemächern. Die meisten Passagiere hatten sich darein ergeben, die Sache schlafend abzuwarten. Einige mit den Maschinisten und den Conducteur trampten mit angezündeten Cigarren im Schnee auf und nieder und besprachen die Lage der Dinge. Mr. Smith präsentirte sich den Damen wieder, nachdem er zuvor seine Decken und kleines Gepäck geholt und begann mit den lockendsten Beschreibungen darzulegen, wie praktisch es sein werde diesen Aufenthalt hier bei Kälte und Zugwind mit der behaglichen kleinen Küche im Dorfe zu vertauschen. Auch einen Schirm hatte er, da der Schnee neu zu fallen begann. Dann producirte er ein paar funkelnagelneue, wie er beschwor, Pelzstiefel, in die Emmy hineintreten mußte, während er der Mama vordemonstrirte, daß sie, wenn sie zwei Paar dicke wollene Strümpfe über Stiefel und Ueberschuh, ein Paar über das andere anlegte, gleichfalls vollkommen sicher sein würde. Die kleinen Paquete der Damen, denn man mußte etwas haben um sich eventualiter umzuziehen, luden sich die Herren auf, und so ward der Weg angetreten. Arthur allein voran, dann Mr. Smith und Emmy, zuletzt die Mutter, einer hinter dem andern damit man immer in die gleichen Löcher eintreten könne, erreichten sie bald und glücklich das Dorf, wo ihnen durch die Thür

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des Hauses das Feuer so lebendig gastlich entgegen flackerte, daß die ganze Expedition den Anschein des angenehmsten Abenteuers anzunehmen begann. Es stellte sich heraus, daß jenes junge Ding dessen Gesicht vorhin so freundlich geleuchtet hatte, die Tochter der Bauersleute war, welche als Dienstmädchen in die Fremde gehend und später zur Kammerjungfer avancirt, sich gerade bei ihren Eltern zu Besuch befand. Hanne, oder wie sie jetzt hieß Jeannette, fühlte sich glücklich, zwei Damen zu begegnen, die, wie sie augenblicklich erkannte, ihrer Dienste durchaus würdig waren. Einige Worte Englisch zwischen Emmy und ihrer Mutter gewechselt, genügten, Jeannettens Ahnungen zur Gewißheit zu erheben. Sie wußte jetzt, zum maulaufsperrenden Erstaunen ihres Vaters, der in der Ecke stand und sich bald hier bald da kratzte, (eine Art stillschweigender Theilnahme am Vorgehenden) Wunder des Comforts herzustellen. Lehnstühle erschienen; zwar sonderbare Holzgestelle aber Lehnstühle. Ein Tisch mit einer blendend weißen Serviette darüber. Ein paar Leuchter darauf mit Lichtern, Fußbänkchen, und dazu Fragen, ob die Herrschaft dies oder jenes beföhle. Kurz, es fehlte nichts zur Behaglichkeit. Es war gegen zwei Uhr in der Nacht. Schlafen wäre das Natürlichste gewesen, allein die Erlebnisse des Tages hätten es bei den Frauen wie bei Arthur ohnedies nicht dazu kommen lassen. Mr. Smith dagegen schien für Schlaf oder Wachen in allen Lagen des Lebens und allen Tageszeiten gleich disponirt zu sein. Erst jetzt lernte ihn Arthur von Gesicht kennen. Ein Urwald blonden Haupthaars und Bartwuchses umhüllte ihn, aber leichtes, frisches, durchsichtiges, gekräuseltes Haar, wie man denkt die alten Deutschen hätten es getragen, und in der Mitte dieser Umkränzung das blühendste, gutmüthigste Männergesicht, mit lichten aber scharfen und wohlgeschnittenen Augen. Gesund, um es mit einem Worte zu sagen. Und dem entsprechend Wuchs und Schultern. Arthur und Mr. Smith nebeneinander sahen aus wie zwei vollkommene Specimens männlicher Kraft und Schönheit, den verschiedenen Nationen angehörend. Und dazwischen Emmy, die diese Vortheile beider Typen gleichmäßig zu besitzen schien: das aristokratisch Feine, Schlanke Arthurs, und das bürgerlich, wohlwollend Feste ihres Landsmannes, denn Smith war ein Amerikaner und zwar stieß das Terrain seines Landhauses, nahe bei New-Jork gelegen, dicht an das Forstersche. Das Arrangement war ein wenig auffallend das nun eintrat. Emmy, in einem der Lehnstühle, dem Herde näher, halb im Dunkel sitzend. Ihre Mutter am Tische mit Mr. Smith. Arthur den Stuhl seitwärts gerückt, als gehöre er dazu und auch nicht. Der Kessel brodelnd auf dem Herde, und Jeannette, die sich in aller Eile hübsch glatt zurecht gemacht, als Hüterin daneben. Jetzt, meine Damen, rief Smith und setzte einen glänzenden kleinen schwarzledernen Handreisesack mit blinkendem Messingbügel mitten auf den Tisch, wird ein M der Zauberei vor sich gehen! Hast Du nicht meinen großen Plaid da? fragte Emmy leise ihre Mutter. Ich glaube wenn ich ihn mir in den Rücken legte, könnte ich ein wenig schlafen. Jeannette suchte bereits, Smith sprang auf und begann seinen eigenen Shawl zusammenzulegen, Arthur aber eilte fort, um Emmy's Tuch aus dem Waggon selbst zu holen. Mrs. Forster athmete auf als er ging. Smith sagte: Ein netter Mann! — Lassen Sie die Zauberei ihren Anfang nehmen, sagte Mrs. Forster. Ich lernte in Berlin, begann Mr. Smith, indem er die Tasche aufschloß, eine höchst liebenswürdige Familie kennen. Gestern Abend als ich Abschied nahm, erschienen alle Kinder, jedes mit einem Geschenk für die Reise, und die Frau vom Hause kam zuletzt mit diesem Sacke, in den alles hineinpaßte. Hier sehen Sie, er packte aus und stellte auf den Tisch (während Jeannette sich im Zustande der höchsten Aufregung befand): ein Flacon mit Thee, eine Büchse mit Zucker, eine Flasche mit concentrirter Milch, ein Fläschchen mit concentrirter Bouillon und so fort an concentrirten und nicht concentrirten Dingen Alles was ich, wie man meinte, für die Seereise nöthig haben würde. Und zu alledem Tasse, Löffel, Gabel und Messer, sowie ein Salzfaß. Und zu jedem Stücke ein kleiner Vers, und jedes Kind kam mit seinem Päckchen so freundlich an, daß ich gerührt war, sagte Mr. Smith. Wenn je von diesen Kindern, fügte er hinzu,

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eins herüberkommt zu uns, so soll es an dem was Essen und Trinken und das Uebrige anlangt keinen Mangel leiden. Nun wußte ich allerdings nicht recht, wozu das Alles gut sein sollte; da ich es aber einmal hatte, nahm ich es mit, und nun sehe ich des Himmels Fügung deutlich, der diese Schätze für meine liebe Mrs. Forster und deren verehrte Tochter bestimmt hat. Und wenn Mrs. Forster es erlaubt, so lege ich alle diese Vorräthe Miß Emmy, nicht der großen Dame von heute, sondern dem liebenswürdigen Kinde von ehedem, zu Füßen, und verlange, damit es nicht ein bloßes Geschenk sondern ein richtiger Handel sei, die Anerkennung dafür, daß ich, noch wie ehedem, der old good Mr. Smith sei und daß man mich auch jetzt und später mit Wohlwollen als Freund annehmen möge. Angenommen, sagte Emmy, die nach Arthurs Fortgehen an den Tisch getreten war. Sie wollte lächeln, brachte es jedoch nicht dazu, sie war zu elend. Angenommen, Mrs. Forster? wandte sich Smith zur Mutter. Angenommen, wiederholte diese. Und nun da es uns gehört, will ich als Emmy's Vertreterin Gebrauch davon machen. Jeannette, in höchster Ekstase über diesen Auftritt, zitterte an Händen und Füßen vor Sehnsucht sich dienstbar zu erweisen, und nach kurzer Zeit war eine Tasse Thee für Emmy bereit, während Mr. Smith am Feuer sitzend die ganze Procedur, vom ersten Aufgießen an bis zum letzten Tropfen den das liebe theure Mädchen schlürfte, verfolgte, als tränke nicht Emmy allein den Thee, sondern tränke er ihn und das ganze Ereigniß, wie der Riese Thor das Meer austrinkt, herunter, auf einen großen Schluck wie ein Glas Grog, an dessen Bereitung zu denken ihm jetzt allmählich in den Sinn kam. Dagegen kam Jeannette nun mit einem Vorschlage, die Damen möchten ihr doch die Ehre anthun, ihr kleines Zimmerchen anzusehen, wo ein Bett und ein Sopha stände und wo sich die Herrschaften besser als hier ausruhen könnten. Mrs. Forster ging und fand alles so frisch und appetitlich, daß das Anerbieten angenommen ward. Mr. Smith nahm jetzt, nachdem er tausendmal eine gute Ruhe gewünscht, in Emmy's verlassenem Lehnstuhle Platz, so jedoch daß er ihn nach rückwärts auf den Hinterbeinen in's Kippen brachte und seine eigenen Füße gegen den Rand des Herdes setzte. In dieser Positur dirigirte er Jeannette mit großer Freundlichkeit, aus den Ingredienzien des kleinen Ledersackes einen guten Grog zu präpariren, wobei diese sämmtliche Büchsen öffnete und zuletzt länger als nöthig war mit dem Löffel im Glase rührte, auch gab er ihr zu verstehen, ihre Dienste seien zwar mit Geld nicht zu bezahlen, würden ihr jedenfalls aber ein außerordentliches Andenken Seitens ihrer aller eintragen. Hierauf mußte sie auch für den zweiten wiederzuerwartenden Herrn ein solches Glas in Bereitschaft setzen, vorher ihm aber Feuer für seine Cigarre geben. Keine Kammerjungfer auf Erden hätte jetzt den brennenden Spahn zierlicher gehalten als Jeannette, woraus ihr Mr. Smith denn wiederum kein Geheimniß machte. Arthur erschien mit den Plaids. Er hatte das Paquet getragen als wären es Krondiamanten. Emmy gehörten sie an, er drückte sie an sein Herz wie ein Kind und ging rasch als dürfe er keine Minute verlieren um wieder in ihrer Nähe zu sein. Und doch war es ihm eine Erleichterung die Damen nicht mehr zu finden. Smith saß am Herde und betrachtete das Feuer. Arthur setzte sich neben ihn und sah gleichfalls dem Knistern und frischen Aufflammen der Gluth zu, in die Jeannette nebst einigen tüchtigen Klötzen einen Arm voll Reisig geworfen. Sind Sie müde? fragte Mr. Smith. Müde ein wenig, aber nicht schläfrig, antwortete Arthur. Ganz mein Fall. Ein Glück, daß wir es so gut angetroffen. Die Damen scheinen ein ganz erträgliches Nachtlager gefunden zu haben. Sie kennen die Damen? Nicht? Arthur bedachte sich und schwieg. Mr. Smith nahm das für Nein, da Mrs. Forster ihm vorhin ganz dasselbe gesagt. Haben Sie bemerkt, welch ein herrliches Wesen die Tochter ist? Smith, indem er dies sagte, sprach damit zugleich stillschweigend ein Doppeltes aus: einmal, daß Emmy hoch genug stand um so von ihr reden zu dürfen, und dann, daß er Arthur für einen Gentleman hielt, dem gegenüber ein solcher Ausspruch nichts unpassendes hatte.

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Arthur zuckte zusammen und schwieg. Sie sind in New-Jork meine nächsten Nachbarn, fuhr Smith fort und stieß die Asche seiner Cigarre ab, die etwas riesenmäßiges hatte wie er selbst, ich kenne die Familie sozusagen von Kind auf. Die letzten zwei, drei Jahre sah ich sie freilich nicht. Sie verließen Amerika. Mr. Forster ist schon länger todt. Das war ein Mann! Es verursachte Arthur einen eigentümlichen Schmerz, von Emmy und ihrer Mutter sprechen zu hören als kenne er sie nicht, als wären sie ihm wirklich immer so fremd gewesen wie sie ihm seit einem Tage waren und für alle Zukunft vielleicht sein würden. Der Vater, wissen Sie, gehörte zu den Männern wie man sie nur bei uns findet, obgleich er ein Deutscher war. Wissen Sie, wo, wie in Amerika, das Leben so völlige Freiheit gestattet und wo seit fünfzig Jahren und länger alle Hallunken und Taugenichtse der alten Welt uns schiffsladungsweise zugesandt werden, wo das ungebundene Dasein überdies eine ganz andere Energie im Guten und Schlechten hervorbringt als man hier zu Lande nur für möglich hält, da bedarf es, um den ganzen Zustand aufrecht zu erhalten, starker Eckpfeiler: und solche Männer besitzen wir, Gott sei Dank. Auf denen ruht eigentlich der Staat. Weshalb haben wir denn festgestanden im letzten Kriege, wo jedes andere Land tausendmal das Gleichgewicht verloren und umgekippt wäre wie ein Schiff ohne Ballast? Das war: daß wir solche Männer hatten, die uns aufrecht hielten! Wenn es noch so toll kam und die sagten: nur den Muth nicht verloren! so glaubte es ihnen das ganze Land, und keiner dachte mehr an Nachgeben. Das sind Leute, wissen Sie, nicht von Eisen, sondern von Stahl. Das sind Männer, die Jeder kennt; Privatleute, aber, wie gesagt, Säulen die einen Bau tragen. Oder besser gesagt: die Anker an denen das große Fahrzeug fest liegt. Wenn Alles drüber und drunter geht: die halten. Das sind Kerls wie Moses der die Juden durch das rothe Meer und die Wüste schleppte. So einer war Emmy's Vater. Gott hab ihn selig. Er starb da das arme Kind eben zur Welt kam. So lange hatten sie darauf gewartet und nun sollte er es doch kaum noch erleben. Ich habe mit dem Mädchen gespielt wie mit meiner Schwester. Ich war ein Junge von acht, neun Jahren, als es zu laufen anfing. Ich hatte eine Affenliebe zu dem Mädchen. Er machte eine Pause. Sie müssen sie bei Tageslicht morgen sehen, fuhr er fort. Auch die Mutter. Betrachten Sie sich einmal den Schnitt der Gesichter. Nicht auf die Schönheit hin, wissen Sie, nein, auf den Schnitt. Sehen Sie, Familien wollen trainirt sein wie Pferde. Es kommt auf die Genealogie an. Es kann nicht ein Ackergaul in ein Rennpferd erster Klasse verwandelt werden, auch das Füllen eines Ackerpferdes nicht. Es geht nicht, und wenn Todesstrafe darauf stände es auszusprechen. Wissen Sie, wir haben Familien drüben, die seit Generationen zu den ersten gehören. Was die gethan und hinter sich haben, daraus ließe sich ein gläserner Thurm bauen und keine trübe Stelle daran, alle rein wie Bergkrystall. Wir haben die Familien, die unsere erste Unabhängigkeitserklärung Unterzeichneten. Das ist so eine Art Adel, man würde es in Europa so nennen. Freilich keiner den man hinterher verleihen könnte. Angeboren, durch eine große That; wer nicht dazu gehört, muß draußen bleiben. Die Frau, Mrs. Forster, stammt aus so einem Hause. Da kann man denken wie die Tochter ausfallen mußte. Es war auch ein Sohn da, den haben sie im letzten Kriege verloren. Das war ein Junge! Drei Schlachten hatte er mitgemacht ohne daß ihm die Haut geritzt worden wäre, da, bei einer Streifpatrouille müssen sie sich einmal vor überlegener Macht zurückziehen. Sie kommen auch glücklich über ein Wasser hinüber, als einer von den Leuten fehlt, Forsters Unteroffizier, er selbst war Lieutenant. Forster also zurück, ich weiß nicht mehr wie die Geschichte eigentlich war, kurz, der einzige Schuß welcher gethan ward bei dieser Gelegenheit traf ihn und zwar gerade ins Herz. Ich war dabei als die Leiche zu Hause ankam. Das war kein Anblick, um ihn je wieder los zu werden. Ich war doch auch mit und habe Manchen daliegen sehen, auf der Brust oder auf dem Rücken, lang hingestreckt oder Arme und Beine in der Luft, aber den armen Jungen da zu sehen, wie von Marmor, und die Frau und die Tochter daneben, wissen Sie, das erschüttert mehr. Wissen Sie: wie man zuweilen Dinge liest, die einen mehr packen als was man mit eigenen Augen je gesehen hat; freilich nur Buchstaben, aber es liegt so

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etwas drin, so etwas man möchte Hexerei sagen, daß es einem immer wieder vor der Seele steht. Deshalb ging Mrs. Forster mit Miß Emmy nach dem Continent. Ich sah sie seitdem nicht wieder. Ich kann Ihnen sagen: wenn mich irgend etwas je erfreut hat, so war es daß ich diesen Leuten hier begegnete, und wenn ich nach Hause komme und mich eines Abenteuers rühmen will, so ist es diese Nacht heute. Wir werden auf demselben Schiffe fahren, denke ich. Ich ahnte nicht, daß wir zu gleicher Zeit in Berlin wären. Arthur war nicht fähig auf diese Eröffnungen des guten Mr. Smith auch das gleichgültigste Wort zu erwidern. Er starrte in die Dunkelheit. Niemand konnte sehen, wie ihm jetzt die Thränen herunterliefen. Er stützte den Kopf in seine Hand und bedeckte das Gesicht. Wissen Sie, fuhr Mr. Smith fort, indem er aufstand um sich diesmal selber ein zweites Glas Getränk zu bereiten, Miß Emmy hat ein Vermögen zu ewarten, wie wenig Andere in New-Jork und Umgegend. Aber die Leute sind einfach, man sieht es ihnen nicht an. Aber wahrhaftig, sie brauchte keinen Dollar in Aussicht zu haben. Ich bin keiner von denen die so oder so den Muth hätten daran zu denken. Die ist nicht für Unsereinen. Ich wäre nicht so eitel, mir das einzubilden. Aber wir haben Leute drüben, junge Männer, die ihrer werth sind. Gottes Segen, wer sie bekommt. Wenig Reden wirken so eindringlich, als wenn ein in gewissem Sinne geistig ganz anspruchsloser Mensch recht aus vollem Herzen ein einfaches, wahres Gefühl ausspricht. Eine Zuthat von Gewähltheit der Sprache würde den Eindruck hier vermindert haben. Nicht das geistreichste Lob, das glänzendste Ausbreiten von Emmy's Charaktereigenschaften hätte sie in solcher Reinheit vor Arthurs Augen erstehen lassen, als Smiths plumpes aber herzliches Ueberquellen so bescheidener Zuneigung. Arthur mußte vernehmen, welche Art Adel Emmy's Familie zugesprochen ward. Es zwang ihn, Vergleiche anzustellen. Er hatte seinen Vater geliebt und verehrt. Obgleich er sich kaum erinnerte ein aus der Seele kommendes Wort von ihm empfangen zu haben, und seine üble Wirthschaft ihn so gut wie zu Grunde richtete, war ihm doch niemals in den Sinn gekommen, mit Vorwürfen seiner zu gedenken. Sein Vater stand rein in seiner Erinnerung vor ihm. Er war eine imponirende, einflußreiche Persönlichkeit gewesen, ein energischer und wie anzunehmen, ein gerechter Beamter. Aber wer entbehrte ihn? Wer hatte ihm je von ihm in dem Tone gesprochen wie Smith von Emmy's Vater? Diese natürliche Menschenwärme im Lobe eines einfachen Mannes, dieses Absehen von den Aeußerlichkeiten die in Europa einer Existenz Glanz und Höhe verleihen, ließ Emmy's Vater in einem Lichte erscheinen als gehörte er zu den patriarchalischen Helden des alten Testaments, von denen auch nicht vielmehr in der Bibel zu lesen steht, als daß sie ihre Herden weideten und ihre Feinde schlugen, zu Gott beteten wenn sie Kraft bedurften, und das Volk hielten wenn es wanken wollte. Jene Empfindung aber flößen sie ein, als wären sie die Stämme ungeheurer Bäume, deren alle Aeste, alle Zweige, alle Blätter aus ihrer einzigen gewaltigen stützenden Mitte Saft und Wachsthum ziehen. Ein Gefühl, das Arthur bis dahin nie gekannt in seiner Seele: das der Niedrigkeit was den Rang betrifft, überkam ihn. Neu, niederdrückend, aber zugleich seltsam erregend als entflössen ihm ungekannte Lebensströme. Denn auch das war ihm niemals beigekommen: sich selbst als Mensch zu denken der sich erst zu etwas zu machen hätte, und es stieg ihm immer klarer auf, diese Arbeit könne keinem erspart bleiben, selbst den Engeln nicht, wenn sie in menschlicher Gesellschaft auf der Erde wohnen wollten. Mr. Smith war unterdessen mit seinem zweiten Glase fertig geworden, hatte frisches Holz aufgelegt, eine neue Cigarre angezündet und nachdem er den Kopf noch einmal aus der Hausthür gesteckt und, fast möchte man sagen: zu seiner Beruhigung, gefunden, es schneie von neuem lustig drauf los, seinen Lehnstuhl wieder ins Kippen gebracht. Ja, mein lieber Herr — erlauben Sie, mein Name ist Smith, und der Ihrige — wenn ich bitten darf? — Arthur, antwortete der Graf; er wußte selbst nicht was ihn abhielt seinen Stand und Familiennamen hinzuzufügen — Ja, mein lieber Mr. Arthur, so sitzen wir hier

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und die Zeit verstreicht. Diese Bemerkung schien Mr. Smith dann so ganz zu erfüllen und zu stillem Nachdenken zu reizen, daß er nach einigen Minuten sein Schaukeln einstellte, den Kopf sinken, auch die Cigarre allmählich verglimmen und aus den Fingern fallen ließ. Arthur begann zu frösteln. Er streckte sich auf eine Bank am Herde aus. Emmy's Decke lag da, so bequem um als Kopfkissen zu dienen, aber er wagte sie nicht zu benutzen, schob sich einen Klotz Holz unter und schlief gleichfalls ein. — Als er wieder erwachte, herrschte Dämmerung in dem Raume, das Feuer war im Verlöschen, durch die Ritzen der Hausthür drang blaues kaltes Licht ein, Smith hörte er nicht weit von sich aufs gesundeste schnarchen. Arthur fühlte sich ruhiger und überdachte seine Lage. Dort die Thür hinter der Emmy ruhte. Er meinte hinschleichen zu müssen um die Schwelle zu küssen die ihr Fuß betreten. Immer noch fühlte er sich glücklich genug, ihr so nahe zu sein, sie sehen zu dürfen und reden zu hören am nächsten Tage, wenn auch nicht ihm zugewandt. Er überschlug was Smith erzählt, eine ungeheure Kluft that sich auf vor ihr, unerreichbar erschien sie. Nichts hatte ihn so erschüttert in dieser Erzählung als das schlichte Geständniß: wie es ihm selbst ja niemals einfallen könne an Emmy zu denken. Und Smith war doch nichts verächtliches, sondern ein Mann der etwas gethan hatte, mit einer Zukunft die viel erreichen lassen konnte. Und Arthur selbst? Was war er? Und wie wenig würde er erst dort sein, jenseits des Oceans! Aber all das vermochte nicht den Vorsatz zu erschüttern, sich an Emmy's Fersen zu heften. Da öffnete sich die Thür der Stube! Kam sie selbst? Kam sie! Zu ihm? Seine Phantasie war noch wahnsinnig genug, ihm mit solchen Gedanken zu schmeicheln; aber es war ihre Mutter die kam, leise die Thür nach sich ziehend und die zwei Stufen die von ihr hinunterführten, herabsteigend. Sie ging an das Feuer, stieß die Kohlen zusammen und suchte nach dem Reste heißen Wassers im Kessel. Arthur folgte ihr mit den Augen nach, die stillen Bewegungen der dunklen Erscheinung hatten etwas geisterhaftes. Er versetzte sich in die Seele der Frau. Emmy hatte ihr doch wohl erzählt was geschehen war? Er ahnte und begriff ihr Gefühl so völlig, daß er sich Anfangs nicht zu rühren wagte. Dennoch schien ihm die Gelegenheit zu günstig. Er richtete sich auf und trat leise näher. Emmy's Mutter erschrak zuerst. Sie hatte es als eine der schwersten Aufgaben betrachtet, ruhig zu ertragen wie eine Reihe von Zufällen sie nun wieder mit diesem Menschen zusammenführten. Sie bemerkte daß Arthur reden wollte: sie ließ ihn nicht über die ersten Worte kommen, sondern ihn plötzlich fest ins Auge fassend und dann mit ihren Augen, die seltsam glänzten, eine Bewegung machend seitwärts, als griffen Arme aus ihr heraus und stießen Arthur zurück, gelang es ihr so völlig zu erreichen was ihr Zweck war, daß er jeden Versuch sich ihr zu nähern aufgab. Als sie dann aber bei Emmy wieder im Stübchen war, schien ihr als sei das was zwischen ihr und Arthur vorgefallen, noch nicht entscheidend genug. Auf dem Tische lag die Brosche, die er ihrer Tochter gegeben. Ohne Emmy zu sagen was sie thun wollte und ohne daß diese es merkte, nahm sie den goldenen Knoten und ging wieder hinaus. Arthur saß am Herde. Sie trat zu ihm. Herr Graf, begann sie und sprach seinen vollen Namen aus, hier lege ich ich etwas hin das Ihr Eigenthum ist. Mögen dies die letzten Worte sein die zwischen uns noch gewechselt werden. Ich und Emmy leben nicht mehr für Sie. Sie sprach leise, damit Smith nicht etwa erweckt würde, mit einer Schärfe zugleich aber, die kalt und giftig in Arthur eindrang. Mrs. Forster, erwiederte Arthur, können Sie sich nicht denken, daß ein Wahnsinn der uns überkommt, die Lippen Dinge sagen läßt die das Herz verabscheut? Und scheint es Ihnen ein Unrecht, wenn derjenige, der in einem solchen Anfalle von Tollheit etwas ausgesprochen hat das er furchtbar bereut, alle seine Kräfte nun daran setzt, nur das eine Gefühl zu erlangen: daß ihm verziehen worden sei von der die er beleidigte? Mehr will ich nicht, mehr habe ich nicht den Muth, im Stillen auch nur zu wünschen. Das aber muß ich mir verschaffen: Verzeihung, und sollte ich sie mit meinem Leben erkaufen.

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Was Sie sich zu erkaufen wünschen, entgegnete Mrs. Forster mit eisiger Ruhe, und ob Sie dafür ihr Leben oder irgend etwas sonst geben wollen, ist mir gleichgültig. Reden Sie davon wem Sie wollen, nur mir oder meiner Tochter nicht. Und nun hören Sie dies: Ich und meine Tochter sind Frauen die sich nicht mit den Waffen in der Hand zu wehren pflegen wenn man sie verfolgt und ihnen etwas zumuthet das unerträglich ist. Glücklicher Weise jedoch haben wir einen Freund gefunden. Sie deutete auf Smith, der wie ein Bär der im Begriff steht sich im Schlafe in einen Menschen zu verwandeln, brummend dalag. Wagen Sie es noch einmal mich oder meine Tochter anzureden, so werde ich mich unter den Schutz dieses Mannes stellen und Sie die Erfahrung machen wie Amerikaner ihre Freunde verteidigen. Arthur nahm die Brosche aus ihrer Hand und verneigte sich. Er sagte kein Wort mehr. Ein ganz anderes Gefühl beherrschte ihn plötzlich. Nicht mit Mrs. Forster, sondern mit Emmy und mit Niemand anders habe er zu verhandeln, wußte er jetzt. Wie kam die Mutter dazu, in Emmy's Namen zu reden, zu handeln, ihn zu beleidigen? Von Emmy wollte er Verzeihung, ihr wollte er folgen durch die weite Welt, nicht vor ihrer Mutter aber sich erniedrigen. Etwas wunderbar erfrischendes tröstendes lag für ihn in dieser neuen Auffassung. Er schien sich ein vollgültiges Recht jetzt zu haben, Emmy's Schritten bis an das Ende der Welt nachzufolgen. Durch ihrer Mutter Härte schien ihm ein ganzer Theil seiner Schuld wieder gut gemacht. Emmy würde ihn verstehen, meinte er, wenn sich nur erst Gelegenheit finde, ihr in Ruhe gegenüberzutreten. Und so, das was dazu dienen sollte eine unübersteigliche Mauer zwischen ihnen aufzurichten, hatte ihm Flügel verliehen in Gedanken, sie dennoch zu überwinden, und statt sich völlig vernichtet und abgeschreckt zu fühlen, begann er einen glücklichen Ausgang der Dinge nun für gewiß zu halten. Der Tag brach an. Mr. Smith schlug die Augen auf, sah sich um und sprang empor, sich schüttelnd als ob er aus dem Wasser käme. Arthur ging um nach dem Zuge zu sehen. Der Sturm hatte sich gelegt, der Himmel war rein und ein Athem von beginnendem Thauwind durchflog die Luft. Bei den Waggons herrschte Leben und Rührigkeit. Arbeiter standen zu Dutzenden da und schaufelten. Man mußte die Damen rasch zum Aufbruche mahnen. Er eilte ins Dorf, wo er die Gesellschaft am Frühstückstische traf. Arthur hatte nur den Muth sich an Mr. Smith zu wenden, dem ein wenig sonderbar vorkam, daß sein Gefährte die Damen nicht wenigstens fragte, wie sie geschlafen hätten. Sogleich wurde nun aufgebrochen, Jeannette fürstlich beschenkt, ihr Vater stand wieder da und bezeigte durch Kratzen hinter den Ohren seine unterthänige Theilnahme. Diesmal im vollen Sonnenschein, der über die sanften Schneeflächen seinen Glanz streute, schritt die kleine Caravane wieder dem Zuge zu, bei dem die Dinge just so weit gefördert waren, daß man in kurzer Zeit abzufahren gedachte. Mr. Smith half den Damen ins Coupe. Arthur zögerte ob er folgen solle, aber da Smith in Höflichkeit stehen blieb um erst nach ihm einzusteigen, gab er der Versuchung nach und nahm seinen alten Platz am Fenster wieder ein. Die Lokomotive pfiff, die Arbeiter mit den Spaten vor sich zur Rechten und Linken im Schnee stehend, schwenkten die Mützen und der Zug setzte sich in Bewegung.

Fünfzehntes Capitel. Arthur hatte das Erschütterndste erlebt innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden. Der ganze Hausrath seiner Anschauungen war kurz und klein geschlagen und hinaus gekehrt worden. Und dennoch, als diese Nacht nun vorüber war und er wieder dahinfuhr, seine Augen in halbem Traume mitgleitend über die Schneefelder die an ihm vorüberflüchteten, erschien er sich nun erfrischter und sicherer. Er wußte was er wollte. Wenn er zuweilen zur Seite blinzte nach Emmy und ihrer Mutter und Mr. Smith, erschien ihm der gute dienstfertige Amerikaner nur als eine lästige Zugabe, und Mrs.

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Forster als eine unberechtigte Gewalt die sich zwischen ihn und einen von Gott für ihn bestimmten Besitz zu drängen suchte, von dem sicher war, daß er ihn durch nichts sich würde entreißen lassen. Immer deutlicher wurde ihm, daß Emmy allein hier Stimme zukäme. Sie war von ihm beleidigt worden, bei ihr mußte er Verzeihung erholen. Nicht nur weil er sie liebte, war es seine Pflicht diese Verzeihung sich zu schaffen, sondern auch weil er ein Edelmann war, dem es zukam sich da zu erniedrigen wo er gefehlt. Und deshalb besitze er ein Recht gehört zu werden, und deshalb dürfe er dieses Recht ertrotzen, und deshalb wolle er dies. Und in solchen Gedanken (er war nicht fähig deren viele und widersprechende lange und zu gleicher Zeit in sich zu beherbergen) trug er den Kopf aufrecht, und folgte ihr wie ein Kreuzfahrer in alten Romanen einsam und allein einem ganzen Heere Saracenen folgt die seine Prinzessin entführen. In Hamburg angekommen war es ein Leichtes zu erfahren, in welchem Hotel die Damen abstiegen und mit welchem Schiffe sie weiter gehen würden. Er nahm sich einen Platz darauf. Sorgfältig vermeidend ihnen zu begegnen, ging er schon am Morgen auf das Schiff, einen der großen schönen Dampfer die zwischen New-Jork und Hamburg fahren, und hielt sich gegen Abend, wo die Passagiere meistens kamen, in seiner Cabine. Es war finstere Nacht als die Schraube die ersten Bewegungen machte. Als er am andern Morgen erwachte, hatte man Helgoland bereits im Rücken. Die See war so stürmisch daß er gezwungen war sich unten zu halten, und einige Tage, bis man glücklich durch den Canal hindurch war, dauerte das. Niemand auf dem Schiffe, der Aufwärter ausgenommen der ihn bediente, hatte eine Ahnung von Arthurs Gegenwart. Am vierten Morgen betrat er zuerst wieder das Verdeck. Die Sonne glänzte prachtvoll aus den weiten Wellenreihen des Oceans empor, der Wind blies frisch und frühlingsmäßig ihnen gerade entgegen, das Schiff hob und senkte sich in kaum merkbaren Neigungen. Ein geräumiges, breites Verdeck bot sich zum Spazierengehen. Die Passagiere, in Gruppen getheilt, suchten sitzend, stehend oder auf und nieder gehend sich die Zeit zu vertreiben. Emmy gewahrte Arthur früher als er sie. Sie saß allein auf einer der lang sich hinstreckenden Seitenbänke und sah vor sich hin in die blaue Luft, in der hier und da zarte Wolkenschleier schwebten. Sie dachte an ihn. Einer Stille und Einsamkeit hingegeben, deren sie bedürfte wie ihr Anfangs däuchte, von der sie aber bereits mehr aufgeregt ward als von den Erlebnissen selber aus denen sie heraustrat, suchte sie nun Rettung darin, daß sie immer dies oder jenes fest im Auge hielt, an das sie ihre Gedanken anketten könnte. Unterhaltungen hatte sie gehabt mit Mr. Smith, zu lesen versucht bis ihr der Kopf schwindelte, und jetzt war sie so weit, die Blicke stundenlang auf die Wolken, oder, über Bord gelehnt, auf die Wellen zu heften, die herankamen, oder die das Schiff in seinem gewaltigen Gange selbst erregte, die unendliche breite Schaumstraße die es hinter sich her zog. Was verloren war, war unwiderbringlich verloren, fühlte sie wohl, aber die Wunde wollte nicht heilen. Emmy war eine tapfere, freie Natur, der zweifelhaftes Träumen keinen Trost verlieh. Sie kämpfte mit offenem Visir gegen die feindliche Erinnerung und suchte sich klar zu machen sogar: der Schmerz werde überwunden sein eines Tages und sie wieder froh und heiter werden. Sie wiederholte es sich weil ihre Mutter es ihr versicherte; sie glaubte freilich nicht daran. Sie erinnerte sich, was Mr. Wilson einmal gesagt: wie eine Sternschnuppe die aus dem ewigen Aether kommend und in ihn zurückkehrend zu einem leuchtenden Sterne wird so lange sie den Luftkreis der Erde ritzt, so wir Menschen: wer weiß, wo wir Menschen gebildet wurden, woher wir kommen und wohin wir zurückkehrend weiterfliegen? Was wußte sie, ob es zu ihrem oder zu Arthurs Glücke heilsam war, vereinigt die Bahn zu vollenden; ob nicht besser für ihn, sie verloren zu haben, und auch für sie? Aber wenn sie den Kreis dann betrachtete wo Himmel und Meer sich schieden ringsum, dessen Linie sie ewig entgegeneilten und die ewig zurückwich, füllte sie das mit unendlicher Sehnsucht. Ein Bild schien es ihr ihrer eigenen Seele, die sich nicht zu entfliehen vermochte, sich immer als die Mitte desselben Horizonts gewahrend. Und dann gerade wenn sie am

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meisten Ruhe gewonnen zu haben glaubte, stand Arthur wieder vor ihr, und nun endlich er selbst in Wirklichkeit. Sie glaubte unterliegen zu müssen. Wie einen Geist starrte sie ihn an und vermochte ihre Blicke nicht von ihm loszumachen. Eben daß er sie gar nicht sah, ließ ihn wie in einem Traume erscheinen. Jetzt aber wandte er sich wie zu ihr hin, und mit den letzten Kräften raffte sie sich auf um ihre Cabine zu erreichen. Auf dem Wege dahin begegnete ihr Mr. Smith, der gleichfalls Mr. Arthur wieder entdeckt und, die Neuigkeit auf der Zunge, die Damen gesucht hatte um sie anzubringen. Wissen Sie — redete er Emmy an. Diese aber eine abwehrende Handbewegung machend, als wolle sie nicht hören und nicht wissen, schritt an ihm vorbei und die Treppe hinab. Smith stand ziemlich perplex da. Arthur anzureden war ihm, er wußte nicht recht weshalb, die Lust vergangen. Er dachte: abwarten. Beim Diner sah er die Damen nicht, sie hatten sich was sie bedurften in ihre Cabine bringen lassen, Arthur dagegen sich ganz entfernt von Mr. Smith unten an das letzte Ende der langen Tafel gesetzt. Er schien ihm auszuweichen, ihn wenigstens nicht zu bemerken. Smith war der diskreteste Mann unter der Sonne; hier aber, wo so wenig klar war, wem gegenüber er diese Tugend zur Anwendung bringen sollte, erlaubte er sich, Mrs. Forster, die er nach Tische allein auf dem Verdeck fand, darauf anzureden. Die Frau war in einer peinlichen Lage. Sie fühlte daß Smith über das seltsame Verhältniß seine eigenen Gedanken haben müsse. Es war zu auffallend daß sie mit dem jungen Manne, mit dem zusammen sie nun ein gutes Stück Weges zurückgelegt, mit dem sie das gemeinschaftliche Abenteuer im Schnee bestanden, und der offenbar ein stattlicher Mann aus gutem Hause war, auch nicht ein Wort gewechselt bis dahin. Allein sie durfte keine Enthüllungen geben. So hoch sie Smith stellte, der ihr als alter treuer Freund und Nachbar bekannt war, es schien ihr unklug ihm etwas anzuvertrauen das ihrer Tochter Ruf zu Hause möglicher Weise hätte compromittiren können. Sie blieb deshalb ganz kalt und indifferent, äußerte, es müsse wohl ein etwas seltsamer Charakter sein, und wie auch ihr aufgefallen, daß er so ganz und gar keine Notiz von ihnen nehme. Doch wünsche sie weiter nicht seine Bekanntschaft zu machen. Sie bäte Smith alles dahin etwa abzielende unterwegs zu lassen, ihn ihr oder Emmy nicht etwa vorzustellen, es sei gut wie es sei, man könne nie wissen überdies, was solche Leute drüben wollten. Es lägen oft wunderliche Ursachen vor, aus denen aristokratisch aussehende junge Männer sich auf den Weg nach New-Jork machten, der deutsche Gentleman werde am besten wissen weshalb er sich so zurückhalte. Mr. Smith jedoch genügte das nicht. Emmy's Erbleichen, ihre Handbewegung, ihr Fortbleiben bei Tische und jetzt das kühl Abwehrende in Mrs. Forsters Aeußerungen ließen etwas verstecktes vermuthen, das zu weiteren Nachforschungen anreizte. Das Schiff war gut besetzt, und die Kreise die sich bei solchen Ueberfahrten zu bilden pflegen, hatten sich längst zusammengefunden. Arthur sprach mit Niemanden. Er ging auf und nieder, saß meistens und las oder starrte in die Luft, wählte aber immer seinen Platz abseits von den Uebrigen. Interessant genug war die Gesellschaft doch. Da eine Anzahl Italiener die als Opernsänger verschriehen sind, Herren und Damen deren Geschwätz nie stockt. Als Mittelpunkt eine junge Dame, welche Signora Contessa genannt wird, mit prachtvollem schwarzem Haar, schöner voller Stimme, und einem kleinen Hunde der alle Tage auf dem gemeineren Theile des Verdecks vom Kammerdiener gewaschen und gekämmt wird, wozu sich stets ein theilnehmender Kreis versammelt. Ihr Gemahl ein ihr an Schönheit durchaus ebenbürtiger junger Mann. Wenn diese beiden, so um die Dämmerung, am Rande des Schiffes sitzend zusammen singen, ist es entzückend sie anzuhören. Auch die zwei Töchter des älteren Buffo interessante Erscheinungen, zwei schlanke junge Dinger, die eine, ein Jahr ältere, gerade um eine Linie schlanker, schmaler, kleiner und schärfer in den Zügen als ihre jüngere Schwester, sonst beide, deren Haut wie aus blaßaprikosenfarbenem Sammet und deren große Augen, schwarz wie die Nacht sind, wie aus einer Form und immer dicht nebeneinander.

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Als Gegenstück eine kleine Anzahl junger Hamburgerinnen, Töchter von Kaufmannsfamilien die hinübergehen. Blond, breitbäckig, steif und, obgleich die Italiener unausgesetzt beobachtend, doch mit keiner Miene scheinbar von ihnen Notiz nehmend. Mit ihrem Gesänge wagen sie sich nicht heraus, spielen dagegen die Sonate pathétiqe von Beethoven unausgesetzt auf dem Pianino der Damen-Cajüte. Die Väter vorzugsweise mit Cigarren beschäftigt. Eine Anzahl jüngerer einzelner Geschäftsleute, meist Hamburger, einer darunter Gegenstand des allgemeinen Neides, weil er italienisch spricht und mit der Contessa zuweilen ein Gespräch hat. Ein paar junge Berlinerinnen, die als Erzieherinnen auf gut Glück nach New-Jork gehen. Eine Anzahl weiterer Herren ohne bestimmte Signatur. Eine amerikanische Familie schließlich mit acht kleinen Kindern, der Vater dick, schwarz und offenbar jüdischer Abkunft, die Mutter hager, lang und sommersprossig, beide stets in pathetischer Zurückhaltung und jede Annäherung der Uebrigen vermeidend, sogar mit Mr. Smith nicht im Verkehr, welcher recht gut weiß weshalb, und die Leute gleichfalls übersieht, obgleich er mit allen Uebrigen sehr bald Freundschaft geschlossen. Es zeigte sich sogar daß er einen schönen Baß sang, daß er Italien recht gut kannte, und im Stande war, eine der beiden italienischen Schwestern dahin zu bringen, ein Duett mit ihm zu singen, was dann klang als wenn eine indische, eben aus einer Lotosblume geborene Göttertochter, und ein Sohn Thors oder Wodans sich begegneten und, in seiner Sprache jedes von beiden, so anmuthig als möglich sich aussprächen, und das mit um so größerem Applaus ausgenommen wurde, als die eine junge Hamburgerin dazu die Begleitung spielte. Nicht weniger gereichte es bald den beiden Berlinerinnen zu ungemeinem Troste, auf Smiths Bekanntschaft in New-Jork zählen zu dürfen. Er verachtete auch nicht die Passagiere zweiten Ranges, ging unter ihnen herum, ließ sich erzählen, gab guten Rath und beobachtete. Nur die Hauptsache mißglückte immer: sich Arthur zu nähern, der einsam und als sähe er die Menschen gar nicht, umherging und immer düsterer und trauriger zu werden schien.

Sechzehntes Capitel. Und dies war in der That der Fall. Fast eine Woche schon dauerte die Fahrt. Arthur hatte mit Bestimmtheit eine Begegnung mit Emmy erwartet. Aber die Zeit verstrich, mit leiser Angst berechnete er die noch übrigen Tage und stellte sich die Frage, ob und wie es in Amerika möglich sein werde, besser zum Ziele zu kommen. Er fragte nicht so, weil er daran zweifelte, denn sein Wille war so stark, daß sich die Gelegenheit dazu finden mußte, aber die erste Zeit dort bedachte er, und ihm ward schwindlig wenn er sich in diese Gedanken vertiefte. Da fühlt er Mr. Smith neben sich, der bequem auf die Bank fallend, ihn diesmal ohne weiteres anredet. Nun, Mr. Arthur? Wir machen die Reise ja zusammen. Dachte das nicht als wir vor Hamburg im Schnee zusammen steckten. Sie äußerten kein Wort darüber damals. Arthur nickt als sei es gut und damit basta. Haben Sie mit dem Doctor dort gesprochen? fährt Mr. Smith ruhig fort und deutet mit dem Finger auf einen der Passagiere, mit dem er öfter Unterredungen gehabt. Es war ein Herr von elender Gesichtsfarbe, schwarzem Haar und Brille, der in Smith den ächtesten Repräsentanten des freien Amerikas entdeckt zu haben glaubte und ihm in den ersten Tagen seine Verhältnisse auseinandergesetzt hatte. Nach einer traurigen Karriere im Schulwesen, von seinen Vorgesetzten wie er meinte mißhandelt, vom Schicksale vernachlässigt, von den heimischen Zuständen angeekelt, hatte er eine kleine ihm vom Himmel zugefallene Erbschaft benutzt, sich loszulösen und sich auf den Weg in ein besseres Land gemacht. Er glaubte an keine Illusionen mehr, hatte viel gelesen über amerikanische Zustände und sich daraus die Lehre entnommen, daß man mit der gehörigen Energie und tüchtigem Mißtrauen drüben fortkommen und der niederträchtigen Bedrückung des deutschen Lebens auf ewig entrückt sein werde.

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Smith, der Interesse an ihm fand, suchte ihm über dies und jenes Auskunft zu geben, ärgerte sich bald aber, weil der Doctor auf Grund seiner Lectüre alles theils besser zu wissen, theils anders erklären zu müssen behauptete, kam endlich mit ihm in einen fortwährenden Streit und ließ ihn links liegen. Arthur hatte niemals Notiz von ihm genommen. Ein wunderbarer Mensch, fuhr Smith fort als Arthur kurz bemerkte er kenne den Doctor nicht. Er glaubt das Leben weg zu haben wenn er sich einbildet, alles sei erbärmlich und zum Sterben verdammt in Europa. Die Sonne scheint hüben wie drüben, denke ich. Er hat mir gestern eine wahre Parlamentsrede gehalten über den Mangel an Freiheit in Deutschland. Er meint, bei uns werde er sich besser entfalten, individueller. Ich fürchte, er wird sich in Amerika so wenig entfalten wie er sich in Deutschland entfaltet hat. Sie mögen wohl Recht haben, erwiederte Arthur. Sie waren noch niemals drüben? ließ der unermüdliche Smith nicht nach. Nein? — Nun, ich weiß nicht wieviel Sie von der Welt gesehen haben, ich meinestheils kenne so ziemlich was von der Erde vorhanden ist, und was von Wasser dazwischen schwimmt auch. Ich bin auf der Rinde der großen Kugel nach allen Seiten hin gekrochen und geschwommen, je nachdem. Ich meine, was diejenigen Länder anlangt, wo civilisirte Nationen leben, wäre es überall dasselbe Lied, nur ein bischen lauter oder weniger laut gesungen, je nach den Umständen. Eine Sorte Gentlemen, eine Sorte Regierung, eine Sorte Betrüger, eine Sorte Freiheit und Unfreiheit. Wenn man es im Ganzen aber überschlägt, die Unterschiede sind so groß nicht. Und selbst wenn man es genauer untersucht: wir Amerikaner sind eine andere Nation als die Norddeutschen z. B., aber es ist eine Art Leben und Polizei. Und wenn man sich über Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeit beklagt, so haben bei uns eben nur andere Leute die Macht sie auszuüben. Ich beklage mich über dergleichen in meinem Vaterlande nicht, sagte Arthur ein wenig scharf. Ich auch nicht, setzte der Amerikaner gutmüthig hinzu. Es gefällt mir in manchen Punkten sogar viel besser bei Ihnen als bei uns. Man ist höflicher, und weiter in Kunst und Wissenschaft in Deutschland. Auch würde ich das Land nie verlassen, wenn ich dort heimisch wäre. Der Doctor da spricht ein langes und breites über Königthum und Präsidententhum. Nun, er würde bei Ihnen freilich kein König geworden sein, aber wird auch schwerlich bei uns Präsident werden. Hierüber brach Smith in ein vertrauliches Gelächter aus. Sie prophezeihen ja recht wacker darauf los, tönte da plötzlich die Stimme des deutschen Doctors in den Lärm hinein, den Smith vollführte. Holla! rief dieser aus, das hatte ich wahrhaftig nicht geahnt. Aber nichts für ungut, Doctor; kommt Ihr Name einmal auf die Liste, so sollen Sie meine Stimme haben. Wahrhaftig, an mir soll's nicht fehlen, daß Sie nicht die Vereinigten Staaten regieren. Ich muß gestehen, Mr. Smith, sagte der Doctor, Ihre Art und Weise entspricht den amerikanischen Ideen wenig, die Jedem seine individuelle Freiheit gestatten, die Dinge anzusehen wie er will. Mein lieber Doctor, begann Mr. Smith, indem er sich zur Hälfte jedoch stets an Arthur wandte, ich will Ihnen etwas sagen. Sie könnten sich in New-Jork mitten auf den Broadway stellen und, davon abgesehen daß Sie nicht übergefahren werden, so lange und so laut als Sie wollen schreien, alle deutschen Fürsten seien das und das und verdienten das und das. Niemand verwehrt Ihnen dies. Wenn Sie es in Ihrem Vaterlande thäten, so würde wahrscheinlich nach einiger Zeit Jemand kommen, Sie immer noch sanft genug an irgend einen einsamen Ort schaffen, es würden Zeugen vernommen werden und so weiter, bis Ihnen schließlich, ohne daß Sie hungern müßten oder körperliche Mißhandlung zu dulden hätten, eine längere oder kürzere Einsperrung zu Theil würde. Nehmen wir nun aber den Fall, Sie stellten sich auf den Broadway in New-Jork und schrien der Präsident der Vereinigten Staaten sei ein

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Schurke. Da könnte es nun der Fall sein, daß dieser gerade ein wenig unpopulär wäre, und wer Sie hörte würde vorübergehen und lachen. Aber es könnte auch sein, daß der Präsident zufällig gerade etwas gethan das ihn in ganz besonderer Weise als den Mann dastehen ließe dessen das Land bedarf, und da, wenn Sie Ihre Stimme erschallen ließen, würde man Sie wahrscheinlich zwar nicht einstecken, dagegen könnten ein paar Leute die Ihre Ansicht nicht theilten, es sich einfallen lassen Sie ohne alle Umstände und ohne jeden Widerstand der Polizei zu Boden zu schlagen und liegen zu lassen, so daß Sie es sicher vorgezogen hätten, statt dessen lieber eine Anzahl Monate hinter Schloß und Riegel auf Staatskosten bei guter Gesundheit erhalten zu werden. Sie haben sich darüber beklagt, daß als die Wahlen eintraten in Ihrem Lande, das Ministerium die Beamten hübsch ermahnte, so zu wählen wie es ihm angenehm wäre: — alle Wetter, meinen Sie in Amerika wenn es sich um Wahlen handelt, bildete sich überhaupt Jemand ein, er könne seine Stelle behalten wenn er gegen den stimmte der die Macht besitzt diese Stelle zu besetzen? Wie kann man ein Land regieren wollen, wenn diejenigen deren man sich als Hülfsmittel dazu bedient, nicht unserer Meinung sind? So? schrie der Doctor, man soll also lügen? Wer verlangt das? sagte Smith. Man tritt eben zurück und sucht sich eine andere Stellung, in der man ungenirter ist. Eine andere Stellung? fuhr der Doctor fort. Ein Mann der alt geworden ist in seinem Amte, der Frau und Kinder davon ernähren muß, was soll der anfangen wenn er sein Amt aufgiebt? Den Kuckuk auch, rief Mr. Smith, ich weiß es nicht: ich habe die Leute nicht dazu vermacht, sich mit Frau und Kindern in diese Aemter hineinzubegeben, außerhalb derer sie nicht existiren können. So mögen sie alle miteinander Chorus machen und schreien: wir wollen nicht! das imponirt vielleicht. Das liegt nicht im deutschen Charakter, entgegnete der Doctor. Ei so mögen sie denn die Folgen dieses Charakters tragen, wenn es nicht zu ändern ist, sagte Smith. Jedenfalls aber würden sie mit ihrem sogenannten deutschen Charakter bei uns noch viel schlechter fortkommen. Denn Präsident oder König, gleichviel: aber, so wenig wie in Deutschland, besteht in Amerika die Freiheit darin, daß demjenigen, der gerne seine Meinung vertreten aber nicht gerne die Folgen davon tragen möchte, von Staatswegen eine hübsche Villa mit 10,000 Dollars jährlich zur Disposition gestellt wird als Entschädigung dafür daß ihn seine Gesinnungstüchtigkeit aus dem Amte gebracht hat. Es weht eine scharfe Luft bei uns in Amerika. Ihr in Deutschland seid ein gutmüthiges Volk, das an seinen Herzögen und Königen gerade die rechten Regenten hat. Ich wollte Euch nicht wünschen daß Ihr einmal unter die Fuchtel von einem der Männer geriethet, aus denen bei uns Präsidenten gemacht werden. Smith war Arthur nicht mehr angenehm von dem Augenblicke an, wo er ihn zuerst auf dem Schiffe begegnete. Es war Eifersucht dabei im Spiele. In Deutschland, überall wo Arthur auftrat, konnte er den Anspruch machen, in Wesen und Haltung ganz dem zu entsprechen, was man von einem vollendeten Manne verlangte. Auf dem Schiffe aber fühlte er sich nicht in seinem Elemente. Er ging und stand, wie ein Reiter auf einem Pferde sitzt, vor dem er sich nicht fürchtet, aber an das er nicht gewöhnt ist. Der Amerikaner dagegen auf dem Lande mit einem gewissen Anflug von Schwere, die Füße ein wenig zu groß, die Fäuste ein wenig zu derb, bewegte sich auf dem Schiffe wie ein Eingeborener. Er trat mit Sicherheit auf. Seine Art hier die Dinge anzufassen, gehörte dahin. Sein blondes, gelöstes Haar, seine wetterbraune Haut paßten zu Wind und Sonnenschein auf dem Meere, er erschien schlanker, vornehmer, sicherer, und selbst seine Ruhe und Behaglichkeit, auch sein freundliches offenes Wesen wurde zu lauter trefflichen Tugenden. Er war der Mann unter der Gesellschaft an den Jeder zuerst gedacht hätte wenn dem Schiff ein Unheil zugestoßen oder der Capitain über Bord geschwemmt

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worden wäre, wo er stand hätte man sich am geborgensten gefühlt. Und wenn er neben Emmy herging, bildeten sie beide ein so vollkommenes, schönes Paar daß Arthur den Anblick oft kaum ertragen konnte. Er erinnerte sich was Mrs. Forster gesagt, daß sie sich an Mr. Smith wenden würde, wenn er sie jemals anzureden wagte. So kam es daß, ihn Mr. Smiths Art über Deutschland gutmüthig genug zu urtheilen fast beleidigte. Sie stellen Ihren Präsidenten und unsern König kaum auf ein und dieselbe Linie? warf er mit einem Anflug von Ironie hin, obgleich er eigentlich gar nichts mehr hatte sagen wollen. Gott soll mich behüten, rief der Amerikaner. Ich habe es ja eben ausgesprochen: beides ganz verschiedene Spitzen historischer Entwicklungen. Ihr König ist für Sie so unentbehrlich, wie unser Präsident für uns. Allein worin unterscheidet sich groß beider Regierung? Sie haben jeder von ihnen die Macht in Händen. Der eine wie der andere dahin ein bischen mehr, dorthin ein bischen weniger. Alle Völker, die heute zum Bewußtsein gekommen sind daß sie, wenn sie fortschreiten und ihren Mann stehen wollen, außerordentliche Anstrengungen machen müssen, fühlen die Nothwendigkeit, daß denjenigen Männern welche von der Vorsehung mit dem meisten Talente begabt sind die Regierung zu führen, auch wirklich das Steuerruder in die Hand gegeben werde. Man kann keinem Kinde in der Wiege ansehen was es als Mann leisten wird. Nun wohl, alles das was man auf Erden Verfassungen zu nennen pflegt, sind nichts als Einrichtungen verschiedenen Aussehens, mit demselben Zwecke aber, den fähigsten Männern Mittel und Wege zu verschaffen, sich zu offenbaren, zu bewähren und schießlich zum allgemeinen Vortheil in die ersten Stellen zu gelangen. Alle die Sorten verschiedenartiger Freiheit die durch diese Verfassungen garantirt werden: Preßfreiheit, Vereinsfreiheit und so weiter, dienen nur dazu allein. In Europa hat man sich überzeugt, daß die an der Spitze stehenden hohen Familien, so wenig wie irgend andere sonstwo, im Stande seien, immer nur Genies zu produziren. Deshalb bezwecken Eure Verfassungen nichts anderes, als neben Euren Fürsten denjenigen Genies die das Land übrigens hervorbringt, Gelegenheit zu geben sich bemerklich zu machen, und dann, ihnen die nöthige Macht zu verleihen. Bei uns ganz dasselbe. Nur gehen die Dinge ein wenig turbulenter zu als bei Euch. Schließlich aber wird hüben und drüben das Volk zufrieden sein, wenn es das Gefühl hat, daß Leute regieren welche das Regieren verstehen, und unzufrieden, wenn es fürchtet oder erfährt, als sei das nicht der Fall. Denn Jeder hat bei uns wie bei Euch sein bischen Vermögen und seinen Nationalstolz und weiß daß eins wie das andere bei einer unfähigen Regierung sicherlich Einbuße erleiden muß. Arthur hörte ihn an. Er hatte im Grunde nichts dagegen. Aber es ärgerte ihn, wie der Amerikaner die Dinge herausgriff auf die es ihm ankam, und alles andere ignorirte. Das Königthum betrachtete Mr. Smith nur von der Seite der Nützlichkeit. Von Adel, Demokratie, Aristokratie hatte er kein Wort gesagt. Lauter unbedeutende Nebendinge erschienen sie, für die es auf der großen Rechnung keinen Platz zum Ansetzen gab. Es drängte Arthur, wider seinen Willen abermals ein Wort darüber einzuwerfen. Bleiben wir bei Amerika und Norddeutschland, sagte er. Es finden sich, wenn man die innere Struktur beider Nationen betrachtet, denn doch Unterschiede, welche Ihre großartige Ansicht von den Dingen, mit der Sie die Erscheinungen in Bausch und Bogen abthun, als ein wenig oberflächlich dastehen lassen. Wir Deutschen sind ein altes, fest gebautes, durch Jahrhunderte hindurch dauerndes Volk, dessen Geschichte man genau kennen muß um den heutigen Zustand zu verstehen. Sie in Amerika sind gar keines. Sie sind eine ungeheure Gesellschaft, die einstweilen zusammenhält weil so viel Platz da ist um sich aus dem Wege zu gehen, eine zufällige Zusammenkunft von zwanzig bis dreißig Millionen Menschen, die ihren verschiedenen Ländern entlaufen sind. Entlaufen sind? fragte der Amerikaner mit einem Accente von Stolz, den er bisher noch niemals seinen Worten aufgedrückt und richtete sich auf. Wie können Sie von weißen Europäern ein Wort gebrauchen, das man in Amerika nicht einmal bei schwarzen

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Afrikanern mehr anzuwenden wagt? Der Mensch hat keinen Herrn der ihn halten könnte wenn er gehen will! Die Erde ist frei. Aber geben wir zu, was ja die Wahrheit ist, setzte er sich mildernd hinzu, daß Amerika sich ununterbrochen aus aller Herren Länder rekrutirt und daß wir zusammengelaufen sind, wie Sie sagen. Sie werden sehen drüben, wie die durch den Besen des Schicksals zusammengekehrten freien Männer den Beweis liefern, seit etwa hundert Jahren, daß eine Nation im Entstehen begriffen sei, die alle anderen überflügeln wird! Das ist die Frage eben, sagte Arthur vornehm, stand auf und schritt das Verdeck hinunter, als wolle er von dem allgemeinen Rechte Gebrauch machen, durch einen solchen Gang eine Konversation nach Belieben abzubrechen, ein Recht, dessen Geltendmachung man auf Dampfbooten nur anzudeuten braucht um es respektirt zu finden. Diesmal aber lag eine Unart darin, dem Manne etwas gegen sein Vaterland zu sagen, und hinterher ihm die Möglichkeit, es zu vertheidigen, glatt abschneiden zu wollen. Smith holte ihn ein. Mein lieber Mr. Arthur, Sie verfahren nicht ganz parlamentarisch, scheint mir! rief er aus, und zwar im freundschaftlichsten Tone. Arthur machte einen Augenblick halt, sah Smith an, zuckte dann die Achseln und ließ ihn abermals stehen, der jetzt, nachdem er dem Grafen eine Zeitlang mit halboffenem Munde nachgeblickt, die Hände auf dem Rücken nach einer anderen Richtung hin abmarschirte. Erstens möchte ich behaupten, sagte er zu sich selber, daß dieser Mr. Arthur irgend ein verkappter Junker ist; zweitens daß er wahrscheinlich seine triftigen Gründe hat, ehrlichen Leuten so wenig als möglich Rede zu stehen, und drittens! daß er doch der Damen wegen mitgegangen ist. Hiermit ließ er die Sache fallen wie man ein Buch zuklappt, und näherte sich dem Capitain, mit dem er ein Gespräch begann wie viel Faden man heute schon gemacht, während ihm der Wind den Dampf seiner Cigarre lustig unter der Nase fortpfiff. Der deutsche Doctor, der die Scene miterlebte, hatte seine heimliche Freude daran daß Arthur den groben Amerikaner abfahren ließ, und wollte sich ihm nähern um über den Gegenstand ein längeres Gespräch zu beginnen. Arthur aber wandte sich kurz ab ohne im geringsten Notiz von ihm zu nehmen. Einsam ging er das Verdeck hinauf und hinunter, und zu allem was ihn bedrückte trat das deutliche Gefühl hinzu, einen guten freundschaftlichen Menschen ohne allen Grund abgestoßen zu haben. So recht kam ihm der Fehler den er begangen nun ins Bewußtsein, indem er bedachte wie Smith der nächste Nachbar der Damen in New-Jork sei und wie er ihn vielleicht würde gebrauchen können. Er kam so weit, den Versuch einer Wiederannäherung zu machen, wurde aber von Mr. Smith übersehen als sei er nicht vorhanden. Dagegen erzählte dieser Mrs. Forster sein Abenteuer. Lachend trug er vor wie Arthur ihm hochmüthig Rede und Antwort verweigert, und lachend, wie er ihn dann zurückgewiesen. Fügte einige wenig ehrerbietige Betrachtungen über diese Art Menschen hinzu, um deren angeborene Begriffsverwirrung er sich wahrhaftig nicht kümmere, und führte aus, wie es dem guten Herrn in New-Jork ergehen werde, wenn er dort etwa Aehnliches an den Mann zu bringen versuchte. Smith ahnte nicht, welche Qual er Emmy bereitete. Ein unendliches Mitleid erfüllte sie. Sie wußte was Arthur gewesen war als sie ihm zuerst begegnet, was aus ihm geworden von Tag zu Tage seitdem. Ihr Werk diese Umwandlung. Ein armes einsames mißhandeltes Herz, denn das blieb Arthur, auch wenn sie von ihm mißhandelt worden war, hatte sie leise zur Gesundheit geleitet. Wie süß, ihm oft wie einem Kinde das sich entwickelt Gedanken zuzuflüstern langsam und zu gewahren daß sie Wurzel schlugen und die Oede seines Daseins mit jungen Saaten überdeckten. Alles wieder zerstört nun und sterbend. Arthurs Zurückhaltung, seine Empfindlichkeit, seine Reizbarkeit kannte sie. Sie glaubte deutlich zu sehen, wie der Entschluß in ihm sich gebildet, ihr nach New-Jork zu folgen. Sie sah die leidenschaftliche Hülflosigkeit mit der er sie umkreiste. Sie verstand weshalb er sich von Smith hochmüthig abgewandt und wie er, zum Bewußtsein seines Fehlers gekommen, sich gezwungen hatte, wieder anzuknüpfen. Und weiter: sie wußte wie Arthur mit dieser Reise sein geringes

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Vermögen angriff. Was sollte werden wenn es erschöpft war? Und keine Hülfe für all das! Sie bedachte es Tags, wenn sie dasaß ohne ihm mit den Augen folgen zu dürfen, oder Nachts, wenn sie plötzlich erwachend in Thränen, leise schluchzte um sich nicht zu verrathen. Wie Arthur aber, zählte sie die Tage, und es war ihr als müsse an dem Ende dessen der der letzte war, ein größeres Leiden noch seinen Anfang nehmen, das sie wie den Tod erwartete.

Siebzehntes Capitel. Emmy täuschte sich wenn sie ihrer Mutter zu verheimlichen glaubte wie sehr sie litt. Die Frau hielt sich nur zurück, weil sie der Meinung war dies trage mehr dazu bei Emmy aufrecht zu erhalten als es Gespräche vermocht haben würden, bei denen Emmy vielleicht die Rolle der Verteidigung hätte übernehmen können. Mrs. Forster fürchtete eine Wiederannäherung. Sie wußte wie leicht ein Herz zu verzeihen geneigt ist das noch so sehr beleidigt wurde. Sie kannte Arthur zu gut, um ihm etwa zum Vorwurf machen zu dürfen, diese stumme, traurige Nachfolge sei ein klugausgesonnenes Stratagem ihrer Tochter gegenüber. Sie fühlte: mochte vorgefallen sein was da wollte, noch ein wenig längere Zeit zusammen mit Arthur, und es mußte zu Erklärungen zwischen ihm und Emmy kommen. Sie sah wie Emmy ihm nachblickte und es ihr zu verbergen suchte. Sie empfand das heimlich Zögernde ihres Schrittes, wenn sie bei einem zufälligen Verweilen Arthurs in ihrer Nähe unbemerkt sich erhoben und andere Plätze suchten. Und mehr als das. Mrs. Forster hatte, als sie in jener Nacht Arthur die Brosche zurückgab, dies heimlich vor ihrer Tochter gethan. In der Unruhe des andern Morgens fragte Emmy nicht danach. Auch in der Folge sagte sie nie ein Wort darüber, wohl aber wurde sie mehr als einmal von ihrer Mutter dabei getroffen, wie sie ihr kleines Reisegepäck auf's peinlichste durchsuchte. Beides war der Mutter unlieb, das Suchen wie das Schweigen. Endlich fragte sie, was Emmy vermisse. Nichts, antwortete diese, nannte irgend etwas Unbedeutendes und meinte es falle ihr eben ein wo sie es hingelegt. — Man hatte noch zwei bis drei Tage zu fahren. Das Wetter blieb sich gleich; es war als fliege man dem Frühling in die Arme. Es gab sonnige Plätze auf dem Verdeck, wo es himmlisch zu sitzen war. Mrs. Forster hatte für sich und Emmy eine solche Stelle ausgesucht, wo sie Tag für Tag sich einzufinden pflegten. Um Mittag hatte sich Emmy hinauf begeben und saß da, ihre Mutter erwartend. Mr. Smith trat heran. Noch drei Tage höchstens, Miß Forster, sagte er, und Sie sitzen wieder in Ihrem Stübchen, vor dessen Fenstern Sie die Bäume tüchtig herangewachsen finden werden. Und dann das Schlinggewächs! Ihr Fenster, glaube ich, wird mit der Axt erst wieder herausgehauen werden müssen. Aber schön wird es sein wenn Sie wieder da sind, und gut wird es thun, denn ich will lieber alle Tage einem Begräbnisse beiwohnen als an so einer Besitzung vorbeifahren, wo Jahr aus Jahr ein die Läden zu und die Wege im Garten rein und unbetreten sind. Es war ein Anblick den ich gar nicht mehr ertragen konnte. Wenn ich an Ihrem Gartengitter vorbeikam, mußte mein Pferd allemal einen Galopp anschlagen als hätte ich ein Dutzend böse Geister hinter mir. Nur der alte Johnny wird da auf und abgegangen sein, sagte Emmy um doch etwas zu sagen. Ja, ja, der alte Johnny, rief Smith, und wie Sie es sagen steht der alte Bursche so leibhaftig vor mir als wäre er eben fortgegangen und hätte gefragt: oh, Mr. Smith, wann wird unsere gute liebe Miß zurückkommen. Smith machte dabei seine Sprache so gründlich nach, daß Emmy lächeln mußte. Noch zwei Tage, Capitain? rief Smith diesem zu, der vorüberging. Zwei, Sir, höchstens einen halben dazu, antwortete der Mann freundlich grüßend. Mrs. Forster war herangekommen, setzte sich und schlug ein Buch auf, was Smith als

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Zeichen nahm sich zu empfehlen. Emmy sah auf die See hinab, die in glatten großen Wogen herankam, die sanft sich weiter schoben, eine der anderen nach. Du mußt es noch die kurze Zeit ertragen, sagte Mrs. Forster. Zu Hause werden wir viel zu thun und andere Gedanken finden. Emmy blickte nicht auf. Sie hatte die Augen voll Thränen und wollte es nicht sehen lassen. Die Mutter stützte eine Zeitlang die Augen in die hohle Hand, richtete dann den Kopf auf als hätte sie einen Entschluß gefaßt und sagte: Du erinnerst Dich nicht mehr an Deinen Vater, Emmy? Nein, sagte Emmy. Du wirst wohl wissen wie er aussah, fuhr die Mutter fort, da wir das Bild von ihm haben, aber Du warst noch zu jung, um zu fühlen was er für ein Mann war und was das Land an ihm verloren hat. Ich erinnere mich noch deutlich, wie er todt dalag, sagte Emmy. Aber mehr weiß ich nicht. Das andere hast Du mir erzählt, Mutter. Sehr wenig habe ich Dir erzählt, liebes Kind, sagte Mrs. Forster. Daß er aus Deutschland kam und zuerst nicht wußte wohin er sich wenden sollte bei uns. Ja wohl, fuhr die Frau fort als Emmy wieder in Schweigen versank, er war kein Geschäftsmann von Hause aus, sondern ein Schriftsteller, ein Gelehrter. Er sprach immer deutsch im Hause, obgleich er so gut englisch zu sprechen verstand daß ihn Niemand für etwas anderes als einen ächten Amerikaner hielt. Er war auch kein Fremder. Nie hat Amerika einen besseren Patrioten besessen als ihn. Amerika war sein Vaterland geworden, das sagte er oftmals. Mir ist das doch nicht recht begreiflich, bemerkte Emmy, (das erste Zeichen daß sie auf ihrer Mutter Worte ernsthafter einging) wie man sein Vaterland aufgeben kann wenn man ein Deutscher ist. Er hat Deutschland niemals aufgegeben, aber er kam zu der Ueberzeugung daß auch für Deutschland die Zukunft bei uns läge, erwiederte die Mutter. Daß er aber fortging, würdest Du begreifen, wenn Du wüßtest weshalb er zu uns herüberkam. Das ist Dir nie erzählt worden. Nein, niemals. Gewiß nicht, denn ich wollte Dir nicht davon reden und es war ausgemacht daß Du niemals davon hören solltest. Aber dergleichen Entschlüsse lassen sich nicht immer so durchführen wie sie gefaßt werden, und es ist besser wenn Du es erfährst. Emmy sah ihre Mutter an, halb fragend halb wie um Mitleid flehend, weil sie eine Ahnung hatte als könne dabei von Arthur irgendwie die Rede sein. Mrs. Forster aber begann zu berichten. Noch weiß ich den Tag wo er zuerst bei uns eintrat, sagte sie. Mein Vater brachte ihn zum Mittagsessen mit. Er hatte einen dringenden Empfehlungsbrief an unser Haus gehabt. Wir waren damals so daran gewöhnt, junge Leute aus Europa zugeschickt zu bekommen, daß mir und meiner Mutter ein solcher Besuch weder auffiel, noch uns interessirte. Es wiederholten sich immer dieselben unbestimmten Klagen, dieselben nebelhaften Ideen über Amerika und unsicheren Aussichten in die Zukunft. Die erste Zeit pflegten diese Art Leute zuthulich und anhänglich zu sein, bis sich etwas für sie fand, dann ließen sie noch ein paarmal von sich hören und dann war es zu Ende, wie meistens mit jungen Leuten denen man in ihrem Fortkommen behülflich ist und bei denen auf besondere Anhänglichkeit späterhin zu rechnen ein Mißverstehen des Weltganges wäre. Ist das ein Tadel oder eine Entschuldigung? fiel Emmy hier der Mutter in´s Wort. Weder das eine noch das andere, Kind, erwiederte Mrs. Forster. Es ist nun einmal so, daß man nicht mit allen denen die uns hier oder da gelegentlich besonders nahe standen, immer in demselben geistigen Verhältnisse bleiben kann. Sie reißen sich mit Schmerzen los, aber je tiefer die Empfindung des Verlustes, desto größer das Bedürfniß eines Ersatzes und die Leichtigkeit mit der man sich neu anschließt. Nichts

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thörichter als zu glauben man könne beim besten Freunde den man nach Jahren wiedersieht, den Faden da wieder anknüpfen und in der alten Weise weiterspinnen wo man ihn abgerissen hatte. Mutter, sagte Emmy, was denn soll halten wenn Du ein Wort wie Freundschaft für so inhaltslos erklärst? Freundschaft? rief Mrs. Forster mit Heftigkeit. Weißt Du was das bedeutet in Wirklichkeit? Daß die, von denen wir überzeugt waren daß sie uns am nächsten ständen, unter der Firma Freundschaft nichts als das erste Anrecht zu besitzen glauben, uns am schneidendsten zu beleidigen. Ja, und weil wir „Freunde" sind, sollen wir hinterher nicht einmal den Anschein haben dürfen als empfänden wir es. Das ist Freundschaft im Leben! Mutter, um Gotteswillen, unterbrach sie Emmy, ich habe nie gewußt daß Du so dächtest. Du hast vieles nicht gewußt, Kind; wie traurig das Leben ist und trübe erscheint wenn wir zurückblicken auf die Dinge hinter uns. Und selbst wer das Glücklichste erlebte, wird so denken wenn er wahr sein will, denn all sein Glück muß ihm doch nur wie eine zufällige Ausnahme von der großen Regel erscheinen, die alles überherrscht. Und so wäre das Traurigste als sicher zu erwarten? fragte Emmy leise vor sich hin. Ja, und dennoch das Glücklichste zu erhoffen! erwiederte die Mutter, sich wieder besänftigend. Denn Keiner, Gott sei Dank, für den nicht so oder so eine dieser Ausnahmen sicher zubereitet würde. Aber laß mich weiter erzählen, nahm sie nach einer Weile den Faden wieder auf. Schon den ersten Tag fiel mir etwas auf an Deinem Vater. Gemeinhin pflegten es junge Leute die so zu uns kamen, für ihre Pflicht zu halten, ihre Dankbarkeit durch eine ganz besondere Aufmerksamkeit gegen mich zu erkennen zu geben. Ich war schön damals, liebes Kind, und hatte etwas unbefangenes, rasches, lebhaftes, das diese Artigkeiten vielleicht herausforderte. Der Eine oder Andere verliebte sich sogar in mich und ein paarmal führte dies zu Erklärungen gegen meinen Vater, der natürlich sehr kühl und praktisch dem ein Ende machte. Und Du? warf hier Emmy ein. Ich erfuhr meistens erst dann von allem, wenn die Sache bereits abgethan war. Mir war dergleichen so indifferent gewesen bis dahin, daß ich gar kein Auge und Gefühl dafür hatte. Dein Vater aber war anders, als die Anderen. Er schien mich an jenem ersten Tage gar nicht zu bemerken. Das heißt, gleich zu Anfang sah er mich ein einziges Mal an und zwar so daß ich den Blick nicht ertragen konnte, dann aber wandte er sich an den Vater und behandelte mich bis zu Ende des Tisches so als wäre ich nicht auf der Welt. Mich reizte das. Ich beobachtete ihn. Ich bemerkte seine auffallend stattliche, männlich schöne Gestalt, ich hörte wie lebendig und scharf er urtheilte, mit welcher gesellschaftlichen Leichtigkeit er in der Konversation zwischen den Personen unterschied an die er sich wandte, und seine Manier, so ganz und gar keine Notiz zu nehmen von meiner Gegenwart, brachte es dahin daß ich ihn anredete. Es lag nichts auffallendes darin, er konnte es als unser Gast nur für eine allgemeine Höflichkeit nehmen. Was er mir antwortete jedoch, hatte etwas so kurzes, kaltes und schien so sehr mit der Absicht gesagt, mir eben nur das Notwendigste zu Theil werden zu lassen, daß mich diese Behandlung beleidigen mußte und auch ich ihn als nicht mehr vorhanden betrachtete. Nach einigen Tagen hörten wir vom Vater, der junge Deutsche gefalle ihm so wohl daß er ihn als Correspondenten für seine europäischen Verbindungen fest engagirt habe. Er kam nun öfter, setzte mir gegenüber jedoch das am ersten Tage eingeschlagene Benehmen mit solcher Konsequenz und zugleich solcher Geschicklichkeit fort, daß es mir zuletzt peinlich wurde mit ihm zusammen zu sein und ich mich zurückzog sobald er erschien. Meiner Mutter mußte das auffallen. Sie wollte die Ursache wissen. Ich sprach sie offen aus; wir vermutheten er müsse wohl anderwärts Bekanntschaften haben wo er sich offener hingebe, allein dem war nicht so. Er lebte ganz einsam und kehrte

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überall das ernsthafte, traurige Wesen heraus, das im Uebrigen zu der Beweglichkeit des Geistes wenig paßte. Wir kamen zu der Ueberzeugung, er müsse Schicksale hinter sich haben, die seiner Natur diesen Zwang auferlegten. Das dauerte fast zwei Jahre so, als ich inne ward daß ich mich in meinen Gedanken unaufhörlich eigentlich mit ihm beschäftigte. Wie alt warst Du damals, Mama? fragte Emmy. Siebzehn als er ankam, neunzehn also nun, antwortete die Mutter. Ich ging jetzt nicht mehr fort wenn er eintrat, sondern ließ mir seine Nichtachtung gefallen, nur um jedes seiner Worte aufzufangen das er sagte, und war der Meinung Niemand wisse zu sprechen wie er. Während der Zeit hatte er sich ganz zum Amerikaner umgestempelt, genoß großes Ansehens in der Stadt und war meinem Vater unentbehrlich, dessen Geschäften er sich mit einer Energie widmete als wären es seine eigenen. Nur das Eine konnten wir Alle nicht begreifen: daß er bei solchen Fähigkeiten nicht lieber für sich selbst arbeitete; er hatte sich mehr als einmal ein Vermögen erwerben können. Aber es schien als denke er gar nicht daran. Mein Vater suchte ihn dafür zu entschädigen, hielt es endlich aber für seine Pflicht, ihm offen auszusprechen daß er diese Uneigennützigkeit nicht länger dulden dürfe. Es sei gegen sein Gewissen. Er müsse sich selbständig etabliren. Dein Vater gab daraus aber in einer Weise Antwort, anfangs als verstehe er die Vorschläge nicht, dann ob man mit ihm unzufrieden sei und seine Stelle einem Andern geben wolle, daß es uns Mühe kostete ihm klar zu machen was gemeint worden sei und hinterher die Dinge beim Alten blieben. Nur eins hätte meine Eltern bewegen können ihn nicht mehr im Hause zu wünschen, und das war ich. Die Mutter wußte aus meinem Munde daß ich niemals Jemand anders zum Manne nehmen würde als ihn. Wie viele Nächte brachte ich darüber in Thränen zu. Die Mutter überlegte die Sache mit dem Vater, sie hatten beide nichts dagegen, stimmten jedoch darin überein, daß bei der offen ausgesprochenen Abneigung jeder entgegenkommende Schritt unsererseits eine Unmöglichkeit sei. Man schickte mich auf einige Zeit aus dem Hause zu Freunden. Meine Mutter bezog ein Landgut mit mir, wo uns mein Vater alle Sonntage besuchte, allein und ohne ihn, so daß wir uns monatelang nicht zu Gesichte kamen. Doch meine Phantasie machte in der Einsamkeit das Uebel nur noch schlimmer, so daß ich auf die Rückkehr drang weil ich wahnsinnig zu werden fürchtete. Wahnsinnig, Mama? fragte Emmy. Ich glaubte es, sagte ihre Mutter. Es war gar zu einsam da. O, in Mountainville? sagte Emmy. Ja, dort, liebes Kind, und damals lag das Haus noch viel verlassener als heute und Mr. Wilson's Häuschen stand auch nicht da, zu dem ich hätte gehen können um mir philosophischen guten Rath zu holen. O, Mr. Wilson, wie ich mich freue, ihn wiederzusehen, rief Emmy. Der einzige Mensch in Amerika auf den ich mich freue. O, der wundervolle Wald dort! Ich meine, ich sähe ihn vor mir. Noch drei Tage und wir können dort sein, sagte die Mutter und streichelte Emmy's Haar. Nun aber weiter in meiner Erzählung. Wir wollten also nach New-Jork zurück, nur meiner Mutter Geburtstag sollte draußen noch gefeiert werden. Der Vater war für die letzte Zeit hinausgezogen, an dem Tage selbst kamen viele Freunde aus der Stadt. Auch Dein Vater mußte eingeladen werden und erschien: Wir aßen im Freien auf der Veranda, die ganze Gesellschaft blieb bis zum nächsten Tage, damals stand das große Haus noch gar nicht, aber wir mußten sie unterzubringen. Gegen Abend wurde ein allgemeiner Spaziergang gemacht. Zufällig traf es sich hier, daß Dein Vater neben mir ging und wir einige gleichgültige Worte wechselten aus denen ein förmliches Gespräch ward. Freilich sprachen wir über Dinge, die weder mich noch Deinen Vater näher angingen, die er jedoch, wie seine Art war, immer gleich in ihrer Tiefe aufgriff. Unvermerkt waren wir so von den Uebrigen abgekommen und standen zuletzt im Walde still ohne recht zu wissen wo wir wären. Doch zeigten die Sonnenstrahlen bald welche Richtung wir einzuschlagen hätten und

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wir gingen darauf los, wo sich denn auch bald der Wald lichtete und wir unser Haus in der Ferne liegen sahen. Nur war der gerade Weg dahin schlecht und mußten wir zuletzt einen Abhang hinunter und zwischen den Felsblöcken klettern. Hier nun geschah es daß Dein Vater, der vorausging, einen dieser großen Steine herabsprang und ich einen Moment zögerte. Er kam zurück und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie, stützte mich darauf und kam so glücklich unten an. Mrs. Forster hielt hier einen Augenblick inne. Emmy saß vor ihr auf dem Boden, hatte die eine Wange auf ihre Knie gelegt und hörte so zu. Ihre Mutter beugte sich nieder und küßte sie. Mama, sagte Emmy, es bewegt Dich zu sehr mir das zu erzählen. Mein Kind, sagte sie, ich hätte nie geglaubt daß ich es erzählen würde und erzählen könnte, aber es ist nothwendig zu dem Uebrigen das Du hören mußt, und wenn Dein Vater noch lebte und hier bei uns wäre, würde er nichts dagegen haben. Ich stand also vor ihm, fuhr sie fort, und mußte seine Hand wohl loslassen, da ich sie nicht mehr brauchte: als ich fühlte daß er sie festhielt. Dies bewegte mich so, daß ich mich wie vom Furchtbarsten erschüttert fühlte und daß ich, weil mir zu Muthe war als müsse ich mich mit den letzten Kräften retten, meine Hand aus der seinigen fortzog und zurücksprang. Ich merkte wie mir das Blut ins Gesicht und die Thränen in die Augen stiegen. Ich sah ihn an. Er war ganz blaß geworden und sah mich ebenso an als erwartete er etwas. Dann sagte er: Verzeihen Sie, Miß Eveline. Ich konnte gar nichts antworten. Bitte, sagte er darauf zu mir, setzen Sie sich einen Moment da nieder und lassen Sie mich einen Augenblick dort niedersetzen und hören Sie etwas an, das ich Ihnen erzählen werde. Ich gehorchte ihm. Was ich eben gethan habe, sagte er jetzt, bitte ich Sie nicht falsch aufzufassen. Es war nicht meine Absicht, Ihre Hand festzuhalten. Ich weiß, fuhr er fort, Sie sind zu gut erzogen um es nicht sogleich Ihrer Mutter mitzutheilen und diese sowie Ihr Vater sind zu erfahrene und energische Leute, um nicht zu thun was Jeder an ihrer Stelle thun würde. Sie werden mir kein böses Wort sagen, sondern sich in der Stille nach einem Platze für mich umsehen in einem andern Hause, so vortheilhaft wie sie ihn nur immer werden finden können, und mir dann vorstellen wie gut ich thun würde ihn anzunehmen. Und ich werde dann gehen und kehre niemals wieder in Ihr Haus zurück. Er schwieg eine Weile und sah auf den Boden. Damit Sie aber die Ueberzeugung gewinnen, daß ich Ihre Hand rein aus Gedankenlosigkeit festhielt und es mir wirklich niemals in den Sinn kam, auf diese Weise eine junge Dame von ein bis zwei Millionen Dollars für mich zu gewinnen, so erlauben Sie mir, Ihnen ein kleines Stück meines Lebens zu erzählen; jetzt sogleich wenn Sie wollen, oder auch morgen, oder heute Abend. Nur möchte ich Sie bitten, nicht eher über mich zu urtheilen als bis Sie diese Erzählung fertig angehört. Er schwieg und sah mich an. Wenn irgend etwas hätte ersonnen werden sollen, mich völlig zu vernichten, so war es diese Rede. Ich kann Dir sagen, als ich Deines Vaters Hand die meinige so halten fühlte, war mir zu Muthe gewesen als solle ein einziger Moment des Glückes Alles ersetzen was ich bisher gelitten hatte. Ich rettete mich nur als ich zurücksprang; ich wollte mich nur fassen. Als ich jetzt aber vernahm, wie er kühl und bedächtig Wort auf Wort alles erwürgte gleichsam, was ich eben empfangen hatte, durchfuhr mich ein solcher Schauer daß ich nichts zu antworten im Stande war. Einerlei jetzt was er mir hatte erzählen wollen. Ich wußte genug so viel mich anging. Mein Stolz empörte sich. Ich erhob mich ohne ein Wort zu sagen und ging dem Hause zu. Wir kamen dort an ohne vermißt worden zu sein und unser Spaziergang hatte für Niemand etwas auffallendes. Ich versuchte bei der Gesellschaft auszudauern, war es jedoch nicht im Stande. Meine Mutter, die allein bemerkt hatte daß etwas vorgefallen sein müsse, folgte mir auf mein Zimmer. Ich erzählte ihr mein Erlebniß. Spätabends kam auch der Vater. Wir saßen alle

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Drei zusammen. Sie suchten mich zu beruhigen, endlich sprach sich der Vater folgenderweise aus: Mr. Forster, sagte er zu mir, hatte Dir entschieden wichtige Dinge mitzutheilen, und da er Dich ausdrücklich gebeten hat Dein Urtheil zu suspendiren bis Du ihn angehört, und da er ferner ein erprobter Mann ist, von dem nicht anzunehmen, er werde eine Bitte aussprechen ohne zu wissen warum er sie thut, so müssen wir jedenfalls bevor wir ein Urtheil fällen seine Erzählung gehört haben. Wir würden sonst eine Ungerechtigkeit gegen ihn begehen. Du wirst ihn deshalb bitten müssen, Dir mitzutheilen was er mittheilen wollte und Du hättest dies füglich auf der Stelle thun können. Denn angenommen, und mir scheint aller Grund dafür vorhanden, seine Art Deine Hand einen Augenblick länger als nöthig war festzuhalten, sei wirklich nur ein Zufall gewesen, so mußte Dein Auftreten ihm gegenüber, der ein Fremder mit geringem Vermögen ist, dem wir viel mehr Dank schuldig sind als er uns und der es niemals in irgend etwas gegen uns versehen hat, ein stolzes, hochmüthiges und ungerechtes sein. Denn das kann jeder verlangen: daß er gehört werde wenn er dringend darum bittet. Ich könnte ihn, schloß mein Vater, selbst ersuchen Dir nachträglich seine Erzählung zu machen, allein es würde das seltsam erscheinen und es liegt kein Grund vor daß ich oder Deine Mutter sich in die Sache mischen. Deshalb, wenn Du ihn wieder siehst, so rede ihn an und bitte um seine Mittheilung. Damit wünschte er uns gute Nacht und ging fort. Die Mutter war seiner Meinung, ich aber erklärte lieber sterben zu wollen als zu reden. Jedenfalls, sagte sie, erreichst Du durch Dein Schweigen, daß er jetzt über kurz oder lang unser Haus verlassen wird. Dies brachte mich auf andere Gedanken, und ich nahm mir vor die Unterredung herbeizuführen. Ich schlief die ganze Nacht nicht, am andern Morgen, noch vor Sonnenaufgang, ging ich in den Garten. Mir ist unvergeßlich, wie ich da umherging und alles so stumm und todt dalag, wie die Sonne dann aufging, wie mich fröstelte und ich wieder hinaufschlüpfte; wie mir das Zimmer so eng und dumpf vorkam und ich ein Fenster öffnete und hinaussah in die Bäume. Da sah ich seitwärts vom Hofe her den Sohn des Gärtners mit einem Pferde am Zügel kommen. Ich kannte das Pferd nur zu gut. Nicht lange auch, und Dein Vater schritt über den feuchten Sand des Gartenweges, klopfte das Pferd auf den Hals, ging um dasselbe herum und hob die Hufe auf um nach den Eisen zu sehen, untersuchte das Riemenzeug genau, nahm dann die Zügel von dem Bäumchen ab, an das der Bursche sie angehangen, stieg auf und einige Minuten später war nichts mehr übrig als die Hufschläge im Sande und ein leise verklingendes Geräusch. Er war nach New-Jork zurück. Mein Vater erklärte das nur natürlich finden zu können. Ich wollte jetzt nicht nach der Stadt, sondern noch auf dem Lande bleiben. Eine schauderhafte Woche verging. Am nächsten Sonntag erschien mein Vater mit der Nachricht, Mr. Forster habe ihn von einer andern Stellung für sich gesprochen und sei für deren Annahme so decidirt, daß er ihn nicht habe halten wollen und können. Ich war als ich es hörte wie Jemand der nicht weiß ob er wacht oder träumt, und was mich am meisten schmerzte, mein Vater behauptete ich sei allein daran Schuld. Er konnte dergleichen mit großer Grausamkeit aussprechen. Es war als läse er aus einem unsichtbaren Buche wenn er so sprach, und es sei alles unabänderlich festgestellt wie er es gesagt hatte. Dein Vater erschien nach einigen Wochen dann um Abschied zu nehmen. Er blieb natürlich zum Mittagessen da. Es war eine grausame Prüfung für mich, dabei sein zu müssen. Die beiden Herren besprachen Geschäftssachen. Ich sagte kein Wort; nach Tisch ging Jeder seiner Wege. Ich hatte das Essen kaum angerührt, saß dann eine Weile zitternd auf meinem Zimmer allein und wagte mich endlich in den Garten hinunter. Ich ging hierhin und dorthin, alles war mir gleichgültig. Da, als ich um ein paar dichte Büsche bog, sah ich Deinen Vater auf einer Bank sitzen. Er hatte die Arme untereinander geschlagen und den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Ich kann Dir sagen, liebes Kind, bei diesem Anblick war ich so unfähig etwas zu thun, daß ich wie angewurzelt stehen blieb und ihn ansah. Eine ganze Weile verharrten wir

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so, bis er eine Bewegung machte, sich mit der Hand über die Stirn fuhr und aufstand. Er erblickte mich. Meine Unbeweglichkeit mußte ihm auffallen. Er grüßte und bat um Verzeihung, wenn er ohne seine Schuld hier den Platz eingenommen den ich vielleicht gewohnt sei um diese Stunde frei zu finden. Ich fühlte daß dies der letzte Augenblick sei, wenn ich mit ihm reden wollte. Ich trat näher, so ruhig als möglich, setzte mich, lud ihn durch eine Handbewegung ein sich ebenfalls wieder zu setzen und sagte: Sie sind mir noch Ihre Erzählung schuldig. Ich? sagte er und sah mich ganz kalt an; welche Erzählung? Die Sie mir neulich im Walde mittheilen wollten, sagte ich. O, erwiederte er jetzt, Sie erinnern sich daran? Ich fürchte, es ist keine rechte Zeit mehr dafür, und die Erzählung auch nicht mehr recht angebracht. Ich reise morgen ab, wie Sie wissen, fuhr er fort. Man verliert durch die vielen Geschäfte sein bischen Talent die Dinge ruhig vorzutragen. Ich komme hoffentlich nächstes Jahr einmal wieder in die Gegend, sagte er weiter, und wenn Sie mir dann davon sprechen, stehe ich gern zu Diensten. Er wollte aufstehen. Ich weiß nicht was mir in diesem Augenblicke den Muth gab zu sagen: Gehen Sie nicht fort! Er sah mich groß an. Wenn Ihnen irgend daran gelegen ist was ich von Ihnen denke, sagte ich, so erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Warum wollten Sie in diesem Falle sie neulich nicht anhören? fragte er darauf. Damals hätte ich es für ein Zeichen natürlichen menschlichen Wohlwollens gehalten und eines guten Herzens. Wenn Sie mich heute aber auffordern, so kann das nichts anderes als bloße Nebenlegung sein. So eine Art letztes Andenken mit auf den Weg, zu dem Sie sich entschließen um ein Uebriges zu thun. Sagen Sie mir offen warum Sie mich zu erzählen bitten, dann will ich erzählen. Ich fürchte, es war nicht recht von mir Sie neulich nicht gehört zu haben, sagte ich. Also was ich gedacht, antwortete er. Nun, ich versichere Sie, daß es meiner Meinung nach vollkommen recht war. Ich wußte nicht mehr was ich sagen sollte. Eine tödtliche Angst befiel mich, er würde mich allein lassen. Sie sind unser alter Freund? sagte ich. Ja, das bin ich. Sie haben Anhänglichkeit an meinen Vater, an meine Mutter, an mich? Ja, die habe ich, soviel Sie mir erlauben, bemerkte er und verneigte sich. Gut, fuhr ich fort, so denken Sie daran, und denken Sie dazu, daß ich unruhig und unglücklich bin wenn Sie fortgehen ohne mir erzählt zu haben was Sie neulich erzählen wollten, und mir dadurch nicht verziehen zu haben für meine Art abzubrechen und nicht hören zu wollen. Meine werthe Miß Evelyne, sagte er, es bedarf meiner Erzählung nicht, um Ihnen das Gefühl zu geben. Sobald Sie mir dadurch, daß Sie das Wort Verzeihen in dieser Weise mit mir und jenem Tage in Verbindung bringen den Beweis geben, daß Sie in dem Zufall neulich wirklich nichts anderes als einen Zufall erblickten und daß es vielleicht nicht ganz edel war, mich zu bestrafen als glaubten Sie nicht daran, so bin ich zufrieden. Und so lassen Sie uns in Frieden scheiden. Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich gab ihm die meine. Ich dachte, alles sei verloren. Er wollte seine Hand zurückziehen. Ich hielt sie fest. Ich lasse Ihre Hand nicht los, sagte ich, als bis Sie mir erzählt haben, was Sie mir damals erzählen wollten. Miß Evelyne, sagte er, das ist kein loyales Mittel, mich zu zwingen. Sie wissen wohl, daß wenn ich nichts erzählte, Sie meine Hand nach einigen Minuten dennoch ebenso gleichgültig loslassen würden, als Sie sie gleichgültig jetzt festhalten. Thun Sie es deshalb lieber ohne weiteres; Ihre Freundlichkeit werde ich stets zu schätzen wissen. Das Wort „gleichgültig" das er gebraucht hatte, entzückte mich. Ich sah einen Vorwurf darin, der aus dem Herzen kam und sich an das Herz richtete.

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Wissen Sie, rief ich, was ich nun gewiß weiß? Nein, erwiederte er. Daß Sie meine Bitte erfüllen! Sie werden hier neben mir sitzen und erzählen, und ich werde Ihnen zuhören und glücklich sein daß Sie so gut sind. Ich ließ seine Hand nun los und er setzte sich wieder neben mich. Da Sie darauf bestehen also, begann er, so mögen Sie es erfahren, wenn es auch eigentlich keinen rechten Zweck mehr hat. Indessen die Geschichte wird, wie jedes inhaltsreiche Lebensereigniß das man so empfängt, vielleicht ihren kleinen Nutzen für Sie in sich schließen. Mrs. Forster machte hier eine Pause. Ich weiß nicht, wie es kommt, sagte sie, daß mir jedes Wort, das damals gesprochen wurde, so deutlich wieder in den Sinn kommt. Es ist mir so wunderlich, diese Dinge Dir anzuvertrauen, von denen ich nicht anders glaubte, als daß die Erinnerung daran mit mir ins Grab gehen würde. Aber, und indem sie so sprach trafen ihre Blicke Arthur der ganz am anderen Ende des Schiffes auf dem Verdecke langsam auf und nieder ging, Du mußtest erfahren endlich, was ich um Deinetwillen in den letzten Monaten still ertragen habe. — In den letzten Monaten? fragte Emmy erstaunt. Mehr als Du ahnen konntest, rief ihre Mutter. Und es hängt mit dem zusammen was Du jetzt weiter erzählen willst? sagte Emmy angstvoll, denn ein Gefühl überkam sie, als solle Arthur durch noch weitere Entfernung von ihr getrennt werden. Es geht ihn an! den Grafen! erwiederte die Mutter, erregt ohne zu wollen. Arthur? stieß Emmy heraus. Arthur war, während sie so sprachen, langsam auf sie zugekommen, doch ohne sie zu bemerken. Nicht weit von ihnen stand er auf den Bord gelehnt und sah in die Tiefe, wo der dichte Schaum unaufhörlich von den Seiten des Schiffes absprang. Plötzlich hörte er wie Emmy seinen Namen nannte, sah hin und beider Blicke begegneten sich. Es war nur ein Blitz. Emmy aber dadurch nun ganz außer Fassung gebracht, ergriff mit beiden Händen die Hände ihrer Mutter. Kind! rief Mrs. Forster und sah sich um. Arthur aber hatte seinen Platz schon wieder verlassen und war verschwunden. Es überlief mich ein Schauder, sagte Emmy, zog den Shawl empor um ihre Schultern und sah ihre Mutter an, als erwarte sie die Fortsetzung der Geschichte, deren Faden diese nun wieder aufnahm. Sie wissen, Miß Evelyne, begann Dein Vater, daß ich aus dem nördlichen Deutschland gebürtig bin. Die gewöhnliche Carriere junger Leute aus guten Familien beginnt bei uns damit, daß sie eine allgemeine wissenschaftliche Vorbildung erhalten und sich nach deren Beendigung, im achtzehnten Jahre oder auch später zuweilen, erst zu dem entschließen was sie im Leben thun wollen. Mir aber sagte nichts recht zu als ich so weit war, und ich bezog deshalb die Universität mit keiner anderen Absicht als der, mir in den alten und neuen Sprachen und den politischen Wissenschaften weitere Kenntnisse zu erwerben, worauf ich dann nach einigen Jahren Doctor der Philosophie ward und die Welt mir offen stand. Für die Beamtenlaufbahn war es hiermit zu spät. Ich dachte daran, an irgend einer Universität Professor zu werden, aber zugleich wollte ich unabhängig sein. Nun giebt es oder gab es damals keine Stellen für unabhängige Leute bei uns. Wer nicht in irgend einer Weise von der Regierung angestellt wird, ist nichts und gilt nichts. Ich nahm deshalb einen Theil meines Vermögens und begab mich auf Reisen. Lernte da viel und sog neue Ideen ein, d. H. solche die bei uns in Deutschland neu gewesen wären wenn ich sie hätte aussprechen wollen. Hierzu fand sich nun keine Gelegenheit. Hätte ich reden wollen, so würde man mich verfolgt haben, ich legte meine Ansichten deshalb in einem geschichtlichen Werke nieder. Das aber durfte ich nicht drucken lassen. Und so kam es, daß ich aus innerer Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen aufs neue Deutschland verließ und nach Paris ging, wo ich meine geschichtlichen Studien weitertrieb.

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Von Paris aus gesehen sah nun Deutschland viel bewegter aus als es war. Man lebte in fortwährender Aufregung und die Deutschen in Paris nahmen großen Theil daran. Man träumte von Revolutionen. Man war der Meinung, die sich ankündigenden Ereignisse könnten nicht ohne Rückschlag auf uns bleiben, und erging sich in weitläufigen Hoffnungen und Plänen. Nicht bloß die Jüngeren dachten so. Paris ist von jeher der Stapelplatz für Leute aller Art gewesen die auf ihren Moment warten, und so saß dort auch ein älterer vornehmer deutscher Herr, der, obgleich ein starker Aristokrat, doch zu seiner Regierung in Opposition gerathen war und sich ins Ausland gezogen hatte. Dieser glaubte jetzt seine Zeit müsse bald kommen. Sein Haus ward zum Mittelpunkte einer Anzahl junger Leute die meine Freunde waren. Ich machte seine Bekanntschaft, er lud mich ein, zeichnete mich bald aus und ließ mich endlich zu einer Art von freiwilligem Sekretair avanciren. Ich hatte für ihn zu arbeiten, er wirkte durch mich auf die öffentliche Meinung in Deutschland ein. Ich lernte von ihm, er war ein geistreicher Mann der hohe Posten bekleidet hatte und die deutschen Verhältnisse von Grund aus kannte, und was er am vortrefflichsten verstand, war, seinen aristokratischen Hochmuth so natürlich zu verstecken, daß wir alle die er fast wie seines Gleichen behandelte, Leib und Leben für ihn gelassen hätten. Es war eine schöne hoffnungsvolle Zeit für uns. Das aufgeregte Pariser Leben, die täglich herauskommenden Neuigkeiten, die scharfsichtige überlegene Urtheilskraft des gereisten, verehrten Mannes in unserer Mitte, dessen einziger Ehrgeiz darin zu bestehen schien, auf uns einzuwirken und uns seine Gesichtspunkte mitzutheilen, und im Hintergrunde der Gedanke: mit ihm, wie eine kleine Armee, in Deutschland eines Tages plötzlich aufzutauchen und dort, statt nur zuzusehen, einzugreifen und zu wirken. Das Leben hatte etwas bezauberndes. Daran aber war nicht er allein Schuld. Verwittwet seit langen Jahren, hatte er seine Tochter neben sich, ein junges Mädchen von kaum siebzehn Jahren, die an allem was geschah den lebhaftesten Antheil nahm. Von wunderbarer Frische und Schönheit, und von einer Lebendigkeit des Geistes die unwiderstehlich anzog, erschien sie zu gleicher Zeit als die im Hause befehlende Frau und als ein unbefangenes, zutrauliches, neckisches Kind, das das Leben so recht in vollen Zügen einathmete. Gerade daß sie ihre Mutter so früh verloren und mit ihrem Vater allein von früh an ein bewegtes Leben meist auf Reisen geführt hatte, wo sie, aus einer bedeutenden Geselligkeit in die andere übergehend, spielend lernte, mit Menschen jeder Art umzugehen, mochte Schuld daran sein daß alle die Gegensätze die sich in ihr begegneten, sich zu einem so reizenden Ganzen verbinden konnten. Wie war ihr Name? unterbrach Emmy die Mutter die Lebhaftigkeit. Walli, sagte Mrs. Forster. Das war Arthurs Mutter! rief Emmy und das Bild war ihr vor den Augen mit den großen dunklen Blicken, vor dem sie an jenem letzten Abend mit so seltsamen Gefühlen gestanden. Ja, das war sie, sagte Mrs. Forster. Dieses Mädchen, erzählte Dein Vater weiter, war die eigentliche Seele unseres Verkehrs und verlieh dem Manne die geheime Kraft uns an sich zu fesseln. Denn es dauerte nicht lange, so hatte jeder von uns jungen Leuten eine Art Schwärmerei für sie gefaßt. Wir waren geblendet oder verblendet sammt und sonders. Jeder glaubte in den damaligen Zeitkäufen, Alles einmal erreichen zu können. Wir träumten von glänzenden Carrieren, und Walli bildete den Endpunkt dabei. Und was das verführerischste war: Walli's Vater schien das mit offenen Augen zu sehen und gar nichts dagegen zu haben. So unbekümmert faßte er diesen Verkehr auf, daß jeder von uns gewiß war, er werde, käme nur erst der geeignete Moment, Walli's Hand erreichen können und es handle sich nur darum, wer von uns sich vor den Anderen am meisten auszeichnete, da doch Einer nur sie besitzen konnte. Doch ich will von den Anderen nicht reden, was mich allein betraf jedoch, so faßte ich eine Leidenschaft zu dem Mädchen, die mich ganz und gar durchdrang. Es kam mir nicht darauf an, zu verbergen was ich fühlte, und ich war überzeugt, es könne nicht verborgen geblieben sein. Ich fühlte mich unbeschreiblich glücklich. Ich war nicht

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einmal eifersüchtig auf meine Nebenbuhler, denn der Vater Walli's schien mir vor ihnen den Vorzug zu geben, und sie selber bestätigte dies durch ihr Benehmen so vollständig, daß ich mich für ganz gesichert ansah. Unter anderen Umständen hätte ich mich in deutlicheren Ansprüchen vielleicht erklärt, allein ich glaubte aus dem Benehmen des Mannes den Wunsch herauszufühlen, mir einstweilen an dem genügen zu lassen was ich besaß und ihn nicht zu Versprechungen zu nöthigen, die ja doch erst um eine geraume Zeit später erfüllt werden konnten. Er hatte eine wunderbare Art mich das merken zu lassen ohne ein Wort darüber zu sagen, und mir zu verstehen zu geben er begreife und schätze meine Zurückhaltung. Auch folgten äußere Ereignisse nun, die solche Gedanken zu notwendigem Aufschub verurtheilten. Eines Tages brachen wir auf, wenigstens ein Theil unserer Gesellschaft, um endlich in Deutschland unsere Rolle zu spielen. Walli's Vater war der Mann, auf den in seinem Lande viele Blicke sich richteten. Er erschien und entfaltete eine große, wenn auch immer noch indirekte Thätigkeit und ich war ihm unentbehrlich dabei. Ich gehörte wie zur Familie. Wer dachte damals noch an Standesunterschied. Wer aber auch hätte jetzt in Bezug auf Walli an eine Verlobung denken können. Alle Geisteskräfte waren durch die politische Arbeit in Anspruch genommen; zudem, ich hielt mich meiner Sache für zu sicher um hier Zweifel zu hegen, und ein ganz besonderer Umstand war es, der mich in diesem guten Glauben befestigte. Es kam damals eine entfernte Verwandte meines Gönners in das Haus, eine ältere unverheiratete Dame, die, weil man sich nun in der Hauptstadt definitiv niedergelassen hatte, die Repräsentation übernahm. Diese, eine scharfsichtige erfahrene Person, die in allen denkbaren Verhältnissen bereits gelebt und stets an ihrem Platze eine Rolle zu spielen gewußt hatte, merkte alsbald was zwischen Walli und mir bestand, und ich durfte annehmen daß sie mit dem Vater davon gesprochen. Keine Veränderung des Benehmens aber. Das alte Vertrauen bestand fort. Und dies auffallend genug. Denn Walli's Charakter hatte etwas leidenschaftliches. Sie war unruhig. Sie konnte nicht leiden daß ich wo anders säße als neben ihr. Sie trieb mit ihren Augen ein ununterbrochenes unschuldiges Spiel. Sie wußte Jeden wie ihren besten Freund zu behandeln, mich aber als mehr. Sie war eifersüchtig wenn ich mit anderen Damen sprach, dann aber wieder machte sie mich rasend durch ihre Zutraulichkeit zu ganz fremden Leuten, und wenn ich ihr das vorwarf, schien es als verstände sie mich kaum. Und zuletzt genügte ein Blick doch wieder und ein Händedruck, um mich zu beruhigen. So standen die Dinge, als mich eines Tages ihr Vater aufforderte nach Paris zu reisen und dort eine Reihe noch unabgewickelter Verhältnisse für ihn zu ordnen. Zugleich handelte es sich um einige politische Fragen, die er durch mich in französischen Zeitungen zur Sprache bringen wollte. Ich war natürlich gern bereit. Ich wollte dieselbe Nacht abreisen. Es war eine glänzende Soirée bei ihm an diesem Abend. Menschen aller Art drängten sich da durcheinander. Walli war nicht erreichbar, ich aber wollte nicht gehen ohne nicht wenigstens eine Sylbe zum Abschied von ihr erhalten zu haben. Ich trat auf den Balkon. Ich sah auf die Straße hinunter, wo die Equipagen in langen Reihen standen. Noch eine halbe Stunde und ich mußte auf der Post sein. Ich weiß noch wie ich da stand und mich endlich umdrehte und durch die geöffneten Thüren in das menschenerfüllte glänzende Zimmer sehend, Walli in der Ferne erblickte, in reizender Bewegung, mit sprechenden Lippen, lächelnd, sich dahin und dorthin wendend, alles ein stummes Spiel, denn zu mir drang nur der allgemeine Zusammenklang des Geräusches. Ich wandte mich wieder ab. Plötzlich berührte etwas leise meine Schulter. Adieu! sagte ihre Stimme, und fort war sie. Ich bedurfte nichts mehr, ich eilte fort, und auf dem langen Wege die Nacht hindurch und die folgenden Tage, in Traum und Wachen, klang die Stimme in meinen Ohren wie ein immer von neuem beginnender Gesang, dessen Inhalt eine entzückende Mischung von Erinnerung und Erwartung war.

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Ich hatte nur vierzehn Tage ausbleiben sollen, allein die Geschäfte zogen sich hin, es wurden zwei Monate daraus. In den Briefen an meinen Herrn wagte ich es, Walli stets herzlich grüßen zu lassen, und keiner kam der diese Grüße nicht erwiederte. Sonst nichts über sie. Endlich war es möglich mich loszumachen und ich traf wieder ein. Frühmorgens um sechs kam ich an, um zehn war ich bei Walli's Vater. Ich hatte über vieles zu berichten, er viel zu fragen, endlich kam der Moment mich nach der Tochter zu erkundigen. Ja, das gute, liebe Kind, sagte der Mann jetzt, Sie hätten es, wären Sie nicht so Hals über Kopf abgereist, in dem Briefe gefunden, der nun in Paris für Sie liegen wird. Es hat sich recht schnell gemacht. Was? rief ich. Sie ist verheirathet. Seit drei Tagen. Gegenwärtig abwesend, wie Sie sich denken können. Ich stand und starrte ihn an. Er hatte so ruhig und herzlich gesprochen, als erwartete er von mir einen Händedruck und Glückwünsche. Eine furchtbare Indignation hatte sich meiner bemächtigt. Gern wäre ich schweigend fortgegangen, aber es war zu viel. Es ist mir in einer Beziehung lieb, sagte ich endlich, nachdem ich die Sprache wiedererlangt, daß Walli verheirathet ist, denn ich bin dann wenigstens der letzte der so gefangen wurde. Leben Sie wohl. Damit wollte ich gehen. Er hielt mich zurück. Mein lieber Forster, sagte er — und zwar mit derselben gleichgültigen Sanftmuth, die ich bis dahin für heroische Charakterstärke gehalten — Sie haben mir nie von dergleichen gesprochen? Aber Ihre Tochter und Sie haben darum gewußt! donnerte ich heraus. Nun, und wenn das war, doch stelle ich das letztere in Abrede, so wäre es für Sie ein Grund gewesen, scheint mir, nicht erst jetzt mit mir davon zu reden? Er erhob sich und maß mich mit den Blicken. Sie hat Ihnen nicht davon gesprochen? fragte ich. Nein, antwortete er kurz. Und als ich nichts mehr zu sagen fand, fügte er wieder im alten Tone hinzu, er wünsche mir einen guten Morgen und wir könnten den Rest der Dinge die abzumachen wären, morgen vornehmen. — Nach kurzer Zeit erschienen bei mir zwei von denen die in jenem Kreise nächst mir die begünstigtsten gewesen und mit nach Deutschland gezogen waren, drangen bei mir ein als ich mich verleugnen ließ, und brachen als sie mich sahen in ein unbändiges Gelächter aus. Ich war stolz und kräftig genug um mitzulachen und erfuhr nun, daß ein reicher, sehr vornehmer Beamter in mehr als mittleren Jahren sein Auge auf Walli geworfen hatte und daß diese Partie ihrem Vater um so angenehmer gewesen war, als bei dem sich vorbereitenden politischen Umschläge sein Schwiegersohn, der zu den stolzesten Konservativen gehörte, ihm von großem Nutzen sein konnte. Auf welche Weise Walli's Wort gewonnen worden sei, wußte Niemand. Sie hätte brillant ausgesehen bei der Trauung. Der Graf, ihr Mann, sei eine unerträglich hochmüthige Persönlichkeit, dem Jeder womöglich aus dem Wege ginge. Compromittirt war ich in keiner Weise. Niemand wußte ja darum und Walli's Vater betrachtete die Scene jenes Morgens als nicht vorgefallen. Es dauerte nicht lange, so sollte ich der nunmehrigen Frau Gräfin begegnen. Sie wohnten auf einem nahgelegenen Gute und konnten ohne in der Stadt zu übernachten Theater und Gesellschaften mitmachen. Es gab bei uns wieder eine große Soirée. Unerwartet plötzlich sah ich Walli mit ihrem Manne eintreten. Mich ignorirte sie völlig. Meine alten Rivalen hatten sich in ihre neue Lage gefunden und setzten ihre Bemühungen fort, hier und da ein Wort oder einen Blick zu erhaschen. Ich zog mich an die Wände zurück. Ich stand wieder auf dem Balkon wie vor der Abreise, die Blumen dufteten wie damals, die Equipagen kreisten unten mit ihren Lichtern, ich sah Walli aus der Ferne auf demselben Flecke, mir war als hätte ich eben erst die Berührung ihres Fingers gefühlt und das letzte Wort das sie mir mitgab. Aber das war vorüber, und ich beschloß diesen Gedanken nicht mehr nachzuhängen. Ich fing sogar an, näher zu treten und sie zu beobachten. Sie war doch nicht so ganz und gar die alte mehr. Ihr Wesen hatte etwas

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Maschinenhaftes, ihre Lebendigkeit schien mehr aus Naturbedürfniß als aus innerer Lust zu entspringen. Indessen sie war nun kein Kind mehr, sondern eine Frau, und was kümmerte es mich? Um diese Zeit nahmen meine Verhältnisse eine entscheidende Wendung. Walli's Vater hatte sich in seinen Kombinationen durchaus geirrt, statt eine hohe Stellung zu erhalten, konnte er froh sein wenn man ihn zufrieden ließ. Mein letztes war in Paris gewesen, eine Reihe von Artikeln die unsere Zustände und deren nothwendige Aenderung in freierem Sinne besprachen, in ein dortiges Journal geliefert zu haben. Es waren die Gedanken die Walli's Vater hegte, er wußte darum, ja die ganze Sache ging von ihm aus. Jetzt wurde von Deutschland aus nach dem Verfasser geforscht. Walli's Gemahl bewirkte, daß man sich dabei beruhigte, meinen Namen zu wissen. Man deutete mir an, es sei gut einer Untersuchung aus dem Wege zu gehen. Mein Entschluß war gefaßt, mich nach Amerika zu wenden. Walli's Vater nahm diesen Plan als einen vortrefflichen auf und versprach mir jede Art Vorschub. Die Gründe warum ich ginge, kamen zwischen ihm und mir nicht einmal zur Sprache, er glitt darüber hinweg als sei er gänzlich unbetheiligt. Mir lag nicht daran, eine zweite Scene mit ihm zu haben. Ich kannte ihn und wollte nichts weiter. Es war alles zur Abreise bereit also. Eines Morgens saß ich im großen Salon und wartete darauf, angenommen zu werden, um einige letzte Geschäfte noch abzuwickeln, sah die Wände an, überlegte meine Lage, fand daß ich schließlich viel gelernt und den Muth nicht verloren hätte, und war eben mit meinen Gedanken dabei, dem Schicksal das mich geleitet den letzten rechtfertigendem Segen zu geben, als die Thür sich öffnete und die Gräfin, Walli, die früh in die Stadt gekommen war, eintrat und die Länge des Zimmers hindurch an mir vorüberrauschte. Ich erhob und verbeugte mich, sie nahm keine Notiz von mir. Die Frau war von wunderbarer Schönheit. Eine Farbe, ein Wuchs, etwas Schlankes wenn auch nicht Hohes, aber eine prachtvolle Erscheinung, ein Geschöpf Gottes wie es sein sollte. Meine Gedanken nahmen jetzt doch einen leidenschaftlicheren Charakter an. Ich wollte fortgehen. Allein noch verhandelte ich in mir darüber, als Walli zurückkam. Wieder geradeaus und ohne einen Blick für mich. Da, sie hatte die Thürklinke in der Hand um zu verschwinden, macht sie Plötzlich Halt, wirft ihre dunklen Augen auf mich und sieht mich starr an. Dann begannen ihre Lippen zu zucken und endlich die Worte: Wie konnten Sie es wagen mir jemals wieder unter die Augen zu treten? Ich stand da und wußte nichts zu sagen. Ich begriff nicht was sie meinen könnte. Außerdem, es konnte mir gleichgültig sein, die Sache war abgethan. Sie trat mir jetzt einen Schritt entgegen, doch stand sie noch entfernt genug von mir. Sie gehen nach Amerika? fragte sie. Und langsam den einen Arm hebend wie die größte Schauspielerin es nicht schöner und großartiger vermocht hätte, und mit leise gekrümmtem Finger auf mich deutend: Sie werden frei. Ich aber! Was haben Sie aus mir gemacht? Ich bleibe hier, in Fesseln, und ewig gestraft dafür, daß ich mich zu rächen glaubte wenn ich mich so von Ihnen losriß! Elender! Aber wissen sollen Sie es, damit Sie sich daran erinnern in Ihrer letzten Stunde! Hätte ich im Theater sitzend eine Tragödie gesehen, in der das so gesagt und gespielt wurde, und hätte Walli neben mir tausend Andere mit demselben glühenden Blicke angesehen, er würde mich tief in das Herz getroffen haben. Und nun ich allein mit ihr. Ihre Worte waren mir unerklärlich, ich fühlte es müsse etwas vorgefallen sein das ich nicht wußte. Gnädigste Gräfin, sagte ich, ich werde mich stets nur daran erinnern: wie ich abreiste; was ich die Zeit über dachte; und was ich fand als ich zurückkehrte — ohne eine Ahnung und ohne meine Schuld! Ohne Ihre Schuld? wiederholte sie und trat dicht vor mich. Ich fing an zu überlegen und konnte nichts entdecken. Sie denken wahrscheinlich besser von Ihren Freunden, sagte sie jetzt, als diese werth sind, und glauben, wenn Sie so unvorsichtig mit dem umgehen was Ihre Briefe enthalten, wären Ihre Freunde um so vorsichtiger mit deren Geheimhaltung?

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Ich habe weder Freunde, antwortete ich, noch habe ich ihnen Briefe schreiben können, bei denen es vorsichtiger Geheimhaltung bedurft hätte. Indessen, setzte ich hinzu, beruhigt es Sie, gnädigste Gräfin, an irgend eine Schuld meinerseits zu glauben um sich dadurch behaglicher zu fühlen, so nehmen Sie an, sie sei von mir begangen worden. Ich reise morgen ab und verlasse Europa. Ich trat zurück und verneigte mich, damit die Scene ein Ende hätte. Ich muß Sie sprechen ehe Sie reisen! rief sie aus. Ich zuckte die Achseln. Ich habe mit Ihnen zu reden, sagte sie und zwar jetzt mit einem Tone und etwas rührendem in der Stimme, das mich so sehr an die alten Tage erinnerte, daß mir keine Kraft mehr blieb Widerstand zu leisten. Sie versprechen mir, nicht eher zu reisen als bis Sie mich gesehen? Ich versprach es. Mein Vater, sagte sie, hat mir heute etwas zu schicken versprochen, ein Buch, bringen Sie es, reiten Sie heut Abend hinaus zu uns, es ist ein kleiner Weg. Geben Sie mir die Hand darauf daß Sie kommen? Ich hielt ihre Hand wieder! Sie hätte mir befehlen können jetzt, mit ihr zu entfliehen, jede Rücksicht wäre mir gleichgültig gewesen. Ich drückte einen Kuß auf ihre Hand, und sie ließ mich allein, mit Gedanken die ich nicht beherrschen konnte. Was gesagt werden sollte bei dieser Zusammenkunft, ahnte ich nicht. Aber alles erschien mir wieder möglich und erreichbar, ohne daß ich ermaß wohin die Dinge ihren Weg nehmen könnten. Als ich Abends dann aber hinausritt, hatte ich bis dahin Zeit gehabt nachzudenken. Ich kam an, das Haus lag am Ufer eines Sees, ich sehe noch die Abendsonne grell auf ihm glänzen. Ich gab mein Pferd ab, schickte der Gräfin das kleine Paquet hinein, und erbat mir ihre Befehle. Sie ließ mich ersuchen hinaufzukommen, der Graf müsse bald zurück sein und hätte vielleicht etwas. Man führte mich die breite gewundene Treppe hinauf, mir hat sich das schwarze Eisengitter von geschmiedeten Ranken so fest eingeprägt, ich wollte es noch aufzeichnen, dann ging es durch lange, öde Gemächer, sie machten einen gefängnißartigen Eindruck, und dann ließ man mich in ein kleines Zimmer eintreten mit Fenstern nach zwei Himmelsgegenden, in der dazwischen liegenden abgerundeten Ecke ein Marmor-Kamin, in dem eine Vase mit Gräsern und Feldblumen stand, ein ungeheures Bouquet. Die ganze Einrichtung alt und prächtig, viel Gold und Schnörkelwerk, und durch das eine Fenster ein Blick auf den See wieder, der jetzt tief dunkelblau dalag. Es war offen, ein aufgeschlagenes Buch lag da. Nur einen Moment aber hatte ich um diesen Anblick zu überfliegen, denn eine Thür öffnete sich und Walli trat mir entgegen. Sie machte gar keine Umschweife. Sie haben, sagte sie, Briefe an Herrn — sie nannte einen meiner Bekannten — geschrieben? Nicht Briefe, antwortete ich. Sie war schon so erregt, daß ihre Stimme zitterte als sie darauf Antwort gab. Warum sagen Sie „nicht Briefe" ? rief sie. Weil ich nur einen einzigen Brief geschrieben habe. Sie lügen! sagte sie, aber mit einem ganz seltsamen matten Tone, als wolle sie eigentlich sagen: ich bin belogen worden. Ich erwiederte nichts darauf. Stand in dem Briefe von einer Tänzerin? fragte sie jetzt. Ja wohl, sagte ich. Ah! rief sie. Daß Sie sie - - sie unterbrach sich. Eine flammende Röthe überzog sie, ich sah es obgleich es stark dämmrig wurde. Wozu? fügte sie ironisch hinzu. In meinem Briefe stand daß ich diese Tänzerin zufällig kennen gelernt und ein paar Worte mit ihr gewechselt hätte, sagte ich. Mehr nicht, gnädigste Gräfin, und weitere Briefe habe ich nicht geschrieben. Sie wollte antworten, als der Bediente erschien, auf einem kleinen Tische den Thee arrangirte und die Lampe brachte. Ich hatte während dieser Zeit wieder Gelegenheit

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nachzudenken. Ich war verleumdet worden. Ich ahndete herum. Sollte die Tante im Spiele gewesen sein? Diese Frau hatte mich seit ich zurück war in auffallender Art vermieden. Wir waren wieder allein; jetzt begann ich zu fragen, und was ich vermuthete war das richtige. Nicht sogleich war ich im Stande Walli zu überzeugen, allmählich aber gelang es ihr Vertrauen mir wieder zuzuwenden. Die Tante hat nach Muster und Anfang eines einzigen Briefes, den sie meinem Freunde abgeborgt, eine ganze Korrespondenz geschmiedet, in der ich meine Pariser Erlebnisse mittheilte. Langsam war so auf Walli eingewirkt und endlich der große Coup ausgeführt worden, das arme Ding so weit zu bringen, sich, nur um mich zu züchtigen, dem Manne zu vermählen, der sie jetzt wie einen seltenen Vogel im Käfig dasitzen hatte und in dessen Seele kein Verständniß für ihre Eigentümlichkeit und ihren Werth lebte. Kaum hatte Walli die Ueberzeugung gewonnen, daß sie das Opfer dieses Spiels gewesen sei, (an dem ihr Mann übrigens in keiner Weise betheiligt war, denn er wußte nichts davon), als sie sich, ganz wie das Kind von ehedem, dem leidenschaftlichsten Schmerze überließ. Ich suchte sie zu beschwichtigen, aber jedes Wort erweckte nur neue Ströme von Verzweiflung. Das Gefühl bei ihr: daß sie nicht mehr frei und ein für allemal nichts zu thun und zu helfen sei, machte sie wie wahnsinnig. Sie fing an mir zu erzählen. Ganz wie früher, wo sie, nah an mich heranrückend, mir gegenüber gesessen und mit lebendig mitsprechenden Händen und Lachen und Auf- und Niedersteigen der Stimme ihre Erlebnisse und Gedanken zu vertrauen pflegte, sah ich sie wieder vor mir. Jedes Härchen in ihren Augenbrauen kannte ich. Dann streckte sie den Hals ein wenig vor, dann zog sie die eine der beiden Schultern empor, dann fuhr sie mit ihren schönen Armen plötzlich vor als wären es Schlangen die vorschössen, dann strich sie sich das Haar von der Stirn, dann saß sie manchmal mitten in der Rede ein paar Momente mit halbgeöffneten Lippen starr da und fuhr mit einem Ja! wobei sie in die Höhe blickte als habe sie den Faden wiedergefunden, im Fluß der Rede fort, und das alles mit der alten Schönheit, dem unendlichen Reiz jeder Bewegung: ich war so ergriffen, so empört von dem Erlebten, so hineingerissen in die noch frischen Erinnerungen, daß ich vergaß was vorgefallen war, und ihr mit dem Gefühl und den Gedanken folgte wie früher, als sei es unmöglich, daß wir uns jemals wieder trennten. Eins hatten wir dabei aber auch ganz vergessen wie in alten Zeiten, wo wir in Paris oft bis tief in die Nacht schwatzten, während der Vater nicht müde ward an einem andern Tische Zeitungen durchzusehen: daß die Zeit verging. Es war Mitternacht geworden. Der Graf und die Tante, die mit aufs Land genommen worden war um Walli zu unterstützen, hatten um diese Zeit zurück sein wollen. Wir sitzen da, Walli gerade wieder in vollen Thränen, ich tröstend, beschwörend, beruhigend, als plötzlich die Thür sich öffnet und die, die alles verschuldet hatte, vor uns steht. Allein dieser Teufel war sogleich gefaßt. Einen Augenblick und sie wußte was zu thun sei. Wollen Sie schrie sie mich an, die Gräfin auf immer unglücklich machen? Haben Sie vergessen, daß sie eine verheirathete Frau ist? Daß sie guter Hoffnung ist? Noch ein paar Sekunden und der Graf steht hier unter uns! Sein Sie ein Mann von Ehre! Damit packt sie mich am Arme, zerrt mich zu der Thür aus der Walli mir entgegengetreten war als ich kam, öffnet sie und stößt mich in ein dunkles Zimmer hinein. Ich stand eine Weile und hörte wie der Graf nebenan eintrat, seine Frau küßte, nach ihrem Befinden fragte und dann mit manchmaligem Räuspern im Zimmer auf und abging. Ich sah den Lichtschein der Thürritzen und horte wie die Thür leise bebte wenn seine Schritte sich näherten. Es war stockfinster um mich her, kein Schein eines Fensters. Ich thue einen Schritt, vorsichtig genug, und stoße an etwas, ich höre eine Stimme welche fragt: wer ist da? Ich antworte nicht. Die Frage wird lauter und ängstlicher wiederholt. Ich sage: sein Sie ruhig und sprechen Sie nicht! Jetzt ein lauter Schrei und gleich darauf die Thür sich öffnend und der Graf mit dem, silbernen Leuchter hoch in der Hand vor mir. Neben ihm die Tante, und hinter ihnen, in der Thür stehend, sich vielmehr aufrecht haltend an ihr, Walli. Ich bemerkte, daß ich im

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Schlafzimmer einer Frau sei die ich im Schlafe gestört. Es war das Kammermädchen der Gräfin, das ich auf diese Weise in Schrecken gesetzt hatte. Was geht hier vor? fragte der Graf ohne allzu große Bewegung, und betrachtete mich mit halbzugekniffenen Augen, als suche er sich meiner zu erinnern. Ich sah an ihm vorüber auf Walli, die die Hände vor der Brust gekreuzt mich anblickte wie der Prinz in Shakespeare Stück den Henker, der ihm die Augen ausglühen will. Ich schwieg. Ich bitte um eine Antwort und zwar womöglich um eine genügende, sagte der Graf, indem er mich mit erhobenem Lichte beleuchtete wie ein Kunstobjekt das verkauft werden soll. Jetzt war die Reihe der Tante gekommen. Sie stellte sich an der einen Seite des Grafen auf die Zehen und begann, indem sie ihre Lippen zu einer flüsternden Spitze verlängerte, halblaut halbleise eine Erzählung zu zwitschern, deren Kern ich sowohl als Walli zu vernehmen im Stande waren: ich sei von alten Zeiten her im Hause bekannt — eine Art Persönlichkeit, deren Stellung nach oben und unten hin nicht recht begrenzt sei — auf der Abreise — ginge morgen nach Amerika — hätte wahrscheinlich der Kammerjunfer als einer alten Freundin Lebewohl sagen wollen — wir beide wohl kaum vermuthet daß nebenan noch Jemand im Zimmer sei — es sei nicht recht, aber doch auch wieder zu entschuldigen, eins am andern, alles mit ungemeiner Geläufigkeit und solcher Glaubhaftigkeit angebracht, daß das arme Ding von Kammerjungfer, die mit starren Augen zuhörte, vielleicht selber glaubte die Dinge seien so vorgefallen. Der Graf nickte zuweilen und warf einen Blick auf mich, als wolle er vergleichen ob mein Aussehen dazu stimmte. Ich sah nur auf Walli. Ich dachte, hat diese Frau ein Herz, so spricht sie, denn es war nichts zu verschweigen. Wäre ich ein vornehmer Mann gewesen, mit dem sie in einem Tete-a-Tete überrascht wurde, so wäre die Erfindung der Tante ja vielleicht als eins der genialsten Auskunftsmittel zu betrachten gewesen, durch das sie den Grafen und mich verhinderte uns gegenseitig todtzuschießen: allein so lagen die Dinge nicht. Was wir gesprochen hatten, durfte er wissen, und was die Person ihn jetzt glauben machte, war eine Herabziehung meiner Ehre, die Walli nicht dulden durfte. Dazustehen vor ihr als eine Art Bedienter, der sich Nachts zu einer Kammerjungfer schleicht! Es ist ja möglich daß es am besten für Alle war, wenn kein Wort der Aufklärung jetzt gesagt wurde. Diese Fassung bei ihr aber, bei ihr gerade, deren leidenschaftliches Gefühl ich so gut zu kennen glaubte! Es war mir zu Muthe als fiele das letzte Stümpchen einer Kerze um und verlöschte auf ewig. Ich litt daß der Graf mir mit ironisch zweideutiger Höflichkeit hinwarf, es thue ihm leid gestört zu haben, und daß die Tante mit ernstem Tone die Hoffnung aussprach, ich würde in Amerika ein neues Leben anfangen und man nur Gutes von mir hören, da man Ursache habe viel zu vergessen. Ich verbeugte mich und ging. Stieg auf mein Pferd, ritt zur Stadt zurück und fuhr am andern Tage ab um nie zurückzukehren. — Das war die Geschichte Deines Vaters, sagte Mrs. Forster als sie geendet. Und was sagtest Du? fragte Emmy, als ihre Mutter schweigend dasaß. Ja, ich, Kind? Ich hatte die Augen voll Thränen, einmal weil mich die Mißhandlung Deines Vaters empörte, dann aber auch weil ich fühlte, er könne, da ihm ein solches Bild vor der Seele schwebte, niemals an mich gedacht haben. Diese Hoffnungslosigkeit beruhigte mich aber. Ich war sehr stolz von Natur und zurückhaltend: als ich Deinen Vater so erzählen hörte aber, war auch das fortgeblasen. Nie hätte ich für möglich gehalten, ihm zuerst zu sagen wie theuer er mir sei. Was ich gethan als ich ihn zurückhielt und zum Erzählen zwang, war das äußerste gewesen das ich vermochte. Jetzt, wo ich glaubte daß wir auf immer von einander Abschied nähmen, schien mir schon der Respekt, den ich seiner Offenherzigkeit schuldig war, zu fordern, daß ich meine Gefühle nicht mehr verhehlte. Warum sollte er nicht wissen daß ich ihn liebte? Vielleicht war es ihm eine Art Trost sogar, und es machte mich schon der Gedanke glücklich, ihm auf Kosten meines Stolzes die kleine Wohlthat bereitet zu haben; und so, ich sagte ihm mit den einfachsten Worten, ich hätte ihn damals nur deshalb nicht

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anhören wollen, weil es mich zu tief erschüttert, daß er, nachdem er mir nach so langer Zeit durch ein einziges erstes kleines Zeichen zu erkennen gegeben, ich sei ihm nicht ganz gleichgültig, dies mit solcher Kälte für einen reinen Zufall erklärt. Er sagte mir darauf, er habe als er mich zum ersten Male gesehen, einen solchen Schrecken vor meinen Augen bekommen, die in irgend etwas das er nicht bezeichnen könne, ihn im höchsten Maße an die Walli's erinnert hätten, daß er gefühlt, er müsse sich mit aller Kraft zusammennehmen, um hier nicht zum zweiten Male in sein Verderben zu gehen. Und Du, liebes Kind, schloß Mrs. Forster jetzt, gedenke, wenn Du Dich einsam und verlassen und mißhandelt fühlst, Deines Vaters. Ich weiß wie sehr er mich geliebt hat. Und wäre mir überhaupt möglich zu denken, er hätte mich weniger lieben können, so wäre es unter der Voraussetzung vielleicht, daß dieses herzlose Geschöpf ihn vorher nicht so grausam auf die Probe stellte. Auch Du wirst einmal empfinden, was Du dem Unglück, das Dich jetzt noch niederdrückt, zu verdanken hast, und daß Du den der einst einmal, wenn es Gottes Wille ist, Dein Mann wird, vielleicht, ich will nicht sagen weniger lieben, aber weniger verstehen könntest ohne diese vorhergegangene harte Schule. Kannst Du jetzt aber fühlen was ich empfand, als ich zuerst erfuhr woher Arthur stammte? Meine instinctive Abneigung; meine fortwährende Furcht es möchte das eintreten was schließlich denn auch gekommen ist; meinen Haß. Denke Dir seinen Vater und seine Mutter, denke Dir wie sie zu einander kamen, und lege es zu dem was Du an Dir selbst nun erfahren. Das ist der Mensch. Doch genug. Du wirst selbst wissen was Du zu denken hast. Hat der Vater nie wieder Nachricht von ihr erhalten? fragte Emmy. Mrs. Forster schwieg. Emmy nahm es als eine Verneinung. Sie irrte aber. Ihr Vater hatte Nachricht erhalten, Mrs. Forster wollte nicht davon reden. Sie hatte überhaupt einen Punkt unerwähnt gelassen, der freilich nicht zu dem gehörte was sie bis dahin erzählt, wichtig genug jedoch erscheint, um ihre und ihrer Tochter Stellung zu diesen Thatsachen ganz zu begreifen. Zweierlei hatte Mrs. Forster Emmy nicht erfahren lassen. Als sie aus dem Munde dessen der dann bald ihr Gemahl wurde, gehört, daß er sie liebe und weshalb er sie liebe, war freilich all das von ihr genommen worden was sie bis dahin unglücklich gemacht, mit dem Gefühl des Glückes aber zugleich ein anderes in ihr erwacht: das der Eifersucht auf Walli. Sie war nicht die erste, die Forster liebte, das hätte sie ertragen — aber er liebte sie weil sie jener ersten glich! Hätte Forster nicht gedacht, es sei zum letzten Male daß er mit ihr redete, niemals würde er ihr das entdeckt haben. So aber war es ausgesprochen und in gewissem Sinne durch nichts wieder gut zu machen. Ein Haß bemächtigte sich ihrer auf jenes Wesen das ihr das Beste freventlich vorweg genommen, und dieser Haß ward erhöht durch das reizende Bild, das Forsters eigene Beschreibung in ihr hatte auftauchen lassen. Wenn sie sich im Spiegel sah, und welche Frau thut das nicht, stand unsichtbar der Schatten Walli's neben ihr und sagte: ich bin schöner als Du und er hat mich zuerst geliebt. Und noch ein anderes. Als Walli gestorben war, fand der Graf in ihrem Nachlasse einen Brief, der einen zweiten an Mr. Forster adressirten umschloß. In rührenden Worten las er die Bitte, diesen Brief an seine Bestimmung gelangen zu lassen. Um ihre Bitte zu erklären, hatte Walli eine Erzählung dessen beigefügt was zwischen ihr und Forster vor und nach ihrer Verheirathung sich ereignet; nichts beschönigt, nichts ausgelassen, zugleich aber so wahrhaftig die Dinge gesagt, daß der Graf die Ueberzeugung gewann, er wisse alles. Arthurs Vater war hochmüthig, und in den Jahren wo er Walli zur Frau nahm, ganz vom politischen, oder sagen wir besser: dem Interesse seiner Stellung ausgefüllt. Er glaubte seiner Frau nichts schuldig geblieben zu sein, auch beschwerte sie sich nicht. Warum jetzt diesen letzten Wunsch nicht erfüllen? Er öffnete den Brief an Forster, er enthielt die Bitte um Verzeihung und eine Schilderung ihres Lebens, keine Sylbe Anklage gegen den Grafen, nichts was ihn oder sie compromittiren konnte. Ein natürliches Gefühl der Ehrfurcht gegen den Willen Verstorbener bewegt auch den Gleichgültigsten: der Brief ward an seine Adresse abgesandt, von Forster empfangen, gelesen und bei

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Seite gelegt ohne daß seine Frau ihn zu sehen erhielt. Nach seinem Tode erst fand sie ihn. Sie verstand weshalb ihr der Brief ein Geheimniß geblieben, aber dieser Zusammenhang ihres Mannes und Walli's bis über das Grab hinaus, ließ einen Stachel in ihrer Seele zurück. Was sie an Emmy's Vater besessen, wußte sie ja, und keine neue, gedämpftere Ansicht des Glückes an seiner Seite bildete sich in ihr. Sie meinte, es sei wohl zuviel gewesen, hätte sie mehr besitzen wollen. Aber nun! All ihre Liebe ruhte auf ihren Kindern. Den Sohn verlor sie, Emmy allein blieb zurück, und diese jetzt, von dem Sohne jener Frau zuerst angelockt, in noch größerem Hochmuthe dann zu Boden geschlagen als ihr Vater einst, das letzte angetastet das sie noch besaß, und der Versuch, es wieder an sich zu reißen von neuem, täglich zu erwarten. Zu hoch gebildet im besten Sinne, hatte Mrs. Forster Jahre lang die Gefühle zu meistern gewußt, die heimlich an ihr nagten. Sie sah ein, daß es ein Unrecht sei, Emmy's unschuldig jugendlichem Herzen auch nur eine Ahnung dieser Empfindungen zu geben. Nach den letzten Ereignissen aber war sie zu Zeiten nicht Herrin ihrer selbst mehr, und gegen ihren Willen brach der dunkle Gedankenstrom ans Tageslicht, der einsam durch ihre Seele ging. Nur zu begreiflich wenn diese Frau einen Haß gegen Arthur nährte, der so groß war und so wohlbegründet in ihren Augen, daß sie glauben mußte, es bedürfe nichts weiter als ihrer Erzählung, um Emmy's letzten Rest von Anhänglichkeit an ihn für immer zu vernichten. Allein gerade die brennende Lebhaftigkeit dieses Gefühls hatte die Frau übersehen lassen, wie sehr Emmy, mochte sie immerhin ein Theil ihrer selbst sein, ein eigenes Leben führte das sich weder berechnen noch bewältigen ließ. Was hatte Emmy empfangen aus ihrer Mutter Munde? Erlebnisse, erschütternd genug, die jedoch weder sie noch Arthur betrafen, die durchgekämpft und überwunden worden waren vor dem Tage ehe sie beide die Welt erblickt. War sie verpflichtet, oder, war sie nur im Stande, so scharf zu empfinden was geschehen war, als ihre Mutter es empfand? Waren die Dinge nicht ausgeglichen und todt? War sie selbst dadurch beleidigt worden? Hatte Arthur an diesen Beleidigungen Antheil? Etwas ganz anderes erwachte in Emmy plötzlich: eine Bestätigung gleichsam, daß ihr Schicksal von Anfang an mit dem Arthurs verknüpft gewesen, und daß, was auch geschehen sei und geschehen werde, nichts sie von einander zu trennen vermöge. Einen Abgrund hatte ihre Mutter entstehen lassen wollen zwischen beiden, ganz das Entgegengesetzte war bewirkt worden. Schon daß Arthur mit so deutlichen Zeichen leidenschaftlicher Reue ihr blindlings nachfolgte, zeigte wie sehr er sie dennoch liebte. Jetzt, da Emmy aus der Beschreibung seines Vaters und seiner Mutter die Elemente gleichsam vor Augen sah aus denen seine Natur zusammengefügt war, wurde es zu einer süßen Gedankenarbeit für sie, das von ihr Erlebte in allem Unheilvollen auf Rechnung eines Geschickes zu setzen, dem Arthur gegen sein eigenes Herz hatte unterliegen müssen an jenem Abende. Sie betrachtete ihn als die schuldlose Frucht eines traurigen Irrthums. Seine edle unsterbliche Seele schien ihr in einen Körper herabgezogen, der, durch wie ein Mißverständniß gebildet, in das Leben hineingestoßen war, der ihrer bedurfte, und den feindliche Mächte vergebens von ihr zu trennen suchten. Wenn sie Arthur einsam auf dem Schiffe umhergehen sah, stundenlang an einem Flecke stehend, erschien er ihr wie einer jener Genossen des Orest, für die, verfolgt von einem dämonischen Verhängniß, die Welt die sie umgiebt, kein Verständniß und kein Mitgefühl hat. Mit Schaudern sah auch sie die Zeit entfliehen und den Moment kommen wo sie beide auf immer vielleicht voneinander gingen. Noch waren sie sich nahe und rings umher umgab sie der unendliche Horizont. Da stand er. Sein Haar regte sich im Winde. Aber die Zeit verging. Zu Muthe war Emmy als säßen sie alle auf dem Schiffe das Charon über den höllischen Fluß steuerte, hinein in ein fahles, schattenhaft grenzenloses Elend. Sie dachte nach, ob es möglich sei daß ein Mensch all das sich aufspeichernde Unrecht seiner Voreltern im Blute mitempfinge. Sie fragte sich, ob Gottes Güte das gewollt haben könne: daß die ganze Menschheit von Geschlecht zu Geschlecht mit

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schwer und schwerer sich anhäufenden Schicksalen beladen, nur schlechter und verderbter statt besser werde. Unmöglich erschien es ihr. Wie sollte die ewig sich verjüngende Natur ihrer edelsten Schöpfung diese Wohlthat des Sichselbsterneuens entzogen haben? Ein Trost war es ihr jetzt, solchen Gedanken nachzugeben. Ihrer Mutter Eifersucht gegen Walli theilte sie nicht. Ein Zug des Herzens verband sie mit dem unglücklichen Geschöpf, von dem ihr war als habe sie es gekannt. Und wie glich ihr Arthur! Für ein Glück sah sie es an, vor ihrem Bilde noch gestanden zu haben. So nah waren ihr diese Erlebnisse plötzlich. Sie meinte Walli müsse leben und ihr begegnen. Aber — wenn sie Arthur auch freisprach, ändern konnte sie nicht das Erlebte, Geschehene, beschleunigen die Zeit nicht, auf die allein hier zu hoffen war. Zugehen durfte sie nicht auf ihn und ihm sagen: komm zurück, ich habe Dir vergeben. Und so, je mehr sie Trost fand in ihren Gedanken, um so furchtbarer die Wirklichkeit, an der nichts zu rücken und zu ändern war. Unaufhaltsam eilte das Schiff vorwärts. Je näher sie dem Ziele der Reise kamen, um so angstvoller ward Arthur inne, daß keine Gelegenheit mehr sich bieten würde, Emmy hier zu sehen. Und was dann erst, wenn sie untertauchte vor seinen Blicken unter den Menschenströmen dort am Ufer! Mit wachsender Unruhe sah er die Stunden rinnen, denn schon zählte man nur nach Stunden noch. Was beginnen? Wo sie wiederfinden? Wie sich ihr nähern dort wo sie als eine der reichsten Erbinnen nicht mehr allein stand, sondern in die Reihe der großen Familien wieder eintretend, einen festen Kreis fand, der eine Mauer um sie bildete? Er begann zu bereuen daß er den guten Mr. Smith so abgewiesen. Aber es empörte ihn der Gedanke, dem Manne, dessen einfache Freundlichkeit ihn ungerührt gelassen, jetzt des Vortheils wegen sich zu nähern. Er war zu stolz, Mr. Smith zu gut dazu. Die lange Einsamkeit, das Schweigen, das Wiederkäuen der nie wechselnden Gedanken ließen Arthur ein Gespräch jetzt fast als eine Wohlthat ansehen, aber er hatte sich abgewandt von den Menschen allen, und diese selbst in der unruhigen Erwartung des Landes dachten weniger als je daran sich um ihn zu kümmern. Und so kam das Land in Sicht und das Schiff fuhr ein in die Bai von New-Jork, das aus dem Nebel immer breiter auftauchte, tief hinten in der Ferne die Kette der schwarzen Berge, und ein Gewimmel von Schiffen aller Art, die das Gewässer erfüllten umher. Die Stunde kam wo das dumpfe Brausen des Stadtlärms sich hörbar machte und das Boot, zwischen andern Booten schlank durchfahrend, sich dem Platze näherte wo es endlich Ruhe finden sollte, bis von neuem rückwärts dieselbe Bahn angetreten ward. Arthur schwamm das alles vor den Augen. Es war als steuere man einer Guillotine zu, deren unbarmherziges Aufundniederarbeiten immer näher und näher tönte. Er suchte nach Emmy, mitten unter den Menschen wollte er vor ihr niederfallen und ihre Knie umklammern, aber sie war nirgends mehr zu sehen. Immer dichter drängten sich die Häusermassen auf ihn ein und der Kranz unzähliger Schiffe um sie herum, der Wind kam vom Lande, und ein durchdringender Stadtgeruch flog, vermischt mit Steinkohlendampf, herüber. Das Schiff aber, mit einer stolzen Schwenkung aus dem bisherigen Zuge geradeaus sich plötzlich herausreißend, steuerte jetzt auf die Stadt zu, als müsse sie sich aufthun, damit es sie gradwegs mitten durchschneide, bis es in die freie Lücke hineinstieß, die unter unzähligen, aber bereits dichtbesetzten Plätzen einzig und allein übrig schien, um dem Sande nahe zu kommen. Fest lag es, ein paar Minuten noch, und nun so fest als wäre es ein Theil der Stadt selber, von der hier nur ein unordentlicher Haufen grauschwarzer Häuser abschreckend genug sichtbar war. Die erwartende Menschenfluth am Ufer und die der Passagiere erreichte sich längst mit Worten, mit Händen beinahe, endlich fielen die Schranken und man strömte in einander. Scenen des Empfanges, des Wiedersehens, des Abschiednehmens der Passagiere untereinander, Geschrei der Leute die die Massen des Gepäckes an's Ufer schleppten: keiner unter der Menge aber, der um Arthur sich kümmerte. Er stand da, er hatte keine Eile. Da gab der Conte der Contessa den Arm; da standen die jungen Hamburgerinnen mit den beiden italienischen Schwestern — mit denen sie

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am letzten Tage noch auf französisch intim geworden — und küßten sich sogar; da drückten die jüngeren Geschäftsleute sich dahin dorthin im furchtbaren Kreuzfeuer die Hände und drehten sich nach einigen Schritten um, um nochmals mit Gelächter Adieu zu rufen; da packte der deutsche Doctor dem breiten Rücken eines Negers seinen Koffer auf und sah aus als wolle er schließlich selber oben aufspringen — Platz wäre gewesen. Arthur sah nach Emmy. Noch stand sie mit ihrer Mutter an Bord, Smith schien verschwunden. Sollte er in diesem letzten Momente ein Wort an sie richten? Nur sich nähern, um noch einmal das Gefühl zu haben, sie sehe ihn, sie wisse daß er da sei? Er zitterte, er wagte nicht einen Schritt, er sah Smith mit großen Sprüngen heraneilen, sah ihn Mrs. Forster den Arm geben — Emmy ging voran — schon drängten sich die Menschen zwischen sie und ihn — und jetzt fuhr der offene Wagen vor, in den sie einstiegen, mit Smith zugleich, und der fortrollte, fort, wohin? Arthur war, als er hinter ihnen dreinsah, wie einem Menschen dem all seine Existenz in ein einziges Kleinod gezaubert war das plötzlich aus seiner Hand in ein unergründliches Wasser fällt: tiefer, tiefer sieht er es sinken, endlich nur ein Schimmer noch, und dann auf ewig graue kalte Wogen darüberfließend. Wohin waren sie verschwunden? Wer, den er danach fragen konnte? Wer, der ihn aufnahm? Nichts hörte und sah er jetzt um sich, als das Gekreisch einer fremden Sprache und das Getöse der Stadt in drohender Nähe, in das einzutreten, ihn schauderte.

Achtzehntes Capitel. Der einzige Mensch, mit dem Arthur auf dem Schiffe in Verkehr gestanden, einer der Stewards der seine Cabine in Ordnung gehalten, hatte zum letzten Dienst seinen Koffer ans Land getragen, ein Trinkgeld empfangen und herzlich unterthänigst sich empfohlen. Arthur, dem es nicht darauf ankam sich zu beeilen, (denn was aus aller Welt hätte ihn dazu veranlassen können?) saß auf seinem Eigenthum und sah dem Fortgehen der letzten Passagiere zu. Unter diesen war einer gewesen, dem es, was die Verlassenheit anlangt, fast so ergangen war wie Arthur, nur aus andern Ursachen allerdings; denn während dieser den Leuten absichtlich aus dem Wege gegangen war, hatte jener nirgends recht ankommen können. Mr. Smith meinte, es trete bei dem Herrn zu sehr die Absicht hervor, wie ein Gentleman erscheinen zu wollen. Der Mann hatte ferner das Unglück gehabt, sich im Gespräche der Bekanntschaft von Leuten zu rühmen, bei denen zufällig sogleich zu Tage kam daß er sie nicht kenne. Er hatte etwas von einem Theologen, dann wieder von einem Handlungsreisenden. Er hielt den Kopf immer ein wenig schief der einen Schulter zu und blinzelte mit dem obenliegenden Auge von Zeit zu Zeit in die Höhe, als wolle er sehen, ob nicht ein Polizeibeamter hinter einer Wolke hervorblicke und ihn aufs Korn nehme. Wenn er sprach, zog er beide Mundwinkel zu einem süß-sauren Lächeln zurück: kurz und gut, was man einen fatalen Kerl nennt. Arthur hatte ihn niemals genauer betrachtet, allein seine Gestalt sich ihm doch insoweit eingeprägt, daß er ihn als einen von der Schiffsgesellschaft wieder erkannte. Dieser Mann lehnte sich neben ihm an einen der Ballen die da aufgestapelt lagen, und sah die Passagiere gleichfalls ziehen ohne sich selbst zu beeilen. Wie die eigentliche Natur des Menschen wieder durchbricht! hörte ihn Arthur jetzt plötzlich sagen. Wie einsam jeder ist unter uns. Kaum daß man sich auf ein paar Tage in eine Art Zusammenhang hineingeschmeichelt und gelogen hat: nur die Möglichkeit braucht gegeben zu werden, so stiebt alles wieder auseinander. Er hatte das so vor sich hin gesprochen als dächte er laut und hielte sich selber diese Rede, dabei aber zuweilen nach Arthur geschielt ob dieser zuhöre, und als dies der Fall war, schloß er mit einer plötzlichen offenen Wendung zu diesem hin: Ist dem nicht so, Herr Graf? Arthur sah ihn erstaunt an.

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Verzeihen Sie, fuhr der Andere lächelnd fort, ich sah Sie neulich auf die Uhr sehen und bemerkte das emaillirte Wappen auf der Rückseite. Mein Name ist —, er nannte einen adlig klingenden Namen, den er dann noch einmal wiederholte. Wäre an Arthur's Stelle Erwin dagewesen, so hätte dieser darauf etwas geantwortet wie „So?" oder dergleichen und dem Herrn in verständlicher Weise den Rücken zugedreht. Arthur erhob sich ein wenig und sah den Mann genauer an, der dies Examen mit einer gewissen Aengstlichkeit aushielt. Er empfing nicht den besten Eindruck, indessen warum sollte der Herr nicht der sein als den er sich nannte, und zumal war die Bemerkung die er gemacht, eine richtige. Arthur lasteten ziemlich dieselben Reflexionen auf dem Herzen. Sie haben Recht, erwiederte er. Diese Einsamkeit ist der Grundzug der heut lebenden Generation, könnte man sagen. Der Andere beobachtete ihn erst einen Moment, als könne er nicht recht glauben, daß Arthur so ohne weiteres auf das Gespräch eingegangen sei. Also Sie empfanden das gleichfalls, verehrter Graf? setzte er es nun fort. Es ist eine Beobachtung eigentlich, die so traurig ist, daß man sich ihrer meistens mit Gewalt entschlagen muß, nur um das Leben nicht unerträglich zu finden. Was sind wir? Wie lange dauert dieser Traum des Lebens? Und während wir ihn ertragen, nicht einmal sich einreden dürfen, die Menschen bildeten eine Art Gemeinschaft und der eine kümmere sich um das was der Andere denkt, mehr noch: sei im Stande nur, sich darum zu kümmern! Arthur war einigermaßen erstaunt, den noch ziemlich jung erscheinenden Herrn so greisenhaft weise reden zu hören. Allein was er sagte, schien ihm wahr und schön gesagt. Und was das traurigste ist, fuhr der Andere immer schwunghafter fort, wenn wir uns selbst betrachten, was entdecken wir? Dieselbe Kälte, dieselbe Unfähigkeit uns anzuschließen, und, es ist furchtbar zu sagen, dasselbe geheime Wohlbehagen wenn wir gewahr werden daß es Anderen schlecht geht, selbst denen die wir nicht kennen und deren Leiden uns niemals nützen könnte. Es entzückt uns zu lesen daß Städte verbrannt, Menschen in Massen verunglückt, blutige Schlachten geschlagen sind. Ich glaube deshalb, es ist dieser grausam erscheinende Zug unserer Natur mehr eigentlich die Folge einer Bedürftigkeit nach der Gewißheit daß auch Andere unglücklich seien, nicht wir nur. Eine Art Trost, uns nicht so ganz allein zu wissen, wenn wir die Wasser steigen sehen und keinen Hügel gewahren auf dem wir uns retten könnten. Sie sind Geistlicher? fragte Arthur. Nein, erwiederte der Andere mit einem schlürfenden Seufzer. Ich hatte derartige Neigungen, als mir (er blinzelte wieder nach der Wolke) ein Vermögen zufiel und ich mich auf Reisen begab. Ich will mir das Land hier ein wenig ansehen. Verfolgen Sie bestimmte Zwecke in New-Jork, Herr Graf? Es ist bei mir dasselbe der Fall, sagte Arthur. Sie waren unterdessen ziemlich die letzten geworden die sich an dem Landungsplatze des Schiffes vorfanden, auf dem es ganz still ward, während einer der Beamten die da thätig waren an sie herantrat und die Herren fragte, ob sie ihr Gepäck irgend wohin wünschten. Arthur hatte nur einen Koffer und Reisesack, sein Genosse nur einen Sack. Man kam überein in Astorhouse zu logiren, ein Omnibus ward angehalten der in dieser Richtung ging, und sie fuhren ab. Bald waren sie mitten im Strome des Broadway, der unendlichen Straße welche New-Jork durchschneidet, und nicht lange so hielten sie dem Park gegenüber vor dem Hotel. Hier trennte sich der Fremde von Arthur, nicht ohne sich die Zimmernummer gemerkt zu haben, die dem Grafen zu Theil geworden. Drei Treppen ging es hinauf, einige Gänge wurden durchlaufen, und Arthur sah sich einsam zwischen vier Wänden, innerhalb derer er so oftmals auf und ab gehen konnte jetzt als ihm beliebte ohne daß ein Mensch in ganz New-Jork sich darum gekümmert und ihn unterbrochen hätte. Da saß er. Sein Koffer stand an der Wand. Vor den balkonartigen Fenstern hingen feine Holzrouleaux, das Getöse der Stadt drang durch

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sie zu ihm voll empor, obgleich er im vierten Stocke wohnte. An jedem Fenster ein Wiegestuhl mit Rohr beflochten. An den Wänden drei große colorirte Abbildungen von Dampfschiffen mit unzähligen bunten Flaggen, und unter jedem der Name des Fahrzeuges und der Compagnie der es gehört, die Rahmen vollgesteckt mit Empfehlungskarten welche Route und Fahrplan trugen. An den Wänden ferner ein Schrank mit der Büste des Präsidenten Lincoln darauf, an der die Fliegen umherliefen oder still saßen, eine Kommode und ein paar Stühle, sehr elegant und glänzend, die Matte auf dem Fußboden exquisit fein, alles aber so kahl, so ganz dazu gemacht auf der Stelle wieder verlassen zu werden ohne sich auch an das geringste Stück davon zu erinnern, daß ihm sein alter Koffer wie das einzige lebende Stück unter lauter gefirnißten Leichen vorkam. Da saß er. Er sprang auf, zog eins der Rouleaux in die Höhe und lehnte sich auf die Fensterbrüstung. Es war etwa zwei Uhr Nachmittags. Die Sonne brannte grell auf das Pflaster von dem die Strahlen abprallten, unten dieselbe ewige unveränderliche Wirthschaft von rasselnden Wagen, Omnibus und Menschenströmen an der Seite. Ein leichter Staubschleier darüber schwebend. Arthur starrte wohl eine Stunde so hinunter. Er las die in tollen Buchstaben geschriebenen mehr oder weniger riesenhaften Annoncen an den Häusern. Er betrachtete die Formen der Architektur, weder neu noch originell, lauter Gebäude die man in Paris, Berlin, London, Brüssel als leidlich geschmacklos gleichmäßig übersehen haben würde. Astorhouse gerade gegenüber dem Park, der hier auf eine kleine Strecke ein bischen Grün und frische Luft in die Straße bringt, zeigte nur dünnbelaubte Bäume, deren etwas verkümmerter Wuchs so zu unverhüllter Erscheinung kam. Die gesammte Anlage, aus der Vogelperspektive betrachtet, nahm sich elend und spärlich aus, und überhaupt alles schien diesen Stempel einer aufs billige gerichteten Nothdürftigkeit zu tragen, als hätte man genau gewußt bei jedem einzelnen, auf wie viel Jahre man die Häuser zu bauen wünschte um sie dann abzureißen und neu zu errichten, gerade wie man nach so und so langer Zeit einen Rock ablegt, und, statt ihn auszubessern, praktischer einen neuen kauft. Ein schauderhaftes Gefühl hohler Fremdheit überrieselte Arthur. Er hatte Neapel und Paris gesehen und eine Reihe Städte zwischen diesen beiden: jede trug ihre Seltsamkeit, ihr Auffallendes, ihren nationalen Typus; hier aber war gar nichts eigenthümliches im Grunde, und doch das Ganze im fatalsten Sinne ungewohnt. Geschmacklos, absurd war der Anblick, und weil obenein so colossal, lag etwas teuflisches zugleich darin. Unmöglich schien ihm, daß friedliche Familien in diesen Häusern wohnten. Der heiße, stinkende Lärm dazu — Arthur kam aus der frischen Seeluft — betäubte ihn. Er ließ das Rouleau wieder herab und warf sich auf das Canapee. Und wieder betrachtete er die drei Schiffe an den Wänden und den gypsernen Präsidenten auf dem Schranke, und die Lichtstreifen die zwischen den Rouleauxstäben durchblitzten. Er sprang wieder auf, öffnete seinen Koffer, zog sich um und verließ das Haus, um selber in das Gewühl der Menschen hinauszutreten. Er drängte sich durch bis zur Battery hinunter. Seine Absicht war, das neue in sich aufzunehmen um sich selbst zu vergessen. Jetzt aber erst ward ihm etwas klar, was er zuerst empfunden als das Schiff in die Bai von New-Jork einfuhr: er hatte das ja schon gesehen! Nichts war ihm neu; jedes Haus, selbst das Gewühl der Menschen so allbekannt als kehrte er an einen Ort zurück den er kurz zuvor verlassen. Und nun erst fiel ihm ein, weshalb. Emmy war im Besitz einer Menge von Stereoskopen gewesen, die er bei ihr wer weiß wie oft betrachtet und immer wieder betrachtet hatte. Sie lagen auf dem Tische, und bewußt oder unbewußt sie eine nach der andern aufnehmend, waren die Blicke die sie boten, ihm ins Gedächtniß hineingewachsen. Hier begegnete er ihnen wieder. Diese Häuser, sogar dies? Ladenschilder und Kaufleute in den Läden, diese Aussichten in die belebten Straßen, auf das Meer, in die Schiffe hatte er unzählige Male vor Augen gehabt. Er fand sich leicht darin zurecht. Emmy hatte ihm auf einem Plane der die Stadt aus der Vogelperspektive zeigte, erklärt wie die Straßen liefen, besonders wo ihr Landhaus lag am Ufer des Hudson. Er wußte welchen Weg er dahin zu nehmen hätte von seinem Hotel, man brauchte nur ein paar Schritte

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hinunterzugehen und sich auf die Pferdeeisenbahn zu setzen, die durch die Stadt fast dicht heranführte. Und so, als er in den Straßen ging, nicht einmal die Beschäftigung: sich von etwas gänzlich Fremden überraschen zu lassen. Er wandte sich dahin und dorthin, blieb vor einigen Läden stehen, gewöhnte sich bald auch an das Fremdartige der Physiognomien; gelangweilt und müde kam er in Astorhouse wieder an, dessen Aeußeres selber mit der wehenden Fahne obenauf er aus dem Bilde so gut kannte. Was sollte er beginnen? Was hatte er zu thun? Getrennt von Emmy, wie war es möglich sie wieder zu erreichen? Das Planlose seines Verfahrens stand ihm in seiner ganzen Nacktheit vor Augen und ein Gefühl gränzenloser Niedergeschlagenheit bemächtigte sich seiner. Er aß zu Mittag in dem großen Saale des Hotels, wo das unruhige Treiben keinen Eindruck auf ihn machte; er trank den Kaffee im Lesezimmer, wo er die Leute mit den Beinen zum Fenster herausliegen sah: auch davon hatte er früher zum Ueberdruß gelesen. Er stieg wieder in sein Zimmer hinauf, wo die Fliegen an der Wand seitdem kaum ihren Platz verändert. Was thun? Er wollte an Erwin schreiben — er unterließ es. Er überzählte sein Gold und schloß es wieder in den Koffer. Sah wieder hinunter auf die Menschen, kein anderer Anblick als vorher. Immer größer erschien ihm sein Fehler, Mr. Smith so schnöde von sich gewiesen zu haben. Nach Menschen sehnte er sich. Aber man stampft keine Freunde aus dem Boden. Es gehört mehr dazu als man glaubt, wenn man Gesellschaft braucht Gesellschaft zu haben. Noch einmal stieg er hinab und lief sich müde in den Straßen, um endlich sich so früh als möglich schlafen zu legen. Am andern Morgen brachte ihm der Aufwärter eine Karte ins Zimmer. Der Herr warte unten. Der Herr vom Dampfschiffe natürlicherweise. Arthur, obgleich ihm sein Reisegenosse zuwider war, freute sich ihn zu sehen und ließ ihn herauf bitten. Gefrühstückt hatte der Mann schon, war aber bereit Arthur noch einmal Gesellschaft zu leisten, und so ward das Frühstück für beide hinaufbestellt. Arthur war in der Stimmung seine Gesellschaft so liebenswürdig wie möglich zu finden; immerhin doch ein lebendiges Wesen und besser als ein Hund. Das auffallendste an ihm seine Reden. Wäre Erwin wieder an Arthurs Stelle gewesen, er würde gesagt haben: aus welchen Büchern hat der Kerl das auswendig gelernt? — Mr. Smith gar hätte ihn nicht zwei Minuten im Zimmer geduldet, und zugleich bemerkt, mit welcher Aufmerksamkeit er sich rings umsah und besonders den Koffer in's Auge faßte. Arthur aber fiel davon in der That nichts auf, auch hatte er keine Lust etwas zu merken. Sie standen am Fenster. Blicken sie auf dies Volk, sagte der Fremde, alle diese Leute oder ihre Eltern und Großeltern kamen einmal an wie wir gestern. Als ich die Passagiere unseres Dampfers sich so in das große Gewühl verlieren sah, war mir als erblickte ich sich krystallisirende Atome, die dahin und dorthin flogen plötzlich, um Theile des großen Ganzen zu werden. Arthur leuchtete das ein und er nickte beistimmend. Sind Sie nicht meiner Meinung, fuhr der Andere fort, ist es nicht als verlören die Völker in gewissen Epochen ihre Cohäsionskraft? Als fiele die Welt wieder auseinander, bildete weder Vaterland, noch Familie, noch Sprache, ein Mittel mehr den Bruder an den Bruder zu fesseln — und da mit einem Male gestaltet sich, abseits in einem neuen Welttheile, ein neues Centrum mit lebendiger Anziehungskraft, dem sie zufliegen, und aus dem ewig Dagewesenen entsteht ein ungeahntes Neue, das die Menschheit hält und befriedigt, auf ein Jahrtausend vielleicht wieder! Das mag es sein, sagte Arthur gedankenvoll. Solch eine Zersetzung gewahren wir in jenen Zeiten, fuhr der Andere fort, in denen das Christenthum begann. Wir müssen den Geist jener Jahrhunderte betrachten. Lesen wir die Briefe des jüngeren Plinius: dies Geschwätz, diese ineinander verflochtenen Nichtigkeiten, lauter Privathandel, nirgends Sinn für den Gang der öffentlichen Angelegenheiten, und mitten in diesem fruchtlosen Treiben die ersten Christen! Sie erscheinen farblos beinahe. Plinius läßt sie foltern: keine irgendwie compromittirenden

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Aeußerungen können den Leuten extorquirt werden. Sie kommen zusammen, alle Stände treffen sich da, sie ermahnen sich zur Tugend indem sie gewisse allgemeine große Grundsätze wie Liebe zum Nächsten, Treue, Redlichkeit, Friedfertigkeit einander einprägen und sich zu ihrer Heilighaltung verpflichten. Sie sind gute Bürger, nur göttliche Ehre wollen sie dem Steinbilde des Kaisers nicht erweisen. Und Trajan und Plinius denken mit einigen oberflächlichen Polizeimaßregeln dergleichen zu ersticken wie man eine ansteckende Krankheit zu beschränken und zum Erlöschen zu bringen meint: und in diesen Anfängen die Macht die 200 Jahre später die ganze Herrschaft in Händen hat und noch ein paar hundert Jahre weiterhin die Welt regiert! Was hat dieses amerikanische Leben anlockendes? Es erscheint uns öde und farblos. Aber seine Kraft liegt darin: daß es basirt ist auf einige wenige aber unverwüstliche Grundprinzipien, auf die der politische Zustand hier einzig und allein gegründet ist, und deshalb zieht das Land so geheimnißvoll die Menschen an, und es wird die Welt umgestalten. Wieder würde Erwin an Arthurs Stelle bei dieser Rede gedacht haben, wo zum Kuckuk hat der Mensch das her? Arthur aber hörte mit Freuden diese Sätze, die ihm in hohem Grade einleuchteten. Und doch, versetzte er nun seinerseits, verhehle ich Ihnen nicht, daß ich mit einem Schauder diese Stadt betreten habe, die nichts regiert als die einer so großen Masse Menschen unentbehrliche Nothwendigkeit: einen Rechtszustand zu schaffen. Es würde ohne das Alles drüber und drunter gehen. Aber wie dieses Gesetz sich ohne recht sichtbare Repräsentanten aufrecht erhält, hat etwas unfaßbares für mich. Sie werden es kennen lernen, sagte der Andere. Ich bin nicht zum ersten Male hier, und für die welche das Leben hier kennen, hat es unwiderstehliche Reize. Allerdings, gewisse feinere geistige Neigungen finden einstweilen keine Befriedigung. Diese Neigungen sind eigentlich aber doch nur ein Raffinement. Raffinement finden Sie hier nur in den gröbsten Genüssen, wie das bei einer so bunten Bevölkerung, der ununterbrochen der Auswurf Europas sich einverleibt, natürlich ist. Jeder muß den Anderen hier mit Mißtrauen ansehen, bemerkte Arthur. Ja, da haben Sie sehr Recht, erwiederte der Fremde und schielte mit dem einen Auge nach ihm hin. Und doch, setzte er nach diesem kurzen Examen hinzu, schärft sich in unglaublichem Maße hier der Instinct, den ächten Gentleman, den wirklichen Gentleman unter einem Dutzend solcher herauszufinden die es nicht sind. Es ist wie Pferdekenner auf den ersten Blick einem Thiere die Herkunft und Brauchbarkeit ansehen, während Andere lange probiren und prüfen müssen. Die Sinne bilden sich feiner aus in dem Maße als man ihrer bedarf. Nach dieser Unterhaltung trennten sich die Herren, wobei Arthur auf die Frage, ob man gelegentlich sich nach ihm erkundigen dürfe, die Bitte darum auszusprechen nicht umhin gekonnt. Was der Mann gesagt, war ihm neu. Er hatte sich am Abend vorher, um doch nicht so ganz beschäftigungslos zu sein, in einem Buchladen der offen am Wege aufgeschlagen stand, auf gut Glück eine Handvoll Bücher, jedes Stück zu demselben billigen Preise, eingesteckt. Sie lagen da und er griff danach. Eins darunter zufällig, (doch nach dem griff er zufällig nicht): hätte er da Seite so und so viel aufgeschlagen, so würde er gerade das soeben gehörte viel besser gefunden haben. Arthur war frappirt von der Art wie der Fremde das Wort Gentleman gebraucht. Auch in Deutschland pflegt man es zu benutzen, könnte es aber entbehren denn es deckt bei uns keinen runden praktischen Begriff: in Amerika schien das anders. Die Gentlemen mußten da eine Art unsichtbaren Adel bilden. Das schlimme war nur, sie herauszuerkennen und mit ihnen bekannt zu werden. Arthur also schlug eins dieser Bücher auf und der Satz fiel ihm in die Augen: What fact more conspicuous in modern history than the creation of the gentleman: „Was auffallender unter den Thatsachen der modernen Entwickelung als das Werden und Gewordensein des Gentleman! Ritterlichkeit, las er weiter, ehrenhaftes Gefühl für Recht und Unrecht, das ist das Wesen des Gentlemanthums. In allen Dramen und

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Romanen die in England geschrieben werden, tritt die Gestalt des Gentleman's in den Vordergrund. In zukünftigen Zeiten wird dieses Wort einmal die unsrigen charakterisiren, wie nach anderer Richtung das Wort „Christ" es thut; so richtig ist es; so viel unsere edelsten Eigenschaften berührendes, so viel unerklärbares, durch andere Worte unmöglich definirbares liegt in dem einen Begriffe verborgen." „Man hat ihn erklären wollen und allerlei abenteuerlich phantastische Ideen damit in Verbindung gebracht: sein eigentlicher Inhalt jedoch beruht auf der Summe dessen was die Welt im Verkehre als schätzbar anerkennt. Alle Männer jedes Landes machen Anspruch auf diesen Ehrentitel, wer ihn trägt d. H. verdientermaßen trägt, wird sich überall verstanden und gut aufgenommen finden. Und dieser undefinirbare Begriff ist dennoch zugleich so präcisen Inhalts, daß Jeder sogleich fühlt, wer das geheime Erkennungszeichen, das den Gentleman anzeigt, zu geben wisse und wer nicht. Und deshalb, von nichts zufälligem kann hier die Rede sein, sondern von dem, was jeder Mann von Charakter besitzt und begreift. Das ist es was den geheimen Sinn des Wortes ausmacht." „Comme il faut" sagt man in Frankreich um die gute Gesellschaft zu bezeichnen. Die „gute Gesellschaft" ist die natürliche freiwillige Blüthe gerade der Classe, welche unter allen die lebensfähigste ist; welcher heutigen Tages die Leitung der Dinge zusteht, und die, ohne gerade darauf Anspruch machen zu dürfen den reinsten, höchsten, brillantesten Ausdruck der menschlichen Existenz zu verkörpern, dennoch das höchste Durchschnittsmaß dessen liefert was innerhalb der Fähigkeiten der heutigen Gesellschaft liegt." „Weniger auf dem was man praktisch zu arbeiten im Stande sei, als wie man zu urtheilen und zu empfinden wisse, beruht die „gute Gesellschaft"; sie ist so zu sagen der beste Extract des allgemeinen geistigen Vermögens. Keine der großen weltbewegenden Kräfte, wie Tugend, Scharfsinn, Schönheit, Reichthum, politische Macht, die nicht von der guten Gesellschaft aufgesogen und zu einem ihrer Bestandtheile wird." „Alle die Worte mit denen wir eine gewisse Ausgezeichnetheit im geselligen Verkehr und gute Manieren zu bezeichnen pflegen, haben etwas was ihren Gebrauch bedenklich macht. Die Begriffe sind zu schwankend. Es giebt kein modernes Wort mit dem sich Gentlemanthum umschreiben ließe: aber durch Gegensätze vielleicht läßt es sich andeuten. Wie heroisch erscheint der Gentleman neben dem, von dem man nur sagen kann daß er fashionable sei. Solche Worte von oft diabolischem Inhalte bezeichnen immer dennoch Begriffe auf die man zurückkommen muß weil sie einmal da sind. Der wahre Unterschied bei all dem was dieses und andere Worte wie fein, nobel, chevaleresk und dergleichen sagen wollen, ist immer, daß sie nur die Blüthe, die lockende Frucht des Baumes, niemals aber den Kern bezeichnen aus dem er erwächst. Es handelt sich dabei nur um äußerliche Schönheit, nicht um den tieferen Werth. Der Gentleman ist der Mann von Wort, der freie Herr seiner Handlungen, in seinem Auftreten liegt daß er es sei, daß er weder von Personen, noch von Parteien, noch selbst von seinem eigenen Reichthum abhängig sei. Dies drückt das Wort aus und daneben eine gewisse freundliche Bereitwilligkeit oder menschliches Wohlwollen. Zuerst das was den Mann ausmacht, dann was ihm wohl ansteht. Das gemeine Volk verlangt daß der Gentleman auch in gewissem Sinne unabhängiges Vermögen besitze. Das aber ergiebt sich ja von selbst: daß solche Männer Kraft genug haben zu erwerben was sie gebrauchen und Liberalität es mitzutheilen. In kriegerischen Zeiten bedarf es des Beweises persönlicher Tapferkeit und deshalb tönen alle die Namen der feudalen Zeiten wie Schwertergeklirr und Trompetengeschmetter. Allein dessen bedarf es nicht in erster Linie. Männer von Kraft und Stärke werden auch ohnedies heutigen Tages von der fluthenden großen Menge als die Männer der guten Gesellschaft herauserkannt und dahin gestellt wo ihr Platz ist. Politik und Handel bieten der Kraft eines Mannes heute eben so beweiskräftige Kampfplätze als das Gewühl der Schlacht in vergangenen Tagen lieferte."

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So weit kam Arthur diesmal. Der Tag war vorgerückt, er ging wieder hinunter und durchstreifte die Stadt. Aber jene Sätze klangen nach in ihm. Ganz neue Ketten von Begriffen bildeten sich. Er fing an nachzudenken, welche unter all denen die er je gekannt, Gentlemen seien. Erwin! Sonst fand er keinen recht. Gern hätte er sich selber dazu gestempelt, aber innerhalb welcher Gesellschaft stand er denn? Wobei hatte er seine Kraft erwiesen? Was aber fast beleidigend war für sein Gefühl, und doch konnte er es nicht ändern: Mr. Smith erschien als ein Gentleman vor seinen Blicken. So philosophirend drängte er sich durch die Menschen. Was ihn am meisten erstaunte, war daß diese ungeheure Masse so richtig ineinandergriff. Eine drängende Neugier erfaßte ihn, dies Leben näher zu ergründen in seinen inneren Bedingungen. Ein Freund, der ihn mit einer Anzahl Gentlemen jetzt bekannt gemacht hätte, wäre ein Geschenk des Himmels gewesen. So dachte er als er Abends nach dem Essen in dem Lesezimmer wieder seine Zeitungen durchlas, so als er, nachdem er dann oben seine Bücher wieder vorgenommen, endlich einschlief, so als er erwachte. Er las in dem Buch weiter. So wunderbar war der Eindruck dieser Gedanken auf ihn, daß er, woran er nie zuvor gedacht, ein Blatt Papier nahm um niederzuschreiben was er fühlte und, er wußte nicht warum, zu ordnen wünschte indem er es in geschriebene Sätze brächte. „Sollte es möglich sein, schrieb er, daß alles, worauf meine Anschauung des Lebens beruhte, ein Irrthum war? Wären die für mein Gefühl ewigen Grundlagen des Staates und der Gesellschaft doch nur wandelbare Formen, die mit dem Geiste des Tages wechselnden Inhalt aufnehmen? Ist dieser Gentleman, den der amerikanische Schriftsteller als den einzigen Helden des Tages hinstellt, die wirkliche reale Grundlage des modernen Lebens? Sind die Stände, an deren unvergänglich erbbare Berechtigung ich glaubte, schon Schatten geworden, die gar nicht mehr mitzählen? Gespenster, die verscheucht werden, wo die ächte frische Lebenslust der neuen Zeit bläst?"' „Ich fühle eine Einwirkung der hiesigen Luft (anders kann ich es nicht nennen) auf meinen ganzen geistigen Zustand. Ich bin doch nur stumm durch die Menschen gegangen, so äußerlich als möglich, und dennoch dieser Einfluß. Anders alles als in Deutschland. Unsere Gegensätze scheinen völlig zu fehlen. Bestimmte praktische Fragen auf der Tagesordnung, und eine Scheidung der Parteien um dieser willen. Und so sehr jeder nur auf Gewinn abzuzielen scheint, doch überall ein Zurückgehen auf die einfachsten Gesetze der Zweckmäßigkeit oder der Moral." „In Europa wären mir solche Betrachtungen nie aufgestiegen. Hier saugte ich sie ein, scheint es, mit dem Athem des neuen Welttheils, dem ich meine Brust nicht verschließen darf wenn ich leben will." So schrieb er. Es war am Morgen des dritten Tages. Der Fremde unterbrach ihn wieder, aber Arthur hatte anderes vor, und der Mann merkte es sogleich und empfahl sich mit ungemeiner Höflichkeit. Arthur wollte endlich das Haus sehen wo Emmy wohnte. Er hatte es nicht gewagt bis dahin, er schämte sich bei dem Gedanken: erblickt zu werden etwa. Aber die Sehnsucht war zu mächtig geworden endlich. Nicht den Versuch wagen bei ihr einzudringen wollte er, nur von fern gewahren wo sie lebte, wie Odysseus nur den Rauch der Heimath zu sehen begehrte. Je mehr seine Anschauungen in Verwirrung geriethen, immer klarer stand als das einzig Unwandelbare fest in ihm, Emmy sei die zu der er sich retten müsse. Niemals hatte mit so glühenden Farben eine Zukunft an ihrer Seite sich ihm vor die Seele gestellt. Die Welt erschien ihm überflogen von aschfarbenem Arbeitsstaube, nur sie stand wie ein Rosenbusch nach dem Regen mitten darin, der einzige Anblick der Trost und Erquickung gewährte. Einen Plan der Stadt besaß Arthur bereits, es war nicht schwer sich zu finden. Das Adreßbuch im Lesezimmer bestätigte, daß er nicht geirrt. Auch der Wirth kannte die alte Familie wohl und nannte Mr. Smiths Besitzthum als das anstoßende. Er theilte Arthur sogar mit, daß er es gut treffe, die Damen seien, wie er höre, eben gerade von

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drüben zurückgekehrt. Und so ließ sich Arthur einen der leichten Wagen mit seinen großen Rädern kommen auf dem gerade für ihn Platz war und fuhr der Gegend zu. Eine Ewigkeit von Straßen dauerte es zuerst. Am Ufer des Hudson außerhalb der Stadt endlich begannen die Landhäuser, von denen eins das Forstersche war. Wie ward Arthur zu Muthe, als ihm das photographische Bild, so oft betrachtet, jetzt hier als Wirklichkeit vor Augen stand. Die Bäume, die den sanften Hügel sich hinanzogen, die weißen Wände des Hauses, durchschimmernd durch das Laub, das lange Gitter das die Besitzung nach der Straße zu abschloß. Er hemmte das Pferd. Ach er durfte nichts weiter, als hinübersehen. Langsamen Schrittes fuhr er im Staube des Weges ein-, zweimal hinauf und hinunter und sah zuweilen die hellen Scheiben von fern blinken. Nichts mehr erlangte er. Kein Mensch in den Wegen des Gartens, so weit sie offen sich dem Auge boten. Immer dieselben dunklen Bäume, immer dieselben weißen Wände des Hauses, immer derselbe staubige Weg und der grellblaue Himmel weit darüber gespannt. Das Gitterthor stand halb offen, frische Wagenspuren bemerkte er im weichen Wege drinnen. Vielleicht waren sie ausgefahren und begegneten ihm! Es schien ihm genug für diesmal, er lenkte um und die großgespannten beiden Räder seines Wagens schwirrten bald wieder die breite menschendurchwühlte Straße hinab bis zu der Stelle, wo der Palast lag zu dessen Hunderten von Bewohnern er gehörte.

Neunzehntes Capitel. Als Arthur nun abermals in sein Zimmer einkehrte, erschienen ihm dessen Wände so verhaßt, daß er im Begriff war sich ein anderes anweisen zu lassen, nur um nicht zwischen den drei Schiffen, der Büste und seinem Koffer den gewohnten Gedanken anheimzufallen. Er fühlte daß das nicht so fortginge. Ein Ekel überkam ihn an dieser Existenz. Die Dämmerung brach ein, immer das alte Gebrodel des Zauberkessels von draußen dröhnte herein durch die Fenster, er meinte der Kopf müsse ihm zerspringen. Das verlassene Haus hatte ihm eher einen Eindruck des Schreckens als des Trostes gewährt. Er überlegte, ob sie abgereist wären vielleicht und er so in doppelt unnützer Weise hier seine Zeit vergeude? Er versuchte an Emmy zu schreiben, aber obgleich er lange Seiten schrieb, schon bei den ersten Zeilen hatte er gewußt, daß er den Brief doch nicht absenden würde. Das einbrechende Dunkel machte dem ein Ende. Mit Kerzen und Lampen quälte man sich nicht im Hotel: eine Gaslampe hing von der Decke herab, er konnte nach Belieben jeden Moment Licht haben. Er zündete sie nicht an, sondern trat, Gott weiß zum wievielsten Male, an's Fenster. Unter ihm die aus Laternenschein und Staubnebel und dunklen Menschen- und Wagenfluthen zusammenfließende, tosende Masse, oben der reine Himmel aus dem die Sterne vorschossen, und ein silberner Schein über den Dächern den Mond ankündigend. Dann stieg der auf, voll, klar und feierlich wie in Neapel einst. Immer höher stieg er und die Dächer begannen zu glänzen. Arthur trieb es noch einmal hinunter. Er ging die langen unendlichen Straßen durch, immer weiter dem Hause zu, das allein von allen Häusern für ihn Menschen enthielt, erreichte es nach langer Wanderung, und durch die schwarzen unbestimmten Baummassen sah er die Wände leuchten im Mondenschein. Ein Licht blitzte in einem der Fenster auf und strahlte mit zerstreutem Scheine zu ihm herüber, dann verschwand es. Er stand mit beiden Händen an das Gitter sich anklammernd und die Stirn dagegen pressend. Er meinte wenn sie jetzt daherkäme daß er sie anreden könnte. Wenn Du sie anriefest und sie machte Halt, erschreckt woher die Stimme käme! Wenn sie Dich erkennte dann und dennoch verweilte! Was wolltest Du ihr sagen? Was? Er suchte nach Worten für seine Rede. Die Zeit verging. Er schlich nach Hause endlich wieder, trat ins Zimmer und legte sich nieder in der Dunkelheit. Seine Gedanken waren friedlicher jetzt, der Eindruck den er empfangen, tröstlicher gewesen. Das Licht schien zu sagen, daß sie die Stadt nicht verlassen. So kurze Zeit: und ein Wort nur hätte es ihn gekostet um Emmy ganz zu besitzen und für ewig; und

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jetzt war ihm genug, einen von den tausend Strahlen einer Kerze in ihrer Hand für eine Minute nur gesehen zu haben. Er begann Vorwürfe auf sich zu häufen, es war unerträglich, er sprang wieder auf um Licht zu machen und nach den Büchern zu greifen. »Die Menschen sind gütiger, freundlicher als wir denken, stand da. All die Selbstsucht, die wie ein schneidender Ostwind um jede Ecke uns entgegenkommt, kann die Liebe doch nicht ertödten, die als unsichtbarer Aether die große Familie der Menschheit umgiebt und einschließt. Wie manchem begegneten wir, der niemals ein Wort zu uns sprach, und es ist ihm eine Wohlthat uns zu sehen, und uns eine, ihn anzublicken. Wie viele in den Straßen, in den Kirchen, die wir schweigend vorübergehen sehen und sie uns, und wir fühlen doch die Wärme ihres Herzens und sie die unsere. Eine Sprache giebt es die in solchen Blicken redet, aber sie will gehört und verstanden sein. Laß Dein Herz ihren Tönen lauschen und sie verstehen lernen!" Was mochte das für ein Mann sein, der so zum Publikum sprach? In Deutschland hätte nur ein Prediger so geredet, meinte Arthur, und dessen Worte, auch wenn ihr Sinn ganz die gleiche Wahrheit enthielte, doch etwas Oeliges gleichsam an sich gehabt das sie wirkungslos durch das Gedächtniß durchgleiten ließ. In Deutschland wären ihm solche Lehren abgedroschen und unnütz vorgekommen: man lernte das ja in der Kinderlehre, und das Leben bewies hernach zur Genüge, wie wenig man dergleichen rein zur Anwendung bringen könne und dürfe. Und hier las er es wie eine neue Entdeckung, und seltsam: es erschien ihm selber als eine. Und wenn er an das Volk draußen dachte, diese fast durchweg mit einem bestialischen Erwerbszuge gezeichneten Gesichter, däuchte es ihm groß und richtig und schön, solche Dinge in einer Sprache zu sagen die den Leuten sich in die Seele heftete. Arthur schlief ruhiger ein als Tages zuvor, und erwachte gestärkter. Es war früh, und stiller auf der Straße. Er beschloß, noch einmal zu dem Hause zu wallfahrten. Es war ihm als müsse fortan sein Thun nichts anderes sein, als ein ewiges hingehen und zurückkehren und wieder hingehen. Und als er ankam und es dalag wie am Tage zuvor, und er wieder hinübersah, meinte er es könne sich zuletzt doch wohl der Moment finden Emmy zu sehen oder gar ihr zu begegnen. Einmal doch mußte sie einoder ausgehen gerade dann wenn er kam, und jetzt, früher würde er sich selbst verlacht haben, schien ihm möglich, sie machte Halt und redete sogar zuerst zu ihm. Er ging dann noch weiter, hierhin und dorthin und kehrte in einer Stimmung nach Hause die etwas hoffnungsvolles, freudiges hatte. Nicht mehr der Trotz war es, mit dem er das Dampfschiff betreten: als müsse sich gestalten was er wollte eben weil er es wollte, sondern eine stille Zuversicht, deren Quelle er selbst nicht kannte. Unten im großen Saale sitzend nahm er sein Frühstück, zum ersten Male so lange er in dem Hause lebte mit einer gewissen Behaglichkeit, und betrachtete die Menschen um sich her, was sie thäten und trieben. Die athemlose Bewegung ergötzte ihn jetzt, in der er sie kommen und gehen sah. Das Journal las er mit Interesse. Er erfuhr was politisch die Stadt bewegte, und gewahrte sich mitten darin; ohne im mindesten an irgend etwas betheiligt zu sein, ließ ihn seine bloße Gegenwart als einen Theil der großen Masse sich dünken. Sein Plan war, jetzt an seinen Banquier zu schreiben und sich Briefe an Häuser geben zu lassen mit denen derselbe in Verbindung stand, auch an Erwin wollte er sich deshalb wenden. Er hoffte, trotz allem Vorgefallenen, Smith zu begegnen, überhaupt er hoffte. Als er dem Portier den Schlüssel abforderte, steckte eine Karte dahinter, es war die des Fremden. Arthur dankte seinem Schicksal, den Mann verfehlt zu haben. Es ging ihm seltsam mit den Menschen. Gewöhnlich ließ er sie eine Zeitlang thun und reden ohne sie im Einzelnen zu beurtheilen, dann aber trat plötzlich ein entleibendes Gefühl in ihm zu Tage, das maßgebend für sein Urtheil im Ganzen war. Eben als er da gesessen und beschaulich in den Saal geblickt hatte, war ihm die Gestalt dieses Menschen aufgestiegen, und zugleich das Gefühl daß er ihn unter allen Umstanden von sich los machen müsse. Keine Gründe weiter, nur das Faktum, und er hatte beschlossen danach zu handeln. Mit Vergnügen hörte er jetzt, er habe ihm seinen

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Abschiedsbesuch machen wollen. Mündlich hatte er hinterlassen, er empfehle sich dem Herrn vielmals und hoffe die ganz speziellen Verbindlichkeiten die er ihm schulde, sobald er könne wieder gutzumachen. So etwa lautete der Bericht des Portiers. Arthur wußte nicht recht was es bedeuten solle, und dachte darüber nach während er die Treppen Hinaufstieg. Er kam an sein Zimmer und wollte aufschließen; es ging nicht. Endlich merke er daß es gar nicht verschlossen war. Er trat ein, ohne noch immer großes dabei zu denken; das erste was ihm in die Augen fiel jedoch war sein Koffer, der weit aufgeschlagen mitten in der Stube stand. Jetzt durchfuhr es ihn. Sein Geld lag im Koffer! Er griff dahin wo es liegen mußte und fand die Rollen Gold nicht an ihrem Platze. Er kehrte den ganzen Koffer um und durchwühlte den Haufen Gegenstände: nichts zu finden. Er riß an der Klingel: der Aufwärter trat ein. Er habe allerdings den Herrn ein- und austreten sehen, allein angenommen, Arthur sei auch heute wie die Tage vorher zu Hause gewesen. Arthur stürzt in's Comtoir hinunter. Der Geschäftsführer, der Portier und ein paar Kellner bilden die Versammlung, der er jetzt die Lage der Dinge auseinandersetzt. Sämmtlich haben sie den Herrn gesehen, sein verdächtiges Aussehen ist ihnen Allen aufgefallen, von Kennen aber keine Rede natürlich, an Schritte zu Wiedererlangung des Geldes denkt Niemand. Der Geschäftsführer, mit dem Arthur allein bleibt zuletzt, räth, sich an den Banquier zu wenden bei dem Arthur accreditirt ist: er hat aber kein Haus an das er sich wenden könnte. Der Geschäftsführer fängt an, Arthur selbst jetzt aufmerksamer zu betrachten. Die Rechnung war noch unbezahlt, das Ganze konnte ein verabredetes Spiel sein. Er deutet das nicht gerade an, aber seine veränderte Art Arthur gegenüber läßt diesen auf der Stelle errathen, daß der Mann um den eigenen Verlust besorgt sei. Was das anlangte, so hatte er Geld genug in der Tasche glücklicherweise. Aber schon die bloße Veränderung des Tones beleidigt ihn so, daß er um die Rechnung bittet und seinen Entschluß ankündigt auszuziehen. Es waren ihm während er durch die Straßen ging genug Schilder aufgefallen welche billige Wohnung versprachen. Wenn er auf der Stelle schrieb, so konnte in drei Wochen spätestens ein Brief seines Banquiers mit allem was er brauchte in seinen Händen sein. Er meldete dies dem Geschäftsführer, der ganz damit einverstanden war und, sobald er merkte daß er zu seinem Gelde kommen würde, auf der Stelle in die allerverbindlichste Tonart wieder umschlug. Die Rechnung wurde sofort geschrieben, Arthur verfaßte während der Zeit das Schreiben an seinen Banquier das an Astorhouse adressirt werden sollte, und beschloß sich dann gleich auf den Weg zu machen um eine Wohnung zu suchen. Gerade die neu erwachte Höflichkeit des Geschäftsführers hatte ihn in doppelter Weise angeekelt, sobald als möglich wollte er aus dem Hause fort. Als die Rechnung dann aber kam, sah er wohl daß er in den wenigen Tagen mehr ausgegeben als irgendwo soweit er früher die Welt gesehen. Glücklicherweise fand sich in seiner Brieftasche noch ein Stück heimisches Papiergeld, so daß es ihm überhaupt möglich ward die hochmüthige Art, in der er die Zeche zu wissen verlangte, glücklich bis zu Ende durchzuführen. Was zurückblieb, genügte kaum um drei Wochen unter den bescheidensten Verhältnissen zu leben. Für den äußersten Fall aber, daß man ihm keinen Credit gäbe, hatte er seinen Koffer mit Wäsche und Kleidern von denen er das meiste verkaufen konnte, und am Ende seine Uhr mit goldener Kette daran. Arthur machte sich auf den Weg und begann die Straßen für seinen Zweck genauer anzusehen. Die gute Stimmung aber war fortgeblasen. Der Diebstahl war es nicht der ihn belastete, aber das Stück Gemeinheit, das zum Durchbruch kam ihm persönlich gegenüber, hatte die ideale lichtere Anschauung der Dinge, die sich eben zu bilden begann, wieder zerstört. Von jeher war in seiner Natur Furcht vor der Gemeinheit des Lebens fast übermächtig. Nach dem Tode seines Vaters hatte sie zumeist ihn angetrieben, mit vollen Händen zu geben, mehr vielleicht als er brauchte, nur damit kein Mensch jemals das Recht besäße, ihn darauf anzureden, er sei übervortheilt worden. Arthur verachtete Geld und Besitz. Seine Armuth hatte er nur deshalb empfunden, weil sie ihn zwang auf das geistige freie Dasein der früheren Zeit zu

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verzichten. Was das übrige anlangte: sobald ihm nur möglich war sein Pferd zu halten, kam ihm wenig mehr darauf an. Auch das bedrückte ihn, daß er nicht mehr mit vollen Händen fortgeben konnte wie früher. Sein eigentliches Behagen wäre gewesen, als Grandseigneur zu schenken. Deshalb auch die glücklichste Zeit seines Lebens: als er den armen kranken Menschen, der ihm der mangelhaften Studien wegen beigegeben worden war als Herr nach Italien führen durfte. Nie war er gegen seines Gleichen so rücksichtsvoll und zartfühlend gewesen als gegen dieses verkümmerte Schicksalsopfer, aber freilich, nie auch fiel es ihm ein, sich auf dieselbe Stufe mit ihm zu stellen: er war der Graf der bezahlte, der andere der Dienende der empfing. Nichts verlangte er an Diensten, im Gegentheil, er leistete sie, aber auf Anerkennung des Verhältnisses bestand er. Und da sein Reisegefährte sich willig genug dieser von so viel Zartheit begleiteten Forderung ebenso zart fügte, war das Verhältniß ein so glückliches und reines und das Andenken an diese Zeit für Arthur so wohlthuend. Als er nun die Straßen so durchging und oft genug einem Hause sich gegenüber fand dessen Aufschrift ganz deutlich zeigte daß er hier finde was er suchte, hielt ihn eine wunderliche Scheu fortwährend ab, irgendwo einzutreten. Oft machte er mitten in der Thür bereits kehrt, es war als stieße ihn die Luft zurück. Hier ein gemeines Gesicht an einem der Fenster, dort die Straße zu einsam, und wieder und wieder andere Gründe, und so kam es daß er zuletzt, weil man sich doch einmal entschließen mußte in ein Haus eintrat, das weder zu den besseren noch überhaupt zu den guten zählte. Ein unappetitlicher Speisegeruch drang daraus hervor, das Gesicht des Aufwärters, der sich ihm als erste Persönlichkeit darstellte, hatte etwas bodenlos durchtriebenes, und dennoch, vielleicht war es Verlegenheit oder ein Anflug von Fatalismus: Arthur fragte nach dem Herrn, es war keiner da sondern eine Dame, die sogleich ein Bund Schlüssel nahm, ihn eine enge Treppe heraufpersuadirte, aufschloß und in ein kleines Zimmer blicken ließ, über dessen Preis sie einig wurden, board and lodging wie es überall das nämliche war. Er wäre gern wieder umgekehrt, aber er steckte nun einmal drin, die Sache war abgemacht, für drei Tage gegen Quittung vorausbezahlt, und ein alter Neger mit einer Schubkarre nach Astorhouse beordert um zu bestimmter Zeit den Koffer dort abzuholen, den Arthur, zum letzten Male zwischen seine drei bewimpelten Dampfschiffe zurückkehrend, wieder mit seinem Inhalt füllte. Gegen Abend war er bereits heimisch in dem neuen Quartier, hatte sich nach dem Essen, das er in einem Speisehause zweiten Ranges eingenommen, doch von seinem wenigen Gelde noch ein paar von den billigen Büchern gekauft, die in brillant farbigen Umschlägen an allen Ecken zu haben waren, und saß am Fenster um den Abend und den Mond zu erwarten, in dessen Scheine er das Haus zu besuchen gedachte zu dem zu wallfahrten nun einmal seine Aufgabe war. Und so that er und erwachte am andern Morgen mit dem Gefühl, den ekelhaften Eindruck des Tages vorher überwunden zu haben. Seltsam aber etwas anderes: fast sehnte er sich nach Astorhouse zurück, eben des Lärmens wegen, um dessenwillen er sich zuerst so unheimlich da gefühlt. In seiner kleinen Straße passirte nichts. Kinder spielten da, höchstens rappelte dann und wann einmal ein Karren langsam hindurch, auch fehlte der frische Luftzug, den er in Astorhouse nun empfunden zu haben glaubte. Er meinte in eine tödtliche Einsamkeit versenkt zu sein. Dort, unter dem ungeheuren Getreibe freilich war ihm die furchtbare Idee gekommen: so ganz allein zu stehen unter allen; die sich dann aber in die entgegengesetzte Empfindung aufgelöst: wenigstens ein Theil zu sein dieses Ganzen. Hier war kein Ganzes. Nichts regte und bewegte sich. Und was sich regte, die anderen Einwohner des Hauses, die neben ihm an und über ihm trampten, schlurften, schwatzten und lachten, klang, so gering dieses Geräusch war, im Vergleich tausendmal unangenehmer als der großartige ununterbrochene Donner des Broadway. Er wußte selbst nicht warum, er kam sich körperlich schlaffer und unlustiger vor. Die Tage gingen so hin. Niemals war er einem Menschen begegnet vor Forsters Villa. Sie schien ausgestorben. Der Lichtschein, Abends zuweilen, konnte von der Dienerschaft herrühren. Wer weiß wie weit fort sie waren. Auf diese neue Idee hin hatte er einmal sogar den Knopf der Glocke am Gitterthor bereits in der Hand

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gehabt, um sich wie ein Freund des Hauses zu erkundigen wohin die Herrschaft verreist sei. Irgendwohin an die Seeküste vielleicht, wo er in demselben Hotel absteigen könnte! Doch er verurteilte sich dann, so wahnwitzige Ideen zu fassen. Sein Barometer sank immer tiefer, und dazu dies ewige Alleinsein und der Umgang mit keinem sterblichen Menschen rieb ihn auf. Zu Hause war das ja nicht anders gewesen. Dort aber quälten ihn die Gedanken nicht, die er hier ununterbrochen übertäuben mußte. Das hatte länger als eine Woche so gedauert. Das Wetter war immer heißer geworden, das gewöhnliche italienische Clima New-Jorks schien dies Jahr afrikanisch werden zu wollen. Mit seinem Gelde war er zu Rande. Wenn er die beiden letzten Tage bezahlte die noch zu bezahlen waren, blieb ihm eben genug um noch ein oder zwei Mal zu Mittag zu essen und dann war es zu Ende. Ein Entschluß mußte gefaßt werden. Er rief eines Morgens den Aufwärter, deutete auf ein Paquet Kleidungsstücke und Wäsche und beauftragte ihn es fortzutragen und zu verkaufen. Er erhalte erst in einigen Tagen Geld und werde sich dann doch neu equipiren. Arthur hätte es nicht unpraktischer anfangen können. Der Mann legte sich die Sachen Stück für Stück über den Arm und ging damit ab. Arthur fragte an diesem Tage nicht weiter danach, am nächsten verlangte er das Resultat des Handels zu wissen. Er verstand wenig von dergleichen, aber das sah er ein, daß die lächerlich kleine Summe, die ihm der Mensch jetzt auf den Tisch zählte, nicht im entferntesten den Werth jener Gegenstände repräsentirte. Das Blut stieg ihm in die Stirn. Er hatte sich schon am Morgen beim Aufstehen auffallend matt und erregt zu gleicher Zeit gefunden, es brauchte nur dergleichen etwas zu kommen, um ihn diesmal außer sich zu bringen. Er donnerte den Menschen an, daß dies eine Betrügerei sei. Dieser aber schien darauf nur gewartet zu haben. Die Scene, die daraus entstand, lockte die Wirthin ins Zimmer, die mit einer Fluth von gemeinen Reden sich auf Seiten des Aufwärters stellte. Die Leute hatten Arthurs Lage gemerkt und wünschten nichts sehnlicher als ihn so aus dem Hause zu schaffen. Bis zu einer gewissen Höhe schwoll dieser Zank jetzt noch an, als Arthur plötzlich merkte in welcher Situation er sich eigentlich befinde. Sobald ihm klar ward daß er das Opfer eines berechneten Betruges sei, war sein Zorn wie ausgelöscht plötzlich. Nur zwei elende Betrüger hatte er vor sich, mit denen zu kämpfen unter seiner Würde war. Er fragte was die Frau noch zu verlangen habe, das vom Aufwärter gebrachte Geld deckte diese Forderung zufälliger Weise aufs genaueste. Arthur schob es ihr mit dem Rande seines Hutes, den er in der Hand trug, entgegen, warf was ihm übrig blieb an Habseligkeiten nebst seinen Büchern in den kleinen Reisesack und ging aus dem Hause. Der große Centralpark war nicht weit entfernt, dahin lenkte er seine Schritte und setzte sich auf die erste, schattige Bank die zu erreichen war. Was jetzt beginnen? Es fiel ihm etwas ein. Es mußte ein preußisches Consulat in der Stadt sein, an das er sich wenden konnte. Er wußte selbst nicht weshalb, aber die Idee schwebte ihm vor, man werde, wenn irgendwo, dort seine Lage verstehen, seinen Rang respektiren und ihm die Möglichkeit gewähren vielleicht, bis zur Ankunft der Briefe seine Existenz zu fristen. Es war ihm matt zu Muthe und er zitterte noch vor Indignation über das eben erlebte, aber gehandelt mußte werden, er stieg in einen der Omnibus und fuhr den Broadway hinunter bis Astorhouse, wo er sich im Comtoir nach dem Konsulate erkundigte und so unbefangen als möglich bat seinen Reisesack, er komme soeben von einer kleinen Expedition zurück, bis auf weiteres in Verwahrung zu nehmen. Der Geschäftsführer blinzelte nach Arthurs schwerer goldener Uhrkette und da er sie noch an Ort und Stelle sah zog er daraus günstige Schlüsse und war der höflichste Mann der sich finden läßt. Hätte Arthur gewußt was ihm bevorstand, so hätte er die Glocke des Hauses das er endlich erreichte und dessen Schild und Wappen ihm andeutete, daß er an Ort und Stelle sei, nicht in Bewegung gesetzt. Er war nicht der einzige der dort zu thun hatte von seinen Landsleuten. Ein großes Zimmer voll Leute empfing ihn, die ihn alle zu

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betrachten begannen. Daß er seine Karte hineinsandte, bewirkte daß man ihn sofort einzutreten bat. In einem eleganten Zimmer ward er von einem Herrn, der da an einem Comtoire schrieb, kurz aber verbindlich um sein Begehren gefragt. Arthur, dem es wohl wurde, sich in einem anständigen Zimmer deutsch angeredet zu hören, bat um Erlaubnis sich setzen zu dürfen. Fortschreibend ersuchte der Mann ihn Platz zu nehmen. Darf ich bitten? bemerkte er nach einer Weile. Arthur hatte das Gefühl daß er kurz sein müsse. Die Sache ist die, sagte er, daß ich zweimal hier bestohlen worden bin, daß meine Briefe erst in einer Woche frühstens ankommen können und daß ich mich in der größten Verlegenheit befinde. Der Mann legte die Feder hin und sah Arthur an. Ich habe die Ehre mit dem Herrn Grafen — er nannte Arthurs Namen.— zu sprechen? Der bin ich. Darf ich fragen zu welchem Endzwecke Sie hier reisen? Um mir das Land anzusehen, antwortete Arthur, dessen Ton der Frage wegen jedoch schon etwas unnatürlich wurde. Hat man Ihnen Ihre Creditbriefe gestohlen, so müssen Sie jedenfalls wissen bei wem sie accreditirt waren und das Haus privatim die nöthigen Mittheilungen empfangen haben. Ich hatte keine Briefe, erwiederte Arthur. Wie so? fragte der Mann ein wenig den Ton ändernd. Ich hatte Napoleons, fuhr Arthur fort. Wie so? keine Briefe? und Napoleons, um nach den Vereinigten Staaten zu gehen? Ich entschloß mich sehr rasch zu dieser Reise, sagte Arthur jetzt, der empört war hierüber Auskunft geben zu müssen, zudem aber selbst fühlte daß in seinen Antworten seltsames lag. Ich hatte keine Zeit um anderes Geld zu sorgen. So! sagte der Mann. Darf ich um Ihren Paß bitten? Ich habe keinen Paß, antwortete Arthur. Mein Herr, sagte der Mann jetzt, es ist sehr möglich, daß Sie der Herr des Namens sind, den Sie mir genannt haben, jedenfalls geht es mich nichts an wenn Sie es nicht sind. Ich darf Sie wohl bitten, mich nicht weiter zu inkommodiren. Damit trat er an den Tisch und ergriff die Feder wieder, während er mit der anderen Hand eine Klingel anrührte, die einen kleinen Schlag pinkte. Die Thür öffnete sich und ein Diener trat ein. Führe den nächstfolgenden herein, sagte der Herr, und sah sich noch einmal nach Arthur um, als erwarte er von ihm daß er das gleichfalls gehört. Aber auch diesmal brach bei Arthur der vornehme Mann durch. Sie haben vollkommen Recht, sagte er, mir auf meine Angaben hin in der Verlegenheit in der ich mich befinde keinen Beistand leisten zu können. Es thut mir leid das nicht vorher bedacht und Sie gestört zu haben. Entschuldigen Sie. Er sprach das mit solch aristokratischer Sicherheit, nickte dabei so durchaus als Grandseigneur mit dem Kopfe, daß der Mann nicht umhin konnte, dieses Nicken mit einer Verbeugung zu erwiedern, ja, gegen alles Herkommen, im Stande gewesen wäre Arthur zurückzurufen und das Gespräch noch einmal anzuknüpfen, wäre dieser nicht ohne zurückzusehen fortgegangen. Als Arthur wieder aus dem Hause trat, war ihm einen Augenblick so schwindlig, daß er stehen blieb um es abzuwarten. Seine Schläfen klopften, er fühlte daß er Fieber hätte. Sein Instinct trieb ihn die Schritte zum Castell zu lenken (er war nicht weit davon entfernt), wo er am Meere sitzend der erstickenden Straßenatmosphäre wenigstens sich entronnen fühlte. Er hoffte, die Ruhe und der Blick auf die stille weite Fläche sollten ihn besänftigen. Dorther war er gekommen mit Emmy. Jahre schienen vergangen seitdem. Dort hatte er sie einsteigen sehen und verschwinden. Er versuchte an anderes zu denken, denn er meinte diese Erinnerung sei es, die ihn Plötzlich so zum Zittern brachte. Es war zwischen drei und vier Uhr, er hatte seit dem Morgen nichts gegessen, er glaubte der Hunger mache ihn so elend. Er griff in die Tasche. Gerade noch Geld genug um sich ein Mittagessen zu kaufen, aber schon der Gedanke daran erweckte ihm Ekel. Es ging da ein alter Kerl vorbei, der allerlei zu essen und zu trinken feilbot, das er in einem

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Korbe trug und in Bezug darauf wohl von Zeit zu Zeit einen eintönigen, ein halb Dutzend Noten langen Schrei ausstieß. Der Alte setzte sich endlich neben Arthur auf die Bank und den Korb zwischen sie. Er entdeckte Orangen darin und erstand eine für geringes Geld. Auf ein paar Minuten glaubte er sich erfrischt, bald aber und das alte Arbeiten in ihm begann aufs neue. Immer wieder sah er sich dem Aufwärter und der Frau und dann dem Beamten des Consulats gegenüber, und die Indignation, die ihn erfüllt hatte, überkam ihn von neuem, und immer stärker wurden die Angriffe seiner Phantasie, und immer schwächer sein eigener Widerstand. Wie eine unumstößliche Gewißheit stand ihm da ganz plötzlich ein Satz vor den Augen: er wollte zu Smith! Er fühlte, dieser Mann würde sich seiner annehmen, jetzt wo er deutlich empfand, daß eine Krankheit ihn zu überfallen drohte, und es war keine Demüthigung, deren er selbst sich zu schämen hätte, wenn er dem Manne bittend entgegentrat. Es fiel ihm ein was er in seinen Büchern gelesen von der freundlich menschlichen Bereitwilligkeit die das Wesen des Gentlemans ausmachte. Smith war ein Gentleman. Er wollte zu ihm. So stärkend wirkte dieser Entschluß auf ihn ein, daß er sich im Stande fühlte, bei einem der tausend Omnibus die in der Richtung fuhren deren er bedurfte, sich aufs Verdeck zu schwingen und fort ging's. Auch die Fahrt hielt er noch aus. Als er dann aber abstieg und in der Sonne allein fortwanderte, ein ziemliches Stück noch um das Landhaus zu erreichen, fing ihm an wunderlich zu werden. Er ging auf Mrs. Forsters Landhaus zu; natürlich, denn dieses mußte er ja passiren um zu Smith zu gelangen, dessen Haus er auf seinen frühmorgendlichen und nächtlichen Gängen gleichfalls kennen gelernt; er mußte da vorbei, aber indem er ging, war ihm als verlöre er die Unterscheidung wohin er eigentlich gehe: zu Mrs. Forster oder zu Smith. Dann war ihm, als sei überhaupt nichts vorgefallen und man erwarte ihn bei Mrs. Forster und er müsse eilen, um nicht zu spät zu kommen. Plötzlich blieb er stehen: es war ja alles nicht wahr, er wollte zu Smith und nicht zu Emmy. Diese kam erst jetzt in seine Phantasie und trug den Sieg davon. Zu ihr wollte er! Am Gartenthore stand er ja, das zu ihr führte. Er riß an der Glocke. Erst kam Niemand, dann klangen Tritte, dann erschien ein alter Neger, ganz in Weiß gekleidet und fragte ehrerbietig, zu wem der Herr begehre. Zu Miß Forster! ewiederte Arthur und reichte dem Neger seine Karte, der das Thor aufschloß, öffnete und mit der Karte in der Hand, ihm voran, davonlief. Arthur trat einige Schritte weiter auf dem Wege und trat aus der heißen Sonne in die dichten dunklen Büsche, welche zwischen dem Wohnhause und der öffentlichen Straße den Staub auffingen. Eine steinerne Bank mit zierlichem Eisengitter stand da am Wege. Er ließ sich nieder. Die balsamische reine Luft die hier waltete, that ihm wohl; ihm war nicht mehr so elend. Von hier aus gesehen zeigte sich das Haus so viel näher. Die Thür sah er, die halb offen stand, aus der Emmy vielleicht jeden Augenblick hervortreten konnte. An einem der geöffneten Fenster wehte der Wind die Vorhänge hin und her. Dann zeigte sich ein kleines braunes Hündchen, lief Kreuz und Quer, entdeckte plötzlich Arthur, stellte sich und fing an zu knurren, lief einige Schritte auf ihn zu und wiederholte dasselbe Manoeuvre, bis irgend woher ein lockendes bst! bst! ertönte und das Thier mit erhobenen Ohren abjagte. Arthur meinte in den Tönen Emmy's Stimme vernommen zu haben. Seine Blicke schossen wie Pfeile durch alle die Lücken welche das Laubwerk ließ rund umher, aber es war nichts zu erspähen und regte sich nichts. In dem Maße als ihm körperlich ein wenig wohler und im Kopfe zugleich klarer geworden war, fühlte er sich jetzt jedoch mehr im Stande, zu bedenken, was er eigentlich gethan und weshalb er es gethan. Was erwartete er hier? Er wollte auf und davon, er erhob sich in der That, allein, mochte es sein daß die neuen Gedanken ihn wieder in Verwirrung gebracht, es wurde ihm wieder schwindlig und er setzte sich nieder. Für eine Reihe Augenblicke sein Gedächtniß wie ausgeraubt. Er verfiel in ganz entgegengesetzte Phantasien. Die Thür des Hauses im Auge meinte er, Emmy müsse gleich kommen, er sitze hier sie zu erwarten, er habe ja eben erst mit ihr geredet, sie

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müsse gleich wieder da sein. Wo sie nur bleibt? fragte er sich, sie wollte doch nur ihren Sonnenschirm holen— oder ihre Handschuh? — nein, was war es nur? — Arthur bedachte so was es nur wäre, wenn wir diese Phantasien Gedanken nennen wollen, als der Neger zurückkam. Er habe Missis erst suchen müssen, sie sei im Garten gewesen. Er habe ihr die Karte gegeben. Missis bäte den Herrn, sich nicht weiter zu bemühen. Sie würde selbst gleich da sein. Und ehe Arthur nur soweit gelangte, die Wirklichkeit, in die er durch diese Botschaft zurückversetzt worden war, von den Bildern ganz zu trennen, die eben noch mit seinem Geiste ihr Spiel trieben, kam Mrs. Forster aus den Büschen daher und stand vor ihm. Arthur erhob sich und wollte reden. Er wußte nicht was, hätte auch vielleicht nichts sonderlich vernünftiges vorgebracht, wäre ihm von der Frau die Rede vergönnt worden; allein dazu ließ sie es nicht kommen. Herr Graf, begann die Frau ohne auch nur einen Augenblick mit unnützem Schweigen zu verlieren, es scheint nach allem, daß es nicht nur Worte, sondern fast der Gewalt bedarf, um Schutz vor Ihnen zu finden. Was führt Sie her? Was können Sie noch wünschen? Wäre Mrs. Forster über den unerhörten Einbruch Arthurs nicht in allzu großer Aufregung selbst gewesen, denn sie sah diesen Schritt als eine schmählige Veletzung ihres Hausrechtes an, so würde sie wohl bemerkt haben müssen, weshalb Arthur ihr jetzt nicht antwortete. Sie haben mir nichts zu sagen, nahm sie das Wort wieder auf, ich Ihnen ebensowenig. Allein zu allem Ueberflusse wiederhole ich hiermit: welche Gründe Sie auch haben mögen, sich uns hier oder irgendwo sonst zu nähern, alle diese Gründe, heißen sie wie sie wollen, sind unnöthig und überflüssig und werden zu nichts führen. Haben Sie die Güte dies als das hoffentlich Allerletzte sich recht deutlich einzuprägen. Leben Sie wohl! Ein Rauschen des Kleides und Arthur stand allein. Wäre sie noch eine Minute länger geblieben, so hätte sie ihm Zeit gelassen ihr zu sagen, daß er sich wie sterbend fühlte. Denn ihre Worte waren wie ein kräftiger Wellenschlag in Arthurs verwirrte Sinne hineingefluthet, so daß ihm die Lage der Dinge ganz klar vor Augen stand. Indem er bedachte aber, daß, was Emmy von ihm erduldet hatte, auch die ärgste Demüthigung seinerseits nicht als zu groß erscheinen ließe, wollte er ihrer Mutter sagen, daß er sich für das Leben verloren gebe und daß er nichts verlange als nur aus ihrem Munde zu hören, Emmy habe ihm verziehen, um dann für immer aus ihren Augen zu verschwinden. Mrs. Forster hatte bei ihrem Weggehen dem Neger eine Handbewegung gemacht, welche andeutete, daß seine Pflicht sei, den Fremden je eher je lieber wieder vor die Thüre zu versetzen. Er begann als Arthur sich nicht vom Flecke regte, die Hand auf den Mund zu legen und einige Male zu husten. Arthur hatte zu wenig Erfahrung in dieser Beziehung, um das gegebene Zeichen zu verstehen. Der Neger versuchte es deshalb in anderer Weise. Er fing an, dem Thore des Gartens langsam zuzugehen und dabei immer wieder Halt zu machen und mit einer so deutlichen Pantomime Arthur einzuladen, den Weg gleichfalls einzuschlagen, daß dieser ihn jetzt endlich verstand. Kein anderes Mittel vielleicht hätte es gegeben, ihn noch einmal in Besitz seiner Kraft und seines Stolzes zu setzen. Einen letzten Blick warf er dem Hause zu und schritt stolz und leicht aus der schützenden Kühle hinaus wieder in den Sonnenbrand, durch das Thor, das der Neger mit einer Mischung von Ehrfurcht und Verwunderung geöffnet hielt, auf den staubigen Weg und wandte sich der Stadt zu. Keine zwanzig Schritte aber war er gegangen, als er ein plötzliches Schwinden seiner Kräfte fühlte; und gezwungen da Halt zu machen wo er gerade stand, setzte er sich auf den Rand der niedrigen Mauer, auf der das Gitter ruhte das Mrs. Forsters Besitzung umfaßte, und athmete mit in die Hände gesenktem Haupte den glühenden Hauch der Straße ein.

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Zwanzigstes Capitel. Gerade um diese Zeit war es, daß Mr. Smith, der in der Stadt diniren wollte, sein Tilbury bestieg, dem Diener hinter sich die Zügel aus der Hand nahm und die Straße entlang fuhr. Als er an Mrs. Forsters Besitzung kam, knallte er mit der Peitsche tüchtig, nur um im Allgemeinen einen symbolischen Salutschuß so zu geben, und sah sich eifrig um, ob nicht ein paar Augen von irgend woher auf ihn blickten, damit er grüßen könnte. Er saß da wie die Unschuld im Flügelkleide: lauter weißes Sommerzeug von Kopf bis zu Füßen um ihn her, worin der Wind sich fing so viel Wind aufzutreiben war, und einen feinen, langbebänderten Strohhut als breiten schattenspendenden Abschluß seines blonden Hauptes. Keinen Blick pflegte Mr. Smith, mochte er abfahren oder zurückkommen, an dieser Stelle für etwas anderes zu haben als Mrs. Forsters Besitzung: eine jedesmalige Inspektion im Fluge, um, wenn ja irgend ein Mangel sich zeigen sollte, was freilich nicht zu erwarten stand, ihn zu entdecken und thatkräftig miteinzugreifen. Er betrachtete sich als geistigen Vormund der Mutter und Tochter, und Keiner hätte wagen sollen gegen diese beiden etwas zu unternehmen oder auch nur im Schilde zu führen! Mit der Handhabung der Gesetze wie der Schießwaffen gleichmäßig vertraut, und überdies in Besitz einer Freundschaft, auf deren thätige Beihülfe unter jeder Gestalt er rechnen durfte, fühlte Mr. Smith sich so frei, mächtig und wohlbestellt, wie irgend ein Mann in den fünf Welttheilen. So wäre es ein Wunder gewesen, wenn seine zu Lande und zu Wasser, bei Tage und bei Nacht gleich scharfen Blicke Arthur nicht entdeckt hätten, der an der Stelle wo er sich niedergesetzt, mitten im Sonnenbrande, bei dick bestäubten Stiefeln, den Kopf tief in die Hände gesenkt, deren Ellenbogen matt auf die Knie aufgestützt waren, in äußerst fragwürdiger Gestalt sich darbot. Schon von fern war Smith dieser Anblick verdächtig gewesen, wahrhaft verblüfft aber fühlte er sich, als Arthur, wenige Schritte bevor er ihn erreichte, den Kopf aufrichtete und ihm starr und sonderbar in's Gesicht sah als seien sie einander völlig fremd. Mr. Smith hemmte das Pferd, blieb halten und sah Arthur scharf an, der diesen Blick zu erwiedern fortfuhr, in so leerer, dunkeltrostloser Weise aber, daß Smith sich bewogen fühlte, nachdem er einige Schritte weiter gefahren, abermals Halt zu machen, dem Diener die Zügel zuzuwerfen und abzuspringen und zu Arthur zurückzukehren. Ihn hier anzutreffen, in diesem Zustande, erfüllte ihn mit den sonderbarsten Vermuthungen. Nun, Mr. Arthur? rief er, ihm resolut auf die Schulter schlagend. Arthur hob das Gesicht, aber antwortete weder noch veränderte er seine Stellung. Mr. Smith hatte ein nie versagendes Gefühl für allgemein körperlich-geistige Zustände. Er war wie ein Arzt darin, den bis auf einen gewissen Grad der erste Blick wissen läßt, wen er vor sich habe. Hunger! sagte sich Smith im Stillen. Hunger! so deutlich wie mit Buchstaben aufgedrückt! Alles andere Nebensache im Moment neben diesem Hauptsymptom, gleichgültig auch, ob dieser Hunger ein freiwilliger oder gezwungener sei, gleichgültig, ob er wie hier, nur ein zufälliges Bruchstück dessen war was Arthur im Ganzen so elend erscheinen ließ: fest stand daß ein Theil dieses Leidens in körperlicher Erschöpfung seinen Grund hatte und daß sich Smiths Instinct diesem einzigen Symptome als der Hauptsache gegenüber verhielt. Mr. Arthur! wiederholte er, und nahm mit der Kunst, die Niemand so gut als er verstand, den Schein an als sei ihr Zusammentreffen hier das allernatürlichste. Es ist köstlich, daß wir uns so wiedersehen. Eben dachte ich an Sie. Nein, rief ich, nur einen Wunsch hattest du: Mr. Arthur zu begegnen und ihn zum Mittagessen mitnehmen zu können. Und kaum gedacht, macht das Schicksal mir die Höflichkeit und führt Sie meine Straße entlang. Jetzt aber keine Umstände! Sie setzen sich neben mich und lassen sich von mir hinführen wo es für uns beide am behaglichsten ist! Und mit einem Blick den Bedienten herannickend, der im Moment umlenkend das leichte Fuhrwerk ihnen dicht vor die Nase führte, griff er Arthur unter die Arme, zog ihn in die Höhe, versetzte ihn mit einiger Kraftanstrengung auf den Sitz neben sich, nahm selbst wieder Platz, knallte daß es krachte und fort ging es wie der Wind, der Stadt zu.

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Arthur, aus dem erfrischenden Luftzuge ein Gefühl wohlthuender Erlösung schöpfend, erholte sich so weit um sich allein aufrecht zu erhalten und, als der Wagen endlich vor einem der prachtvollen Speisetempel der Stadt hielt, sogar ohne Unterstützung absteigen und neben Smith die Treppe hinaufgehen zu können. Ein kühles, einsames Zimmer mit Balkon und schattigem Zelte darüber, that sich auf, ein Aufwärter empfing Befehle, ein Tisch deckte und besetzte sich, eine dampfende kräftige Suppe lockte zum Essen, selbst ein Stück Seefisch das darauf folgte, war Arthur im Stande zu genießen und ein Glas eisgemischtes Getränk an die Lippen zu bringen — mitten im Schlürfen aber setzte er es nieder und lehnte sich zurück. Nun, rief Smith, eine andere Sorte? Das gemischte Zeug behagt Ihnen nicht? Arthur aber gab keine Antwort. Ihm war Plötzlich als sähe er Smith nicht mehr. Wie Wolken auf hohen Gebirgen Wände aus Schleiern und Dunst gewoben auf uns zuschieben und rings alles Leben verhüllen, flog über die Dinge um ihn her ein verdeckendes leuchtendes Dunkel, kam näher und näher, übertäubte ihn und warf ihn sanft nieder als sänken tausend Unendlichkeiten mit ihm und unter ihm in einen bodenlosen Abgrund. Smith ging nun erst eine Ahnung vom wahren Verhalt der Sache auf, da er Arthur bleich zurücksinken sah. Es bedurfte keiner langen Ueberlegung. Er klingelte, nahm eine Karte aus der Brieftasche, schrieb einige Worte darauf und händigte sie dem Aufwärter ein, damit sein Diener unten sie unverzüglich beförderte. Smith wäre selber zum Arzte gelaufen, den er herbeiholen ließ, hätte er Arthur nicht allein zu lassen gefürchtet. Er fühlte ihm den Puls, der rasch und heftig pochte, ließ sich dadurch nicht abhalten freilich, weiter zu essen, weil er hungrig war und sein Fasten dem Gastfreunde weiter nichts nützen konnte, zündete sich darauf eine Cigarre an und erwartete auf die Brüstung des Balkons gelehnt und die Straße herunter auslugend die Rückkehr seines Wagens, der nach einiger Zeit mit dem Doktor erschien. Sehen Sie sich den Patienten da an, rief er diesem entgegen und berichtete kurz was er wußte. Die Untersuchung erforderte wenig Zeit. Was daraus werden kann, müssen wir abwarten, war das Resultat. Wohin soll er gebracht werden? Smith hatte das bereits überlegt. Arthur, sah er, war nicht im Stande sein Logis anzugeben. Ihn irgendwo unterzubringen, entfernt von sich, hielt Smith für unpraktisch. Auf diese oder jene Weise hing seiner Idee nach Arthur mit den Damen zusammen, und es wäre ein Unrecht gegen diese, schien ihm, hier auch das Geringste zu versäumen. Deshalb wollte er ihn mit zu sich nehmen. Der Arzt meinte, der Weg könne dem Kranken weiter nichts schaden, und so, es war unterdessen Abend und dunkel geworden, nahm ihn Smith wie ein Kind auf, trug ihn hinunter, placirte ihn auf den alten Sitz, hielt ihn dadurch aufrecht daß er ihn an sich lehnte und den Arm um ihn schlang, peitschte mit dem andern, der Peitsche und Zügel zugleich gefaßt hielt, auf die Pferde ein und machte sich auf den Heimweg. Bei Arthur rissen die Nebel noch einmal und wurden durchsichtig. Er sah mit schwimmenden Blicken wie er durch Laternen und Wagen und Menschen sauste, der Stadtlärm schlug wie eine ferne Brandung an sein Ohr, er fühlte sich gehalten wie ein Kind das sein Vater an sich drückt; manchmal schloß er die Augen, manchmal öffnete er sie: immer dasselbe Bild. Dann Dunkel und kühle finstere Luft und finstere Bäume vorüberfliegend, dann ein stilleres Einlenken auf knisternde Gartenwege, dann ein Stillhalten vor einem Hause aus dem es mit Lichtern kam, dann ein körperloses Herabschweben, dann nichts mehr.

Einundzwanzigstes Capitel. Am andern Tage frühmorgens kam der Doctor. Arthur lag noch immer besinnungslos. Eisumschläge um den Kopf wurden verordnet. Es müsse abgewartet werden, was sich daraus entwickeln werde.

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Sobald es thunlich schien, machte Smith sich auf, durchschritt den Garten, öffnete eine Thüre die von dichtem Heckenwuchse fast verdeckt lag, und trat in den Garten der Mrs. Forster ein, welche er mit Emmy hinter dem Hause sitzend fand. Aus Schlinggewächsen gebildet zog sich dort eine breite schattige Laube hin, der Blick ging über glatten, kurzgeschorenen Rasen in Baumtiefen hinein; die Hitze des Tages linderte sich zu freundlicher Wärme. Emmy las, sie nickte dem Nachbar zu als er erschien, und las weiter. Smith konnte sie nicht ohne Theilnahme ansehen. Er dachte an das frische junge Reh, als das er sie auf demselben sanften Grün hatte umherspringen sehen; jetzt war ein Zug von Schwermuth über ihr schönes Gesicht und die Gestalt verbreitet, als hätte sie eine lange Krankheit hinter sich und bäte um Stille und Schonung. Emmy's Charakter schien sich verändert zu haben, Smith hatte es in den ersten Tagen auf dem Schiffe wohl bemerkt, mehr noch mußte die Mutter es in jedem Augenblicke beinahe fühlen wo sie mit ihr zusammen war. Emmy hatte früher das Thätigzugreifende ihrer Mutter gehabt, die Theilnahme an dem was das Land anging, die unermüdliche Thatkraft zu jeder Stunde des Tages. Kein Besinnen gab es für sie. Aus dem tiefsten Schlafe erweckt, hätte sie jeden Moment mit allen Gedanken bei einander sofort an der rechten Stelle das Ihrige gethan; unmöglich war ihr gewesen, nicht immer etwas vorzuhaben, das nützlich war und Anstrengung verlangte. All das wie abgeschnitten. Stundenlang jetzt konnte sie träumerisch dasitzen. Kein Auge für die Veränderungen im Garten seit ihrer Abwesenheit, kein Ohr für Johnny's Erzählungen. Sie ließ ihn reden, lächelte, hielt ihn im Glauben daß sie ihn höre, ihre Gedanken aber schweiften weit ab. Wie ein Vogel, der einen Baum umflatternd die Spitze der Zweige immer wieder berührt ohne jemals sich niederzusetzen, lag eine unendliche flatternde ängstliche Arbeit in diesen Gedanken, auf die niemals Ruhe folgte. Und so auch als ihre Freundinnen kamen und Verwandten. Selbst da dies träumerische Versinken, als zwinge sie sich jeden Moment dazu, nicht zu vergessen daß sie nicht allein sei. Mühsam beinahe mußte sie sich besinnen, um die wenigen Fragen zu finden die sie aus Höflichkeit stellte. Man empfand es und suchte mit einer gewissen Neugier die Gründe des Mitleids zu erforschen das Emmy's Anblick einflößte, und Mrs. Forster fing an zu leiden unter dem Gespräch das darüber leise entstand in ihren Kreisen. Das Leben hatte sie gelehrt, den Dingen und den Menschen kühn ins Auge zu sehen und auf jede Frage offene, harte Antwort zu geben. Hier aber wurden keine Fragen gethan. Nur wie ein Gemurmel drang es zu ihr hin, ein unbestimmtes Etwas, das sie mehr ahnte als sah. Sie wußte, die Welt würde wissen wollen, und wenn sie bedachte daß es schließlich doch vielleicht einmal an ihr sein werde, Erklärungen zu geben, konnte sie ganz in der Stille über diesen Gedanken in Aufregung gerathen, als stände sie Menschen gegenüber die sie zu beleidigen beabsichtigten. Am heutigen Tage war es, daß sie, zufällig ein Schubfach von Emmy's Schreibtisch aufziehend, Arthurs zerrissen geglaubtes Portrait, noch in Stücken, aber sorgfältig zusammengelegt, wie die Knöchelchen im Märchen die das Schwesterchen in ein seidenes Tuch sammelt, in einem kleinen Taschenbuche gefunden hatte. Die Frau begann so zu zittern, daß sie den Fund aus den Händen legen mußte. Noch fühlte sie den Auftritt Arthur gegenüber am Tage vorher auf ihrer Seele lasten. Nun dies Neue, und eine beängstigende Ahnung: es möchte jeder kommende Tag abermals Neues bringen. Niemals! rief sie halblaut vor sich hin und umfaßte alles mit diesem Worte, was Arthurs und Emmy's Zusammenhang anging. Emmy sagte sie nichts von dieser Entdeckung, wie sie ihr nichts von Arthurs Eintritt bei ihr erzählt. Emmy glaubte ihn untergetaucht in New-Jork und verloren. Ausfahrend hatte sie ihre Blicke über die Menschen am Wege wohl Hinstreifen lassen, ohne Hoffnung aber ihn darunter zu finden. Aber sie dachte an ihn. Er war, wie Goethe sagt, der dünne Nebel durch den sie wie durch einen Schleier die Welt ansah. Nicht seine Gestalt stand vor ihr: wie ein

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ätherisches Element fühlte sie ihn um sich, in dem sich träumen ließ ohne Gedanken und ohne Bilder. Mrs. Forster erblickte Smith zuerst, und als sie ihn herankommen sah mit einem bedauernden Seitenblicke auf Emmy, zugleich aber offenbar mit etwas auf dem Herzen das er sagen wollte; als er dann zu Mrs. Forster tretend ein wenig unsicher begann: Verehrte Freundin, ich sollte wohl, wenn Sie erlauben, Einiges mit Ihnen zu besprechen haben, wußte die Frau, als läse sie es schwarz auf weiß in der Luft geschrieben, daß irgend etwas jetzt folgen werde, das mit Arthur in Verbindung stand. Schnell entschlossen erhob sie sich, nahm Smith am Arme, zog ihn in den Garten hinein und stand nicht eher still, als bis sie gänzlich außer Hörweite einen Platz im Bosquet erreicht hatten. Hier setzte sie sich nieder und bedeutete Smith ein Gleiches zu thun. Meine verehrte Freundin, begann Mr. Smith etwas erstaunt, es sind keine Geheimnisse die Sie hören sollen. Nun, es ist hier so gut wie dort, sagte Mrs. Forster, die selbst nicht recht wußte wie sie Smiths gewaltsame Entführung, denn sie hatte ihn fast gezogen wie eine Frau die ihren Jungen mit Gewalt in die Schule bringt, erklären sollte. Sehr angenehm hier, entgegnete Smith und fühlte sich plötzlich auffallend beengt. Die Sache ist die, sagte er, daß ich Ihnen über eine Persönlichkeit Mittheilungen machen möchte, die wir beide, und auch Miß Emmy, kennen. Smith machte eine Pause und wollte fortfahren, als er sich von Mrs. Forster scharf unterbrochen sah. Mein lieber Freund, sagte sie und accentuirte ihre Worte, wenn es nicht absolut und unumgänglich nothwendig ist, so wünsche ich, Sie redeten mir nicht davon. Mr. Smith war darauf nicht vorbereitet. Eine der Tugenden die er am höchsten hielt, war strenge Wahrhaftigkeit. Er dachte nach und erwog. Durchaus und absolut nothwendig war es nicht, und dies sprach er einfach aus. Freilich jedoch sehr praktisch vielleicht. Nur das wolle er sagen, bemerkte er, daß er ihren gemeinschaftlichen Reisegefährten krank draußen am Gitter gefunden und daß derselbe sehr elend bei ihm im Hause liege. Kann ich irgend etwas für den Herrn thun? fragte Mrs. Forster. Nein, erwiederte er; nichts das ich nicht thun könnte. Ich habe Dr. Allan bei ihm. Ich glaubte nur, da wir mit dem Gentleman die Reise zugleich gemacht, so wäre es doch natürlich daß ich Ihnen Mittheilung zukommen ließe. — Sie nehmen kein Interesse an, ihm? Nicht das geringste, antwortete die Frau. Sie schwiegen beide eine Zeit lang und kehrten dann zu Emmy zurück, an die Mr. Smith jetzt die freundlichsten Fragen über ihr Befinden richtete. Sie versicherte, sich sehr wohl zu fühlen. Wenn man es nur glauben dürfte, sagte er bei sich im Stillen darauf. Wo sie den Sommer zuzubringen gedächten? Diese Wendung des Gespräches war der Mutter lieb, sie gab ihr Gelegenheit ihre Absicht auszusprechen: in den nächsten Tagen schon abzureisen um einen längeren Aufenthalt in Mountainville zu nehmen. Emmy, obgleich sie von diesem Plane zum ersten Male hörte, sagte nichts darauf. Es war ihr gleichgültig ob sie gingen oder blieben. Plötzlich aber that sie jetzt eine Frage, die Smith in die äußerste Verlegenheit setzte. Sie wissen, sagte sie und ihre Stimme klang nur ein wenig leiser, sonst ohne bemerklichen Accent aber, der junge Mann der mit uns die Nacht im Schnee zubrachte und dann auf dem Schiffe war: was ist aus dem geworden? Smith gerieth in unbeschreibliche Bedrängniß, als Mrs. Forster jedoch ihn plötzlich wieder am Arme nahm und so gleichgültig als möglich mit den Worten: halt, noch etwas das ich Sie zu fragen habe, fortzog. Smith, sagte die Frau, Sie werden nicht eine Sylbe über Mr. Arthur und seine Krankheit meiner Tochter mittheilen! Smith stand so verblüfft da, daß er nur eine Art Gebrumm - auszustoßen im Stande war, halb wie Frage, halb wie Bedauern, zugemischt ein wenig Neugier, klingend.

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Sie werden mich auch niemals fragen warum? fuhr Mrs. Forster im Tone einer Autorität fort, von der sie wußte daß Smith sie respektiren würde. Nein, ich werde das sicherlich nicht, sobald Sie es wünschen, versicherte er kleinlaut und als hätte er nach irgend einer Seite hin gröblich gefehlt. Und nun thun Sie mir die Freundlichkeit, lautete Mrs. Forsters letzte Bitte, jetzt ausnahmsweise nicht von Emmy Abschied zu nehmen, sondern hier ums Haus zu gehen wenn Sie mich verlassen. Er streckte ihr die Hand entgegen. Ich könnte noch eins bitten, fügte Mrs. Forster hinzu, aber ich unterlasse es. Mrs. Forster? rief Smith fast wehmüthig. Es ist, sagte sie, über dies Gespräch Stillschweigen gegen Jedermann walten zu lassen. Aber wozu bei einem alten Freunde wie Ihnen diese Vorsicht? Ich kenne Sie. Ja, Sie kennen mich! betheuerte Smith und nahm Abschied, jetzt natürlich vollständig mit sich im Reinen darüber, daß zwischen Emmy und Mr. Arthur ein Geheimniß walte, welches in der Entwicklung begriffen sei. Emmy hatte ihrer Mutter und Smith nachgesehen als beide sich so auffallend entfernten. Sie ahnte nicht weshalb es geschehen wäre. Vielleicht daß in dem Benehmen ihrer Mutter ein Tadel ihrer Frage liegen sollte, dessen Ausdruck in dieser Weise sie ohne weiteres hinnahm. Und deshalb, als Mrs. Forster zurückkehrte nach einer Weile, ohne Mr. Smith, und von anderen Dingen sprach, ließ Emmy es geschehen, ob sie freilich Smith gern noch einmal begegnet wäre der Antwort auf ihre Frage wegen.

Zweiundzwanzigstes Capitel. Einige Tage gingen so hin. Arthurs Zustand änderte sich kaum. Dr. Allan meinte, die Krisis müsse abgewartet werden. Mrs. Forster und Emmy reisten ab, und die Wege des Gartens lagen wieder unbetreten da. Smith besorgte seine Angelegenheiten. Da er unverheirathet war, ging es still in seinem ländlichen Hause zu. Er hatte kein eigentliches Geschäft, sondern war Theilnehmer an einer Anzahl industrieller und commercieller Unternehmungen, und sein Bureau, wo diese Dinge besorgt wurden, lag in der Stadt, in die er alle Tage hineinkutschirte. Das Wetter war gleichmäßig heiß. In den Straßen derselbe erstickende Dunst Tag für Tag, auf dem Lande dieselbe tiefeindringende Wärme. Die ersten Morgenstunden und die Abende nur brachten Frische mit sich. Ganz in der Frühe eines solchen Tages war es daß Arthur die Augen aufschlug und zuerst wieder inne ward daß er lebte. Er blickte umher. An seinem Bette lag innerhalb eines Wiegestuhles die in Schlaf versunkene Gestalt eines ihm fremden Menschen. Auf einem Tischchen neben sich hörte er seine Uhr ticken. Durch ein mit Jalousien verschlossenes breites Fenster drang grünliches Licht in das Zimmer, welches hoch und geräumig war. Keinen Laut hörte er außer der Uhr und den Athemzügen des Schlafenden. Er versuchte nachzudenken. Seine letzte Erinnerung endete damit, daß er in Mrs. Forsters Garten sich befunden. War es ihr Haus, in dem er jetzt lag? Der Gedanke erschütterte ihn so, daß er eine Zeit lang nicht weiter denken konnte. Darüber schlief er wieder ein. Dann erwachte er von neuem. Er sah die Thür sich öffnen und zwei Gestalten eintreten: erst ein kleiner Mann mit einer Brille und weißem Haar; hinter ihm her, er erkannte ihn sogleich, Mr. Smith. Der Stuhl, in dem er den Schlafenden zuerst gesehen, war jetzt leer. Der Herr mit dem weißen Haar trat heran, ergriff seine Hand und fühlte den Puls. Schlagen Sie die Läden auf, sagte er dann zu Smith. Wie steht's? fragte dieser indem er gehorchte. Gut, antwortete Dr. Allan. Reden Sie ihn an, er wird Antwort geben. Wahrhaftig? rief Smith und beugte sich über Arthur, während der Doctor in dem Stuhle Platz nahm.

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Nun, Mr. Arthur? sagte Smith sanft. Nun, Mr. Smith? antwortete dieser und schlug die Augen groß auf. Bin ich in Ihrem Hause? Ja, das sind Sie, erwiederte Smith, und zwar so gut aufgehoben wie in Ihrem eigenen. Wollen Sie ein kleines Frühstück nehmen? Ich werde draußen anordnen was er zu essen bekommen soll, sagte Dr. Allan jetzt, er wird Appetit zeigen, und ging mit Smith zur Thür hinaus, der bald darauf in Begleitung des Dieners zurückkam, mit dessen Hülfe Arthur dann eine Tasse Thee trank. Smith wiegte sich dabei im Stuhle vor und zurück und summte etwas in den Bart. Ja, ja, mein lieber Mr. Arthur, begann er als der Thee getrunken war, das hätten wir nicht gedacht, als wir vor Hamburg im Schnee saßen, ha, ha! Geben Sie mir Ihre Hand, sagte Arthur. Smith streckte sie in ganzer Ausdehnung hin. Mr. Smith, sagte Arthur, nachdem er sich gefaßt, Sie werden zwar sagen daß sich alles von selbst verstände oder verstanden hätte, und haben mir gewiß längst verziehen, aber sprechen Sie jetzt aus, daß Sie mir verzeihen wie ich Ihnen an Bord des Schiffes damals Rede zu stehen verweigerte. Sei hiermit ausgesprochen also, da Sie es wünschen, rief Smith lachend und drückte Arthur die Hand. War wirklich nicht der Rede werth. Sie beabsichtigten mir das ja gleich darauf selbst zu sagen, und war ich es dann, der nicht Stand halten wollte. Das ist immer so. Stets gleiche Schuld auf beiden Seiten. Man muß es nur ruhig überlegen. Und nun nichts mehr davon. Nein doch, damit Sie auch darüber sich keine Gedanken machen: Sie sind in meinem Hause, lieber Mr. Arthur, und ich habe Sie gepflegt und werde Sie, wenn Sie erlauben, weiter pflegen und habe Zeit dazu und macht es mir das größte Vergnügen, und wenn ich einmal wieder nach Deutschland komme, so werde ich meine Schritte zu Ihnen lenken und wohnen bei Ihnen, und wenn ich, was nicht zu hoffen steht, krank werden sollte, lasse ich mir Ihre Pflege gefallen. Damit wäre denn auch dies Capitel so geschäftsmäßig als möglich erledigt. Und nun sagen Sie mir, wo Sie hier wohnen, damit ich Ihre Effekten holen lassen kann. Nirgends, antwortete Arthur und schloß die Augen aus Verlegenheit. Er ist doch noch nicht ganz, dachte Smith, das viele Sprechen taugt nicht, erhob sich und ging leise aus dem Zimmer. Arthur brachte den Tag damit zu, in das spielende Laub der Bäume vor seinem Fenster zu blicken, schlief die Nacht vortrefflich, war am nächsten Tage stark genug, einige Stunden außerhalb des Bettes zuzubringen, und am darauf folgenden bereits im Stande an die frische Luft zu gehen. Er erholte sich rasch. Diese Krankheit schien ihn seinem Gefühl nach auf wunderbare Weise in dem neuen Erdtheile heimisch gemacht zu haben. Wenn er Morgens im offenen Gartensaale sitzend, über die Sträucher und Bäume hin (Smith's Haus lag auf einer Anhöhe), auf New-Jork und das Meer blickte, das leuchtend die ganze Scene umspannte, wenn seine Augen dann wieder sich senkend auf die große Zeitung fielen, die vor ihm über seine Knie ausgebreitet lag und die er alle Morgen frisch auseinanderfaltete, wenn dann Smith kam und ihm von der alle Tage erneuten politischen Situation und der Lage des Marktes erzählte, von dem was die Stadt gerade frisch bewegte, so glaubte er seit langem in diesem Leben heimisch zu sein, und wenn er Nachrichten von drüben in den Blättern fand, lag ihm Europa weit entfernt als werde er nie dahin zurückkehren. Dieser Zusammenhang mit dem neuen Lande sollte bald ein noch lebendigerer werden. Smith, der eine Art Ehre darin suchte, seinen Gastfreund, in dem er das Gute und Bedeutende erkannt hatte, so recht in die Dinge hineinblicken zu lassen, von denen er wünschte, daß deren richtige Kenntniß in Deutschland allgemeiner würde, begann, da er nun seit Arthurs Anwesenheit nicht mehr sein Mittagessen in der Stadt einnahm, diesen oder jenen von seinen Freunden zu Tische mitzubringen. Oft dehnten sich diese Partien auf mehr Personen aus, und Arthur sah sich in Kreise hineinversetzt, die mit einem Scharfsinn und einer Unbefangenheit welche er in dieser Vereinigung bewundern mußte, die schwebenden Fragen erörterten. Und was ihm seltsam vorkam:

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diese Männer sprachen von den Angelegenheiten des Staates mit der größten Kenntniß und als solche die den innigsten Theil daran hatten, und doch ohne daß irgend einer von ihnen mit der Regierung selbst zu thun, oder den Ehrgeiz gehegt hätte, in sie einzutreten. Eine Unterordnung oder Ueberordnung der Personen dem Range nach schien hier nicht zu existiren. Verglich Arthur diesen Zustand mit den Dingen zu Hause, wo auch der höchste immer noch einen höheren über sich sieht, dem nicht nur zu gehorchen sondern überhaupt in allen Verhältnissen wo man sich begegnet nachzugeben ist, so schien er sich hier zum ersten Male inmitten unabhängiger Männer, die sich unbedenklich als solche aussprachen. Wer zu Hause so aufgetreten wäre, hätte es nicht thun können ohne den Anschein auf sich zu laden, zu den Gegnern des Bestehenden zu gehören. Man würde diese Unabhängigkeit für Auflehnung genommen und verletzte Eitelkeit dahinter vermuthet haben. In Amerika schien dergleichen gar nicht aufzukommen. Jeder stand an seinem Platze als das was er war, gab sich dafür und ward dafür genommen, und das unerträgliche Gefühl einer gewissen Gedrücktheit, sei es auch noch so leicht, das in Deutschland jedem ohne Ausnahme anklebt, weil fast jeder so auf seinem Platze dasteht, daß er neben seinen eigenen Kräften trotz all seiner Unabhängigkeit dennoch von der Gunst dieses oder jenen nach irgend einer Seite hin abhängig ist, fiel vollständig fort. Immer weiter dehnte sich bei Arthur diese Kenntniß aus, denn Smith begann ihn mit sich zu nehmen in die Stadt und ihn einblicken zu lassen in die Geschäfte die er betrieb. Arthur sah, was dieser Mann zu gleicher Zeit alles im Kopfe trug, mit welchem Genie er die Gelegenheiten ausgespürt, sein Geld gut unterzubringen, lauter Unternehmungen, bei deren Leitung er praktisch mit eingriff, so daß es sich nicht um bloßes Anlegen der Summen zu bequemen Zinsen, sondern um Aufsicht und Arbeit handelte. Mr. Smith fragte nicht, wohin Mr. Arthur wolle, noch woher er käme. Sie lebten zusammen fast wie alte Freunde, die sich von Jugend auf kannten. Arthur war in den ersten Tagen, wo er sich kräftig genug fühlte, allein in Astorhouse gewesen, hatte dort nach Briefen gefragt und einen Brief seines Banquiers mit leicht realisirbaren Wechseln vorgefunden, sich auf demselben Wege einen Koffer mit dem was hineingehörte gekauft, und es war, als er damit bei Smith erschien, ohne weitere Erörterungen die Frage gelöst worden, wo er früher gewohnt und seine Effekten stehen gehabt. Hinreichend mit Geld versehen, und von dem Gedanken getragen, für seine Zwecke nirgends besser und vortheilhafter vor Anker zu liegen als gerade bei Smith, ließ er sich vom Leben, das ihm angenehm über die Mühlräder lief, drehen wie es wollte und erwartete was da kommen sollte. Darin täuschte er sich denn aber doch, wenn er sich einbildete nämlich, Smith wisse nicht, daß hinter dem einfachen Mr. Arthur jemand anders stecke. Mr. Smith glaubte ein Recht darauf zu haben, zu wissen wer unter einem Dache mit ihm wohne und für wen er so viel thue. Auch schien es ihm nicht gegen die Gesetze der Ehre, auf erlaubte Weise herauszubekommen, wer der Mensch sei, mit dem Mrs. Forster durchaus nichts zu thun haben wollte und um dessentwillen trotz allem ohne Zweifel Miß Emmy so leidend und apathisch war. Arthur theilte ihm seinen wahren Namen übrigens selbst mit. Als sie bei ihrer ersten oder zweiten Ausfahrt den Broadway kreuzend an Aftorhouse vorüberkamen, blickte er zu seinem ehemaligen Zimmer auf, und nun er eine schöne junge Frau oben stehen und über die Brüstung des Fensters gebeugt herabschauen sah, deutete er hinauf und sagte, von da oben gesehen kam mir das erste Mal die Stadt toll genug vor. Smith that als höre er nicht und wandte den Kopf kaum, merkte sich mit einem raschen Seitenblick einige Sekunden später das Fenster genau und erfuhr am andern Morgen im Comtoir, wer dort gewohnt hatte, dort bestohlen worden war und dort einen Brief mit Geld liegen hatte, der auf ihn wartete. Die Nachricht von diesem Gelddiebstahl kam ihm zudem äußerst gelegen, denn sie erklärte ihm, weshalb Arthurs Taschen so ohne einen Groschen Geld gewesen waren und zugleich weshalb er, wenn er eine bedeutende Summe in baar mit sich trug, versäumt hatte, sich gleich an einen Banquier adressiren zu lassen. Und so wußte Smith ohne viel combiniren zu müssen, bis auf einen gewissen Grad die Wahrheit,

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genug wenigstens, um sich dabei beruhigen zu dürfen einen Gentleman im Hause zu haben, ja nun in der Stille sogar doppelt angefeuert, dem versteckten Grafen daß fürstliche Bürgerthum der neuen Welt in seinem vollen Glanze zu zeigen. Arthur fand sich aus diesen Wegen in das Leben hineinversetzt, wie er es nie gekannt. Mit Beschämung sah er, wie sein Gastfrennd, der jünger war als er, spielend sein großes Vermögen verwaltete und vermehrte, durch seine Teilnahme am politischen Leben eine angesehene Stellung zu behaupten wußte, und Abends doch so sorglos faul und zu den weitabliegendsten Gesprächen aufgelegt neben ihm saß, als hätte er den langen Tag über nichts gethan und dies Gespräch sei seine erste und einzige Arbeit heute. Bei diesen Unterhaltungen mußte Arthur, wenn er nicht verrathen wollte woher er stammte, meist den passiven Teilnehmer abgeben. Allmählich bedrückte ihn das und zwar in dem Maße mehr und mehr, als Smiths Natur so recht dazu gemacht war, Vertrauen herauszufordern. Oft fing er an zu überlegen, ob er sich nicht insoweit wenigstens eröffnen wolle, daß es ihm lieb sei, durch Smiths Vermittelung in diese oder jene Thätigkeit hineingeschoben zu werden. Nicht als ob ihm jetzt bereits der Gedanke gekommen, immer in Amerika zu bleiben, sondern nur, wie er ad interim Mr. Arthur war, so auch ad interim etwas anzufassen und Geld zu verdienen. Er mißtraute nur seiner eigenen Natur. Er wußte nicht, ob er es durchsetzen würde, seine Gedanken ganz in dergleichen hineinzutragen und den Gelderwerb als leitendes Ziel allem andern voranzusetzen, dessen es doch zu irgend welchem Erfolge, das sah er wohl ein, bedurft hätte. Auch das merkte er mit der Zeit wohl, daß er durch Smiths Fürsorge doch nur mit der Elite der Gesellschaft in Berührung kam, und daß er sich, selbständig auftretend, mit ganz anderer Schärfe unter den getriebensten Leuten jeder Art als ihres Gleichen würde aufspielen müssen. Und deshalb, je mehr er etwas zu thun begehrte, um so schärfer doch das Gefühl, daß dies Land und Volk nicht der rechte Boden für seine Natur sei. Verstehen, sogar bewundern konnte er diese Welt, aber ein Theil von ihr werden schwerlich. In der That sein Geist däuchte ihm kein Fahrzeug für diesen Strom des Lebens. Ihm war, als müsse man um hier zu reüssiren wie aus Eichenholz und Eisen zusammengefügt sein. Er fühlte keine Sehnen in sich zum Widerstand gegen diese Bewegung, die ein ewiger geheimer Sturm und Wirbel schien. Oft, wenn er große Menschenmassen in öffentlicher Bewegung sah, schauderte er zurück, und wußte daß es für ihn hier nur den einen Platz: den des Beobachters, des Zuschauers gäbe; während Smith behaglich in der Menge mitschwamm als trüge er einen Talisman am Leibe, der ihm die Gewißheit gebe, er vermöge wenn er nur wollte Tausende festzubannen, daß sie ständen und erst auf sein Wort sich wieder rührten. Dies eigentlich bewunderte Arthur am meisten bei den bedeutenden Männern des Landes, welches seine Heimath werden sollte. Schon zu Hause hatte ihm am Militair so imponirt, daß ungeheure Massen durch den Willen eines Einzigen zu Bewegungen genöthigt wurden, die sie ausführten, wie die Gestirne bis auf die Minute die Bahn vollenden, die ewige Gesetze des Himmels ihnen vorgeschrieben. Hier aber sah er weit Größeres: undisciplinirte, widerwillige, rohe Menschenströme, jeden Oberbefehl ablehnend, stolz auf ihren unberechenbaren Eigensinn, und dennoch gebannt durch Worte und Gedanken. Mochten diese falsch sein: immer waren es ideale Mächte, und durch diese sah er das Land beherrscht. Kein Zwang. Nichts als Gedanken. Die erste Zeit hielt Arthur an sich, allmählich aber doch, unbewußt mehr als in Folge ernster Ueberlegung jetzt, that er sein Herz auf und gab dem Gastfreunde die empfangenen Eindrücke zu erkennen. Dieser, den Umschwung wohl gewahrend, allein ruhig und beobachtend und durch frühzeitige Erfahrung in diesem Punkte einigermaßen sicher, glaubte jedoch gleichfalls zu erkennen, daß Arthur für das Leben hier nicht geschaffen sei. Er sah den Mangel an Initiative in ihm. Die Idee der Rückkehr tauchte in Arthur allmählich auf, nach den Gesprächen die er in dieser Richtung mit Smith gehabt. Sobald er sie gefaßt aber, fühlte er mit gewaltiger Stärke die

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Unmöglichkeit, den Boden zu verlassen, auf dem allein er Emmy wiederfinden konnte. Die bloße Vorstellung: zurückgeschlagen nach Europa, von dort mit den Gedanken hieher hinüberzuschweifen, war ihm wie vernichtend. Dazu kam: hier, durch das ununterbrochene Kennenlernen neuer Existenzen, dem er sich hingab, war wenigstens der Anschein einer Thätigkeit gerettet; was aber vornehmen in Europa? Wieder sich hineinwühlen in die alte Einsamkeit, herumträumen wieder wie er gethan in den Straßen? nichts zu thun, zu wollen, zu erstreben, nichts zu erleben? — es überlief ihn ein Schauder bei dieser Vorstellung. Bleiben wollte er nun. Mit Gewalt hätte man ihn wieder nach Europa führen müssen, um ihn loszureißen. Welch' ein Glück schon: täglich die Baumwipfel vor den Augen zu haben, die Emmy's Haus beschatteten, durch Smith gelegentlich diese oder jene Nachricht von ihr aufzufangen! Er stand da wie ein Jäger auf dem Anstand, der lange Nächte fruchtlos lauert, auf jedes Geräusch achtet und nicht merkt wie die Zeit vergeht.

Dreiundzwanzigstes Capitel. Mit der unmerklichen Kunst, die das Leben allein lehrt, hatte Smith in Arthur das Gefühl zu erregen gewußt, er gehöre in das Haus und seine Anwesenheit sei ein wesentliches Moment für das Wohlbefinden seines Wirthes. Smith that als empfange er von ihm die werthvollsten Mittheilungen über Europa, ja als lerne er aus seinen Beobachtungen Amerika selbst erst nach mancher Seite hin recht kennen. Indem er unablässig die Fiction aufrecht hielt, als fürchte er daß Arthur ihn verlassen wolle, und werde er sich dann vereinsamt fühlen; als sei sein Haus nun erst angenehm und wohnlich geworden, da Arthur tagtäglich ihn erwartete; als leiste er ihm in den Kleinigkeiten, in die er ihn hier und da selbstthätig hineinzog, wichtige Dienste, glückte es ihm, seinen Gastfreund zu halten. Arthur sollte, ehe etwas Festes unternommen würde, Amerika erst nach so viel Richtungen als möglich kennen lernen. Smith behandelte ihn mit der zartesten Aufmerksamkeit. Er hätte für keinen anderen Menschen das gethan. Er mußte im Stillen über sich selbst erstaunen, und konnte den Grund seines Gefühls sich nicht klar machen. Er meinte es sei Mitleid, aber das Wort paßte wieder nicht, weil ihm Arthur zu viel Respekt einflößte. Arthur war gewiß kein Gelehrter, allein so viel hatte er sich angeeignet, um Smith gegenüber, der die Gegenwart in all ihren Verhältnissen genau kannte, von der Vergangenheit jedoch kaum das nothwendigste im Kopfe trug, als ein eingeweihter Geschichtskundiger aufzutreten. Die Hauptsache war: Arthurs Wesen behagte Smith außerordentlich, so daß, wenn er bei gelegentlichem Nachdenken über seinen neuen Freund nicht zu genügendem Abschlusse gelangte, zuletzt der Satz: der Mann gefällt mir und ist mir das Geld werth das er mich kostet, in befriedigender Weise abschloß. Indessen Arthur ertrug es nicht länger.- Das Gefühl, daß ein Tag bestimmt werden müsse, um den ersten Schritt zu thun in das amerikanische Leben, drängte sich ihm schon deshalb um so lebhafter auf, als er die Menschen um sich her in so unablässiger, fruchtbringender Bewegung sah. Vermögen entstanden ihm unter den Augen gleichsam. Näher rückte die Frage, wann denn auch er den Sprung wagen wolle in dies Getriebe hinein, und welche Richtung er innezuhalten gedächte. Der Zufall schien den Zwang eines Entschlusses hier aufheben zu wollen. Es waren die Zeiten, wo nach dem furchtbaren Kriege mit den südlichen Staaten, welcher die sittliche und ökonomische Verfassung des Landes in unheilbare Zerrüttung gestürzt zu haben schien, der wiedereingetretene Friede die gewaltigen, sittlichen sowohl als volkswirtschaftlichen Mittel des Volkes offenbarte, welche die ganze Welt und das Volk selbst staunen machten. Durch das Umundumwühlen der Nation war ein Capital von Energie flüssig geworden, das unerschöpflich schien, und Anstrengungen, durch die andere Völker in langjährig blühendem Zustande erschüttert worden wären, wurden von diesem vernichtet geglaubten Nordamerika frisch sich zugemuthet und wie im Spiele durchgeführt.

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Es ist bekannt, welche Rolle die Deutschen in diesen Kämpfen spielten. Wie sehr sie Ursache hatten sich inmitten desselben Volkes, für das sie als die fähigsten Vorkämpfer eben mitgefochten hatten, sich gegen Unterdrückung jeder Art ihrer Haut zu wehren. Und dennoch, jetzt nach dem Frieden, das alte Auseinanderfallen. Die Deutschen in New-Jork bildeten keine geschlossene Partei, sondern zersplitterten sich wie in Deutschland. Die Ursache war, neben dem bekannten tieferliegenden Drang des Deutschen sich seine individuellen Entschließungen stets frei zu halten und nach Belieben dahin zu treten wohin ihn das momentane Gefühl treibt, der Umstand, daß die deutschen Familien zu ganz verschiedenen Epochen ins Land gekommen, sich demzufolge loser oder fester an das Volk angeschlossen hatten, und so, außer gemeinsamen Erinnerungen, andere verbindende Interessen kaum mehr ihre Wirkung zu äußern vermochten. Smiths Eltern waren Deutsche, er selbst bereits aber ein completter Amerikaner; was hätte ihn antreiben können, mit Leuten gemeinsam zu berathen und zu beschließen, welche frisch angelangt, in nichts mit ihm übereinstimmten, als nur in dem Bewußtsein: nie wieder nach ihrem alten Lande zurückkehren zu wollen? Und nach diesem Muster eine Reihe von Nuancen in der Stellung der Deutschen zu einander und zu Amerika, die fast so zahlreich waren wie diese Deutschen selber. Und in Folge dessen wieder dieser Mangel an Einheit ein natürliches Produkt der Umstände. Dennoch kam es von Zeit zu Zeit zu gemeinsamen Manifestationen deutscher Gesinnung, bei seltenen Gelegenheiten, wo man als Glieder derselben Nation verbunden auftrat. Da nun zeigte sich, wie, wenn es darauf ankam, selbst die, welche ganz aufgehört zu haben schienen Deutsche zu sein, sich in ihrer alten Zusammengehörigkeit empfanden. Smith hatte Anwandlungen deutschen Gemüthslebens, und wo er seinen Landsleuten nützen konnte, that er es. Schon seine vielen Reisen in Deutschland mußten ihm, wenn auch wie einem Fremden, das Land aufs Neue theuer machen. Er knüpfte seine Geschäftsverbindungen am liebsten mit Deutschen an und hatte stets vorwiegend deutsche Arbeiter in seinem Bureau. Er war der Meinung, Amerika müsse deutsch werden in gewissem Sinne, um sich zu dem zu entwickeln, wozu es bestimmt sei. Ueberall wo es sich um das Interesse der Einwanderer handelte, trat er kräftig ein. Wenn die Deutschen beratschlagten, pflegte er dabei zu sein, verhielt sich meistens passiv zwar und ließ sich auf Bekämpfung mancher ihm unreif scheinenden Gedanken nicht ein, suchte aber auf die letzte Formulirung der Beschlüsse bestens einzuwirken. Man kannte und ehrte ihn, Viele hielten ihn für einen wunderlichen Kauz, Niemand jedoch verkannte seine Uneigennützigkeit. Man wußte zu gut aus praktischer Erfahrung, wie mancher Ankömmling ohne ihn zu Grunde gegangen wäre in Amerika. Es traf sich nun, daß im Interesse von Einrichtungen zu Gunsten der Einwanderer eine Massen-Versammlung der New-Jorker Deutschen angesagt worden war, und Smith sich daran zu betheiligen beschlossen hatte. Arthur begleitete ihn natürlicherweise. Auf einem weiten Wiesenplan bei Brooklyn, dem jenseits des Meeresarmes gelegenen Theile der Stadt, sollte man Zusammenkommen. Die hinüberführende Dampffähre stand gestopft voll Menschen, welche die verschiedensten Arten Deutsch sprachen. Arthur hörte, seit langer Zeit wie ihm schien, seine Muttersprache zum ersten Male wieder en masse reden. Ihm war so wunderlich fremd dabei zu Muthe, daß er Mr. Smith, fast aus Instinct, englisch anredete, und, als dieser so antwortete, dabei blieb. Er wußte nicht was ihn abtrennte von den Leuten. Er war sich bewußt, ein guter Patriot zu sein und nichts höher zu stellen als sein Vaterland, allein was er hier um sich fühlte von Repräsentanten desselben, ließ eine gewisse Vornehmheit in ihm erwachen, fast eine Abneigung. Er zog es vor, einstweilen als Amerikaner zu gelten. Sie langten an Ort und Stelle an. Eine große Versammlung füllte den freien Platz, in dessen Mitte eine Tribüne roh ans Brettern aufgeschlagen war. Reden wurden bereits gehalten. Ganz fernliegendes Anfangs nebenbei zur Sprache gebracht. Das Comite welches zusammenberufen hatte und leitete, hielt sich in Ausgabe seiner Mittheilungen

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noch zurück. Smith wurde erkannt und bewillkommnet, Arthur einer Anzahl Herren vorgestellt. Die Verhandlungen waren jedoch wenig nach seinem Sinne. Eingewohnt beinahe schon in die amerikanische Art, jede Sache strict für sich zu nehmen und Neben- und Hauptsachen fest zu scheiden, mußte ihn die ächt deutsche Art, alles mögliche bei jeder Gelegenheit anzubringen, die hier hervortrat, abstoßen. Freilich war die Verführung groß, denn zu viel schwebte damals in der Luft, und die Gelegenheit sich auszusprechen wurde selten geboten. Allein man mußte zu etwas kommen. Smith wurde ungeduldig. Er bat ums Wort und begann damit eine Kritik der faseligen Art und Weise, in der man verfahre, auszusprechen, die schärfer und ironischer ausfallend als er vielleicht selbst beabsichtigt hatte, in der That geeignet war, die Leute ein wenig vor den Kopf zu stoßen. Man hatte begeisterndes erwartet und fühlte sich statt dessen niedergeschlagen. Er war unter Beifallsbezeugungen aufgetreten: in dem Maße als er zu reden fortfuhr, wurden diese seltener und seltener, und als er geschlossen trat ein kühles Schweigen ein. Wir erinnern uns des Doctors, der aus tiefem Haß gegen die deutschen Mißregierungen nach Amerika übergesiedelt war und dessen Reden bei Smith auf dem Dampfschiff so wenig Anklang fanden. Dieser hatte in New-Jork bald Freunde getroffen, die seine politische Leidenschaft besser würdigten. Er war deshalb schon einigermaßen bekannt, stand mit den Redaktionen deutscher Blätter in Verbindung und befand sich im Comite. Nur den günstigen Moment erwartete er, sich seinen Landsleuten in corpore vorzustellen, und zwar womöglich nicht ohne den gehörigen Eclat. Dieser Augenblick schien jetzt gekommen. Er bat um's Wort. Von den Fragen die man verhandelte absehend, ging er darauf aus, zu constatiren, welche von den Anwesenden als ächte Deutsche zu betrachten seien, und welche nicht. Diese letzteren charakterisirte er nun. Was ließ sich da nicht sagen! Immer näher rückte er mit seinen Anspielungen Mr. Smith zu Leibe, um endlich offen auf ihn überzugehen und, bezugnehmend auf das was die Versammlung selbst soeben vernommen, ihn als den Typus jener Hochmüthigen zu kennzeichnen, die ihre Nationalität im Herzen längst aufgegeben, und deshalb nur aufträten, um Verwirrung und Uneinigkeit unter die zu bringen, welche den geheiligten alten Banden größere Treue bewahrt. Mr. Smith, war der Schluß seiner Beweisführungen, erscheine nur mit der Absicht noch unter ihnen, um seinen Amerikanern gegenüber als der Mann aufzutreten, der gelegentlich auch eine deutsche Armee in's Feld zu führen habe für seine Zwecke. Der Egoismus, versteckt hinter scheinbarem Patriotismus, zeige sich hier in seiner ganzen elenden Hohlheit. Denn an nichts sei Smith im Grunde gelegen, als am Betreiben seiner eigenen Geschäfte, von denen hier Niemand etwas wisse und Niemand etwas zu gute komme. Diese Rede, mit schneidender Schärfe, geschickt abwechselnd mit wohlberechneter Sentimentalität vorgebracht, fand ungeheuren Anklang. Nichts regt versammelte deutsche Gemüther in solchem Grade auf, als der unbestimmte Beweis, eine unbestimmte Macht wolle Einfluß gewinnen über sie und sie mißbrauchen. Seine eigenen heimathlichen Leiden wußte der Doctor zu verwerthen, als wären sie auch zu Hause von Männern verschuldet worden, welche dort dächten wie Mr. Smith hier. Sonnenklar setzte er auseinander, wie man im Begriff stehe, blindes Werkzeug amerikanisch - deutscher Apostatenpolitik zu werden. Der Skandal der seine Rede begleitete, wurde immer größer. Hurrah, Pfeifen und Bravo's erschütterten die Luft und nahmen kein Ende als der Doctor, längst mit seiner Rede fertig, bei aufgestreckten Armen dastand, als solle er gekreuzigt werden und beschwöre jeden einzeln, dies zu verhindern. Mr. Smith blieb ganz kaltblütig. Er kannte dergleichen. Er wußte, daß der Mann nur die Gelegenheit erwartet hatte, etwas durchschlagendes auf den Markt zu bringen, das sich dann wieder in Zeitungsartikeln ausbeuten ließe, und daß es ihm mit seiner

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Feindschaft nicht einmal so ernst war. Er sah ein, daß heute nichts zu machen sei, und wollte fortgehen. Nicht so Arthur. Dieser fühlte sich von Grund auf empört. Die Tausende von Augen, auf die Tribüne gerichtet und auf ihn mit, der sich da mit dem Comite befand; die Reden an sich schon, die einander ablösten und die er Wort auf Wort eingesogen als das Wichtigste was im Moment auf der ganzen Erde gesagt werde, denn nie hatte er dergleichen so erlebt; das Neue der zum ersten Male empfundenen Situation regte ihn bis zum Fieber auf. Plötzlich hatte Smith ihn aus den Augen verloren, plötzlich sah er ihn wieder neben dem Doctor, diesen zur Seite drängen und mit hocherhobenem einem Arme zum Reden ansetzen. — Deutsche Mitbürger! flog es aus seinem Munde weithinschallend über die Köpfe der Menge hin — und nun eine Rede aus seinem Munde, donnernd die Zuletztstehenden erreichend und augenblickliche Stille bereitend. Nur ein paar Worte wolle er sagen über seinen Freund Smith. Wissen sollte man hier doch, was für ein Mann das sei. Und dann, Satz auf Satz, ein Erguß über Deutschland, über Amerika und über Mr. Smith, in glänzenden Perioden und mit hinreißendem Accente des Vortrags. Was der Mann gethan, wie er unablässig nur das Wohl der Deutschen in Amerika im Auge halte, wie ihrer aller Laster das der Undankbarkeit sei; ob die Deutschen in Amerika, wo keine Tyrannei sie fessele, nicht endlich auf edlere Gedanken kommen wollten? Gott weiß woher Arthur das alles zuflog, er bedachte nicht was er sagte; er sprach, und das Reden an sich, das Gefühl: gehört zu werden, schien ihn über sich selbst zu erhöhen: dies Gefühl, daß Tausende ihm lauschten, das er nie zuvor empfunden; und als nun Bravo's erschollen und das sich erhebende Pfeifen todtgehurraht wurde, steigerte er sich zu einer Begeisterung, daß Niemand je solche Worte an solcher Stelle gehört zu haben meinte. Endlich fand er einen Abschluß. Smith war wieder der Held des Tages. Man drängte sich zu ihm und zu Arthur, unzählige der Händedrücke wurden verabreicht. Noch einmal versuchte der Doctor das Wort zu ergreifen, unsichtbare Hände seiner Freunde jedoch, die allerlei befürchteten, zogen ihn an den Rockschößen nach rückwärts. Die Resolutionen wurden nun rasch erledigt, Smith und Arthur zur Fähre begleitet, um die Ehre gestritten, ihnen am nächsten zu stehen. Unter Bezeugungen der Herzlichkeit bestiegen sie ihren Wagen, der sie am Aussteigeplatz erwartete, und fuhren nach Hause. Beide schweigend, Smith vor Erstaunen, Arthur im Nachrausche seines Triumphes und immer noch die Massen von Augen vor sich, die zu ihm aufgeblickt. Was ihn am meisten befriedigte daneben: das Gefühl, Smith einen Theil der geschuldeten Dankbarkeit abgetragen zu haben. Nie in meinem Leben, sagte dieser, als sie im Frieden ihres Landhauses endlich wieder angelangt waren und beim Mittagessen einander gegenüber saßen, hätte ich geglaubt daß dergleichen hinter Ihnen steckte. Sie müssen bei uns bleiben! Er reichte ihm die Hand über den Tisch. Arthur lächelte. Wohl war ihm der Gedanke gekommen, als sei der heutige Tag der Anfang neuer Lebenszeiten. Ich weiß nicht, wie ich das Ereigniß fassen soll, sagte er. Es ist wie ein Wink des Himmels. Es ist als hätte ich plötzlich Boden gefaßt hier, als seien mir aus diesem Zusammen stoße mit den Menschen Pflichten erwachsen, die ich nicht wieder aufheben könnte selbst wenn ich wollte. Das ist der Zauber des öffentlichen Lebens, sagte Smith. Sie empfanden ihn zum ersten Male. Ich freilich kenne das aus langer Praxis. Mich dauerte der arme Doctor. Aber sein letztes Wort ist noch nicht gesprochen, weder gegen Sie noch gegen mich; das werden wir bald erleben. Sorgen wir dafür, daß auch das überwunden werde, rief Arthur, nahm das Glas und stieß an mit Smith. Ein wunderliches Volkstribunengefühl war in ihm aufgewacht. Erträumte von weiteren Reden, Gedankenreihen stiegen ihm auf, die er hätte entwickeln mögen, er sann darauf, wo sich wohl Gelegenheit fände das nachzuholen. Jetzt vor allen Dingen, sagte Smith, schreiben Sie Ihre Rede sogleich englisch nieder. Sie sollen morgen früh erleben, welche Berichte einige Blätter über Sie und mich bringen werden. Seien Sie versichert, daß der Doctor und seine Freunde längst hinter

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dem Tintenfasse sitzen, um die richtigen Commentare aufzusetzen über das was Sie gesagt haben. Wir werden uns darauf nicht weiter einlassen natürlich, allein es ist doch unsere Pflicht, die Rede in der Tribune zu veröffentlichen, wie sie eigentlich gehalten worden ist. Arthur war mit Freuden dazu bereit und Smith corrigirte das Manuscript. Noch in der Nacht wurde es abgesandt, und als Arthur am andern Morgen sein Blatt auseinanderlegte, allein und ohne seinen Freund, der bereits ausgefahren war, an dem gewohnten Platze sitzend mit dem Blick hinüber auf Land und Stadt und Meer, zitterte ihm die Hand als er Mr. Arthur´s speech in einer langen Columne abgedruckt fand. Niemals hatte er geglaubt daß gedruckte Worte solchen Zauber auszuhauchen im Stande wären. Ein zweites Exemplar wurde sofort bestellt und unter Kreuzband an Erwin abgesandt. Smith kam dazu und hörte lächelnd mit an, wie Arthur dem Diener befahl, das kleine Paquet schleunigst in den nächsten Briefkasten zu stecken. Arthur hätte dieses Lächeln beinahe übel genommen. Und doch enthüllte es kaum Smith's Gedanken, der, wenn es ihm nicht darum zu thun gewesen wäre, Arthur, den er als seinen Zögling betrachtete, gleichsam eine kleine erste Schwimmlektion im amerikanischen Wasser zu geben, die ganze Angelegenheit als nicht der Rede werth auf sich beruhen lassen und Arthur den guten Rath gegeben hätte, nicht unnütz in Dinge hineinzugehen, in denen nichts zu bessern und zu ändern war; es gab größere und lohnendere Arbeit im Lande.

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Unüberwindliche Mächte Zweiter Band. Berlin. Verlag von Wilhelm Hertz. (Bessersche Buchhandlung.) 1870. Vierundzwanzigstes Capitel. Die Sache verlief übrigens ganz so wie Mr. Smith erwartet hatte. Der Doctor wollte jetzt seine Rede in der Tribune gleichfalls publiciren, konnte aber aus der Redaktion durchaus Niemand begegnen der sich dafür interessirte, und war empört über diese republikanische Tyrannei. Er gab sie dafür als Broschüre heraus. Das nun bot Arthur Gelegenheit, in einem Essay auszusprechen was er nachträglich zu sagen gewünscht. Er schrieb mit Feuer und ließ drucken. Neue wunderbare Aufregung: Correcturbogen zu empfangen und mit Smiths Hülfe richtig zu behandeln. Abermaliges ungewohntes Erlebniß: fünfzig Exemplare des kleinen Heftes sauber beschnitten vor sich auf dem Tische liegen zu sehen. Wieder ging ein Exemplar an Erwin ab. Smith vertheilte eine Anzahl in der Stadt. Eigentlich betrachtete er die Sache als längst abgethan und nicht der Mühe werth, doch schien es ihm förderlich Arthurs wegen auch dies noch zu thun. Nun erschienen die Leute die das Heft empfangen, um Arthur dafür zu danken. Sie würden es unterlassen haben, hätte Arthur der Umstand daß er bei Smith wohnte, nicht Gewicht und Rang gegeben. Er gehörte dadurch selbstverständlich zu einem bestimmten set of people und ward berücksichtigt. Arthur schien sich ein Mann geworden der mitreden durfte. Seine jugendlich frische, männliche Erscheinung that das ihrige. Wohin er wolle und woher er käme, brauchte Niemand zu wissen. Jeder nahm an, da er einmal Fuß gefaßt, werde er die Mühe nicht umsonst aufgewandt haben wollen. Und so sieht er sich, statt elend nach Hause zurückzukehren, fest eingepflanzt in einen neuen Boden und hat eine Zukunft voll von fruchtbarer Anstrengung vor sich, wie dem geziemt, der jung ist und Kräfte empfangen hat. Eine Woche etwa hatte das neue, für Arthur bewegte Leben gedauert, als ihm eines Morgens von Smith angekündigt ward, daß sie am Abend eine kleine Reise in die Wälder unternehmen würden die sich westlich von New-Jork zwischen dem Hudson und dem Eriesee hinziehen und deren Spitze die Höhenzüge sind die so dunkel in die Augen fallen wenn man in die Bai von New-Jork einfährt. Smith's persönliche Anwesenheit war dort erforderlich. Arthur würde sich bei dieser Gelegenheit auf einigen tüchtigen Ritten das Land ansehen und zugleich einen ihm befreundeten alten Herrn, Mr. Wilson, kennen lernen, der mitten in den Wäldern dort ein kleines Anwesen bewohnte. Begonnen hatte der Mann seine Laufbahn als Lehrer, dann die Redaktion eines philanthropischen Journals übernommen, darauf eine Reihe von Jahren öffentliche Vorträge gehalten und Bücher geschrieben, und sich endlich, nachdem ihm die Frau gestorben war, die Kinder aber sich hier und dort etablirt hatten, in die Einsamkeit zurückgezogen, die freilich durch mancherlei Reisen seinerseits oder auch durch häufigen Besuch seiner zahlreichen Verehrer häufig gestört wurde. Smith hatte sich und Arthur bereits angekündigt, und Antwort empfangen daß die Gastbetten auf eine Nacht zur Disposition ständen. Dies? Vorsicht war nothwendig, um etwanigen Collisionen auszuweichen. Das Dampfschiff aus dem man die erste Strecke zurücklegte, ging um fünf Uhr Nachmittags, man beschloß deshalb an Bord zu Mittag zu essen. Damit beschäftigt, und zwar an einem offenen Fenster eines der ungeheuren Salons sitzend die, sich etagenweise übereinanderthürmend, dem Dampfer fast das Aussehen eines schwimmenden Hotels gaben, das es in der That war, sah Arthur die prachtvollen Ufer des Flusses vorbeiziehen. Mittlere Höhen wie am Rheine, mit frischem Grün bedeckt, Wälder, Gärten, Landhäuser, eins nach dem andern, zeigten sich, und wie

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überraschend erst der Blick, als Sie nachher auf das oberste Verdeck steigend, den entgegenschwellenden Strom breit im Abendglanze erblickten und das üppige Land auf beiden Seiten ihnen entgegenkam. Arthur aber fühlte sich innerlich abgehetzt nach dem letzten Ereignisse. Seine träumerische Natur verlangte ihr Recht. Er stand auf die Brüstung des Verdecks gelehnt und sah in das abströmende Wasser. Das Gefühl mußte ihm zurück kehren, wie er tagelang so gestanden als Emmy ihm noch erreichbar schien. So mächtig überkam ihn das Angedenken an dieses Leiden, das eingelullt auf dem Boden seines Herzens geschlummert hatte, daß alles andere wieder verschwand und er sich grenzenlos unglücklich fühlte. Die Dämmerung sank immer dichter und hüllte das Ufer in breite Schatten ein. Vor sich selbst war er wieder der rathlose, heimathlose, zukunftslose Mensch. Sein Reden in der Versammlung und was darauf gefolgt war, schrumpfte zusammen zu einem Puppenspiel, an dem er selbst seelenlos, oder in fremder Verkleidung, wie ein Europäer etwa, der um sicher zu reisen arabische Tracht anlegt und in Moscheen mitbetend tiefe Andacht heuchelt, Theil genommen. Glücklicherweise gab die Ankunft in Piermount äußerlichen Anstoß diese Gedanken zu unterbrechen. Sie verließen hier den Dampfer und gingen auf die Eriebahn über. Schlafkabinen wurden genommen und in Anbetracht des frühen Aufstehens am nächsten Tage, sogleich bestiegen, die bei der Bewegung des Zuges rasch ihren Zweck erfüllten. Der Tag graute als Arthur sich von Smith herausgerüttelt fühlte. Sie ergriffen ihr kleines Gepäck und traten vor auf die äußere Balkonbrüstung des Waggons. Durch tiefen Wald flog der Zug dahin, manchmal baumbestandene Hügel durchbrechend, dann wieder auf der Höhe zwischen den Wipfeln dahineilend, über denen der Dampf des Morgens schwebte. Raubvögel stiegen auf und verloren sich in die Luft, Dohlen und Raben krächzten aus nahgelegenen Bäumen heraus. Dann kamen Plätze wo Holz geschlagen lag und Blockhäuser standen. Das sind unsere Leute! deutete Smith hinunter. Wir werden bald genug da sein. In der That, nur eine kurze Fahrt noch und es wurde an einer unbedeutenden Station halt gemacht um frische Kohlen einzunehmen. Smith und Arthur sprangen vom Waggon ab, während aus einem anderen ihr Diener, die Gewehre im Lederfutteral kreuzweise auf dem Rücken und einige Ranzen nach sich ziehend, herunterkletterte. Neben einem der Häuschen welche die Station bildeten, standen ein paar Pferde an einen Baum angebunden. Smith machte sich auf das eine, nachdem er Arthur die Wahl gelassen, der sich mit ungemeinem Behagen in den Sattel des andern schwang. Der Diener reichte jedem dann Jagdtasche und Büchse, machte sich gleichfalls beritten und so ging es vorwärts. In einer Beziehung war der Genuß geringer als Arthur gedacht, denn die Thiere taugten wenig, der Weg dagegen entzückte ihn. Smith führte den Zug. Durch schwerbethautes Gras, durch Waldbäche querhin, oft auch ein Stück im Flußbette hinunter und dann erst wieder ans Ufer geklettert, nun auf glattem Boden unter hohen pinienartigen Kiefern galoppirend, ein Stück Sumpf dann durchreitend, immer vorwärts. Die Sonne ging auf unterdessen und glühte die Wipfel und oberen Aeste golden an, während der Himmel mit unendlich blauem Glanze herunterstrahlte. Die Büchsen waren mitgenommen, wenn es vielleicht etwas zu schießen gäbe, aber es kam nichts der Mühe werth scheinendes über den Weg. Ein paar Stunden mochten sie so geritten sein, als eine Lichtung mit zahlreichen gefällten Stämmen sich zeigte, nachdem Getön von Axtschlägen rings umher längere Zeit schon hörbar geworden. Ein Blockhaus mit rauchender Dachöffnung war das Ziel, auf das sie, ein paarmal über die Stämme fortsetzend, lossteuerten. Ein alter, verwitterter Kerl, der an der Thür saß, erhob sich bei ihrem Erscheinen, rückte seinen Hut ein bischen herum und nahm die Zügel der Thiere in Empfang. Smith zog ein Notizbuch heraus, blätterte und begann mit dem Bleistift im Munde und dem Zollstock in der Hand zwischen den Stämmen umherzuklettern und Nummern zu notiren. Arthur

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konnte gehen wohin er wollte. Der Diener war in der Hütte damit beschäftigt das Frühstück herzustellen. Arthur nahm die Büchse und streifte damit in der nächsten Umgegend umher. Ein paar Vögeln die sich hier und da auf dem der schwankenden Gipfeläste wiegten, blies er das Lebenslicht aus, holte sie aus dem Gestrüpp heraus in das sie gefallen, und untersuchte sie ob er sie kenne, zog dem einen ein paar gezeichnete Federn aus und steckte sie hinter das Band seines Strohhutes. Endlich rief Smith zum Frühstück, las währenddem aber immer in seinem Buche und calculirte, und hinterher die Fortsetzung desselben Spieles. Es wurde Mittag. Smith war fertig und kam auf Arthur zu. Jetzt zu Mr. Wilson, sagte er; der Weg ist nicht lang, wir lassen die Pferde hier und gehen zu Fuß. Ein alter, weißköpfiger, verschrumpfter Neger, der wie eine Kröte aus einer Felsritze irgend woher zum Vorschein gekommen war, wurde herbeigewinkt; das geringe Handgepäck ihm aufgelegt und der Weg angetreten. Es führt auch eine Art Straße zu Mr. Wilsons Hause, oder wenigstens in ziemlicher Nähe daran vorbei, sagte Smith; aber die geht weit dort herum, er deutete die Gegend an, und wäre für uns ein Umweg heute. Der Neger lief voran, sie folgten mit langsameren Schritten. Der Boden war eben, der Wald, Pinien oder Kiefern, bestand aus prachtvollen Stämmen hier, die untadelhaft zu bedeutender Höhe anstiegen. Es war schattig und kühl, obwohl die Sonne heiß auf ihre Kronen herunterbrennen mochte. Weithin sah man zwischen den Stämmen hindurch bis tief in dämmerigen Schatten hinein, der das Auge zuletzt aufhielt. Der Wald hatte etwas fremdes, andersgeartetes als Arthur je gesehen, etwas riesenmäßigeres und zugleich doch schlankeres, man möchte sagen vornehmeres im Gewächs, als die ihm bekannten deutschen und selbst italienischen Wälder. Die Kronen setzten hoch oben an und stießen mit den festen Nadelmassen dicht aneinander, so daß der Himmel nur in zerrissenen kleinen Stücken sein blendendes Blau zwischendurch dringen ließ. Alles war still, auch die Axtschläger hörte man bald nicht mehr. Nur der Neger hatte ein melancholisch grunzendes, takthaltendes Geheul angestimmt, in der Art wie die Matrosen singen wenn sie Lasten aus dem Schiffsraume aufwinden. Smith blieb zuweilen stehen und sah sich rings um; der Wald schien ihm gar behaglich. Einmal stand er still, stampfte mit den Füßen auf den Boden und rief lachend, das ist ächter freier amerikanischer Boden und soll es bleiben! Kein Tyrann hat so lange die Welt steht, seinen Fuß hierhergesetzt! Dabei schoß er seine Büchse in die Luft und brüllte, halloo, halloo, halloo, daß der Wald von dem doppelten Lärm wiedergellte. Lockt Sie das nicht, Mr. Arthur? rief er aus. Was? Haben Sie keine Lust, die ganze Packesellast der europäischen Geschichte wie einen Schuß Pulver auf Nimmerwiedersehen in die Luft fliegen zu lassen und hier zu bleiben, wo es keine Ritterburgen und Basalte giebt, wie Goethe sagt. Arthur sah ihn an. Sollte er doch wissen, wer ich bin? dachte er. Was gehen uns beide die Ritterburgen an? hüben oder drüben? antwortete er. Arthur hätte sich, wie wir wissen, nicht getäuscht, wenn ihm bei Smith der Verdacht aufgestiegen wäre, er kenne ihn besser als er sich den Anschein gab. Smith beabsichtigte in der That, ein Gespräch einzuleiten, dessen Ende eine Enthüllung von Seiten Arthurs sein sollte. Es stand ihm irgendwie im Wege, daß dieser sich für etwas anderes gab als er war. Ueber sein Verhältniß zu den Forsters brauchte er ihn nicht Aufzuklären; offen zu bekennen aber, wer er sei, und nicht unter dem angenommenen Namen so weiter fortzuexistiren, erschien ihm als ein Act bürgerlicher Pflicht von Seiten seines Gastes. Mochte der Graf sich „Mr. Arthur" nennen, gleichgültig. Allein einen Brief in Astorhouse unter einem andern Namen in Empfang nehmen als man übrigens trug, und nicht freiwillig erklären warum, darin lag etwas das Mr. Smith mißfiel. Ich bin dem Herrn am Ende nicht einmal gut genug, als daß er anders als Incognito bei mir wohnen dürfte, raisonnirte er. Smith hatte übrigens ganz besondere Ursache nebenbei, auf den deutschen Adel nicht gut zu sprechen zu sein. Dann aber dachte er wieder an Mr.

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Arthurs Rede in der Versammlung. Er konnte die freilich nicht reimen damit. Jedenfalls aber, es sollte Klarheit in die Sache gebracht werden. Speziell haben wir beide, rief er aus, Gottlob mit Ritterburgen allerdings wohl nichts zu schaffen gehabt, Mr. Arthur. Es sei denn, daß unsere beiderseitigen Voreltern etwa Bauern waren, die ihre Frohnen thun mußten in der guten alten Zeit, und wenn sie nicht genug schafften, vielleicht Prügel bekamen von hohen Händen. Möglich, erwiederte Arthur ohne aufzusehen. Nun, es soll beiden Theilen nachträglich vergeben sein, fuhr Smith fort; denen sowohl die zuschlugen, als denen die es sich gefallen ließen. Wer denn trug die Schuld daran? Sie thaten beide nicht anders als sie von ihren Eltern gesehen und gelernt hatten. Und wahrhaftig, wenn Ihre eigenen Voreltern dergleichen Ritter gewesen wären, und die meinigen dergleichen Bauern, Mr. Arthur, es soll ausgestrichen sein. Sie scheinen mich am Ende für den verkappten Nachkommen eines dieser Herren anzusehen, sagte Arthur, während er sich nicht enthalten konnte, innerlich mit sich zu überlegen, es sei doch besser von denen abzustammen welche prügelten, als von denen die geprügelt wurden. Ehrlich gesagt, ich glaubte Ihnen auf dem Dampfschiff dergleichen anzumerken, bemerkte Smith jetzt und sah Arthur an. Dieser gab keine Antwort und betrachtete den Boden, auf dem sie weiter schritten. Smith schwieg jetzt auch. Keine bessere Gelegenheit hätte er Arthur bieten können, ungenirt sich zu erkennen zu geben. Mit einem Scherze wäre man darüber hinweggegangen. Was hatte er nicht thun wollen für seinen Gastfreund, und so geringen Zutrauens würdigte ihn dieser, daß er, auf die ungeschickteste Weise obenein, einen falschen Namen vor ihm führte. Hol' ihn der Teufel, dachte Smith, sie sind einmal so und werden nicht anders, diese Herren. Eine Art Bitterkeit bemächtigte sich seiner. Mit ein paar Worten hätte er Arthur zu verstehen geben können, wie lächerlich durchsichtig sein Incognito sei. Daran aber dachte er nicht. Es wäre fast ein Bruch der Gastfreundschaft gewesen, Arthur zu etwas zu zwingen was dieser nicht freiwillig that. Smith war viel zu zartfühlend, um dergleichen durchsetzen zu wollen einem Menschen gegenüber der in gewissem Sinne abhängig von ihm war. Aber etwas anderes kam ihm in den Sinn, etwas das sein Vater und seine Mutter von dieser Seite erduldet hatten, und so brach er unwillkürlich in die Worte aus: Nun, es ist mir lieb, Mr. Arthur, daß Sie nicht zu den Leuten gehören; ich könnte Ihnen eine seltsame Geschichte erzählen aus diesen Regionen, die mich angeht. Angeht? fragte Arthur. Aber nicht traurig, hoffentlich? Auch wohl traurig, wenn Sie wollen, erwiederte Smith. Und unter der Sie gelitten haben? Nein, nicht ich — aber meine Eltern. Smith blieb stehen. Nichts da, rief er plötzlich aber, mit solchen Geschichten jetzt! Es sollte ein Mittel erfunden werden, das Gedächtniß ein- für allemal freizumachen von all dem alten unnützen Wuste. Es wäre schade um den schönen Tag. Sehen Sie, dahinten blitzt die freie Luft durch die Stämme, dort, ganz hinten. Wir sind nicht mehr weit von Mr. Wilsons Hause! Alkin zuweilen geht es dem Menschen sonderbar. Man nimmt sich etwas vor, und in dem Momente wo man sich siegreich durchgekämpft zu haben glaubt, unterliegt man. Smith blieb plötzlich wieder stehen und zwar in so fragender Gestalt vor Arthur, daß dieser gleichfalls ihm gegenüber Halt machte. Jetzt, mein lieber Graf, rief Smith aus, warum in aller Welt verheimlichen Sie mir, wer Sie sind und was Sie wollen hier in Amerika? Arthur ward dunkelroth und schwieg. Gott soll es wissen, rief Smith — und schlug sich mit der Faust vor die Stirn daß, wenn er es einem Andern so gemacht, dieser vielleicht mit ein paar Sprüngen kopfüber dagelegen und sich nicht weiter gerührt haben würde — ich hatte mir so fest vorgenommen, die Frage nicht zu thun, aber ich bin so in Fluß gekommen, daß ich, wie Sie sehen, laut zu denken anfange. Aber da es nun einmal heraus ist: weshalb

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gaben Sie mir selbst denn das Mittel an die Hand, in Astorhouse auf die einfachste Art Ihren wahren Namen zu erfragen? Das ist sehr einfach erzählt, sagte Arthur jetzt, nicht ohne eine gewisse Vornehmheit des Accentes. Auf dem Dampfschiff, oder vielmehr im Schnee damals vor Hamburg, glaubte ich, es würde einen falschen Ton zwischen uns bringen, wenn ich meinen Stand zu ernennen gäbe, und späterhin schien es mir am bequemsten, die Sache beim Alten zu lassen. Ich hätte den Titel ja doch nicht anwenden können, und es war meine Absicht, als Mr. Arthur hier frisch anzuknüpfen. Lassen Sie es also zwischen uns dabei bleiben, schloß er und streckte Smith die Hand hin. Soll ein Wort sein! rief dieser einschlagend und sich im höchsten Grade befreit fühlend, Sie bleiben bei uns in Amerika? Ich denke, antwortete Arthur. Ich weiß nicht, sagte Smith jetzt, weshalb Sie Europa verlassen haben: aber ist etwas dabei im Spiele, was Sie so zu sagen genöthigt hat Ihre Schiffe zu verbrennen? Keine Indiskretion meinerseits! Nur die Erlaubniß möchte ich mir ausbitten damit, daran zu denken, wie und wo sich bei uns etwa ein Wirkungskreis für Sie schaffen ließe. Denn wissen Sie, ganz ehrlich gesprochen, wenn ich denken sollte, ich hätte mir hier viele Mühe gegeben Ihrethalben (was ich sehr gern thäte) und es langte plötzlich eine Flotte von einem Dutzend Fregatten in New-Jork an, um Sie als nunmehrigen souverainen Fürsten dahin oder dorthin abzuholen, so würde es mich allerdings immerhin freuen, Sie unter meinem niederen Dache beherbergt zu haben und von Ihnen vor dem NewJorker deutschen Publikum öffentlich gelobt worden zu sein, allein ich hätte mir dieses Kopfzerbrechen wenigstens sparen können, wo man Ihnen den besten Platz zum Hierbleiben zubereitete. Nehmen Sie getrost an, erwiederte Arthur, nun ganz in den alten Ton zurückfallend, daß eine solche Flotte niemals kommen wird und daß mir nichts erwünschter wäre, als ein stiller Winkel hier wo ich arbeiten und mich nützlich machen könnte. Wie viel Vermögen haben Sie, fragte Smith, das Sie disponibel hätten? Arthur nannte was er besaß. Es ist gut, sagte Smith; ich denke, Sie werden mehr als eine Gelegenheit finden bei uns. Vorerst kommt es darauf an, daß Sie ohne etwas Eigenes zu unternehmen das Leben und die Art der Leute kennen lernen. Er wollte weiter reden, als der schwarze Packträger durch ein lauteres Gejohle, das alsbald durch Hundegebell erwiedert wurde, andeutete, Mr. Wilsons Haus sei erreicht. Smith und Arthur sahen es nicht, nur einige hundert Schritte aber noch, und ein prachtvoller Anblick that sich auf vor ihnen. Der Boden des Waldes hatte sich gehoben von der Mitte des Weges an etwa. Sie waren die ganze letzte Zeit leise angestiegen, ohne darauf Acht zu geben. Jetzt, aus den letzten Bäumen heraustretend, sahen sie das Terrain in einem ungeheuren Bogen, so weit das Auge reichte rechts hin und links hin, steil abfallen. Arthur, der den reinen Himmel so weit hereinleuchten sah, meinte, das Meer müsse sich aufthun hinter dem letzten Rande des Waldbodens, den sie eben erreichen wollten. Nun standen sie daran: einige hundert Fuß sanftabschüssige Tiefe hatten sie unter sich, die, wieder von Wald ausgefüllt, mit ihren Wipfeln zu ihren Füßen aufstrebte, weit bis zum Horizonte eine gewaltige grüne Fläche bildend, wie eine sanft auf- und abschwellende Wiese. Und so glorreich lag der Aether über diesem Gefilde, und ein paar Adler schwebten dahin, bewegungslos wie an unsichtbaren Faden aus dem Himmel herabhängend, und das leise Seufzen des Windes in den Aesten über ihnen war der einzige Ton in der Runde. Arthur stand überwältigt von diesem Anblick. Das ist Amerika! rief er aus, man fühlt es. Ja, das ist mein Vaterland! sagte Smith und hatte Europa und alle Grafen der Welt vergessen in diesem Momente.

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Fünfundzwanzigstes Capitel. Gebell ertönte jetzt von neuem. Arthur wandte sich zur Seite woher es käme, und sah Mr. Wilson's Häuschen nicht weit von ihnen am Abhange liegen. Ein Mann kam aus der Richtung her auf sie zu, den zwei tüchtige schwarze Hunde in Sprüngen umkreisten. Man erreichte sich bald. Mr. Wilson schien ein Mann zwischen sechszig und siebzig; sein lebendiges Auge ließ einen so jugendlichen Blick ausstrahlen, daß man ihm ebensogern nur fünfzig gegeben hätte, wären seine magern, etwas zarten Hände und eine gewisse Durchsichtigkeit des Gesichts nicht Zeugen höheren Alters gewesen. Er hielt sich gerade, sein weißes, dünnes Haar war leicht gelockt. Er war rasch und kräftig auf sie losgeschritten und seine lebhafte Sprache von Bewegungen der Arme und des ganzen Körpers begleitet. Man drückte sich freundlich die Hände und ging dem Hause zu, an das sich der obere Wald dicht herandrängte. Den äußersten Vorsprung des Abhanges nahm eine von Blätterwerk überschattete Veranda ein, von der man in ein geräumiges Zimmer eintrat. Hier hatte Wilson gesessen und gelesen und hier wurde Platz genommen. Wilson, dem Arthur annoncirt worden war, begann sogleich von dessen Rede zu sprechen, die er gelesen hatte. Er drückte seine Freude darüber aus, aus dem Munde eines frisch ankommenden Deutschen so schöne und richtige Grundsätze zu hören. Es ist schwer, sagte er, sich gleich dahinein zu finden bei uns. Sie haben gesprochen als hätten Sie schon lange vorher gewußt, worauf es hier ankäme. Arthur hätte gern geantwortet, aber er sah Smith an, der ihm ein sonderbares Gesicht zu machen schien. Und in der That, wie wenig ahnte Wilson daß sich die Sachen doch anders verhielten. Sie werden bei uns bleiben? fragte dieser wohlwollend als Arthur schwieg. Mir ist zu Muthe, erwiederte Arthur, als sei dem so. Ich hoffe es, sagte Wilson; Naturen wie die Ihrige gehören hierher. Ihre Landsleute werden Ihrer bedürfen, und Sie, um sich recht zu entwickeln, unseres amerikanischen Lebens. Es ist wunderbar wie die beiden Nationen geistig auf einander angewiesen sind. Freilich, fuhr er fort als Arthur schwieg, es muß schwer sein, sich freiwillig loszulösen. Ich war früher einmal in Deutschland. Man gewöhnt sich dort nur zu leicht und zu sanft daran, eine Menge, wenn ich so sagen darf, kleinerer geistiger Ansprüche ohne weiteres befriedigt zu sehen, und es hat etwas ungemein Reizendes, das mühelos stets haben zu können. Steckt man einmal in solcher Gewohnheit drin, wie schwer, sich ihrer zu entwöhnen! Die Sammlungen Deutschlands, Englands, Frankreichs, gar Italiens, die geistreichen Männer die dort in Fülle zu finden sind, der gelehrte Verkehr, das Echo für jede Neigung höherer Art: man empfängt hier nichts davon oder sehr wenig. Wir haben die Tradition noch nicht, deren es dafür bedarf. Solch ein geistiges Leben wächst nur auf einem Jahrhunderte lang dafür präparirten Boden. Doch es liegen vielleicht Ihre Interessen in ganz anderer Richtung, setzte er hinzu, als Arthur immer nichts erwiederte. Smith sprang jetzt ein. Indem er sich erhob und zum Fortgehen fertig machte, erklärte er, sie wieder verlassen zu müssen, weil er den ganzen Tag über in der Umgegend beschäftigt sei. Abends werde er zurückkehren. Damit drückte er beiden die Hände und machte sich fort. Arthur blieb mit Mr. Wilson allein, der seinen jungen Gast schweigend musterte, offenbar abwartend, was er aufs Tapet bringen würde. Arthur war in einer seltsamen Stimmung. Es lag ihm, er wußte nicht warum, Smith's unerzählte Geschichte im Kopfe; dann bedrückte ihn, er wußte auch hier den Grund nicht, daß sein Incognito gebrochen worden war. Er hatte nichts dabei gefunden, als Mr. Arthur sich in dies neue Leben einzuschleichen und unvermerkt so den alten Pelz abgestreift zu haben. Er hatte sich schon davon befreit geglaubt sogar. Jetzt war es statt dessen zu einer förmlichen Abschwörung gekommen. Er dachte an Erwin. Wie tapfer hatte dieser offen gethan was zu thun nöthig war, wie feige gleichsam hatte er dagegen ihn nachzuahmen versucht. Und es war ihm nicht einmal gelungen! Er war ja noch immer der Graf. Es klebte ihm an. Er konnte es nicht loswerden. Das Gefühl das

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ihn auf dem Dampfer Abends zuvor überfallen: daß alles doch nur ein Spiel sei, aus dem ihn irgend ein Zwang plötzlich mit Gewalt in die alte Existenz zurückschleudern würde, überkam ihn beängstigend. Er war so davon eingenommen, daß ihm alle Gesellschaft, selbst die Wilson's, auf die er sich so sehr gefreut, fast unerträglich war. Er bedurfte Einsamkeit. Ich will Sie, sagte Wilson endlich, in meine Bibliothek führen; suchen Sie sich dort heraus was Ihnen auf ein paar Stunden am besten behagt. Sie lernen bei dieser Gelegenheit auch das Haus kennen. Das in die Veranda mündende Zimmer, fast ein Saal, war zugleich die Arbeitsstube des alten Mannes. Ein großer Tisch stand da mit Büchern, Blättern und Papieren. An den Wänden hingen viele Bilder, meist Portraits, Kupferstiche und Photographien, die Nebenstube, zu der eine offene Thür führte, war von Bücherschränken erfüllt. Indem Arthur an ihrer Front hingehend die Titel der Bände las, folgte ihm Wilson und musterte mit Liebe seine Bücher. Ist es irgend ein Fach, dem Sie sich mit besonderer Vorliebe zugewandt? fragte er. Ach, ich habe mein Lebenlang sehr viel durcheinander gelesen, gestand Arthur mit einiger Verlegenheit, historisches, geographisches, statistisches — Ja, junge Männer sind nicht für die Beschaulichkeit, sagte Wilson, sie müssen aktive Politik treiben. Als ich in Ihrem Alter stand, waren stille Studien auch meine starke Seite nicht. Ich hatte hart zu arbeiten damals. Es gehört eine gute Natur dazu, vom Morgen bis zum Abend mit stets neuen Menschen zu verkehren und Nachts vielleicht zum Schluß noch ein Journal zusammenstellen zu müssen. Bei Ihnen spielen die Blätter keine so große Rolle als bei uns. Nicht in dem Maße, antwortete Arthur, der sein lebenlang viel Zeitungen gelesen, niemals aber Menschen getroffen hatte, die sich mit deren Verfertigung befaßten. Indessen Arthur sollte ein Buch wählen. Er nahm schließlich das erste beste. Geologische Untersuchungen gerade über den Theil der Vereinigten Staaten in dem sie sich befanden. Ah, sagte Mr. Wilson, Sie greifen nach dem Richtigen. Man wünscht immer zuerst zu wissen, wo man stehe. Dieses Buch, fügte er hinzu, ist mir um so werthvoller, als es zum großen Theil in diesem Zimmer hier geschrieben wurde, ja als der erste Gedanke dazu vielleicht hier gefaßt worden ist. Treten wir noch ein wenig hinaus. Sie schritten den Saum des langen Absturzes entlang, der amphitheatralisch im weitesten Sinne nach beiden Seiten hin sich hinzog. Welch ein wunderbarer Anblick, sagte Wilson. Und wie erhaben! Seit fünfzig Jahren kenne ich ihn nun. Hier an dieser Stelle stand ich damals mit meinem Freunde und wir hatten etwa dasselbe Gefühl des Staunens, wie wir es heute hegen, und es schien uns wichtig, hier den Boden zu untersuchen. Daraus ist dann das schöne Buch entstanden, das seinen Autor überlebt hat. Ist er todt? fragte Arthur. Wer ist nicht todt von allen denen die ich gekannt habe! entgegnete Wilson. Die Menschen müssen fort nach einiger Zeit, damit Platz werde für frische Gedanken. Arthur fragte sich in der Stille mit bitterer Ironie, wer wohl seinetwegen fortgemußt hätte. Es belastete kein Mord dieser Art sein Gewissen. Und es ist gut, fuhr Wilson fort, wenn diese frischen Gedanken nicht gar zu sehr durch die alten Ideen aufgehalten werden. Mich selbst freut es, wenn die Jugend mich ehrt und mich aufsucht, um dies und das zu lernen das ich allenfalls mitzutheilen habe; aber ich gebe ihnen nur selten guten Rath und meistens läuft es darauf hinaus, sich an nichts zu kehren als an das eigene beste Dafürhalten. Junge Männer dürfen heutigen Tages an keine Autoritäten glauben. Es wird nichts aus ihnen wenn sie sich zu leicht gefangen geben. Sie müssen stolz und unbändig sein in dem was sie für gut, richtig und nützlich erachten. Dadurch sind wir allein ein großes und freies Volk geworden. Es wird viel Unfug getrieben bei uns, aber er tritt ans Tageslicht, er versteckt sich nicht und wird auch von Anderen nicht versteckt. Wir wissen immer ganz genau, wie unsere

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Rechnungen liegen, können uns darauf verlassen, daß offen Buch geführt wird. Niemand hat Vortheil davon, Maskerade zu spielen, und könnte es selbst nicht, wenn er wollte. Kurz oder lang kommt ein Sturm und reißt ihm die falsche Hülle vom Leibe. Amerika ist wie ein gesunder Körper, bei dem alle Krankheiten gleich auf die Haut treten. Manchmal leider kein schöner Anblick. Aber es führt rasch zur Gesundheit zurück. Bei Ihnen wird auf Kosten der inneren Theile zu viel für einen blühenden Teint gesorgt. Ich will nicht vom Schminken reden, worin Ihr gleichfalls etwas zu leisten versteht. Sie haben ein Stück vom Leben in New-Jork gesehen? fuhr er fort. Wer irgend zweifeln könnte, wo der Fortschritt der Menschheit sich vollziehe, mit welchen Mitteln und auf welchen Bahnen, der muß herüberkommen zu uns. Allerdings, um uns ganz zu verstehen, müssen Sie länger im Lande leben. Sie haben bei Mr. Smith wohl nur ausgewählte Exemplare kennen gelernt und sind noch nicht in die Tiefen eingedrungen. Denn wenn ich von unserer Zukunft rede, so denke ich weniger an die Einzelnen, die sich durch besondere Gaben des Geistes Hervorthun, als an die große Waffe, und an die wunderbare Mischung von kannibalischem Instincte auf Gelderwerb und hoher Sittlichkeit, die in ihr lebt und sie vorwärts treibt. Arthur hatte das nicht erwartet und sah Wilson groß an. Ja wohl, rief dieser, nehmen Sie es im bösesten und im besten Sinne zu gleicher Zeit. Was zeichnet uns aus? Zähigkeit, Scharfsinn, und, da dieser die Leute lehrt, daß ohne geordnete Gesetzmäßigkeit und rücksichtslosem Festhalten daran aller Gewinn und Besitz zweifelhaft wäre, eine ungeheure niemals nachlassende Kraftanstrengung zu Aufrechterhaltung dessen was die allgemeine Ordnung garantirt. Da steckt es. Und was ist der Schluß? Römische, spartanische Rohheit und Genußsucht würde die Folge sein, hätte nicht die gütige Vorsehung unserm Volke zugleich eine fast wahnsinnige Sucht nach geistiger Belehrung eingepflanzt. Um Geld zu gewinnen, um zu erforschen was unbekannt ist, und um den Staat aufrecht zu erhalten, thun die Amerikaner des Nordens alles. Und mehr bedarf es nicht für die gegenwärtige Zeit des Chaos. Arthur hätte das gar nicht verstanden einige Monate früher. Und jetzt klang es ihm schon so einfach und natürlich. Wir Amerikaner, fuhr der Mann fort, haben den ungeheuren Vortheil vor Euch in Europa: Euch selber, aus deren Entwickelung alles hervorging, aus der richtigen Entfernung als ein fertiges, vollbrachtes Phänomen betrachten zu dürfen. Wir fangen bei unserer Weltbetrachtung mit dem Beginn des Erdballes an, und jene ersten dunkeln astronomisch-geologischen Phasen, von denen nur die versteinerten Ueberreste noch reden, sind uns Epochen der eigenen Geschichte so gut wie die Entwickelung der letzten zehn Jahre. Ihr aber könnt Euch nicht los machen von dem was nach dem dreißigjährigen Kriege oder seit der Reformation in Deutschland festgestellt worden ist; eine ungeheure Schleppe historischer Erinnerungen sitzt Euch am Kleide, schleift Euch nach und verhindert Euren Gang. Ihr habt eine Eintheilung in Stände, deren Ohnmacht und Inhaltslosigkeit Ihr fühlt ohne doch daß Ihr ohne sie bestehen zu können glaubtet. Ihr habt immer, immer nur die historische Entwickelung Eurer Institute vor Augen, als verpflichtete das Euch, bestimmte Wege zu gehen. Auch glaube ich gern, daß Ihr nicht anders könnt, und ich will die nicht schelten die am Vergangenen halten, es ehren und so gut als möglich zum Gebrauch auszuflicken suchen, weil die Gegenwart nichts zu bieten scheint womit es zu ersetzen wäre. Welcher Zukunft aber soll Euch das entgegenführen? Die Astronomen sagen, das Gewicht der Sonne sei so groß, daß wenn unser Einer auf ihre Oberfläche geriethe, er durch die Anziehungskraft ihrer Masse wie von einem Magnet an seiner Stelle würde festgehalten werden, so daß er keinen Schritt thun könnte. So hält die Masse Eurer historischen Gedanken Euren Geist fest, und die Wenigen erst, die die Kraft besitzen sich zu bewegen, werden angestaunt oder verfolgt wie Zauberer. Hier wagte Arthur doch einen Einwurf.

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Lieber Mr. Arthur, entgegnete Wilson, ich formulire keine Anklagen, und maße mir nicht an, Eure Länder etwa besser zu begreifen als es Eure Regierungen thun; ich gebe eben nur die Ideen eines Mannes, der die Dinge aus der Ferne ruhig ansieht und dabei nichts zu gewinnen oder zu verlieren hat als größere oder geringere Einsicht in ihre Ursachen. Bemerken Sie doch, was täglich geschieht, fuhr er fort. Züge von Einwanderern bringt jede Woche beinahe. Sämmtlich weder dazu erzogen, wie der Augenschein lehrt, sich selbst zu regieren, noch auch willig oder nur fähig zu gehorchen, denn dem letzteren entfliehen sie. Und was ereignet sich? Viele gehen zu Grunde, die Mehrzahl dieser Menschen aber verwandelt sich bald in verständige Bürger, die sich selbst im Zaum halten, wie die Uebrigen, und die den Abschaum, aus dem ein- für allemal nichts werden kann, mit in den gehörigen Schranken halten. Sie werden sagen, es sei Raum genug bei uns, darin liege das Geheimniß. Aber ich wollte sehen, wenn Sie diese Ladungen Menschen irgend wo anders, wo Raum genug sich fände und mehr noch als bei uns, an den Strand ausschütten wollten, was sich ereignete. Glauben Sie, daß sie sich organisiren würden? Und bei alledem seid Ihr fertige, festgefügte Völker, und wir sind kaum eins überhaupt. Bei Euch weiß und lernt der Einzelne tausendmal mehr, wird dazu angehalten und hat unendlich leichtere Gelegenheit zu lernen. Ihr aber wohnt in einem alten Hause, das Ihr stützen müßt und ausbessern, weil Euch, wenn es einbräche-, gar kein Obdach bliebe, und Euch der Biberinstinct mangelt ein neues aufzuführen, wir aber wohnen unter Zelten die hin- und herschwanken, aber die wir, wenn sie der Sturm Morgens umrisse, Abends längst wieder aufgerichtet hätten, und die wir mitten in die Wildniß tragen um bewohntes Land aus ihr zu bilden. Ihr habt die Ruhe, die Feinheit, die Künste, das Verständniß: wir einstweilen nichts als Lebenskraft und Selbstvertrauen. Wir pochen frech auf den guten Willen des Schicksals und lassen unsere Grenzen unvertheidigt. Deutsche, Engländer, Irländer, Neger, Franzosen laufen unvermischt durcheinander bei uns, und nicht lange, so hängt einer fest am andern. Alle zu freien Bürgern desselben Staates geworden. Wie in uralten Zeiten die heutigen Völker Europa's gemischt wurden und der trübe Schlamm dieser ineinander fluthenden Nationalitäten das Land überdeckte, der Jahrhunderte bedurfte um sich in klares Wasser und fruchttragenden Boden zu scheiden, ein solcher Zustand herrscht bei uns am heutigen Tage. Bei uns liegt die Scheidung noch in der Zukunft, aber wie sicher dürfen wir sie erwarten! An die denke ich, nicht an heute, wenn ich von Amerika rede. An die Zeiten, wo vierhundert Millionen statt vierzig hier wohnen, alle lesend und denkend, alle arbeitend, alle vorwärts strebend, und ganz Asien längst von ihnen unterjocht. Dann wird unsere wahre Cultur ihren Anfang nehmen! Heute ist nichts als Lärm und Wirrwarr. Aber heute schon denke ich daran, die Gedanken zu schmieden, die jenen Generationen einmal das Beste unserer Tage überliefern sollen. Der alte Mann ging da so hin, der Wind spielte in seinem dünnen weißen Haar, und seine Augen leuchteten, wie er von der Zukunft seines Vaterlandes und des Menschengeschlechtes sprach. Kind, sagte er und legte Arthur die Hand auf den Arm, es werden Zeiten kommen, denen unsere heutigen Tage unerträglich scheinen werden. Sieh zurück in die Geschichte deines Landes: wie vor hundert, zweihundert, dreihundert Jahren die Menschen lebten. Je weiter zurück, um so beängstigender gefesselt der Einzelne. Heute seid Ihr in Euren freiesten Staaten so weit, daß es dem Talentvollen früher oder später gelingen kann, Theil zu haben an der Leitung der Dinge. Bei uns ist die Wirkung eines bedeutenden Mannes, komme er woher er wolle, eine augenblickliche. Wer seine Stirn erheben will und Worte hat, kann sprechen, alle Andern hören ihn, beurtheilen seine Nützlichkeit für das Land und drängen darauf daß ihm demgemäß eine Stellung zu Theil werde. Natürlich, er muß selbst auch Schultern mitbringen um sich durchzudrängen. Der Schritt vom obskuren Advokatenthum zur PräsidentenCandidatur kann in wenig Monaten gethan werden. Hier giebt es keine bindende Vergangenheit. Alle Tage werden hier Schafhirten zu Päpsten gemacht. Keiner fragt,

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woher? Jeder nur, wohin? und was bist Du heute? welche Kraft wohnt Dir inne, Deine Gedanken durchzuführen? Alle Tage wird Amerika neu geboren, immer schüttelt das öffentliche Leben die ab die es unnütz beschweren, damit die handeln können die sich mit frischer Macht zudrängen. Es könnten oft bessere Leute sein, aber wir müssen uns mit denen begnügen die wir haben. Auch bei uns kann das nicht so bleiben. Stätigkeit muß in unsere Verhältnisse kommen. Wenn die Bevölkerungen der Städte und Staaten erst weniger wechseln, werden die Menschen sich länger kennen und sorgfältiger zu prüfen vermögen. Jetzt ist es ein ewiger Sturm. Aber Eure Ruhe und Trägheit zeigt, wie nothwendig und heilsam er sei. Wenn man Sie bei uns so reden hörte, sagte Arthur jetzt als Mr. Wilson schwieg, so würde man sie für einen Idealisten und unnützen Feind des Bestehenden halten. Und hier sind es, fühle ich, ganz natürliche Gedanken. Aber ich zweifle, ob sie bei uns auch die Freiesten ertragen könnten. Vielleicht weil sie wirklich nur hier am Platze sind, sagte Wilson, in meiner heiligen Einöde, wie Mr. Smith sagt, wo Niemand zu verführen ist, zehn Meilen im Umkreise. Nein, ich fühle die Wahrheit dessen was Sie sagen, erwiederte Arthur. Bei uns scheinen die Menschen zu träumen, verglichen mit denen hier. Jeder arbeitet hier, und wer nicht arbeitet, nimmt ein Buch zur Hand. Aber freilich, ich habe mir die Straßenliteratur New-Jorks angesehen, welch elenden Inhalts sind ein Theil dieser Werke! Wenn das zunimmt, muß das Gute, Vernünftige nicht zuletzt untergehen unter diesem Unkraut? Genau dem Publikum, entgegnete Wilson, das Sie zum Theil als Verschlingerin dieser Literatur erblicken, entsprach vor fünfzig Jahren noch eine dumpfe Volksschicht, die überhaupt nicht las. Daß sie lesen, deutet an wie ihr Geist nach Nahrung verlangt; daß sie zum elendesten oft zuerst greifen, zeigt nur daß sie große Kinder ohne Geschmack und Erziehung mit wilden Trieben sind, die am ersten nach dem fassen, was ihnen am verlockendsten scheint. Aber diese Menschen lernen vom Leben doch genug um einmal zu wissen, daß diese Werke abgeschmacktes Zeug enthalten, und daß sie besser gethan hätten, andere in die Hand zu nehmen. Und ist es für sie selbst zu spät: dafür sorgen werden sie jedenfalls, daß ihre Kinder bessere Lectüre erhalten. Unsere ungeheuren, nach Büchern gierigen Kreise sind wie zum ersten Male im Geschirr gehende Pferde. Von Generation zu Generation werden sie edler werden und statt Laub von den ersten besten Zweigen zu raufen, guten gesiebten Hafer verlangen. Glauben Sie mir, diese verachteten Schriftsteller von heute, deren Schreiben um Gelderwerb uns empört, thun mehr vielleicht dadurch daß sie die Menschen überhaupt zum Lesen bringen, als viele wohlmeinende, aber nur mit geringer Anziehungskraft versehene Literaten besseren Schlages, deren Arbeiten ungelesen bleiben. Es ist nicht anders heute. Der Geschmack steht niedrig. Das mit bunten Farben die Menge anlockende Geschmiere eines sein Talent ausbeutenden Schriftstellers wirkt heute mehr vielleicht als ein nach guten Regeln mittelmäßig zu Stande gebrachtes kaltes Stück Arbeit. Worauf es ankommt ist die Masse überhaupt erst heranzulocken. Ist das Interesse einmal da, dann bildet sich das Bessere von selbst. Wir müssen einfangen, unsere Kinder mögen zähmen und zureiten. So redend gingen sie über den elastischen Boden des Waldrandes hin. Arthurs Gedanken waren endlich von dem abgelenkt was ihn zuerst befangen hatte. Wilson erschien ihm so ehrwürdig wie er nie einen Menschen gesehen. Nie hatte er für möglich gehalten, daß sich ein Mann so frei und unbefangen der ganzen irdischen Schöpfung gegenüber verhalten könne. Alles stand in harmonischem Zusammenhange vor seinen Augen. Eine Trennung der Wissenschaften kannte er nicht. Ihrer aller Ziel konnte nur der gemeinsame Zweck sein, die Veränderungen zu constatiren, die mit der Erde und ihren Bewohnern vorgegangen seien, deren jede einzelne nur dann verständlich war, wenn sie mit den übrigen zugleich betrachtet wurde. Nichts nahm er für sich in Anspruch, als das Verdienst, manch jüngere Kraft auf diesen Pfad gewiesen zu haben. Das wird bleiben von meiner Persönlichkeit, sagte er, denn diese werden

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Andere nach sich ziehen, und ich so das Meinige gethan haben an meiner Stelle, mag auch Niemand bald mehr sich meiner erinnern und mein Name vergessen sein. Arthur kam jetzt etwas in den Sinn. So viel hatte er gehört und gelesen über Standesunterschiede, und selbst, in Bezug auf seine eigene Stellung, so viel darüber nachgedacht: Wilson wollte er jetzt fragen, wie er darüber dächte. Dieser Mann, unparteiisch und gerecht, konnte auch in Bezug darauf nichts sagen was der höchsten Gerechtigkeit in Abwägung irdischer Verhältnisse entgegen war. Wenn nun ein Mensch, begann Arthur, in Ihrer Weise die Welt betrachtend, zu so freien Resultaten gelangt ist, wie Sie sie aussprechen, sich zugleich aber durch Vaterland und Geburt innerhalb bestimmter Schranken erblickt, die zu durchbrechen zugleich ein Aufgeben seiner ganzen Existenz wäre — wie soll sich der verhalten? Sie meinen, sagte Wilson, wenn ich Sie recht verstehe, was ein Mensch etwa, der aus einer Kaufmannsfamilie stammend zum Kaufmann bestimmt und es geworden ist, und der plötzlich entdeckt, er müsse etwas anderes ergreifen um den Ansprüchen seines Geistes zu genügen, — was er thun soll? Nicht das, erwiederte Arthur. Glauben Sie, daß Kinder ein Recht haben, die Verdienste ihrer Eltern in gewissem Sinne als einen Theil der Erbschaft zu betrachten die ihnen zufällt, und daß sie zugleich aber durch die in bestimmter Richtung zur Erscheinung gekommene ruhmvolle Thätigkeit dieser Vorfahren in ihrer eigenen Selbstbestimmung von Anfang an beschränkt sind? Sicherlich glaube ich das. Es giebt Familien, deren Traditionen etwas bindendes empfangen für ihre Nachkommen. In diesem Falle aber, wenn solche Traditionen auch in gewissen politischen Anschauungen zum Theil beständen, sowie auch darin, daß dieser Familie von alten Zeiten ein gewisser Rang über andere zuerkannt worden wäre, würden die Kinder nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht haben, das eine zu bewahren und auf das andere zu halten? Ohne Zweifel gebe ich dies zu, antwortete Wilson, denn die Geschichte lehrt, wie der Stolz auf die Thaten eines Mannes veredelnd eingewirkt hat auf Generationen seiner Nachkommen, so daß diese in diesem Sinne als ein vorzugsweise begünstigter Herd solcher Gesinnungen betrachtet werden dürfen. Ein Ur-Urenkel Washingtons wird heute auf seinen Namen hin mit gewissen Ansprüchen auftreten dürfen. Wohlan, fuhr Arthur fort, werden sich nun aber beim Hegen und Pflegen solcher Erinnerungen und Gesinnungen die Geschäfte, mit denen sich die Mitglieder solcher Familien befassen, nicht in gewissem Sinne beschränken? Werden sie nicht einen natürlichen Abscheu vor Geldspekulationen und Handel haben, und lieber sich dem Landbau z. B. zuwenden, der mehr eine ruhige, die innere Cultur begünstigendere Lebensart zuläßt? Niemand wird etwas dagegen sagen können, erwiederte Wilson. Wohlan! fuhr Arthur fort. Nun aber denken Sie eine solche Familie schließlich von einer Generation des eigenen Volkes umgeben, welche den Namen und Rang derselben äußerlich noch achtet, im übrigen jedoch völlig gleichgültig ist für das was diesen Rang einst hervorgebracht hat und für den edleren Geist, der seine Folge war. Denken Sie die Familie dadurch vereinsamt. Denken Sie aus dem Landgute, das sie bewohnt, seit Jahrhunderten bewohnt hat, einen jungen Mann als ihren letzten Sprossen aufgewachsen; mit der festen Aussicht, dort einmal als Herr einzutreten wie sein Vater; dafür erzogen, dafür einzig gemacht: und diesen nun durch irgend ein äußeres Unglück um den erwarteten Besitz gebracht! Er kennt von Jugend auf nur die eine Laufbahn. Er ist ungeschickt zu jeder anderen. Zu stolz, die Welt an das zu erinnern, woran sie sein bloßer Name zu erinnern längst nicht mehr die Macht hat. Er hat keine Freunde. Sein unverschuldetes Mißgeschick, sein Gefühl, zu nichts tauglich zu sein als zu dem Einen was er nun doch nicht mehr thun kann, machen ihn so empfindlich, daß ihm jeder Mensch als die Verkörperung einer Beleidigung erscheint. So verfällt er in Elend und Einsamkeit. Was soll er beginnen?

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Ist das Ihr Schicksal? fragte Mr. Wilson. Es ist das meinige, antwortete Arthur. Was dieser Mann beginnen wird, sagte Wilson, nachdem er eine Weile nachgedacht, hängt von seinem innersten Charakter ab. Ich würde es nicht unnatürlich finden, sich über all das zu erheben und ruhig wie jeder Andere mir eine neue Existenz zu begründen suchen. Einen neuen Namen würde ich annehmen und Niemanden sagen wer ich sei. Aber auch das was Sie thaten, war das richtige. Sie haben Ihr Vaterland verlassen um hier ein anderes zu finden, wo nichts Sie beleidigt, alles Sie gern empfängt und Sie, unbehindert Wurzeln schlagend, Ihren Kindern künftig einmal sagen können, weshalb Sie gekommen sind. Er blieb stehen und sah Arthur durchdringend an, streckte ihm dann die Hand entgegen, schüttelte die seine und sagte: Seien Sie willkommen in Amerika! Wie einfach war dieser Mann. Wer hatte so schön jemals das anerkannt was Arthur in sich trug? Wäre es denn wirklich eine Möglichkeit, sagte er, sich los zu machen und niedrig und genügsam hier von frischem anzufangen? Jeden anzuerkennen als gleichberechtigt? Und niemals Reue zu empfinden? Ja, rief es in ihm, mit ihr! mit Emmy! Aber ohne sie? Er war unfähig, klar zu denken. Er lehnte an einem der glatten, makellos aufsteigenden Stämme und seine Blicke schweiften über den unendlichen Wald zu seinen Füßen. Die Nachmittagssonne, die auf ihn niederströmte, ließ das prachtvolle Grün zum Himmel emporglänzen, und ein Duft entstieg ihm, den einzuathmen Göttergenuß war. Er dachte: hier in der Stille zu leben und zu lernen! Aber nein, die Jahre waren vorüber für ihn oder wiederum noch nicht gekommen, wo der Mensch rein empfangend in der Stille versinken darf. Für ihn waren die Tage da, wo man handelt und kämpft. Sollte ihm vergönnt sein, ehrlich hier zu einem Theile der Nation zu werden? Sollten die Mächte, die ihn herausgerissen hatten aus dem großen Strome des Lebens, wirklich durch nichts zu überwinden sein? Er wußte es noch immer nicht. Bis dahin hatte er es bald geglaubt, bald nicht geglaubt, weil noch nie die Ruhe gekommen war, in der er ganz unbeeinflußt nur sich selbst gehörte. Jetzt aber wo er nach beiden Seiten die Dinge abwog und das leiseste Schwanken der Wage beobachtete, fühlte er sich rathlos. Er blickte auf den alten Mann, der bequem dastehend die Hände auf dem Rücken in dieselbe Weite sah, als sei was sein Blick umfaßte, sein Eigenthum. All das, sagte jetzt Wilson, indem er wie mit segnender Hand langsam einen Halbkreis beschrieb vor sich, all das wird in vier-, fünftausend Jahren mit abgestorbener, in ihren letzten Resten verglimmender Cultur bedeckt sein, und unsere Enkel dringen um diese Zeit über Asien in Europa ein und glauben die ersten Menschen zu sein deren Fuß jemals in diese Einöden gelangte. Einen Boden glaubten sie zu betreten, der von Anfang der Schöpfung an unberührt dalag, und wissen nicht daß sie über die Gräber ihrer Vorfahren den Pflug führen, wie wir nicht wissen, was sich hier ausbreitete vor vier-, fünftausend Jahren und welche Menschen hier hausten und seufzend wähnten das Ende aller Dinge sei nahe bevorstehend. Warum sich Plagen mit dem was diese Spanne des Daseins uns anhängen will an trüben Erinnerungen? Gestern noch meine ich ein Kind gewesen zu sein und bin es oft in meinen Träumen wieder, heute ein Mann der jeden Tag als seinen letzten ansehen müßte. Aber was mich allein frisch und froh gemacht hat so lange ich lebe, ist das Gefühl, redlich das meinige gethan zu haben für die Anderen. Erbärmlich und vergänglich alles übrige, Freude wie Schmerzen. Es erfüllt Sie mit Empfindlichkeit, lieber Freund, daß der Werth Ihres Namens verblaßt scheint und man Sie für einen Menschen nimmt wie die anderen. Ist das ein Verlust oder ein Zuwachs an Ehre? Ich weiß nicht, wenn ich der Sohn Washingtons wäre und meine Mitbürger hätten mir durch freiwillige Ehrfurcht das Leben zu leicht gemacht, ob für mich nicht eine Versuchung darin gelegen hätte, still zu verschwinden und irgendwo unter fremdem Namen aufzutauchen, nur um das Gefühl zu gewinnen, nicht weniger zu vermögen als die übrigen, denen dieser hülfreiche Vorzug abging. Ob ich stark genug gewesen wäre, so viel Selbstüberwindung zu üben, ist freilich eine andere

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Frage. Verständlich aber und des Namens würdig wäre eine solche Handlungsweise. Sie wenigstens aber, die Sie ein Zwang dazu getrieben hat so zu verfahren, sehen Sie es als einen Vortheil an: zu erproben, ob Sie im Stande gewesen wären wie der erste Gründer Ihrer Familie aus nichts wieder emporzusteigen. Sie blieben schweigend noch eine Zeit lang an dieser Stelle und traten dann den Rückweg an. Es war Essenszeit als sie kamen. Mr. Wilson hatte eine alte Haushälterin, einen Gärtner, der zugleich Jäger und Faktotum war, und einen Neger für die persönliche Bedienung. Der Tisch war deshalb wohlbestellt. Es fehlte weder an einem vortrefflichen Wildbraten, noch an einer guten Flasche Wein dazu. Der Kaffee ward auf der Veranda getrunken. Bei jedem Schritte den die Sonne abwärts that, nahm der Waldgrund zu seinen Füßen eine neue Gestaltung an. Unregelmäßigkeiten traten hervor, sanfte Erhebungen und lange schmale Schatten daneben die bräunlich schimmerten, und der Horizont jetzt so durchsichtig, als sei die ganze Erde ringsum nichts als ein mit solchem Sammet überzogener Ball, der in einem Meere goldenen Lichtes schwebte. Sanfte Kühle stieg empor und Vogelstimmen unterbrachen die Stille mit wunderlich schreienden Lauten, die Arthur, der doch ein alter Jäger war, völlig neu vorkamen. Da begann der Boden von fernem Pferdegetrappel ganz unmerklich zu dröhnen, das rasch lauter wurde. Arthur meinte, Smith komme zurück, allein er hätte sich in diesem Falle in eine kleine Schwadron haben verwandeln müssen, denn das Getrappel rührte von mehr als einem Pferde her. Auch dachte Mr. Wilson keinen Augenblick daß es Smith sei. Mrs. Forsters Landhaus, Mountainville, lag anderthalb Stunden etwa von hier entfernt, und sie oder Emmy pflegten öfter zu kurzem Besuche zu erscheinen. Meistens kam Emmy allein, diesmal kamen sie beide, ein paar Diener zu Pferde hinter ihnen. Nun waren sie da. Man hörte die Hausthür gehn. Wie Geistererscheinungen (so war Arthur zu Muthe) traten die beiden Frauen auf die Veranda und standen vor Wilson und Arthur, die sich von ihren Sitzen erhoben. Die Mutter Emmy's hatte so wenig den Gedanken gehegt, es könne menschenmöglich sein, Arthur hier zu begegnen, daß sie ihn erst erkannte als er ihr und ihrer Tochter, natürlich als ein völlig Unbekannter, von Wilson vorgestellt wurde. Allein die Frau hatte zuviel durchgemacht im Leben, als daß sie sich durch irgend etwas noch hätte außer Fassung bringen lassen. Sie nickte kalt mit dem Kopfe und setzte sich neben Mr. Wilson nieder, während Emmy die Veranda herabschreitend einen entfernteren Platz einnahm und in den Anblick des abendlichen Waldes zu versinken schien. Arthur wagte kaum, zuweilen nach ihr hinzusehen, geschweige denn sich ihr zu nähern. Nur wenige Worte waren zwischen Mrs. Forster und Wilson gewechselt worden, als sie wieder aufstand um Abschied zu nehmen. Zufällig seien sie auf ihrem Ritte hier in die Gegend gekommen, hätten gar nicht absteigen wollen, und müßten bald wieder zu Hause sein, wo sie erwartet würden. Sie ging zu Emmy, die sich nicht rührte. Nun, Kind? sagte sie. Noch einen einzigen Augenblick! sagte Emmy und sah wie bittend zu ihrer Mutter auf. Ich bin so ermüdet. Nur einen Augenblick! wiederholte sie und dehnte die Worte, als wolle sie mit dem Accente bekräftigen, wie müde sie sei. Wann war es zuletzt gewesen daß Arthur Emmy's Stimme gehört? Der Ton ihrer Worte, aus denen etwas herzergreifend klagendes herausklang, erschütterte ihn zu Thränen. Hätte er sich vor ihr niederwerfen dürfen und um Verzeihung bitten! Er wagte kaum die Blicke auf sie zu richten. Endlich that er es doch. Sie war ihm so wohl bekannt und doch schien etwas fremdes auf ihrem Antlitze zu ruhen. Etwas durchsichtig sanftes hatten ihre schönen Züge. Waren es Gedanken an ihn, die diese Veränderung hervorgebracht? Nein! Und er, der früher jeden Athemzug ihres Gefühls gekannt, war so lange getrennt von ihr, und jetzt wieder so nah, und durfte nicht fragen, nicht durch ein Wort an das erinnern, was ihm die Brust zersprengte. Indem auch er das Land vor sich zu betrachten schien gelangten seine Blicke nur dann und wann zu ihr hinüber heimlich. Kind! mahnte die Mutter nach einer Weile.

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Nur einen Moment noch, Mama! sagte sie auch jetzt. Ich weiß nicht, ich fühle mich so müde wie ich nie in meinem Leben that. Wieder fünf Minuten erwartenden Schweigens. Die Mutter schien sich resignirt zu haben, aber ein bedeutender Blick aus ihren Augen traf Emmy so zuletzt, daß sie ein Ende machte. Unaufgefordert erhob sie sich jetzt. Aber sie ging nicht; wie zögernd stand sie da, schön und schlank im schwarzen Reitkleide und das Haar fiel in zwei losen Locken auf ihre Schultern. Emmy! sagte die Mutter. Sie rührte sich nicht. Mrs. Forster aber trat zu ihr jetzt, legte ihr die Hand auf den Arm, und als leitete sie sie an einem unsichtbaren Bande fort, zwang sie ihr zu folgen. Wiederum grüßten die beiden Frauen Mr. Wilson auf's freundlichste, ging Mrs. Forster kalt nickend an Arthur vorüber, der nicht zu folgen wagte, während der alte Herr mitgehend sie zu den Pferden begleitete. Arthur stand auf der verlassenen Veranda und überschaute den Wald. Emmy's Erzählung fiel ihm ein vom ersten Abend wo sie sich gesehen, wie sie als Kind da gestanden und ihr alter Freund ihr von der Weite der Welt erzählt. Von hier hatte sie ihre Blicke hinausschweifen lassen, damals noch frei und ungetrübt; — und jetzt! Arthur ging auf den Stuhl zu, dessen Lehne ihre Hand berührt, und drückte seine Lippen darauf. Er hörte wie die Pferde davoneilten: er wollte nach. Es war ein Gedanke — er wußte wohl, er durfte nicht. Mr. Wilson kam zurück, ganz vergnügt und lächelnd. Eine Familie, sagte er, die ich seit vielen Jahren kenne. Der Vater ein vortrefflicher Mann, aber er ist lange todt. Er war ein Deutscher wie Sie. Und die Tochter ist ein Edelstein. Es verschönt mir mein Leben, diese Frauen mir hier so nahe zu wissen. So nahe? fragte Arthur. Sie bewohnen ein Landgut hier in der Umgegend, erwiederte er. In der Umgegend? wiederholte Arthur. Mountainville, sagte Wilson; Miß Forsters Vater hatte es seiner Zeit mitten in der Wildniß angelegt, lange Jahre bevor ich mich hier ansiedelte. Mit der Zeit ist es größer und umfangreicher geworden und es wohnen mehr Menschen da. Arthur wußte davon. Er kannte es aus Emmy's Erzählungen. Er brauchte nicht weiter zu fragen. Ideen stiegen ihm auf, hier im Geheimen sich fest zu setzen und versteckt Mountainville zu umkreisen, nur um Emmy's Spuren zu gewahren manchmal, sie aus der Ferne gehen zu sehen, ihr vielleicht zu begegnen in der Einsamkeit des Waldes! Er verließ die Veranda, und während die Sterne langsam am Himmel aufblitzten, ging er einsam am Rande des Waldes wieder hin. Smith kam ihm hier entgegen und kehrte mit ihm zusammen zum Hause zurück. Man legte sich zeitig zur Ruhe, um früh auf zu sein am andern Tage. Man erhob sich um Sonnenaufgang. Wie freundlich drückte Wilson Arthur die Hand, als er beim Abschiede die Hoffnung aussprach ihn bald wieder zu sehen, wie begeistert sagte es ihm Arthur zu, während ihm doch war als beträte sein Fuß niemals wieder diesen Wald und sähe sein Auge nie mehr auf diese Wipfel nieder. Wie lange blieb ihm der Anblick noch vor der Seele, als er, nachdem Wilson sie ein Stück begleitet und sie sich längst getrennt, noch einmal wieder Halt machte, sich umsah und den alten Mann in seinem schmalen Röckchen von fern stehen sah, um zum letzten Male zu winken.

Sechsundzwanzigstes Capitel. Smith und Arthur wandten sich zum Blockhause zurück wo die Pferde geblieben waren, ließen die Sättel auflegen und ritten ab. Smith producirte einen Situationsplan der Gegend und zeigte Arthur die Punkte die er gestern besucht hatte und die welche heute noch abzumachen wären. Wo liegt Mountainville? fragte Arthur. Mountainville? sagte Smith und sah Arthur etwas erstaunt an.

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Mrs. Forster und ihre Tochter sprachen gestern einen Moment vor bei Mr. Wilson, sagte Arthur leichthin. O — wurden Sie den Damen vorgestellt? Arthur nickte mit dem Kopfe. Und haben sie Sie eingeladen? Nein, entgegnete Arthur kurz. Es war nicht die Rede davon. Es interessirte mich nur, zu wissen, nach welcher Gegend hin sie ihren Weg genommen. Smith deutete auf die Stelle wo das Gut lag und kam dann auf das zurück was er in den Gedanken hatte. Einmal von seinen Geschäften erfüllt, durfte ihn nichts Abliegendes irre machen, und Arthurs Begegnung blieb auf sich beruhen. Ich wünschte nur, sagte er, Sie sähen sich hier auf der Karte die Route genau an, die wir jetzt vor uns haben, um danach ein wenig die Verhältnisse im Allgemeinen abzumessen. Sie sind an dergleichen gewöhnt? Arthur erwiederte, daß er einen großen Theil seiner Jugend in den weitläufigen Forsten des elterlichen Gutes zugebracht habe und mit allem dahineinschlägigen vortrefflich Bescheid wisse. O, dann desto besser, sagte Smith darauf, und sie setzten ihren Weg fort. Ich wünschte begann er wieder, als sie sich dem nächsten Blockhause näherten, Sie thäten heute einmal das was Sie mich gestern thun sahen. Wollen Sie? Ich habe etwas dabei. Arthur bat nur um die nöthige Instruction. Hier ist eine Liste der gefällten Bäume, sagte Smith und zog ein Papier heraus. Sie sind numerirt und die Maße angegeben. Es ist nun festzustellen, erstens ob die Nummern alle da sind, zweitens ob sich etwa dieselbe Nummer doppelt findet, drittens ob die Maße stimmen. Nichts weiter. Und etwanige Differenzen einzutragen. Angekommen, machte sich Arthur sogleich an das Geschäft, während Smith auf einem gekappten Baumstumpf sitzend eine seiner großen Cigarren anzündete und Arthur mit den Augen folgte. Mit Befriedigung sah er, wie dieser die Sache ohne einen Schritt zuviel anfaßte, rasch und sicher vorwärts kam und, es handelte sich hier nur um eine Stunde Arbeit, das Geschäft leicht abthat, wie Jemand der damit umzugehen weiß. Sie stiegen wieder auf. Nun will ich Ihnen meine Vorschläge machen, begann Smith. Sie werden bemerkt haben, daß vier Ziffern sich doppelt fanden? Ja wohl, bestätigte Arthur, um diese sollten Sie wahrscheinlich betrogen werden? Nun, Sie wissen damit, weshalb ich von Zeit zu Zeit hier hinausgehe. Ich habe es für diesmal als Mitglied der Compagnie, die hier schlagen läßt, über mich genommen. Ich constatire auf diesem Wege einfach, in welchem Umfange etwa wir betrogen werden. Denn diese Stämme werden sämmtlich bis an den Fluß geschafft und schwimmen nach New-Jork, nur daß die doppelten Nummern nicht an uns gelangen. Bezahlen müssen wir sie natürlich trotzdem, so daß die Herren, die sie da unten empfangen, sie billiger haben als wir und uns noch obenein den Markt verderben. Wir wußten längst daß der Mann den wir hier mit der Oberaufsicht betrauten, uns betrog. So lange sich das in gewissen Grenzen hielt, ging es an, denn der Betrug ist einmal nicht auszurotten und muß wie jeder andere Verlust verrechnet werden. Allein jetzt nimmt er zu große Dimensionen an. Ich habe an drei Dutzend solcher Stämme gefunden, lauter werthvolle ausgesuchte Bäume, und wir werden noch mehr entdecken. Das ist ein Capital. Was würden Sie antworten, wenn ich Sie engagirte, bis zum Winter hier mein Geschäft zu übernehmen, Mr. Arthur? Arthur war als böte man ihm ohne Umstände an, in den Himmel einzutreten. Hier zu leben, in der Nähe Emmy's! Hier monatelang die Wälder durchstreifen zu können! Eine leuchtende Perspektive eröffnete sich ihm. Aber er schwieg um das weitere zu erwarten. So verstand es denn auch Smith. Allzu comfortabel ist das Leben nicht, nahm er nach einer Weile das Wort, aber Ihnen zusagend vielleicht. Sie haben die Stämme zu bezeichnen, zu numeriren, abzufertigen und die Arbeiter auszulohnen. Wir werden in nächster Woche dazu noch einmal hierher zurückkehren, denn unser Contract mit dem

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bisherigen Inspektor läuft erst zu Ende des Monats ab und wir wollen ihn in allem Guten entlassen. Sie wohnen in einem kleinen Hause der Station wo wir abstiegen. Sie haben zwei Pferde zur Verfügung, und nehmen sich einen Neger dafür. Sie haben reichlich Zeit zu lesen, auf die Jagd zu gehen, auch zuweilen nach New-Jork zu kommen, und Sie verdienen ein gutes Stück Geld dabei. Solche Vertrauensposten erfordern ihre eigenen Leute, und Jedermann weiß daß der Artikel Zuverlässigkeit in Amerika am theuersten bezahlt werden muß. Arthur fand es jetzt an der Zeit, sich acceptirend auszusprechen. So beglückt war er durch Smiths Vorschläge, daß er sich kaum zu fassen und die Zurückhaltung, mit der ein Mann schließlich auch das was ihm das erwünschteste ist, annimmt, zu wahren wußte. Beinahe hätte er wie Smith am Tage vorher ein paar Schüsse in die Luft gefeuert. Niemals hatte er so viel Vertrauen auf die Zukunft gehabt als jetzt. Daß er Emmy begegnete, war nun ja fast eine Notwendigkeit. Auch Mr. Wilson wohnte er so nahe. Und dann das einsame Leben in den Wäldern, das er von Jugend auf so sehr geliebt. Jägerei und Forstwesen verstand er von Grund aus: diesen einfachen Verhältnissen gegenüber wenigstens. Es war ihm als solle er in sein ächtes Element versetzt werden. Er sprach das Smith mit solcher Herzlichkeit aus, daß dieser sich nicht genug zu diesem gloriosen Anfang von Arthurs Etablissement in Amerika gratuliren zu können glaubte. Hinterher würde sich das andere schon finden. Wenn Arthur hier ordentlich wirtschaftete, mußte die ganze Compagnie den Unterschied ja sogleich schwarz auf weiß merken. Es gab keine bessere Einführung für ihn. Arthur übernahm denn auch für die folgenden Haltepunkte gleich Smiths Funktionen und war, unterstützt von dessen Erläuterungen, Abends sowohl in den Dingen und auf der Karte zu Hause, daß er über Geschäft und Gegend den klarsten Ueberblick besaß. Es kam ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn, daß das Amt, dem er sich mit ganzer Seele hinzugeben gedachte jetzt, nach europäischem Maßstabe gemessen etwa der Stellung eines subalternen Forstbeamten glich, einer Position, die in Deutschland mit seiner Person in Verbindung zu bringen, ihm rein unmöglich gewesen wäre. Arthur erwog nichts derartiges. Er fühlte sich im angemessensten Fahrwasser. Der Anblick des Waldes erfüllte ihn mit Bewunderung: solche Stämme kamen bei ihm zu Hause nicht vor. Auch die Art der Arbeiter ganz anders. Mit elegant lang gestielten Aexten, die wie ein Blitz durch die Luft sausten, sah er sie den Bäumen in die Seite fahren und sie nach kurzer Arbeit, in fast gezählten Schlägen, zu Boden werfen, sah die Aeste Hieb auf Hieb abfliegen und in allem was die Leute thaten einen Schick, eine Kraft, die ihn heimlich in Erstaunen setzte, während Smith mit gleichgültiger Sachkenntniß dabeistand. Auch die Arbeiter anders als Arthur sie in Deutschland gewohnt war. Selbständigere Leute. Athletische Gestalten darunter, die schweigend und ohne im geringsten Zeit zu verlieren ihre oft gewaltige Kraft entfalteten. Arthur that es wohl unter den Männern zu sein, die Männerarbeit thaten. Es lockte ihn selbst zuzugreifen. Er trat an einen heran, nahm ihm auf höfliche Weise die Axt aus der Hand und führte, während der Mann mit kritischen Augen zusah und sich für die freie Zeit eine halb abgebrannte Cigarre frisch anzündete, ein Dutzend Hiebe, die nicht zu den schlechtesten gehörten. Ihm wurde unglaublich wohl dabei. Der Abend war frisch und der reine Himmel leuchtete scharf zwischen den Stämmen hindurch, während die Tags eingesogene Wärme dem Boden des Waldes duftend wieder entstieg und der Rauch eines Feuers, das die Arbeiter angezündet hatten, von frisch eingeworfenen Aesten in dichten Dampf verwandelt, sanft hin und her getrieben, in leichten Wolken bis zu den hohen Wipfeln der Bäume flatterte. Endlich krachte der Baum, der letzte für heute, noch nieder, das Gekreisch aufgescheuchter Vögel tönte in das Prasseln hinein, mit dem er in seiner ganzen gewaltigen Länge aufschlug. Smith und Arthur machten sich auf, um die Station zu erreichen, wo man übernachten wollte. Auch der nächste Morgen war herrlich. Sie mußten früh auf sein, um den Zug abzupassen der sie nach Piermount zurückführte. Smith schlief noch als Arthur erwachte. Er erhob sich ohne ihn zu erwecken und ging ein Stück in den Wald hinein, aus dem die Dämmerung der Nacht sich sanft flüchtete. Ganz still war es. Stiller noch

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als da sie Nachts zurückkehrten, schien ihm; wie der Mensch, auch die Natur dicht vor Sonnenaufgang im festesten Schlafe liegend. Es kam ihm in die Gedanken zurück was Wilson gesagt Tags zuvor über sein einsames Leben im Walde. Ich bin nicht einsam hier, sagte er; nicht der Sonnenschein oder der Sommer allein machen die Natur entzückend für mich; jede Stunde, jede Jahreszeit hat ihre eigentümliche wundervolle Macht, mich glücklich zu machen. Ich meine zuweilen, alle Genüsse der Welt seien nichts gegen das Einathmen der reinen Luft hier, gegen einen Gang unter bedecktem Himmel wenn der Sturm sich ankündigt, gegen einen Weg im Schnee, wo mir die Flocken ins Gesicht schlagen: es ist als strömte eine unbeschreibliche Freudigkeit in meine Seele. Nichts besonderes liegt darin, daß ich irgendwie mit Namen zu nennen wüßte, aber mir wird, als wäre die Last der Jahre und der Erfahrung von mir genommen, als herrschte eine ewige Jugend in den Wäldern, die alles durchzieht das sich ihrem Zauber hingiebt. In diesen Pflanzungen Gottes herrscht eine heilige stille Ordnung, ein ewiger Festtag der tausende von Jahren schon gedauert hat und dauern wird. Vertrauen und Klarheit der Gedanken kehren mir zurück in der Tiefe meiner Wälder. Nichts, meine ich, könnte mich hier befallen von gemeinen Gedanken, von Egoismus und Ehrgeiz. Als Nichts fühl' ich mich selber, in die Weite dringt mein Auge, Ströme des Geistes, der die Welt schafft, durchfluthen mich und lassen mich ihm vereinigt fühlen. Ein geheimes Einverständniß wird lebendig in mir zwischen all dem was um mich her blüht und aufsteigt und sich leise im Winde regt oder vom Sturm gerüttelt wird. Ich bin ein Geschöpf wie sie, ein und dieselbe Hand Gottes formte uns, ich bin nicht einsam, das Rauschen des Windes wird eine Sprache, die ich wieder verstehe wie ich sie zu verstehen glaubte als ich noch ein Kind war. So hatte Wilson gesprochen und Arthur, als er es gehört, die Worte beinahe nur äußerlich aufgefangen, bis sie, heimlich dennoch in ihn eindringend, nun erwachten und mit vollem Inhalte beladen noch einmal an die Thür seiner Seele klopften. Nun meldete sich das kommende Licht immer deutlicher. Er dachte wie er in wenigen Tagen vielleicht schon hierher zurückkehren dürfte, um die Wege zu suchen die ihn zu Emmy führten. Ein Glücksgefühl durchschauerte ihn. Ganz befreit glaubte er sich in diesem Augenblicke von der Last der Vergangenheit, dem einzigen Gedanken an das hingegeben, was allein werthvoll war für seine Seele. Und so sicher und befestigt erschien er sich darin, daß ihm unmöglich däuchte, jemals in andere Anschauungen zurückzufallen.

Siebenundzwanzigstes Capitel. Arthur suchte Smith wieder auf, der inzwischen wach geworden war und sich nach ihm umgesehen hatte. Bald kam der Zug herangebraust, in den einzuspringen kaum vergönnt war, so kurze Zeit hielt er an diesmal. Nachmittags waren sie in Piermount, wählten dann gegen Abend einen beliebigen von den vorbeipassirenden Dampfern um heimzukehren, und flogen bald: nun, da es mit dem Strome ging, war es in der That fast ein Fliegen, New-Jork zu. Es dunkelte als sie die Stadt in der Ferne wie unter einer mattleuchtenden Wolke liegen sahen. Das kleine Boot durchschnitt den tiefschwarzen Fluß, und die Funken des Schornsteins flogen weit zurück. Smith und Arthur hatten sich wenig zu sagen gehabt den Tag über. Jener immer noch in Berechnungen vertieft, dieser die empfangenen Eindrücke recapitulirend. Wie heimisch erschien er sich nun bereits in dem fremden Lande. Wie ganz eingeweiht in den Verkehr und die Art die Dinge zu behandeln. Immer wieder malte er sich das Leben in den Wäldern aus und tausendfach hatte ihn seine Phantasie Emmy bereits begegnen lassen. Bald am Morgen, bald am Abend, bald im Walde, bald bei Wilson, bald bei Mountainville. Was er sagen wollte, was sie vielleicht erwiedern könne, hatte er durchdacht, und glänzend stand auch immer ihre Gestalt dann da wie er sie bei Wilson zuletzt erblickt. Ihren

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traurigen Anblick deutete er immer tröstlicher zu seinen Gunsten. Sie konnte ihn nicht vergessen haben sobald; nicht bloß Verachtung es gewesen sein, daß sie ihn nicht ansah: nicht bloß Müdigkeit, daß sie zu gehen zögerte. Unmöglich all das zu wiederholen, das durch seine Seele leuchtete. Indessen er war doch nicht nur um zu träumen mit Smith in die Wälder gegangen. Und daran wurde er nun von diesem selbst erinnert. Sehen Sie, begann Smith plötzlich wieder zu reden und deutete mit dem Finger gradaus in die Dunkelheit, da drüben liegen unsere Stämme. Glauben will ich es gern, erwiederte Arthur, aber zu sehen vermag ich nichts. Wenn Sie erst ein halbes Jahr in dem Handel drinstecken, werden Sie schon die nöthigen Katzenaugen bekommen die dazu gehören, lachte Smith. Wenn einem eine Sache gehört, erkennt man sie mitten im Stockfinstern wieder. Arthur war es unmöglich in diesem Augenblicke, sich in den Holzhandel zu vertiefen, und als Smith, der natürlich keine Ahnung von diesem Gefühl haben konnte, seine kurzen Bemerkungen nur als Ausgangspunkt nahm, um sich noch einmal gründlich über die Natur des Geschäftes auszusprechen, wobei er ganz und gar den schlauen Kaufmann herauskehrte und durch sein fortwährendes lebhaftes Appelliren an Arthurs Urtheil diesen zwang bei der Sache zu bleiben und nicht etwa, während er ihn ruhig sprechen ließ, anderes zu denken, erfüllte er Arthur mit einem immer unerträglicher werdenden Gefühl, das sich kaum bemeistern ließ. Zum ersten Male in seinem Leben sollte ihm das geschehen, daß er auf direkten Befehl sich zwingen ließe, abzubrechen mit eigenen Gedanken und, sich unterordnend fremdem Willen, in fremde sich hineinzuarbeiten. Die Art wie Smith ihn jetzt behandelte, schien ihm ärger als die, in der ein Herr seinen Diener tyrannisirt. Er kam sich wie ein Sklave vor, der zu der niedrigsten Karriere Anweisung erhielt. Was hatte er mit diesen Kaufmannskniffen zu thun, auf die er achten sollte um sich gegen Kniffe zu wehren? Was gingen ihn diese Concurrenzen, diese Reclamen, diese Prozesse, diese legalen Uebervortheilungen an, um die es sich handelte? Und immer noch während sich dies als zweite Melodie gleichsam in seinem Geiste abspielte, mußte er auf Smiths nicht endendes Geschwätz horchen. Er dachte, man könne einen Menschen auf diesem Wege dahin bringen über Bord zu springen. Und deshalb eine Wohlthat, als sein Peiniger, der beim raschen Reden in Bezug auf seine Cigarre in ein diese rasch verzehrendes Paffen gerathen war, innehielt um an dem Reste der alten eine neue anzuzünden, freilich mit dem besten Willen, schien es, sofort den abgerissenen Faden wieder aufzunehmen. Arthur kam ihm zuvor. Verzeihen Sie, wenn ich nach etwas ganz fernliegendem frage, sagte er; was war das für eine Geschichte, die Ihren Eltern in Deutschland zugestoßen ist und die Sie mir eigentlich als Schluß unserer Fahrt noch schuldig sind? Smith antwortete nicht. Es war das erste Mal daß Arthurs Wesen ihm mißfiel. Es lag in diesem Abspringen eine solche Mißachtung der neuen Stellung, welche Arthur einzunehmen im Begriff stand, daß Smith davon empfindlich berührt werden mußte. Bildet sich der Graf ein, sagte er im Stillen zu sich selber, er thue mir einen Gefallen damit, wenn er sich über das belehren läßt, was zu übernehmen er sich verpflichtet hat und zwar gegen Bezahlung? Seinethalben einzig und allein unternehme ich die Fahrt, mühe mich erst ab den Platz für ihn zu erdenken, führe ihn dann in alles selbst ein, bringe ihm künstlich das Gefühl bei, als sei er uns nothwendig und erweise uns einen Gefallen, und jetzt, wo ich ihm die Sache noch einmal so klar als möglich mache, nimmt er einen Ton an als handle es sich um Nebendinge, mit denen man sich der Unterhaltung wegen befaßt wenn es ihm gerade gelegen ist! Arthur war zu feinfühlend, um aus Smiths Schweigen nicht einen Theil wenigstens dessen zu entnehmen, was darin enthalten lag. Verzeihen Sie, sagte er, ich frage da nach Dingen die wirklich nicht hierher gehörten. Aber wissen Sie: diese Reise mache ich noch als freier Mann, und die Erzählung sind Sie mir schuldig. Morgen um diese

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Zeit bin ich vielleicht schon wieder auf dem Wege in die Wälder, habe dann nichts als unsere Stämme im Kopfe, und wer weiß wenn ich zu Ihrer Erzählung komme. Auch kein Unglück, dachte Smith. Nun schwieg auch Arthur. Smith aber empfand nach einer Weile seinerseits nun den Vorwurf einer gewissen Unfreundlichkeit und beschloß deshalb vorzutragen was er im Walde auf der Zunge gehabt. Dennoch that er es nicht ohne Einleitung. Ich weiß nicht, sagte er, weshalb mir jetzt so ganz der eigene Antrieb fehlt, Ihnen die Geschichte zu erzählen. Es liegt etwas in ihr, das gerade gegen den Rang spricht den Sie in Deutschland einnehmen, Mr. Arthur. Und wenn Sie die Geschichte unangenehm berührt,- ist es nicht meine Schuld, noch weniger meine Absicht. Gewiß nicht, betheuerte Arthur. Also ein Graf kommt darin vor? Ja, und eine Gräfin obenein, versetzte Smith. Und hinterher sogar, fügte er lachend hinzu, ein ganz kleiner Graf, und überhaupt die Geschichte weder angenehm noch anmuthig. Meine Mutter war eine Art Kammerjungfer da im Hause, begann er darauf. Sie müssen es sich schon gefallen lassen, Mr. Arthur. Hier in Amerika ist es nichts anders. Wenn eine große Nation zur Entstehung kommen soll, muß man die Leute nehmen wie Gott sie aussucht. Arthur wollte darauf bemerken: es sei gleichgültig welche Mutter man gehabt wenn man ein Mann wie Smith sei, empfand sogleich aber daß eine solche Versicherung zu geben hier nicht seines Amtes sei, da sie sich von selbst verstand. Nun also, wie erging es Ihrer Mutter? sagte er. Meine Mutter war die Tochter eines deutschen Land-Predigers und trat als höhere Kammerjungfer in Dienst bei der Herrschaft welcher das Dorf gehörte wo der Vater Prediger war. Sie nahm so eine Mittelstellung ein. Man wollte Jemand solides bei der Gräfin haben, die sehr jung und sehr schön war. In welchem Theile des Landes lagen ihre Güter? fragte Arthur. Das eben ist mir nie erzählt worden, sagte Smith. Aber warten Sie nur. Auch der Name der Herrschaft nicht? Auch der nicht. Sie werden gleich begreifen weshalb. Also diese junge schöne Gräfin hatte eine ganz besondere Liebe zu meiner Mutter, die nebenbei gesagt auch in ihrer Art schön gewesen sein muß. Leider indeß wurde die Zuneigung der jungen schönen Gräfin ihrem Manne, dem Grafen, nicht in demselben Maaße zu Theil. Wohl aber Jemand anders, auch hier weiß ich nicht wem, allein es war eine obscure bürgerliche Persönlichkeit. Kurz, dieser Unbekannte pflegte sich heimlich einzustellen und zwar bei Nacht. Die Gräfin soll ihn geliebt haben ehe sie heirathete, und meine Mutter meinte, der Mann wäre so übel nicht gewesen. Endlich aber soll der Gräfin denn doch geschienen haben die Sache müsse ein Ende nehmen, und es sei demgemäß bestimmt worden, wann sich der Mensch zum letzten Male einzustellen hätte. Leider kam diesmal der Graf indessen dahinter, und während die Beiden auf das zärtlichste Abschied von einander nehmen, ist er plötzlich an der Thür des Zimmers. Was war zu thun? Meine Mutter schlief nebenan, die Gräfin schiebt ihren Liebhaber flugs durch die Thür zu meiner Mutter hinein und spielt die Unbefangene vor dem Grafen. Der aber geht darauf nicht ein, denkt natürlich, daß wo eine Thür sei auch Jemand hinausgegangen sein könne, geht hinterher und findet meine Mutter, die sich aus dem ersten Schlafe herausrappelt, mit dem Liebhaber der Gräfin im dunkeln Zimmer. Ja — sagte Arthur, der athemlos zuhörte. Hätte er eine Ahnung von dem gehabt was Mrs. Forster ihrer Tochter auf dem Schiffe erzählte, so würde er wohl gewußt haben weshalb. So aber überraschte ihn selbst das Gefühl der fast beängstigenden Neugier, mit dem er Smiths Erzählung folgte. Ja, nun? fuhr dieser fort. Was glauben Sie daß sich ereignete? das, daß diese junge schöne Gräfin, die meine Mutter so sehr liebte, meine Mutter als eine Person dastehen läßt, bei der Nachts zu dieser Stunde ein unbekanntes Individuum dicht am Bette gefunden wird. Das heißt, der Graf faßte die Sache so auf, meine Mutter schwieg, und

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die schöne junge Gräfin war klug genug, das ruhig so hinzunehmen. Und weiter begiebt sich, daß meine Mutter aus dem Hause spedirt wird, man ihr jedoch den Trost läßt, es solle aus Rücksicht auf ihre Jugend und auf ihren Vater die Sache verschwiegen bleiben. Und nun müssen Sie meine Mutter gekannt haben, sagte Smith, ballte beide Fäuste und biß die Lippen in nachträglicher Wuth zusammen. Eine Frau, die Sanftmuth und Güte selbst! Und nun müßten Sie gehört haben, wie sie selbst die Scene beschrieb. Wie sie verstoßen und vernichtet bei ihrem Vater ankommt. Wie der alte Mann sie eintreten sieht, zitternd Unheil erwartet, ohne noch von etwas zu wissen. Wie sie dann zusammensitzen und berathen was zu thun sei. Wie dann einige Tage so in dumpfem Elend vergehen; wie spät Abends dann plötzlich die junge schöne Gräfin bei ihnen erscheint, sich weinend meiner Mutter zu Füßen stürzt und um Verzeihung bittet. Zu Füßen? unterbrach ihn Arthur. Zu Füßen! donnerte Smith. O ja; hinterher aber ließ sie sich von meiner Mutter und dem alten Manne das Versprechen geben, die Schande ruhig auf sich sitzen lassen zu wollen! Nur einer ward ins Vertrauen gezogen: mein Vater, mit dem meine Mutter damals schon verlobt und dem die Stelle meines Großvaters versprochen war. Das geschah denn auch, und alles schien in Vergessenheit gerathen. Die Gräfin bekam einen Jungen, meine Mutter einige Zeit hinterher gleichfalls, das war mein älterer Bruder, der bald starb nachdem wir herübergekommen. Nun geht meine Mutter mit dem Kinde auf dem Arme durchs Dorf, und der Graf, der Mann der jungen schönen Gräfin, begegnet ihr, bleibt stehen, sieht sich den Jungen an, und wie er Adieu sagt, setzt er hinzu, meine Empfehlung an den Herrn Pastor und der Junge wäre ihm wie aus den Augen geschnitten, und dabei machte er so einen Mund, wissen Sie — nun, meine Mutter wird todtenbleich und kommt so zu Hause an. Jetzt überlegten sich die Beiden ernsthaft, was zu thun wäre, und beschlossen das Feld zu räumen. Sie hatten Freunde hier. Mein Vater setzte erst sein Geschäft fort und predigte, kam dann auf dieses und jenes und schließlich zu einem leidlichen Vermögen. Aber ich wünschte nur ein einziges Mal dem Grafen zu begegnen! Nun? rief Arthur. O nur um ihm gleichfalls zu sagen, sein eigner Junge gliche ihm ja wie aus den Augen geschnitten! Smith begann zu lachen, daß es weithin hallte. Furchtbar, furchtbar! sagte Arthur und sah starr vor sich hin. Nun, es hat wie Sie sehen ein gutes Ende genommen! rief Smith. Ja, ja, murmelte Arthur, aber ich meine den Sohn des Grafen. Nun? sagte Smith. Wenn dem klar wird, daß er statt der Sohn seines Vaters zu sein, der Sprössling eines obscuren Liebhabers seiner Mutter ist. Ja, mag nicht angenehm sein, entgegnete Smith trocken. Indessen, woher soll er es erfahren? und zweitens, wer will es ihm beweisen? Die Ähnlichkeit allein könnte es schon, rief Arthur. Nun, dafür ist vorliegenden Falles wohl gesorgt, sagte Smith. Denn wie gesagt, wer weiß die Geschichte außer mir? Die Gräfin ist todt. Der Liebhaber verschwunden. Der Mann und der Sohn wissen es nicht, und ich selber weiß ja weder wer sie sind, noch wo alles passirt ist. Meine Mutter wollte mir durchaus die Namen nicht nennen. Sie sagte, nachdem sie mir die Geschichte erzählt, eigentlich habe sie es nicht gedurft, denn es sei zwischen ihr und meinem seligen Vater ausgemacht, ich solle die Sache niemals erfahren um in meiner Liebe und Anhänglichkeit zum alten Vaterlande nicht irre zu werden. Und dann, was den Namen anlangt, man könne nicht wissen wie sich Menschen begegneten und welches Unheil die Geschichte noch anrichten könnte. Wahrhaftig, der jüngere Graf, wenn er die Geschichte hörte, setzte Smith gutmüthig hinzu, könnte am Ende jetzt noch anfangen sich Scrupel zu machen. War denn Ihre Mutter überzeugt, der Fremde sei dessen Vater? Danach habe ich sie wahrhaftig nicht extra gefragt, ob es ihre Ueberzeugung sei, aber sie schien es stillschweigend vorauszusetzen, und ich denke das kommt auf eins

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heraus. Und am Ende: bleibt es verborgen, so ist es vielleicht nicht einmal dem jungen Grafen zum Schaden ausgeschlagen. Denn dieser geheimnißvolle Fremde muß ein schöner Mann gewesen sein. Meine Mutter erzählte wie er dagestanden, wie der Graf ihm das Licht in's Gesicht gehalten, wie er kein Wort gesagt; und nun denken Sie: meine Mutter ein paar Jahre älter als die Gräfin, aber doch erst zwanzigjährig, aus dem Schlafe auffahrend und von Schrecken, Angst, Scham, Indignation halb wahnsinnig! Und nun aber, schloß er, als Arthur eine Weile lang nichts mehr äußerte, lassen wir Geschichten ruhen die uns Gottlob nichts mehr angehen! Dieser Wunsch von Seiten Mr. Smiths war leichter gesagt als erfüllt. Arthur fühlte sich durch die Erzählung in einem Maße aufgeregt, das ihn selbst erstaunte. Und seltsam war was ihn dabei am meisten ergriff: das Schicksal dessen, der darin am wenigsten hätte in Frage kommen sollen: des jungen Grafen, dessen unrechtmäßige Geburt auf diese Weise an's Licht gelangte. Arthur konnte nicht umhin, seiner Phantasie in dieser Richtung freien Lauf zu lassen. Und dieser Lauf ein höchst wunderlicher, denn es kam zu gleicher Zeit das noch einmal in Betrachtung was er in der heiligen Wildniß über den Adel gehört. Die Erscheinung Wilsons, seine inkarnirte Gerechtigkeit, seine großartigste Ansicht der Welt hatten Arthur dermaßen unterjocht, daß er das erste Gefühl der Hingebung für ein ewiges halten mußte. Jetzt aber stellte er es an einem festen Beispiele auf die Probe. Loslösen sollte sich der, hatte doch Wilson gemeint, der die Anerkennung seines Standes im Vaterlande nicht fände, ohne die seine Existenz eine unmögliche sei. Ja, mehr noch: abwerfen sollte man seinen Namen, nur um vor sich selbst den Stolz zu erwerben, daß man Alles sich selbst verdanke. Großartiger konnte kein Mensch dem Leben sich gegenüberstellen. Nun aber, jener Sohn des Unbekannten, und der Gräfin: wenn ihm ein Licht aufgegangen wäre über seine Geburt — was beginnen? Sich abtrennen von seinen bisherigen Genossen, heimlich, und verschwinden? Seinen Namen stolz ablegen und in der großen Menge untergehen? Alles von sich weisen plötzlich? Erinnerungen? Gefühl des Standes? Ruhig sich darein ergeben, einen unbekannten Menschen zum Vater zu haben und seine Existenz einem Ehebruche zu verdanken? Arthur schauderte. Unwillkürlich trug er sich selbst hinein in die Lage jenes Menschen, und seine lebhafte Phantasie, indem sie sich in dieser Fiction wie in einen Garten verirrte, in dem alle Wege wieder in sich zurück und keiner zum Ausgang führt, bereitete ihm für diese Momente des Nichtentrinnenkönnens Qualen, als wäre er in der That der gewesen, um den es sich handelte. Wäre denn so etwas möglich? fragte es in ihm. Warum nicht möglich? antwortete es darauf. Haben sie dir nicht immer gesagt, du hättest keine Spur von Aehnlichkeit mit deinem Vater an dir? Du glichest deiner Mutter allein. Hat dein Vater in Bezug auf dich nicht gewirthschaftet, als wärest du alles andere eher, nur ein Sohn nicht, für den er zu sorgen hätte? Ist nicht sogar ein wunderliches dunkles Gerücht einmal dir zu Ohren gekommen, es sei irgend etwas vorgefallen mit deiner Mutter — freilich was aber? — Hier jedoch machte Arthur diesen Gedanken so energisch ein Ende, daß der Faden wirklich abriß und nichts übrigblieb als ein fataler geistiger Nachgeschmack. New-Jork mit den dunklen, nebligen Häusermassen und den lichten Fensterreihen darin, glitt derweile an ihnen vorüber. Kein Ende nahmen die schwarzen Schiffe, die am Ufer lagen oder, sparsamer jetzt, ihnen entgegenkamen. Das Aechzen der Dampfkessel, das Läuten, das Geschrei vereinte sich mehr und mehr zu dem gewohnten großen Totaleffekte, der ewigen Begleitung des Lebens dort. Arthur versenkte sich ganz hinein. Aber gerade jetzt, als er sich so am sichersten wähnte, tauchte das doch wieder auf, was ihn, insgeheim vor ihm selber, immer noch beschäftigte. Haben Sie kein Bild Ihrer Mutter, fragte er Smith. Dieser dagegen stak schon wieder ganz im Holzgeschäfte. Sehen Sie, dort liegen wieder von unseren Stämmen? rief er. Jawohl, es ist ein Portrait vorhanden, fügte er bei.

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Ja dort, antwortete Arthur, ich erkenne die Stämme jetzt ganz deutlich. — Hängt es im Zimmer bei Ihnen? Wie viel Dutzend taxiren Sie die? Bin es wirklich nicht im Stande. Sie waren vorüber und nichts mehr zu sehen von den Stämmen. Ja, das Bild meiner Mutter, begann Smith freiwillig jetzt, da Arthur nun einmal heute mit dem Holzwesen nicht zu packen schien. Ich fand das Bild auf meiner letzten Reise in Deutschland. Ein capitaler Zufall. Ein so toller Zufall wie je einer erfunden werden könnte. Es steckt noch in der Kiste, ich bin nicht dazu gekommen es auszupacken. Ein Kunstwerk, nebenbei, sage ich Ihnen, was die Malerei anlangt. Ein Stück ersten Ranges. Ich verstehe freilich nichts davon. Ich war so glücklich als ich es fand, ich hätte das Doppelte bezahlt das es mich gekostet hat, glatt weg, ohne Abzug und Einwendungen. Heute Abend aber noch soll die Kiste auf. Sie werden sehen was für eine Frau meine Mutter war! Während Smith so schwatzte kam bei Arthur ohne daß er dazu gethan, folgende Ideenverbindung zu Stand. Deine Mutter hatte eine Kammerjungfer, die ihr große Dienste geleistet. Deine Mutter war eine Gräfin und einmal jung und schön. Deine Mutter hatte ein Gemälde dieser Kammerjungfer. Dies Gemälde ist nicht mehr in deinen Händen. Und während er so dachte, war ihm, als fließe ein eiskalter Tropfen vom Scheitel durch ihn hindurch bis zu den Fußspitzen hinunter. Nur eins dagegen kam ihm tröstend nun sogleich in den Sinn: Smith hatte das Gemälde gekauft und Erwin konnte es nicht verkauft haben. Er athmete auf als ihm diese Erleichterung zu Theil ward. Dennoch hatte ihn irgend etwas wie ein Aberglaube jetzt so gefaßt, daß er die Sache nicht weiter zu berühren wagte. Auch zu Hause angekommen, war er froh, daß Smith nicht von dem Gemälde sprach, obgleich er insgeheim aus Angst den Moment erwartete, wo es dennoch geschehen müsse. Sie saßen im Gartensalon bei offenen Thüren, durch welche die milde, warme Finsterniß eindrang, jeder nahm sich aus den Zeitungen, die da immer den Tisch füllten, was ihm am meisten zusagte. Es waren einige Nummern nachzuholen diesmal und die Lektüre zog sich hinaus. Der deutsche Doctor hatte sich noch immer nicht beruhigt, sondern eine Broschüre in die Welt geschickt, die er, wie er sagte, so pikant als möglich zu Stande brachte, und deren Inhalt vor wenig Tagen noch in der That dazu geeignet gewesen wäre, Arthur in die Laune zu versetzen, dem Herrn zu zeigen daß er Stand zu halten wisse: heute war es ihm so gleichgültig wie ein Glas warm Wasser. Mochten die Herren sich streiten oder versöhnen — er dachte nur an das Bild. Er beobachtete Smith. Schon hatte dieser ein paarmal bezeichnend gegähnt, so daß Arthur hoffen durfte, das Auspacken könne bis morgen verschoben werden, als er sich plötzlich erhob mit dem Ausrufe: was einmal beschlossen worden ist, muß ausgeführt werden! das Zimmer verließ und nach wenigen Minuten mit einer flachen Kiste, wie sie ein Portrait zu umschließen pflegt, eintrat. Einen Schraubenzieher trug er in der andern Hand, legte die Kiste auf den Tisch und begann den Deckel loszuschrauben. Wissen Sie, erzählte er währenddem, es ist eine ganz schändliche Lage, unterwegs krank zu werden. Doch Sie kennen das ja. Kurz, in Berlin, ich weiß nicht was ich gemacht hatte, ich fühlte mich elend. Ich frage nach dem ersten Doctor der Stadt, natürlich jedes Wirthshaus hat den seinigen, kurz ich wickle mich in meinen Pelz und fahre zu ihm. Dieser Anfang der Geschichte war so geartet, um Arthur das Gefühl eines Menschen zu geben, der den Strick drehen sieht, mit dem er gehangen werden soll. Also ich sitze da, der Mann war sehr geschickt, fragte nach nichts Unnöthigem und erklärte schließlich, ich sollte es abwarten, ein paar Tage noch, was ich denn auch that und die Sache besserte sich. — Also ich sitze da und lehne mich so recht bequem in den Lehnstuhl in den er mich genöthigt, und sehe in die Höhe und sperre plötzlich Maul und Nase derartig auf, daß der Mann aufspringt und denkt, ich sei im Sterben

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oder dergleichen. Was haben Sie? schreit er. Herr, rufe ich, wo haben Sie das Bild her da oben? Smith hatte die letzte Schraube heraus, ließ den Deckel noch liegen und setzte sich einen Augenblick um seine Geschichte weiter zu erzählen. Also, rufe ich, wo haben Sie das Bild her? Kennen Sie die Person? fragt er. Ob ich sie kenne, antworte ich. Fünfhundert Dollar! Er lacht. Nein, sagt er, ich habe es von einem Freunde. Tausend Dollar, rufe ich, es ist meine Mutter! Nein, sagt er und schüttelt den Kopf, mit Portraits von Müttern treibe ich keinen Handel, und lacht. Kurz, er meint, er wolle sich die Sache bedenken, und könnten darüber reden, und am andern Morgen hatte ich das Gemälde mit ein paar freundlichen Zeilen seinerseits bei mir, und er eine Stunde darauf seine Tausend Dollars, und ich am Abend eine Quittung, Gott weiß welches Krankenhauses, über richtigen Empfang. Und nun sehen Sie! Er hob den Deckel ab, riß einen Bogen übergespanntes Papier durch und ab, stellte die Kiste aufrecht, und Arthur hatte vor Augen was er erwartete: das Gemälde, in das er einst hineingeschlagen; der Riß auf das kunstreichste ausgebessert. Nun? rief Smith. Welch ein Ausdruck! — Güte! — Schönheit! — Arthur hörte nichts mehr. Gute Nacht, sagte er; ich gehe noch einen Moment in den Garten. Und mit zwei Schritten an der Thür, trat er hinaus und stürzte in die Dunkelheit. Ein Platz war da, wo hohe Bäume im Kreise standen, wo Arthur bei Sonnenschein im Schatten gesessen, der dort am kühlsten und dichtesten herrschte. Hier blieb er stehen, jetzt von Finsterniß und völliger Stille umgeben. Er ging auf und nieder. Er konnte nicht denken. Plötzlich nun aber etwas ganz neues noch! An jenes Bild erinnerte er sich, das Mrs. Forster ihm gezeigt, an die Bleistiftzeichnung, die seine Mutter darstellte! Eine Freundin hatte das Bild besessen! Smith's Mutter? Immer noch war etwas zurückgeblieben in ihm, als könnten die Dinge sich doch noch anders erklären lassen. Jetzt kein Zweifel! Er lief wie wahnsinnig umher. Er begann zu sprechen mit sich selbst, und dann plötzlich zusammenfahrend, weil er die eigene Stimme hörte und nicht wußte wer spräche, stand er still und horchte. Immer unklarer wurden die Bilder, die vor ihm aufzusteigen schienen, immer wilder und seltsamer dann. Dort schien ihm das Bild entgegenzuschimmern: er riß die Augen weit auf, es war nichts. Da wieder, als ein Windstoß durch die Lüfte fuhr, glaubte er das Rauschen eines Kleides zu hören und seiner Mutter Bild aus dem Rahmen auf ihn zueilen zu sehen. Sie schien zu reden. Er lauschte wie wahnsinnig: Alles still. Es lache um ihn her, glaubte er: wieder sprang er auf und sah sich um. Regte da sich nicht wirklich etwas? nein. Er fühlte wie Alles in ihm zu glühen und zu pochen begann. Er meinte flüchten zu müssen und lief im Kreise umher. Er meinte verfolgt zu werden, ein ganzer Schwall lachender Gestalten säße ihm auf den Fersen, wähnte er, und trieb ihn vorwärts. Endlich stand er um sie zu erwarten, zu fragen, was sie begehrten: still wurde Alles und dann dasselbe Spiel toller und toller, bis er erschöpft endlich auf dem alten Platz unter den Bäumen wieder ankam und zusammenstürzte.

Achtundzwanzigstes Capitel. Es war gegen fünf Uhr am andern Morgen, als Smith aus dem Schlafe auffuhr, weil an sein Fenster geklopft wurde. Was ist? schrie er und sprang mit beiden Beinen aus dem Bette. Herr, rief der Gärtner, wir haben Mr. Arthur im Garten gefunden, er scheint sehr krank, wir haben ihn hier auf die Bank gelegt. Schon während dieser wenigen Worte war Smith mit seiner Toilette halb fertig, vollendete sie in ein paar Sekunden, riß das Fenster auf, und war mit einem Sprunge im Garten. Arthur lag da auf der Bank. Schlafend, schien es. Sein Kopf glühend heiß, sein Puls jagend; besinnungslos als Smith ihn ein wenig rüttelte. Wiederum keine fünf Minuten verstrichen, und ein Diener war auf dem Wege zu Dr. Allan, während Smith Arthur aufgepackt und, weil es am nächsten war, in sein eigenes Bette getragen hatte.

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Was zu thun sei, wußte er wahrhaftig nicht, sperrte nur beide Fenster auf um frische Luft hereinzulassen und erwartete den Doctor. Diesem berichtete er was am Tage und Abend zuvor geschehen. In keiner Weise ersichtlich, welcher äußere oder geistige Einfluß etwa diesen Zustand herbeigeführt. Sie meinten, Arthur müsse sich nicht ganz wohl gefühlt haben, draußen eingeschlafen sein, und, an dergleichen nicht gewöhnt, möglicher Weise noch nicht ganz hergestellt von der kürzlich überstandenen Krankheit, sich dies starke Fieber geholt haben. In der That dauerte es jetzt länger als das erste Mal. Eine Woche lag er ohne Besinnung und phantasirte. Smith hörte mit äußerstem Befremden, wie er sich in dieser Weise mit Emmy, mit Mrs. Forster, mit Wilson, mit einem gewissen Erwin herumdisputirte, wie er von einem Bilde sprach, alles aber in so unverständlichem Zusammenhange, daß man nichts von dem zu errathen vermochte was vorgegangen sein könnte. Getreulich hielt Smith Tag und Nacht bei ihm aus, soviel er von seiner Zeit dafür erübrigen konnte. Wiederum urtheilte der Doctor, es hinge davon ab welche Widerstandskraft in Mr. Arthurs Natur läge, und wiederum schien diese stärker zu sein als die Krankheit, denn eines Tages kehrte Arthur die Besinnung zurück und er erkannte Smith der an seinem Lager saß. Plötzlich stieß er einen Laut des Schreckens aus und blickte starr auf die gegenüberliegende Wand, den Ausdruck der furchtbarsten inneren Bewegung auf dem abgemagerten Gesichte. Das Bild hing da. Smith hatte es den letzten Abend noch an einem Nagel dort so aufgehangen, daß er es erwachend stets im Auge haben mußte. Halt! rief Smith, also doch das Bild! nahm es herab und stellte es umgekehrt an die Wand. Erst am anderen Morgen sprach Arthur wieder. Er sah sich in der Stube um und sagte dann: Gott sei Dank! Ja, Gott sei Dank! wiederholte Smith, daß Sie wieder bei Sinnen sind. Ja, und daß mich der Anblick nicht mehr verfolgt. Denken Sie, mich macht ein Bild beinahe wahnsinnig, und gestern Morgen, als ich die Augen aufschlug, meinte ich, es hinge dort. Ich habe es herabgenommen, sagte Smith unbefangen. Es hing also wirklich dort? stieß Arthur heraus. Sein Sie ruhig, das Bild thut Ihnen nichts, besänftigte ihn Smith; es stellt meine Mutter dar, die lange todt ist und keinem Menschen etwas zu Leide gethan hat. Arthur besaß sein Gedächtniß wieder plötzlich. Hören Sie, sagte er mit matter Stimme — Sie hatten doch so sehr gewünscht dem Grafen einmal zu begegnen, um ihm zu sagen er besann sich — ja, um ihm zu sagen, sein Sohn — gliche ihm so sehr — wissen Sie, der Sohn der schönen, jungen Gräfin er hielt inne. Ja? rief Smith in höchster Aufregung und streckte ihm erwartungsvoll den Kopf entgegen — Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen, sagte Arthur und heftete seine großen dunklen Augen auf ihn. Der Sohn bin ich! Sie? brüllte Smith heraus, und aufspringend und sich auf sein Bett setzend, Arthurs beide Hände in die seinigen nehmend, und mit einer Stimme, die niemals ein Mensch mit freundlicherem Accente gebrauchen konnte: mein lieber, lieber Mr. Arthur, verzeihen Sie mir! Ich würde sagen, verzeihen Sie mir, antwortete Arthur so gut er vermochte, wenn ich mich der mindesten Schuld bewußt fühlte. Aber — es schauderte ihn als er es aussprach — was habe ich nach allem nun noch mit dem Manne gemein, der Ihren Vater beleidigte? Er lächelte bitter. Mein Vater war es nicht, der - - ; aber meine Mutter freilich. Ja, die! Herr des Himmels, dachte Smith, was fange ich mit dem Menschen an? Ist es möglich noch, ihm einzureden, alles sei von mir gelogen und erfunden? Giebt es irgendwo Trostgründe? Was soll ich ihm sagen? Was soll ich mit ihm machen? Er hörte den

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Doctor vorfahren und sprang heraus um die unerhörte Neuigkeit mit ihm durchzusprechen. Arthur blieb allein. Was er Smith gesagt, hatte ihm für einige Augenblicke Ruhe gegeben, aber nur für Augenblicke, und bald lag er wieder mitten in dem Sturmwinde von Gedanken, gegen die nun keine Rettung mehr war. Smith berieth sich mit Dr. Allan. Der alte Mann hatte viel erlebt, viel guten Rath gegeben, viel vermittelt; hier aber war seine Kunst zu Ende. Da kann kein Doctor helfen, war sein Schluß. Da kann auch nicht recht von Erholung die Rede sein. Essen und Trinken schlagen nicht an, wenn der Geist nicht das beste dazu thut. Arthurs Genesung diesmal bot denn leider auch andere Symptome als die nach seiner ersten Krankheit. Er erhob sich langsam, schlich umher, blickte gleichgültig auf die Dinge herab und schien Jahre gealtert. Smith durchbohrte es das Herz. Er hielt sich für den Schuldigen. Warum hatte er seine Zunge nicht im Zaum gehalten? aber auch, sagte er sich, wer hätte das ahnen können? Sie gingen im Garten eines Tages. Mrs. Forsters Haus leuchtete durch die Bäume herüber. Arthur fuhr zusammen, Smith, der ihn am Arme hatte, fühlte es und drehte kurz um. Wer weiß was da noch steckt! dachte er. Ich will abreisen nach Deutschland, sagte Arthur, nachdem sie einige Schritte schweigend unter den Bäumen hingegangen, die so friedlich die Sonne eintranken und so angenehm duftigen Schatten verbreiteten. Uns verlassen wollen Sie? fragte Smith theilnahmsvoll. Ja. Fort. Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Aber gestatten Sie mir ein Wort, lieber Freund, bemerkte Smith so sanft als möglich; nach allem wie ich es verstehe, hätten Sie viel eher Grund hierherzukommen wenn Sie drüben wären, als umgekehrt. Arthur lachte mit Bitterkeit, sagte aber nichts. Denn hier, fuhr Smith fort, was kann Ihnen oder irgend Jemand daran gelegen sein, wer Ihr Vater war? Sie tragen einen Namen, der Ihr eigenstes Produkt ist. Sie wollen sich selbst eine Existenz schaffen. Sie sind nicht Schuld an dem, was die Ursache Ihrer Entstehung war. Jedenfalls ist es Gottes Wille gewesen, daß Sie auf die Welt kämen, Sie selber hatten nichts dabei mitzusprechen. Ich begreife Ihre tiefe Erschütterung doch nur halb. Auch mir wäre dergleichen zu erfahren ganz verzweifelt fatal, aber schließlich: es wäre geschehen, ohne meine Schuld, zu Niemandes Nachtheil und ohne Jemandes Schande. Ich bitte Sie um Himmelswillen: es ist besser für Sie, der Sohn des Mannes zu sein, den Ihre Mutter liebte, als dessen den sie ohne Zweifel nicht leiden konnte. Sie wissen nicht alles, antwortete Arthur. Freilich nicht, aber woher soll ich es wissen wenn Sie es mir nicht erzählen? fragte Smith mit einiger Naivetät. Es ist kein Grund es Ihnen länger zu verheimlichen, sagte Arthur. Sie setzten sich auf eine Bank im Bosquet nieder und Smith erfuhr was vorgefallen war vom ersten Anfänge bis zuletzt. Nun, schloß Arthur, soll ich jetzt zu ihr treten und sagen: Miß Emmy, alle Hindernisse sind gehoben; ich bin nichts als der und der —? Er lachte daß es Smith durch die Seele schnitt. Smith hatte sich währenddem das Haar dermaßen bearbeitet, daß es ihm in alle Winde stand. Glaubte er das Tollste erlebt zu haben, so kam es hier nun noch besser. Er sah ein, wie diese Entdeckung eine ungeheure Ironie war auf all diese Vergangenheit. Er wußte nebenbei aber auch mit vollständiger Gewißheit, daß Mrs. Forster nun und nimmermehr in diese Verbindung willigen werde. Er hätte sonst an eine Vermittelung, durch Wilson vielleicht, wenn er sich selbst zu wenig zutraute, denken können; allein unter diesen Umständen war das fruchtlos. Er sah ein, daß Emmy auf ewig verloren war für Arthur. Und er verstand auch, daß Arthur, indem er sie aufgab, überhaupt am Leben verzweifeln mußte, bis nach Jahren vielleicht, wenn das vernarbt war, ein Wiederaufrichten möglich wäre. Und so erschien ihm gleichfalls endlich am natürlichsten, daß Arthur nach Deutschland zurückkehrte, wo es seinem Freunde

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vielleicht gelingen konnte, geistig auf ihn einzuwirken. Für Amerika war diese Natur offenbar nicht geschaffen. Arthur überlegte es sich oft genug, ehe er den entscheidenden Entschluß faßte. Es mußte sein. Das war die Erfüllung des Gefühls, das ihn von Anfang an beherrscht: die seltsam ironische Ahnung, als sei was er hier thue und beginne nur ein schattenhafter Versuch. Er löste sich los wieder. All die großen Interessen, die zu hegen er sich eingeredet, nichts als gemalte Coulissen jetzt für die äußeren Scenen einer Tragödie die damit nichts zu thun gehabt. Nun sie zu Ende, war wieder Pappe was vorher lebendiges Laub und Mauern geschienen. Was lag ihm an dem Geschick der Deutschen in Amerika? was kümmerte ihn die Wiege der Zukunft? was nützten ihm Mr. Wilson's große Gedanken? Fort wollte er, um Emmy nie wieder zu begegnen, gleichgültig was übrigens in der Welt passirte. Smith drang zuletzt sogar auf die Abreise. Er sah die sich steigernde Unruhe Arthurs und fürchtete neue Krankheit. Vielleicht, meinte er, könnten Nachforschungen in Arthur's Familien-Papieren die Sache doch noch anders darstellen. Seine Mutter, sagte er, habe die Verhältnisse nie so scharf hingestellt, es sei seine eigene Vermuthung zumeist wohl. Hätte er geahnt, daß Forster dieser Unbekannte gewesen! Allein darin war Smiths Mutter fest geblieben, daß sie nur soviel erzählte als ihren Sohn anging. Denn auch Forster hatte nicht gewollt, daß seine Kinder je von diesen Erlebnissen erführen, und Emmy's Mutter würde geschwiegen haben, hätten die Verhältnisse eben es ihr nicht unmöglich gemacht. Nur einen, fast könnte man nun sagen, glücklichen Moment wollte sich Arthur noch gönnen: Emmy's Zimmer in ihrem Hause betreten, ehe er Abschied nähme von Amerika. Es ließ sich leicht machen. Die Damen waren verreist und das Haus Smiths Obhut anvertraut worden. Arthur ging an dem Platz vorüber, von dem aus er damals die Thür des Hauses so verlockend liegen sah und wo er den letzten Bescheid empfing. Durch die Stuben mit verhangenen Möbeln schritt er hin. Er trat in Emmy's kleines Zimmer ein, das sie so oft erwähnt hatte. Er ging durch die Glasthüre auf den dichtumrankten Balkon. In ihrer Mutter Stube erkannte er Emmy in einer Reihe Abbildungen aus verschiedenen Lebensjahren, die eingerahmt an der Wand hingen. Zuerst als Kind, einen kleinen Strohhut auf den verwirrten Locken, und, als hörte man sie jauchzen, auf einem Pony sitzend das im Galopp dahinging: ein reizendes Aquarellbild. Dann als zwölfjähriges Mädchen im weißen Kleidchen, ein wenig mager und aufgeschossen, die bloßen Arme schmal, das Haar in festen Zöpfen um die Stirn und Schläfen gewunden. Dann wieder zwei Jahre älter: nun schon in Damenkleidern, aber fast ein Kind noch, sitzend auf diesem selben Balkon, um den der Frühling gerade so wie jetzt die Ranken hatte sprießen lassen. Sie saß zurückgelehnt, einige lose blaßblaue Blumen in der Hand. Endlich ein Bild aus den letzten Zeiten, in Italien gemalt, kurz bevor Emmy nach Deutschland kam. Dies ein feines Miniaturgemälde. Welch ein Abstich! Der Blick freier und dunkler, die Lippen fester; die Gestalt, soviel von Hals und Schultern zu sehen war: man ahnte sie ganz, ohne sie zu erblicken. Das schöne volle Haar nun so gelegt, wie er es kannte: er sah sie plötzlich wieder wie sie vor ihm stand in der Stube, er sah sie dastehen, verschwinden ! und doch, glückliche Zeiten mit all ihrer Verzweiflung gegen die Oede jetzt und das tonlose Herankommen einer fahlen, gedankenleeren Zukunft. Und dort an den Wänden die Bildnisse ihres Vaters und ihres Großvaters: beide in männlichen Jahren gemalt. Güte und Charakter, fast etwas heroisch Starkes im Schnitt der Stirn und in den Augen. Arthur betrachtete sie lange. Wie sollte er es wagen, er der namenlose Abkomme eines Unbekannten, eindringen zu wollen in eine solche Familie, die wie eine Gesellschaft kräftiger Tannen dastand, in denen Sturm oder Frühlingslüfte, säuselnd oder sausend, nur dieselbe leise Bewegung hervorbrachten, ohne sie zu beugen. Arm, elend und schwach fühlte er sich. Er brach ein Blättchen ab vom Balkon und wollte es in sein Buch legen: er warf es wieder auf den Boden, er hatte kein Recht

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dazu. Nicht auf das Geringste hier, nicht auf den Anblick einmal dieser Sachen, dieser Wände. Fort! Mit zu Boden gesenkten Augen schritt er durch die Gemächer aus dem Hause und aus dem Garten. Am andern Tage ging das Dampfschiff. Smith brachte ihn dahin. Zum letzten Male fuhr Arthur den Broadway hinab und hörte den Lärm dort. Smith stand mit ihm auf dem Verdecke. Der Dampfer fing an sich zu regen. Sie küßten sich. Dort hinüber liegt mein Haus, rief Smith; ich sehe Sie bald in Deutschland! Es war der letzte Moment; sie trennten sich; der Dampfer schwamm hindurch zwischen Masten und Schornsteinen; dort stand Smith, schon ziemlich klein, und schwenkte das Taschentuch, nun war er verdeckt und verschwunden. Auch die Stadt trat zurück. Da lag das Gebirge, in dessen Wäldern Arthur hatte Hausen wollen. — Mr. Wilson mochte da jetzt wohl stehen oder auf der Veranda friedlich sitzen, Emmy vielleicht neben ihm, und sie wußten nichts von dem was ihn bewegte. Immer ferner lagen Stadt und Gebirge schon. Arthur wollte es nicht mehr sehen, er ging in seine Cabine. Als er wieder hinaufkam, schwebte westlich weit ein violetter Dunst über dem Wasser, das immer weiter und weiter zwischen ihm sich aufthat und Emmy. Hättest du dennoch bleiben sollen? fragte er sich. Einmal noch sie sehen und sterben? Er wußte es nicht. Er hatte sich stumpf gedacht und gefühlt. Der Tag verging; die Sonne tauchte unter im Meere; der Rauch des großen Schornsteins wälzte sich wie eine sterngefüllte dunkle Wolke über dem Schiffe empor, hinein in den unendlichen Himmel. Was bin ich? dachte Arthur. Losgelöst von Allem, einsam wie nie ein Mensch gewesen, ohne Erinnerung, ohne Ahnung, ohne Willen für die Gegenwart; fortgerissen: und es scheint als wäre es immer dieselbe Stelle, an der ich hafte; warum nicht ausgelöscht? warum athmend? wozu geboren, da ich doch einmal leben sollte? —

Dritter Theil. Neunundzwanzigstes Capitel. Erwin nahm, wie erzählt worden ist, eine Ausnahmestellung in der Gesellschaft ein. Man wußte, welchen Titel er abgelegt hatte und wie es ihm gelungen war als Ersatz gleichsam dafür eine Bedeutung in seinem Fache zu erringen, auf die ein Abglanz seines früheren Ranges zurückfiel. Gebildet, anziehend, jeder Art von Geselligkeit gewachsen, hielt er sich zurück und gab seine Verachtung für die zu erkennen, welche sich rücksichtslos geltend zu machen suchten: Leute, deren es in allen Karrieren genug giebt und die nicht zu den unbefähigtsten gehören. Er war eingetreten in die Aristokratie derer, auf die man ein Auge zu haben pflegt: was sie thun und nicht thun. Die Welt nimmt den Mann für das wofür er sich giebt, er muß sich nur für etwas geben; die aber, die nichts sein wollen, nehmen den obersten Rang ein unter denen die etwas sind, oder etwas zu sein scheinen: denn zwischen diesen beiden Gattungen zu unterscheiden, pflegt meistens erst der Nachwelt anheimzufallen. Niemand mühte sich sorgfältiger ab für das Wohl seiner Kranken als Erwin, allein er zog eine Grenze: was ihn als Arzt nicht interessirte, berührte ihn überhaupt nicht. Seine Person gewann etwas geradezu verlockendes durch diese Verbindung von nachspürendem Interesse und abweisender Kälte, mit der er die Menschen in demselben Athemzuge zu Eröffnungen zu verleiten und wieder abzuweisen schien. Seine Bekannten liebten ihn nicht, und doch galt es als ein Vorzug, mit ihm in Verbindung zu stehen. Sein manchmal abstoßend kaltes Wesen beleidigte nicht mehr, weil Niemand sich die Wichtigkeit beimaß, Erwin habe die Absicht gehabt zu beleidigen. Zu viel Beispiele aufopfernder Menschenliebe waren bekannt von ihm, künstlich immer mit dem Gewebe des Geheimnisses übersponnen, (und zwar einem Schleier der nicht absichtlich dünn gewählt war um zur rechten Zeit voneinander zu reißen), als daß irgend Jemand den Muth gehabt hätte, ihn einen Egoisten zu nennen: den Vorwurf, den bedeutenden Naturen gegenüber zu erheben die Gesellschaft am

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begierigsten ist, um zu gelegener Stunde ausrufen zu dürfen: seht, er ist nicht besser als wir, die wir uns so gut kennen wenn wir von Freundschaft reden! Erwin hielt sich einsam; aber es behagte ihm Menschen zu sehen. Man freute sich, ihn aufsuchen zu dürfen und aus dem Gespräche stets eine werthvolle Ladung umsonst mit nach Hause zu nehmen. Ohne etwas zu bringen, ward man aufgenommen als käme man mit reichen Geschenken. Aus zufälligen Anfängen war so die Gewohnheit entstanden, daß einmal jede Woche die welche sich als Erwins nähere Bekannte betrachteten, bei ihm zusammenkamen. Es fehlte dieser Geselligkeit der Familienmittelpunkt, sie empfing etwas clubartiges so, Erwin aber verstand es, eine gewisse Haltung aufrecht zu halten, die den Abenden Reiz verlieh und sie zu dem gestalteten als was sie eine gewisse Berühmtheit erhielten. Im Frühjahr, nach Mrs. Forsters Abreise, hatte diese Geselligkeit tröstendes für Erwin gehabt. Die politischen Fragen drängten sich auf. Die Politik wirkt wie ein penetranter Parfüm, der einmal mit den Dingen in Berührung gebracht, jeden anderen feineren Dunst in ihnen übertäubt: Erwin gerade recht, um die Erinnerung an das Verlorene zurückzudrängen. So war der Sommer überstanden worden. Abgearbeitet und der Erfrischung bedürftig saß er an einem dieser Abende da, als einziger Gast heute nur der Privatdocent mit ihm; übrigens alle Welt verreist, Erwin selbst im Begriff, sich auf einige Wochen in die Schweiz davonzumachen. Der Doctor, am Flügel, ging phantasirend aus einem Stücke in das andere über. Erwin studirte die Abendzeitungen. Er hatte seine eigene Sorte liberaler Gesinnung und immer noch Glauben an den glücklichen Ausgang der Verwirrungen, aus denen beide Parteien keinen Ausweg mehr finden zu können schienen. Der Doctor dagegen, ein durchgearbeiteter Demokrat, sah eine Katastrophe voraus, wenn auch noch hinausgerückt, doch unausbleiblich näherkommend. Erwin aber stritt gern mit ihm, weil sie beide, bestrebt sich auf der Höhe gerechturtheilender Unabhängigkeit zu halten, allmählich dahin gelangten, sich immer stärkere Dinge gegenseitig, wie man sagt, an den Kopf zu werfen, ohne dadurch erregt zu werden. Mehr als einmal hatten sich diese Kämpfe um Arthur gedreht. Zeitungsblatt und Broschüre waren unter Kreuzband seiner Zeit bei Erwin angelangt. Alles hätte er eher erwartet als das. Zuweilen nahm er sie in die Hand, nur um den Titel noch einmal zu überlesen, und wenn er an die Worte kam: Mr. F. Arthur, so starrte er darauf hin, lächelte und schüttelte leise mit dem Kopfe. Kein Geologe würde heute ein Stück fossilen Menschenknochen sorgfältiger untersuchen, als Erwin mit diesem ersten geistigen Products seines Freundes that. Der Gedanke war ihm gekommen, ob er nicht, statt planlos die Schweiz zu durchstreifen, hinüberfahren sollte um sich New-Jork anzusehen. Vielleicht um dort zu bleiben? Menschen und Zustände gefielen ihm in Deutschland immer weniger. Ein Gefühl von Gedrücktheit hatte sich seiner bemächtigt, unter dem er Alle, mochten sie der einen oder andern Partei angehören, leiden sah. Er meinte, es sei doch wohl das Experiment werth, nachzusehen ob die Luft in Amerika sich freudiger einathmete. Arthurs Broschüre lag da. Erwin nahm sie zum hundertsten Male und las eine Seite darin. Es klang so einfach und vernünftig. Wer weiß, rief er, den Doctor unterbrechend, ob Arthur jetzt nicht drüben einem Meeting präsidirt und eben eine Rede hält, worin er die Welt neu construirt. Eine wunderliche Welt die das geben würde, wandte sich der Doctor zu ihm. Nein! mag Ihr Graf jetzt Meetings präsidiren: ein Weltbürger, der mit eigenen Augen sieht, wird er nie. Es muß immer einer da sein von dem er die Parole empfängt, ein Däumling der auf dem Rande seines Hutes spazieren geht und ihm heimlich Vernunft einflüstert. Und eines Tages fällt der kleine Bursche runter und der Riese steht rathlos da und ist was er zuvor gewesen. Erwin gerieth in Eifer. Ich kann nicht begreifen, wie Ihr Philosophen, die Ihr stets vom Werden sprecht, immer zugleich doch nur auf dem Vorhandenen fußt und das Werdende außer Acht laßt. Woher denn wißt Ihr was die morgende Sonne bescheinen wird? Kein Tag, der uns nicht um vierundzwanzig Stunden weiter brächte. Die Dinge

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sind in ewiger Aenderung begriffen, weshalb soll dies Gesetz aufhören plötzlich? weshalb denn dort, wo jeder Schritt dahin leitet, Arthur nicht zu dem sich gestalten dürfen, was Millionen Deutsche da schon geworden sind? Armselige Bauern, die sich zu unabhängigen Bürgern umbildeten in Amerika! Affen welche Menschen wurden, nach Darwin! warf der Doctor spöttisch ein. Die Natur macht keine Sprünge. Mehr und mehr, wo dergleichen sonst angenommen wurde, weist die Wissenschaft langsame, unmerkliche Uebergänge nach, bei denen sie mit Jahrtausenden rechnet. Jene Bauern bleiben auch auf amerikanischem Boden eben so dumpf als sie hingegangen sind. Ihre Nachkommen werden sich erheben. Möglich, daß Ihr Graf dort einen Aufschwung nimmt, daß er sich zu erträglicher Selbständigkeit durcharbeitet; aber ein fester Bürger, ein kaltblütiger Politiker, überhaupt: ein Mann? Reich mag er werden durch seine Frau, aber lassen Sie ihn zurückkommen, und, wenn er kann, wird er sicher eines Tages hier wiedererscheinen, was dann aber thun bei uns? Sich ein Palais bauen, Bediente mit Wappenknöpfen hinten auf den Wagen setzen und ein gnädiges Lächeln von hochgeborenen Lippen für süßer erachten als alle Bürgerkronen Amerika's. Erwin glaubte dem Doctor anzumerken, daß das zum Theil auf ihn selbst gemünzt sei und schwieg. Ehe ein Jahr vergeht, warf er hin, werden wir Krieg haben mit Oesterreich, und die Parteien finden dann besseres zu thun als sich gegenseitig zu verdächtigen. Wäre mir gerade recht, antwortete der Doctor. Wenigstens eine kleine Unterbrechung, bis dann freilich am Ende doch alles wieder stände wie vorher. Die Parteien, die wir haben, werden wir behalten einstweilen, mag Deutschland ein Ganzes bilden oder nicht. Ist auch kein Unglück. Hat es je freie Völker gegeben ohne Parteien? Ich aber halte es mit der, die die Männer hervorbringen wird, die uns endlich doch retten müssen wenn es drunter und drüber geht. Parteien, die Männer hervorbringen? sagte Erwin; mir sind Männer lieber, die Parteien hervorbringen. Wer denn soll uns retten, wenn es einmal zu retten gilt? Leute dann allein, die ihr aus Erhaltung des Vaterlandes gerichteter Instinct in die richtigen Bahnen weist, die keiner vorher gewußt hat, und sie selbst vielleicht am wenigsten. „Auf Erhaltung des Vaterlandes gerichteter Instinct" ist ein zu complicirter Begriff, den ich nicht für voll annehme, sagte der Doctor. Es sind ja lauter einfache Streitpunkte, die wir mit den Herren zu erledigen haben, und man weiß, daß, wenn man sie von Vaterland und Interessen des Vaterlandes reden hört, Jeder doch nur seinen Edelhof meint, und was er ihm einbringt. Es scheint doch sehr natürlich, sagte Erwin, daß wenn Jemand lange Zeit an demselben Flecke ansässig war, er diese Stelle für das nimmt wovon er ausgeht wenn er Vaterland sagt, so gut wie man von den Engländern behauptet, Jeder fasse die große weite Welt nur als ringsum angehängten Ansatz an seine Grafschaft, diese selbst aber als die wahre Mitte der Erde. Wo war Ihre Familie ansässig? fragte der Privatdocent, nachdem er eine Weile in die Luft gesehen und seine Augen dann mit einer Unbefangenheit auf Erwin lenkte, die den etwas spöttischen Accent seiner Sprache erhöhte. Es gehörte zu seinen Lieblingswendungen, den Gegner unversehens durch solche Bemerkungen aus dem Sattel zu heben. So ganz nebenbei anzudeuten, daß man gar nicht in der Lage sei, überhaupt ein Urtheil abzugeben. Diesmal aber lag etwas in seiner Methode, das Erwin reizte. Und deshalb, genau in dem gleichen Tone redend, gab er als Erwiederung die Frage zurück: Und wo die Ihrige denn? Ich meine, Sie wüßten daß mein Vater ein kleiner Handwerker war, bei dem es wenig darauf ankommt, wo er seinen Kram offen hielt, antwortete der Doctor leichthin, dennoch mit merklicher Schärfe. Der meinige, wußten Sie ja auch wohl, war Gutsbesitzer, erwiederte Erwin, worauf er Stand, innegehabte Ehrenämter, Orden und Besitzungen seines Vaters und die in sehr vornehme Verwandtschaft hineinreichende Familie seiner Mutter, aufzählend hinzufügte. Was aber, fuhr er dann fort, die Blicke des Doctors auffangend, der ihn

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starr ansah, ist mir übrig geblieben davon? Das wissen Sie gleichfalls so gut wie ich. Wenn Sie also, um mich zu wiederlegen, immer wieder von meinen Gütern reden, so würde ich mit demselben Rechte von der Werkstätte Ihres Vaters anfangen müssen, in der Sie doch so wenig den Grund zu Ihrer jetzigen Gelehrsamkeit gelegt haben, als ich auf unseren ehemaligen Gütern meine ersten medicinischen Collegia hörte. Heute sind Sie kein Handwerker, und ich bin kein Graf und Grundbesitzer. Beide sind wir nur das was wir sind, nichts mehr und nichts weniger, und dabei sollten wir es bewenden lassen. Er reichte nach dieser Rede dem Doctor die Hand, die dieser drückte, sich schweigend darauf eine Cigarre anzündete und mit einem freundlichen Gute Nacht! fortging. Es wird auf die Länge unerträglich, dachte ihm Erwin nach, regelmäßig von Zeit zu Zeit eine solche Scene spielen zu müssen, damit die Leute vernünftig bleiben. Und was ist es? philosophirte er weiter. Daß mein Vater ein Graf war? nein, daß seiner ein Handwerker war: das kann er nicht vergessen, während es mir, wenn ich mit ihm zusammen bin, so gut wie niemals in den Sinn kommt. Ich denke gar nicht daran. Er nahm eine Handvoll medicinischer Zeitschriften und begann sie zu durchblättern. Aber die Richtung war einmal eingeschlagen. Er kam wieder auf Arthur, auf den Doctor, auf die Politik. Es stellte sich ihm deutlich vor, wieviel den Deutschen noch fehlte, um dieses Element des modernen Lebens vernünftig zu behandeln. Den Doctor, eine ruhige, auf gewissenhaft abwägende ideale Arbeit angewiesene Natur, sah er leidenschaftlich und ungerecht werden sobald diese Dinge berührt wurden; sich selbst aber mußte er den Vorwurf machen, bei solchen Disputen oft in Anschauungen festzurennen, die er, mit sich allein und ohne den Zwang, darüber sprechen zu müssen, als zweifelhaft und ungewiß lieber bei Seite geschoben hätte. Er philosophirte darüber, ob nicht der deutsche Charakter unter dem neuen Einflüsse dieser auf öffentliches Leben dringenden Gewalt sich ändern müsse, ob die Einseitigkeit die den Franzosen und Engländern als historisch gewordener Fehler nun schon angeboren war, auch dem Deutschen zu Theil werden müsse, da ohne ihn ein politisches Leben kaum denkbar sei. Er erwog sein eigenes Gefühl und mußte bekennen, daß ihm, so sehr er sich von seinem alten Stande losgemacht, dennoch Anschauungen wie im Blute lägen, die er abzustoßen nicht im Stande sei. Er fragte sich nun selbst, ob Arthur das in Amerika gelingen werde, und ob er allen Ernstes nicht am besten thue ihm dahin nachzufolgen. Es überkam ihn das Gefühl, daß das Leben anfange unerträglich zu werden in Deutschland, und es standen ihm die Ursachen vor Augen, warum. Es wird eine Zeit kommen, sagte er sich, wo man was uns heute fehlt, in eine nationalökonomisch-mathematische Formel fassen wird. Unser geistiges Leben ist unorganisch. Niemand findet den legitimen Ausdruck sich dem Publikum mitzutheilen, und jeder sehnt doch sich danach. Kein Amt, kein Stand stellt den Einzelnen der Gesammtheit in recht ausgiebiger Wirksamkeit klar gegenüber. Keiner versteht die Oeffentlichkeit sicher zu handhaben, ohne die wir nun einmal nicht leben können. Es ist als müsse ein neues gesellschaftliches Gefüge, neue Formen für den geistigen Verkehr, eine ganz neue Sprache erfunden werden; man schämt sich die alten abgenutzten Phrasen zu wiederholen und kann doch nicht ohne sie auskommen. Wir sind Flußfische, die Meerfische geworden sind. Früher kannten wir nur zwei Richtungen: mit dem Strom oder gegen den Strom; jetzt plötzlich fühlen wir gar keinen Strom mehr, und nach allen Seiten eine uferlose Weite. Wir möchten nicht zurück und wissen uns doch nicht zu benehmen in dem neuen Elemente. Er war im Begriff weiter zu behaupten: am besten sei, wenn ein großer Krieg käme und die Menschen auf das Natürliche zurückwiese, worauf es schließlich doch ankomme, und nachzurechnen, worin dies Natürliche, das bei langen Friedenszeiten aus dem moralischen Verkehr verschwinde gleichsam, denn eigentlich bestehe — als die Thür aufging, eine Gestalt eintrat, einige Schritte that auf ihn zu und dann wieder stehen blieb. Das Zimmer war sehr geräumig und die Thür lag am andern Ende, so daß der Eintretende, der obendrein den breitkrämpigen Filzhut auf dem Kopfe behielt, nur in allgemeinen Umrissen sich darbot. Erwin legte die Blätter nieder und sah hin, ohne zu erkennen

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wer es sei. Was wünschen Sie? fragte er. Es kam zuweilen vor bei ihm, das Patienten in seltsamer Weise eindrangen. Arthur hatte sich verändert; die doppelte Krankheit, die verzehrende geistige Arbeit seine Züge schärfer gemacht, die Seeluft ihn gebräunt, der Bart den er lang stehen ließ, verhüllte den unteren Theil des Gesichtes. Etwas Fremdes hatte er angenommen, das sich bis in die Kleidung äußerte. Erwin hob die Lampe auf und leuchtete auf ihn zu. Arthur? rief er und so sehr drang seines Freundes Schicksal jetzt aus dessen Blicken ihm entgegen, daß er, als er zum zweitenmal den Namen aussprach, ein "Um Gotteswillen!" dazu setzte. Ja, ich bin es, sagte Arthur. Woher? — Bester Freund? Ja, woher wohl, Erwin? Seit wann wieder da? Arthur sah auf die Uhr. Seit einer Stunde fünfunddreißig Minuten, sagte er und lachte, vielmehr versuchte zu lachen. Und kommst? Von New-Jork. Erwin hatte keinen Muth, mehr zu fragen; Arthur setzte sich und schwieg. Ob er essen wolle. Er schüttelte mit dem Kopfe. Wo er abgestiegen sei? Er zuckte mit den Achseln. Ob er bei ihm wohnen wolle? Er wiederholte die Bewegung. Erwin ging, die nöthigen Anweisungen zu geben. Er ging selbst statt Jemand hereinzurufen, weil er sich fassen mußte. Gleichgültige Dinge wurden einsylbig in Frage und Antwort diesen Abend noch erörtert. Erwin lag die halbe Nacht, um zu bedenken was geschehen sein könne, und, da dies im Großen wenigstens klar war, was für die Zukunft zu beginnen sei.

Dreißigstes Capitel. Erwin überredete Arthur leicht mit ihm in die Schweiz zu gehen. Am nächsten Tage reisten sie ab, durcheilten Deutschland ohne Halt zu machen, und suchten so rasch als möglich einen der abgelegneren Cantons zu erreichen, wo sie sich dann in die Felsen und Gletscher vertieften. Sie sprachen wenig zusammen. Erwin hatte sich vorgenommen, Arthur durchaus gewähren zu lassen, zu seinem immer neu erwachenden Erstaunen bemerkte er jedoch, wenn er ihn im Verkehr mit Anderen beobachtete, die Veränderung seines Wesens. Es ist unmöglich in der Schweiz nicht fortwährend Menschen zu begegnen, und zwar auf den einsamsten schwierigsten Pfaden oft am zahlreichsten. Man entdeckt ein elendes räucheriges Häuschen, in einer Stille und Abgelegenheit, als sei man seit Jahren der Erste der hier einkehrte, man redet ein vor der Thür hockendes eingeschrumpftes altes Wesen an und fragt nach Wein oder Milch, man verwundert sich nicht, weder verstanden zu werden, noch zu verstehen, und tritt endlich ein: da finden sich ein paar Damen in Crinolinen, nebst ein paar Herren in Bergkamaschen, und kaum hat man sich gesetzt und sieht durch die Fensterscheiben über das fette Gras den Abhang hinunter, so kommt um die Ecke ein Maulthier mit einer Dame darauf, und noch eins, und Tragstühle und Pferde und noch kein Ende. Fiel es Erwin hier nun auf, mit welcher Freundlichkeit Arthur, kam es bei solchen Gelegenheiten zu Gesprächen, mit den Fremden umging; so erstaunte ihn noch mehr seines Freundes Benehmen, wenn sie auf Dampfschiffen eine Strecke zu fahren hatten. Arthur mischte sich da unter die Fahrgäste des zweiten Platzes, fragte nach praktischen Dingen und erzählte lebhaft und anschaulich aus Deutschland und Amerika. Erwin saß dabei, die Hände über dem Stockknopf und das Kinn darauf, hörte zu, warf selten ein Wort ein und dachte mehr als einmal an den Affen des Doctors, der zum Menschen geworden war.

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Sie saßen eines Tages am Ufer des Vierwaldstädtersee's, vor einem der vielen Etablissements die ihn rings umgeben. Ein Kahn mit Menschen stieß an, es wurde englisch gesprochen von jungen Mädchen und Kindern, schlanker, kräftiger Aufwuchs, der sich in ihrer Nähe niederließ und lustig zu plaudern fortfuhr. Arthurs Stirn überflog ein Schatten; Plötzlich stand er auf und ging fort. Erwin folgte ihm nach einer Weile und fand ihn weiterhin am Ufer sitzend, aus einem Felsstücke, deren frischabgesprengt mit glänzenden Bruchflächen eine Masse dalagen. Laß mich allein, bitte, sagte Arthur, als er zu ihm trat. Erwin beobachtete ihn aus der Ferne. Er saß da, den Kopf in die Hand gestützt, wohl eine Stunde lang. Abends noch fuhren sie weiter mit dem Dampfschiffe. Arthur war zu dem Entschlusse gekommen, Niemandem in Europa von dem zu reden was er in Amerika über seine Abkunft zur Entdeckung kam, und hatte, da sich das eine ohne das andere nicht erzählen ließ, Erwin überhaupt von nichts gesprochen. Eins der blonden Kinder aber, die sie angetroffen, erinnerte zu lebhaft an Emmy. Unerträglich war ihm sie nicht nennen zu dürfen, er wußte daß es ihn beruhigen würde, und so begann er Erwin jetzt zu berichten. Sie waren fast allein, es befanden sich wenig Leute auf dem Schiffe. Ein wunderbares Anhören für Erwin. Neben ihm klang die Stimme seines Freundes wie die eines Schatten, denn es war finster geworden. Unerwartete Dinge erzählte er. Vom ersten Abend beginnend, ließ er seine amerikanischen Erlebnisse an ihm vorbeiziehen und schloß mit der Abfahrt von New-Jork. In seine letzten Worte tönte das durchdringende Geläute hinein, das die Ankunft des Bootes meldete. Schweigend stiegen sie aus und schritten durch die sich auf den Straßen drängenden Menschen auf den Gasthof zu. Sie erhielten ein angenehmes Zimmer mit der Aussicht auf den See. Der Mond ging auf und warf eine silberne Straße quer hinüber zum Gebirge. Der Umstand mit dem Bilde trifft zu, sagte Erwin. Ich erinnere mich dieses Mr. Smith noch sehr wohl. Hätte er mir nicht so gut gefallen, so würde ich ihm das Bild nicht überlassen haben. Was Dich anlangt jedoch, so liegt in diesen wunderlichen Verwickelungen nichts das Dich erschüttern sollte. Du bist, mag Dein Vater gewesen sein was er will, in der Ehe geboren. Du trägst Deinen Namen deshalb mit vollem Rechte. Dein bisheriger Vater hat Dich stets als seinen Sohn anerkannt. Hättest Du nun Brüder vielleicht, oder irgend Jemand den Du durch die Führung dieses Namens um Ehre oder Vermögen beraubtest, so ließe sich darüber etwa Nachdenken ob Du Deine Scrupel wolltest offenbar werden lassen, allein ich glaube selbst dann nicht, daß sie genügten um zu irgend einem Schritte festen Anhalt zu geben. Du bist der letzte Deiner Familie. Wolltest Du Deinen Namen öffentlich ablegen, so hätte das gar keinen Sinn. Ja, wären Vortheite damit verknüpft daß Du ihn besitzest! Auch Emmy, scheint mir, wird auf dergleichen nicht den geringsten Werth legen, denn was könnte ihr daran gelegen sein, einen ächten Grafen Deines Namens zum Manne zu haben? Mit einem Worte, ich begreife Dich nicht! Erwin sprach mit der kalten Sicherheit, die so oft zweifelnde Gedanken bei Arthur niedergeschlagen hatte. Ruhig ließ dieser ihn ausreden und sah ihm fest in die Augen dabei. Wie wäre es möglich gewesen, mich so zu fassen im Augenblicke der Entdeckung? sagte er dann. Fühle meine Lage. Wenn auch noch jung: all meine Gedanken doch von Anfang an in diese Richtung gebracht! An diese einzige Gangart gewöhnt. Mein Stolz, den Namen zu tragen! Ihm mich zum Opfer gebracht zu haben! Was bleibt denn, wenn dies um nichts und wieder nichts geschah? Was war ich? Ein beliebiger namenloser Mensch, dem dunklen Nichts entsprossen, ohne Kenntnisse und geschulte Energie für ein neues Leben. Ohne den thatkräftigen Drang, mich zu Anderm zu erziehen. Und mit der Erinnerung behaftet an diesen furchtbaren Verlust all meiner Vergangenheit! Was ist der Mensch anders als ein Geschöpf seiner Erlebnisse, ein Sklave in ihm zu Fleisch gewordener Schicksale, die einmal seine Schicksale sind? Ich hatte angefangen mich in Amerika einzuleben. Ich ließ es mir gefallen, dort um Emmy's willen mich den Andern gleich zu fühlen. Im Momente jener furchtbaren Entdeckung wußte ich, daß alles doch nur leere Theaterspielerei gewesen.

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Und ich hatte geglaubt, sagte Erwin nach einer Weite, Du seiest glücklicher als vorher. Ich sah wohl, daß Du Emmy verloren hattest, aber Dein Wesen schien mir vorteilhaft verändert. Hielt ich auch den Verlust, den ich mehr ahnte als kannte, für groß, so kam mir der Gewinn, den ich deutlich sah, größer vor, und ich erwartete ohne Unruhe den Tag wo Du mir von Dir erzählen würdest. Arthur legte ihm die Hand auf die Schulter und zögerte ein wenig ehe er antwortete. Es steht auch anders heute mit mir, sagte er. Erinnerst Du Dich an das Märchen von dem Königssohne der von der Schlange gegessen hatte? Er verstand plötzlich was die Spatzen und Tauben auf dem Dache und die Hühner und Enten im Hofe verhandelten. So war mir zu Muthe. Ich hatte bis dahin wie von den Zinnen einer unersteigbaren Burg herab den Menschen auf die Köpfe gesehen. Mochte drunten passiren was da wollte, ich stand sicher, und die Meinungen der Welt tönten nur wie ein gleichgültiges Gemurmel zu mir auf, dem ich lauschen könnte oder auch nicht. Jetzt aber stand ich unten, mitten darin wie ihrer einer. Um nichts besser oder schlechter. Ich ging auf dem gedrängten Verdeck des Schiffes umher: alle meinesgleichen die da standen, saßen, gingen und schwatzten! Ich hörte ein paar Herren neben mir sich streiten, zwei Gelehrte die einen Sommer dazu angewandt, in Amerika ein naturwissenschaftliches Problem persönlich zu beobachten, ich weiß nicht welches. Sie sprachen darüber, von Büchern, von der Universität der sie angehörten, ich saß dabei und horchte, mir war als ginge mich das an wie sie, ich horchte nach allen Seiten: überall Verhältnisse, Verbindungen, menschliche, lebendige Interessen, und ich nicht mehr so verlassen und einsam. Da saß ein Italiener, ein römischer Priester, schlank, feurig, dunkeläugig, leidenschaftlich, und besprach mit einem zweiten, der sich immer neben ihm hielt, kirchliche Verhältnisse. Sie waren drüben gewesen in einer Mission an amerikanische Bischöfe. Da Irländer, sprechend von Waffen und Geld und der Niederträchtigkeit Englands. Da Amerikaner die nach Spanien wollten, wo ihr Geschäft eine Filiale in Cadix besaß. Da Franzosen die aus Mexiko zurückkehrten und von Kämpfen mit Guerilla's in den Urwäldern sich unterhielten als blicke die Welt auf sie. Ich schlich mich an sie heran und horchte. Alle hatten sie zu thun, Verhältnisse an denen ihr Herz hing, Freunde die sie verlassen hatten oder zu finden hofften, Aussichten auf die Zukunft. Nur ich, was besaß ich? Ankommen sah ich mich in Hamburg, die Eisenbahn mich fortreißen, Berlin näher und näher rücken, da die Stelle wieder wo ich gestanden als ich Dich mit Emmy und ihrer Mutter herankommen sah, zitternd in meinem Versteck wie ein Jäger der das Wild erwartet; und nun in die Straßen hinein; und nun in mein einsames Zimmer, ich sah es vor mir: das all meine Zukunft, alles was ich hatte und was mir bevorstand! Weniger als nichts. Eine unbeschreibliche Sehnsucht ergriff mich, Theil zu haben an irgend etwas Lebendigem, mich nothwendig zu fühlen wo es auch sei. Ein jämmerliches Gefühl meiner Ueberflüssigkeit und ein Drang zugleich, als müsse es auf der Stelle sein, ihr ein Ende zu machen, ein Echo meiner selbst aus der Menschheit heraus zu mir zurückkehrend zu vernehmen. Und wirklich, aus dieser Verzweiflung klang eine Stimme die mir zurief, der Anfang sei gemacht. Von Ketten fühlte ich mich frei, die ich jetzt erst als Ketten erkannte. Ich faßte den Entschluß, zu leben, zu wirken, mich unentbehrlich zu machen. Und zum ersten Male, da erst als das mir aufging, ward es mir möglich zu denken, daß Emmy nicht ganz für mich verloren sei. Mich überkam es, als müßte ich zu ihr, müßte in das Steuerruder greifen um mit einem Ruck das Schiff, wie es da fortflog, zu wenden, und zurückzufahren nach Amerika. Ich wollte wieder dahin. Ich will wieder dahin! Das ist mein Gedanke. Jetzt aber fühle ich, ich darf nicht eher gehen als bis ich vor sie treten kann und sagen: das war ich und das bin ich! entscheide, ob ich den Muth haben durfte dir wieder zu begegnen? Erwin hörte ihn an. Es durfte ihm nicht mehr in den Sinn kommen, dem Gedankengange entgegenzutreten in Arthur, den er als so gewaltig wirkend und fruchtbar erkannte. Denn ganz kaltblütig erwogen, schien es ihm durchaus nicht über alle Zweifel erhaben, Arthur sei des verstorbenen Grafen Sohn nicht, sondern der Abkömmling jenes Unbekannten, von dem Niemand wußte wohin er verschwunden

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war. Erwin ließ das gern auf sich beruhen. Er sah ein heilsames Schicksal thätig in dieser Wendung der Dinge. Er bestärkte Arthur nicht in seinen Ideen, aber er bekämpfte sie auch nicht. Zuviel Wunderbares hatte er erlebt mit ihm. Stillschweigend zu erwarten was sich entwickeln würde, schien ihm die einzige Rolle die ihm von nun an zukäme. Arthur aber begehrte gar nicht seine Meinung zu hören. Einmal dahin gebracht, sich auszusprechen, fand er nun kein Ende seiner Mittheilungen. Der ungeheure Athemzug freier Luft den er gethan, schien Folgen zu haben, von denen sich Erwin in der Stille gestand, sie bildeten ein weltgeschichtliches Phänomen wie er es nie für möglich gehalten. Im besten Sinne war Arthur als ein Fremder zurückgekehrt; begierig, auf Schritt und Tritt im eigenen Vaterlande Neues aufzusaugen. Sein Streben jetzt: den Zuständen Deutschlands gegenüber sich zu der unabhängigen Anschauung herauszuarbeiten, in der er Smith denen Amerika's gegenüber so frei und schön erblickt hatte. Smith, der Gentleman, war sein Ideal. Immer wieder kam er auf diesen zurück. Verschwunden sein ehemaliges träumerisches Verhalten zum wirklichen Leben: eingreifen wollte er, heute lieber als morgen. Erwin bewunderte die Treue seines Gedächtnisses und den Reiz seiner Sprache. Ein geübter Schriftsteller hätte die Dinge nicht effectvoller mitzutheilen verstanden. Seine Erzählung von der Volksversammlung, von dem Ritte im Walde, dem Treiben in New-Jork waren Meisterstücke. Keinen Blick hatte er umsonst dort gethan, jeden Charakter mit dem er zusammengetroffen, jedes Verhältniß in das er hineingesehen, jeden Strauch und Baum in Smiths Garten wußte er zu beschreiben, das Gehen und Kommen dort im Hause mit handgreiflicher Lebendigkeit zu schildern, seine eigenen Gedanken vom ersten Schauder des Eintritts in die fremde Welt bis zum völligen Eingewöhnen darzulegen, daß Erwin den Umschwung an sich selbst zu erleben glaubte. Mit solcher Frische erzählte Arthur, so sehr wußte er das Gefühl der Freudigkeit, das ihn trotz aller Trübsal, wie er sich nun klar machte, in Amerika beherrscht hatte, als verlockenden Firniß über seine Erzählungen zu verbreiten, daß er in Erwin etwas wie Sehnsucht dahin erregte, und dies um so sicherer als es gewiß nicht in seiner Absicht lag. Mit Erwin nach Berlin zurückkehrend, wollte er dort jetzt arbeiten, studiren, vernünftig sein im Sinne des gewöhnlichen Lebens, und schien so sicher, es werde dies Bestreben zum erwünschten Ziele führen, daß Erwin, eine doch so nüchterne Natur, sich allmählig zum Glauben herbeiließ, es müsse so kommen wie Arthur hoffte und voraussetzte. Von neuem dann sah Erwin sich überrascht als er nach der Rückkehr in die Stadt nicht ohne Aengstlichkeit abwartend was sein Freund begönne, diesen nach den ersten Ausgängen mit Paqueten amerikanischer Journale und Bücher erscheinen sah, in die er sich vertiefte. Weiter bemerkte er, wie Arthur zu schreiben begann, lange Bogen die er korrigirte und mehr als einmal abschrieb; wie Briefe an ihn kamen, Paquete abgingen, Postsendungen anlangten, alles ohne daß ein Wort darüber zwischen ihnen gewechselt wurde. Eines Abends fand Erwin eine Anzahl Nummern einer periodischen Zeitschrift auf seinem Tische, überflog die Inhaltsanzeige, blieb an einem Titel hängen welcher verrieth was die Hefte zu sagen hätten, riß mit dem Finger die Bogen auf, und las, erst stehend; dann sich über den Tisch lehnend, Seite auf Seite; und dann, das Heft zuschlagend, aber in der Hand behaltend als bedürfte es dessen um sich des Faktums recht bewußt zu sein, lehnte er sich zurück und sah die Wände an ringsum. Jetzt hätte mir ein Mensch sagen sollen, rief er aus, dieses vor einem Jahre am Rande der Verrücktheit stehende armselige Stück Menschheit, wie ein Gefangener umbaut von Vorurtheilen, werde mir zwölf Monate später einen Aufsatz über amerikanische Zustände, selbst erlebt, selbst geschrieben selbst bei einem Journale angebracht, auf den Tisch legen! Und wir mit unserer Weisheit wollen der Natur die Möglichkeit absprechen, meinetwegen Schildkröten, in Menschen zu verwandeln, wenn sie den Willen dazu hat! Meine Vormundschaft wird bald ein Ende haben, philosophirte er weiter. Er hatte Arthur seinen Bekannten vorgestellt, die zahlreich wieder bei ihm zusammen kamen, und mit

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Genugthuung beobachtet wie er mit einer Mischung von Würde und Bescheidenheit aufzutreten wußte, die auch nach dieser Richtung den Wechsel seines Wesens bekundete. Der Privatdocent war der erste der sich mit offener Zurücknahme seines früheren Urtheils darüber aussprach. Mit keinem unterhielt sich der Doctor jetzt lieber als mit Arthur. Man nahm den Grafen in diesem Kreise als einen vornehmen jungen Mann, der die Welt gesehen hat, die Menschen kennt, und den Moment erwartet, mit seinen eigentlichen Lebensabsichten hervorzutreten. Daß er einstweilen zurückhielt, zeigte nur daß er die Stelle noch nicht leer sah die ihm konvenirte. Sein Wesen empfing so einen Zusatz von Geheimniß. Geistreiche junge Männer von gutem Namen und Erziehung, denen man ehrgeizige Pläne zutraut, sind, neben schönen jungen Mädchen, das anreizendste was der Verkehr des Lebens darzubieten vermag. Dies also, und dazu jetzt eine schriftstellerische Leistung, die mehr als gewöhnliches Talent bekundete. Warum, wenn diese unerwartete Entwicklung anhielt und weitere Früchte trug, nicht die Erwartung hegen dürfen, es werde doch der Mann schließlich aus Arthur hervorgehen, der thätig und bedeutend in's öffentliche Leben eingriff? Arthur trat zufällig ein, erblickte das Heft in der Hand seines Freundes und stand mit bescheiden fragendem Blicke vor ihm. Ist es lesbar? fragte er. Lieber Arthur, antwortete Erwin, Du mußt mir Eins verzeihen —: daß ich Dir das niemals zugetraut hätte! Und ferner: wer außer Dir diese Dinge so zutreffend hatte sagen können, weiß ich nicht. Aber Du mußt selbst fühlen daß es gut ist. Ich hoffte manchmal, es würde Deinen Beifall haben, sagte Arthur und glühte vor Freude. Aber, fuhr er fort, kühner gemacht durch Erwin's Anerkennung, man müßte es öffentlich vorlesen! Es durchzuckte ihn eine Nachempfindung des Gefühls, mit dem er in New-Jork auf der Tribüne gestanden, als die tausend Gesichter ihm zugewandt seine Worte erwarteten und der Beifall ihn unterbrach. Es war das doch anders, als in der Stille schreiben und drucken lassen und dann gelegentlich nur aus der Ferne ein Urtheil hören. Es steckt ein Abgeordneter in Dir, scherzte Erwin. Einstweilen mußt Du Dir freilich an der dringenden Bitte um Fortsetzung von Seiten der Redaktion genügen lassen. Was in mir steckt, weiß ich nicht, antwortete Arthur gedankenvoll, aber das weiß ich: wenn ich hoffen dürfte Emmy jemals wiederzugewinnen: ich kenne nichts das zu vollbringen ich mich jetzt nicht stark genug fühlte. Erwin antwortete nichts darauf. Sein fester Entschluß war, hier, wo durch sein Eingreifen schon soviel verschuldet worden war, mit keinem Worte in die eigene Arbeit der waltenden Natur einzugreifen.

Einundreißigstes Capitel. So ging der Winter hin. Jeder von beiden Freunden in fester Thätigkeit und in angenehmer Verbindung mit dem allgemeinen Leben. Erwin wußte es dahin zu bringen, daß Arthur bei ihm wohnte; die große Etage, welche er inne hatte, bot hinlänglichen Raum dafür. Ein geräumiges in den Garten führendes Balkonzimmer, hinten hinaus, war wie gemacht für Arthur. Er konnte da so still Nachdenken, lesen und schreiben wie nur jemals bei Mr. Smith. Die Fortsetzung der Aufsätze über Amerika wurde da verfaßt, zu Erwin's wachsender Zufriedenheit, dem sie Arthur nun im Manuscripte vorlas. Doch nicht an das allein wurde gedacht in dieser Stille. Arthur hatte aus der eigenen Wohnung das große Bild seiner Mutter hinübergenommen. Wenn er sich vor ihm in Gedanken verlor, konnte er dahin kommen, zu glauben, es müsse die Lippen aufthun endlich und erzählen von jenem Manne und jener Nacht. Es standen aus dem Nachlasse seines Vaters einige Koffer mit Papieren da, unangerührt bis jetzt. Der Gedanke kam Arthur, sie durchzusehen, ob sich nichts fände

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das diese Verhältnisse berührte. Auf einem großen Tische legte er einen Theil der Paquete, welche die Kiste enthielt, auseinander. Erwin war dagegen; er sagte: Laß doch diese alten Geschichten in Ruhe, die Dir die kostbare Zeit wegnehmen. Sei zufrieden, daß Du bist wie Du bist, und bleibe auf sich beruhen was so fest aufeinandergepackt liegt. Spare das auf für Zeiten der Muße, die nicht ausbleiben werden, halte Dich an das Nothwendige. Arthur hatte die Kisten dennoch angebrochen. Diese Vergangenheit, über die sein Freund so leicht hinwegging, ließ ihm keine Ruhe. Seine Phantasie malte weiter an dem Bilde des Mannes, für dessen Sohn er sich hielt, und war es ihm einmal gelungen sich solcher Gedanken zu entschlagen, um so lebendiger tauchten sie doch wieder auf. Was er vorfand, befriedigte seine Neugier indessen nicht, und bald gewöhnte er sich daran, einen Blick auf die Blätter zu werfen und sie zerrissen bei Seite zu thun. Das Bild das er bei dieser Lektüre von seinem bisherigen Vater gewann, erregte keine Trauer um dessen Verlust. Seine Briefe enthielten vieles das besser längst vernichtet worden wäre. Arthur lernte kennen, wie viel der Mann durchgemacht ehe er sich verheirathete. Eins zog sich durch all diese Angelegenheiten hin: ein ununterbrochenes im Auge Halten der Standesinteressen, und nie ein Funken Gefühl für die des Volkes sobald sie nicht damit zusammenfielen. Von Vaterland war oft die Rede; er wollte ihm dienen! — hätte man , aber chemisch zerlegen wollen was in diesem Begriffe für ihn lag, so war es: Anhänglichkeit an den Fürsten, weil er die Vorrechte des Adels beschützte, und Absicht, unter allen Umständen in der Karriere vorwärtszukommen. Nur einmal, in früheren Jahren, wo er die Freiheitskriege mitgemacht, schien eine höhere Begeisterung ihn erfaßt zu haben, gleich darauf aber in den Staatsdienst eintretend, schlug er sich zu denen welche energisch jeder Umgestaltung des Volkslebens im nationalen Sinne widerstrebten, und offenbarte wo es sich um Bestrafung politischer Vergehen handelte, eine Härte, die manches jungen Mannes Schicksale verderblich wurde. Arthur, dessen Gefühle sich von der Erscheinung des Grafen, der ihm in befremdender Neuheit so entgegentrat, gänzlich losgelöst hatten, betrachtete ihn mit Kälte. Sein Verhalten ihm selbst gegenüber begriff er nun durchaus. Offenbar hatte der Graf gewußt, woher Arthur stammte, und es, wenn auch nicht auf seinen Ruin angelegt, so doch unbekümmert dem Zufall überlassen, ob nach seinem Tode noch Vermögen vorhanden sein werde oder nicht. Es waren ohne Rechnungsablage Gelder eingenommen und ausgegeben, Gelder aufgenommen, Gelder wieder verliehen worden. Die Summen immer bedeutender, die zum besten von Partei-Interessen dahin und dorthin fließen. Dem Banquerote nahe Existenzen werden daraus hin gerettet, Bitten in diesem Sinne selten abgeschlagen, buchhändlerische, national-ökonomische, literarische Zwecke reichlich unterstützt, Schulden und Pachtgelder nachgesehen, Geschenke vertheilt. Das Bedürfniß, sich Menschen zu verpflichten, zu glänzen vor der Welt, zu imponiren sogar als guter Geschäftsmann, scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen. Die Beweise dafür lagen, documentirt durch Papiere jeder Art, Arthurs Augen offen. Der Graf schien gelegentlich was sich auf seinem Schreibtische angesammelt, im Ganzen bei Seite gepackt zu haben. Wäre er nicht zu rechter Zeit gestorben, so würde er den Einbruch seines Vermögens bei dieser Wirthschaft selbst erlebt haben. Ob er das geahnt, war Arthur nicht im Stande sich klar zu machen. Jedenfalls mußte er sich sagen, daß es der Graf wenigstens so lange er lebte an gutmüthiger Sorgfalt für ihn niemals hatte fehlen lassen, und daß das Geheimniß seiner Geburt durchaus bewahrt worden war. Doch davon Nichts zu verrathen, lag am Ende im Interesse des Mannes selbst, der, wäre der Welt dergleichen zu Ohren gekommen, seine eigene Ehre zugleich vernichtet hätte. Nachdem Arthur sich eine Reihe von Tagen mit diesen Dingen beschäftigt, die ihm zum Ueberdruß werden mußten, weil der Graf bei all dem was ihn in manchem als eine besondere Natur erscheinen ließ, dennoch in seinen Gedanken, ja selbst in seiner Handschrift, durchaus nichts Individuelles, das menschliche Interesse herausfordernde hatte, that er einen Fund dessen Anblick sein Herz beengte: ein wahres Archiv von

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Papieren, zusammengebunden in ein paar rothen Seidentüchern die die Anfangsbuchstaben des Namens seiner Mutter trugen, auf dem Boden einer Kiste. Nach dem Tode seiner Frau mußte der Graf den Inhalt ihres Schreibtisches sich so aus den Augen geschafft haben. Mit zitternder Hand legte Arthur diese Blätter auseinander: Briefe, Tagebücher, Zeichnungen, gelesene Bücher sogar, Rechnungen, Einladungen, unbenutzte glänzende Concertbillets mit Tagen darauf deren Niemand sich mehr erinnerte, Couverts und gepreßtes Briefpapier, ein paar Handschuhe sogar von dänischem Leder. All das lag vor ihm und athmete den dumpfigen Geruch langeingeschlossenen Papiers aus. Ihm däuchte, er habe ein Grab erbrochen. Die Lektüre dieser Blätter ließ einige Bestandtheile dessen was Emmy zusammenhängend von ihrer Mutter gehört, zusammenhangslos erstehen vor Arthur. Wie ungewiß und anders aber. Während für manche Momente eine Ueberfülle sich darbot, so daß er Minute auf Minute erfuhr was geschehen, gedacht, gefühlt worden war, fehlte für Jahre jede Andeutung. Nirgends zudem zeigte sich die innere Verbindung des Geschehenen. Die Daten fehlten. Unklar deshalb die Reihenfolge der Ereignisse. Lauter scharfgezeichnete Theile eines Bildes, aber keine Möglichkeit, die ursprüngliche Komposition zu reconstruiren. Der Name des Mannes fand sich nirgends, während von ihm gesprochen wurde manchmal, als sei er eben gegangen. Ein peinlich trauervolles Geschäft, diese Denkmale längst ausgelöschter Leiden und Leidenschaften hinundherzuwerfen, um endlich, da das wirkliche Bild sich nicht gestalten wollte, das vor Augen zu haben, welches unwillkürliche Phantasie daraus gestaltete. Einige Punkte dieses Romanes aber mußten ja unter allen Umständen zutreffen. Als Gewißheit schien sich zu ergeben, daß seine Mutter einem anderen Manne angehört. Vor ihrem Bilde sitzend las Arthur das darauf bezügliche und sah empor zuweilen, als müssen seine Blicke die leblose Leinwand zwingen, ein Zeichen zu geben. Wer war es, den sie umarmt, diese Arme, so jugendlich schön gerundet? Wer, an den sie gedacht, als der Maler dies seltsame Lächeln auffing? Wer, der verstohlen vorher oder nachher diese Lippen geküßt? Es schauderte Arthur, daß er so von seiner Mutter denken mußte, oft war er im Begriff alles zu verbrennen und einen Schwur zu thun, niemals mehr die Gedanken darauf zu richten. Zu kostbar aber waren diese Reliquien doch. Irgendwo konnten sie den Namen enthalten heimlich, auf den es ihm um die Welt ankam. Wenn Arthur die Blätter überlas, zum wievielsten Male schon! auf die sie in Momenten höchster Verlassenheit ihr Gefühl niedergeschrieben, meinte er: die zu vernichten, sich die Möglichkeit zu rauben sie wieder und wieder lesen zu dürfen, sei jetzt schon als wolle er einen Theil seiner eigenen Seele ins Feuer werfen. »Ich saß heute den langen Tag, las Arthur auf einem Blatte, und meine Augen schweiften über den See. Ich meine, er müßte sich daraus emporheben. Wie ein Todter, der lange in der Tiefe gelegen. Nur einen Blick auf ihn, nur einen einzigen! Mit Bleistift auf ein ausgerissenes Blatt geschrieben; man sah, sie hatte es vernichten wollen und dann doch wieder in das Buch gelegt. „Ich denke manchmal er stände hinter mir, und ich halte ohne mich zu rühren den Athem an, um ihn nicht zu verscheuchen. Ich meine, seine Arme müßten sich plötzlich sanft auf meine Schultern legen." Seine Mutter hatte das empfunden! Arthur war als hätte er selbst es hingeschrieben in Gedanken an Emmy. „Ich sehe die Tage so hingehen und hingehen und warte. Worauf? Auf ihn? Nein, auf den Tag wo das ein Ende haben wird. Es ist dasselbe." Es durchschauerte Arthur, als er das las unter der begonnenen Zeichnung eines alten Eichbaumes, der am See stand und den er sogleich erkannte, nur daß niedriges Gebüsch den Hintergrund damals bildete, während nun junge Stämme dastanden. „Wo mag er jetzt sein? Ob er an mich denkt? Manchmal vielleicht dann und wann überschleicht ihn ein Schimmer von Erinnerung, wie das Aufleuchten eines matten Sonnenstrahles, während ich hineinstarrend unaufhörlich in das volle Licht der Sehnsucht mich verzehre. Warum auch denken an mich? Um meinetwillen wird er es nicht thun, denn er mußte mich zu tief verachten als er mich zum letzten Male sah. Wann war das? Ein Jahr vergangen seitdem, und mir ist als geschah es gestern."

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Arthur wußte, von welchen Momenten die Rede war, und zugleich klang es wieder, als hätte er selbst es geschrieben in Erinnerung an jenen letzten Abend, wo er Emmy aus dem Dunkel heraustreten und im Dunkel wieder verschwinden sah. „Wenn ich todt bin, wird er es erfahren wenigstens. Gewiß, er wird es erfahren. Ob Arthur ihm jemals begegnet? Wenn ich Glückliches ersinnen wollte für das Kind, so ist dies das Einzige das ich zu finden vermag." Arthur! Er genannt! Er folgte mit den Augen jeder Wendung der Züge, mit denen seine Mutter seinen Namen geschrieben. Aber welches der Name dessen, an den sie gedacht dabei? Keine Auskunft, soviel er rückwärts und vorwärts suchte. „Ich ging durch den Garten, zum See, zum Walde; ich saß und sah die Sonne untergehen — einsam. Die Blumen auf den Beeten nicht für mich blühend, die Bäume ihre Aeste ausbreitend längst bevor ich kam, sie ausbreitend, in Zukunft wenn ich längst gegangen bin. Kein Tropfen Wasser im See mehr oder weniger um meinetwillen. Nur die Sonne mir allein zu eigen. Auch ihm! Auch ihn vielleicht ihr Strahl berührend. Aber wo? Keine Nachricht. Und die Sicherheit, keine mehr zu empfangen so lange ich lebe." Wie sehr verstand das Arthur. Die Abendsonne glänzte im Schnee vor seinen Fenstern, und er dachte ob Emmy sie sähe vielleicht und an ihn dächte. „Wenn ich an jene letzten Augenblicke denke: weshalb schwieg ich? weshalb sprach ich nicht offen? Ich könnte ja lügen, aber ich will nicht lügen, ich will wahr sein. Wäre er nicht ein bloßer bürgerlicher Mann gewesen ohne Stand und Rang und Namen, ich hätte nicht geschwiegen. Wie kann solche Macht in solch leerem Wahne liegen? Und ich erduldete daß er beschimpft dastand, und daß das Mädchen beschimpft ward. Ich denke während ich dies schreibe, ob es vielleicht Jemand liest einmal, den es rettet, ohne daß er weiß was es bedeutet." Arthur traf das wie ein Stich ins Herz. Die Erinnerung an das Ereigniß, die dämonische Gewalt die die Frau antrieb die Wahrheit zu gestehen, das Leiden das sie sich so bereitet hatte! War als unsichtbare Erbschaft auf ihn der Zwang übergegangen, sich selbst ein gleiches Schicksal bereitet zu haben? Beschlossen war, auch er wollte nicht schweigen! Emmy sollte wissen was geschehen war! Ungeschminkt wollte er ihr die Gedanken gestehen, unter deren Einfluß er gehandelt. Auf die Papiere seiner Mutter legte er das weiße Blatt, auf dem er zu schreiben begann, alles erzählend vom ersten Momente der Begegnung bis zu dem des Scheidens. Und je weiter er kam, je unbarmherziger er sich in all seiner Schwäche und Doppelsinnigkeit darstellte, um so leichter fühlte er sich. Er sprach von seiner Leidenschaft, seiner Sehnsucht, seiner Verzweiflung, aber auch von dem öden Stolze der ihn nebenher erfüllte. Zu Muthe war ihm bisweilen, als sei seine Mutter es, die mit seiner Hand jenem Unbekannten schriebe, in der Gewißheit, es werde kein Auge so lange sie lebte diese Blätter erblicken. Um so beruhigender überkam ihn dann der Gedanke, daß Emmy endlich alles und alles erfahren werde und sein Schicksal völlig in ihre Hand gelegt sei. Blühende Hoffnung konnte dann in ihm aufsteigen. Abgethan mit dieser Beichte die Vergangenheit; ein neues Leben in reinerer Vereinigung, fühlte er, müsse seinen Anfang nehmen. Bis zur Täuschung konnte er sich in solchen Momenten nach Amerika zurückversetzen. Als schriebe er in Smiths Hause; bedürfe es nur eines kurzen Ganges, um den Brief in Emmy's Hände gelangen zu lassen; könne er ihre Antwort erwarten, dürfe zu ihr fliegen zu ihren Füßen. Auffahrend aus diesen Träumen, fiel er wieder in sie zurück sobald er neu zu schreiben begann. Ein Seufzen des Windes am Fenster klang wie der Wind seufzte als er bei Wilson saß. Morgens früh erwachend glaubte er bei Smith zu sein. Er lauschte mit geschlossenen Augen, ob sich das Geräusch nicht rege, das er so gut kannte: den schlurfenden Schritt des Gärtners unter seinem Fenster, den Ruf der Vögel, das Gehen der Hausthür, das ferne Geläut der Dampfboote die den Fluß herabkamen. Als eine selige Zeit empfand er in der Erinnerung den Jammer den er dort durchgemacht. So schrieb er und sein Brief wurde Bogen auf Bogen stark.

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Und als hätte in der That nur der Arbeit an diesem Briefe die Kraft, ihn nach Amerika geistig zu entrücken, innegewohnt: je näher er dem Ende kam, um so mehr nahm die Kraft ab, und als er zu Ende war, flog Alles was er daran gethan und dabei empfunden wie ein entschwindender Traum auf und davon, Freudigkeit und Muth und Hoffnung mit sich nehmend. Der Brief lag vor ihm. Nicht einmal ihn durchzulesen konnte Arthur sich überwinden. Erwin traf ihn in einem solchen Momente der Abgespanntheit, und that, nachdem er lange gezögert, eine Frage endlich nach dem seltsamen Wesen das ihn überkommen seitdem er die Kisten geöffnet. Arthur mochte nicht reden. Einige neue Abschnitte seiner Artikel waren frisch gedruckt eingetroffen; mit Staunen bemerkte Erwin, daß er die Bogen unangesehen im Kreuzbande stecken ließ in dem sie angekommen waren. Noch einmal fragte er, und noch einmal gab Arthur keine Auskunft. Erwin wollte wieder gehen, am Tische stehend zögerte er noch ein paar Momente. Setz Dich da nieder, sagte Arthur, ich will Dir etwas lesen, und faltete den Brief an Emmy auseinander. Wie bei weitem übertraf dies die amerikanischen Aufsätze. Es schienen die Bekenntnisse eines Mannes, der mit ruhiger Trauer vergangenes Glück und Unglück darstellt. Wie ein Dichter die Entwicklung eines Charakters von Ereigniß zu Ereigniß weiter lenkt, zeigte Arthur an sich das wunderbar gesetzmäßige Spiel der Vorsehung mit seinem Herzen. Mitgefühl mußte es erregen bei denen selbst, die von ihm und Emmy nichts als die Namen kannten; bei dem, der sie kannte, ein fesselndes Gefühl von Antheil. Dem Ganzen zu Grunde liegend die Idee, daß die Enthüllung der wahren Abkunft, zuerst als unheilbarer Wetterschlag betrachtet, zum Anfange neuen Lebens geworden war. Ja, dieser Gedanke in einer Art zuletzt auf die Spitze getrieben, die fast zuviel wieder Arthurs ideal-leidenschaftliche Anschauungsweise der Dinge verrieth. Es war Erwin, als sähe er eine prachtvoll ausgedehnte Traube von zu schwachem Stengel gehalten, und das ängstliche Gefühl erweckend, als könne ein leiser Riß die Frucht zur Erde stürzen lassen. Höchst wahrscheinlich ja, daß Arthur der Sohn jenes Unbekannten war; ein Glück, wenn er es ertrug; schön, wenn er Beruhigung statt des Gegentheils daraus nun schöpfte: warum diesen Gedanken aber zum einzigen Wurfe machen, auf den Hab und Gut nun wieder gesetzt war, wie früher auf das Gegentheil? Wieder dieses Sich-überstürzen, dieses unentbehrliche Bedürfniß: außer sich selbst auf einem gegebenen Punkte zu beruhen. So stark ward dieses Gefühl zuletzt daß Erwin es aussprechen mußte. Arthur hob die Augen von seinen Blättern. Zu viel, meinst Du, hinge bei mir an diesem einen Gedanken? Kaum angedeutet scheint mir, wie viel! Ich sage Dir, er ergriff Erwins Arm, von dem Momente an erst bin ich ein Mensch geworden! Ich träumte vorher. Ich sah die Welt um mich durch diamantne Wände. Jetzt frische rauhe Luft, aber das Bewußtsein, einzuathmen was alle Andern in sich fühlen, die meine Brüder sind! Erwins Augen schweiften über die Papiere die da noch ausgebreitet lagen. Wenn ein Blatt nun sich fände, dachte er, das unerbittlich auch diese Wahrheit wieder als einen Traum erscheinen ließe; was dann? Nur soviel sagte er. Ich habe nichts gegen Deinen Glauben. Auch nichts dagegen: daß man sein Glück auf eine Ueberzeugung baue; warum aber aus den Glauben an die Wahrheit eines bloßen Zufalles, der, mag er eingetroffen sein oder nicht, Dich nachträglich doch nicht ändern konnte? Das Leben hat Dich geformt. Dir allein verdankst Du was Du bist. Warum sich etwas zufällig Entdecktem unterthänig machen, das Dir später ebenso gut wieder vorspiegeln könnte, Du seiest doch der Sohn des Grafen, und das Dich dann vernichten müßte? Er würde es vielleicht sagte Arthur. Ich sehe recht, fügte er nach einer Weile hinzu, wie Jeder die Andern doch nur nach sich beurtheilt. Bin ich denn wie Du? Hat denn von außen hineingetragene Vernunft jemals Gewalt über mich gehabt? Meinst Du, weil ich Dir im Ganzen ruhiger, gezähmter erscheine, ich sei nicht mehr der alte schwebende Sommerfaden den ein paar Regentropfen zu Boden reißen und den jeder Hauch des Schicksals dahin und dorthin weht? Laß mich in Leidenschaft sein: tausend Philosophen die mir die reinste Weisheit zuflüsterten, wären unvermögend mich zu bewältigen, während der Blick auf eine Blume, auf ein verwelktes Blatt im Wege,

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Erinnerungen erwecken könnte, die mich plötzlich still und lenkbar machten. Nicht wahr, das ist toll und unvernünftig? — Ja, das ist es, dachte Erwin, aber er weiß selbst nicht was er redet. — Nicht wahr das ist fast wahnsinnig? Aber kannst Du Dir nicht denken: wie ich, nachdem ich mein Leben lang aus dem einen Gedanken meiner hohen Geburt alles sog was ich war, nun, da er mir genommen ward, eines andern bedarf der seine Stelle ersetzt? Irgend etwas muß da sein. Meine Phantasie muß jetzt herumarbeiten an dem Bilde des Unbekannten der mein Vater war, wie der Meißel am Marmorblock, dem er die Gestalt zu entlocken trachtet. Beweise mir, rief er aus, der Graf sei dennoch mein Vater: eine Fluth unerträglichen Gefühls würde mich überschütten, daß ich ersticken könnte. Hör' mich an, sagte Erwin: wenn jetzt Jemand hereinträte und einen Brief brächte, den wir öffneten und den ich Dir läse, und Zeile auf Zeile entwickelte sich der wunderbarste Roman, wunderbarer als je das Leben ihn spielen mochte; und Faden auf Faden entwirrte sich, Du seiest doch der, der Du zu sein glaubtest, und jener Unbekannte würde blässer und blässer und flöge wie ein Rauch davon endlich, und am Schlusse wüßtest Du, sicher und unerschütterlich, Du hättest niemals aufgehört der ächte Sohn Deines Vaters zu sein, der ächte Sprosse einer ruhmvollen Familie, deren Namen Du trägst — was dann? Du würdest nicht ersticken, glaube ich, und doch auch nicht wieder zurückfallen in das was Du vorher gewesen bist. Merkwürdig, was mit Arthur vorging. Er lehnte sich langsam zurück. Seine Augen, ins Ungewisse blickend, wurden größer und größer, als erstarrte er vor Traumbildern der Phantasie, die ihn wachend überwältigten. Aber ein paar Augenblicke nur dauerte das. Er senkte die Augen nieder und traf Erwin. Nun und nimmermehr wird das geschehen! rief er aus, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß Erwin unwillkürlich den Arm erhob als gäbe es etwas zu verhindern. Warum in solchen Eifer gerathen, sagte er besänftigend, einer Möglichkeit wegen? Ein Mann muß jeden Fall ins Auge fassen können als denkbar. Du meinst es sei möglich? fragte Arthur nach einer Weile langsam, und beschattete die Augen mit der Hand, auf die er die Stirn stützte. Möglich ist Alles erwiederte Erwin. Wenn das wäre, fuhr Arthur mit demselben langsam traurigen Accente fort, so bleibt der Brief am besten hier. Und indem er die Lage Blätter mit beiden vollen Händen am oberen Rande faßte, war er im Begriff, durch einen Riß seinen Gedanken Nachdruck zu geben. Zögernd jedoch sah er zugleich Erwin an, als erwarte er einen zustimmenden Blick aus dessen Augen. Erwin aber gab diesen nicht, und Arthur, die Blätter vor sich hinlegend wieder, faltete eins nach dem andern zusammen, steckte sie nach einer Weile in ein Couvert, adressirte es, siegelte es, und ging sich zum Ausgehen fertig zu machen. Erwin blieb am Tische sitzen und sah den Brief liegen. Eines Wortes nur hätte es noch bedurft, er wußte das, um Arthur zu vermögen ihn ins Feuer zu werfen. Hätte in Erwin sich nicht ein Gefühl geregt jetzt, daß er, wenn er es dahin kommen ließe, vor sich selbst dastehen würde als habe er einen Verrath begangen zu seinen eigenen Gunsten, (denn er hätte mehr als ein Mensch sein müssen, um nicht den Fall daß Arthur und Emmy sich trennten, zu erwägen bisweilen), er würde dieses Wort vielleicht gesprochen haben. So aber schwieg er, und Arthur nahm den Brief um ihn fortzutragen.

Zweiunddreißigstes Capitel. Vierzehn Tage brauchte Arthurs Brief, New-Jork zu erreichen. Fast ein Jahr schon verflossen seit dem Tage, wo Emmy, auf jenen Besuch Smiths, ihrer Mutter nach Mountainville damals gefolgt war. Sie hatte sich widerstandslos gefügt; das Wort „gehorsam" kann hier nicht gebraucht werden. Das Leben war farblos geworden für

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sie. Sie unterschied nicht mehr, ob sie draußen in der wundervollen Luft die rings aus den Wäldern quoll, oder in den Wänden des Zimmers weilte; ob die Sonne schien, oder schwere Wolken über die Wipfel der Bäume heranzogen. Aller Einfluß der Natur und der äußerlichen Welt, dem sie sich sonst so gern hingab, ausgelöscht. Ihre Gedanken an Arthur lebten wie eine kleine zitternde Flamme noch in ihrem Herzen, die eben noch Kraft hat sich selbst zu nähren, ohne zu leuchten und zu wärmen. Keine Hoffnung, keine Erwartung, nur ein Traum zu Zeiten, als könne er ihr an's Herz fliegen noch einmal. So ungewiß aber als etwa der Gedanke, eine Wolke könne ihn hertragen, oder ein Felsen sich öffnen und er heraustreten. Zu Wilson ging sie zu Zeiten. Sie hatte sich gefreut ihn wiederzusehen, als sie ihn fand aber, fühlte sie, auch diese Freude sei etwas Inhaltloses. Wilson sah es wohl, doch er fragte nicht. An jenem Tage, wo Emmy Arthur bei ihm begegnete, war ausnahmsweise ihre Mutter mitgekommen. Gewöhnlich pflegte Emmy, gefolgt von ein paar Leuten zu Pferde, allein einzutreffen. Sie glaubte, sicher zu sein, Arthur am nächsten Tage wieder dort zu finden. Das allein war vermögend gewesen, ihr die Kraft zu geben, sich loszureißen. Nicht müde war sie, wie sie sagte als ihre Mutter sie aufforderte mit ihr zu gehen, sondern wie gebannt und festgewurzelt hatte sie sich gefühlt. Ein Gefühl sich geregt in ihr, als wüchsen Aeste und Zweige aus ihren Armen und drängten sich Arthur zu, um ihn festzuhalten. Ihre Mutter aber hatte beim Fortgehen Wilson heimlich gefragt, wie lange der Fremde noch bliebe. Bis zum nächsten Tage, war die Antwort gewesen. Emmy aber glaubte sicher zu sein, Arthur könne die Gegend nicht verlassen, ohne mit ihr zusammengetroffen zu sein. War ihre Mutter bekümmert gewesen über das allmähliche Verdorren allen Lebensmuthes bei ihr, so erschrak sie jetzt über die plötzliche Rückkehr der alten Frische. Wie eine Statue, deren starre Augen zu blicken und leuchten beginnen, schien Emmy sich zu verwandeln, wie eine verdorrende Pflanze die wieder Kraft in sich aufsteigen fühlt. Bis in den Gang ihres Pferdes ward das neue Leben sichtbar. Am nächsten Tage früh Morgens ließ sie satteln, um in die Wälder zu reiten. Aber früher noch hatte ihre Mutter bereits Gewißheit sich zu verschaffen gewußt, daß der Fremde Wilsons Haus wieder verlassen habe. Sie ließ Emmy fortziehen ohne ein Wort zu sagen, das Herz zog sich der Frau zusammen, denn es rührte sie die versteckte Hast des Kindes, so fest auch bei ihr beschlossen war, Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, ehe sie duldete daß Arthur Emmy wieder begegnete. Zu Wilsons Hause ging es fort, in vollem Galopp zuletzt auf dem zerrissenen Wege unter den Bäumen hin. Ihr Pferd keuchte als sie ankam. Sie wußte nicht, was sie beginnen wollte, sie wollte nur bei ihm sein. Sie kam an. Sie fand Wilson auf der Veranda, Arthur sah sie nicht. Er konnte ja noch da sein, aber ihr Herz sank zu Boden: Alles kam ihr öde und verlassen vor. Sie setzte sich nieder, neben dem alten Manne. Sie bat ihn sein Buch wieder aufzunehmen und zu erlauben daß sie still bei ihm säße. Sie lauschte auf jedes Geräusch. Arthur kam nicht. Der Fremde ist wieder fort? fragte sie nach einer langen Weile. Mr. Smith hatte nicht länger Zeit, antwortete Wilson. Sie sind nach der Stadt zurück. Er wohnt bei ihm. Bei Mr. Smith? fragte Emmy und sah zu Boden. Ja, liebes Kind, sagte Wilson und erwartete was sie weiter sagen würde; aber sie that keine Frage mehr. Und so kam sie am nächsten Tage. Und wieder am Schlusse, im Fortgehen, fragte sie: Wird Smith Sie diesen Sommer noch einmal besuchen? Er hat es versprochen, sagte Wilson. Und nach ein paar Tagen kam Emmy wieder. Und so immer wieder, und fragte nicht nach dem Fremden. Wilson schien zu fühlen daß sie die Frage verschwiege, denn etwas Fragendes lag in ihrem Wesen, etwas immer trüber werdendes. Sie hoffte noch daß Arthur erschiene. Wilson selber konnte nicht begreifen, warum er ausbliebe. Er schrieb Smith einige Zeilen, worin er um ein Buch bat und nebenbei an den

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versprochenen Besuch erinnerte. Am folgenden Tage empfing er Nachricht aus Smiths Bureau, man habe ihm den Brief nachgesandt, er sei abgereist. Wilson schrieb noch einmal und fragte nach Mr. Arthur. Der sei früher schon fort, wieder nach Europa, lautete die Rückäußerung. So plötzlich und ohne Abschied? Wilson war erstaunt das zu vernehmen. Er wußte aus Erfahrung, daß wenn er jungen Männern näher getreten war, in der Weise wie Arthur gegenüber geschah, eine geistige Verbindung geschaffen ward die sich nicht so leicht wieder löste. Er würde für unmöglich gehalten haben, daß Arthur ohne Abschied wieder ginge. Auch hatten dessen Aeußerungen ganz andere Entschlüsse angedeutet. Verschwunden? Zurück in die Heimath, die für ihn untergegangen schien? Es mußte Außerordentliches vorgefallen sein. Am Abende des Tages an dem diese Nachrichten eintrafen, kam Emmy. Sie hatte eine kleine Zeit verstreichen lassen, weil der Aberglaube über sie gekommen war: es müsse, wenn sie die Tage ein wenig sich aufsummen ließe, einer darunter, wenn nicht Arthur selbst, so doch Nachricht von ihm gebracht haben. Nun empfing sie das Unerwartetste aus Wilsons Munde. Sie stand neben ihm auf der Veranda. Einer der rohbehauenen Steinblöcke, welche den sie tragenden Pfeilern als Postament dienten, war seit ihrer Kindheit Emmy's Lieblingssitz gewesen; da setzte sie sich nieder und sah über den Wald hin. Die Sonne ruhte darauf wie damals, als sie mit Arthur hier zusammengewesen, und dieselben leichten Wölkchen schienen am Himmel hinzuschweben. Wo war er? Wie weit war er fort? Warum gegangen? Sie fragte so, aber ohne Hoffnung auf Antwort; es wiederholte sich in ihr, als seien diese Gedanken allein übriggeblieben. Wilson trat zu ihr. Liebes Kind, sagte er, warum siehst Du mich so traurig an? Weil ich es bin, sagte Emmy. Der Fremde stand Dir wohl näher als ich weiß? fragte er weiter. Sehr nah, sagte sie. Und ist nun fortgegangen? Und Du weißt nicht warum? Und nicht wohin? — Und nicht, ob er zurückkehrt? Sie schüttelte leise mit dem Kopfe, legte dann beide Hände vor das Gesicht und versank in Stille. Wilson holte sich einen Sessel in ihre Nähe, und ein Bein über das andere geschlagen und die Hände auf das Knie gelegt saß er da, und seine alten verwitterten Augen sahen in die Weite. Lieber Freund, sagte Emmy, zu ihm aufblickend und ihre Hand auf den Rücken der seinigen legend. Er nickte ihr zu. Wie alt bist Du? fragte sie. Ein paar Jahre hinter siebzig. Erinnerst Du Dich der vergangenen Zeiten noch genau? fuhr sie fort. Siebzig Jahre sind eine kurze Zeit, antwortete er, und ich denke nicht, daß ich irgend etwas vergessen habe, das der Mühe werth war, behalten zu werden. Hast Du jemals eine Frau geliebt und bist unglücklich dadurch geworden? fragte sie weiter. Er nickte als wolle er sagen: ja, und erwartete was sie mehr fragen würde. Hast Du das auch empfunden damals, als wäre Dir aus dem Herzen alles Lebendige darin ausgenommen, wie man einem Fisch mit einem Riß in der Küche alles aus dem Leibe nimmt, und dann liegt er da und zuckt und schnappt nach Luft und hat die Augen weit auf? Armes Kind, sagte Wilson. Oder als würde hier der Wald Baum für Baum mit den Wurzeln ausgerissen, als wären es Grashalme die man auszieht, und man sähe, soweit die Blicke reichen, nichts als unzählige große Gräber, und dächte, es sei unmöglich daß je wieder Leben und Wachsthum da aufspränge?

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Ja, ja, Kind, sagte er. Oder man dächte, Nachts, wenn die Sterne scheinen, käme ein ungeheurer Finger und tupfte einen nach dem andern aus, als stäche man in lauter Kinderaugen hinein, und zuletzt wären sie alle fort, und der Himmel finster, und nur am Horizonte eine trübe, schmutzige Dämmerung, die sich immer gleich bleibt und weder zu noch abnimmt? Wilson fühlte sich bewegt, weil die von Emmy gewählten Beispiele und die Worte, in denen sie sie aussprach, etwas grausam Wirkliches hatten, daß man fühlte, nur die eigene Erfahrung und nicht etwa Erinnerung an Gelesenes rede aus ihr. Als wüßte man gar nicht mehr, fuhr sie fort, warum man lebt und warum Tag und Nacht sich folgen und warum Sonnenschein lieber als Regenwetter und warum die Menschen so hastig durcheinandergehen und was sie nur zu schaffen und zu sorgen haben und nicht lieber ruhig sitzen und erwarten unbeweglich das Ende all der ewigen Wiederholung? Denkst Du so? fragte Wilson. Ja, so denke ich, sagte sie. Oder ich denke es auch nicht. Ich schwatze nur so, um mich zu beruhigen. Weißt Du, begann sie nach einer Weile wieder, es giebt eine Erzählung, daß in Griechenland eine Gorgone gelebt habe, deren Blick alles in Stein verwandelte bis einer kam und ihr einen Spiegel vorhielt, da erstarrte sie selber und ward zu Stein. So fühle ich etwas in mir. Was ich mit den Gedanken berühre, meine ich, würde kalt und steinern wie ich selbst bin, und nun denke ich und denke und suche den Gedanken zu finden, der mich mir selbst zeigt im Bilde, und wenn ich den gefunden, meine ich, und recht klar vor Augen sähe, dann müßten die quälenden Gedanken in mir erstarren und ich ruhig werden wie jene Gorgone. Aber ich finde es nicht in Bildern und nicht in Worten. Ein vernichtendes nie schlummerndes Gefühl in mir. Es ist als wäre was die Erde kostbares, schönes, werthvolles hat, in einen Baum gebannt, und dieser Baum stände in Flammen, und ich zugleich sei an ihn gefesselt und fühlte wie ich mich mit ihm verzehre, und könnte das Feuer löschen und thäte es nicht, weil ich lieber zu Asche verbrennen wollte als nicht mehr diese Gluth fühlen. Es ist — sie sah ihn glänzend an, bedeckte ihr Gesicht wieder mit den Händen und versank in Schweigen. Ist es denn möglich überhaupt, alle Hoffnung zu verlieren? fragte Wilson. Nein! rief sie. Aber denke Dir, alle Brunnen wären vertrocknet und alle Menschen säßen wie ich hier und blickten zum Himmel auf ob nicht Wolken kämen, weil sie wüßten einem Einzigen unter ihnen solle ein Tropfen Wasser vom Himmel herab auf die Zunge fallen. So viel Hoffnung habe ich noch. Ach, und für diesen einzigen Tropfen wie dankbar! fügte sie hinzu. Es wurde dunkel. Wilson brachte sie ein Stück durch den Wald. Neben ihm schritt sie über den glatten Boden des Waldes wie über einen seidenen Teppich, die Leute mit den Pferden folgten in einiger Entfernung nach. Zwischen den Aesten blitzten die Sterne glühend herunter. So bewegungslos und ruhig war es, als hielte die Natur den Athem an, um ihre kleinsten Creaturen zu belauschen, die im Holze der Bäume pickten und zwischen den Gräsern umherkletterten. Wilson glaubte, Emmy würde weiter erzählen jetzt, aber sie that es nicht. Es waren ihr die Worte vorhin so aus der Seele geströmt und, wie Wilson, hatte sie mit schauderndem Erstaunen selbst vernommen was sie sagte. Und nun stand es in ihr wie in Metall gegraben. Sie fürchtete sich, weiter zu reden. Sie versprach wiederzukommen als sie sich trennten, aber sie kam nicht. Statt ihrer erschien andern Tages die Mutter, um zu erfragen was dem plötzlichen abermaligen Umschlage in Emmy's Stimmung zu Grunde liege. Wilson erzählte, was vorgefallen war. Die Frau athmete auf als sie vernahm, daß Arthur Amerika verlassen habe. Ein neuer Plan war nun sogleich fertig in ihr, und dessen Grundlage auf der Ueberzeugung beruhend, daß weder die Einsamkeit noch Wilsons Gesellschaft für Emmy jetzt das Zuträgliche seien. Emmy ward mitgetheilt, man werde in den nächsten Tagen wieder nach New-Jork gehen.

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Es lag etwas Herrschendes in der Frau. Sie zwang ihre Tochter nicht, aber sie wußte ihr das Gefühl einzuflößen, es sei vergeblich Widerstand zu leisten. Emmy allein hätte, so stolz sie war, Berlin nicht verlassen als Arthur sie zurückgestoßen. Sie auf dem Schiffe seiner stummen Verfolgung nicht Stand gehalten. Sich bei Wilson nicht losgerissen, als sie mit ihm dort zusammentraf. Der drängende Geist ihrer Mutter hatte Gewalt über sie gehabt. Aber wenn sie auch nachgab, das Gefühl wuchs in ihr daß sie nicht frei sei, und zugleich die Ahnung daß sie frei sein müsse und wolle, aber ganz leise und wie aus weiter Entfernung regten sich solche Gedanken in ihr. Mrs. Forster war nicht hart von Natur, noch fehlte ihr die Feinheit der Beobachtung. Wie sie war, dazu hatte ihr Leben sie gemacht und machen müssen: zu einem Charakter, wie wir es zu nennen Pflegen. Wir bezeichnen damit eine gewisse Verachtung von vornherein und zur Gewohnheit gewordene glückliche Ueberwindung der Hindernisse, die bei Andern, nur weil man den Muth nicht besitzt sie anzurühren, zu unübersteiglichen Grenzen des Handelns und endlich selbst der eigenen Wünsche sich gestalten. Wie ein altgeprüfter erfahrener Unteroffizier ein Dutzend Rekruten, deren Ungeschicklichkeit gegenüber ein Anderer hülflos und vergeblich verzweifelt wäre, mit ein paar derben Worten geistig zusammenhaut daß sie wie die Puppen eines Theaters die commandirten Bewegungen ausführen, so verstehen Naturen wie Mrs. Forster das Gedränge des Lebens sich zu Willen zu lenken. Sie war daran gewöhnt, durchzudringen und als Resultat stets zu gewahren daß sie den richtigen Weg gewählt. Aber sie hatte diese Energie nicht Herr werden lassen über sich, war sich bewußt geblieben, daß man irren könne, und daß jeder einzelne Fall ein neues Problem liefere. Sie beobachtete Emmy mit einer Scharfsichtigkeit, die das arme Kind, hätte sie eine Ahnung davon gehabt, kaum würde ertragen, haben. Mrs. Forster folgte in Betreff Arthurs und Emmy's keiner Theorie, die sie rücksichtslos durchzuführen entschlossen war. Von dem was sie in Betreff des Grafen empfand, war der eigene persönliche Widerwille das geringste dem Gewichte nach. Sie glaubte ihn ganz objectiv zu betrachten. Sie taxirte ihn so niedrig schon um der Schwäche seiner Mutter willen. Seine, ihrer Meinung nach elenden, Versuche sogar, eine Wiederannäherung herbeizuführen, lieferten nichts als neue Beweise dafür. Ein Anderer hätte festeren Willen gezeigt und sich nicht abschrecken lassen. Warum war er nicht mit Gewalt zu Emmy durchgedrungen, wenn seine Leidenschaft so mächtig war, statt sich zu beruhigen und endlich still wieder abzureisen gar? Sie sah eine halb aus faseligem Ehrgefühl, halb aus Müßiggang und langer Weile, zum dritten Theil aus einer gewissen romantischen Daudelei unternommene Expedition in dieser Reise ihnen nach, und hielt es für ihre Pflicht, Emmy's Gedanken von diesem Menschen abzulenken, um sie vor dem erbärmlichen Loose zu bewahren, ihr Leben an eine so haltlose Existenz zu ketten. Nichts natürlicher, sagte sie, als diese Abreise jetzt wieder. Eine Laune wie alles Uebrige. Liebe Freundin, nahm Wilson endlich das Wort, das Mrs. Forster bis dahin allein geführt, was mir bei diesem Fremden auffiel im ersten Moment der Begegnung, war ein Gefühl herzlichen Wohlwollens für ihn, das er in mir erweckte, gewiß ohne es zu wollen und ohne darum zu wissen. Da nun dies Gefühl aber allem vorausging, was mich im Einzelnen später etwa hätte bestechen können, so konnte es nur die Summe seines ganzen Wesens sein, die auf mich wirkte. Das Gute muß in ihm das Verwerfliche doch überwiegen, die Stärke die Schwäche, denn Naturen, deren Summe auf ein Deficit hinausläuft, ziehen Niemanden an, mich aber am wenigsten. Zum ersten Male in ihrem Leben glaubte Mrs. Forster Wilson auf falscher Fährte zu ertappen. Was Sie da für ein Plus ansehen, verehrter Freund, rief sie, ist nichts als der völlig erborgte Firniß, den europäische Erziehung Tausenden verleiht. Alle Menschen dort sind im Stande, den Anschein anzunehmen, als wüßten sie von Dingen genau die sie gar nicht kennen, und hegten Gefühle von denen nichts in ihnen liegt. Und so sehr gehört die Anwendung dieser beiden Lügen zum guten Ton dort, daß selbst die Wahrhaftigsten unaufhörlich oft aus bloßer Höflichkeit, immer aber bei völligem

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Bewußtsein dieses Mangels, hinein verfallen. Sie haben sich täuschen lassen wie durch eine schön gegliederte Hausfassade, hinter der Sie ein organisches, ihr entsprechendes Haus vermutheten, und sie ist doch nur einem elenden Baue vorgeklebt, der ohne sie nicht das Einreißen werth wäre. Was Sie mir sagen, kann sich so verhalten, versetzte Wilson. Aber diesen Fehler finden wir auch bei uns und wird überall wo Menschen Zusammenleben beobachtet werden. Vielleicht dürfte ich, mich auf langjährige Erfahrung berufend, Ihnen auch das erwiedern: daß ich Deutsche genug kennen gelernt habe, und daß sich bei mir ein gewisses natürliches Gefühl für den Unterschied des Aechten und Unächten gebildet hat. Doch ich gebe Ihnen das preis. Ich will mich nur an das ganz Sichere halten, und dies ist: daß wenn mir ein Mensch auf den ersten Blick Mißtrauen einflößte, ich mich zuweilen getäuscht habe; daß wenn mir ein Mensch aber den Eindruck einer edlen Natur gemacht hat, wie dieser Deutsche that, sich mein Gefühl noch niemals als ein Irrthum auswies. Und was soll ich thun? fragte die Frau erregt und hartnäckig. Wenn Sie wirklich von mir eine Antwort hierauf verlangen, erwiederte Wilson: bleiben Sie Sich stets bewußt wie weit Sie gehen. Menschen sind wie Pflanzen. Bis auf einen gewissen Grad kann man sie biegen, beschneiden, entblättern, treiben und zurückhalten. Ein Moment aber kann kommen, wo sie plötzlich die Blätter sinken lassen, und die Experimente finden so einen Abschluß. Ich kenne Emmy nun von Kind auf; ich kenne Sie; und Forster ist mein Freund gewesen. Ich bin im Stande also, Ihre Tochter zu beurtheilen. Besser vielleicht, Sie lassen sie ihr Lebens-Schicksal selbst wählen, als daß ihr durch eine Fortdauer dieser Bedrückung für immer vielleicht die Fähigkeit genommen werde, zu leben, was wir, Sie und ich, zu leben nennen. Mrs. Forster antwortete nicht, weil sie das Gespräch beunruhigte, und sie Wilson hier keinen Einfluß gestattet hätte und wäre das Sich-fügen wo Rath, von ihm ertheilt zu werden pflegte, eine noch heiligere Gewohnheit bei ihr gewesen. Gerade in der Frage, auf die zuletzt im Leben das meiste hinausläuft: den Moment herauszufühlen wo man zu sagen hat: Halt und nicht weiter! hatten Wilsons Ansichten stets das Richtige getroffen und diese Frage aufzuwerfen schien bei Emmy an der Zeit. Mrs. Forster aber sah den Weg zu deutlich, den sie zu gehen hätte. Es war kein gewaltsamer, der einzig sichere aber, ihrem Gefühl nach. Sie nahm Abschied von Wilson indem sie gewisse allgemeine Versicherungen gab, die er in ihrer Inhaltslosigkeit wohl erkannte. Mrs. Forster wollte nicht weiter reden, fühlte er wohl, und wußte daß ihm zunächst nichts übrig bliebe, als zu warten, um dann einzutreten wenn später zu retten und zu helfen wäre. Mrs. Forster aber auf dem Rückwege die Zukunft überlegend, gewann die Ueberzeugung, daß nichts weniger zuträglich sei in den jetzigen Momenten für Emmy, als Einsamkeit und Gespräche vielleicht mit Wilson. Ihr Plan war, sie nach New-Jork zurück und mit aller Macht dort in's praktische Leben hineinzuführen. Sie sollte unter Menschen kommen, unter Männer besonders. Nicht etwa daß Mrs. Forster das im Sinne gehabt, was manchen als das Einfachste scheinen möchte: Emmy sobald als möglich zu verheirathen (mit einem guten, zuverlässigen, wenn auch geistig nicht eben außerordentlichen Manne, wie man in solchen Fällen oft raisonniren hört): sie dachte nicht daran. Sie war sich wohl bewußt, mit welcher Empörung sie selbst ihrer Zeit sich ihren Eltern widersetzt haben würde, hätte man sie mit dergleichen zu überraschen und auf andere Gedanken zu bringen versucht. Emmy sollte glücklich werden. Nicht durch die rohe Betäubung eines mit Gewalt über sie gebrachten neuen Schicksals, sondern durch eigene Kraft, und der Plan, dies zu bewirken, war eben so einfach als vernünftig. Mochte Emmy's Zukunft sich gestalten nämlich wie sie wollte, früher oder später wurde sie Herrin eines, deutschen Begriffen nach, colossalen Vermögens, welches sie vielleicht selbst zu verwalten hatte; für alle Fälle wenigstens mußte sie im Stande sein dies zu können. Ihre Reisen in Europa hatten die Mutter zufällig verhindert, sie ganz in diese Dinge einzuführen, längst aber wäre es Zeit gewesen, das Versäumte nachzuholen. Jetzt sollte das geschehen. Emmy praktisch merken, welche Macht ihr

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einst in Händen liegen werde, einen Theil derselben sofort empfangen, und empfinden, daß wenn sie einst ihre Hand verschenkte, mehr darin liege als ihr Herz allein. Mrs. Forster hatte ein Anrecht, sich von Emmy in ihrer Thätigkeit unterstützt zu sehen, es handelte sich also, als sie davon sprach, nicht um Vorschläge, die ihre Tochter hätte ablehnen können. Nichts als Recht und Billigkeit, daß Emmy einen Theil der Arbeit übernähme, die doch um ihretwillen zumeist geschah. Auch zeigte sie sich willig. Die aufgebürdete Mühe gereichte ihr zu einer Wohlthat sogar. Ihre Mutter hätte ihr China oder Indien vorschlagen können, sie würde sich ohne Widerspruch dahin auf den Weg gemacht haben. Die vielfachen, oft verwickelten, immer die volle Concentration des Geistes in Anspruch nehmenden Geschäfte wurden wirklich zu einem Troste für sie. Ihre Mutter beobachtete sie, und sah mit Erstaunen wie leicht sie sich in den Dingen zurecht fand, instinktmäßig ohne viel zu überlegen das Richtige that, und den gerecht einfachen Sinn offenbarte, der ihren seligen Vater so respektabel hatte erscheinen lassen. Es handelte sich um die Verwaltung von Grundstücken sowohl als angelegten Geldern. Mit natürlichem Ordnungssinn behandelte sie Alles, hatte die Punkte sogleich im Auge auf die es ankam, und über die Personen ein richtiges Urtheil, deren Thätigkeit zu controlliren war. Sie that die Dinge ab als sei sie seit Jahren an diese Art Beschäftigung gewöhnt. Sie nahm ihrer Mutter aus der Hand was diese irgend ihr anvertrauen zu wollen schien, ordnete Alles aber doch nur so weit, daß Mrs. Forster immer die letzte Entscheidung blieb; als habe sie ein Gefühl: ein Schritt weiter möchte deren Vergnügen daran und die Genugthuung, als herrschende letzte Instanz aufzutreten, verringern, ein Ehrgeiz der ihr selbst so fremd lag, daß ihre Mutter zuweilen sogar die Bitte aussprach, nach eigenem Gutdünken dies und jenes zu Ende zu führen. Das ward Mrs. Forster bald offenbar, daß ihre Tochter durchaus im Stande sei das Ganze zu übernehmen wenn es irgend die Umstände erfordern sollten, und es beruhigte sie unendlich. Sie meinte, ein so klares Auge wie das Emmy's müsse auch in jener großen Hauptangelegenheit schließlich zu richtiger Anschauung des Mannes sich erheben, den sie, hätte sie ihn nicht geliebt, in jeder Hinsicht längst durchschaut haben würde. Vergebens aber erwartete sie das. Wochen und Monate waren so hingegangen, die Tage vom Morgen bis zum Abend reichlich ausgefüllt, Emmys Grundstimmung änderte sich nicht. Am wenigsten berührte sie die Geselligkeit im Hause. Ihren Cousinen und alten Freundinnen von ehedem blieb sie fern stehen. Sie hatte die entscheidenden Jahre in Europa zugebracht. Man formte neue Verhältnisse in ihrer Abwesenheit, verheirathete sich meistens und rechnete nicht mehr auf Emmy's Theilnahme. Man glaubte genug zu thun, wenn man ihr freundlich gestattete sich selbst jetzt eine Stellung zu bereiten, drängte sich aber nicht zu ihr und verlangte nicht mehr von ihr als Höflichkeit. Dies um so mehr, als man bald empfand, daß ihr das gerade das Liebste sei. Von Arthurs Beziehungen zu ihr ahnte man so wenig, daß ihr ausfallend stilles Wesen nicht zur leisesten Nachrede Anlaß gegeben hatte. Man war zuerst neugierig gewesen, hatte sich dann aber, da gar nichts Thatsächliches aufzutreiben war, beruhigt und schob es noch auf die Trauer um den Bruder und den überhaupt dahin neigenden Charakter. Man behelligte Emmy nicht mit unter der Maske der Theilnahme angebrachter Spionirerei. Mrs. Forster jedoch ließ es dabei nicht bewenden. Es sollte Leben und Bewegung in ihr prachtvolles Haus kommen. Ihr Bestreben schien, mit aller Kraft sich zum Mittelpunkte derer zu machen die zu ihrer Verwandtschaft und Freundschaft gehörten. Für eine Frau von solchem Reichthum und soviel Energie eine Kleinigkeit. Nicht blos die Motten flattern Nachts herzu wenn sie Kerzenglanz gewahr werden. Mrs. Forster, die sich bisher nur um Emmy's willen mit den schönen Künsten und Wissenschaften abgegeben, schien das lebhafteste eigene Interesse dafür zu empfinden und ihretwillen sollte Emmy jetzt daran theilnehmen. Was in der Stadt an bedeutenden Leuten erreichbar, wurde durch die sich brillant aufthuende Gastfreundschaft der Mrs. Forster herangelockt. Politiker, Schriftsteller, Künstler, Geistliche. Mrs. Forster kaufte Gemälde und Skulpturen, hatte die neuesten Bücher Londons auf ihren Tischen, und

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war entzückt gute Musik in ihren Salons zu hören. In allen öffentlichen Comites für Erziehung, kirchliche Zwecke und so weiter figurirte nicht blos ihr Name, sondern trat sie wirksam auf. Und soviel als möglich Emmy neben ihr. Emmy versäumte ihre Pflichten nicht. Sie empfing mit ihrer Mutter. Sie lächelte, sie sprach, sie that was von ihr verlangt ward. Nichts aber vermochte den Zug tiefinnerlicher Stummheit fortzuschaffen, den die Bedeutendsten der Gesellschaft ihr wohl anmerkten und der dem Verkehre mit ihr etwas Todtes gab, bei all der Lebendigkeit in die sie zuweilen verfiel, wie es ja nicht anders sein konnte. Aber auch wenn Emmy diese heimliche Kälte nicht in sich getragen, der glänzende Verkehr im Hause ihrer Mutter entsprach dem nicht, was sie in Europa, in Deutschland zumal kennen gelernt. Die Amerikaner behandelten die Dinge des geistigen Verkehrs zu sehr als importirte Waare, neben anderen Waaren gleichen, vielleicht höheren Werthes. Die Innigkeit fehlte, mit der man sich in Deutschland der Erörterung von Fragen der höheren Cultur hingab. Man schrieb in Amerika, zumeist aber: man machte Bücher. Man malte und meißelte: d. H. man producirte Bildwerke. Man besuchte das Theater und die Concerte, musicirte auch selbst mit Eifer: es bildete einen Zeitvertreib neben andern. Wo wäre Emmy einem Künstler begegnet, der mit so selbstvergessener Liebe an seinen Werken hing wie der stille Bildhauer in Berlin? Das Gefühl, daß in diesen Richtungen das Höchste und Edelste des Volkes zur Erscheinung komme, fehlte; die rechte Lebenskraft den Dingen, welche zur Entstehung gelangten. Nachahmung nur, europäischer Muster. Nachahmung, oft mit ungemeiner Fertigkeit geschaffen, niemals aber eigentümliche Schöpfungen. Nachahmung selbst der Enthusiasmus dafür. Immer wieder wenn Emmy unter diesen Leuten saß, mußte sie an Deutschland denken und an den Ernst und die tiefe Ehrfurcht mit der dort geistiges Schaffen gepflegt ward. Wo waren Männer wie Erwin, wie die übrigen die ihren Kreis dort gebildet? Fragte man diese New-Jorker auf's Gewissen, was ihnen zumeist am Herzen liege, so gaben die welche als die vornehmsten Musiker und Schriftsteller galten, doch eine Antwort die mit der Kunst an sich wenig zu thun hatte. Der Erfolg, die Anzahl der abgesetzten Exemplare — Geld und Ruhm — die Stahlfedern aller Uhrwerke, mochten sie nun blos die Stunden zeigen, oder Melodien spielen, oder sonst etwas hervorbringen. Und doch waren ihr diese Männer noch lieber als die Frauen. Einseitigkeit ist bei Männern nichts beleidigendes. Fast vermißt man sie sogar wo sie mangelt. Daß ihnen die öffentlichen Interessen höher standen als die der Kunst und Wissenschaft, verrieth keine Schwäche wenigstens. Unerträglich dagegen war Emmy an ihren ehemaligen Freundinnen, wie jede sich in eine Rolle hinein gearbeitet hatte, diese durchführte und das Uebrige nicht zu sehen schien. Die eine war die schöne Frau, ihre einzige Sorge brillanter aufzutreten als die andern; die zweite die geistreiche, die dritte die fromme sich aufopfernde, die vierte die wohlthätige, die fünfte die haushälterische, die sechste die theologische, die siebente die philosophisch gebildete, die achte die literarische, die neunte die musikalische: jede nur mit sich allein beschäftigt und mit dem Kreise ihres Publikums; die einmal gewonnene Reputation in der einen Richtung aufrecht zu erhalten, ihr einziges Bestreben. Im Verkehr miteinander jede dann wiederum sorgfältig bemüht, der andern nicht in's Gehege zu kommen, anzuerkennen um anerkannt zu werden. Jede ihr Jagdgebiet, wo sie allein jagte. Emmy ward angedeutet, man erwarte von ihr, daß auch sie das Wild proclamiren werde, auf das sie zu schießen gedenke. Es stand ihr frei, als die kunstsinnige, oder gar kunsttreibende, als die weitgereiste, die für Paris, Rom oder Berlin begeisterte aufzutreten; was es nun aber sei: eine Wahl treffen sollte sie. Emmy jedoch hielt sich zurück und war bald, wie ein Thier für das in der Zoologie der lateinische Name fehlt, im großen Kataloge der Gesellschaft als seltsam und unclassificirbar bei Seite gestellt. Wie oft, wenn sie in diesen Gesellschaften sitzend, in denen selbst das Sprechen wie ein Geschäft betrieben wurde, dankbar anerkannte daß sich niemand gerade zur Aufgabe gemacht hatte sie zu unterhalten, gedachte sie der alten Welt und derer die sie dort kennen lernte. Die buntschillernde Einförmigkeit des geistigen Treibens um

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sich her mußte sie vergleichen mit der inhaltvollen Unterschiedenheit die in Europa dem Leben eigen war. In Amerika dieselbe Kleidung überall, dieselbe zusammengesuchte äußerlich zufällige Architektur. In Europa keine Stadt, die vor der andern nicht etwas voraus besaß. Die historischen Erinnerungen, die uns Europäer so sehr bedrücken daß wir Amerika um seine jugendliche Existenz beneiden, das wie ein Findelkind ohne Eltern und Verwandten aufwuchs und aus eigenem Kraftgefühl sich heraufarbeitete, erschienen Emmy als ein empfindlicher Mangel jetzt. Immer ärmlicher und öder sah ihr Vaterland sie an. Sie ward sich bewußt, wie der Volksgeist Frankreichs, Italiens, Deutschlands aus der forschenden Kenntniß der vergangenen Zeiten und ihrer Männer sich stets verjüngte. Hätte Italien sich je befreit ohne diese treibende Vergangenheit? Wo sollte Kunst gedeihen anders als auf solchem Boden? Wo Gelehrsamkeit anders aufgehen als aus den tiefen Ackerfurchen, die der scharfblickende Geist der neuesten Generation in uraltes Erdreich zog, das einst bloß lag und nun wieder Früchte trug? Emmy hatte sich eine Bibliothek beinahe mitgebracht. Wie verlockend schlugen Goethe's Gedichte jetzt an ihr Ohr! Sie versenkte sich hinein. Sie sah diesen Geist aus einer Zeit altertümlichen Lebens hineinwachsen in eine neue Epoche und sie nach sich gestalten. Ausgeschlossen fühlte sie sich von diesen Wohltaten. Sie dachte, wie nah sie daran gewesen war, hineingezogen zu werden in dies Leben, aus dem ihr Vater einst sich losriß (wer weiß mit welchen Entbehrungen?) und zu dem ihre Seele zurückstrebte. Schritt vor Schritt durchmaß sie in der Erinnerung mehr als einmal ihren Weg durch Deutschland. Welch blühender Reichthum geistiger Denkmale! In Dresden, in München, in Weimar war sie gewesen: Deutschland dehnte sich aus vor ihren Blicken, als überdeckte es einen ungeheuren Theil der Erde mit seinen Fluren, während Amerika sich enger und enger zusammenzog. All das hatte ihr zufallen sollen durch Arthur und lag nun wieder so fem. Nur eines Schrittes hätte es bedurft, und Goethe und Schiller waren ihre Dichter geworden, ihre Sprache die ihrige, der Rhein ihr Strom. In Deutschland hatte sie sich nach Amerika gesehnt zuweilen; welch ein anderer Drang der Sehnsucht aber, der sie nun nach Deutschland zog! Am innigsten jedoch erweckte die Musik dies Gefühl in ihr. Oft geschah es, daß wenn sie eine Sonate von Beethoven oder Mozart spielte, mitten darin ihre Hände matt wurden, sie hielt inne, sie meinte das Herz müsse ihr zerspringen. Nichts entfachte so grenzenlose Trauer in ihr. Wie oft erinnerte sie sich an ihr und Arthur's erstes Gespräch, als er die Wohlthat beschrieb, ruhig an einer Stelle zu sitzen, wo Erinnerungen an den Dingen kleben: wenn sie Beethoven sich vorspielte, schien ganz Deutschland Stimme zu empfangen und sie zurückzurufen, dahin wo ihre wahre Heimath sei. Das der Inhalt des Winters, den Emmy verlebte in New-Jork. Mr. Smith fehlte in ihren Gesellschaften. Er schien das Bedürfniß zu haben, ununterbrochen den Ort zu wechseln; er sollte in der Havanna sein. Seine Fenster waren lichtlos wenn Emmy Abends hinüber sah, wie Arthur einst auf die ihrigen, und die dunkeln Tannen um sein Haus starrten zwischen den Sternen auf, wie die Pappeln um das ihre vor Arthurs Blicken einst. Und nun kam wieder nach einem kurzen Frühling der volle Sommer gleich, die Knospen brachen auf mit Macht in heißen Tagen und lauen Nächten, und es war schwül in den Wegen des Gartens und mild in den lichten Schatten der Bäume wie damals als Arthur zum ersten Male am Gitter gestanden und das zitternde Licht beobachtet hatte. Emmy ging eines Tages im Garten an der Hecke hin, die ihr Grundstück von dem Smiths trennte. Es war um die Morgenzeit. Eigentlich hätte sie Briefe zu schreiben gehabt für ihre Mutter, aber sie ließ, wie jetzt öfter geschah, die Schreiberei liegen und machte sich im Garten zu thun. Sie sah die Leute drüben hacken und Harken, die unbetretenen Wege immer wieder sorgsam reinigen. Die Stämme ragten schlank auf, mit Rändern von Sonnenlicht, unter denen Arthur gelegen jene Nacht. Emmy wußte es nicht. Aber sie gedachte seiner wie mit neu erwachenden Kräften. Ewige Zeiten

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schienen verrauscht, seit sie ihn zum letzten Male gesehen. Wo war er? Was hätte sie gegeben für einen Blick nur auf sein Antlitz! Alles, alles was sie besaß. So stand sie an der frischgrünen Hecke und Smiths alter Gärtner arbeitete dicht daran. Wie gehts, Joe? rief sie herüber und lächelte dem Manne freundlicher zu, als irgend einem von den vielen Menschen denen sie Winters hatte lächeln müssen. Danke, Miß Forster, so ziemlich. Ich wollte ich hätte mehr zu thun. Ihr arbeitet doch den ganzen Tag? Ja, aber wenn ich es nicht thäte, wäre es dasselbe. Es sieht keiner danach. Nun, der Herr wird doch einmal wiederkommen? Ja, einmal, aber wann? Er ging so eilig fort, sagte Emmy jetzt, daß er nicht einmal Abschied von uns genommen hat. Ja, es kam ihm über Nacht, entgegnete der alte Gärtner und stellte die Hacke in Ruhe vor sich. Erst der Eine wie ein Blitz fort, dann er selbst hinterdrein, ein paar Tage später, und nun keine Seele im Hause, länger als sechs Monate. Der Eine? fragte Emmy unschuldig, und erzitterte innerlich dabei, denn sie wußte, daß Smith mit Arthur bei Wilson gewesen, aber nicht daß Arthur bei Smith gewohnt. Wissen Sie, Miß Forster, Mr. Arthur, der deutsche Gentleman. Das war ein wunderlicher Herr. Aber diese Germans sind alle ein wenig so. Hier! er deutete mit dem Finger bedeutungsvoll auf die Stirn. Das Eine thun sie, das Andere denken sie. Erst schien es, als wollte er für immer dableiben, und wahrhaftig, sie lebten wie die Brüder zusammen, obgleich er ihn nur wie einen kranken Bettler am Wege aufgelesen, und dann die plötzliche Krankheit, und dann fort. Wie einen kranken Bettler? fragte Emmy und konnte ihre Stimme kaum regieren. Dort saß er an Ihrem Gitter, erzählte nun der Gärtner lebhafter und deutete zwischen den Büschen durch, denn die Stelle war von ihnen aus gerade sichtbar, mitten in der glühenden Sonnenhitze, halbtodt, er nahm ihn mit sich und brachte ihn hierher, wir mußten ihn ins Haus tragen, wir dachten er hätte einen Stich oder einen Schuß abbekommen, und dann lag er lange krank. Sie reisten ein paar Tage darauf nach Mountainville, im vergangenen Jahre, so gerade um diese Zeit mag es gewesen sein. Und dann erholte er sich, und dann hier, nachdem sie einen Tag in den Wäldern gewesen bei Mr. Wilson, wieder Nachts plötzlich diese furchtbare Krankheit. Dort zwischen den Stämmen fanden wir ihn frühmorgens liegen, ich dachte wahrhaftig, er wäre todt. Und dann der Herr ihn wieder gepflegt, Tag und Nacht, und dann reiste er ab. Sein Zimmer steht oben noch wie er es verlassen hat, sein Bett und sein Schreibtisch. Der Herr hat den Schlüssel abgezogen. Wir denken manchmal, er bringt ihn wieder mit. Es war ein so stattlicher Gentleman, wie ich sonst keinen Deutschen gesehen habe, so viel mir vorgekommen sind in New-Jork. Es ist gut, Zoe, guten Morgen, brach Emmy die Unterhaltung ab, weil sie fühlte sie müsse umsinken wenn sie länger da stände und sich erzählen ließe. Was für Nachrichten! Nicht geahnt hatte sie, daß Arthur krank lag bei Smith. Aber ihre Mutter hatte es gewußt! Deshalb die plötzliche Abreise nach Mountainville! Dort am Gitter hatte ihn Smith aufgelesen wie einen kranken Bettler! Und krank von neuem wieder in jener Nacht, nach dem Tage wo sie sich begegnet waren bei Wilson! Das wogte durcheinander in ihr. Sie ging vorwärts mit zitternden Schritten. Sie kam zu einer Bank endlich. Dieselbe, auf der Arthur ausgeruht, als er den letzten Abschied ihrer Mutter empfing. Sie ließ ihre Blicke umherschweifen. Johnny, der alte Neger, stand am Gitterthor des Gartens und schwatzte mit dem Briefträger. Mit etwas wie einem kleinen Paquete in der Hand kam er dann an ihr vorüber. Sie rief ihn heran. Was trägst Du da? Sie fragte ohne zu wissen warum. Es mochten Zeitungen sein, sie war nicht neugierig. Einen Brief, sagte der Alte, der bis auf eine gewisse Entfernung nur heran kam. Mrs. Forster hatte privatim den strengen Befehl gegeben, alle Briefe die aus Europa kämen, mochten sie adressirt an wen sie wollten, ihr allein zu geben und sie Niemand zu zeigen und Niemand davon zu sprechen.

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Es ist gut, sagte Emmy, geh'. — Halt! rief sie dem abwatschelnden Neger nach. Johnny! Ja, ja, antwortete er und kam halb zurück. Komm her, sagte sie; und den Brief auf den Rücken haltend schob er sich ein halbes Dutzend Schritte weiter heran. Du hast doch davon gehört, wie Mr. Smith damals den Herrn, der drüben so lange krank lag, dort außen am Gitter fand, im vergangenen Frühjahr? Ja. Miß Emmy, sagte der Neger, der in dieser Beziehung kein Verbot empfangen hatte. War der Gentleman irgend einmal hier im Garten vorher? fragte Emmy weiter. Ja, Miß Emmy. An jenem Tage? Ja, Miß Emmy. Und fragte nach mir? Sie wußte selbst nicht, wie sie auf die Frage kam. Ja, Miß Emmy. Und ich war nicht da? Nein, Sie waren nicht da. Aber meine Mutter? Jetzt fragte Emmy, weil ihr eine wunderbare Ahnung aufging. Ja, ich glaube Mrs. Forster, sagte der Neger. Und sie sprach mit ihm? Ja das that sie. Wo war das? Hier an dieser Stelle. Emmy sank zurück. Sie hatte keine Kraft mehr zu fragen, und der Neger, sich wie losgelassen fühlend, lief davon als wollte ihn ein Hund in die Beine beißen. Ohne zu wissen beinahe was sie gethan, hatte Emmy das Geheimniß heraus gebracht. Ein Sturm bewegte sie, dem sie zu erliegen drohte. Eine geheime Macht hatte gewaltet zwischen ihr und Arthur! Dinge waren versteckt worden vor ihr! Warum? Sie mußten wichtig genug sein, daß man sie so ganz und gar von aller Kenntniß abgeschnitten! Warum war Arthur erkrankt nach jener Nacht? Und dann abgereist wieder? Etwas Furchtbares mußte ihm angethan worden sein, und ihrer Mutter Hände waren dabei im Spiele! Zu ihr wollte sie, um sie zur Rede zu setzen. Auf der Stelle. Aber sie blieb noch. Ihre Phantasie hielt sie auf dem Platze zurück, um den jetzt ein Zauber zu walten schien. Hier hatte Arthur geweilt! Hier vielleicht erbarmungslos niederschmetternde Worte gehört aus ihrer Mutter Munde. Sie warf sich auf den Boden nieder und fuhr gedankenlos mit den Händen durch die kleinen Steine die den Platz bedeckten. Arthur hatte sie betreten. Und dorthinaus war er fortgewiesen worden, dort hatte er gesessen am Gitter im Sonnenbrande! Einen armen kranken Bettler hatte in Joe genannt. Sie rang die Hände. Fort zu ihm hin, und hätte sie ihn über die ganze Erde suchen müssen. Barfuß wollte sie laufen, so weit sie ihre Füße trugen — zu ihm! Sie schauderte. Jeder Tropfen Zeit schien ihr kostbar und verloren, wenn sie sich nicht auf den Weg machte. Plötzlich wandten sich ihre Gedanken auf den Brief, den Johnny versteckt gehalten. Weshalb? Er war an sie gewesen! Ein Brief Arthurs! Nicht der einzige vielleicht, der unterschlagen worden war? Sie mußte ihn sehen! Sie sprang auf und eilte in das Haus. Athemlos stand sie vor ihrer Mutter, die sie am Schreibtische fand. Nichts zu sehen von einem Briefe darauf. Wo ist der Brief, Mutter? rief sie und griff mit den Augen suchend, zitternd nach einem Pack Papieren, die sie um und umwandte, ob er darunter liege. Mrs. Forster erschrak, faßte sich aber sogleich und ließ sich nichts merken. Welcher Brief? fragte sie langsam und milde. Mutter, rief Emmy in einem Tone, der die Frau erschütterte, ich will Arthurs Brief haben! Ich muß wissen, was darin steht. Den Brief, der eben ankam! den Johnny trug. Er ist an mich! Ich weiß es. Er ist an mich! Ich will ihn haben! Wir wollen davon reden, erwiederte die Mutter, jetzt mit dem Tone fester Kraft, mit dem sie anzudeuten pflegte, sie lasse nicht mit sich unterhandeln.

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Mutter, rief Emmy wild, ich muß es wissen und ich lasse mir nichts mehr verheimlichen! Kind, sagte die Mutter sanfter, wer will Dir etwas verhehlen? Du! rief Emmy, Du! Mr. Smith! Wilson! Das ganze Haus! Ihr alle, alle! O, ich fühle es, daß ihr mir nicht sagt was vorgeht. Aber ich werde es wissen! und indem sie das noch ein paarmal wiederholte mit erstickender Stimme zuletzt, nahmen ihr die Thränen, in die sie ausbrach, die Fähigkeit, ihrer Leidenschaft weiter Worte zu geben. Mrs. Forster war keine Frau die sich zwingen ließ. Lügen und Unwahrheiten waren ihr verhaßt, zu Emmy's Besten aber hätte sie lügen und morden können. Sei dies zuviel gesagt: soviel stand fest bei ihr in diesem Momente, daß die Frage, ob Emmy den Brief bekommen solle oder nicht, nicht jetzt und überhaupt erst nach reiflicher Erwägung entschieden würde. Unberührt lag der Brief in ihrem Schreibtische. Sie schwieg und dachte nach. Ich will überlegen, was ich thun werde, sagte sie endlich mit ruhiger Härte, verschloß den Schreibtisch, nahm den Schlüssel fest in die Hand, erhob sich und ging aus dem Zimmer. Emmy blickte ihr nach. Sie war wie erstarrt. Jetzt erst ward sie sich der Anklagen bewußt, die sie in ihrer Leidenschaft ausgestoßen. Ihre Mutter hatte Alles zugegeben! Ihr Benehmen zeigte es zu deutlich. Losgesprochen fühlte sich Emmy von ihrer Gewalt. Mochte ihre Mutter denken und handeln wie sie wollte. Was sie von Arthur zu denken hätte, wollte sie selbst erfahren, unabhängig von fremdem Einflüsse ihm gegenübertreten. Fort nach Europa! Unbeschreiblich beruhigte sie dieser Entschluß. Sie suchte ihr Zimmer auf und begann zu überlegen, wie sie die Reise vornehmen sollte. Ob heimlich, ob im offenen Widerstande. Mittel dazu hatte sie reichlich in Händen. In Schweigen gehüllt ging sie den Tag über an ihrer Mutter vorüber. Sie kam zu dem Entschlusse offen fortzugehen. Aus den Zeitungen ersah sie, daß noch ein paar Tage verstreichen mußten, ehe ein Schiff abging. Am späten Nachmittage saß sie auf der Bank wieder, die wie ein heiliger Platz im Garten lag. Es schien ihr, da allein gehöre sie hin. Sie malte sich aus, was wohl gesprochen worden sei. Ganz anders freilich sah sie die Begegnung Arthurs und ihrer Mutter vor sich als sie in Wirklichkeit geschehen war, und glaubte doch jedes Wort gehört zu haben. Dann ging sie den Weg wieder zu Smiths Garten, um hinüber zu sehen nach den Bäumen, wo Arthur gelegen hatte. Sie wollte auch da den Grund und Boden selbst betreten haben; die Hecke hatte einige schwache Stellen, sie bog die Büsche auseinander und war drüben. Unter den Bäumen blieb sie lange, dann ging sie zu Smiths Hause, schritt langsam auf und nieder vor ihm und sah zu den Fenstern auf, von denen der Gärtner gesagt, Arthur habe da oben gewohnt. Die Jalousien fest verschlossen, nichts regte sich, die Gedanken kämpften in ihrem Herzen. Plötzlich, wie auf dem Theater beinahe, wo sich eine Coulisse aufthut und eine unerwartete Person auftritt, ein Gerappel im Hause: die Mittelthür des Gartensalons sprang auf, und vor ihr stand wettergebräunt Smith, eben angekommen aus dem Süden und nachdem er Emmy erkannt mit tausend Begrüßungen auf sie losstürmend. Meine theure — theure Miß Emmy! Wie — wie — wie gehts? Sie hier auf meinem Grundstück? Ein guter Engel, der hier Wache hält? Komme direkt von New-Orleans. Wollen Sie morgen mit hinüber nach Europa? Ich reise mit Ihnen, entgegnete Emmy langsam und ihn ruhig ansehend. Mit? Nach Europa? brach Smith heraus, so sehr sich selbst vergessend vor Erstaunen, daß er in dem Tone, in dem er diesmal sprach, die Linie der Zurückhaltung, welche er Emmy gegenüber nie zu überschreiten pflegte, um ein paar tüchtige Sprünge weit hinter sich ließ. Haben Sie Nachrichten? — vielleicht? fügte er dann in desto zarterem, gedämpfteren Tone hinzu. Gehen wir unter die Bäume dort, sagte Emmy und deutete auf die Stelle, wo Arthur krank gelegen. Sie setzten sich da nieder. Nun erzählen Sie, liebster Freund, begann sie, wie war es mit Arthurs letzter Krankheit? Sie dachte nicht daran, statt „Arthurs" etwa „des Grafen" zu sagen. Sie hätte jedem der es wissen wollte bis auf den letzten Tropfen ihr Gefühl

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für Arthur klar eingeschenkt, wäre ihr geboten worden Nachrichten über ihn dafür einzutauschen. Smith fühlte sich in keiner Weise gebunden, ihr zu verschweigen was geschehen war. Als er an jenem Tage Mrs. Forster fest versprochen, Stillschweigen über Arthur zu beobachten, konnte ihm gar nicht in den Sinn kommen, es handle sich darum etwa, vor Emmy etwas geheim zu halten. Er verstand den Wunsch der Mutter für den der Tochter zu gleicher Zeit. Ein Mädchen wird in Amerika, in jüngeren Jahren bereits als Emmy zählte, für zu sehr Herrin ihrer eigenen Person gehalten, als daß man ihr Kenntniß von Dingen vorzuenthalten denken könnte, die sie zu wissen berechtigt war. Und deshalb, auf Emmy's Aufforderung jetzt, begann er um so lieber zu erzählen was seine Erinnerung ihm irgend darbot, als es ihm selbst eine Erleichterung war, über Arthur, an den er so oft dachte, reden zu dürfen. Mit unaussprechlichen Gefühlen hörte ihm Emmy zu. Die Erzählung dieser Qualen jetzt in Smiths kurzer, lebhafter Weise im Extract gleichsam zu empfangen, war ein Erlebniß für sie, das alles jemals von ihr empfundene überbot. Sie saß mit gefalteten Händen da, todtenbleich, kaum athmend, und nur deshalb bemüht ihren Zustand zu verbergen, damit Smith sich nicht unterbreche. Nun aber der Schluß. Wie fuhr Smith auf, als er bei dem letzten großen Irrthume Arthurs aus Emmy's Munde die Auflösung erfuhr. Alles eine Täuschung! Ein paar Momente war er ganz sprachlos, bis er in eine Fluth der heiligsten Schwüre ausbrechend, Arthur aufsuchen zu wollen versicherte ohne einen Moment zu verlieren. Sein leidenschaftliches Wesen jetzt beruhigte Emmy am meisten. Wir gehen zusammen, sagte sie. Top! rief er und drückte ihr die Hände. Sie wollte das Zimmer sehen, wo Arthur krank gelegen. Smith riß die Läden seines Schlafzimmers auf und von außen blickte sie hinein. Dort lag er, sagte er, und dort auch das Gemälde. Es hing wieder an seiner Stelle und lächelte freundlich herunter. Das Schiff geht übermorgen, bemerkte Smith. Sind bereits Plätze für Sie belegt? Nein, sagte Emmy. Er versprach sie sofort zu besorgen. Daß sie vielleicht ohne ihre Mutter ginge, ließ Emmy absichtlich unerwähnt; auf den einen Platz kam es nicht an. Sie trennten sich. Emmy schloß sich in ihr Zimmer ein und ordnete mancherlei für die Reise an. Sie ging wie im Traume umher. Zuweilen war ihr, als rauschte das Meer schon wieder unter ihren Füßen und durchschütterte sie das leise Zittern und Dröhnen der Maschine. Dieser Gedanke aber brachte jenen andern mit sich: ob sie allein oder mit ihrer Mutter ginge. Nun da die Reise unwiderruflich beschlossen war, stellte sich ihr die Frage: was denn ihre Mutter beginnen würde ohne sie. Kalt fortgehen wollte sie von dieser Frau, die ihr lebenlang für sie gesorgt, mit einer Treue die nur zu erprobt war? Und sogar das mußte Emmy nun bedenken: hatte sie denn feste Beweise in Händen für das was sie als sicher annahm. Arthurs Irrthum ließ sie erkennen, wie furchtbar man irren könne, wo Irrthum fast unmöglich scheine. Aus welchen Gründen hatte ihre Mutter gehandelt? Ueberhaupt, was war geschehen? Und endlich, was enthielt Arthurs Brief? Den Brief mußte sie haben! Ein unerträgliches schwankend-zauderndes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Verschwunden die klare beruhigende Sicherheit, die eben noch in ihr geherrscht. Reisen wollte sie; aber den Brief mußte sie haben. All ihre Gedanken hingen an dem einen Faden jetzt: sie mußte den Brief sehen. So kam die Nacht. Ihr und ihrer Mutter Betten standen nebeneinander. Niemals schliefen sie ein ohne in einem kürzeren oder längeren Gespräche Allerlei das der vergangene Tag gebracht hatte oder der kommende bringen würde, durchzunehmen. Heute schwiegen sie, wie sie den Tag über gethan. Emmy bedachte ihre Reise. Sie erschien ihr so leicht und einfach, wie einem Kinde das in einem kleinen Gärtchen um ein paar Sträucher herum ein anderes sucht das sich da versteckt hat. So kurz und natürlich in ihren Augen der Weg hinüber, wie nicht einmal die Reise nach Mountainville. Emmy hielt die Augen offen unter solchen Gedanken und beobachtete ihre Mutter: sie hatte anderes im Sinne jetzt als zu schlafen.

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Mrs. Forster war endlich eingeschlummert. Sie wußte nicht, wie lange das gedauert hatte, als ein Geräusch sie weckte. Emmy, die Frau bemerkte es mit blinzelnden Augen ohne sich zu rühren, richtete sich auf, warf ihr leichtes Morgenkleid über, immer in Zwischenräumen innehaltend und lauschend, erhob sich dann, tappte leise vorwärts und schlich, jetzt wirklich wie ein Schatten, an Mrs. Forsters Bett, hob das Schlüsselkörbchen, das auf einem kleinen Tische daneben stand, leicht auf, daß es fortzuschweben schien, wand sich durch die halboffenstehende Thür und war verschwunden. Durch die dunkeln Zimmer ging Emmy hin bis zu dem ihrer Mutter. Eine Kerze ward angezündet, nachdem die Vorhänge vorher dicht geschlossen worden waren, und auf den Schreibtisch gesetzt, der selbst dastand als dürfe er nicht erweckt werden. Sie schloß auf und zog ein Schubfach heraus: da lag der Brief! An sie adressirt! Von Arthurs Hand! Sie stieß einen leisen Freudenschrei aus. Niemand hörte ihn, er klang nicht lauter als ein Athemzug. Sie hielt den Brief an ihr Herz gedrückt und sah sich um wo sie sicher lesen könnte. Kein Platz schien gut genug. Plötzlich aber ein Gefühl, als sei jeder Moment kostbar, und deshalb wo sie stand sich niedergesetzt mit dem Lichte neben sich und das Couvert erbrochen. Da lagen die vielen, vielen Blätter auf ihrem Schooße. Da las sie: Liebste, liebste Emmy — und am Ende seinen Namen, und nun mit fliegenden Blicken von Anfang an, was diese Bogen enthielten. Mrs. Forster hatte sogleich errathen, was Emmy im Sinne gehabt. Es fehlte ihr die Kraft, zuzugreifen, als der Schlüsselkorb verschwand. Sie kam sich wie unter dem Banne des waltenden Schicksals vor und hielt still aus ihm gegenüber. Sie wartete daß ihre Tochter zurückkäme. Nach langem Harren ertrug sie das nicht mehr, machte sich leise auf und ging ihr nach: von fern sah sie durch die offenstehenden dunkeln Zimmer die leuchtende Thürritze. Bis zu ihr hin kam sie ungehört, weiter ging sie nicht. Mit angehaltenem Athem beobachtete sie Emmy und sah sie lächeln und weinen beim Lesen. Leise trat sie wieder den Rückweg an und wartete von neuem daß sie käme. Fast eine Stunde war so vergangen, der Tag fing an zu grauen, wieder schlich sie an die Thür. Die niedergebrannte Kerze war ausgelöscht, Emmy hatte die Vorhänge fortgezogen und das Fenster geöffnet, beim Schimmer des ersten Lichtes den Schluß des Briefes lesend, den sie zum zweiten Male schon vollendete. Der Frau durchschnitt der Anblick das Herz. Sie dachte an ihre Jugend, an die durchwachte Nacht in Mountainville ehe Forster davonritt, wie sie fröstelnd da am Fenster gestanden und nichts sie ihrer Leidenschaft damals entrissen hätte. Sie wartete. Endlich legte Emmy das Blatt nieder und, es in der Hand haltend, blickte sie hinaus in die Bäume, durch die mit sanftem Rauschen stoßweise die Schauer des anbrechenden Tages flogen. Nun trat die Frau hinzu. Emmy sah sich um. Sie blickte ihre Mutter fremd an. Ich habe mir meinen Brief genommen, sagte sie; da liegt er. Ich brauche ihn nicht zu lesen, antwortete ihre Mutter; genug, daß Du es gethan hast. Ich reise morgen zu ihm, mit Smith, sagte Emmy. Weshalb hast Du mich nicht wissen lassen, daß er todtkrank drüben läge, nachdem Du ihn hinausgestoßen? Kind! sagte die Frau und legte ihr die Hand auf die Schulter. Mutter? antwortete sie kalt und tonlos und sah ihr groß in die Augen. Komm her, sagte die Frau und wollte sie neben sich niederziehen. Emmy setzte sich entfernt von ihr nieder. Glaubst Du, nahm Mrs. Forster noch einmal das Wort, daß, was ich jemals gethan habe so lange Du lebst, aus anderen Gründen geschah, als weil ich Dich mehr liebte als mich selbst und alles Andere, nun da Niemand mehr da ist außer Dir? Ich glaube es Dir, sagte das Mädchen. Aber ich kann jetzt nichts vor mir sehen als Arthur, wie er todtkrank lag und ich wußte es nicht. — Ich will hinüber gehen und schlafen, sagte sie dann und ging aus dem Zimmer. Mrs. Forster folgte ihr nicht. Sie nahm den Brief und begann zu lesen. Das Thema des Schreibens war, wissen wir, der auf den Glauben an die Vaterschaft jenes Unbekannten in Arthur entstandene Umschwung. Zuerst begriff sie nicht, worum

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es sich handelte. Mehr, und mehr aber wurde ihr der Zusammenhang klar, und nun fingen die Buchstaben an ihr vor den Augen zu tanzen. Ueberkochende Empörung stieg auf in ihr. Sie mußte das Fenster wieder öffnen, um kühle Luft einzuathmen. Thränen brachen ihr aus den Augen. Mit beiden geballten Händen die Schläfen pressend stand sie da und erwog diese nun letzte Beschimpfung, die ihr in Gestalt ihres verstorbenen Mannes von dorther angethan ward. Das wagte man zu glauben und zu schreiben! Ja, nach Deutschland wollte auch sie nun: Nicht einen Moment länger sollte Arthur wähnen dürfen, das sei geschehen zwischen Forster und der Gräfin. Zu gut ihr Mann, um einen solchen Menschen zum Sohne zu haben, rief es verachtungsvoll aus ihrer Seele. Das der Inhalt ihrer Gedanken jetzt allein: diesen Flecken abzuwaschen von Forsters Angedenken. Das das Erste auch was sie Emmy mittheilte als sie mit ihr nach einigen Stunden wieder zusammentraf. Sie habe nichts gegen die Reise. Vortrefflich, daß Smith die Billets nehmen wolle. Hatte Emmy sich von ihr abgewandt, so concentrirte sie, vereinsamt nach dieser Seite, all ihre Leidenschaft wieder auf den einzigen, dessen Andenken jetzt zu rächen war. Kalt berieth sie mit Emmy die Ordnung ihrer Angelegenheiten für die Zeit des Fortseins. Smith trat herein, einen Pack Zeitungen in der Hand. Die Billets brachte er, die ihnen die Cajüte zusicherten, und wichtige Nachrichten aus Deutschland. Meine Freundinnen, rief er aus, ohne sogar Guten Morgen! zu sagen, wir müssen eilen um hinüber zu kommen. Krieg in Deutschland! Wer weiß, wie die Dinge jetzt schon stehen, und wie gar wenn wir drüben sind. Wird Arthur davon berührt? fragte Emmy. Soviel wie jeder andere Mann im Lande, versetzte Smith. Er steht bei der Reiterei. Er wird sich wahrhaftig nicht halten lassen. Wir haben mehr als einmal darüber gesprochen. Der nicht! Gott im Himmel wird ihn beschützen, sagte Emmy leise, während in Mrs. Forsters Seele der Gedanke aufstieg, dieser Krieg werde am einfachsten vielleicht eine Lösung bringen. Noch einen Tag, und auf dem Verdecke des Dampfers stehend mit Smith, sahen sie die Stadt und das Gebirge hinter ihr zurückweichen wie Arthur sie schwinden gesehen.

Dreiunddreißigstes Capitel. Als Mrs. Forster, Emmy und Mr. Smith Berlin erreichten, war jene Reihe von Tagen eben angebrochen, wo jeder Morgen einen neuen Erfolg der Armee in Böhmen meldete und die Menschen bereits ungeduldig zu werden begannen, daß nicht auch Abends obenein ein Sieg an den Straßenecken zu lesen war. Am Brandenburger Thor die Wache leer und geschlossen, auf dem Platze davor ein Berg von leeren Kisten, die Stadt doppelt bewegt und ausgestorben zu gleicher Zeit. Smith ging aus auf Kundschaft. Erwin fort, als Arzt bei der Armee; Arthur fort; der Bediente fort; der Kutscher, die Pferde fort. Arthur's alte Köchin in Erwin's Wohnung als Kastellanin bei glänzend gewichsten Fußböden und herabgelassenen Vorhängen waltend, wußte nichts anzugeben, als daß sie keine Nachrichten habe. Weiter umher: der Privatdocent fort, dagegen der Bildhauer vorhanden. Smith, und Emmy die an seinem Arme mitgegangen war, sahen durch das Weinlaub, von dem das Atelierfenster halb überhangen war, Arthur's Statue dastehen, nun vollendet und mit den Götteraugen gerade ausblickend, wie die Unsterblichkeit vor sich. Sie vernahmen das leise Hämmern, klopften an und die Thüre öffnete sich. Der junge Mann glaubte eine Erscheinung zu sehen, als er Emmy erblickte. Er konnte nicht reden in den ersten Momenten. Von Arthur wußte er nichts. Der alte Kunstfreund sei lange schon verschwunden. Ihm selbst, als Unterthan eines nicht in den Krieg verwickelten kleinen Staates, war das Loos zugefallen, inmitten der ungeheuren Bewegung still weiter zu arbeiten.

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Dagegen das kleine Fräulein sichtbar, wenn auch im Fluge nur. Es stand im Begriffe, mit einem Transporte medicinischer Kisten nach Böhmen abzufahren. Der alte Oberst war dort beim Krankenwesen thätig, denn mit den Nachrichten der großen Erfolge waren die der ungeheuren Verluste zugleich eingetroffen. Niemand aber kannte noch die Regimenter die betheiligt gewesen waren, geschweige denn die Namen der Gefallenen oder Verwundeten. Dies das Resultat des ersten Tages und des Nachdenkens und Gespräches am Abend. Mrs. Forster war leidend. Diese Rücksicht allein hielt Emmy zurück, welche sonst am selben Abend noch nach Böhmen abgereist wäre, um in den Lazarethen zu helfen. Das kleine Fräulein bestärkte sie darin. Emmy fühlte sich in Gedanken an Arthur nun so sehr als Deutsche, daß ihr diese Reise die natürlichste Sache schien. Arthur war im Felde: ihre Pflicht, als Frau nach Kräften das Ihrige zu thun. Sie hielt sich für direct betheiligt gleichsam an den Ereignissen. Vorerst wollte Mr. Smith nun einen kurzen run nach dem Kriegsschauplätze machen, um bald wiederzukommen und Emmy zu holen. Ihm war dergleichen äußerst angenehm. Vom Gesandten gut empfohlen, mit einem Revolver in der Tasche, einige Kisten feinerer Lebensmittel als Passagiergut aufgebend, fuhr er ab. Emmy blieb zurück bei ihrer Mutter. Die Frau erwartete schweigsam was werden würde. Der Gedanke: Arthur zu eröffnen, daß seine Phantasien in Betreff ihres seligen Mannes ein schmählicher Irrthmn seien, hatte in solchem Maße Besitz von ihr genommen, daß sie Tag und Nacht nichts eigentlich that, als die Worte, mit denen sie die Wahrheit zu erkennen geben wollte, immer anders gedacht und gewandt, in der Stille sich selbst zu wiederholen. Im Uebrigen in ihr Schicksal ergeben, erwartete sie mit Resignation daß Arthur zurückkäme oder auch nicht, denn immer größer wurden die Zahlen, welche die Verluste ankündigten, mit denen das Land seine Siege erkaufte. Wo war Arthur? Wenig Tage, nachdem er den Brief an Emmy auf die Post gegeben, langte für ihn und Erwin Ordre an, sich zu stellen. Beide gehörten sie zu denen, welche, als die Dinge einmal auf einen gewissen Punkt gediehen waren, die kriegerische Lösung für unvermeidlich hielten. Schon deshalb, weil ohne sie die inneren Verhältnisse einen Grad der Abspannung erreicht hätten, der zu moralischem Ruin führen mußte. Sie glaubten beide jetzt an einen glücklichen Ausgang und trennten sich in der günstigsten Stimmung, jeder um an seine Bestimmung abzugehen. Arthur hatte sich ein prachtvolles Pferd gekauft, mit dem er bei seinem Regimente erschien. Langsam zuerst setzte man sich in Bewegung. Eine Reihe für ihn angenehmer Begegnungen, herbeigeführt zumeist durch den wohlbekannten Klang seines Namens, brachten ihn bald nach allen Seiten in die besten Verhältnisse. Sein Regiment gehörte zu den am meisten vorgeschobenen Truppen. Aus Plänkeleien wurden Gefechte. Die Ereignisse drängten sich: aus Gefechten wurden Schlachten. Das Berauschende dieser Erfolge durchdrang Wenige vielleicht so ganz und gar wie ihn. Niemals in seinem Leben hatte er sich so im richtigen Fahrwasser gefühlt, für das er sich geschaffen schien. Mehr: niemals hatte er nur geahnt, daß es ein Fahrwasser gäbe wie dieses. Er war als er von Amerika zurückkam, mit der ihm wie von selbst zufallenden Schriftstellern zufrieden gewesen. Er glaubte gefunden zu haben, wofür er bestimmt sei. Welch andere Erfahrung jetzt! Vom ersten Tage an, wo er zu seinem Regimente gestoßen war, hatte das Gefühl, daß eine bestimmte Anzahl Leute ihm untergeben seien, die sein Befehl vorwärts führte für eine herrliche Sache, ihn mit unbeschreiblichem Wohlsein erfüllt. Nach oben hin von Befehlen geleitet, die es nur energisch auszuführen galt ohne verbessernde Kritik, nach unten hin von Leuten gefolgt, denen er zutraute, sie würden vor nichts zurückschrecken, sah er sich aus der Stellung eines obscuren, losen Anhängsels der Gesellschaft zu der eines im höchsten Sinne mitwirkenden, fest eingefügten Mitgliedes desjenigen Theiles des Volkes erhoben, der jetzt als der wichtigste von allen die Blüthe der Nation darstellte, auf die die Welt ihre Augen gerichtet hielt. Dankbarkeit gegen das Schicksal erfüllte ihn. Dies vom Tage zum Tage Leben in freier Luft so recht sein Element. Die Anstrengungen des

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Marsches, denen sein Körper durchaus gewachsen war, wirkten erfrischend; das Bewußtsein, welchem Feinde es gelte, begeisternd. Er, der Jahre hindurch mit thatlosem Denken und Erwägen lange Tage hatte verbringen müssen, dachte kaum mehr. Sein Wesen ging auf in der allgemeinen Empfindung der ewig wechselnden Lage. Und als dann ernsthafte Zusammenstöße erfolgten und er an sich gewahrte, welche Ruhe er in den Attaquen bewahrte, wie seine Kaltblütigkeit in die Seele seiner Leute überfloß, wie man ihn liebte und auf ihn sah, wie seine Vorgesetzten das zuerst bemerkten, dann bei Gelegenheit sich darauf verließen, hob ihn das zu immer höherem Selbstgefühl. Bei Sadowa war es, inmitten des ungeheuren Angriffs, der zuletzt den Sieg krönte. Ein Gefühl durchwallte ihn hier, als müsse die donnernde Reiterwolke, in der er mit dahinjagte, siegend sich wie eine gewaltige Welle über die Erde weiterwälzen unaufhaltsam ohne Ende, und als dann von den letzten Granaten die hier von dem fliehenden Feinde geworfen wurden, die allerletzte vielleicht, vor ihm einschlug und ihn mehrfach verwundet unter sein zerrissenes Pferd warf, stürmte er noch in Gedanken vorwärts und lauschte mit glänzenden Blicken dem verschwindenden Getöse, ohne an seine Wunden zu denken und an das Schicksal das ihn nun erwartete. Er war schwer, aber nicht tödtlich getroffen. Unter seinem Pferde kroch er mit Mühe hervor; dann, kraftlos vom Blutverlust, von der schlaflosen Nacht vorher und vom Hunger — er hatte den Tag über kaum ein Stück Brod gehabt — lag er still und sah das Dunkel sich allmählich ausbreiten um ihn her und am Horizonte feurigen Schein aufleuchten. Er war ganz allein, aber er fühlte sich nicht einsam. Er dachte an Emmy jetzt ohne eine Empfindung dessen, was sie von ihm getrennt hielt; ihm däuchte alles plan und eben zwischen ihnen, und jeder Augenblick könne sie zu ihm führen. Dann begann er zu stieren. Einem in der Nähe liegenden gefallenen Oesterreicher hatte er die Kraft noch den Mantel abzunehmen und sich so gut es ging hineinzuhüllen. Dann schwanden ihm die Sinne. Er kam zuerst wieder zu schwachem Bewußtsein durch die Bewegung eines Leiterwagens auf dem er sich neben und über Andern fühlte. Er dämmerte so hin, er lag im Fieber. Man machte Halt, packte ihn ab, gab ihm zu trinken und verband ihn. Er hörte, wie man über ihn berieth und wie beschlossen ward ihn weiter zu transportiren. Und so zwischen Wachen und Träumen fühlte er sich vorwärts geschafft, über das Gebirge dann, bei Regen und Sonnenschein, hinüber und herüber geworfen unter dem Leinendache das über ihn ausgespannt war, und endlich auf den Boden eines Eisenbahnwagens gelegt, in dem es rasselnd weiter ging. Zum ersten Male ward er sein selbst mit einiger Klarheit wieder bewußt, als er auf einer Station aus dem Wagen herausgenommen und neben vielen Andern auf den strohbedeckten sonnigen Perron gelegt ward. Der Zug fuhr dahin, das stille weiche Strohlager däuchte ihm himmlisch angenehm. Dann sah er wie unter den Befehlen eines behäbigen bärtigen Herrn, der eine weiße Binde mit rothem Kreuz am Arme trug, seine Genossen Stück vor Stück auf Bahren gelegt und fortgetragen wurden. Auch er kam daran; durch die blühenden Gartenanlagen des Bahnhofes trug man ihn, durch ein Dorf, wo die Leute dicht an der Straße standen, von deren Gesichtern und Blicken er sich streifen fühlte gleichsam, dann einen Weg entlang mit schattigen Baumreihen, dann durch ein Stück Wald, dann wieder durch einen Garten, endlich zwischen rasenbedeckten Erdhügeln mit Kreuzen, Gräbern, hindurch in eine Kirche hinein, aus der es ihn mit sanfter Kühle anwehte. Eine Dorfkirche; die Stühle herausgeschafft und statt ihrer zwei Reihen Betten aufgestellt; viele bereits belegt, andere im Begriff es zu werden; für ihn selbst auch eines darunter. Dann wohlthuende Stille wieder, dann ein paar Männer eintretend, von Bett zu Bett gehend und endlich auch zu ihm gelangend, um seine Wunden zu untersuchen. Man zog ihn aus, reinigte und verband ihn. Die Schmerzen betäubten ihn. Als er wieder erwachte, war es Nacht und der Mond schien durch die Reihe kleiner Fenster in der Wand über ihm auf die weißen Laken der Betten drüben; er hörte röcheln, stöhnen, schnarchen, laut und leise durcheinander. Er schlief wieder ein; am nächsten Morgen war sein Kopf freier und er im Stande, deutlicher zu gewahren wie es um ihn her aussah.

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Die Kirche war geräumig und für katholischen Gottesdienst bestimmt. Oben sah man in dunkles Gebälk, zwischen dem die Spatzen umherflatterten. An der einen Seite die offenstehende Thür, frisches Grün durch sie hereinleuchtend, am anderen Ende der Altar mit blinkenden Leuchtern und bunten geschnitzten Heiligen, in staubige, vergoldete Schnörkelnischen postirt. Die Wände von den beiden Reihen der Lagerstätten eingenommen, deren Inhaber mit fremden Gesichtern umherlugten gleich ihm. Zur guten Hälfte Oesterreicher, und dafür er selbst gehalten; Arthur merkte es an seinem österreichischen Mantel, der ihm über die Füße gelegt worden war, auch daran, daß man ihn nicht nach Namen und Regiment fragte wie die Preußen, über deren Betten das mit Kohle an die Wand geschrieben stand. Diese seine Landsleute, gutmüthige aber ihm unbekannte Männer, mit Gesichtern an denen nichts auffiel, während die der Oesterreicher meistens scharf geschnittene slavische Physiognomien zeigten. Neben sich bemerkte er jetzt auch ein Bett mit einem Todten darin. Wächsern, steif, mit halbgeschlossenen starren Augenlidern lag er da, Arthur hatte deren zuviel gesehen und in zu furchtbaren Lagen, als daß ihn über seine Entdeckung ein besonderes Gefühl beschlichen hätte. Man kam bald und trug den Leichnam fort. Der Arzt wandte sich zu ihm, ein alter Dorfdoctor, der seine Wunden untersuchte und neu verband ohne dabei zu reden. Arthur war es nicht darum zu thun. Die Erlebnisse der letzten Wochen überkamen ihn wieder in phantastischer Erinnerung. Er vernahm aus Gesprächen, daß an dem Tage wo er gefallen war, der Sieg ein ungeheurer, entscheidender gewesen, daß die Armee jetzt vor Wien stände: ein erstickendes Gefühl von Jubel zersprengte ihm die Brust beinahe, und die Thränen brachen ihm aus: er wußte, daß er mitgekämpft und das seinige gethan habe, daß sein Name, mochte er heute oder morgen sterben, mit ewigen Zügen in die Geschichte seines Vaterlandes mit eingegraben sei. — Mittags, als er so dämmerte, erweckte ihn dann das Geräusch anderer Stimmen als der bisher gewohnten. Blinzelnd sah er ein überraschendes Schauspiel. Ein paar gepuderte Bedienten in reicher Livree, — diese zuerst, weil sie ihm die Aussicht versperrten; dann, als sie zur Seite traten, zwei Frauen. Die hohe Gestalt einer älteren Dame mit weißem Haar, in einfacher aber prächtiger Kleidung, neben ihr ein junges Mädchen, in lichte, luftige Sommerkleider gehüllt und so schön und beruhigend anzusehen, wie alles beruhigt, was in seiner Weise vollkommen erscheint. Von Bett zu Bett ging der Zug. Seltsam, als man zu ihm kam, nöthigte ihn etwas zu thun als schlafe er, er wußte nicht warum, und so hörte er in seiner Nähe nur wie die ältere Frau sagte. Il parait, quíl dort, Josephine. Oui, grandmaman, antwortete das junge Mädchen, die Stimme ein wenig dämpfend; und das seidene Kleid der Großmama rauschte weiter zum nächsten Bette, an welchem sich nach einigen vergeblichen Versuchen in deutsch und französisch ein italienisches Gespräch erhob. Sta meglio oggi? fragte Josephine. Der Soldat antwortete in gewählten Ausdrücken höflicher Dankbarkeit, und weiter ging es zum nächsten Lager, und so fort, weiter und weiter, Arthur sah ihnen nach, sie kümmerten sich nicht mehr um ihn. Am nächsten Tage kamen sie wieder. Es lebt eine seltsame Macht im Menschen, die ihn das einmal gethane zu wiederholen nöthigt: Arthur schloß die Augen abermals als schliefe er, und trieb das so fort als verstände es sich von selbst zuletzt, bis eines Tages die junge Dame es bemerkte. Mais celui-là dort toujours, grandmaman? Er scheint sehr schwer verwundet zu sein, antwortete die Frau französisch und beachtete ihn nicht. Ihre Sprache hatte etwas ruhiges, kaltes. Oder klang sie nur so im Gegensatz zu der des Mädchens? Arthur wußte es nicht, aber es fiel ihm ein, es sei der alten Dame vielleicht eben recht, wenn die ganze Gesellschaft alle Tage um diese Zeit fest schliefe. Darauf begann er sich selbst zu examiniren, was ihn nur antriebe sich immer schlafend zu stellen. Er fand schließlich diesen Zusammenhang.

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Er wollte nicht erkannt sein als der der er war. Man nahm ihn für einen Gemeinen und er setzte etwas hinein nicht besser und nicht schlechter behandelt zu werden als seine Kameraden. Hätte er gesagt, daß er preußischer Offizier war, so wäre unumgänglich gewesen, auch seinen Namen und Stand zu nennen. Niemals mehr aber wollte er sich seines Ranges, den er freilich nicht ablegen konnte, aber den zu tragen er nicht das Recht zu haben glaubte, bedienen um gesellschaftlicher Vortheile willen. Ein Akt freiwilliger Selbstentäußerung und Sühne schien es ihm, sich jetzt diese Zurückhaltung aufzulegen. Er war zufrieden. Er hatte etwas gethan für das Vaterland. Nicht mehr und nicht weniger als die Anderen, die da lagen. Er war stolz darauf, für nichts zu gelten als einen Verwundeten der letzten großen Schlacht. Zu keiner Zeit strömten ihm friedlicher die Gedanken zu als jetzt. Tag und Nacht gingen in einander über; ein ununterbrochener Strom des Daseins, ohne Maaß und Abtheilung; Stunden und Minuten gleich lang, in alle Ewigkeit schien sich der Faden so hineinspinnen zu wollen. Die körperlichen Anstrengungen des Marsches, des Hungerns, der schlaflosen Nächte, im Augenblicke der Erregung kaum fühlbar, schienen sich durch eine unendliche sanfte Müdigkeit nachträglich ausgleichen zu wollen. Er träumte mit offenen Augen. Dem Doctor antwortete er das nothwendigste. Nur mit dem Italiener nebenan hatte er hier und da ein Gespräch. Der Mensch bedurfte es augenscheinlich und war glücklich seine Zunge zuweilen spielen zu lassen. Er erzählte aus der Lombardei, dem giardino del mondo. Alle Gedanken dieses einfachen Bauernsohnes schienen vom ersten Begriff des Bewußtseins im Kinde an, nur das eine Ziel gehabt zu haben: frei von Oesterreich! Arthur fragte sich im Stillen, was denn diese Bevölkerung jetzt beginnen werde, endlich nun befreit von dieser Oberherrschaft, und zugleich doch mit der Gewohnheit, ja dem Bedürfniß einer auf einen capitalen Punkt gerichteten leidenschaftlichen Erregung. — Eines Tages erschienen die Damen wieder. Arthur fühlte sich ausgeruhter und merkte schärfer auf. Er hörte, wie einer der Bedienten das junge Mädchen Comtesse nannte. Arthur hätte den Doctor nach der Familie fragen können, allein so weit erhob sich sein Interesse noch nicht. Er sah heute, wie von dem Bedienten ein Stuhl an eines der Betten gesetzt wurde, auf den sich die junge Dame niederließ, ein Schreibzeug auf ihre Knie legte und zu schreiben begann. Die Worte des Kranken, welcher den Brief dictirte, klangen durch den ganzen Raum. Arthur sah über die Betten hinüber nach ihr wie sie nachschrieb. Die einfachen Worte des Soldaten, weil er langsam und deutlich sprach, und alle Anderen, die darauf horchten, zu sprechen und flüstern aufgehört hatten, tönten feierlich als hätte er ein kirchliches Geständniß abzulegen. Wunderliche Briefe kamen auf diesem Wege zur allgemeinen Kenntniß, und an Jeden von den Bewohnern des Lazareths die Reihe, so zu beichten gleichsam. Alle Tage wurden je nachdem zwei bis drei abgethan. Endlich sollte auch Arthur die Wohlthat zu Theil werden. Die junge Comtesse saß neben dem Italiener, bei dem der Brief kein Ende nehmen wollte. Der Mensch gerieth in politische Expectorationen, er brauchte selbst nichts dabei zu thun und wollte seiner Zunge einmal recht freien Lauf lassen. Das junge Mädchen schrieb zuerst gewissenhaft nach: als die Sache sich hinzog, schien sie nach kürzerer Methode zu verfahren und hatte den Satz oft bereits fertig geschrieben, der von dem guten Lombarden erst doch zur Hälfte dictirt worden war. Er merkte das. Verzeihen Sie, sagte er, diese Dinge sind für uns von großer Wichtigkeit, und als wolle er Beistand suchen, wandte er sich an Arthur, der, weil die Comtesse ihm beinahe den Rücken zudrehte, mit den Augen auf sie gerichtet dalag. Josephine wandte sich jetzt gegen den Dritten um, welcher so ins Gespräch gezogen worden war. Carissimo mio, sagte Arthur, Euer Brief ist um das Doppelte zu lang, Ihr mißbraucht die Güte der Gräfin. No, no, rief das junge Mädchen, laßt ihn immer sagen, was er geschrieben zu haben wünscht, tauchte die Feder ein und setzte sich in Positur, eifrig fortzufahren.

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Arthur lächelte für sich. Auf dem Schiffe, bei der Rückkehr, hatte man ihn für einen Amerikaner genommen, nun war er zu einem Italiener geworden. Beide Male übrigens war man nicht so sehr im Unrecht gewesen. Arthur hatte nichts in Zügen und Bewegung, das ihn einer bestimmten Nation hätte angehörig erscheinen lassen. Civilisation und Gemeinschaft der modernen Ideen haben heute einen gewissen Durchschnittstypus des Gentleman geschaffen, wie im vorigen Jahrhundert in den Schichten der höheren Gesellschaft den des Adligen par exellance, der in allen Ländern gleich gewandt französisch sprechend, überall gleiche Aufnahme und gleiche Sitten fand. Die beiden letzten Jahre hatten Arthurs Antlitz sogar verändert. Etwa als wäre das vortreffliche Portrait eines guten Malers, durch eine kleine Anzahl fast unmerklicher Pinselstriche, von der Hand eines Mannes wie Rubens aber, zu einem Meisterwerke umgeschaffen worden. Die junge Gräfin nahm ihn wirklich für einen Italiener, und Arthur ließ es dabei. Sie fragte, nachdem die Geständnisse des Lombarden endlich couvertirt und adressirt waren, freundlich an, ob er heute oder morgen dictiren wolle. Sie stand am Fußende seines Bettes, der Bediente mit dem Stuhl in den Händen hinter ihr. Das Tageslicht fiel aus den hohen kleinen Fenstern, künstlerisch schöne Schatten werfend, auf sie herab; und wie sie nun, die Augen auf ihn gerichtet, ein wenig langsam die schöne Sprache redete, war es als fielen ihr wie im Märchen Perlen und Edelsteine aus dem Munde. Ich danke, sagte Arthur, ich habe Niemanden, dem zu schreiben wäre. Niemand, antwortete sie, den es zu hören freute, daß Ihr, statt getödtet zu sein, nur verwundet wäret und nun auf dem Wege der Besserung seid? Ich danke wirklich, sagte Arthur. Das junge Mädchen neigte leise den Kopf wie man in der Kirche zu thun pflegt wenn man zufällig sein Geld vergessen hat und der Klingelbeutel kommt, und ging weiter. Er sah, wie sie zu der alten Dame trat, welche im Hintergrunde aufgetaucht war, eine Bewegung auf ihn hin machte und eifrig sprach. Als die Frau dann zwischen den Betten in der Mitte des freien Ganges hinrauschte, fixirte sie ihn, und Arthur erwiederte den Blick, fast gedankenlos. Aber es war, als habe er sie aufgehalten mit den Augen. Denn sie machte plötzlich Halt und fragte: Nun, mein Freund, wie befinden Sie sich? Dies jedoch französisch, da ihr das Italienische nicht geläufig war und sie gesprochen hatte ohne zu wollen eigentlich. Arthur lächelte über den neuen Zuwachs von Vaterländern, die ihm zu Theil wurden. Madame, antwortete er, und zwar in dem vortrefflichen Französisch das er in seines Vaters Hause früh gelernt, ich danke für Ihre Güte, ich befinde mich viel wohler. Bin übrigens, setzte er deutsch hinzu, ein ehrlicher Deutscher und Preuße, und antwortete vorhin der Comtesse nur deshalb italienisch, weil ich die Ehre hatte so angeredet zu werden. Merkwürdig zu beobachten, und Arthur that dies sogleich: welche Veränderung bei der Frau durch sein Geständniß hervorgebracht wurde. Nun, das freut mich, mein Freund, sagte sie kühl, neigte den Kopf ein wenig zurück (man hätte es ein nach der verkehrten Seite gehendes Nicken nennen können), und hielt sich nicht länger auf. Es war als hätte Arthur, indem er seine Nationalität zu erkennen gab, sich um eine Kleinigkeit, sei es eine kaum sichtbare, eine fühlbare jedenfalls, herabgesetzt. Er stand nun mit den Uebrigen auf gleicher Linie wieder. Und seltsam, obgleich es dies ja gerade war, was er erstrebt hatte, denn er wollte nichts als ein Mensch sein, der für sein Vaterland gekämpft hat, ohne den Anspruch für besser zu gelten als irgend ein anderer der neben ihm in gleicher Weise seine Pflicht gethan dennoch traf ihn dieses Gleichgesetztwerden und erweckte eine gewisse Empfindlichkeit. Er meinte, es sei Aerger über den Hochmuth der Frau, deren Haltung er bewundern mußte als er ihr so nachsah wie sie so weiterschritt. Als Italiener oder Franzose wäre ich ihr interessant gewesen, sagte er sich; als Deutscher nicht. Als Slovake oder Kroat noch hätte ich ihr größeres Mitgefühl eingeflößt. Wäre Arthur sich ganz klar gewesen aber, so würde er entdeckt haben, daß ihn weniger die Kälte, als die Kurzsichtigkeit der Frau aufregte,

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die, nachdem er sich ihr als Deutscher offenbart, nicht auch den Grafen herausgefühlt hatte.

Vierundreißigstes Capitel. Auf der anderen Seite neben Arthur lag seit einigen Tagen ein Ungar, ein Mann in den Vierzigen, ein Husarenwachtmeister. Er hatte seit seiner Ankunft kein Lebenszeichen von sich gegeben; kaum daß er sich rührte. Er war sehr schwer verwundet. Oft genug hatte Arthur sein Profil betrachtet, das energisch geschnitten wie von Bronze schien, der dunkle Bart schon mit weißen Haaren gemischt. Als am Nachmittage der Doctor die Runde machte, fand sich daß der Mann gestorben sei. Man trug auch ihn hinaus, und machte das Bett für einen Nachfolger wieder fertig. Der Johanniter erschien, überzählte wieviel Stellen frei wären und ging wieder. Gegen Abend kam er mit einem frischen Transporte an. Die Kirchenthür stand weit offen, Arthur sah, wie die untergehende Sonne den Zug anglühte, der durch die Gräber des Kirchhofes sich näherte, von Bauern, alten Weibern und Kindern zumeist begleitet. Lustig sprangen die Jungen und Mädchen mit den nackten Füßen über die Grashügel, um sich im Gedränge dicht an der Thür zu postiren und da zum letzten Male die Wonne des Zusehens zu genießen. Neben Arthur streckte man mit ungewöhnlicher Sorgfalt einen todtbleichen jungen Menschen aus, der schwer und hörbar athmete und eingefallene Wangen hatte. Arthur erkannte ihn auf der Stelle, es war der Privatdocent. Er lag still da, das blonde Haar fiel ihm von der Stirn hinten über den Kopf herunter. Sehnsüchtig erwartete er den Moment, wo sein lieber alter Bekannter die Augen öffnen würde. Lange dauerte es; Dämmerung herrschte bereits in der Kirche. Der Doctor regte sich, seufzte und blickte auf. Doctor, liebster Freund! rief Arthur leise. Der junge Mann wandte den Kopf nicht ohne Anstrengung, sah Arthur einen Moment zweifelnd an, erkannte ihn dann und lächelte. Darauf bewegte er mühsam den Arm zu ihm hinüber, dessen magere Hand Arthur auf halbem Wege in der seinigen auffing. Reden Sie nicht, sagte er; wir haben ja Zeit hier. Sie sind angegriffen, Sie dürfen sich nicht aufregen. Aber es war unmöglich doch, Ihnen nicht wenigstens ein Wort zum Willkommen zu sagen. Ich fürchte: wenig Zeit, sagte der Doctor und nickte ihm zu, schloß dann aber die Augen wieder, als sei die Anstrengung zu groß gewesen. Der Arzt unterbrach sie, der sich mit ihm zu schaffen machte. Arthur sah nur den Rücken des Mannes, und bemerkte daß er zwischendurch mit dem Kopfe schüttelte. Der Kranke stöhnte einmal auf, sonst gab er keinen Laut von sich. Arthur fragte den Arzt, als er gehen wollte, mit ein paar Zeichen, wie es stände: er zuckte die Achseln und legte die Hand auf die eigne Brust und Seite, verständlich genug. Es wurde immer dunkler. Von der Decke der Kirche herab hing ein blanker messingner Kronleuchter mit verschlungenen Ranken. Arthur hatte ihn manche Stunde betrachtet. Abends pflegte eine der vielen Kerzen, die darauf steckten, angezündet zu werden, dicke Lichte, die zwei, drei Nächte brauchten um herunterzubrennen, gerade genügend den Raum mit durchsichtiger Dämmerung zu erhellen. Es mochte zehn Uhr sein. Es sprach längst Niemand mehr. Arthur beobachtete seinen Freund. Soviel schreckliches hatte er gesehen: dieser Anblick aber neu und erschütternd. Wie lebensmuthig hatte er ihn in der Erinnerung. Seine Zuversicht auf die eigene Zukunft, seine politische Unabhängigkeit, die Fülle von Gedanken die sich ihm zudrängte wenn er in Feuer gerieth: und das nun da der Abschluß! Am letzten Tage, als Arthur und Erwin Berlin verlassen wollten, war der Doctor noch erschienen. Er ging als simpler Landwehrmann fort, scherzte und lachte, sprach von möglichen Niederlagen mit einer gewissen ironischen Anschaulichkeit, explicirte wie es übrigens schwerlich zu etwas Ernsthaftem kommen werde, daß nur wieder eine kolossale Geld- und

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Kräfteverschwendung zu erwarten stehe, die mit einer Anzahl Paraden schließen würde. Arthur hatte das geärgert, beinahe empört, und sie sich kühl getrennt. Dann aber war der Doctor von der Thür, die er schon geöffnet hielt, noch einmal zurückgekommen und hatte ihm die Hand gereicht. Komme was komme, hatte er gesagt, wir thun auf alle Fälle jeder das Mögliche für unser Vaterland. Unterliegen wir, dann Gnade Gott Deutschland! Siegen wir, dann kann etwas daraus werden vielleicht, um dessenwillen man sich gern eine Angel durch's Herz jagen läßt und hätte man mehr als ein Dutzend ungeschriebene Bücher darin, von deren jedem einzelnen man meinte, die Welt werde es nicht entbehren können. Auf Wiedersehen, Gott weiß wo! Damit hatten sie sich getrennt, jeder vom anderen das beste denkend, und in der sicheren Hoffnung, sich bald und glücklich wieder zu begegnen. Arthur war im Begriffe einzuschlafen, als er leise seinen Namen nennen hörte. Der Doctor hatte sich halb aufgerichtet und sah ihn an. Sie sollten jetzt schlafen, flüsterte Arthur hinüber. Dafür ist lange Zeit, antwortete er —Lange und unzählbare Zeit, setzte er aus dem Ilias des Sophokles hinzu, und es bewegte Arthur der hohle Klang der griechischen Worte, mit denen der Doctor seine Rede sonst niemals zu schmücken pflegte. Es war als sagte er sie für sich selbst allein. Wo sind Sie verwundet worden? fragte er dann weiter. Bei Sadowa! antwortete Arthur. Ich auch! rief der Doctor und seine Stimme erhob sich. Wo standen Sie? Im Centrum, antwortete Arthur. Es trafen mich ein paar Granatsplitter bei der großen Reiterattaque, die der König führte. O, die ist an uns vorübergestürmt rief der Doktor feurig, und seine Stimme empfing wieder etwas von dem alten Klang früherer Tage. Haben sie nicht gehört, wie die Regimenter Euch zuriefen, als Ihr dahin donnertet? Da war ich darunter. Graf Arthur, rief er, das war das letzte Mal in meinem Leben, daß ich meine Stimme voll gebraucht habe, aber wenn es auch das letzte Mal sein sollte für immer: ich habe nichts dagegen. Das war ein Tag der Glorie! Sie sollten schlafen, lieber Freund, sagte Arthur leise und besänftigend. Nein, nicht schlafen! rief der Doktor, dafür ist lange Zeit. Wissen Sie, fuhr er feurig fort, das war der Moment als die Schlacht stand und nicht vorwärts wollte, wir fühlten es alle, es mußte etwas kommen, und wie Ihr da herankamt, an uns vorbei, der König an der Spitze, und wie die Regimenter Hurrah schrien, ich hatte ein Gefühl da, als hätten alle die Jahrhunderte der Schmach, die Deutschland von Oesterreich erduldet, Stimme bekommen, als tönte ein ungeheurer Schrei: jetzt nicht loszulassen und die verfluchte Unterdrückung zu Boden zu werfen! Ja, das war ein Moment, rief Arthur, der sich vergaß und selbst heiß wurde in der Erinnerung. Eine ungeheure Stunde, nahm der Doktor das Wort auf. Sie kennen mich ja. Ich bin aus einem der kleinen Staaten gebürtig; was lag mir an Preußen und seinem Königthum, mochte ich noch so viel später da eingewandert und meinen Dienst gethan haben. Ich hatte Deutschland im Herzen. Ich haßte Preußen, um es mit einem Worte zu sagen. Aber denken Sie ein Mädchen das gegen seinen Willen und sein Gefühl einem Manne verbunden wird, der eines Morgens, mag sie ihn nun hassen oder lieben, ihr Gatte ist, der sie in den Armen gehabt hat und der der Vater ihrer Kinder sein wird — was will sie machen, sie kann nicht wieder los von ihm für alle Ewigkeit — in dem Momente, als der König an uns vorbeisprengte und wir alle fühlten: jetzt die Entscheidung! werden wir besiegt heute, so reißt ein ungeheurer gemeinsamer Absturz uns alle auf denselben Boden nieder: ein Zwang ward auf mich ausgeübt, ich fühlte daß ich von nun an von Preußen und von ihm nicht wieder los könnte, mochte geschehen was da wollte, und ich schrie wie sie alle schrien, Hurrah, ich fühlte, jetzt Preußen! oder Vernichtung Deutschlands in alle Ewigkeit! Ein Gemurmel, das die Kirche erfüllte, unterbrach den Doktor.

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Beide sahen sie sich um. Da hatten sich in all den Betten die Kranken aufgerichtet und sahen auf sie hin und hörten zu. Wie eine Gesellschaft von Geistern, die, erwacht um Mitternacht, lebendig werden. Der Doktor gewahrte seine Zuhörer, die letzten, kaum sichtbar, von der Dunkelheit überflogen. Die Kirche machte einen Eindruck von Unendlichkeit. Es schien ihn zu begeistern, hier von so Vielen gehört zu werden. Sie alle, rief er, können es nicht gewußt haben wie ich, denn sicherlich hat keiner von Ihnen die Geschichte Deutschlands verfolgt wie ich, bis in die kleinsten Athemzüge. Meine Lebensaufgabe ist das gewesen. Sie konnten nicht wissen, wie dieses Oesterreich, das slavisches, magyarisches, italienisches und spanisches Blut in seinen Adern hatte, unter dem die paar Tropfen deutsches machtlos verrannen, seit Jahrhunderten mit allen Mitteln die Unabhängigkeit Deutschlands hat vernichten wollen! Wie sie so gern uns erdrückt hätten! Wie all ihr Sinnen darauf gerichtet war! Wie eine Wissenschaft daraus geworden war in Oesterreich: Norddeutschland niederzuhalten, Preußen herunterzuwürdigen und seine Entwickelung zu hemmen. Heute schon ist es offenbar, in ganz anderem Maße aber wird die Zukunft es offenbar machen. Und jetzt ein Ende dieser heillosen Wirthschaft! Jetzt Freiheit! Es gab nur diese eine Freiheit für Deutschland: Los von Oesterreich! Und in jenem Momente, wandte er sich zu Arthur wieder, als Ihr vorbeikamet und wir Euch zuriefen, da fühlte ich, daß wenn diese Schlacht verloren ginge, Deutschland verloren sei für ewige Zeiten! — Und nun ist sie gewonnen worden, begann er wieder nach einer Weile mit schwächerer Stimme. Und wieder durchlief ein Murmeln die Kirche, und plötzlich brach ein ungeheures Hurrah! aus, als sollte das Gebäude Zusammenstürzen. Dann Todtenstille. Das Licht auf dem Kronleuchter flackerte hin und her, die Kerze war ausgebrannt und verlöschte, und der kalte blaue Mondschein malte die Reihe der Fenster auf die weiße Wand drüben. Niemand regte sich. Arthur lag da und fühlte wie ihm die Thränen herunterliefen. Gern hätte er etwas gesagt, aber sein armer Freund hatte zuviel schon geredet, es mußte verspart bleiben. Irgend ein Zeichen nur wollte er ihm geben. Er trug einen goldenen Ring am Finger mit dem Wappen der Familie, den ihm sein Vater einmal schenkte. Er zog ihn ab und neigte sich weit zu dem Doktor hinüber. Ihre Hand geben Sie mir, sagte er leise. Einige Zeit dauerte es bis die weiße Hand zu ihm herüberkam. Er nahm sie in die seinige und steckte den Ring daran. Und nun gute Nacht, lieber Freund, sagte er. Er empfing keine Antwort; die Hand zog sich zurück. Lange noch lag er und sah den Mondschein an der Wand weiterrücken, bis der Morgen zu grauen anfing und mit dem Frösteln des jungen Tages endlich Schlaf über ihn kam.

Fünfunddreißigstes Capitel. Als Arthur erwachte, war der Tag bereits weit vorgeschritten. Er lag abgewandt von seinem Freunde und hatte fast eine Scheu sich umzuwenden nach ihm, er wußte nicht warum. Endlich that er es. Das Bett war leer. Erschreckt blickte er um sich nach Aufklärung. Der Italiener gab sie ihm. É morto, l`hanno portato via (Er ist gestorben, sie haben ihn fortgetragen). Nur ein einziges Mal noch hätte er ihn sehen mögen. Schwere Vorwürfe machte er sich, durch sein Eingehen auf die Erregung der letzten Nacht Ursache mit gewesen zu sein dieses raschen Endes. Der Arzt jedoch beruhigte ihn. Die Lunge sei durch eine Kugel verletzt worden, das Umherschleppen in den Feldlazarethen habe den Prozeß beschleunigt, obgleich von Anfang an nichts zu retten gewesen. Man habe ihn sanft eingeschlafen gefunden. Die Damen erschienen. Sie gingen an Arthur vorüber, erst auf dem Rückwege fragte die junge Comtesse kurz, wie es ihm ginge. Sie sprach deutsch, es klang nicht

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unfreundlich und doch geschäftsmäßiger als die Tage vorher, schien es Arthur. Nachdem er Antwort gegeben, ging sie weiter. Er war so sehr von dem letzten Ereignisse erfüllt jedoch, daß er sie rascher vergessen hatte noch, als sie fortging. Doch ein Verlangen hatte ihn ergriffen, sich Erwin mitzutheilen. Den Brief aber, den er selbst nicht schreiben konnte, scheute er sich zu dictiren. — An demselben Morgen war es, daß der Johanniter sich wieder auf die Station begab um des Doctors und anderer mit Tode abgegangener Lagerstätten aus den vorbeikommenden Zügen mit neuen Insassen zu belegen. Der Mann, ein Gutsbesitzer aus der Provinz, betrachtete die jetzt laufenden Zeiten als die glücklichsten Tage seines Lebens. Sich so unmittelbar als Bruchtheil des Staates für den Staat wirkend zu fühlen, hatte etwas über alle Begriffe erhebendes. Er theilte dies Gefühl mit Vielen, aber jeder hatte vollauf an dem was ihm zufiel, und keiner brauchte den andern zu beneiden. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Krieg fortgehen können, bis ganz Europa zu des Königs Füßen lag. Der herrschaftliche Sitz der Gräfin, einer der schönsten der Provinz, lag so nahe an der Station, daß es eines kurzen Spazierganges nur bedurfte um sie zu erreichen. Die Sonne schien, die Bäume rauschten im Winde, der voll und warm über das Feld hinsauste; der Baron ging seines Weges und ließ sich die erste Cigarre des Tages schmecken, als ihm nicht weit von der Station eine Gruppe von Leuten auffiel, die langsam ihm entgegenkamen: ein schöner großer blonder Mann, der einer älteren Dame den Arm gegeben hatte, und ein junges Mädchen, dessen Schönheit ihn überraschte, auf der andern Seite. Alle Drei trugen die weiße Binde mit dem rothen Kreuze am Arme, die der Baron trug. Als sie seiner ansichtig wurden, lenkten sie über die Straße hinüber auf ihn zu; der Fremde machte mit dem Filzhute, den er trug, eine halb grüßende, halb aufhaltende Bewegung. Kommen Sie vielleicht vom Schlosse? hörte der Baron sich mit ein wenig ausländisch klingendem Accente angeredet. Ebendaher, antwortete er, verbindlich grüßend. Sie haben dort Verwundete? Vierzig — dreiundvierzig Betten, bemerkte, sich verbessernd, der Baron. Befindet sich darunter, fragte der Herr weiter, der Graf Arthur? — und er nannte Arthurs Familien-Namen. Nein, erwiederte der Johanniter langsam und überflog in Gedanken das Lazareth, jeden einzelnen sich soviel als möglich zurückrufend. Was Arthur anlangte, so ward dieser von ihm noch immer für einen Oesterreicher gehalten. Das junge Mädchen, das ihn fest angesehen während er diese Antwort gab, machte mit dem Kopfe eine Bewegung als verneinte sie, wiederholend was er gesagt, die Frage noch einmal, wandte sich dann ab und setzte sich am Rande des Weges, mit den Füßen in dem trockenen Chausssegraben, nieder, indem sie die Stirn in die Hand stützte. Ist der Graf verwundet und Ihnen nahestehend? fragte der Baron voll Theilnahme. Nein, nahm jetzt die ältere Dame das Wort. Aber wir kennen ihn sehr genau und hörten in den böhmischen Lazarethen, er sei schwer verwundet, und da er sich dort weder lebend, noch unter den Todten aufgeführt fand, hielt man dafür, er sei nach Schlesien transportirt worden. Vielleicht finden Sie ihn in Breslau, oder vielmehr ohne Zweifel werden Sie ihn dort finden, versetzte der Baron. Wir thun dann am besten, mit dem nächsten Zuge weiterzugehen, sagte der, welcher die Dame führte, Mr. Smith, wie man ihn längst erkannt haben wird. Und so ging es zur Station zurück. Emmy allein und abgetrennt den Anderen nachfolgend. Die Welt lag so friedlich und in stiller Schönheit um sie her. Von ferne blickten die Dachspitzen des Schlosses über die Baumreihen und daneben der Kirchthurm, von Kupfer, hellgrün angelaufen und mit einer goldenen Kugel auf der Spitze. Von Station zu Station hatten sie so gefragt, wie man nach der Ziehung die Gewinnlisten durchgeht

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und bei jeder Nummer die nichts bringt, immer weniger glaubt, die nachfolgenden würden besser sein. Ein Zug kam bald, sie stiegen ein, begleitet von den besten Wünschen des Johanniters, der ihnen nachsah, seine Cigarre in die Luft dampfte und sich ein Seidel Bier geben ließ, das er gegen die Sonne hielt ehe er es austrank. Dann sah er Emmy noch einmal vor sich wie im Einschlafen ein verschwimmendes Bild und dann vergaß er sie sammt ihrer Begleitung. Beim Durchgehen des Lazareths fiel ihm Arthurs Name noch einmal ein und er überblickte die an die Wand geschriebenen Adressen. Arthur selbst hielt er, wie bemerkt, für einen Oesterreicher, wie alle Welt ihn dafür nahm, die Gräfinnen ausgenommen vielleicht, wenn man sie daran erinnert hätte. Am nächsten Morgen kamen die Damen wieder. Als Arthur die gewöhnliche Frage nach seinem Befinden zugetheilt ward, wagte er eine Bitte auszusprechen. Gnädigste Gräfin, sagte er zu dem jungen Mädchen, wenn Sie mir von Ihrem Briefpapiere einen einzigen Bogen geben und Ihr Bleistift auf wenige Minuten anvertrauen wollten, so würden Sie mich sehr glücklich machen. Gern, antwortete sie und nahm dem Bedienten die Mappe aus der Hand, in der sie zu blättern begann. Sie haben also doch noch Jemand ausfindig gemacht, setzte sie hinzu, der Nachricht empfangen soll? Einen Freund, erwiederte Arthur, von dem ich freilich nicht weiß, ob er noch lebt. Sie reichte ihm Bogen und Bleifeder. Halt, Sie wollen doch nicht schreiben mit Ihrem Arm? warf der Arzt ein, der gerade vorüberging. Arthur hatte eine Wunde am rechten Oberarm, die zwar nicht bedenklich war, aber Ruhe verlangte, da sie noch nicht geheilt war. Nur wenige Worte, sagte er. Nicht ein einziges, antwortete der Arzt. Ihr Arm bleibt so unbewegt als möglich. Sie sehen ja, wie die gnädige Comtesse für jeden ohne Unterschied hier Briefe schreibt. Arthur bedachte sich. Er hatte Erwin allerlei mittheilen wollen, was sich nicht dictiren ließ. Er wollte fragen, ob nicht vielleicht Antwort von Emmy da wäre. Dictiren Sie, rief die Comtesse, in Kriegszeiten macht man keine Umstände. Arthur ergab sich darein. Er konnte die Dinge ja so wenden, daß Niemand außer Erwin sie verstand. Nun denn, so schreiben Sie, Comtesse, sagte er. Das junge Mädchen hatte bereits Platz genommen und die Feder eingetaucht. Jetzt aber ließ sie die Hand wieder sinken, hob die Augen und sah ihn groß an. Arthur hatte das »Nun denn, so schreiben Sie, Comtesse" in einem Tone gesprochen, der so völlig von dem bisherigen abstach, daß der Unterschied Josephinen auffallen mußte. Absichtlich hatte er in seiner Sprache bis dahin eine gewisse Unterthänigkeit des Accentes bewahrt, wie sie sich für einen gemeinen Soldaten schickte; unwillkürlich war er diesmal herausgefallen. Sein Accent war der eines Mannes, der sich gesellschaftlich gleichstellt. Arthur selbst aber war sich dessen so wenig bewußt, daß er sogar auch das vornehme Lächeln wieder um seinen Mund spielen ließ, das ihm so wohl stand wenn er freundliche Gedanken aussprechen wollte. Darf ich anfangen? fragte er. Josephine tauchte die Feder abermals ein, neigte sich auf das Papier und sagte Ja. Liebster Erwin — begann Arthur. Das junge Mädchen schrieb die Worte. Dann aber legte sie die Feder über den Brief und sah Arthur jetzt mit ein paar wunderlichen Blicken an. Ward Plötzlich dann roth und immer glühender, setzte dann ebenso plötzlich von neuem mit der Feder an und wandte die Augen nicht eher von dem Papiere ab, als bis der Brief zu Ende war. In kurzen Sätzen enthielt derselbe Arthurs Erlebnisse, den Tod des Doctors, die Frage nach Briefen aus Amerika, und die Bitte um Nachricht. Wo ich mich hier befinde, gnädigste Gräfin, schloß er, und wem ich soviel Güte verdanke, haben Sie wohl die Freundlichkeit aus eigener Kenntniß dazuzusetzen.

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Und ihren Namen? sagte sie, nachdem alles geschehen war. Arthur nannte seinen Vornamen, wie er ihn Mr. Smith genannt damals. Das ist der Vorname, bemerkte Josephine. Er setzte nun den anderen hinzu, ließ aber die Bezeichnung "Graf" fort; das Ganze klang bürgerlich genug. Josephine steckte das zusammengefaltete Papier in ein Couvert, Arthur dictirte die Adresse. Das junge Mädchen schrieb nicht. Sie sah ein paar Augenblicke in die leere Luft und schien nachzudenken. Sie hatte etwas unbeschreiblich Reizendes, wie sie so dasaß. Dann setzte sie rasch die Feder an, schrieb, benetzte das Couvert und klebte es zu. Einen Augenblick, bitte, sagte Arthur und streckte die Hand nach dem Briefe aus. Sie verzeihen mir die Neugierde, Ihre Handschrift zu sehen? Sie gab ihm den Brief. Arthur betrachtete die energische, gleichmäßige Handschrift. Aber, Comtesse! rief er plötzlich aus. Nun? fragte sie. Sie haben da nicht geschrieben, wie ich gesagt zu haben glaube, bemerkte er lächelnd. Mein Freund steht allerdings bei diesem Truppentheile, aber als Arzt, und nicht als Graf, wie Sie geschrieben haben. Josephine nahm ihm den Brief mit einer heftigen Bewegung aus der Hand. In der That, es stand da: An den Grafen Erwin, und so weiter. Ich weiß wirklich nicht, sagte sie, was mir da in die Feder gekommen ist. Ich muß gedacht haben — ich — sie vollendete beide Sätze nicht, riß das Couvert wieder ab, steckte den Brief in ein anderes und setzte nun, während Arthur noch einmal dictirte, die Adresse richtig auf. Der Johanniter, sagte sie dann, geht nach Böhmen, er kann den Brief mitnehmen. Ich hätte ihn vorher doch gern gelesen, sagte Arthur. Sie trauen mir wohl mehr dergleichen zu? antwortete sie, jetzt wieder ganz unbefangen. Nein. Nur um zu erfahren, wo ich hier bin und wessen Hand den Brief geschrieben hat. Während sie so sprachen, als könne es noch lange dauern, war die alte Gräfin herzugetreten. Sie sind hier auf Schloß der Name war Arthur unbekannt, mein Freund, nahm sie die Frage mit herablassendem Tone auf und als solle Josephine damit angedeutet werden, daß ihr Geschäft hier nun zu Ende sei. Ich bin die Gräfin der Name war Arthur ebenso wenig bekannt, und dies meine Enkelin. Alles in einem Tone jetzt, dessen absichtlich kühle Nachlässigkeit Arthur reizen mußte. Sie war im Begriff sich abzuwenden. O — sagte Arthur. Weiter nichts sagte er, dieses O! aber in einem Accente und mit einer Mundbewegung, die die Frau bemerken mußte. Es lag in diesem O! eine wunderbare Mischung von Ironie, Verbindlichkeit und Hochmuth, und dies Dreies so deutlich, als hätte er gesagt: Es freut mich, liebe Gräfin, daß Sie so schön in Ihrer Rolle bleiben, aber ich kann das auch. Und da Arthur dieses Zeichen seiner Stimmung ganz unbewußt entschlüpft war, wirkte es um so treffender. Die Gräfin sah ihn an und Josephine ihre Großmutter. Arthur lächelte. Sie find kein Oesterreicher, mein Freund? sagte die Gräfin. Ich hatte schon vor einigen Tagen die Ehre zu bemerken daß ich ein Preuße sei, erwiederte er. Der österreichische Mantel hier kam nur zufällig in meinen Besitz. Sie sind Offizier? unterbrach ihn die Dame. Secondelieutenant, gnädigste Gräfin. Dies Geständniß wirkte beruhigend, denn der Gräfin war der Gedanke gekommen, ein höherer Offizier könne verpuppt hier gelegen haben. Aber warum sagten sie das nicht gleich zu Anfang, Herr Lieutenant? versetzte sie.

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Warum das sagen? erwiederte er. Man fragte mich nicht und ich fühlte mich hier so vortrefflich aufgehoben, daß wenn ich nicht zufällig das Gegentheil erfahren hätte, ich geglaubt haben würde, der Behandlung nach, wir seien hier alle Offiziere. Ihren Namen müssen Sie nun aber auch sagen, Herr Lieutenant! rief Josephine jetzt. Aber Comtesse, Sie haben ihn ja unter den Brief gesetzt, antwortete er scherzend. Nun, Josephine? fragte die Gräfin. Das junge Mädchen nannte ihn. Die Frau schwieg eine Weile. Sie sah Arthur an und schien etwas sagen zu wollen, unterließ es aber. Ich habe einen Grafen — sie wiederholte Arthurs Namen, setzte jedoch den Vornamen seines Vaters hinzu — gekannt, sagte sie endlich leichthin und that als ginge sie, zögerte aber dennoch, um die Antwort zu hören. Das war mein Vater, hatte Arthur auf der Zunge, fühlte plötzlich aber eine Erschütterung in sich, die ihm zu schweigen gebot. Und trotzdem sprach er es aus: Das war mein Vater, gnädigste Frau. Er zitterte vor Scham und Zorn, daß er gesprochen. In dem Momente, wo er den Beweis hätte liefern sollen, daß er stark genug sei, durchzuführen was er sich vorgenommen hatte, unterlag er dennoch, und bekannte sich als den Sohn dessen, den er tausendmal in seinem Herzen als einen fremden Menschen behandelt hatte, mit dem er nichts mehr gemein haben wollte. Der Stuhl stand noch neben seinem Bette, auf dem Josephine gesessen hatte: es war ein Schauspiel, zu beobachten, in welcher Weise die Frau sich da jetzt niederließ; rasch, einfach, ohne eine Spur des Kleiderrauschens von vorhin; wie sie Arthurs Hand nahm, und, indem sie sie festhielt, nun im menschlich natürlichsten, mütterlichsten Tone sagte: Sie müssen eingestehen, lieber Graf, daß Sie da zu Ihrem Vergnügen eine Comödie gespielt haben, ohne im mindesten dabei an uns zu denken. Sie wissen wohl kaum, fügte sie hinzu, wie gut ich Ihren seligen Vater gekannt habe? Ich wußte es in der That nicht, erwiederte er. Sehr gut, sehr gut, erwiederte die Gräfin; wir sind jung zusammen gewesen. Sie sah sich um und winkte Josephine herbei, sagte ihr halblaut etwas in's Ohr und schloß mit den Worten: Alles recht rasch, liebes Kind! Josephine verschwand. Die Gräfin blieb am Bette sitzen. Gnädigste Gräfin, sagte Arthur, Sie haben doch nicht in Betreff meiner andere Arrangements befohlen? Ich fühle mich so glücklich hier. Sie schien es nicht zu Hören. Ihre Mutter habe ich auf ein paar Momente nur gesehen, sagte sie dann. In Rom trafen wir uns zufällig. Es war kurz vor ihrem Tode. Sie wissen, Ihr Vater war nicht mehr ganz jung als er sich verheirathete. Als ich ihn zuerst sah, kam er aus dem Felde, im Jahre 1815. Ich will nicht sagen, daß Sie ihm frappant gleichen. Eher Ihrer Mutter, soviel ich mich erinnere. Ja, man hat mir das öfter gesagt, antwortete Arthur mit ungewisser Stimme. Josephine kam zurück und flüsterte ihrestheils nun der Großmama allerlei in´s Ohr. Auf Wiedersehen, lieber Graf, sagte diese dann, indem sie sich erhob. Josephine, komm und gieb dem Grafen die Hand. Dies geschah und die Damen verschwanden. Die nächste Bettnachbarschaft Arthurs hatte das Gespräch mitangehört und alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Nur dem Italiener war der Vorfall unverständlich geblieben und er fragte zutraulich, was er denn mit der Principessa verhandelt habe. Arthur erklärte es ihm so menschlich als möglich. Mitten in ihr Gespräch hinein kamen vier Leute, packten Arthurs Bett an den Eckpfosten, hoben es auf und trugen ihn so rasch fort, daß der Italiener kaum sein addio, a rivederla nachrufen konnte. Fort ging es über den Kirchhof, durch den Küchengarten, den Park, zum Vestibül eines Schlosses, wo ein Bedienter in gepuderter Perrücke die Thore öffnete, eine Treppe empor, und durch allerlei Säle in ein hohes Gemach mit dunkeln gewirkten Tapeten in goldenen Rahmen, seidenen Gardinen und durch sie hindurch einer Aussicht auf den Park, der in reizender Stille

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weithin sich ausbreitete. Hier bettete man Arthur nun und ließ ihn allein, mit einer Mischung von Gefühlen im Herzen, die gegen den Frieden der Kirche, in der er gelegen hatte, einen fast unerträglichen Gegensatz bildeten. Immer noch hatte er sich dort als Glied der großen siegreichen Armee empfunden und wie von einem Talisman geschützt gegen die früheren Gedanken. Zurückgerissen wieder war er in die alte, unsichere Existenz, und er es allein doch, den er anklagen mußte.

Sechsundreißigstes Capitel. Der Park, in den Arthur nach einigen Tagen bereits kleine Ausgänge unternehmen durfte, war ein Kunstwerk zu nennen. Tadellose Baumgruppen boten sich dem Auge. Näher am Schlosse herrschte die Blumenzucht vor, weiterhin ging der Garten unmerklich fast in den Wald über, der vom Gebirge sanft herabkam. Eine wundervolle Rasenfläche entdeckte Arthur hier, die zu einem lang sich hinziehenden Rande von Tannengehölz aufstieg, und, als er um ein Dickicht von undurchsichtigem Grün herumbog, das die Aussicht abschnitt, fiel ihm an der Fortsetzung dieses dunklen Saumes ein im Schweizerstyl gebautes Haus in die Augen, welches nun bald das Ziel seines Spazierganges wurde. Durch Terrassirung war ein ziemliches Stück Terrain um dieses Haus herum in eine Ebene verwandelt worden, und ein neuer zierlicher Garten darauf angelegt; die Pflanzen so sorgfältig ausgewählt, als könne hier kein Blatt anders als in reinster Vollkommenheit sich entfalten, jedes Steinchen in den Wegen schien gewaschen als sei es eben aus einem Bache gesucht worden, überall, während rings umher der Anschein waltete als beginne bereits Wald und Wildheit, hier die ordnende Hand des Menschen im Geringsten sichtbar. Nicht kleinlich aber dieses anmuthige Stück Natur behandelt, sondern nur mit höchster Sorgfalt gepflegt, und mitten darin das Haus so ganz und gar dem Garten entsprechend, als hätte ein Mann, in dem Schinkels Geist lebendig geworden, diesen kleineren Theil der Erdoberfläche zu seiner idealsten Entfaltung gebracht. Ein ächtes berner Bauernhaus, mit tüchtig vorspringendem Dache, geschnitzten Balken und balkonartigen Gallerien glaubte man hierher versetzt zu sehen, wie man sie in Bilderbüchern, Theatern und in der Schweiz selber oft genug gesehen hat. Trat man näher jedoch, so zeigte sich überraschendes. Jeder von den geschnitzten, dunkel gebeizten Balken, jede Thür und Fenstereinfassung ein Meisterstück. In genialer Weise hatte der Architekt für diese Holztheile Motive der besten italienischen Renaissance zu verwerthen gewußt, bei all der daraus entspringenden Freiheit und Mannigfaltigkeit im Detail, dennoch den Charakter des Ganzen als Einheit streng festzuhalten. Durchaus war das Wohnliche zur Hauptsache erhoben; nicht bewundernd davorstehen, sondern behaglich heraussehen sollte der Besitzer. Spiegelscheiben fanden sich in den Fenstern, alles sichtbare Eisenwerk zeigte geschmackvolle Sorgfalt in Zeichnung und Ausführung, alle Steinmetzarbeit bildhauermäßige Genauigkeit; das reizendste jedoch der Schmuck der äußeren Wände, die vom dunklen Balkenwerk eingerahmt, schneeweiß angestrichen, gegen das junge Grün des Gartens dicht umher sowohl, als gegen das mehr finstere der Tannen im Hintergrunde so recht wie ein Anzeichen frischer Menschenarbeit abstachen. Weiß diese Wände aber nur insofern sie als Hintergrund in lichten Farben darauf gemalter ländlicher Scenen dienten: bewegte, liebliche Kompositionen von Meisterhand gezeichnet, und eben noch in der Ausführung begriffen. Denn das ganze Etablissement war neu und noch nicht vollendet, und der Künstler, welcher an den Wänden malte, stak mitten in seiner Arbeit und war im Hause selber einquartiert. Nur das Erdgeschoß mit den in den Garten gehenden Räumen stand fertig, in den oberen Zimmern, in die hineingestellt worden war was man im Schlosse entbehren konnte, hausten der Maler, ein Musiker und ein dritter Herr, Herr Professor genannt, alles Dreies zugleich Lehrer der jungen Comtesse und mehr oder weniger langjährige Anhängsel der Familie.

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Es hatte die alte Gräfin das Unglück gehabt nämlich, in Zeiten jung gewesen zu sein, wo von der Höhe aus auf der sie stand, der Trieb zu herrschen und zu befehlen in bedeutendem Umfange noch zu befriedigen war; mehr und mehr aber allmählig dann in die Tage hineinleben zu müssen, in denen diese Befriedigung immer weniger möglich ward. Soweit kam es zuletzt, daß überhaupt kein fesselndes Verhältniß mehr zu erreichen war zwischen Dienenden und Besitzenden, als das welches der gute Wille von beiden Seiten aufrecht erhielt: die Gräfin bedurfte aber Menschen um sich her, die von ihr abhingen. Sie brauchte etwas wie einen Hofstaat den sie tyrannisiren durfte, der sich zuweilen von böser Laune etwas gefallen lassen mußte, ohne die Freiheit, ihr über Nacht den Stuhl vor die Thür zu setzen wenn sie im Unrecht wäre. Und nun, da die Gesetze dies nicht mehr gewährten, hatte sie es sich auf anderem Wege zu schaffen verstanden. Der Maler, der Musiker, der Professor und eine alte Dame, Mademoiselle genannt, bildeten einen Hofstat um die Gräfin, welcher Glück und Unglück mit ihr zu theilen nicht nur entschlossen sondern auch genöhtigt war, und der zugleich dem Verkehr im Schlosse einen Anflug von geistiger Existenz verlieh. Mit dem Blicke für Menschen und Verhältnisse, der der Frau eigen war, hatte sie in diesen vier Persönlichkeiten die nach einer Stütze suchende Hülflosigkeit erkannt, welche es möglich machte, eine Reihe fein angebrachter halbversteckter Wohlthaten zu den Gliedern allmählig unlösbar werdender Ketten zu gestalten. Alle vier waren zu zartdenkend, um nicht nach jeder Richtung in der Gräfin die Lenkerin ihrer Schicksale zu verehren, der sie, mochte verlangt werden was da wollte, vor allen Dingen ungemeinen Dank schuldeten. Auch bestand was sie zu erdulden hatten nur darin, daß in einem gewissen Turnus der eine oder andere besonders vorgezogen und zum Vertrauten dessen gemacht wurde, was die Gräfin den drei anderen vorzuwerfen hatte. Große Empfindlichkeiten entstanden auf diese Weise, wurden jedoch stets ausgeglichen, und bildeten für die kleine Colonie schließlich eine Abwechselung, die vielleicht schon nicht mehr zu entbehren war. Und wie mit diesem höheren Kreise, so mit dem mehr in der Tiefe stehenden der Dienenden. Jeder Einzelne darunter einmal der Favorit gewesen, dem über die übrigen geklagt wurde, jeder einzelne einmal Gegenstand gewesen ganz specieller Freigiebigkeit, jeder zugleich aber auch mehr als einmal tüchtig gekränkt worden dafür; und durch dies Gemisch von Gefühlen an die hohe Gönnerin in fast sclavenhafter Abhängigkeit gebunden, obgleich jeder wiederum alle Jahr einmal den ganz festen Entschluß gefaßt hatte, definitiv den Dienst zu verlassen. Die Gräfin sagte in solchen Fällen niemals ein Wort der Aufforderung sich anders zu besinnen, wußte dagegen gelegentlich soviel Güte zu offenbaren, daß mit Reue um die Erlaubniß gebeten ward, bleiben zu dürfen. Da nun jeder auf diese Weise Jahre lang schon im Hause war, jeder in fortwährender gelinder Aufregung gehalten ward, so entstand daraus ein Leben eigenthümlicher Art im Schlosse, das die Abgeschiedenheit von der Welt, in der man gehalten wurde, kaum empfinden und diejenigen welche einmal daran gerührt kaum wieder los ließ. Nicht lange dauerte es, so war Arthur, er wußte selbst nicht wie, in all diese Geheimnisse eingeweiht. Er fragte weder, noch hörte er sogar zu wenn es sich um Klatsch handelte, es lag seiner vornehmen und auf's Allgemeine gerichteten Natur ganz fern, sich in dergleichen hineinzubegeben. Aber es flog ihm zu gleichsam. Soweit war es gekommen sogar, daß die beiden Kammermädchen der Gräfin, unter irgend welchem Vorwande bei ihm eingedrungen waren und ex adrupto in Thränen ausbrechend, dem gnädigen Herrn Grafen eine Ahnung ihrer Leiden gegeben. Und so Kutscher, Bediente, Gärtner, und nach längerem Besinnen auch der Professor, der Musiker, der Maler und Mademoiselle. Und nachdem Arthur einmal in diesen moralischen Ameisenhaufen hineingeblickt und so viel Charaktere durcheinander krabbeln gesehen, fing ihn diese Verwirrung zu interessiren an und er fragte nach diesem und jenem und beruhigte und ermahnte zum Guten, wo sich Gelegenheit bot. Alle Tage aber war die Situation eine neue. Die Aufregung um tausend Nichtigkeiten riß nicht ab. Und seltsamer Weise, er lernte begreifen, daß man Jahre so hinzubringen im

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Stande sein und diese Ereignisse im Schlosse als wichtige Entwickelungen zu betrachten anfangen könnte, denen man sich nicht wieder entziehen dürfe. Mademoiselle war das Ueberbleibsel einer der vielen nach den napoleonischen Kriegen mediatisirten Höfe. Zuerst höhere Kammerjungfer, zuletzt Freundin einer Prinzessin, welche bis an ihr Ende etwas wie eine Hofhaltung in den alten Formen fortgeführt hatte, und deren innige Freundin die Gräfin gewesen war, wurde sie von dieser, nach dem Ableben der Prinzessin, als werthvolles Stück der Erbschaft übernommen. Im Schlosse bewohnte sie nach eigener Wahl ein Mansardenzimmer (weil sie bei der Prinzessin ebenso logirt gewesen war) und hatte dasselbe mit unzähligen Möbeln von der größten bis zur kleinsten Dimension, lauter Erinnerungen ihrer früheren Existenz, in einen Tempel verwandelt, wo den Gottheiten verschollener Zeiten das reinste Andenken der Verehrung dargebracht wurde. Hier empfing Arthur in mancher stillen Nachmittagsstunde der ersten Zeit, wo er sich noch schonen mußte, Erzählungen von Dingen, die sicherlich Niemand weiter in Europa wußte als Mademoiselle. Zufällig hatte sie gemerkt, daß er vortrefflich französich spreche, und erzählte von nun an nur so. Mit einem Reiz wußte sie diese verstorbenen Dinge vorzutragen, daß Arthur nie ermüdete, zuzuhören. Sie konnte beschreiben, als sei eben geschehen was vor fünfzig Jahren geschehen war, und die Leute auftreten lassen als wüßte sie Geister zu citiren. Und mit gleichem Geschick verstand sie Arthur über die eigene Familie auszufragen. Arthur erzählte manches und empfand, ihm selbst mußte es auffallen, nur wenig dabei von der Beschämung, die ihm seiner früheren Stimmung nach aus den damit verknüpften Gedanken hätte erwachsen müssen. Er würde es vielleicht nicht zugegeben haben, wenn man es ihm in's Gesicht behauptet hätte, und doch war dem so: Mademoiselle hatte bei ihren fürstlichen Geschichten so viel zu sagen gehabt von Mitgliedern hoher Häuser, die etwa in der Art wie Arthur in die Familien hineingekommen waren, hatte dabei dergleichen immer aber nur als Geschwätz behandelt, das der officiellen Stellung dieser Personen weder in ihren noch in den Augen der eigenen Verwandten jemals Eintrag gethan, daß Arthur, im Bewußtsein, keine Menschenseele auf der weiten Erde durch den vornehmen Namen den er trug, zu benachtheiligen, leise sich an den Gedanken zu gewöhnen begann, es handle sich auch bei ihm um eine mehr äußerliche Unannehmlichkeit, die zu ertragen und womöglich zu vergessen sei. Als Gegengeschenk dessen was er unter dem Einflusse so beruhigenden Gefühls von der Familie seines Vaters und seiner Mutter mittheilte, empfing er nun vor allen Dingen genaue Details über das Haus dessen Gast er war. Die alte Gräfin stammte aus einer österreichischen Familie. Ihr Sohn, ein reicher Herr, hatte in Josephinens Mutter eine Frau mit einigen Millionen geheirathet und war jung gestorben, kurz nach ihm seine Gemahlin, woraus denn die junge Comtesse als Erbin großer Güter unter dem Schutze der Großmutter zurückblieb. Daher die Möglichkeit, einen so glänzenden Haushalt zu führen. Als einzige Schwierigkeit die Aufgabe jetzt, für die junge Gräfin einen ebenbürtigen Gemahl zu finden. Auf Vermögen kam es dabei nicht an, wohl aber auf eine bestimmte, bedeutende Anzahl Ahnen und auf Josephinens eigenen Willen, da sie, in allem sonst unterthänig, in dem einen Punkte der Heirath mit Festigkeit darauf bestand, keinen anderen Mann zu nehmen als einen ihr zusagenden, und, auch dies wurde Arthur anvertraut, sehr convenable Partien hartnäckig zurückgewiesen hatte. Als Arthur das zum ersten Male hörte (denn das Thema kam mehr als einmal zur Behandlung), war es ihm äußerst fatal gewesen. Er dachte nicht an Josephine, aber er mußte an sich denken, und es verdroß ihn: wenn er an sie hätte denken wollen, sich dieses Gedankens entschlagen zu müssen. Es ergriff ihn beinahe eine Abneigung gegen Josephine. Sie allein jetzt erinnerte ihn daran, daß er nicht war was er zu sein schien und zu scheinen sich gefallen ließ. Er vermied sie. Er wollte nicht an diesen Mangel erinnert sein. Sie aber war doch zu freundlich, schön und unbefangen, als daß sich dies aus dem Wegegehen hätte durchführen lassen.

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Es war gar nicht so leicht für sie, aufzutreten wie sie that. Jeder Tag führte sie dem Momente näher wo sie selbständig ward, und doch sollte selbst dann, wenn diese Zeit gekommen wäre, die Großmutter in ihrer Alleinherrschaft nicht beeinträchtigt werden. Mit bewunderungswürdigem Takte hielt sie sich ihr gegenüber als gehorsames Kind und trat im Ganzen doch als diejenige auf, die einmal zu befehlen hätte. Ihre Umgebung hing ihr schwärmerisch an; der Maler, Musiker und Professor behandelten sie als eigentliche Gebieterin. Sie nahm das nicht an und lehnte es doch nicht ab. Mit einer stillen Festigkeit, die Arthur von Tage zu Tage mehr bewunderte als er sie mehr verstehen lernte, suchte Josephine die richtige Mittelstraße innezuhalten. Es konnte nicht fehlen, daß bei der genauen gegenseitigen Beobachtung, auf die das Leben im Schlosse sich zugespitzt hatte, dies bemerkt wurde, und das Resultat war Zuwachs an Bewunderung. Wenn zwischen den drei Herren im Schweizerhause die Rede auf sie kam, wurde sie wie ein höheres Wesen behandelt. Diese drei Herren bildeten das wunderlichste Kleeblatt. Der Musiker, der jüngste Zuwachs der Gesellschaft, auch seinem Alter nach der jüngste, war mit zehn Jahren ein Wunderkind, mit fünfundzwanzig aber bereits so nervös gewesen, daß ihm monateweise alles Clavierspiel untersagt werden mußte. Er hatte darauf eine Oper componirt, deren Aufführung aber nirgends durchzusetzen vermocht, sich dann auf ernste Kirchenmusik geworfen ohne besseren Erfolg zu erzielen, war melancholisch geworden, hatte eine theoretische Schrift über die neuesten Richtungen in der Tonkunst verfaßt und drucken lassen, die Niemand lesen wollte, und war schließlich dahin gelangt, nachdem er sein kleines Vermögen aufgezehrt, Clavierstunden geben zu müssen, ein Metier das ihn unglücklich machte ohne ihm Brod zu schaffen. In diesem Stadium hatte ihn die Gräfin angetroffen und auf einen Sommer engagirt, woraus dann ein dauerndes Verhältniß wurde. Auf dem Schlosse lebte er umsonst; jährlich hatte er einige Monate freie Zeit, in denen er sein Gehalt verreisen konnte; ein pariser Flügel stand im Schweizerhause zu seiner Verfügung; seine Kompositionen wurden von der Gesellschaft da freundlich aufgenommen, unter der stillschweigenden Bedingung, daß er sie durch den Vortrag Beethoven'scher und Mozart'scher Musik, die er höchst correct zu spielen verstand, wieder gut machte. Im Augenblicke war er damit beschäftigt, ein großes Oratorium, „die Gletscher-Welt"', zu componiren, dessen Inhalt die Besteigung des Montblanc war, worin Unglücks fälle, Kuhreigen, Lawinenstürze, Gletscherelfenchöre und eine Baßarie des Alpenkönigs vorkamen, und schließlich auf dem Gipfel eine Vermischung von Rule Britannia und Heil dir im Siegerkranz als Triumphmarsch das glückliche Resultat der gelungenen Expedition anzeigte. Großes Studium kostete ihm gerade jetzt eine Nummer, betitelt: Tiefe Stille in der Eisregion, welche musikalisch auszudrücken er Morgens im Saale des Schweizerhauses, zum Aerger des draußen arbeitenden Malers, unermüdlich war. Es klang wie ein wunderliches halblautes Gedröhn und Tongemuschel, in das fernes Geläute sich mischte. Es sollte angedeutet werden, daß der Glockenklang einer Kirche im Thal - bis hierher gelangte, um den letzten Rest von Ton auszuhauchen, und so die Stille charakterisirt werden. Abends im Schlosse nach dem Diner spielte er mit Josephine vierhändig, und versöhnte durch die eigene Meisterschaft und die seiner Schülerin den von der morgendlichen Alpenmusik erbitterten Theil der Zuhörer. Der Maler hatte auf die Gletscherwelt eine große Carricatur gezeichnet, die er jedoch sorgfältig versteckt hielt. Auch er ein talentvoller Mann, der ebensowenig jedoch auf einen grünen Zweig hatte kommen können, ein hier bei weitem ernsterer Fall, da auf dem dürren Aste, auf dem er viele Jahre seines Lebens hatte hocken müssen, eine Frau und eine Reihe Kinder neben ihm saßen. Aus einer Akademie mit dem ersten Preise nach Italien geschickt, hatte er von dort eine Anzahl unverständlicher allegorischer Kompositionen nach Hause gesandt, war schließlich mit einer Italienerin als Frau selbst wieder erschienen und sah sich sehr bald in der Lage, durch Ausnutzung seines Talentes nach vielen untergeordneten Richtungen hin, nothdürftig sein Brod verdienen zu müssen. Ihn hatte die alte Gräfin immer nur für die Sommermonate engagirt, zugleich für seine Familie reichlich gesorgt, aus einem

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hypochondrischen verlorenen Menschen einen vergnügten zufriedenen Künstler gemacht, dem durch die Aufgabe, recht con amore die Wände des Schweizerhauses auszumalen, sogar das Gefühl geschafft wurde, in einer monumentalen Arbeit seinen Namen auf die Nachwelt zu bringen. Niemand auf dem Schlosse schuldete der hohen Dame so viel in Wirklichkeit als er und Niemand äußerte anhänglicher seine Dankbarkeit. Nur in zwei Punkten verstand er, wie er sich ausdrückte, die Damen nicht ganz. Einmal, daß die Kompositionen für die Wände des Schweizerhauses nicht von ihm selbst hatten sein dürfen, sondern extra für diesen Zweck bei einem berühmten Meister bestellt worden waren, der die Cartons gezeichnet und hergeschickt hatte, auch selbst gekommen war, um die Farbengebung zu bestimmen. Der Maler fügte sich zwar, denn er wurde honorirt als hätte er die Kompositionen selbst gemacht, meinte aber eben deshalb, die Gräfin hätte es billiger haben können. Das Zweite war: daß er die Erlaubniß nicht erlangen konnte, durch zwei große Portraits in historischer Auffassung, sowohl der Gräfin als der Comtesse Josephine, der idealen Anschauung sichtbaren Ausdruck geben zu dürfen, die er von beiden hegte. Was das betraf aber, so war die Gräfin ein für allemal unzugänglich. Sie kannte nämlich einiges vom Maler in dieser Beziehung geschaffene und wollte nicht. Ein Glück, daß ihn keine Ahnung des wirklichen Grundes beunruhigte, sondern daß er nur eine Laune der edlen Frau auch hier annahm. Eigentlicher Präsident im Schweizerhause war der Professor. Von Rechtswegen kam ihm dieser Titel nicht zu, er hatte es nur bis zum Doctor der Philosophie gebracht und verdankte sein Professorenthum der Gräfin, welche ihn für ihr Territorium hineinversetzte. Ursprünglich war er Theologe: eine Freistelle verlockte ihn zu diesem Studium. Nach einigen Jahren vergeblichen Ringens, sich diejenigen Anschauungen anzueignen, auf die hin eine spätere Anstellung allein möglich gewesen wäre, warf er sich mit Eifer auf Philologie und Historie; nahm darauf eine Hauslehrerstelle an und ging mit einer russischen Familie nach Italien; betrieb dort Kunststudien und fing an, dahin einschlagende Aufsätze für Zeitungen zu schreiben; faßte die Idee, ein Buch zu verfassen, konnte aber aus allzu scharfsichtiger Gewissenhaftigkeit seinen eigenen Gedanken gegenüber, nicht damit zu Stande kommen: lernte darauf eine schwindsüchtige junge Dame vornehmen Standes kennen, welche zum Katholicismus übergetreten war, Privatunterricht in allerlei ästhetischen Dingen bei ihm nahm und ihn in sich verliebt machte um ihn zu bekehren. Nach einiger Zeit wurde sie jedoch gesund, verheirathete sich und schenkte dem Doctor ein schönes Album mit Raphaels Meisterwerken zum Abschied, welches derselbe verkaufte, sich in Rom eine kleine Wohnung nahm und abermals für Zeitungen zu correspondiren begann. Unter diesen Umständen ward er der Gräfin als Führer durch die Sammlungen empfohlen, wurde ihr bald ein höchst bequemer Privatsecretair, bekam mehr und mehr von ihren Geschäften in die Hände, attachirte sich ein für allemal an sie, übernahm Josephinens Unterricht und zeigte sich mit den Jahren als ein so erprobter Mann, daß die Gräfin zuletzt nichts mehr ohne seinen Rath unternahm. Er und Mademoiselle bildeten das Geheime Conseil im Schlosse, und da er an heirathen nicht mehr dachte, so verstand sich von selbst daß er als unentäußerlicher Minister der Familie in seiner Stellung so lange verbleiben würde, als die Familie selbst auf Erden fortbestand. Aus seinem Munde erfuhr Arthur mit der Zeit nun zum zweiten Male, was ihm Mademoiselle zuerst über die Verhältnisse der Familie mitgetheilt. Auch Arthur ward als ein Mann von Erfahrung angesehen, neben dem was er übrigens galt, und immer häufiger kam es vor, daß man sich in diesem und jenem an ihn wandte. Die Tage gingen so hin. Morgens stieg er zum Schweizerhause hinauf, wo er mit den drei Herren frühstückte. Im Garten geschah das, wo ein halbes Dutzend niedrig und breit gehaltener großblättriger Linden ein festes Schattendach bildeten. Im Salon lagen auf einem Tische eine ganze Reihe der neuesten Zeitungen und frischerschienenen Bücher, so daß in dieser Einsamkeit niemals das Gefühl aufkam, abgeschnitten zu sein vom großen Leben. Hier zeigte sich zuweilen auch Josephine, nahm ihre

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Morgenlection bei dem Musiker, stieg zum Maler auf die Gallerie und sah den Fortschritt der Wandgemälde, besprach mit dem Professor allerlei Angelegenheiten armer Leute, die sich hinter dem Rücken der Großmama direct an sie gewandt hatten und deren Interessen sie mit pünktlicher Aufmerksamkeit behandelte. Dann ging man in's Lazareth, wo Arthur sich mit den Soldaten unterhielt, die Zeitungen des vorigen Tages vertheilte, eine von ihm erfundene Neuerung, auch dem Italiener Gelegenheit gab seine Sprache zu reden. Dann machte er einen Spaziergang. Allmählich ward es Zeit, sich für das Diner anzukleiden, das stets in feierlichem Festanzuge abgehalten ward, und dann gab er sich gleich den Anderen für den Rest des Tages die größtmöglichste Mühe, der alten Gräfin angenehm zu sein. Eine, zwei, drei und mehr Wochen verstrichen so. Und als eines Tages der Arzt Arthur erklärte, er dürfe sich als völlig wiederhergestellt betrachten, war dies eine Neuigkeit, die mit den Gedanken, welche ihre Folge sein mußten, ihn fast zu erschüttern geeignet war. Und zwar dies um so mehr als der Doctor ihm die Mittheilung in einem Momente machte, wo er beinahe vergessen hatte, daß sein Aufenthalt im gräflichen Schlosse, mochte er sich nun so weit hinziehen als er wollte, einmal doch einen Abschluß finden müsse. Am Tage vorher hatte die alte Gräfin nach dem Diner anzuspannen befohlen. Die Umgegend bot reiche Abwechselung für Spazierfahrten. Diesmal war die Absicht, eine neu angelegte Straße zu befahren. Die Gräfin mußte immer ein großes Project unter den Händen haben, und der Professor sorgte dafür daß in diesen Dingen nicht die jährlichen Mittel überschritten würden. Das Schloß lag an einem Punkte wo flaches Land und Gebirge aneinander stießen. Prachtvolle Thäler mit Buchwäldern und Tannen bestanden, mündeten in den Park, wie Flußbetten unsichtbarer Ströme voll herrlicher Waldluft; manche sich stundenlang hin erstreckend und geschaffen für Spaziergänge. Das mächtigste dieser Thäler hatte die Gräfin ausersehen, um am Abhange der Höhen hin mit einem Fahrwege versehen zu werden. Zwei Jahre schon waren Stämme gerodet, Erdreich abgestoßen und aufgeschüttet, kleine Abgründe mit abstürzenden Bächen überbrückt, überhaupt scharf gearbeitet worden. Der Krieg hatte zwar die Leute fortgenommen, allein es war wenig mehr zu thun gewesen und der Weg so gut wie fertig; der Inspektor hatte es gemeldet und man rollte jetzt zum ersten Male darauf hin. Voran ein vierspänniger Wagen mit den beiden Damen und Arthur, hinterher ein Zweispänner, nicht weniger elegant und herrlich bespannt, mit Mademoiselle und den drei Herren vom Schweizerhause. Seit den Tagen wo die Räder von Mr. Smiths Tilbury unter ihm sich gedreht, hatte Arthur, das Fahren als Genuß betrachtet, in keinem Wagen gesessen. Mit ungemeinem Behagen erfüllte ihn die Situation in der er sich jetzt befand, und zwar ohne daß ihm dabei die Erinnerung an Smith aufstieg. Sich gegenüber die alte Gräfin, deren klares, angenehmes Gesicht zuweilen mit fast mütterlichem Lächeln sich ihm zuwandte. Neben ihr Josephine, deren aus Zurückhaltung und Vertrauen gemischtes Wesen ihn täglich mehr anzog: er selbst auf dem bequemen Rücksitze, den Klang der leicht hinfliegenden Pferde im Ohr, deren Tritt er so genau zu beurtheilen wußte; dabei der köstliche Weg durch den Wald, bald warmer, feuchter Waldesathem, dann Kühle aus Felsenritzen heraus, dann ein Hauch frischen Windes wo das Thal sich öffnete und die draußen wehende Luft eindrang. Und dazu der Wald selbst, unendlich scheinend, Stamm an Stamm, vortrefflich gehalten und den Gräfinnen zugehörig. Der Begriff des Eigenthums an Grund und Boden hat etwas menschlich so anziehendes, daß wir ihn auf dem Lande in der Person derer mitgenießen gleichsam, auf deren Gute wir uns nur zufällig befinden ohne am Besitze selbst Theil zu haben oder nur Theil haben zu wollen. Jeder Mensch müßte ein Stück Boden haben von dem er sagen dürfte: es gehört mir. Als man darauf an eine Stelle kam, wo der Weg, wie die Gräfin genau wußte, eine große Schleife machte, befahl sie zu halten. Man wollte eine geringe Höhe übersteigen und die Wagen auf der anderen Seite wiederfinden. Mademoiselle war allerdings wie immer dagegen, da sie die Spaziergänge für unnütze Verschwendungen von Zeit,

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Kosten und Schuhzeug hielt, nahm jedoch tapfer den Arm des Musikers und stieg bergan. Voran gingen Arthur und Josephine, dann die Gräfin und der Professor, dann das dritte Paar, und zuletzt der Maler, zu dem sich der die Shawls tragende höchste Kammerdiener gesellte. Die alte Gräfin hatte der Familie des Malers eine Einladung auf vierzehn Tage zukommen lassen, und es mußte dergleichen vorher mit den übrigen waltenden Mächten berathen werden, die sich der Maler übrigens sehr geneigt zu halten verstand. Auf der Höhe hatte man ein Stück interessante Aussicht, nicht in die Weite, sondern abwärts, wo sich über bemooste samtgrünabgerundete Felsentrümmer in waldige dunkle Tiefen der Blick weit versenken konnte. Der Weg hinunter war steil; die alte Gräfin nahm den Arm des Professors. Josephine begegnete es, daß sie auf den Rand einer anscheinend festen Felsenstufe tretend diese unter sich nachgeben fühlte, so daß sie, hätte sich nicht der Zweig eines Busches dargeboten, den sie rasch ergriff, gefallen wäre. Graf Arthur, führen Sie meine Enkelin! rief die Gräfin plötzlich, und Arthur konnte nicht anders als Josephine den Arm bieten, die ihn mit der Bemerkung es genirt uns alle beide, fürchte ich, freundlich annahm. Nach einigen hundert Schritten als der Weg gangbarer wurde, wandte Josephine den Kopf um und rief der alten Gräfin zu: Muß mich der Graf noch immer führen, Großmama? Wenn er es noch für nöthig erachtet, liebes Kind, antwortete die Gräfin. Halten Sie es für nöthig? fragte Josephine scherzend wie vorhin. Nicht länger als Sie selbst, Comtesse, antwortete er. Man geht hier überdies am besten einer hinter dem andern, sagte Josephine, zog den Arm zurück und nahm den Vortritt des Zuges, worauf man, nach einem kurzen letzten Ende durch Büsche, von denen man rechts und links unaufhörlich ins Gesicht geschlagen wurde, die Wagen wiederfand. Die alte Gräfin befahl hier ein anderes Arrangement. Arthur und Josephine sollten im Vierspänner fahren und den Maler und Musiker dazunehmen. Sie selbst mit den beiden Mitgliedern des geheimen Conseils setzte sich in den Zweispänner, der dafür voranfuhr. Und wieder rollte man unter den Bäumen fort, Arthur diesmal nun an Josephinens Seite. Er dachte sich nichts dabei, aber es hatte etwas ungemein beruhigendes. Wie auf dem Wege vorhin, schwiegen sie beide und überließen den beiden Künstlern das Wort. Und am Abend dann wurde im Schlosse Musik gemacht. Zuerst, wie gewöhnlich, spielten der Musiker und Josephine vierhändig, darauf der Musiker allein. Und als das geschehen war, ereignete sich das Außerordentliche, daß die Gräfin den Musiker aufforderte, eine Piece aus seinem neuen Werke vorzutragen, und er spielte die Arie des Alpenkönigs mit Feuer und allgemeinem Beifall: eine majestätische Melodie, die freilich Händel und Gluck im Stillen ihr Dasein verdankte. Man wünschte ihm Glück und besprach in idealer Vorausahnung den ersten Abend, wo dieses Werk vors Publikum treten würde. Die Gräfin aber verwandelte diese Stimmung beinahe in Enthusiasmus indem sie erklärte, der Musiker werde sein Werk, sobald er es vollendet habe, hier vortragen, und die Gesellschaft abstimmen, ob im Winter dessen Aufführung in der Stadt zu betreiben sei. Sie selbst werde in diesem Falle ihren ganzen Einfluß aufwenden, die Sache durchzuführen. Allgemein wurde dies als eine herrliche Idee aufgenommen, und der Abend ausgemalt, wo man zusammen dem Triumphe des Musikers beiwohnen würde. Die vier Herren, nachdem sie sich für den Abend im Schlosse verabschiedet, gingen selbander ins Schweizerhaus und saßen da noch bis tief in die Nacht. Der Maler erzählte aus Italien, der Professor von ebendaher, Arthur war auch dort gewesen und hatte aus dem letzten Kriege begeisternde Erinnerungen mitzutheilen, der Musiker spielte die Coriolan-Ouvertüre, und weit nach Mitternacht wurde Arthur in das Schloß zurückgeleitet, worauf der Maler und Musiker im Schweizerhause die Sitzung von neuem begannen, Wein tranken, rauchten, italienische Lieder sangen, sich von den Wirthshäusern erzählten, in denen sie in Italien gewohnt und was sie darin gegessen hätten, und so beinahe das Morgengrauen erwarteten.

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Bei Arthur hatte die Idee, den nächsten Winter als Theil der gräflichen Gesellschaft in der Stadt zuzubringen, so sehr eingeschlagen, daß er mit dem Gedanken daran eingeschlafen war. Als er am anderen Morgen erwachte, fühlte er recht, wie sehr er hier zu Hause sei. Im Begriff zum Schweizerhause hinaufzusteigen, ward er dann aber vom Doctor zurückgehalten. Der alte Mann fragte nach diesem und jenem, drückte ihn hier und da an den verletzt gewesenen Stellen und examinirte ob es ihm Schmerzen verursache, sah ihn darauf, als Arthur es verneinte, noch einmal von oben bis unten an wie eine vollendete Arbeit und sagte: Nun, dann erlaube ich mir, den gnädigen Herrn Grafen für völlig wiederhergestellt zu erklären; verneigte sich und ging, während Arthur, der längst freilich gewußt daß er kräftig und gesund sei wie vorher, nicht ein einziges Mal jedoch daran gedacht hatte, daß er in diesem Falle wieder zu seinem Regimente zurückkehren müsse, stillstand und zurückfuhr wie Jemand der im Dunkeln mit der Stirn gegen eine Ecke stößt. Nicht der Abschied allein fiel ihm schwer aufs Herz, sondern die langeingeschläferte Frage, die nun schreiend wieder erwachte: was thun? was beginnen? Längst war Friede geschlossen. Wohin sich wenden? In das alte Leben hinein mit Erwin? In das alte fruchtlose Abwarten, welcher Weg sich bieten könnte, um eine Stellung zu gewinnen? So ganz und gar war er hineingewachsen in das neue Dasein, daß er die Ungewißheit der Zukunft fast vergessen hatte die ihn erwartete. Beim Militair bleiben? Wieder die Feder ergreifen? Worüber schreiben aber? Der Krieg hatte die Erinnerung an Amerika beinahe ausgelöscht. Außerdem, wer trug jetzt Lust zu lesen, wo so viel erlebt worden war? Wie ein Höllenzwang überkam es ihn. Es war die Zeit, zu der er in so friedlicher Stimmung zum Schweizerhause zu gehen pflegte. Er durchschritt den Park und nahm Abschied im Stillen. Einer der Inspektoren der ihm da begegnete, grüßte ehrerbietig als er vorüberkam, fast als sei Arthur der Sohn der Familie, oder der Herr des Hauses selber. Arthur kannte ihn, kannte alle Arbeiter, alle Leute im Hause; ein unerträglicher Riß däuchte ihm, mit einem Schlage diesem Leben entrissen zu sein. Vor dem Schweizerhause saß der Professor und laß die Zeitung: Er erhob sich mit einer gewissen Förmlichkeit und grüßte den Grafen. Arthur setzte sich zu ihm. Nichts war ihm angenehmer jetzt, als dem Professor anzufühlen daß er Lust zu einem Gespräche habe. Der Professor war der einzige eigentlich, mit dem sich reden ließ. Das Schicksal hatte ihn an der Stelle, wohin es ihn gesetzt, zu etwas in seiner Art völlig abgerundetem fortgebildet. Glücklich fühlte er sich nicht, denn wie kann ein Mann der nie selbstständig gewirkt hat und einsam einem ungewissen Alter entgegengeht, das sein? Aber er hatte auf dem Schlosse eine bedeutende Bibliothek vorgefunden, die zu benutzen die Zeit nicht fehlte und die zu vermehren ihm ausreichende Fonds zur Verfügung gestellt wurden. Eine prachtvolle Kupferstichsammlung daneben ließ sogar zu, die begonnenen Kunststudien fortzusetzen. Nach dieser Richtung unterhielt er einen schwachen Verkehr mit der Menschheit, indem er alle Jahre einige fein ausgearbeitete Aufsätze hier und da veröffentlichte. Die Einsamkeit und der Verkehr mit vornehmen Leuten hatten ihn zum Philosophen werden lassen. Die öffentlichen Zustände verfolgte er mit Aufmerksamkeit; seine geschichtlichen Anschauungen erweiterte er täglich; die Entbehrung, seine Gedanken in keinem Amte oder einer Lehrtätigkeit direct verwerthen zu dürfen, hatte er verschmerzt. Er stand hoch über seinen beiden Gefährten, deren Kenntnisse gleich Null, und deren Gespräch, dem entsprechend, weder anziehend noch anregend war. Der Musiker, den eine stete Furcht zu plagen schien trivial zu werden, brachte durch seine oftmals mystischen Wendungen ein unbehagliches Gefühl hervor; der Maler behandelte überhaupt nur ein einziges Thema: er erzählte von italienischen Weinsorten und Nationalspeisen oder zog im Allgemeinen auf die elenden Zeiten los, ohne weder zu wissen wie bessere etwa gewesen wären, noch wie sie sein sollten. Ihm sowohl als dem Musiker schwebten unbestimmte romantische Zeiten vor Augen, zusammengesetzt aus denen Raphael's, Ludwig des Vierzehnten und Goethe's, wo Musik, Malerei und Dichtung belohnt und verstanden wurden, Tage deren Wiederkehr jeden Morgen auch jetzt

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herbeigeführt werden könnte, wenn nur nicht eine dunkle Macht, die sie mit „die Regierung" bezeichneten, immer und immer das Falsche thun, sondern „Mittel gewähren" und die „richtigen Leute" mit deren Verwendung betrauen wollte. Ferner verlangten sie „Verständniß von Oben herab". Arthur erklärte nichts davon zu wissen, der Professor meinte, es handle sich im Gegentheil bei weitem mehr um Verständniß „von unten herauf", gab den Herren übrigens Recht und bemerkte zum Schlusse, Zeiten, welche Frauen wie die beiden Damen im Schlosse hervorgebracht, könnten nicht mehr unter die schlechten gerechnet werden, was denn auch keinen Widerspruch erfuhr. — Arthur that einen Blick in die Zeitungen. Die große Verwirrung fängt an durchsichtig zu werden, sagte er, und man sucht bereits zu berechnen, was wir an festem Gewinn davontragen. Im Ganzen, wie im Einzelnen, nahm der Professor den hingeworfenen Faden auf. Dieser Krieg ist eine ungeheure Unterbrechung des gewöhnlichen Lebens gewesen. Auf ein paar Monate hat man Vergangenheit und Zukunft vergessen; nun kommt, wie nach den großen Ferien, die alte Schulzeit wieder heran. Wir haben das Gefühl, als seien wir alle um ein paar Klassen gleich aufgerückt, aus Quartanern Primaner geworden. Wir erscheinen uns selber neu und sehen theilweise mit Schrecken die Ansprüche, die wir und andere an uns machen müssen. Wir fragen: werden wir es zu leisten im Stande sein? Arthur nickte und schwieg. Und wie mancher vielleicht, fuhr der Professor fort, mag als die Unterbrechung kam, gerade in einer entscheidenden Entwickelung seines eigenen Schicksals begriffen, dem Himmel gedankt haben, der so den Knoten zu durchschneiden schien, und sieht, zurückkehrend, nun mit Erstaunen, daß die Dinge gerade so liegen blieben wie an dem Tage wo er fortging, und all die alte Noth und Sorge kommt von neuem über ihn. Das weiß der Himmel, sagte Arthur, mehr an sich selbst als an den Professor gewandt. Und wie Viele, fuhr dieser fort, deren ganzes Leben heute eine solche Entwickelung ohne Ziel ist. Die Jahrelang gedacht haben: morgen muß sich dein Schicksal entscheiden, denn so fortgehen kann es nicht mehr. Und es entschied sich nicht und ging doch so fort, und sie wurden nutzlos alt dabei. Denn das sind nur Wenige, die den Himmel um einen Thaler bitten und er läßt Gold regnen als Antwort darauf. Ja, und Säcke dazu um es fortzutragen, bemerkte Arthur und lachte. Der Professor schwieg. Worin mag es liegen, begann Arthur jetzt, daß die Welt so aus den Fugen ist? Daß eine so allgemeine Unlust und Gleichgültigkeit herrscht, die, ich wette darauf, von all unsern Siegen nicht fortgeschwemmt worden ist? Ich meine manchmal, wie Cholera und Traubenkrankheit und Rinderpest müßte auch eine geistige Epidemie jetzt herrschen, welche diese Verstimmung, diesen Mangel an rechter Lebensfreude hervorgebracht hat. Der Professor besann sich eine Weile. Hier in dem Asyl, das ich nach traurigen Erfahrungen gefunden habe, sagte er dann, merke ich an mir selbst nichts mehr von dem was Sie sagen, verehrter Graf; allein, käme ich frisch aus der Welt, aus der Sie wahrscheinlich kommen, so würde ich vielleicht nicht anders denken. Allerdings ist es wunderbar, daß in einer Zeit, wo die Ereignisse zum Verkehr und zum persönlichsten Eingreifen drängen, so wenig Reiz in diesem Treiben liegt, daß fast jeder, den man ernsthaft fragt, zugestehen muß, eine ehrenvolle Zurückgezogenheit sei der einzige erträgliche Zustand. Es leben zwei Generationen heute nebeneinander welche sich nicht verstehen. Eine ältere, in Zeiten nicht politischen Lebens sorgfältiger und feiner gebildete, noch auf Goethe und klassische Bildung basirt, durch die Zeiten aber gerade, innerhalb deren sie erzogen ward, mit dem Geiste jener Resignation erfüllt, der der Geist dieser Zeiten war. An dem Aufschwunge der Freiheitskriege nahmen diese Leute selbst kaum mehr Antheil: sie kamen später; für das Jahr 1848 aber waren sie schon zu alt: sie kamen früher. Das Höchste was sich in ihnen bildete, war bei der unbestimmten idealen Hoffnung auf eine ferne, lebendigere Zukunft, ein epigonenhaftes zuschauendes

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Betrachten der Gegenwart. Zu gewahren, wie die Dinge sich gestalteten; selbst niemals einzugreifen im umbildenden Sinne; zu verstehen, nicht zu ändern: das ihr Verhältniß zur Oeffentlichkeit. Die Zeiten liegen nicht gar so weit hinter uns, in denen lebhafter Antheil am politischen Leben überhaupt bedenklich erschien. Man sollte das den Berufenen überlasten. Und so warf man sich auf die geistige Cultur mit aller Kraft, und eine Blüthe der Geselligkeit entwuchs dieser Stille, der wir viel verdanken, wenn wir sie auch weder brauchen können heute, noch sie sogar begreifen. Jene Aelteren aber vermissen sie und sehen nichts Entsprechendes zum Ersatz dafür eintreten. Dieser älteren Generation, die in das jetzige Leben mit Resignation sich einfügt, die neuere gegenüber, welche in den bewegten letzten zwanzig Jahren unruhig und ungeduldig aufgewachsen, geistige Bedürfnisse freilich hat, aber stärkeres Getränk verlangt als das vor ihren Zeiten gebraute. Sie findet keines fertig bereitet vor und schafft sich selbst was ihr behagt. Was so zu Stande kommt aber erscheint jenen netteren roh und inhaltslos, und sie mögen keinen Theil daran haben. Und dieser Gegensatz erstreckt sich in alle Verhältnisse. Man erinnert sich auf Seiten der Netteren der ehemaligen Zeiten und verlangt die alte rechnungtragende Rücksicht: man fühlt sich beleidigt durch die kurzen Prozeß machende und sich oft in den Mitteln vergreifende Energie, mit welcher heute regiert wird. Und doch wieder soll energisch eingegriffen werden. Die Energie darf aber nicht lange wählen; zu viel zu thun ist da, und zu rasch abzumachen alles. Und so lobt man das Alte ohne es brauchen zu können, und haßt das Neue ohne es entbehren zu können. In vielen Richtungen aber nun macht sich die ältere Partei noch geltend, auch ihrerseits allmählich energisch werdend, aber ohne die Freiheit wieder, frisch zuzugreifen und mit dem Strome zu schwimmen. Und so drängt und stößt und mißversteht man sich hüben und drüben. Es ist ein Uebergang. Diejenigen aber fühlen sich am wenigsten befriedigt, welche ihren Neigungen zufolge Zeiten bedurft hätten mit überwiegender geistiger Cultur wie jene verflossenen gewesen sind, und die in der Gegenwart nun immer wieder auf den Verfall hingewiesen werden, ohne sich am Aufbau mit thätigem Instincte betheiligen zu können. Geistige Rohheit scheint einzubrechen. Der sittliche Einfluß der Kunst wird kaum noch gekannt. Zu meinen Zeiten wurde sie überschätzt. Deutschland war damals wie eine ungeheure Universität: wer nicht studirt hatte, zählte nicht, und jeder von den Studirten nur nach seinen wissenschaftlichen Erfolgen. Das Zeitalter von 1818 bis 1848 war ein gelehrtes; in tausend Jahren vielleicht, wenn den Kindern davon erzählt wird, werden sie sich diese Epoche vorstellen, als hätte da kein Wind geweht, hätten die Kinder nicht geschrien oder unnütze Unarten begangen, hätte Niemand auf der Straße ein lautes Wort gesprochen, sondern Züge von stillen Greisen oder andächtigen Jünglingen wären von Bibliothek zu Bibliothek gewandelt und hätten gelehrt und sich belehren lassen, bis dann im März 1848 ein plötzlicher Sturmwind eintrat, allen Menschen die Köpfe verwirrte und sie auf ein ganzes Jahr um ihren Verstand brachte. Und als sie sich wieder besannen, war der Geist der Gelehrsamkeit fort und die Deutschen arbeiteten und wirtschafteten wie andere Völker, führten auch Kriege, was man für gar nicht mehr möglich gehalten vorher, und siegten darin. Wir sind nicht mehr im Stande, nach jenem alten geistigen Budget unser Leben einzurichten. Es kann der Einzelne nicht mehr die Fülle von Zeit auf Gewinnung ästhetischer Bildung verwenden, die man früher mehr als reichlich dafür übrig hatte. Von der ersten Jugend an,,die sonst fast traumhaft verlebt wurde, berechnet ein junger Mann heute wie ein Geiziger seine vierundzwanzig Tagesstunden und sieht sich gezwungen so zu verfahren, wenn er nicht Zurückbleiben will. Daher lauter einseitig und nothdürftig gebildete Menschen, und diese Bildung nur in geringem Maße auf höhere Cultur gerichtet. Und diese Menschen heute in vielen Stellungen maßgebend, und sogar da bereits entscheidend, wo man ihnen, träten sie mit ihren heutigen Kenntnissen in die ältere Epoche zurück, in dieser kaum gestattet hätte ein Urtheil abzugeben. Und so ein scheinbarer Rückschritt, und gerade auf dem geistigen Gebiete auf dem die Deutschen zumeist zu arbeiten berufen sind. Es wird sich das rächen. Wir

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glauben auf eigenen Gedanken zu beruhen, und wissen nicht, wie sehr wir nur an dem Fette zehren, das die zunächst vor uns lebende Generation aufsammelte. Eines Tages werden die Töpfe leer sein und wir zu unserem Schrecken es gewahren. Es darf uns das nicht hindern, die politische Arbeit jetzt durchzuführen, welche die Geschicke uns auferlegt haben. Diejenigen aber sind trotzdem schlimm daran, die das Einbrechen geistiger Verödung vorauszusehen glauben und denen dieser doch nun erst beginnende Zustand heute schon unerträglich erscheint. Der Professor, indem er so seine Weltanschauung darlegte, bedachte nicht, daß Arthur selbst schon zu jung war, um ihn ganz zu begreifen. Arthur wußte vom Jahre 48 nur aus Erzählungen, und wenn er etwas von dem vermißte, was der Professor nicht mehr in Deutschland fand, so hegte er dies Gefühl ohne doch aus eigener Erfahrung sagen zu können, was es bedeute. Klar war ihm längst freilich, daß früher ein Zustand geherrscht hätte, den er selbst für harmonischer gehalten haben würde; und deshalb, eingehend in diese Gedanken, fragte er: Ja, was sollen die beginnen? Ich glaube die Furcht vor einbrechender Verwilderung ist eine grundlose, fuhr der Professer fort, denn das geistige Leben muß in neuer und ungeahnter Blüthe zurückkehren. Wir haben, genau besehen, noch gar keines gehabt. Wir sagen, Goethe und Schiller! und sehen ganz Deutschland hinter ihnen. Aber es wird eine Geschichte des Buchhandels einmal geschrieben werden, welche darlegt, wo in Deutschland dieser Beiden und Anderer Werke gekannt und gelesen sind und wo nicht. Wir sind von Dialekten zerrissen, durch religiöse Kurzsichtigkeit einander entfremdet, wir sind niemals ein ganzes Volk gewesen: heute machen wir den ersten Versuch, es zu sein. Je größer die Masse, desto größer der Raum auf dem sie durcheinanderfluthet; je größer diese Bewegung, um so gewaltiger die Cultur. Wir müssen das Ungewohnte der letzten Zeiten erst überwunden haben. Früher lebten wir zumeist im Zimmer, von heute an werden wir zumeist in der freien Luft uns zu bewegen haben. Aber der Uebergang freilich ist nicht angenehm. Wohl dem, der hier seine besten Kräfte nicht zu Markte zu tragen und auszubieten gezwungen ist. Sich zurückzuziehen kann gewissen Naturen für die nächsten Jahre fast zum Naturgebot werden. Und warum sollen die, die nicht dafür gemacht sind, denen nicht die erste rauhe Arbeit überlassen, die, dafür gebildet, sich dazu drängen und im Ueberflusse zuströmen? Was den feiner angelegten Charakteren bleibt und sie durchaus beruhigen muß, ist die geräuschlose Erfüllung ihrer bürgerlichen Pflichten insoweit sie begehrt wird; für die Seele aber Beschäftigung mit den Werken und Gedanken der Vergangenheit, und Versenkung in die Natur. Das ist der Segen des Lebens in der Stille aus dem Lande, die ewige Folge der Jahreszeiten an unendlichen Punkten verfolgen zu können. Jede Blume hier scheint einzig meine Blicke erwartet zu haben. Diesen Bäumen hier stehe ich am nächsten, näher so als wenn sie mir gehörten, weil ich sie am schärfsten beobachte. Ich würde diese Fülle vielleicht genießen wie Sie, wenn ich zwanzig Jahre älter wäre, sagte Arthur. Und doch würde das Leben bei uns für all Ihren Ehrgeiz und Thätigkeitstrieb jetzt schon Befriedigung gewähren, erwiederte der Professor. Nicht nur um Bäume, mehr noch um Menschen handelt es sich. Die Bevölkerung ist zurück. Wer Herr wäre auf diesen Besitzungen — der Professor hielt inne, weil Josephine auf sie zukam. Er erhob sich, Arthur mit ihm, man wünschte sich guten Morgen. Darf ich um etwas bitten, Comtesse? sagte Arthur. Josephine nickte freundlich. So erlauben Sie dem Professor, sagte er, in seiner Rede fortzufahren, und hören Sie selbst mit an was er eben zu expliciren im Begriffe steht. Reden außer dem Hause sind immer ein Genuß für mich, sagte Josephine und setzte sich in so liebenswürdiger Weise als Zuhörerin nieder, daß der Professor darin einen Befehl erblicken mußte. Nichts auch schien ihm gelegener gekommen zu sein. Ich versuche eben dem Grafen zu beweisen, wie einem Manne von Thatkraft sich gerade hier, beispielsweise, ein reiches Feld erschließen müsse.

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Da bin ich begierig, sagte Josephine, denn das geht mich an, obgleich ich kein Mann von Thatkraft bin. Comtesse, begann der Professor, wir sprachen davon, daß es Zeiten gebe, die einem Manne von Thatkraft durchaus keine Gelegenheit zu bieten schienen, in die Geschicke des Volkes unmittelbar nutzbringend einzugreifen und ich hatte auf den Landbau Hinweisen wollen, der diese Gelegenheit gewährt. Man betrachtet das Leben auf dem Lande heute entweder als einen Luxus oder als Betrieb einer Fabrikation. Der thätige Gutsbesitzer ist Fabrikant von Getreide, Kartoffeln und Spiritus. Wie unwürdig diese Auffassung! Man vergißt, daß der Boden des Landes, als Theil dessen was wir Vaterland nennen, heilig ist, und daß wenn ein Landwirth sich noch so sehr der Maschinen bedient und seine Produkte kaufmännisch verwerthet, seine Thätigkeit eine höhere ist. Der Fabrikant verwandelt Rohmaterial, das er so billig als möglich bezieht, in etwas anderes, das er so theuer als möglich verkauft. Hierzu bedarf er trotz aller Maschinen menschlicher Arbeit. Wohlan: der moralische Zustand seiner Arbeiter muß ihm am Herzen liegen, wenn er ein Ehrenmann ist. Allein diese Sorge darf so wenig hier in erster Linie stehen, als in Bezug auf den Gegenstand seiner Fabrikation erste Absicht sein kann: etwas nützliches zu schaffen. Ein Fabrikant, welcher das billige Hemdenzeug herstellt, ohne welches der Arme vielleicht Hemden gar nicht beschaffen könnte, ist nicht moralischer als ein anderer, welcher dieselbe Baumwolle in Gewebe verwandelt, die die Mode nach einmaligem Gebrauche fortwirft. Beidemale will man Geld verdienen, und wenn man von Mitleid mit den armen Arbeitern, welche billige Kleider haben müßten, oder von der Absicht, die Baumwollen-cultur zu heben redet, u. s. w., so sagt man die Wahrheit nicht. Wollten sie sich um das als Hauptsachen bekümmern, so arbeiteten sie auf ihren Ruin los. Dagegen die erste Pflicht des Landmannes: keinen Ertrag als wirklichen Ertrag anzusehen, der nicht eine Verbesserung des Bodens mit sich bringt. Niemand wird etwas darin finden, wenn ein Spekulant ein Kohlenbergwerk ausbeutet und erschöpft liegen läßt. Ein Landwirth, der ein Gut aussaugt, wird verachtet werden. Grund und Boden sind uns nicht zur Sklaverei gegeben, sondern uns vermählt gleichsam. Wir haben Pflichten ihm gegenüber. Und der unberechenbare Wechsel der Witterung, den zu beobachten der Landbau ein unaufhörlicher Antrieb ist, lenkt den Menschen auf höhere Mächte hin. Er lernt sich gedulden und Schritt vor Schritt gehen. Der Frühling muß ihn entzücken, und wenn er nichts als Geldgewinn im Kopfe hätte. Dieses Leben und Schaffen auf dem Lande ist dasjenige, von dem wir als dem niedrigsten ausgehen und als dem höchsten zurückkehren; und wo sich Menschen finden, die nicht wissen, was sie ergreifen sollen: das Land liegt immer da und wird dankbar die Arbeit belohnen, die sie ihm zuwenden. Und nicht das allein. Der höchste Zustand des Menschen ist der einer glücklichen Ehe. Nichts aber macht ein Zusammenwirken der Ehegatten in so schöner Weise möglich wie der Landbau. Hier theilt sich das Leben so genau für beide, daß was der eine thut, der andere nicht thun kann, jedes des andern bedarf, und, während sonst überall eine Trennung herrscht, die mit den Jahren größer wird, hier zunehmende Vereinigung das Ziel des Lebens ist. Mann und Frau auf dem Lande theilen sich in ihre Arbeit wie ein ideales Königspaar in die Geschäfte der Regierung. Josephine stand hier auf, nachdem sie zuvor auf die Uhr gesehen. Es thut mir leid, sagte sie lächelnd, den Mann von Thatkraft in hiesiger Gegend nicht abwarten zu können, aber meine Männer da unten — sie deutete auf die Kirche, deren Thurm sichtbar war — gehen jetzt vor. Und fort war sie. Der Maler, als er die lange gleichtönige Rede hörte, hatte mit der Arbeit inne gehalten und, den Pinsel in der Hand auf die Gallerie gelehnt, von oben zugehört. Es ist merkwürdig, sagte er zu sich, wenn einer Theologe gewesen ist, das wird er sein Lebtage nicht wieder los. Es klingt als wenn er Beiden eine Traurede zu halten hätte. Darauf zündete er sich seine ewig verlöschende Cigarre wieder an, um derentwillen er alle zwei Tage eine volle Büchse Streichhölzer verbrauchte, nahm den Pinsel tüchtig

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voll Braungelb und malte an dem Schwanze eines sitzenden Spitzes weiter, der wie auf allen übrigen Kompositionen des Meisters der die Cartons gezeichnet hatte, so auch diesmal im Vordergrunde nicht fehlen durfte. Arthur und der Professor hatten schweigend dem jungen Mädchen nachgesehen. An deren Seite einen Gemahl hier, begann der Professor endlich wieder, der ihrer würdig ist! Seit zehn Jahren unterrichte ich sie nun und sehe wie sich ihr Geist entwickelt. Es ist als hätte die Natur in aller Stille ein Meisterstück hier zur Entstehung kommen lassen wollen. Arthur schwieg. Es überkam ihn die Empfindung, als läge den Worten des Professors eine Absicht zu Grunde, so sehr sich dieser im Allgemeinen gehalten hatte. Auch däuchte ihm, als hätte der Professor die Natur, von der er so innig sprach, doch mehr auf Spaziergängen nur kennen gelernt. Arthur schwebte, freilich als ein dunkler Gegensatz ganz in der Ferne noch, amerikanisches Waldleben vor, wo die Natur in Feindschaft und Freundschaft mächtiger dem Menschen entgegentrat. Doch dies nur eine Ahnung jetzt. Arthur begriff die Aeußerungen des Professors in ihrer Richtigkeit und deren unmittelbare Konsequenzen für ihn selber. Was bot sich an nothwendiger Arbeit in Deutschland für seine Hände? Wer vermißte ihn wenn er sich zurückzog? Zu sehr stand er, was etwanige Theilnahme am politischen Leben anlangte, unter der Herrschaft der nach den großen Siegen Preußens fast allgemeinen Stimmung: es sei alles gethan, aller Zwiespalt im Lande ausgeglichen und ein neues bürgerliches Dasein im Anbruche, dessen Gestaltung ruhig abgewartet werden müsse. Wohin sich wenden während dieser Zeit der Ruhe? Und welch ein Gedanke: hier zu wohnen; vielleicht: hier zu befehlen! Hier eine feste heimathliche Stätte zu besitzen, von der aus sich weite Flüge thun ließen, von denen wieder man zu einer solchen Frau zurückkehrte wie Josephine! Arthur dachte so! es schwebte ihm vor wie ein Bild, auf dem er sich als einen von sich selbst getrennten Doppelgänger gleichsam neben Josephinen erblickte. Aber er sah es vor sich! Und der Professor schien ihn zu durchschauen, und das Eisen schmieden zu wollen so lange es warm war, denn er beharrte bei seinem Lobe Josephinens. Ein wunderbares Herausfühlen des Aechten ist ihr eigen, und ein Festhalten daran unter allen Umständen, fuhr er fort. Sie kennen das Leben hier. Es dreht sich in einem ewigen Kreise, es ist bewegt, aber die Bewegung hat etwas kleinliches. Dennoch, müssen Sie eingestehen: wer hier aufgewachsen ist, für den liegt die Versuchung nahe, zu glauben, das menschliche Leben biete überall und überhaupt nichts anderes, als was hier auf dem Schlosse vorgeht. Die Comtesse aber steht hoch darüber. Ich bewundere oft in der Stille, denn darüber zu reden erlaubt mir meine Stellung nicht, mit welch rührender Geschicklichkeit sie vor der Gräfin den Schein annimmt, als sei sie noch immer nur das spielende Kind von ehedem, das in dem Treiben hier die höchste Befriedigung findet; und dabei schweifen ihre Gedanken weit über unsere engen Grenzen hinaus. Sie erkennt, wie es, bei all der ungemeinen Geschäftigkeit der Gräfin, eigentlich hier doch beim Alten bleibt. Heute schon bedenkt sie, was in der Zukunft geschehen müsse, und sucht sich die nöthigen Kenntnisse zu erwerben um, wenn die Anforderung einmal an sie gestellt werden sollte, in voller Umsicht einzugreifen. Ich könnte mich rühmen, das in ihr erweckt zu haben: alles jedoch was ich thun konnte war nur, ihre Fragen so gut als möglich zu beantworten. Und deshalb: einen Gemahl wünschte ich an ihre Seite, der das zu würdigen wüßte und ihrer ebenbürtig wäre. Der Professor würde noch lange von dem gesprochen haben, was er von dem zukünftigen Gemahl Josephinens erwartete, hätte ihn nicht das Erscheinen eines Bedienten unterbrochen, welcher aus dem Parke herankommend, den Hut in der Hand und die Füße in der richtigen Position, dem gnädigen Herrn Grafen den Wunsch der Frau Gräfin überbrachte, sich im Lauf des Vormittags, am liebsten aber gleich, wenn es möglich sei, bei ihr einfinden zu wollen. Arthur ließ unterthänigst erwiedern, daß er sofort erscheinen werde, und ging durch den schattigen Laubengang, der aus zusammengebogenen Weißbuchen gebildet, an der einen Seite des Parkes als eine kühle Straße hinlief, zum Schlosse hinunter.

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Siebenunddreißigstes Capitel. Die Gräfin war im weiten Umkreise als eine Frau bekannt, welche bei ihren Entschlüssen beharrte und dadurch manches bewirkt hatte. Der Professor wußte freilich, daß diese Energie oft in den Tag hineinging und Irrthümer und Hartnäckigkeiten zur Folge gehabt, die viel Geld kosteten. Allein das Geld fehlte nicht. Die Frau war zu dem Glauben gelangt, was sie wolle müsse gut und richtig sein, es komme nur darauf an, sich recht klar und deutlich auszusprechen und dabei zu bleiben. Und so ward denn was Arthur jetzt erfuhr in so präciser Form vorgetragen, daß ihm kein Zweifel bleiben konnte, es handle sich um feste, wohlüberlegte Dinge und nicht um erste, vage Vorschläge. Niemand wußte um das ihn im Schlosse erwartende als der Professor und Mademoiselle. Auf der Rückfahrt am Abend vorher war der Thronrede der Gräfin die letzte Form gegeben worden. Denn Alles stimmte. Man hatte sich erkundigt, scharf beobachtet, schließlich das eigene Gefühl consultirt und dann erst Arthur als den Mann proclamirt, den man gesucht und nun gefunden habe. Er erschien bei der Gräfin, ward mit einer gewissen Feierlichkeit von derselben empfangen, bedeutet ihr gegenüber Platz zu nehmen und nach einer Einleitung, die etwas stylistisch meisterhaftes hatte, mit dem Vorschlage überrascht, den er sicherlich nicht erwartet hatte. Begonnen war worden mit einer Auseinandersetzung von Josephinens Vermögenslage. Die Rede berührte darauf die Schwierigkeit eine passende Partie zu finden. Und der Schluß: die Aufforderung, selbst hier einzutreten. Es waren von Anfang an, explicirte die Gräfin, drei Partien naheliegend gewesen für ihre Enkelin. Zwei Vettern habe sie, beides ausgezeichnete junge Leute, Offiziere, bei der Armee gegenwärtig, Josephinen jedoch in so hohem Grade gleichgültig, daß eine Heirath hier unmöglich sei. Von der dritten Partie müsse aus anderen Gründen abgesehen werden. Ein Bruder des Vaters jener beiden jungen Leute, der in etwas derangirten Umständen verstorben ist, erzählte die Gräfin, hat einen Sohn hinterlassen, der, wie ich weiß, ausgezeichnete Anlagen besaß und an den man hätte denken können. Unter dem Einflusse politischer Anschauungen jedoch, die schon deshalb jeden Verkehr unmöglich machen, hat der junge Mensch seinen Adel niedergelegt und ist, wie ich höre, (sie ließ dies: wie ich höre, sehr verächtlich einfließen) Arzt geworden. Er hat natürlich aufgehört, für uns auf der Welt zu sein. Ich würde seiner gar nicht erwähnt haben, setzte sie hinzu, wäre es heute nicht meine Pflicht, Sie mit Allem bekannt zu machen. Josephine hat einen solchen Vetter also. Es wäre möglich, daß er Ihnen einmal begegnete, vielleicht sogar zur Last fiele. Indessen Sie werden ihn abzuweisen wissen, wie ich gethan habe. Es war Erwin gemeint. Arthur wußte es. Aber er wagte nicht zu reden. Was Sie anlangt, lieber Arthur, fuhr die Frau fort, ihn zum ersten Male bei seinem Vornamen allein nennend, so kannte ich Ihren Vater und Ihre Mutter. Daß Sie nicht begütert sind, ist etwas Zufälliges und ohne Gewicht. Das Bewußtsein Ihrer Persönlichkeit und Ihrer Abstammung wird Sie niemals dazu kommen lassen, den Vermögensunterschied zwischen Ihnen und Ihrer Frau als etwas anzusehen das eine Ungleichheit auch nur andeutete. Einige hunderttausend Thaler mehr würden gleichgültig sein. Darauf kommt es hier nicht an. Und nun, schloß sie, bedenken und überlegen Sie sich die Sache. Heut sollen Sie Ihre Antwort nicht geben, ich nehme sie nicht an, selbst wenn Sie sie schon fertig auf der Zunge hätten. Einige Tage sollen und müssen vergehen, ehe ich Ihnen erlaube, davon zu reden. Sie erhob sich, als solle damit angedeutet werden, daß der für Arthur's Nachdenken geeignete Stoff hiermit als abgeschlossen zu betrachten sei. Nur eine Frage, hielt Arthur sie zurück, denn die Gräfin wollte das Zimmer verlassen, weiß Comtesse Josephine davon? Nein, lieber Graf, antwortete sie. Wie konnten Sie das denken? Sie ahnt so wenig was wir hier verhandeln, daß sie mir auch nicht durch die leiseste Bewegung nur, das Recht gegeben hätte, Ihnen zu sagen, sie schiene zu ahnen, was ich im Sinne hatte. Dies konnte allerdings noch gesagt werden heute: nichts wird Ihnen angeboten als die

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Erlaubniß, Ihr Glück zu versuchen bei Josephine. Indessen, setzte sie im höchsten Grade freundlich hinzu, ich würde sie Ihnen nicht gegeben haben, wenn ich nicht dächte, daß es Ihnen gelingen dürfte. Damit erhob sie sich, ergriff Arthur's Hand, drückte sie und verließ das Zimmer, in dem Arthur allein zurückblieb. Die Schicksale der letzten Jahre waren doch nicht fruchtlos an ihm vorübergegangen. Er hatte zu verbergen gelernt was in ihm vorging. Dennoch, als er sich nun allein sah, brach seine Haltung zusammen. Ein vernichtender Ekel vor ihm selbst erfüllte ihn. Geduldet hatte er, daß von den Menschen der am meisten für ihn gethan, mit unerträglicher Geringschätzung gesprochen worden war. Warum hatte er nicht erklärt, daß Erwin sein Freund sei, daß er ihm soviel verdanke, daß er ihn höher stelle als jeden Anderen, daß kein Mensch auf Erden in seiner Gegenwart ein Wort gegen ihn sagen dürfe? Und was an Stelle dessen? Sich einschleichend auf den Anschein einer edlen Geburt hin, deren Nichtigkeit er kannte, hatte er sich vom Glanze dieser vornehmen Existenz schrittweise zum reinsten Comödiantenthum verleiten lassen. So gut hatte er gespielt, daß jetzt, um das letzte Siegel auf sein Zeugniß grenzenloser Schwäche zu drücken, die Gelegenheit geboten ward, durch einen leichtgemachten Betrug seinem Auftreten die Krone aufzusetzen. Fort! sagte er sich. Aber nicht heimlich davon! Erwin und sich selbst war er es schuldig: die Wahrheit sollte offen bekannt werden. Dieser Entschluß aber, mit dem er seine Selbstbetrachtung endete, erfüllte ihn mit einer Aufregung, die er nicht mehr zu überwinden vermochte. Er ging im Zimmer auf und nieder, fast als könne er die Thür nicht finden; stand und sah sich um und rang nach Ruhe, wie man nach Luft schnappt. Er hatte das Zimmer der Gräfin nie zuvor betreten. Ein großer, prächtiger Raum, die Wände von Gemälden bedeckt. Vornehme Gestalten. Er sah sie an und dachte, wie er selbst vor Zeiten so unter den stummen Gesichtern und todten, nie sich schließenden Augen seiner geträumten Verwandten gesteckt und sich von ihnen hatte im Bann halten lassen. Nicht zum zweiten Male sollte das geschehen! Hatte er dazu so viel Kämpfe durchgemacht, um hier nur um so tiefer in das alte Unheil hineinzusinken? Und auf Grund einer Maske obenein, die er nur fallen zu lassen brauchte, um sofort auch nicht einen Schimmer von Anspruch mehr erheben zu dürfen auf das was das Schicksal ihm mit so schmeichlerischem Lächeln vor die Füße legte? Was war denn dieses Leben werth, mit dem er so viel Wochen verbracht? Die Persönlichkeiten, von deren täglichem Verkehr er sich einnehmen ließ, standen vor ihm da wie krystallene Uhren. Da der Musiker, ein Mensch, der in einer Versammlung, wo von ächten Interessen der Menschheit verhandelt worden wäre, von einfachen wichtigen Dingen die bei Tageslicht betrachtet werden müssen, nicht den Ansatz eines brauchbaren Gedankens auch nur gefunden haben würde; da der Maler, ebenso inhaltslos; da Mademoiselle: unter tausend kleinen Empfindungen, von denen sie ununterbrochen bewegt schien, nicht eine einzige, die, wenn man sie einem tüchtigen Regenwetter aussetzte, sich als waschächt bewähren würde. Da endlich der Professor, besser als die übrigen, voll Geist sogar: alle Vier aber geknickte, künstlich aufrecht erhaltene Existenzen ohne eigene Kraft. Arthur that ihnen sämmtlich zwar Unrecht, indem er sie unter dem Einflusse veränderter Stimmung nun so niedrig taxirte. Denn wieviel würden übrig bleiben, wenn wir alle die ausstreichen wollten, welche ohne hülfreich eingreifenden guten Willen Anderer nicht zu leben im Stande sind? und außerdem, sie hatten bei der Erziehung Josephinens das Ihrige gethan und nicht ohne Erfolg. Arthur aber war jetzt nur fähig, sie in dem Lichte zu betrachten, in dem sie, plötzlich nach Amerika versetzt, erscheinen würden. Und nun gar die Gräfin. Sie war reich, wohlwollend, wohlthätig, herablassend. Was aber gab ihr das Recht, einen Mann wie Erwin fast wie einen Verbrecher zu erwähnen? Was hatte sie denn gethan? Ihr Verdienst nicht, daß der Professor mit bedeutendem diplomatischen Talente die Gelegenheiten, wo sie Geld unnütz auszugeben geneigt war, auf ein Minimum reducirte. Ihr Verdienst nicht, daß Josephine so standhaft die

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Partien mit mehreren albernen Menschen abgewiesen, die sie ihr angetragen. Ihr Verdienst nicht, daß während ihr von Verbesserungen und Reformen ihrer Güter, die auch nur den Anschein einer Concession an den Zeitgeist trugen, gar nicht gesprochen werden durfte, Josephine und der Professor heimlich diese Dinge stets auszugleichen wußten. So eng war ihr Gesichtskreis, daß sie, obgleich sie täglich im Lazareth erschien, den eben vollendeten Krieg für ein nationales Unglück hielt, von dem im Schlosse nicht gesprochen werden durfte. Das zuletzt fiel Arthur jetzt auf daß Herz. Die ganze Gesellschaft sah er vor sich, alle bei Kerzenlicht in einem prachtvollen Saale, von gepuderten Geistergestalten bedient, während draußen die Sonne gegen die hermetisch geschlossenen Läden machtlos anprallt. Und dieser Frau hatte er furchtsam beinahe gegenüber gestanden, während sie seinen besten Freund verhöhnte! Auch hier urtheilte Arthur ungerecht. Denn die Gräfin, aufgewachsen und alt geworden in Verhältnissen, die zu durchbrechen niemals Veranlassung vorlag, hatte ihr Lebelang nach bestem Willen gethan was in ihren Kräften stand und was die Erfahrung sie gelehrt. Ihre Laune zuweilen, ihr Stolz, ihre Besorgtheit den Zustand den sie als den allein möglichen kannte, aufrecht zu erhalten, so natürlich bei ihr als bei andern Menschen andere Eigenheiten. Und deshalb, wenn Arthur jetzt leidenschaftlich gegen sie eingenommen war, sein eigenes Wesen zumeist die Ursache dieser zu plötzlicher Wendung gediehenen Anschauung. Seine Gedanken aber schlugen freiwillig nun andere Wege ein. Alle hatten sie ihm deutlich vor Augen gestanden, die hier im Schlosse hausten, nur die nicht, auf die es doch in erster Linie ankam: Josephine. Und wunderbar, indem auch sie jetzt vor seinen geistigen Blicken auftauchte: mit ihr zugleich sah er Emmy. So erregt war er, daß er das schöne Paar fast als Vision vor sich sah, vor ihn hintretend wie zwei Schwestern, daß es unmöglich war die eine zu sehen ohne die andere zu gleicher Zeit. Wunderbar auch, daß während die übrigen Bewohner des Schlosses sich immer nur in jener halb schattenhaften Kerzenbeleuchtung darboten, Josephine und Emmy wie vom sanftesten Tageslicht umhüllt vor ihn traten. Gleich lebensvoll beide. Wie zwei Rosen erschienen sie nebeneinander, Josephine um einen Anflug dunkler glühender, zartblättriger; Emmy um ebensoviel heller, aber kräftiger, als würde sie unter jedem Wetter ausdauern, während Josephine wärmere Sonne und eine geschützte Stelle im Garten verlangte. Arthur hatte Emmy nie vergessen. Sie bildete zu sehr einen Theil seines eigenen Wesens. Aber sie war allmählich zurückgetreten gleichsam. Wenn wir in der Schweiz vom Fuße der ungeheuren Alpen, die wir dicht über uns erblicken, fortfahren, weiter und weiter, und nach Stunden zum ersten Male das Auge wenden, dann stehen sie groß und mächtig noch immer da, aber von einem leichten Schleier überflogen, und niedrigere Berge, die uns dann zunächst sind, verdecken so viel, daß nur die Spitzen herausragen. Emmy mußte seinem Auge mehr und mehr entschwinden, und selbst die Sehnsucht, wie bei einem Sturm der sich zu besänftigen beginnt, kam nicht mehr in constantem Strome, sondern in plötzlichen Stößen über ihn, zwischen denen stille Tage lagen. Jetzt aber erblickte er Emmy wieder! Wo war sie gewesen? Wie man im Traum geliebte Todte eintreten sieht als kämen sie von einer Reise zurück: so trat sie zu ihm jetzt, dicht, als empfinde er ihre Gegenwart. So hatte er sie zuletzt gefühlt als er verwundet bei Sadowa lag. Verloren war sie ja vielleicht auf immer, und nicht einmal Treulosigkeit wäre es gewesen sich Josephine zuzuwenden, denn was ahnte Arthur von Emmy's Gedanken? dennoch, all die eingeschläferte Leidenschaft jetzt erwachend wieder und mit ihr die alten Pläne, Emmy wieder aufzusuchen. Ganz befangen von diesen Gefühlen, waren ihm die Gedanken, von denen er eben noch so heftig durchstürmt ward, beinahe abhanden gekommen. Er saß am Fenster, sah in die weite lichte Gegend hinein, die sich hier in großem Bogen ausspannte, und merkte nicht, wie die Zeit verging. Da öffnete sich die Thür und die Gräfin trat ein. Sie schien ihn so wenig hier erwartet zu haben, daß sie erstaunt den Schritt hemmte als sie seiner in der Fensternische ansichtig ward.

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Schon wieder hier, Graf? fragte sie. Ich meine, ich sei im Begriff zu gehen, gnädigste Gräfin, erwiederte Arthur verwirrt. Dann muß Ihnen die Zeit äußerst rasch vergangen sein, sagte sie lächelnd. Gnädigste Frau, begann Arthur jetzt, trotz Ihres Verbotes muß ich doch schon mit Ihnen reden. Nun, so thun Sie es, antwortete die Gräfin. Gnädigste Frau, sagte Arthur und nahm sich zusammen ihr gerade in die Augen zu sehen, Erwin, der Arzt, von dem Sie vorhin sprachen, ist mein bester Freund. Er schwieg. Die Gräfin sagte nichts; sah ihn an wie er sie und bedeutete ihn durch diese Regungslosigkeit fortzufahren. Die Frau war über diesen Beginn von Arthurs Rede und über die seltsame Art, in der er sie vorbrachte, so ganz und gar in höchstem Erstaunen, wie ein Banquier etwa, der mit Bedacht einen Tisch voll Goldstücke gezählt hat, von denen er jedes einzelne unter dem Daumen gefühlt zu haben glaubt, und der, als er nun einen letzten Blick über das Ganze wirft, lauter blanke Kupferdreier vor sich sieht. Er wird davorstehen und denken seine Augen seien daran Schuld. Und so die Gräfin. Sie meinte es könne an ihrem Gehör liegen. Soviel was meinen Freund betrifft, fuhr Arthur fort, dem ich größeren Dank schuldig bin als ich ihm wahrscheinlich je werde abtragen können. Was mich selbst anlangt jedoch — jetzt aber stockte er. Er hatte die Absicht gehabt, der Gräfin mitzutheilen, sie irre sich wenn sie ihn für den Grafen seines Namens mit sechszehn Ahnen halte. Plötzlich aber fiel ihm ein: wie konnte er von seiner Mutter reden? Eine glühende Röthe überflog ihn. Er war völlig rathlos für einen Augenblick. Dann, sich fassend, fuhr er fort: und was mich selbst anlangt, so waltet eine Unmöglichkeit in meinem Schicksal, die mir verbietet an diese Heirath denken zu dürfen. Er hätte auch Emmy nennen können, aber es schien ihm, als habe er kein Recht dazu. Seit wann waltet diese Unmöglichkeit? fragte die Gräfin. Seitdem ich, sagte Arthur nun dennoch, ein Mädchen, von dem ich glaubte, es sei unter meinem Stande, mit einer tödtlichen Beleidigung von mir getrennt habe, das sich dadurch gerächt hat, daß es mich selbst jetzt zurückweist. In Ihrem Verkehre mit meiner Enkelin lag nichts das dergleichen hätte voraussetzen lassen, bemerkte die Gräfin, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte, mit jener kühlen Nachlässigkeit des Accents, den Arthur seit er das Lazareth verlassen, nie wieder von ihr gehört. Arthur aber durfte sich dadurch nicht beleidigen lassen, denn die Bemerkung der Gräfin war richtig. Er hatte Josephine gegenüber allerdings eine Zutraulichkeit gezeigt, die bei einem jungen Manne, der zu den wenigen gehörte, welcher allen Anforderungen, die an einen zukünftigen Gemahl der Comtesse gestellt, so ganz entsprach, nicht ohne Bedeutung sein konnte. Arthur schwieg. Der Gräfin schien dieses Schweigen genügend. Es thut mir leid, sagte sie, unnützer Weise diese Erörterungen herbeigeführt zu haben, die sich leicht hätten vermeiden lassen. Ich danke Ihnen! Sie machte eine leichte Bewegung um anzudeuten, daß Arthur sie verlassen dürfe. Arthur aber däuchte, als sei er zu leichten Kaufs los gekommen. Die volle Wahrheit sollte an den Tag. Vor sich selbst wollte er den Muth beweisen, nachdem er durch soviel Feigheit in diese Stellung hineingerathen war, um auch die letzten Konsequenzen seiner Handlungsweise abzubüßen. Erwin würde diese Stimmung einen ebenso unnützen als unpraktischen Idealismus genannt haben. Arthur aber meinte in diesem Momente, er werde einen Makel tragen müssen für ewige Zeiten, wenn er auch diesmal so davonzuschleichen versuchte. Gräfin, sagte er ohne sich von der Stelle zu rühren, Sie haben mir durch das was Sie mich vorhin hören ließen, ein Vertrauen bewiesen, das, mag es auch zum großen Theile meinem Range gegolten haben, zum Theil wenigstens auch meiner Persönlichkeit galt. Erlauben Sie mir, dies Vertrauen in demselben Sinne zu erwiedern. Es handelt sich um etwas das Niemand jemals erfahren sollte. Aber ich weiß, daß, indem ich es Ihnen sage, Niemand je davon erfahren wird.

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Sie wissen, Graf, mit wem Sie reden, sagte sie. Ich kann mich nur bis zu einem gewissen Grade klar ausdrücken, fuhr Arthur fort. Das Geheimniß, das ich Ihnen anvertraue, betrifft meine Geburt. Ich bin der nicht der ich zu sein scheine. Und darauf kam es doch wohl am meisten an bei dieser Heirath? Der nicht, der Sie zu sein scheinen? wiederholte die Gräfin ihn mit unbeschreiblichem Erstaunen ansehend. Arthur verneigte sich leise und schwieg. Aber ich habe Ihren Vater gekannt — Ihre Mutter gekannt — ich weiß, welche Freude herrschte als Sie zur Welt kamen —? Arthur zuckte leicht die Achseln und sagte nichts. Ich wünschte Ihrer Meinung sein zu können, äußerte er dann, als auch die Gräfin verstummte. Leider darf ich es nicht. Darf aber auch nicht mehr aussprechen. Die Gräfin betrachtete ihn mit sonderbaren Blicken jetzt. Sie schien sich zu verändern. Zurückzuweichen ohne ihren Platz zu verlassen, zu wachsen gleichsam. Sie stand ganz anders da plötzlich. Als sei unsichtbar der Geist Vandyks zu ihr getreten und habe ihr eine andere Tournüre verliehen, habe ihr zugeflüstert: wenden Sie die Schultern ein wenig mehr dahin, den Kopf etwas zurück, die Augen um eine Linie mehr geschlossen, die Hand lassen Sie so in die Falten Ihres Kleides greifen, so — so — vollkommen! Und nachdem die Umwandlung gebracht, nun auch der Ton der Sprache völlig anders. Und Sie haben mit dem Bewußtsein, der nicht zu sein für den wir Sie hielten, hier diese Rolle zu spielen gewagt? fragte sie. Arthur bebte. Hatte ich eine Rolle spielen wollen, versetzte er, so würde sich jetzt doch erst die Gelegenheit dazu geboten haben! Was verhinderte mich daran? Habe ich Ihnen das Recht verliehen, mich zu beleidigen, statt mir zu danken? Begreifen sollten Sie, Gräfin, daß die Absichten die Sie mir dabei unterzulegen scheinen, in dem Falle nur einen Zweck hätten haben können, wenn ich gerade in diesem Momente Ihr Vertrauen zu mißbrauchen beabsichtigt hätte! Die Gräfin wurde blaß und legte die Hand auf die Stirn. Es wandelte sie eine betäubende Schwäche an bei dem Gedanken, Arthur hätte so handeln können wie er beschrieb, und sie die Verantwortung dann zutragen gehabt. Ich kann Ihnen in der That nur danken, sagte sie. H a b e n S i e n o c h m e h r z u bemerken? Arthur verneigte sich und ging; durchschritt die weiten Vorplätze, stieg die säulengetragene Treppe hinab, trat in den Garten und ging, mechanisch wie ein an den Weg gewöhntes Thier, den Laubgang zu dem Schweizerhause hinauf. Er fühlte, daß er das Schloß heute noch verlassen würde. Auf dem schattigen Lindenplatze sah er den Musiker und den Maler sitzen, wandte sich seitwärts und betrat den Wald, durch dessen hohe schattige Bäume hier ein wahres Netz hübsch angelegter Fußpfade sich schlängelte, von Zeit zu Zeit ausgehauene Plätze mit Bänken, von denen aus man den Park, das Schloß und die Ebene übersah. Die Linie der Eisenbahn durchschnitt die buntgewürfelten Felder, und ein Zug, klimperklein und langsam, kam aus der Ferne herangedampft. Er blickte dahin und suchte sich zu beruhigen. Eine ironische Kälte, die er nie zuvor empfunden erfüllte ihn zugleich mit etwas das fast ein Gefühl von Rache war. Die Gräfin war ihm gegenüber in den alten glatten Ton zurückgefallen, mit dem sie Jedermann antwortete, der nicht ihres Standes war. Arthur war es ja nicht und wollte es nicht sein, und dennoch fühlte er sich bis zum Zittern empört. Denn, hatte er auch seinen Rang aufgegeben innerlich, zu sehr daran gewöhnt war er dennoch, sich gleich und gleich zu fühlen, und jetzt war ihm gezeigt worden, man könne nicht nach Belieben von einem Throne herabsteigen und dennoch die Ansprüche forterheben, als Majestät behandelt zu werden. Während er in sich versenkt an den Stamm einer Buche gelehnt so dastand, sah er Josephine herankommen. Sie glaubte einsam zu sein und bemerkte ihn erst, als sie nur wenige Schritte von ihm entfernt war. Arthur sah wie aus ihren Augen Thränen

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herabrollten. Sie verbarg es nicht, setzte sich nieder, deutete ihm an sich neben sie zu setzen und sagte dann: Was mögen Sie von mir denken? Ich weiß wirklich nicht, Comtesse, gab er zur Antwort, wie ich wissen könnte, was ich von Ihnen denken soll. Nein, es wäre auch unmöglich, sagte sie. Aber ich will es Ihnen sagen. Ich sehne mich danach, es Ihnen zu sagen. Auch wenn Sie es nur zum Theil begreifen werden. Ich habe etwas erlebt, das mich so tief gerührt hat, setzte sie dann hinzu, nachdem sie einige Minuten geschwiegen. Ich darf also fragen was es war? sagte Arthur. Erinnern Sie sich an jenen Brief, den Sie mir dictirten? begann sie. Fiel Ihnen nicht auf was da geschah? Wie ich die Adresse verwechselte? Da Sie mich daran erinnern, weiß ich es nun ganz deutlich wieder, sagte er. Erwin ist Ihr Freund, fuhr Josephine fort. Sie wissen wohl nicht, daß er mein Vetter ist, oder war, wie die Großmama sagt? Nichts, rief sie dann mit ungemeiner Lebhaftigkeit, hat mich im Leben so erschreckt als die Behandlung Erwins von Seiten meiner Familie. Wissen Sie, man lebt so hin als Kind, man träumt, bis dann irgend etwas, eine ungeheure Ungerechtigkeit, uns zum ersten Male zeigt daß das Leben kein Traum sei. Ich war ja fast noch ein Kind, als ich ihn zum letzten Male sah. Sie lächelte. Er war immer so gut und freundlich gegen mich. Er mag sich meiner kaum mehr erinnern. Er hat Ihnen wohl nie von mir gesprochen? Nein, sagte Arthur. — Ich dachte es mir wohl. Aber daß er so kühn und kraftvoll aus diesem Gefängniß von Stolz und Reichthum ausbrach und seine eigenen Wege ging, das hat ihn in meinen Augen - sie sah Arthur mit glänzenden Blicken an, sprach aber nicht weiter. Hat ihm einen Heiligenschein gegeben, setzte sie dann doch hinzu. Arthur hatte das junge Mädchen niemals so gesehen. Wir sahen und hörten also nichts mehr von ihm, erzählte sie weiter. Heimlich aber suchte ich mir Nachricht von ihm zu verschaffen. Je mehr ich von ihm hörte, um so stolzer ward ich auf ihn. Es sind da ein paar Vettern seines Namens, von denen die Großmama wollte daß ich einen oder den andern heirathete, welchen, war ihr gleichgültig — sie lächelte — bis ich zeigte, daß diese Bemühungen bei mir vergeblich seien. Welch eine Jämmerlichkeit, wenn ich die von Erwin reden hörte. Die affectirte Kälte mit der er wie ein Fremder angesehen werden sollte! Und doch fingen sie immer wieder von ihm an, weil sie Respect vor ihm hatten; ich bin überzeugt, sie waren in der Stille sogar stolz auf ihn! Und nun sah ich eben im Lazareth einen neuen Ankömmling und hörte wie der Doctor ihn examinirte. Der nun erzählte, wie grauenvoll es in Böhmen aussehe und wie Erwin ihn gerettet, und was Erwin gethan, und mit wie übermenschlicher Kraft und Güte — Josephine vermochte nicht weiter zu sprechen, die Thränen überwältigten sie so sehr, daß sie in Schluchzen ausbrach. Hätte Arthur nicht eben die Scene im Schlosse erlebt, so würde er auf Josephinens Gefühle eingegangen sein. So aber sah er sie fast mit Gleichgültigkeit an und erwartete schweigend was sie weiter sagen würde. Er dachte, sie hätte Erwin wohl geliebt, und es sei ein schwärmerisches Interesse für ihn zurückgeblieben, etwa genügend um zu Zeiten sich einer kurzen Rührung hinzugeben und nach ein paar Thränen beruhigt wieder dennoch die eigenen Wege weiter zu gehen. Es wird Erwin freuen, wenn ich ihm erzählen darf, Comtesse, daß man sich hier so freundlich seiner erinnert, sagte er endlich. Comtesse, Comtesse, Comtesse! rief Josephine aus, halb vor sich hin redend. Ist es Ihnen denn erträglich immer dies „Graf" zu hören wandte sie sich dann zu Arthur. Keine Worte ohne diese Zuthat! Als würde einem auf jedes Stück Brot Pfeffer gestreut, sei es unmöglich, die einfachste Gabe Gottes unschuldig rein über die Lippen bringen zu dürfen, und nur Bettler und Bauern dürften das. Wie ich es satt bin: dieses Gefängniß und die Vampyraugen der Dienstboten, die auf uns liegen wie die Fliegen auf dem Vieh, das doch wenigstens danach schlagen darf. O, nur einmal ein paar

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Stunden über Land zu gehen, und wer mir begegnete, sagte einfach Guten Tag, wie ich ihm, und sähe mich nicht weiter darauf an, wer ich wäre und wohin ich wollte. Sie würden bei diesem Leben Dinge vermissen vielleicht, von denen Sie jetzt gar nicht ahnen daß man sie vermissen könnte, sagte Arthur kühl, und es lag etwas abbrechendes in seiner Rede. Josephine schwieg. Sie mußte aus dem Tone in dem er sprach, entnehmen, daß ihm ihr Vertrauen bedenklich erscheine, und war zu stolz um es ihm aufzudringen. Sie erhob sich und ging neben ihm unter den Bäumen weiter. Was soll ich Erwin sagen? fragte Arthur nach einer Weile. Nichts von dem was ich Ihnen mitgetheilt habe, antwortete sie. Ich reise heute noch, sagte er dann. Ich habe mir gedacht, daß Sie bald gehen würden, versetzte sie. Wenn wir uns wiedersehen, ist es leicht möglich, daß wir beide dann von langen, langen Zeiten reden, vor denen wir uns einmal begegnet sind, wie die Großmama Ihrem Vater. Sie lächelte schmerzlich. Arthur empfand deutlich, wie das junge Mädchen ihm gern mehr vertraut hätte. Aber er fühlte sich stumpf. Er sah sie in Gedanken mit der Zeit in eine Ehe eintreten, die am Ende nicht viel besser war als eine Heirath mit einem jener beiden Vettern. Sah sie langsam erstarren in demselben Zwange, den sie abzuwerfen jetzt noch eine unbestimmte Sehnsucht fühlte, und sah es mit Kälte vor sich, mit der er in Böhmen Todte und Sterbende am Wege liegen gesehen. Es zerschnitt ihm das Herz, aber er wußte es sei unmöglich, zu helfen, und nutzlos, zu trauern. So trennten sie sich. Arthur eilte zum Schlosse um seinen Koffer zu packen, und befahl ihn zur Station zu tragen. Schrieb an die drei Herren und Mademoiselle vier kurze Briefe, in denen er Abschied nahm, ließ sich noch einmal bei der Gräfin melden, bei der er sich ganz in den Formen, in denen ein wohlbehandelter Gast bei der Abreise zu danken pflegt, verabschiedete. Die Frau empfing und entließ ihn mit einer Glätte, die er doch nicht erwartet hatte. Sie schien zum Entschluß gekommen zu sein, ihn den Unterschied zwischen vorher und jetzt gründlich fühlen zu lassen. Die Art wie sie ihn ironisch "Herr Graf" titulirte, doppelt so oft als nothwendig war, der Hohn beinahe, mit dem sie bei den letzten Worten, die er an sie richtete, sich kurz abwandte als sei er bereits fort und vergessen, erbitterte ihn, obgleich er sich sagen mußte, daß er um Erwins willen mehr verdient habe als das. Entlassen fühlte er sich, wie man einen Bedienten entläßt. Die Gräfin, nachdem sie sich bedacht, verachtete ihn wirklich. Sie fühlte, daß sie die erste vielleicht sei, die dies Geständniß aus Arthur herausgelockt, und statt den Muth zu bewundern, mit dem er der Versuchung widerstanden, sah sie die Offenheit, mit der er sich enthüllt hatte, wenn auch für ein Zeichen edler Denkungsart, ebensosehr beinahe aber für Schwäche an. Sie dankte dem Himmel für diese Wendung; Arthur, der sich, den Fall ganz objectiv genommen, mit so geringem Muthe benommen, war kein Gegenstand ihrer Theilnahme mehr. Er ging zum letzten Male ins Lazareth hinüber. Von den Insassen, mit denen er selbst dort zusammen gelegen, keiner mehr übrig als der Italiener, der beinahe wieder hergestellt an der Thür saß und von dem er sich herzlich verabschiedete. Der Mann wechselte jetzt zwischen eccellenza und signor conte als er ihn anredete. Auch mit dem Landwehrmann sprach er, den Erwin behandelt hatte, und erfuhr von ihm, daß es diesem wohl ginge. Dem Arzt drückte er eine Anzahl Friedrichsd'or in die Hand, dem Gärtner gab er ein Geschenk und band ihm die Sorge für das Grab des Privatdocenten auf die Seele, für das er einen Stein senden werde. Jetzt wuchs schon dichtes junges Gras über dem Hügel. Dann auf seinem Zimmer beschenkte er die Dienerschaft, verließ das Schloß und wandte sich ohne zurückzublicken der Station zu, wo er nicht lange auf einen Zug zu warten brauchte.

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Achtundreißigstes Capitel. Hätte Arthurs Natur in alter Weise ihre Rechte geltend gemacht, so würde der unerwartete Abbruch des Lebens dem er sich so sehr hingegeben, nun auch einen Wechsel der Gefühle zur Folge gehabt haben, mit denen er vom Schlosse Abschied genommen. Aber das Gegentheil trat ein. Auf seiner einsamen Fahrt hatte er einen Gedankensturm zu überstehen, der ihn um so mehr erschütterte, als sie ihm ganz neu war. Sich selbst zu zürnen, sich zu verachten, sich Vorwürfe zu machen: dazu boten die letzten Jahre reichliche Gelegenheit leider; niemals aber hatte er mit der Ironie sich betrachtet, die ihn jetzt erfüllte. Früher konnte doch wenigstens von leidenschaftlicher Bethörung, diesmal von lächerlicher Schwäche nur die Rede sein. Von dem Momente, daß er sich der alten Gräfin zu erkennen gegeben, bis zu dem der Enthüllung, von seiner ersten Eitelkeit bis zu dem Tage, wo er kaltblütig die Idee gefaßt Josephine zu heirathen, während Emmy und all die Früchte seiner Erlebnisse in Amerika, wie ein leichter Staub von den Kleidern abgebürstet, davongeflogen war, stand er sich vor Augen in ganz erbärmlicher Gestalt. Und die Art wie das Schicksal diese Kette von Jämmerlichkeiten abgerissen dann, endlich, däuchte ihm so milde, daß er mit einer unbestimmten Angst die größere, angemessenere Rache zu erwarten begann, die für all das nicht ausbleiben konnte. Dabei, je mehr er sich räumlich von dem Schlosse entfernte, um so kleinlicher, nichtiger erschien ihm das Getriebe darin; diese unnützen Aufregungen, von Tag zu Tage sich erneuend; diese Discurse beim Diner täglich, wo man sich über Kunst und Literatur stritt und dabei nicht einmal eine Meinung hatte; wo man nur vor der alten Gräfin die Lüge aufrecht erhielt, man sei mit einer gewissen Wärme an den Dingen betheiligt, über die das Gespräch sich kreuzte. Zum zweiten Male stieg ihm Wilson jetzt empor im Vergleich mit dem Professor. Einige von des alten Amerikaners Sätzen kehrten ihm ins Gedächtniß zurück; das waren andere Gedanken, als die zahme Vertheidigung ländlichen Lebens in behaglicher Zurückgezogenheit, mit dem der Professor ihn zu ködern gesucht. Arthur ging auch hier zu weit, denn was der Professor gesagt hatte war trotzdem ganz vernünftig. All das aber wäre vielleicht noch zu überwinden gewesen. Arthur hatte sich schließlich aus diesen Banden doch herausgerissen, und in der Art wie das geschehen war, lag etwas absolvirendes. Warum aber der Gräfin sprechen über seine Abkunft? Es erschütterte ihn, als er sich jetzt bewußt ward, was er eigentlich gethan. Ein kalter Schweiß überlief ihn in den ersten Momenten der Erwägung. Dieser Frau hatte er sein Geheimniß in die Hand gegeben, ohne die geringste Garantie daß sie es bewahren werde; im Gegentheil, mit der Gewißheit beinahe, daß sie es ihren Vertrauten preisgeben würde, durch die es dann, nach dem im Schlosse so präcis wirkenden Schwatzverkehr, in kurzer Zeit sich allen denen mittheilte die Ohren hatten, um sich in immer größeren Ringen auszubreiten. Wenn Arthur auf den Stationen aussteigend am Zuge stand oder einige Schritte aus und abging, der schöne, junge Mann, der, wie seine Uniform zeigte, von der Armee kam, und der mit so unverkennbarer Vornehmheit die Blicke der Menge erwiederte: ob wohl einem Menschen da eine Ahnung der Gedanken aufstieg, mit denen er auf die Leute starrte? Er sah sie darauf an, ob nicht plötzlich der oder jener ihm entgegenspränge und frech ins Gesicht riefe: Sie sind ja gar nicht der Graf, für den Sie sich ausgeben! und mit einer höhnischen Geberde stehen bliebe, um abzuwarten, was er sagen würde. Und dann wieder die Erinnerung an die Verachtung, mit der ihn die Gräfin beim Abschiednehmen behandelt. Und schließlich, so wenig dies Gefühl ihm jetzt hätte kommen dürfen, mehr als einmal geriethen seine Gedanken auf den Weg: wie er der Frau gegenübertreten würde, wenn er, durch ein Wunder etwa, das Recht wieder dazu empfinge. Wie er ihr sagen wollte: wie er dieses aufgetragene Schauspiel äußerlicher Vornehmheit durchschaue! Aber dann mußten ja solche Gebilde der Phantasie notwendigerweise wieder von dem Bewußtsein unterbrochen werden, wie elend er selber doch in diese Vornehmheit sich hineingefunden hatte. So peinigend konnte das

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werden, daß er mit dem ersten Besten neben sich ein Gespräch anfing, nur um sich selbst zu entrinnen. Auch in solchen Gesprächen, die sich natürlich nur um die letzten Ereignisse drehten, kein rechter Zug mehr, däuchte ihm. Der Abschluß des Friedens hatte seltsam gewirkt. Ungeheures war erreicht worden, Ungeheures blieb zu thun übrig: Niemand aber war sich weder des einen noch des andern bewußt. Man fühlte sich erschöpft von Begeisterung und übersättigt von Siegen. Der Krieg, eben erst vollendet, lag als etwas Abgethanes bereits in der Vergangenheit, und die Frage erhob sich für jede Partei: was wird die nächste Arbeit sein? Das durch das gemeinsame heilige Interesse bewirkte Ineinanderfließen aller politischen Farben dauerte fort, wirkte aber bereits unbehaglich. Man suchte herum nach Punkten, an denen sich gewahren ließe, wo man denn stände. War der alte schwebende Conflict zwischen Regierung und Nation gelöst oder nicht? Abzuwarten das vor allen Dingen. Für den Moment ein farbloses Warten eben. Und damit verbunden bei Arthur das Aufhören der begeisternden Empfindung, mit der er sich in Böhmen vorwärtsmarschiren gefühlt hatte. Nächstens war er der alte Privatmann wieder, außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges stehend, nicht wissend wohin. Das für ihn einstweilen das Facit dieser gewaltigen Anstrengungen. Ganz auf sich selbst zurückgewiesen sah er sich wieder, und als einzigen Trost: die Erinnerung an Emmy. Von dem Augenblicke an, wo er sie in der Stube der Gräfin, in jenen entscheidenden Momenten, so deutlich wieder auftauchen fühlte, hatte die ununterbrochene Gesellschaft ihn ihres Anblickes allein gerettet vielleicht. Er hätte wie ein Wahnsinniger auf dieser oder jener Station den Zug verlassen und querfeldein laufen können, planlos in die weite Welt: hätte Emmy unsichtbar ihm nicht leise auf die Schulter geklopft von Zeit zu Zeit, wie einem edlen Pferde, das sich von der streichelnd schlagenden Hand seines Herrn beruhigt fühlt. Größer und größer, wie Inseln die aus dem Meere auftauchen, wurden diese Momente in denen ihre geistige Gegenwart beruhigend in ihn eindrang, und als der Tag dann in die Nacht überging und Arthur halb in Träumen endlich so hinfuhr, beherrschte sie seine Seele ganz zuletzt. Er träumte von ihr und von Smith, so lebhaft, daß, als er Morgens nach einer Stunde wirklichen Schlafes erwachte, ihm gar nicht klar werden konnte wo er sei. Er meinte ihre Hand in der seinigen gehalten zu haben und dachte nach, eine Weile, ob dies Erwachen nicht nur ein scheinbares und ein Traum sei. Die Zeit der Ankunft konnte er nicht erwarten, um so rasch als möglich sich loszumachen und nach Amerika weiter zu gehen. Briefe waren auch vielleicht angekommen. Dies die Gedanken mit denen er vor Erwins Hause vorfuhr. In einem Ausruf der Freude kam ihm die alte Köchin entgegen und begann hinter ihm her die Treppe hinaufzuschwatzen. Arthur ohne sie zu hören trat in sein Zimmer und warf sich aufs Bette um die Nacht mit ein paar Stunden Schlaf ein wenig nachzuholen; sprang noch einmal auf und schrieb einige Zeilen an den Banquier, ob Briefe da seien. Er wollte den Brief siegeln und fand seinen Ring nicht am Finger. Er konnte sich nicht gleich erinnern was daraus geworden sei, nahm schließlich ein anderes Petschaft, und hieß die Köchin ihn nicht anders wecken als wenn sie mit Briefen zurückkäme, dann legte er sich nieder. Er träumte wieder und zwar einen langen Traum. Dies was in der Erinnerung die davon zurückblieb. Er glaubte auf seines Vaters Gute im Walde zu gehen. Er suchte etwas, es war der Siegelring. Er meinte ihn auf der Jagd verloren zu haben. Er ging vor sich hin, die Augen auf den Boden gerichtet. Plötzlich sah er den Ring zu seinen Füßen glänzen. Es war als bröckelte sich die Erde voneinander wie ein Maulwurfshaufen, immer weiter, und in der Mitte glänzte der Ring, doch konnte er ihn nicht greifen, endlich beugte er sich hinab um deutlicher zu sehen, da erblickte er durch das Loch, wie durch ein Schlüsselloch, den Privatdocenten, todt wie er im Lazareth gelegen, und seinen Arm sich langsam erhebend ihm entgegen mit dem Ringe am Zeigefinger. Arthur wich zurück, der Arm kam ihm nach und reckte sich zuletzt aus dem Loche empor in die freie Luft und der Ring stak am Finger der Hand. Allmählich zog sie sich

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jetzt wieder zurück aber: da packte Arthur nach dem Ringe und plötzlich hatte die Hand die seine gefaßt wie eine eiserne Klammer, daß er einen Schrei ausstieß und erwachte. Die Nachmittagssonne schien schräg durch's Fenster, das Bild des Privatdocenten saß ihm wie in den Augen fest, niemals glaubte er so geträumt zu haben. Er trat auf den Balkon hinaus und sah in das Gärtchen hinab das zwischen den Häusern da vegetirte. Die Natur kam ihm so elend, abgebraucht und staubig vor im Vergleiche zu dem Grün des Parkes am Schlosse. Gar keine Luft, um Athem zu schöpfen, däuchte ihm die matte Wärme die ihn hier umgab ohne ein Gefühl woher der Wind wehte und wie eingepfercht in der Stadt. Er dachte ob er schreiben sollte daß man die Leiche wieder ausgrübe, damit er den Ring zurückempfinge? Aber es schauderte ihn daran zu denken, etwas wieder zu tragen, das so lange ein Todter an der Hand gehabt. Es erschien ihm thöricht. Wenn er jetzt nach Amerika ging, ließ er mehr als dieses Stück Gold zurück, das ihn überdies nichts anging. Es war ja gar nicht sein legitimes Eigenthum gewesen. Was gehörte ihm an dem Ringe? Es war als hätte er ihn durch Zufall empfangen und weitergegeben. Daß er im Grabe liege, konnte ihm selbst so wenig schaden, als dem Tischler, der den Sarg gearbeitet hatte. Dennoch blieb von dem Traume etwas hängen in ihm. Er fürchtete sich vor der Nacht, weil er diesen Mächten da wieder verfallen könnte. Er ging aus: es erheiterte ihn, hier und da einen militairischen Gruß erwidern zu dürfen: er sah sich doch nicht so ganz zusammenhangslos. Er meldete dienstlich seine Ankunft und empfing die Weisung, bis auf weiteres in der Stadt zu verbleiben, da der Aufenthalt seines Regimentes unbekannt, es jedoch nach Berlin unterwegs sei. Dann suchte er den Banquier auf. Keine Briefe; dagegen die Nachricht daß Erwin jeden Tag eintreffen könne, da er vor kurzem alle Sendungen an ihn zurückzubehalten befohlen hatte. Er ging dann noch ein wenig umher und las Zeitungen: nichts darin das ihm auffiel. Dieser Mangel aber das öde, unbehagliche Gefühl in ihm noch verschärfend, das schon so stark war. Der Abend brach an, er kehrte nach Hause zurück. Die alte Köchin machte einen ernsthaften Versuch jetzt, ihm vielerlei vorzutragen das sie auf dem Herzen hatte. Es sei Jemand dagewesen und habe nach dem Herrn Grafen gefragt — Arthur unterbrach sie, auch diesmal fast ohne hinzuhören. Liebe Alte, sagte er mit der gewissen sanften Bestimmtheit gegen die er keinen Widerspruch vertrug, heute nichts, verstehen Sie mich wohl? heute kein Wort mehr, sein Sie so freundlich. — Die Alte ging. Er konnte und wollte nichts hören. Seine Phantasie hatte endlich begonnen, ihm wieder von Emmy zu erzählen. Er suchte die Zeichnung hervor (nur weil sie ihn vorher zu traurig zu machen pflegte, hatte er sie fortgelegt) die er am ersten Abend von ihr gemacht, und die wenigen Linien begann blühendes Leben auszufüllen. Wie hatte er eine Stunde nur sie aus der Seele verlieren können? Er nahm das Coursbuch, und begann die Abfahrtszeiten der Dampfschiffe zu studiren. Er sah sich Vorfahren schon wieder vor Astorhouse und wiedererscheinen bei Smith. Er dachte daran, auf der Stelle davonzugehen und von New-Jork aus die Sache auszugleichen: er durfte sich ja beinahe als entlassen betrachten. Nein; schreiben wollte er vorher noch einmal, da anzunehmen sei, daß sein Brief verloren gegangen oder nicht in Emmy's Hände gelangt war. Er begann den Brief und schrieb bis ihm bei der einbrechenden Nacht die Buchstaben und das Papier verschwammen. — Arthur ahnte nicht, wie leicht er Emmy und ihre Mutter hätte erreichen können. Nach fruchtlosen Versuchen ihn in den Lazarethen aufzufinden, waren beide endlich zurückgekehrt, Smith nach Paris gegangen. Emmy's Mutter hätte ihn gern begleitet; für sie stand fest, Arthur werde niemals wieder zum Vorschein kommen, und ihre Gedankenarbeit hatte sich schon darauf gewandt: wie lange Zeit es dauern könne, bis Emmy sich von der Fruchtlosigkeit ihrer Hoffnungen überzeugt und den Schlag verwunden haben würde. Gern hätte sie sie nach Frankreich oder Italien fort überredet. Nichts aber vermochte Emmy wankend zu machen im Vertrauen auf Arthurs Rückkehr. Ihre angestrengte Beschäftigung war das Verfolgen der Nachrichten über die Armee, die in voller Rückkehr begriffen, von neuem in tausend Details von sich reden machte.

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Erwin war ihnen in Böhmen nicht begegnet, denn ganz spät erst, als er selbst schon im Begriffe stand zurückzukehren, empfing er Emmy's wie Arthurs Briefe, die er nun ohne Antwort ließ. Dies Verfehlen war nichts außergewöhnliches wo es sich um Millionen Sendungen handelte. Emmy's einzige glückliche Zeit waren die Stunden im Atelier des Bildhauers. Aus der Erinnerung und mit Hülfe des jungen Mannes hatte sie Arthurs Portrait modellirt, eine Arbeit die das Erstaunen ihres Lehrers erregte. Der Kopf war dann in Marmor punktirt worden, und Emmy selbst vollendete ihn nun mit dem Meißel. Ein wunderbarer Anblick: das schöne schlanke Mädchen ganz in Schwarz vor dem weißen Stein stehend, von dem die feinen Splitter auf sie zusprangen. Der Bildhauer arbeitete daneben und blickte oft mit Augen auf sie hin als sei sie eine Göttin. Die Basreliefs für das Piedestal der Statue hatte er einstweilen bei Seite gelegt und Emmy's Büste begonnen, in ihrem Auftrage, mit der Arthur überrascht werden sollte. Diese Arbeit fortschreiten zu sehen, war ihr trostreich. Es schien als müsse Arthur zurückkommen wenn sie vollendet sei. Mit dem Bildhauer besprach sie, wo er wohl sein könnte. Ob vielleicht in österreichischer Gefangenschaft, oder verwundet in einer vergessenen kleinen Stadt liegend, von der aus er nun ja jeden Tag sicherer wieder zu erwarten war. Emmy sprach davon mit voller Bestimmtheit, und der Bildhauer antwortete in diesem Sinne. Immer weiter aber rückte ihrer beider Arbeit vor, immer näher kamen die Truppen immer bedenklicher, daß keine Nachricht von Arthur eintraf. Dagegen schrieb Smith aus einem der kleinen Seebäder an der französischen Küste und beschwor seine Freundinnen, dort und nicht in dem heißen Berlin die Dinge abzuwarten. Man brauche ja nur dem Portier in Erwins Hause (Smith war in allem der praktische Mann) das nöthige Geld zurückzulassen und weiteres Geld zu versprechen, um sofort telegraphische Nachricht zu haben und in fast vierundzwanzig Stunden wieder zurück zu sein. Emmy hatte zuerst gar nicht an die Möglichkeit gedacht darauf einzugehen, aber sie sah daß ihre Mutter litt. So gewöhnte sie sich daran und gab endlich nach. Die Abreise war festgesetzt auf den Abend des Tages gerade, an dem Arthur anlangte. Dieses Abbrechen des bisherigen erwartungsvollen Lebens, obgleich mit der Idee desselben gar nicht im Zusammenhang stehend, machte Emmy nun doch einen Eindruck als hätte sie die traurigste Nachricht empfangen. Ihre Abwesenheit war ja kaum eine zu nennen: sie behielten ihre Wohnung und kamen auf alle Fälle wieder. Aber Emmy mußte rückwärts blicken: vergeblich alle Schritte bis dahin; unwillkürlich erschien ihr die Zukunft im gleichen Lichte, und sie fühlte sich matt und hoffnungslos. Sie hatten dieselben Zimmer des Hotels inne, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt bewohnten. Da standen die schwarzen Kasten wieder und versperrten den Weg wie an jenem furchtbaren Abend. Unten gingen die Menschen vorüber wie damals, und die Laternen malten die Vierecke der Fenster an die Decke. Was hätte sie darum gegeben, nur wissen zu dürfen wo sie Arthur sich denken sollte jetzt. Es lag wie ein dunkles Tuch über ihn ausgebreitet. Sie dämmerte so hin und es war ihr lieb daß der Abend vorrückte und durch die Abreise diese Trostlosigkeit äußerlich wenigstens unterbrochen würde. Der Diener trat ein und meldete den Bildhauer. Er der einzige diesmal, um Lebewohl zu sagen und sie auf die Bahn zu begleiten. Ihm auch war der Auftrag geworden, Nachricht zu geben, und er hatte heilig versichert, jeden Morgen, bevor er ins Atelier ginge, in Erwins Hause fragen zu wollen. Es beglückte ihn, sich so im Zusammenhang mit Emmy fortfühlen zu dürfen. Als er jetzt kam und sie ihm die Hand reichte, empfand sie recht lebhaft, welche Treue in ihm wohnte. Deshalb auch halte sie, wie mit Smith, über Arthur ganz in dem Gefühle zu ihm geredet das sie beherrschte, und ihm nichts verschwiegen von ihren Sorgen und Hoffnungen. Lassen Sie uns noch etwas hinuntergehen, sagte Emmy zum Bildhauer. Ihr Gedanke war, an Arthurs und Erwins Fenstern noch einmal vorüberzukommen, vielleicht anzufragen ob Nachricht da sei. Wenn sie da so an der Thüre stand und die Glocke gezogen hatte, und den Schritt der Alten näher kommen hörte, und die Frage that: sind

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Nachrichten da? so drang in dem kurzen Momente, der zwischen der Frage und der Antwort darauf lag, ein Strahl von besonders freudiger Hoffnung ihr ins Herz. Sie wollte das noch einmal genießen ehe sie fortginge. Um etwas zu thun, war Arthur darauf verfallen, den Rest der Papiere durchzusehen, bei deren Studium ihn der Krieg unterbrochen hatte. Er packte die Kiste von neuem aus, in die er bei der Abreise Gesehenes und Ungesehenes rasch wieder hineingeworfen, und unter dem was ihm zuerst jetzt in die Hände kam, fand sich noch ein Paquet Papiere die von seiner Mutter herrührten. Er legte sie auseinander wie Kostbarkeiten. Briefe und allerlei Andenken aus jener italienischen Reise, von welcher er durch die Gräfin in Schlesien überhaupt erst erfahren. Gar nicht gewußt hatte Arthur, daß seine Mutter nicht gar lange nach ihrer Verheirathung diesen Ausflug nach dem Süden gemacht. Zu ihrer Zerstreuung war die Reise angerathen und, obgleich das Kind erwartet wurde, ausgeführt worden. Jetzt erst, schien es, hatte die junge Frau mit ihren tagebuchartigen Aufzeichnungen begonnen; unter allerlei Skizzen und Kupferstichen aus Mailand, Florenz und Rom, wo man hatte kehrt gemacht, fand Arthur aus der letzteren Stadt einige beschriebene Blätter, deren Anblick ihn erschütterte. Mit Bleistift das erste das er las auf die Rückseite eines das Capitol darstellenden Kupferstiches geschrieben, Veduta del Campidoglio stand darunter, das Ganze in der bekannten italienischen Art auf den Effect gearbeitet, und dennoch leibhaftiger an Rom erinnernd als die heutigen Photographien, obgleich sie jeden Stein zeigen. Die Bleistiftzüge undeutlich und blaß; hingeworfen, man sah es, in einem der Momente, deren furchtbare Leerheit die arme Frau zuweilen überraschte, und in denen sie schrieb, wie sie, wäre sie ein kleines Kind gewesen, dann geweint und geschrieen haben würde. Arthur rückte sich die Lampe näher. „Ich habe ein brennendes Verlangen, las er, mit einem Menschen zu reden, in ein paar Augen zu sehen die meinen Blicken begegnen. Aber es kommt Niemand. Es kennt mich hier keine Seele. Es ist mir alles fremd. Ich ging den Tag über unter den Menschen umher und hörte die Sprache klingen: Alles sah ich zum ersten Male. Und doch sind die Räder der Welt hier so alt und abgenutzt wie irgendwo; nur daß ich es zum ersten Male gewahr werde.' „Ich möchte an Jemand schreiben. Aber an wen? Einen giebt es, an den ich schreiben möchte! O nein, auch an ihn nicht, wenn ich mich bedenke. Was hätte ich ihm zu sagen das er nicht wüßte? Neben dem Einen das er weiß, was wäre wichtig genug um ihm gesagt zu werden? Still, ich will nicht weiter denken in dieser Richtung. „Ich will mir ein Phantom bilden, eine Gestalt in der Luft an die ich mich wende, von der ich denke daß sie bei mir sei, unsichtbar. Ich will sie nicht nennen, aber ich schaudere, allein zu sein, und will thun als lebte sie. „Ich schreibe weiter als stände Todesstrafe darauf, die Feder hinzulegen. Es ist ein Trost, so ein Wort an das andere zu ketten und den Geist zu fesseln, der gar zu unbändig mit mir umgeht. — „Ich trat ans Fenster eben und sah in die Tiefe, die sich weit unter mir ausdehnt. Wie ist die späte Nacht so still und das Mondlicht so seltsam. Die Bäume liegen unter mir, erstarrt in grauem Glanze, die Reben blühen, die Lilien blühen, es steigt empor. Drüben auf den Ruinen des Palatin blühen die Orangen, und der Wind kommt herüber von dort und es betäubt mich manchmal der Athem mit dem er mich anbläst. Ganz still ist es, ganz still. Nur in der Ferne bellt ein Hund; undeutlich aber, beinahe als wollte es verschwinden. Wie der Mond so voll am Himmel steht, und das Gebirge am Horizonte sich verbreitet. Wie durchsichtige Nebelstreifen die erstarrten. „O Vergangenheit, o Zukunft, o gewaltige Sehnsucht, vorwärtsfliegend zugleich und rückwärts, und nach dem Endlosen begierig nach beiden Seiten. Was ist ein Jahr, was sind tausend? So war die Nacht als Tarpeja hier den Felsen herabstieg, leise um Mitternacht, die Verrätherin, und ihre Blicke schweiften nach der Linie des Gebirges wie die meinen. So wölbte sich der Himmel über der Stadt als Brutus schlaflos durch die Straßen ging; er sah nach den Bergen dadrüben und sie sahen ihn an wie mich

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heute. Oder Michel Angelo wenn er einsam ging und Gedanken hegte von denen keiner weiß. Die sind todt und ihre Trauer und ihr Schicksal vorüber. Wer wird stehen hier in unendlicher Zeit und Gedanken hegen von denen keiner wissen wird? „Still! der Wind, fährt durch die harten Blätter der Lorbeern und der Mond rückt weiter, durch schwarze, weitgerissene Wolken, die ihm entgegenziehn. Und in die Tiber, fern drüben am Aventin, werfen einzelne Lichter lange feurige Stäbe/ — Nicht mehr stand auf diesem Blatte. Arthur legte es nieder mit thränenden Augen. Hatte sie geahnt was er leiden würde einmal, oder war, da sein Herz im ersten Schlafe damals noch dem seiner Mutter so nahe lag, eine Ahnung ihrer Gedanken in ihn übergegangen, die jetzt wie Erinnerung in ihm erwachten? Noch einmal überlas er das Blatt. Jedes Wort wie vollgesogen von dem Gefühl des Momentes. Als würde die Seele seiner Mutter ganz in ihm lebendig jetzt, fühlte er sich völlig hoffnungslos. Er glaubte an kein Glück mehr. Unmöglich, Emmy jemals wieder zu begegnen. Und doch, da er die Gedanken nun auf sie hinlenkte, sie ihn errettend auch diesmal. Sie stand vor ihm, er glaubte sie zu sehen. Er begann zu zittern, er wußte nicht warum. Er starrte vor sich in die Dunkelheit als müsse sie erscheinen. Da ein leises Geräusch von der anderen Seite. Er wandte den Kopf um. Da stand sie! Tief in der Ferne des Zimmers, halb verschwimmend mit der Dämmerung wie er selbst als er am Abend bei Erwin wieder eintrat bei seiner Rückkehr aus Amerika, oder wie Emmy an jenem Abend als er sie verleugnete. Er erblickte sie, aber er glaubte zu irren. Von Entzücken überströmt, zugleich aber von unaussprechlicher Angst, die geringste Bewegung möchte den Anblick verscheuchen, blieb er athemlos auf seinem Platze und rührte sich nicht. Und auch sie, getroffen von seinen Augen und mit Gewalt das seelendurchbohrende Gefühl bezwingend seiner Nähe, stand wie eine Statue. Als er sich dann so gar nicht regte aber, begannen Emmy die Gedanken zurückzukehren, die sie einmal schon hatte bekämpfen müssen, ehe sie bei Arthur eingetreten war. Vor dem Hause hatte sie gestanden und sich der Abende erinnert, wo sie aus dieser Thür herausgetreten war. Der Bildhauer hatte geklingelt und, in der festen Erwartung, nichts anderes zu empfangen als eine verneinende Antwort, die gewohnte Frage hinabgerufen. Arthur war angekommen! war oben! hörten sie nun. Emmy zitterte, die Gedanken vergingen ihr. Der Bildhauer aber stieg die Treppe hinauf als verstände sich das von selber. Noch einmal die Frage dann, ob der Graf zu Hause sei, und nun, an Arthurs Thür erst in Emmy soviel Klarheit wieder, um sich zu erinnern, daß sie ja nicht wissen könne, ob er, ohne Antwort auf seinen Brief und nach soviel Ereignissen, sie nicht längst vergessen und sein Herz anderweitig gebunden habe. Die bewegungslose Ruhe verstand sie nicht, in der er die Augen so fremd und groß auf sie gerichtet hielt als kenne er sie nicht. Keinen Schritt weiter vorwärts hätte sie sich gewagt. Und im nächsten Augenblicke darauf nun schon der Gedanke: still davonzuschleichen, sei das Einzige das noch übrigbliebe. Schwieg Arthur: was denn sollte sie sagen das ihr Anblick nicht allein schon sagte? Briefe sah sie auf dem Tische vor ihm liegen, in seiner Hand ein Blatt das er selbst jetzt nicht losließ —: was enthielt es und wer hatte es geschrieben? Und immer beängstigender diese Ruhe. Abschied nahm sie von ihm in ihrer Seele. Scheu und verlegen dahin und dorthin blickend, als finde sie den Weg nicht aus diesem Labyrinthe rückwärts, suchte sie nach Kraft sich loszureißen. Denn niemals im Leben wieder, fühlte sie wohl, würde sie ihm begegnen. Zum letzten Male tranken ihre Augen sein Bild ein. Schöner erschien er ihr; niemals hatte sie ihn so gesehen zuvor. Und gehen sollte sie nun für immer, und nicht einmal seine Stimme zu hören, sollte ihr vergönnt sein. Arthur aber zweifelte noch immer. Zuviel war ihm hereingebrochen die letzten Tage, und nun die Träume am Morgen noch, deren Gestalten ihn bei wachenden Augen verfolgten, und jetzt die Erinnerung an seine Mutter, deren Worte er las als stände sie neben ihm und spräche. Und dort Emmy — regungslos wie ein Bild — jenen Abend zurückrufend, wo er sie so verschwinden gesehen in der Dämmerung: nur ein Spiel der

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Phantasie konnte es sein, und doch das Gefühl ihrer lebendigen Gegenwart, das magnetisch ihn berührte, so durchdringend, daß es ihn ihr entgegenzog mit einer Gewalt die er kaum zu bezwingen im Stande war. Aber er bezwang sich. Und jene wunderbare kindliche Klugheit, die den Menschen in den höchsten entscheidenden Augenblicken oft einen Ausweg zeigt, flüsterte ihm zu: halte dich ganz still, aber frage sie! Und ganz leise und schmeichlerisch, als könne sie es sein und doch wieder nicht sein, begann er sie anzureden. Ich weiß, daß Du es nicht bist, sagte er, o, ich weiß, daß meine Sehnsucht allein Dein Bild nur endlich hierher gebracht hat — aber, o, ich bitte Dich — wenn Dein lieblicher Schatten kam, weil ich Dich so sehr liebte — bleib! o laß Dich ansehen! O, Du bist leere Luft vielleicht, rief er leidenschaftlicher, Du bist nichts als ein Zauber meines eigenen Herzens — wenn ich aufspränge um mich an Dein Herz zu werfen, hätte ich nichts umfaßt und alles verloren! O, und wie Du schön bist! wie ich Dich erkenne! und Dich ein einziges Mal nur erblickt zu haben, wie glücklich! — Emmy! Arthur! sagte sie und trat näher. Bist Du es? Bist Du es wirklich? rief er, aufspringend, drei, vier Schritte auf sie zu; und, als er sie deutlicher und deutlicher nun erkannte, im Schauder des Entzückens zögernd noch einmal. Emmy aber, ohne zu wissen und zu wollen, eilte auf ihn zu, und er, ihr entgegenkommend, fing sie an seiner Brust auf und fühlte sich endlich umschlungen von ihren lieben Armen.

Neununddreißigstes Capitel. Der Bildhauer saß auf dem Vorplatze draußen unter der Gaslampe und wartete. Er dachte an seine Büste, die ihm, wie seine sämmtlichen Arbeiten, stets so deutlich vorschwebte, daß er im Geiste ebenso gut daran fortzumeißeln im Stande war, als hätte er mit seinem Werkzeug dabeigestanden. Nach Emmy's Büste nahm er die von ihr begonnene Arthurs vor und überging sie in derselben Weise. So wie die Beiden jetzt aber in Wirklichkeit aus der Thür des Zimmers tretend auf ihn zukamen, meinte er sie niemals gesehen zu haben. Emmy hatte etwas strahlendes förmlich. Arthur begrüßte den leicht verlegenen jungen Menschen auf's herzlichste. Lieber Freund, sagte Emmy, Sie könnten uns eine Liebe thun. Wenn Sie einen Wagen nähmen und so rasch als möglich ins Hotel führen um uns anzumelden? Ich mag gar keine Überraschungen. Wir kommen langsam zu Fuße nach. Der Bildhauer stürmte die Treppe hinab. Die alte Köchin hatte an der Thür ihrer kleinen Stube alles gehört und das Ihrige daraus entnommen. Sie ging an ihre Commode, suchte sich ein frisches, bettlakengroßes Taschentuch und fing an Thränenströme zu vergießen, während sie zugleich Feuer anmachte um Kaffee zu kochen. Bei allen großen Familienangelegenheiten pflegte sie diese beiden Handlungen vereinigt vorzunehmen. Arthur und Emmy gingen langsam dem Hotel zu. Sie hatten sich so viel zu erzählen. All die einsamen Gedanken der vergangenen Tage waren wie die Kohlen des Märchens in Goldstücke verwandelt, die sie einander zuwarfen. Der Bildhauer, der dem Kutscher ein Trinkgeld versprach, flog in großer Aufregung zum Hotel. Vor ihm aber war Jemand anderes bereits dort bei Mrs. Forster eingetreten, und sie von ihm, wenn auch zur Hälfte nur auf die Neuigkeit vorbereitet worden: Erwin, der in voller Ungeduld gleich vom Bahnhofe sich dahin zu wenden beschloß, wo er seiner Rechnung nach Emmy und Arthur jetzt am ersten antreffen mußte. Die nach Böhmen geschickten Briefe hatte er, wie bemerkt worden, sämmtlich in den letzten Tagen erhalten, war auch auf einer der schlesischen Stationen dem Johanniter begegnet, von dem er erfuhr, daß Arthur am Tage vorher nach Berlin abgegangen sei. Nichts natürlicher, als ihn endlich mit Emmy dort vereinigt zu vermuthen.

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Für Erwin bedurfte es an Mrs. Forsters Thür keiner Meldung. Er fand sie allein. Sie erkannte ihn zuerst nicht, die hohe Gestalt in der dunklen Uniform, mit langem Barte und sonnenverbrannt. Einen Augenblick glaubte sie, Arthur sei es, bis Erwins Stimme sie auf die richtige Fährte brachte. Erwin war der einzige Mensch von dem die Frau sich verstanden wußte. Seit der ersten Begegnung hatte sie dies Gefühl gehabt. Jetzt stand er wieder vor ihr. So viel geschehen seitdem sie sich nicht gesehen und sich einander zuletzt ausgesprochen. Keiner während dieser Zeit, dem sie sich eröffnen konnte. Sein Anblick übermannte sie, sie schloß ihn in ihre Arme und küßte ihn. Auch Erwin war bewegt. Mrs. Forster hatte weißeres Haar als ein Jahr früher, in ihrem Aussehen war überhaupt eine Veränderung vorgegangen. Erwin bemerkte es auf der Stelle. Nun, und Emmy? fragte er nach den ersten Worten des Wiedersehens. Sie ist noch ein wenig an die frische Luft gegangen, mit dem Bildhauer, dem einzigen der hier ist von unseren alten Freunden, sagte Mrs. Forster. Wir wollten in einer Stunde abreisen. Nach Trouville. Nun freilich, da Sie gekommen sind - Und Arthur? unterbrach sie Erwin. Arthur? wiederholte die Frau. Ich habe bei weitem geringere Hoffnung als Emmy, daß er noch zurückkommt. Es war ihr unmöglich, den Accent sogar von Zufriedenheit oder Ruhe wenigstens ganz zu übertönen, mit dem sie das aussprach. Aber ich glaubte ihn bei Ihnen zu treffen, rief Erwin. Er muß heute hier angekommen sein! Wieder heil und gesund, nachdem er lange verwundet gelegen. Hier? dieser eine Ausruf alles was die Frau zu erwiedern fähig war. Und dann, einen Blick auf die Uhr werfend und überlegend warum Emmy nicht schon längst wieder zurück sei, ihr zweiter Gedanke: die Beiden müssen sich begegnet sein! Das ändert allerdings unsere Pläne, sagte sie nach einer Weile, als Erwin schweigend erwartete daß sie ihm Aufschluß über ihre Art, die Dinge aufzunehmen, zukommen ließe. Haben Sie Arthurs Brief empfangen? fragte er dann. Doctor, sagte die Frau jetzt, und legte wie sie zu thun pflegte ihre geballte kleine Hand auf den Tisch vor sich, ich habe den Brief gelesen. Wir sind hier weil Emmy reisen wollte. Sie wissen, (sie fing jetzt an englisch zu reden) es ist bei uns nicht möglich: wenn ein Mädchen heirathen will, sie zu verhindern. Emmy wäre ohne mich gegangen. Ich aber (sie erhob die Stimme) ging nicht blos deshalb mit ihr, um sie als ihre Mutter zu begleiten, sondern um dem Grafen Aufschlüsse zu geben in Betreff der unerhörten Lüge die sein Brief enthält. Ihre Stimme zitterte, sie konnte nicht weiter. Welche Lüge? fragte Erwin und zwar in einem Tone, der nicht eben lauter klang als gewöhnlich, die Frau aber fühlen ließ daß ihre Worte eine Wirkung gehabt. Die Lüge, sagte sie, daß mein seliger Mann der Geliebte der Gräfin und Arthurs Vater gewesen sei. Ich habe Papiere in Händen, die ihm und aller Welt beweisen werden, daß niemals die Ehre eines Mannes schändlicher angegriffen worden ist. Ihr seliger Mann dieser Unbekannte? wiederholte Erwin. Und nicht sein Vater? rief er weiter aus und sah Mrs. Forster mit unbeschreiblicher Ueberraschung an, denn in demselben Momente schon bestürmten ihn die ungeheuren Consequenzen, welche diese Neuigkeit für Arthur haben konnte. Wo Arthur zu finden aber? Aussprechen wollte er diese Frage eben, um nicht gar zu perplex zu erscheinen, als der Bildhauer eintrat. Erwarten wir sie also, sagte Mrs. Forster kühl, nachdem der junge Mann seine Botschaft ausgerichtet. Halt! rief Erwin und zog sie ans Fenster, kein Wort gegen Arthur heute Abend über seinen Irrthum! Wie kommt Ihnen bei, versetzte die Frau, einen Schritt zurücktretend und ihn mit funkelnden Blicken messend: mir Befehle zu ertheilen in einer Sache die meine und meines Mannes Ehre betrifft? Aus der fast dämonischen Heftigkeit, in welcher diese Antwort gegeben wurde, erkannte Erwin, in welcher geistigen Verfassung Mrs. Forster sich befand. Auch war es

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das Aergste was man ihr hätte zumuthen können: Emmy an Arthur zu verlieren und nicht einmal die Ehre ihres Mannes durch eine einfache Erklärung unter vier Augen wiederherstellen zu dürfen. Nicht viel das sie verlangte, und ungeheuer viel das ihr verweigert werden sollte. Ganz milde erwiederte Erwin deshalb auf ihre Anrede; Sie haben mich mißverstanden; keine Befehle, verehrte Freundin, denn was gäbe mir irgend ein Recht dazu? sondern nur die Bitte, heute Abend Arthur nichts von dem zu sagen was Sie mir eben mitgetheilt. Keine halbe Stunde, rief die Frau, und der Graf wird wissen, wer er ist und wer er nicht ist! Sie haben seinen Brief an Emmy gelesen? fragte Erwin mit der kühlen Reserve die ihm jetzt natürlich war. Ja wohl. Sie sind einverstanden damit daß Arthur Ihrer Tochter Gemahl wird? Ich kann es nicht verhindern. Wohlan, so sage ich Ihnen, daß wenn Sie heute Abend, und unvorbereitet, Arthur die Neuigkeiten zu hören geben welche Ihnen das Herz bedrücken, er sie möglicherweise ganz ruhig anhören wird, sie möglicherweise jedoch auch einen Eindruck auf ihn machen könnten, der Sie vor sich selber für alle Zeiten als die Mörderin des Glückes Ihrer Tochter erscheinen ließe. Und nun, fügte er hinzu, betrachten Sie das weder als Befehl, noch als Bitte, sondern als die innige Meinung eines Mannes, von dem Sie wissen daß er nichts für sich will, weder Ihnen, noch Ihrer Tochter, noch Arthur gegenüber. Mrs. Forster schwieg. Emmy wird es ihm bereits gesagt haben, warf sie hin nach einer Weile. In diesem Augenblick hörten sie Emmy's Stimme draußen. Verehrte Freundin, sagte Erwin, jetzt ein letztes Wort: Sie sind Herrin Ihrer Entschlüsse, ich aber bin das auch. Versprechen Sie mir jetzt nicht, Arthur wenigstens heute Abend nichts zu sagen, so sage ich Ihnen hiermit Lebewohl und zwar für alle Zeiten! Arthur und Emmy traten ein. Ich verspreche es, sagte Mrs. Forster. Gleichgültig, ob heute oder morgen, setzte sie hinzu und ging den Beiden nun entgegen, die Arm in Arm noch auf sie zukamen. Haben Sie mir verziehen? fragte Arthur und suchte, Emmy loslassend, mit beiden Händen ihrer Mutter Hand zu erfassen. Ich will offen sein, sagte die Frau. Hätte ich zu befehlen gehabt, so würde ich niemals meine Einwilligung zu einer Verbindung zwischen Ihnen und Emmy gegeben haben. Nun aber, da Emmy's Entscheidung hier allein maaßgebend sein kann, bleibt mir nichts übrig, als Ihnen und ihr alles Glück des Himmels zu wünschen, und das thue ich jetzt von ganzem Herzen und ohne Rückhalt. Arthur hatte ihre Hand ergriffen und wollte sie an die Lippen bringen, sie aber mit plötzlicher Lebhaftigkeit zog die Hand fort und küßte Arthur auf den Mund. Es überraschte sie selber diese Herzlichkeit. Man saß bis nach Mitternacht zusammen. Arthur und Emmy allein; Mrs. Forster mit Erwin apart, dem sie die Dinge erzählte die Emmy auf dem Dampfschiffe gehört; der Bildhauer, der durchaus gehen wollte, festgehalten dennoch, und bei der Lampe, die man ihm gern allein überließ, auf einem Blatte allerlei Compositionsideen niederzeichnend. Als Mrs. Forster Nachts allein mit Emmy war, fragte sie: Nun, was sagte Arthur, als Du ihm über seine Geburt sprachst? Ich wollte ihm davon reden, Mama, erwiederte Emmy, aber er kam mir, als hätte er geahnt was ich sagen wollte, mit einer Erzählung über sich selbst zuvor, die es mir unmöglich machte diese Dinge jetzt zu berühren. Er sprach mir davon, wie dieser Glaube: von dunkler, bürgerlicher Herkunft zu sein, eine Wiedergeburt in ihm bewirkt... Ich weiß es, unterbrach sie Mrs. Forster. Auch Emmy schwieg gern. Sie sehnte sich danach, in der Stille und Dunkelheit an Arthur zu denken. Was lag ihr daran, ob er sich

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für den Sohn eines Königs oder eines Bauern hielt? Ihre Mutter aber schlief nicht, sondern, mochte geschehen sein was da wollte, malte wieder an der Scene in Gedanken, wenn sie dem Grafen die Wahrheit sagen würde.

Vierzigstes Capitel. Als Emmy am nächsten Morgen in den Salon eintrat, fand sie eine Ueberraschung sich zubereitet. Mrs. Forster hatte bei ihrem Fortgehen im vergangenen Jahre den Banquier beauftragt, was ihr gehörte zu veräußern, und Erwin, der nicht dulden wollte daß eine dieser Reliquien in profane Hände geriethe, alles in Bausch und Bogen gekauft. Jetzt erblickte Emmy den Flügel wieder am alten Platze, die Bilder an den Wänden, den Blumentisch am Fenster, jedes Stück wie sie es damals verlassen und es ihr so lebhaft in der Erinnerung stand. Sie ahnte den Zusammenhang und mußte Erwins Aufmerksamkeit anerkennen. Dennoch lag etwas darin, das sie, vielleicht gerade in Erinnerung der vergangenen Zeiten, schmerzlich berührt hätte, wäre sie nicht zu glücklich gewesen um solchen Gedanken Raum zu geben. Sie dankte Erwin, der seiner alten Gewohnheit nach etwas früh am Tage sich bei ihr einstellte. Absichtlich war er diesmal aber so bei guter Zeit und allein gekommen; ein Gespräch mit Arthur hatte ihn dazu vermocht. Er traf ihn, als er um guten Morgen zu sagen bei ihm eintrat, wieder mit dem Nachlasse seines Vaters beschäftigt. Kannst Du denn, fragte er, von diesen Papieren nicht loskommen, die Dir doch nun endlich fremd sein sollten? Ich habe selbst darüber nachgedacht, erwiederte Arthur, was mich nur reizen mag, die Arbeit noch abthun zu wollen. Wirklich als lockte mich etwas darin. Als gingen diese Dinge Dich trotzdem was an? bemerkte Erwin forschend. Arthur hielt ein Blatt in der Hand, das er gerade gelesen hatte. Höre nur den Brief an, sagte er, und ich frage Dich, ob es nicht eine Wohlthat der Vorsehung ist, mich so ganz und gar von dieser Familie abgetrennt fühlen zu dürfen. Es hat den Anschein, setzte er ironisch hinzu, daß ich in dem Manne meiner unglücklichen Mutter nicht allein einen eigenen Vater, sondern daß ich bei dieser Gelegenheit sogar auch einen Bruder verloren habe. Was? rief Erwin und griff nach dem Papiere. Laß mich nur lesen, entgegnete Arthur und begann einen Brief vorzutragen, dessen Inhalt allerdings seltsam klang. Ein junger Mann der auf Kosten des Grafen seine Erziehung erhielt, dankte für bisher empfangene Wohlthaten, sprang dann aber, als sei das nur die formelle Einleitung gewesen, in die heftigste Sprache um, erklärte sich für zurückgesetzt, mißhandelt, betrogen und was sonst die Leidenschaft an ähnlichen Worten eingab, und zeigte dabei unverhüllt die Prätension, als Sohn des Grafen anerkannt zu werden. Er mochte der Rechnung des Datums nach fünf bis sechs Jahre etwa älter als Arthur sein, den er mit Namen erwähnte und neben dem er sich beinahe als gleichberechtigt zu betrachten schien. Und dies der Inhalt nicht eines einzigen Schreibens, sondern mehrerer die beisammen lagen. Den Trost hast Du wenigstens, bemerkte Erwin, daß Du diesem Prätendeten kein Vermögen fortschnapptest. Sowie, daß er nun allerdings Dich nichts mehr angeht. Und so hat alles sein Gutes. Und doch dauert mich seine hülflose Leidenschaftlichkeit, sagte Arthur, und es bewegt mich, nur diese Briefe in den Händen zu halten. Wer weiß, ob wir uns nicht öfter begegnet sind? Er mir wenigstens, und daß er mich heimlich oft betrachtete ohne daß ich etwas ahnte. Sehr gleichgültig, scheint mir, meinte Erwin. Du wirst Dich jetzt nicht vom Schicksale eines Menschen anfechten lassen, der wirklich doch nicht mehr als jeder Andere Ansprüche an Deine Gefühle hat, neben Millionen die es gewiß mehr verdienen. Zugleich aber beschloß Erwin im Stillen jetzt, Mrs. Forster sofort aufzusuchen und sie in jeder Weise dahin zu vermögen, ihre Enthüllungen aufzusparen bis Arthur, (wie

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seine Absicht war, mit der Erwin durchaus übereinstimmte), in Amerika fest eingewohnt, europäischen Eindrücken mehr entrückt sei. Emmy verrieth Erwin natürlich nichts von diesem frisch entdeckten Zuwachs ihrer zukünftigen Familie. Er nahm die Mutter allein und theilte ihr die Sache mit. Mrs. Forster hörte ihn in ganz anderer Stimmung an als Tags zuvor. Arthurs Persönlichkeit hatte auf die Frau einen höchst günstigen Eindruck gemacht. Sie begann damit, dies auszusprechen. Er scheine ein Mann geworden zu sein, sagte sie, und hoffe sie dem Schicksal noch einmal danken zu dürfen für seine Fügungen. Ueber Arthurs Pläne Amerika betreffend äußerte sie nichts, versprach auch nichts weiter was die Rechtfertigung ihres verstorbenen Mannes anging, zeigte sich aber, indem sie die Möglichkeit, mit jenem unbekannten Bruder Arthurs einmal zusammenzutreffen, erwog, so praktisch und in jeder Weise vom besten Willen erfüllt, daß Erwin nicht mehr verlangte, und endlich, da sich diese Dinge so glatt und geordnet zeigten, seine befürchtende Vorsicht nach dieser Seite hin in Ruhe setzen zu dürfen glaubte. — Er saß im Salon, die alten Zeiten stiegen ihm auf und die Zukunft. Wer dachte an ihn jetzt? Niemand durchschaute die Gedanken mit denen er Arthurs und Emmy's Glück sich vollenden sah. Emmy ging hin und her in dem behaglichen Raume und blätterte in den Büchern die sie sogar an der alten Stelle gefunden. Sie trat zu ihm. Ich verdanke Ihnen so viel, sagte sie. Ich habe mit Ihrer Mama noch einmal wegen des Geheimnisses gesprochen, erwiederte Erwin. Auch Sie verrathen nichts, ehe Sie nicht Ihrer Sache ganz gewiß sind? Welcher Sache? fragte sie lächelnd. Der Sache, daß Arthur so ganz in den neuen Verhältnissen drinsteckt, daß ihm alles was die Vergangenheit betrifft gleichgültig ist, daß er nur an die Zukunft denkt, versetzte Erwin. Wir werden von aller Vergangenheit nichts im Herzen zurückhalten als Sie, unsern besten Freund, sagte Emmy. Nein, auch Sie werden uns nicht verlassen, fügte sie lebhafter hinzu. Ich könnte mir denken, Sie gingen mit uns? Erwin that das wohl, so wenig es bedeutete. Was mich anlangt, sagte er, so werde ich Sie in drei Wochen, denn eher haben wir diese Dinge doch nicht in Ordnung, nebst Arthur auf die Eisenbahn bringen, und Sie werden ins Unbestimmte hineinfahren, und schließlich sich in der Schweiz finden, in Montreux etwa, wo man so schön die letzten Herbsttage verbringt ehe man nach Italien geht, und dann werden Sie in einem offenen Vierspänner über den Simplon fahren, zu den Kastanienwäldern der Lombardei hinunter, und sich unterwegs daran erinnern daß Sie mir versprochen haben recht oft schreiben zu wollen, und werden auch einmal schreiben, einen kurzen Brief aus Genua, worin es am Ende heißt, aus Florenz würden Sie ganz ausführlich berichten, und in Florenz werden Sie zuviel an Rom denken, und in Rom an Neapel, und in Neapel an New-Jork und Mountainville, und über's Jahr bekomme ich vielleicht einen Brief wieder — er sprach nicht weiter. Emmy saß da, hörte ihn an und war, indem jedes Wort wie süße Musik tönte, in tiefe Gedanken versunken. Was Erwin berührte mit so kurzen Worten schwebte wie ein herrlicher Traum durch ihre Seele. Ich bin zu glücklich, sagte sie, als er schwieg. Ich denke manchmal es sei unmöglich. Warum unmöglich? entgegnete er. Millionen haben dies Glück erwartet und Millionen es gefunden. Nicht soviel Glück als ich, sagte sie leise. Er antwortete nichts. Arthur trat ein. Erwin ging fort, er hatte ungemein viel zu thun in diesen ersten Tagen. Arthur bemerkte nichts von der Umwandlung des Salons in seine alte Gestalt. Er sah sich alles an, wie seine Art war, schien aber nicht daran zu denken daß während dieses Jahres andere Menschen hier gewohnt. Auch die Briefe zu Hause hatte er im Moment vergessen wo er Emmy erblickte. Er ging umher wieder wie in jenen Tagen wo er sie zuerst gefunden, vor nun fast zwei Jahren. Er sprach davon, den Prediger aufzusuchen, der das Aufgebot besorgen sollte u. s. w., ward am Abend aber erst inne,

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daß es beim besten Willen doch über diese Vorsätze nicht herausgekommen war. Das Schicksal ließ ihm zur Strafe aber eine kleine Ermunterung jetzt zu Theil werden, denn als er nach Hause kam, lag ein Dienstbrief da, die Ordre enthaltend sich zu seinem Regimente zu verfügen, das übrigens nahe genug bei der Stadt bereits angelangt, nach vierzehn Tagen am großen Einzuge der Truppen theilnehmen sollte, worauf Arthur Aussicht hatte entlassen zu werden. Er war nämlich, obgleich zur Landwehr gehörig, gleich anfangs auf seinen dringenden Wunsch und die Verwendung alter Freunde seiner Familie der activen Armee zu ertheilt worden. Die kurze Trennung machte sich um so weniger fühlbar, als nach allen Seiten hin viel noch zu thun blieb. Mrs. Forster besonders zeigte sich sehr einverstanden mit dem Zwischenfall. Sie verrieth nichts von ihren Absichten, jedenfalls aber mußten dieselben umfangreich sein. Auch Emmy, obgleich es zunächst keinen Haushalt zu errichten, sondern nur eine Reiseausstattung zu besorgen galt, hatte die Hände voll Arbeit, die sie um so lieber ausführte, als sie wußte daß Arthur für jede Falte ihrer eigenen Kleidung scharfe Augen hatte und jedes Bändchen bewunderte das ihr gut stand. Ohne ihn würde sie kaum Werth darauf gelegt haben. Und so gingen die vierzehn Tage rasch vorüber, und zweimal schon hatte das Kirchenpublikum Emmy's und Arthurs Namen von den Kanzeln gehört, und der Tag kam, an dem die Truppen siegreich einzogen, und Emmy, neben ihrer Mutter am Fenster stehend, Arthur vorüberkommen sah. Der Glanz des Anblicks, die Begeisterung des Volkes, die Erwartung des eigenen Glückes durchbebten sie, daß sie durch Thränen oft nichts vor Augen hatte als einen unbestimmten Schimmer. Hier auch flog zum ersten Male ein stolzes Lächeln über die Züge ihrer Mutter. Arthur, der bei Sadowa mitkämpfte und verwundet war, durfte neben ihrem Sohne und ihrem Manne und Vater nun wohl genannt werden. Nur das Eine empörte sie, daß er Emmy angetraut werden sollte ohne zu wissen wer er sei und wer er nicht sei. Es war ihr, als würden Geschwister mit einander verheirathet. Unmöglich das! Es durfte nicht sein! Niemand aber brauchte zu wissen jetzt, auf welche Weise sie das verhindern wollte. Und dann als die Truppen vorbeidefilirt waren, und sobald er sich hatte losmachen können, erschien Arthur selbst. Wie immer mit einer gewissen Schüchternheit eintretend, wie ein Geburtstagskind dem man die Thür öffnet und das die schönen Dinge die ihm entgegenstrahlen, nicht anzugreifen wagt, obgleich es gewiß weiß daß sie ihm allein und sicherlich keinem andern gehören. Eine verschwiegene Demuth an der Stelle des früheren Hochmuthes, eine stumme nachträgliche Bitte noch immer um Verzeihung. Emmy sah es nie ohne Rührung. Ihre Mutter aber bemerkte es gar nicht. Mrs. Forster hätte jetzt nichts dagegen gehabt, wenn Arthur stolz aufgetreten wäre. Denn wie sie ihn früher auch deshalb nicht recht gemocht — obgleich sie sich vielleicht dieses Grundes ihrer Abneigung kaum bewußt war — weil er in seinem unbestimmten Fortleben ein Bild Deutschlands darbot, das zu nichts kommen konnte, so strahlte der jetzige ungeheure Erfolg Preußens auf ihn wieder zurück, und er erschien ihr als einer der Repräsentanten dieser Nation, die so Großes geleistet hatte. Mrs. Forster war die jüngstvergangene Zeit über zu sehr von ihren eigenen Gedanken occupirt gewesen, als daß sie, sogar in Böhmen nicht, von dem Inhalte der sich vor ihren Augen vollziehenden historischen Wandelungen berührt worden wäre. Nachträglich überkam sie nun das Gefühl der allgemeinen Lage, und jene Tage des Glanzes waren es, wo sie ihr zum ersten Male lebendig zum Bewußtsein kam. Mrs. Forster, alt geworden im Anblicke der Entwickelung Amerikas, wo die Kinder schon die Interessen der Parteien und des Landes verstehen, wußte besser als mancher deutsche Mann jetzt zu beurtheilen, was erreicht worden war und was erreicht werden könnte. Dennoch blieb sie immer noch Frau genug, um nicht beim Einzuge der siegreichen Armee eine letzte sinnliche Blüthe gleichsam dieses aus der Reflexion bis dahin mehr hervorgegangenen Gefühls zu erlangen. Frühmorgens schon an jenen Tagen, in denen die Truppen einzogen, ging sie aus, um das Volk in der Nähe zu sehen, und vor dem Thore die Spitzen der ersten Regimenter, die lange Stunden da wartend standen, bekränzt von bekränzten und blumentragenden Menschen umgeben, angeredet, anredend, essend,

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trinkend und von diesem einzigen Gefühl des Sieges erfüllt, das seit fünfzig Jahren in Preußen zum ersten Male voll wieder empfunden ward. Unermüdlich war sie, zu sehen und zu hören, und Nachts, im strömenden Regen, mußte noch durch die Straßen gefahren und die Illumination bewundert werden, während welcher sich weder Flammen noch Menschen von den Wasserfluthen stören ließen, die der Himmel herabgoß. Arthur hatte in diesen Tagen nur kurze Augenblicke dann und wann für Emmy übrig gehabt. Endlich nun gelang es ihm sich frei zu machen. Doch trug er die Uniform noch und wollte auch in ihr getraut werden: er war zu stolz und zufrieden gewesen in dieser Gestalt, um nicht, so lange wenigstens bis er mit Emmy abreiste, den die Erinnerung wachhaltenden Schein gern über sich zu gewahren. Auch machte es Mrs. Forster entschiedenes Vergnügen ihn so zu sehen. Am ersten Tage war es wo er nun ganz frei über seine Zeit verfügen durfte. Die Hochzeit so nahe bevorstehend, daß man schon, nach Stunden zählend, sagen durfte, Emmy werde in zweimal vierundzwanzig aus einer amerikanischen Bürgerin eine deutsche Gräfin geworden sein. Eben wollte sie und Arthur damit beginnen, einen guten Theil dieser Zeit durch ein Gespräch, zu dem sie lange schon vergeblich den passenden Moment erwartet, auszufüllen, als Mrs. Forster mit der Erklärung eintrat, der Tag sei so wunderschön, daß Erwin den Wagen geschickt habe, ob man vor Tisch nicht etwa noch eine Fahrt machen wollte, und ihre Meinung gehe dahin, die vortreffliche Idee zur Ausführung zu bringen. Emmy sowohl als Arthur wußten im Grunde weder recht, wozu Erwin den Wagen geschickt, noch weshalb Mrs. Forster so großes Verlangen empfand jetzt gerade mit ihnen spazieren zu fahren, da sich so leicht errathen ließ, sie wären lieber allein gewesen. Indessen es konnte der Frau ja der Gedanke gekommen sein, auch ihrerseits vor so langer Trennung noch etwas von ihnen beiden haben zu wollen. Und so erklärte man sich mit Freuden bereit, machte sich rasch fertig, stieg in Erwins bequemen großen Wagen, neugekauft sammt dem kostbaren Gespann davor, an dem Erwin seine besondere Freude hatte, Mrs. Forster gab die Richtung an, und die Fahrt ging in den wundervollen Tag hinein vorwärts. Arthur erinnerte sich nicht daran heute, wie er der Gräfin und Josephine zuletzt so gegenüber gesessen. Emmy füllte ihn ganz aus. Dann und wann blickte er auf die weiten Felder, über die der Sammet der jungen Wintersaaten sich ausbreitete, bis zu den im bläulichen Herbstnebel die Aussicht umziehenden dunklen Kieferwaldungen. Er dachte, der Süden liege hinter ihnen, und Emmy hegte denselben Gedanken, sie winkten ihn sich mit den Blicken zu und lächelten. Halt! rief Mrs. Forster plötzlich. Arthur fuhr auf aus tiefen Gedanken, und sah sich um, denn auf den Weg hatte er gar nicht geachtet. Rechts abfahren! rief Mrs. Forster. Da hinaus geht es zu unserem ehemaligen Landgute, das verkauft worden ist, sagte Arthur und wies den Feldweg hinunter mit in den feuchten Sand tiefeingeschnittenen Wagenspuren, zu beiden Seiten von Zitterpappeln besetzt, deren goldgelbe langgestielte Blätter im Winde arbeiteten. Ja, dorthin, rief Mrs. Forster dem Kutscher zu. Mama, sagte Arthur und sah auf die Uhr, es wird zu spät zu werden. Warum zu spät? Es kann kaum eine Stunde dahin sein; und verspäten wir uns, so werden wir dort oder überall zu essen finden. Nicht wahr, Emmy? Arthur sah Emmy bedeutend an. Diese aber verstand ihn nicht. Jeder Weg war ihr der liebste, wenn Arthur bei ihr war. Ich weiß nicht, sagte er, mir ist als fänden wir dort nichts das uns Freude machte. Sie schrieben in Ihrem Briefe so viel von dem Hause, sagte Mrs. Forster. Es würde mich sehr interessiren, es gesehen zu haben. Liebe Mama, entgegnete Arthur, jetzt decidirter, es wäre mir fast eine Beruhigung, wenn wir den Weg nicht einschlügen.

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Es war das erste Mal, daß er ihr fest widersprach Mrs. Forster aber schien ihn nicht verstanden zu haben, denn sie ertheilte dem Kutscher, als habe Arthur zugestimmt, den Befehl in den Weg einzulenken. Arthur durchschnitt etwas die Seele, aber er schwieg. Sein erster Traum in Berlin kehrte ihm in die Gedanken zurück, und dann mußte er an den Brief denken, demzufolge da draußen wahrscheinlich der arme Mensch zur Welt gekommen war, der sich in so leidenschaftlichem Irrthume für seinen Bruder hielt. Indessen er ließ sich nichts merken, die Pferde zogen an, und es wurde in den Weg eingelenkt. Sanft weiterschwankend im feuchten Sande ging es dahin also. Erst durch weite flache Felder, dann in die Kiefernwaldungen hinein, die vorhin nur aus der Ferne sichtbar waren. Je weiter sie kamen, um so mehr machte das Gefühl, das Arthur zuerst so bedrückend gewesen, angenehmeren Gedanken Platz. Er kannte den Weg so gut, das Wiedersehen erfreute ihn. Dort stand eine einsame, jetzt auch in vollem Golde prangende Linde, unter der er bei der Jagd zuweilen Rast gemacht. Dann erkannte er die Grenze des Gutes: nun fühlte er sich auf dem Boden der vor Zeiten sein eigener war. Der See schimmerte durch die Kiefernstämme endlich; dann begann die breite Kastanienallee, deren Wurzeln quer über den Weg laufend dem Wagen manchen Stoß gaben; da die tiefhängenden Aeste auch, die Arthur mit den Blättern so oft den Kopf gestreift wenn er rasch darunter hergeritten; eine letzte Wendung und beinahe berührt vom verschlungenen Geäst der Bäume lag das Haus da, am Ufer des See's, der nun blendend sich aufthat. Das Herz ward Arthur schwer in der Brust als er das erblickte, als er den Athem einzog der da wehte: Waldluft gemischt mit der Feuchtigkeit des Wassers, und als er die Fenster des Hauses sah, mit geschlossenen, meist schadhaften Läden; dichtes Laub auf den Stufen der Hausthür lagernd, über ihr das Wappen der Familie noch immer sichtbar, schnörkelhaft in Sandstein gehauen. Dann der verwilderte Garten, mit den Ausläufern seiner Büsche durch das schwarze Roccoco-Eisengitter herausreichend, als seien es vergessene Gefangene die nach der Freiheit draußen sich durcharbeiten wollten; dann die langen glatten Mauern der Wirthschafts-Gebäude; dann dicht am Ufer des See's wieder der Weg weiterführend, und endlich Halt gemacht vor dem kleinen, mit dem Garten ans Wasser stoßenden Försterhause. Hundegebell ertönte, ein Fenster ward aufgemacht, ein grauer Kopf wurde sichtbar, fuhr schnell wieder zurück, die Hausthür ward aufgerissen und ein alter Mann, dem man den Jäger sofort ansah, eilte auf den Wagen zu, um Arthur mit dem Zeichen des herzlichsten Entzückens zu begrüßen. Mein lieber, verehrter, gnädiger Herr Graf — fing der Mann immer von vorn wieder an, warf dabei stagende Seitenblicke auf Emmy und konnte die Zeit nicht erwarten wo die Herrschaften ausgestiegen wären, um den Kutscher und Bedienten zu fragen, ob die Dame etwa die junge Gräfin sei. Ausgestiegen wurde dann, eingetreten in die ein wenig nach altem Tabacksrauch duftende aber reinliche Stube, sich niedergelassen auf dem kleinkarirten harten Canapee, über dem die Lithographie des erschossenen Wilddiebs hing und eine Reihe kleinerer Familienbilder, in Silhouetten sowohl als Daguerreotypen, nach beiden Seiten in die Höhe wie der Orden des goldenen Vließes um das österreichische Wappen. Gefragt wurde, womit man aufwarten könne. Es sei gerade prächtiges Wildpret im Hause. Ob die gnädigen Herrschaften nicht über Mittag dablieben? Arthur und Emmy waren nicht abgeneigt, die Mama entschieden dafür. Die Frau Försterin hatte unterdessen ihre Toilette beendet, welche hauptsächlich darin bestand daß eine alte Kindtaufsmütze aufgesetzt und eine frische Schürze vorgebunden wurde. Die Betheuerungen von Anhänglichkeit und dem Vorhandensein eines frischen Bratens begannen von neuem. Der Förster benutzte die Zeit, um endlich herauszuspringen und von dem Kutscher, der noch nicht wußte daß ausgespannt werden sollte und die Krippe herbeischleppte, zu erfahren, daß die Damen ungeheuer reich und vornehm und aus Amerika seien und daß der Herr Graf die jüngere nächster Tage heirathen werde, zum dritten Male aufgeboten würden sie morgen; worauf er wieder davoneilte, um Emmy sobald als möglich gnädigste Frau Gräfin zu tituliren, was dieser ein Lächeln nur und keinen Widerspruch ablockte; und darauf begann es in der

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Küche zu knacken und zu knistern, als stecke ein ganzer Ochse am Spieße, und Mrs. Forster verband sich mit der Hausfrau um das Essen zu bereiten, während Arthur und Emmy durch die Küchenthür, an der unzählige Fliegen sich in der letzten Herbstsonne wärmten, in das Gärtchen traten und den Weg zum Wasser hinunterschritten, den Arthur als Kind so oft gelaufen war und der ihm, je größer er ward, immer kleiner und enger vorkam. Ein Kahn lag da an abgenutzt blanker Eisenkette und schwankte kaum, während ein sanfter Wind die zarten Wellen des Wassers über die Steinchen des Ufers herantrieb. Wie oft hatte Arthur hier gespielt, Schiffe mit Segeln hinaustreiben lassen oder die Hunde mußten Holzstücke aus dem Wasser apportiren: jeder Blick den er hinausthat nach allen Seiten ließ versunkene Tage auferstehen. Nah am Ufer hin führte ein Pfad, um den See herum, zu der, sich dem Garten gegenüber vorgebirgartig hinstreckende Landzunge, mit dichtem Gehölz bestanden. Sie schnitt einen Theil der Aussicht ab, von ihrer Höhe aus aber bot sich einer der schönsten Blicke über den See und die ganze Besitzung. Arthur und Emmy schlugen den Weg dahin ein, der sich bald zu heben begann, so daß mit jedem Schritte die Aussicht an Umfang zunahm: Immer höher kamen sie, über den Rücken des Hügels sahen sie den anderen Theil des See's ihnen entgegenleuchten, bald auch war zwischen den Kastanien das Schloß sichtbar geworden und spiegelte sich in langen winddurchrissenen Linien im Gewässer. Im Walde begannen nun die Buchen vorzuherrschen, wie große bunte Glocken standen sie da, und im See verrannen ihre lichten Farben ineinander. Dabei der warme Luftzug bald hier bald dort das spiegelnde Gewässer rauh überhauchend. Sie kamen zu einer Bank. Arthur kannte sie wohl, als Kind hatte er da mit den kleinen Fingern oft das Moos von dem Steine abgebröckelt, es saß wieder fest und dicht darauf. Sie ließen sich da nieder. Und immer wieder mit dem Anblick von vorn beginnend, athmeten sie den Frieden der Natur ein. Dort, begann Arthur endlich, mit der Hand über den See deutend, die beiden Fenster rechts im ersten Stock, das Zimmer wo ich geboren wurde. Meine ältesten Erinnerungen hängen da fest. Ich weiß daß mich die Mutter da auf dem Arm trug und daß mich das Glitzern des Wassers freute. Ich hatte das Aermchen um ihren weißen Nacken geschlungen und legte mich mit dem Kopf auf ihre Schulter. Zum ersten Male fühlte sich Emmy mutterseelenallein mit Arthur; und jetzt, da er von seiner Mutter sprach und sie an ihren Vater denken mußte, zum ersten Male das Gefühl in ihr erwachend, wie unertäglich es sei, das Geheimniß vor ihm zurückhalten zu müssen, von dem sie bis dahin so wenig bedrückt worden war. Erwins abmahnende Worte hatten genügt, sie verschwiegen zu machen. Ein unbekannter, beliebiger Mensch hätte sie anreden und ihr sagen können: thue das und das nicht, es bringt Arthur Schaden, und sie wäre gehorsam gewesen. Mit ihrer Mutter hatte sie die Sache nie wieder besprochen. Mrs. Forster wußte zu gut, Emmy würde wie eine Löwin dazwischentreten, wenn etwas zu Arthurs Nachtheil im Werke gewesen wäre auch nur von ferne. Dennoch ganz in der Stille war Emmy die Frage dann und wann selbst aufgestiegen: sollen wir vermählt werden, ich mit dem Geheimniß, und er mit diesem Irrthum im Herzen? Jetzt auch fragte es so in ihr, und stärker als je zuvor. Aller Segen, meinte sie, würde ihrer Verbindung fehlen, wenn sie vor dem Altar stehend, heimlich an diese Dinge nebenaus denken müsse. Arthur aber durfte nicht überrascht werden. Gift könne es sein für ihn, hatte Erwin gesagt. Nun aber schien ihr etwas beschämendes in dieser Vorsicht zu liegen. Was hätte sie selbst jemals erschüttern können, war das eine nur sicher: Arthurs Besitz? Ein Zweifel an seiner Liebe däuchte ihr diese Verschwiegenheit. Gab es nicht Fälle wo nur das eigene Herz entscheiden durfte? Mußte sie nicht selbst am besten wissen was sie thun durfte Arthur gegenüber?

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Sie sah ihn an. Seine Blicke schweiften so klar über den See hin. Sein Schicksal glitt in sanften Bildern der Erinnerung an ihm vorüber und er bewunderte ihre kunstreiche Führung. Jetzt erst bemerkte er, daß ihre Augen auf ihm ruhten. Er wandte die seinen ihr entgegen und schien Auskunft zu verlangen. Fehlt irgend etwas noch, Dich glücklich zu machen? fragte sie. Er dachte nach. Ich frage, sagte sie weiter, weil Du so großen Werth darauf legst, der Sohn jenes unbekannten Mannes zu sein. Ja, sagte er langsam und sah sie forschend an. Nun ist das doch immer nur eine Vermuthung, fuhr sie fort. Hat Erwin Dir davon gesprochen? rief er und es überflog ihn etwas wie ein zitternder Strahl, der bis in seine Wort eindrang. Sie antwortete nicht und senkte die Blicke auf den Boden vor sich nieder. Eine unbeschreibliche Traurigkeit überkam sie. Und auch er sah beinahe finster vor sich hin und schwieg. Sie legte die Hand auf seine Schulter. Liebster Arthur, sagte sie sanft, kann es Gedanken geben die Dich von mir so entfernen, auch für einen Augenblick nur? Nein, antwortete er. Aber Du sagst die Wahrheit: ich weiß nichts von diesem Unbekannten. Aber siehst Du: dieser Glauben hat mich wieder aufgerichtet, nachdem er mich zuerst zu Boden schlug, und ich darf nicht denken, daß es ein Irrthum sei. Und wenn es nun doch einer wäre? rief sie fast gegen ihren Willen, und es war als risse sie mit Gewalt eine Kette durch, die sie erwürgen wollte. Emmy, liebste Emmy, erwiederte er, und es lag etwas flehentlich bittendes in seiner Stimme, sage mir eins: beschämt es Dich, einen Mann zu heirathen, der einen solchen Makel an sich trägt? Arthur, sagte sie, ich habe Dich geliebt ehe ich wußte wer Du wärest, und im ersten Augenblicke wußte ich daß es für ewig sei. Nun so laß es dabei, und er bat wie ein Kind seine Mutter bittet. Laß es dabei. Laß mir den Gedanken, dem ich soviel verdanke und der Niemandem Schaden bringt. Komm. Er wollte mit ihr weitergehen. Er stand vor ihr. Sie sah zu ihm auf. Ihr ganzes Gespräch und die Gedanken die es hervorrief, war doch nur wie eine leichte Wolke gewesen die vorüberzog, wie die, die eben durch den Himmel ziehend schneeweiß und zerfließend sich im See spiegelten. Sie dachte schon nicht mehr daran. Noch einen Augenblick bleib, sagte sie, und er setzte sich wieder neben sie. Es ist mir doch lieb, noch einmal hier gewesen zu sein, begann er wieder, und diesen letzten reinen Blick als abschließende Erinnerung mit nach Amerika zu nehmen. Warum als letzten? fragte Emmy, ich bliebe gern hier mit Dir. Erinnerst Du Dich, erwiederte Arthur, als wir uns zum ersten Male sahen? Da rühmte ich die Stille hier, und Du konntest mich kaum begreifen. Du wolltest ewig in die freie Welt hinein. Wir scheinen die Rollen vertauscht zu haben. Laß mich jetzt, wie Du damals thatest, von der Aussicht auf die Wälder bei Wilson sprechen. Ist die Welt nicht freier, größer dadrüben? Je länger ich in Deutschland bin, sagte Emmy, um so unmöglicher scheint es mir, es je wieder aufzugeben. Aber ich gehe mit Dir so weit Du willst, fügte sie hinzu. Aber es ist doch, sagte sie dann noch, als hielten mich hier die Geister all der Männer die so Großes und Schönes gethan haben. Und mir ist, rief Arthur, als trieben diese Geister gerade mich fort! Es giebt Zeiten, wo die Völker zu wandern anfangen. Ich meine es werde diese Sehnsucht immer stärker in mir. Es lockt mich wie einen Vogel der nie von andern Erdtheilen wußte und den sie plötzlich anzuziehen beginnen. Und während er so sprach, war er wieder aufgestanden, trat ein paar Schritte vor und sah sich ringsum, in die Weite. Gerade stieg drüben aus dem Schilfe des See's eine Flucht wilder Enten auf, hob sich höher als gewöhnlich und kam direkt auf sie zu, um vor ihnen wieder einzufallen. Wie

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sie so heranschwebten, war ihr rascher Flug recht wie das zu Fleisch gewordene Gleichniß das er eben gebrauchte, und da, eben als er die Schaar mit den Augen zählend überschlug, als wäre sie ein Vorgespann für die eigene Reise, wurde unten aus den Büschen heraus zweimal geschossen, und zwei Stück, flatternd und sich überschlagend, stürzten aus der auseinanderstiebenden Gesellschaft in den See; sofort sah Arthur jetzt auch einen Hund sich auf die Stelle hin wo das Wasser aufpatschte, schwimmend in Bewegung setzen. Wer mag denn da schießen? fragte er. Der Förster vielleicht, antwortete Emmy. Der müßte, scheint mir, jetzt zu Hause genug zu thun haben, erwiederte Arthur, sich umsehend. Auch war das sein Hund nicht. Während sie so sprachen, tönten Schritte, und um die Bäume herum, die links eine Art Ecke bildeten, kam ein Mann, die beiden Enten die noch mit den Hälsen arbeiteten, in der einen Hand, und mit einer Doppelbüchse über der Schulter. Der Hund trabte tröpfelnd hinter ihm her. Arthur nahm den Menschen scharf ins Auge. Seine Kleidung hatte etwas abgetragenes, fast zerrissenes, sein stolzer Gang aber glich diesen Mangel vollkommen aus. Arthurs Blicke empfand er; statt sich irgend dadurch jedoch genirt zu fühlen, erwiederte er sie vielmehr ohne im mindesten seine Gangart zu ändern. Er hatte einen seltsamen Glanz in den Augen. Als er ganz dicht bei Arthur war, schlug er sie doch nieder und ging ohne zu grüßen vorüber, während der Hund stehen blieb, sie beide ansah, sich schüttelte, und dann gleichfalls seinen Weg fortsetzte. Wer war denn das? fragte Emmy. Es muß einer von den Inspectoren des neuen Besitzers sein, oder sonst Jemand, bemerkte Arthur. Sonderbar, sagte Emmy, wie sehr ich schon eine Deutsche geworden bin. In Amerika kommt es Niemandem in den Sinn, Leute zu grüßen die er nicht kennt, und ebenso wenig erwartet man gegrüßt zu werden. Ich sollte also daran gewöhnt sein. Und hier, wie der Mann eben vorübergeht und mich so wunderlich ansieht ohne doch die mindeste Notiz von mir zu nehmen, lag etwas darin das mich verletzte. Wer weiß, mit was für menschenfeindlichen Gedanken der arme Mensch hier in der Einsamkeit sich herumschleppt, sagte Arthur. Wünschen wir ihm alles Gute und lassen ihn seiner Wege gehen ohne unser Gedächtniß mit ihm zu belasten. Es bedurfte dieser Aufforderung nicht für Emmy, die an Arthurs Arme nun den Rückweg antrat. Als sie dem Forsthause sich wieder näherten, war ihr Gefühl ganz in das alte harmonische Behagen aufgelöst. Der Förster hatte sich schon auf den Weg gemacht, ihnen entgegen, um zu melden daß das Essen für die gnädige Herrschaft längst fertig sei. Die Frau Mama erwarte sie. Der Mann zeigte sich jetzt im Sonntagsstaate, dem alten grünen Dienstrocke mit gräflichen Wappenknöpfen, den er beim Verkauf des Gutes in den Schrank gehangen, im sicheren Gefühl es handle sich doch nur um ein Interimisticum. Siehst Du, sagte er zu seiner Frau, während er die Knöpfe mit Kreide abbürstete, ich wußte ja, daß der Herr Graf wiederkäme, und daß alles nur eine niederträchtige Spiegelfechterei war. Kutscher und Bediente stimmten dem durchaus bei, und der erstere sagte ein über das andere Mal von Emmy's Mutter, sie sei ein Capitalweib, das seine richtigen Augen im Kopfe habe. Auch ging Mrs. Forster umher und sah sich alles mit Blicken an, die man merkte. Dann wurde über die Hochzeit allerlei gemuthmaßt und schließlich der Jude, der das Gut jetzt in Händen und seine Herrschaft damit begonnen hatte, einige hundert beste Eichen an Stellen welche der Förster genau angab, herunterschlagen zu lassen, mit Bezeichnungen beehrt, die wir auslassen. Apropos, Förster, sagte Arthur, als sie ins Haus traten, was ist das für ein Mensch, der hier am See nach den Enten schießt? Sie müssen es ja gehört haben? Nicht das ich wüßte, gnädiger Herr, erwiederte der Förster.

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Arthur erzählte ihm jetzt die näheren Umstände. Ein Anderer als er würde bemerkt haben, daß der Förster in Verlegenheit gerieth. Es wird einer von den Herren in der Oekonomie gewesen sein, sagte er endlich. Das schien mir auch, erwiederte Arthur. Wäre er nicht so abgerissen gewesen, man würde gedacht haben, es sei der Herr des Gutes selber. Der hat ihn gleich weg gehabt, murmelte der Förster vor sich hin und schwieg, worauf die Sache abgethan war. Das Essen mundete vortrefflich. Emmy als Hausfrau auf dem Canapee thronend, legte vor; Mrs. Forster betrachtete sich als bei ihren Kindern zu Gaste. Nach Tisch ging sie zu den Oekonomiegebäuden, ließ sich den ersten Inspector rufen, der, als er ihren Namen hörte, mit großer Höflichkeit an ihrer Seite gehend sie führte wohin sie verlangte und auf ihre Fragen eingehende Antworten gab, offenbar mit dem Bestreben sich als brauchbar zu zeigen. Arthur saß im Gärtchen und sah über den See. Emmy aber, als wolle sie ihre Mutter begleiten, schlich sich fort von ihm und ging allein die Kastanienallee hinunter. Es zog sie nach dem Hause. Zu lebhaft hatte sie die Scenen vor Augen, die dort gespielt: sie wollte da gegangen sein wo ihr Vater gewesen war. Aber ohne Arthur sollte es geschehn. Seine letzte Bitte hatte den festen Entschluß in ihr hervorgerufen, selbst die Erinnerung an diese Dinge aus ihrer Seele zu verbannen. Zum letzten Male jetzt wollte sie ihnen nachgeben. Sie ging am Garten her und sah in die verworrenen Büsche hinein, in den Wegen wuchs dichtes Gras und allerlei hohes Unkraut. Die Thür stand halb offen, aber es zog sie nichts in diese Wildniß. Sie kam an das Haus endlich. Sie setzte sich auf die Stufen der Hausthür nieder und sah in den breiten Weg hinein. Fast wäre sie rasch wieder fort gegangen jetzt, denn dieselbe Traurigkeit die vorhin sie angeflogen, kehrte zurück. Das Bild ihres Vaters stand ihr allzudeutlich vor den Augen. Es war ihr als trete er unsichtbar an sie heran und fragte: Den Sohn der Frau willst Du zum Manne nehmen, die mich so mißhandelt hat? Ein leichter Windstoß der die Aeste der Bäume bewegte, kam ihr fast vor als berührten Geister sie. Sie sprang auf. Das die Schwelle ja, über die er herausgetreten in jener Nacht! Und hier hatte sie zu bleiben gewünscht? Nein, nach Amerika wollte sie jetzt mit Arthur. Hier durfte sie nicht als Herrin walten. Und auch jetzt keinen Augenblick zu lange an diesem Platze! Es war ihr als riefe Arthur sie bei Namen und sie müsse zu ihm. Und trotzdem, mit diesen Gedanken im Herzen, stieg sie die wenigen Stufen hinan und griff nach der Thürklinke, drückte und fühlte daß sie sich öffnete. Sie wollte nicht und trat dennoch ein in den kühlen Vorplatz. Nicht nur aus ihrer Mutter Erzählung kannte Emmy dieses Haus, Arthur hatte es ihr oft beschrieben. Sie stieg die sich windende Treppe mit dem geschnörkelten Eisengitter hinan. Sie trat oben in einen Saal, hinten hinausgelegen, wo der Tag zwischen den oft zerbrochenen Jalousieleitern überflüssig eindrang um die kahlen Wände zu zeigen, mit unausgeblaßten Stellen wo die Bilder gehangen. Ueberall hin standen die Thüren offen, und deshalb auch wohl, weil das Haus so gar nichts enthielt, schien die Hausthür nicht verschlossen gewesen zu sein. Von einem Raume zum andern schritt sie weiter, hier und da statt der verschwundenen Möbel ein paar Körbe an der Wand stehend, oder Bretter und dergleichen. Eine Thür nur war verschlossen. Sie sah durchs Schlüsselloch: ein Haufen Weizen lag hoch aufgeschüttet zwischen Wänden mit fast farblos gewordenen Tapeten von rothem Atlas. Endlich gelangte sie in ein Eckzimmer mit zwei Fenstern nach verschiedenen Richtungen. Dort der Blick auf den See, hier in den Garten, und zwischen den Fenstern ein Marmorkamin, in dem eine halbzerbrochene japanische Vase stand, noch mit vertrockneten Blumen darin. Ein an der Wand befestigtes kleines Sopha zeigte Reste ehemaligen blauseidenen Bezuges. Das war das Zimmer, sagte sie sich, wo der Vater die Gräfin zum letzten Male sprach. Das die Thür, sagte sie sich weiter, durch die er hinausging. Sie trat hindurch. Sie untersuchte sie und fand die Ritzen, durch die ihr Vater das Licht schimmern gesehen. Und hier muß das Bett gestanden haben, in dem Mr. Smiths Mutter schlief! Gewiß, denn der Fußboden war an dieser Stelle nicht abgetreten. Emmy wollte fort, aber sie

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konnte nicht. Der Schauder, den ihr all dieser Anblick einflößte, hielt sie zugleich fest. Sie setzte sich auf das kleine Canapee nieder als erwarte sie Jemand. Und in der That, sie hörte Schritte näher kommen. Von Raum zu Raum klangen sie stärker. Sie dachte nichts dabei. Da plötzlich sah sie den Mann eintreten, der im Walde vorhin die Enten geschossen hatte. Offenbar erwartete er Niemand hier und wollte rasch durchgehen, hätte sie auch vielleicht gar nicht gesehen, da er mit fast hängendem Kopfe vor sich nieder sah. Dennoch bemerkte er sie, denn erschreckend daß sie zitterte, machte Emmy eine kleine Bewegung. Ohne die Schritte innezuhalten, sie mäßigend jedoch, zugleich aber den nun wieder stolz aufgerichteten Kopf entblößend und eine leichte Verbeugung machend, begleitet von einer Handbewegung als wollte er sagen, man möge sich in seinem Hause ja nicht stören lassen, ging er langsam durch die andere Thür wieder hinaus und seine Schritte verhallten allmählich wie sie vorhin gekommen waren. Emmy wußte nicht wie ihr zu Muthe war. Hatte sie die Ueberraschung eben nur so erschüttert, oder war es der Anblick des Mannes zugleich? Sein Gesicht stand ihr noch vor Augen. Eine Hohe Stirn, ein feines Lächeln um den Mund, eine gewisse steife Grandezza in seinem Wesen. Und dabei etwas bekanntes in ihm, als hätte sie ihn vor langer Zeit schon gesehen. Sie verließ das Haus. Nie mehr über diese Schwelle! sagte sie als sie die Stufen hinabstieg und zur Försterwohnung zurückging, vor der das Wasser des See's das rothe Feuer der untergehenden Sonne spiegelte.

Einundvierzigstes Capitel. Auf dem Wege vom Schlosse zum Forsthause war Emmy dem Förster und dem ersten Inspector begegnet, die langsam nebeneinander hergehend, als sie Emmy kommen sahen beide, ihr Gespräch unterbrachen und ehrerbietig grüßend zur Seite traten. Die Mutter ist eine Frau die ihre Sache versteht, sagte der Inspector, Emmy nachblickend, die leicht und sicher unter den hohen Bäumen dahinging, bald vom Schatten der breiten Stämme verdunkelt, bald wieder von der seitwärts zwischen ihnen hindurchquellenden Abendgluth angeleuchtet. Die Frau, fuhr er fort, sah sich die Baulichkeiten nur einmal so flüchtig durch, und hatte sofort heraus, daß der Schafstall nächstes Jahr herunter muß. Unsere Pflüge gefallen ihr auch nicht, und sie beschrieb mir einen, der allerdings tiefer gehen mag. Sie will gleich ein halbes Dutzend kommen lassen aus Amerika. Jetzt aber sagen Sie, Herr Inspector, erwiederte der Förster und sah sich um, was soll aus dem Menschen im Walde werden? Heute morgen hat er dem Grafen dicht vor der Nase in die Enten geschossen und dann geht er mit zwei Stück in der Hand ruhig an ihm vorüber und grüßt nicht. Das wird sich, sagte der andere, sehr einfach lösen. Der Unfug wird, sobald der Graf erst hier sitzt, polizeilich abgestellt. Ja, ja, ja, ja, sagte der Förster und kratzte sich die Mütze über dem einen Ohr in die Höhe. Richtig, da hat ihn das Unglück! rief er dann, zugleich aber die Stimme mäßigend; und, in der That, der Mann aus dem Walde kam den Weg entlang ihnen nach, und mußte sie, da er rasch ging, bald einholen. Unwillkürlich traten Förster und Inspector auch diesmal ein wenig zur Seite, obgleich hinlänglicher Raum war, um sie herum zu gehen. Dann aber, eben als ärgere ihn diese unnöthige Deferenz, that der Inspector als der Mann sie bereits eine kleine Strecke im Rücken hatte, einige stärkere Schritte ihm nach und rief: Hören Sie! Der Angeredete blieb stehen und ließ die Leute herankommen. Ich wollte Ihnen nur mittheilen, sagte der Inspector — Man nimmt die Mütze ab wenn man mit mir redet, sagte der Mann und sah in fest an. Sonderbarerweise gehorchte der Inspector diesem Gebot, indem er die Mütze wenigstens leicht lüftete, nahm sich sogleich aber wieder zusammen. Ich wollte Ihnen

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nur mittheilen, daß in den nächsten Tagen der Herr Graf hier wieder Besitzer sein wird, und daß, wenn dann fortgefahren wird auf seine Enten Jagd zu machen, die Sache eine unangenehme Wendung nehmen könnte. Hat Sie der Graf beauftragt, mir das zu sagen? fragte der Mann und seine Augen funkelten auf wunderliche Weise. Der Graf wird Ihnen dann schon Jemand schicken der Ihnen das Nöthige klar macht, antwortete der Inspector. Von welchem Grafen reden Sie überhaupt? fragte der Mann jetzt mit einem Accente der dem Blitzen seiner Augen entsprach. Der Inspector wollte antworten, wurde von dem Förster so empfindlich aber in die Seite gestoßen, daß es seine Wirkung that. Nachdem man eine Weile in erwartungsvollem Schweigen dann sich gegenübergestanden, trat der Förster zu dem Manne dicht heran und sagte leise und sanft: Bitte, bitte, gehen Sie! Warum auch reizen Sie den armen Menschen? wandte sich der Förster zu dem Inspector als sie wieder allein waren. Sie riskiren daß er Ihnen bei solcher Gelegenheit einmal eine Kugel durch den Kopf schießt ohne sich um die Folgen zu kümmern. Hat gute Wege jetzt, lachte der Inspector. Der Graf und seine Damen sehen mir nicht so aus, als würden sie sich auf diese Wirthschaft länger einlassen. Der Graf ist immer ein gutmüthiger Herr gewesen, versetzte der Förster. Ja, aber einer der eben aus Böhmen kommt, wo man Leuten die mit Flinten herumliefen wo sie nicht hingehörten, Dutzendweise aufgehangen hat ohne viel Federlesens. Und obenein, wenn er hinter die Narrheiten dieses Menschen erst gekommen sein wird. Der Förster erwiederte nichts darauf. Der Inspector ging nach der Oekonomie zurück und der Förster seinem Hause zu. Kaum hatte er zwanzig Schritte so gethan als er den Grafen rasch auf sich zukommen sah. Sagen Sie, Förster, was hat es mit dem Menschen auf sich? rief Arthur. Mit welchem Menschen, gnädiger Herr? erwiederte der Förster, der freilich wußte wer gemeint sei. Mit dem der mir heute im Walde und eben wieder hier in der Allee begegnet ist. Wo kommt er her? Was hat er hier zu suchen? Wie heißt er? Herr Graf, sagte der Förster, der Mensch ist der Sohn von dem Kammerdiener des seligen Herrn Vaters, von dem Leonhardt, wenn Sie sich erinnern vielleicht? — Arthur erinnerte sich dunkel an Leonhardt. Tropfenweise nun brachte er aus dem Förster folgendes noch heraus. Leonhardt habe vom Herrn Grafen niemals die Erlaubniß erhalten können, zu heirathen; — es müsse das dem Herrn Grafen wohl nicht bequem gewesen sein; — nun habe Leonhardt mit einem Mädchen aus dem Dorfe zusammen gelebt; — und ihr Sohn sei der Mensch nach dem Arthur frage; — der selige Herr Graf habe Leonhardt dann versprochen, für seinen Jungen zu sorgen; — dieser sei darauf auswärts in eine Schule gethan worden; — all das sei lange vor der Verheirathung des Herrn Grafen geschehen; — wenn der Junge aufs Gut herausgekommen sei, hätten sich die Leute damals schon über seinen Hochmuth verwundert; — auch seine Mutter, für die der Herr Graf gleichfalls gesorgt, sei so hochmüthig gewesen; — man habe allerdings im Dorfe gemunkelt, daß Leonhardt nicht der Vater des Jungen gewesen sei; — es wären auch jetzt eine Menge Leute im Dorfe, die nicht daran glaubten; — eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Herrn Grafen sei nicht abzuleugnen; — das möge wohl allein Ursache gewesen sein, an der Einbildung des jungen Menschen sowohl, als an dem Geschwätz; — auch die Mutter des Menschen habe manchmal wunderliche Anspielungen gemacht; — die junge Frau Gräfin habe nichts davon gewußt, das wisse er; — auch den Jungen nie gesehen; — lange habe man dann gar nichts von ihm gehört auf dem Gute, bis er nach dem Tode des Herrn Grafen plötzlich wieder erschienen sei; — er habe den Leuten jetzt erzählt, er sei der Sohn des Herrn Grafen und einzig berechtigter Herr hier, da man das Gut ohne ihn zu fragen verkauft habe; —

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er behaupte, eines Tages als Herr hier auftreten zu können, wenn nur erst die Verhältnisse geordnet wären; — jedenfalls scheine er nicht ganz richtig in seinem Kopfe zu sein; — er habe sich in dem kleinen Jagdpavillon, den Arthur ja kenne, im Walde einquartiert; — er habe auch eine Menge Bücher da oben und sitze oft im Walde und lese; — die Leute grüßten ihn alle und er rede sehr herablassend mit ihnen; — man bringe ihm oft Essen, auch schieße er zuweilen, liefere ihm, dem Förster, aber jedes Stück ab, und sage er sei kein Wildprethändler: er schieße nur weil das Wild sein Eigenthum sei und es ihm die Zeit vertreibe; — oft komme er herunter, sitze bei ihm, rede verrücktes Zeug und gerathe in furchtbare Wuth wenn man ihm widerspräche; — doch sei er im Ganzen ein sehr guter Mensch, alle Kinder liebten ihn und wenn Jemand krank sei, kurire er die Leute und wache oft Nächte bei ihnen. Und das alles umsonst; — das schlimmste aber sei.... hier jedoch stockte der Förster und blieb, als Arthur drängte, dabei, er habe nichts weiter sagen wollen. Arthur empfing diese Antworten auf eine Reihe von ihm gestellter Fragen mit ziemlicher Gleichgültigkeit. Seine Pflicht war: zu constatiren ob der Mensch in der That der Sohn seines ehemaligen Vaters sei, woran er nicht zweifelte. Bewahrheitete es sich, so ging seine Absicht dahin, ihm den gesammten Nachlaß, soweit er nicht von seiner Mutter stammte, zukommen zu lassen oder zu erstatten. Gewißheit hoffte er von dem Direktor der Schule zu erlangen, dessen Name sich aus den aufgefundenen Briefen ergab und den er am folgenden Tage aufsuchen wollte. Im Uebrigen stand ja fest, daß er selbst das Gut nie Wiedersehen würde und Deutschland für die ersten zehn Jahre wohl auch nicht. Er wollte, dachte er sich, Jemand beauftragen, der den armen Menschen im Auge behielte. Ein inniges Mitleid hatte ihn erfaßt, er war entschlossen zu thun was in seinen Kräften stand. Dies seine Gedanken als er mit dem Förster bei dessen Hause wieder ankam, wo die Damen ihn bereits im angespannten Wagen erwarteten. Leute aus dem Dorfe hatten sich da eingefunden und grüßten ihn, einige verlegen, einige mit Herzlichkeit, andere, mit den Händen in den Taschen ferner stehend, gar nicht. Noch einmal flog das Schloß mit den zerbrochenen Läden an ihm vorüber, während Emmy nach der anderen Seite in die Bäume sah. Und nach Hause ging es rasch durch den dämmernden Wald, der wie eine stumme Gesellschaft zurückblieb, die Jahrelang nun vergeblich auf seine Wiederkunft zu warten hatte, Arthurs Gedanken nach. — Anders jedoch dachte Mrs. Forster. Am nächsten Morgen sehen wir ihre Equipage am Rande des Parkes vor der Stadt hinfahren und bei einem der elegantesten Landhäuser dort halt machen. Dort war es wo der jetzige Inhaber des Gutes, sammt seinem Vater, sich einen Familiensitz erbauen ließ, den er seit Kurzem bewohnte. Auf eine hineingesandte Karte brachte der Diener die Versicherung zurück, der Herr Baron werde sich glücklich schätzen die gnädige Frau zu empfangen. Ueber Marmorstufen mit ächten Teppichen belegt, überall das Wappen der Familie geschmackvoll in Bronze an Thürgriffen oder bei anderen Gelegenheiten angebracht, gelangte Mrs. Forster ins erste Stockwerk, wo sie den Baron mit seinem Vater antraf. Beide Herren stellten sich ihr als Vater und Sohn vor. Ueberraschend war allerdings ein ziemlicher Mangel an Aehnlichkeit zwischen ihnen. Mit einem bedeutenden Aufwand leicht flüssiger Beredsamkeit versicherte der jüngere Baron darauf, wie er sich glücklich fühle, das Gut gleichsam nur auf einige Jahre in Verwahrung genommen zu haben, um es genau gegen den Preis für den es übernommen worden sei, dem früheren Besitzer zurückzugeben. Der ältere Baron, der bis dahin geschwiegen, begann als er das letztere hörte, stark zu husten und verließ das Zimmer, erschien dann plötzlich wieder an der Thür und bat seinen Sohn die gnädige Frau zu fragen ob er sie auf einen Moment allein lassen dürfe. Mrs. Forster verneigte sich. Aber mein lieber Junge, rief er aus, nachdem er seinen Sohn in ein drittes Zimmer geführt, ich weiß wahrhaftig nicht, warum Du diesen Leuten nun gar das Geld so zu sagen vor die Füße wirfst?

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Wenn ich es werfen will so kann ich es werfen, erwiederte höchst kaltblütig sein Sohn Guido und sah erstaunt diesen Eingriff des Adoptivvaters in seine Geschäftstätigkeit an. Aber sehen Sie denn nicht, Baruch, rief jetzt der Baron, - daß diese Frau das Doppelte bezahlen würde, wenn Sie es verlangten? Ich heiße nicht Baruch, antwortete der Sohn nicht ohne eine gewisse Würde, und sage Ihnen daß dies Dinge sind, von denen Sie nichts verstehen. Der jüngere Baron hatte sich nämlich im letzten Kriege an den Lazarethanstalten auf das freigebigste betheiligt, war mit Lebensmitteln bei der Armee gewesen, hatte bei dieser Gelegenheit sogar persönliche Gefahren erlebt, in denen er sich unter allgemeiner Anerkennung sehr kaltblütig und couragirt benommen, und fühlte sich durchaus in seinen neuen Rang hineingewachsen. Wie so nichts verstehe? schrie der ältere Baron in höchster Gereiztheit. Ich will Ihnen etwas sagen, hören Sie, sagte der Andere. So gut wie ich Ihr Sohn jetzt bin, für mein gutes baares Geld, und Sie mein Vater sind, für mein gutes baares Geld, und ich gegen Sie wie gegen Jedermann stets meinen Verpflichtungen nachgekommen bin mit meinem guten baaren Gelde, und obenein gelegentliche Schulden für Sie bezahle, einzig und allein weil ich Lust habe, und Sie meine Equipage benutzen, was gar nicht ausgemacht war, ebenso gut kann ich dem Grafen das Gut schenken wenn ich will, und würde es ihm schenken, wahrhaftig, wenn er es nehmen wollte. Was? krächzte der Baron. Ja wohl, wenn es mir Vergnügen machte. Ich weiß besser was meinem Stande zukommt, den ich theuer genug bezahlt habe. Ich werde nichts kaufen, wo ich nicht weiß was es mir für Verpflichtungen auflegt. Dazu bin ich viel zu vorsichtig und viel zu reell. Und ich sage Ihnen: es schickt sich nicht für einen Baron wie ich bin, wo es sich um ein gräfliches altes Stammgut handelt, auch nur ein halbes Procent Provision zu nehmen, und wenn ich fünfzig Procent verdienen könnte, nähme ich sie nicht. Es soll nicht heißen, ich triebe Handel mit Gütern. Und nun lassen Sie mich mein Geschäft abschließen, Sie leiden nicht darunter. Während der Baron puterroth dastand mit beiden Händen in den Taschen, in deren einer sich der Hausschlüssel, in der anderen eine Anzahl Goldstücke befand, die ihm sein Sohn gestern erst generös genug ausgezahlt, ging Guido wieder zu Mrs. Forster hinüber, entschuldigte sich, (es habe sich um Familien-Angelegenheiten gehandelt), entwarf auf einem englischen Briefbogen den Kaufkontrakt, Unterzeichnete, empfing Mrs. Forsters Anweisung, und versicherte, nichts würde ihm eine größere Freude sein, als sich später einmal draußen in Person überzeugen zu dürfen daß alles in gutem Stande zurückgeliefert sei wie er es übernommen habe. (An die fünfhundert Stämme verkauftes Eichenholz erinnerte er sich in diesem Augenblicke nicht.) Als sich Mrs. Forster dann empfahl, gab er ihr den Arm die Treppe hinunter, wobei er im Durchgehen der Zimmer bemerkte, wie dies und jenes in Paris gearbeitet und von ächtem Silber sei, während er von einem Gemälde sagte, daß er es für 48,000 Francs in Belgien auf der Auction gekauft, gegen 47,600, welche ein Londoner Haus geboten, und daß ein berühmter Künstler, der kürzlich zum Diner bei ihm gewesen, — es fänden öfters bei ihm Diners von Künstlern und Gelehrten statt — dasselbe für eine Perle erklärt. Mrs. Forster nahm das mit dem schicklichen höflichen Erstaunen entgegen, ohne einen Blick auf die Dinge zu werfen. Sie hatte ihr Papier endlich in der Tasche, und dachte nur an Arthur. Indem dieser aus ihren Händen jetzt das Dokument empfinge, durch welches er zum wiedereingesetzten Herrn seines alten Eigenthums erklärt ward, sollte er zugleich das hören, ohne dessen Kenntniß Emmy seine Frau nicht werden durfte. Um alle Debatten über einen Entschluß, den, wie Mrs. Forster fühlte, absolut nichts ändern konnte, abzuschneiden, war sie jeder Erwähnung der Sache bisher geflissentlich aus dem Wege gegangen, hatte sich sogar den Anschein gegeben als denke sie gar nicht mehr daran. Endlich war der Moment gekommen, wo sie sich die Genugthuung gewähren

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konnte, das letzte was sie im Leben noch fordern zu dürfen glaubte. Sie meinte, ein Mann wie Arthur, von dem sie in der That eine täglich wachsende Meinung hegte, könne sich nicht anfechten lassen durch die Nachricht, er sei das eheliche Kind seines Vaters und seiner Mutter. Warum, wenn er früher zu großen Werth darauf gelegt, sollte der Stolz auf eine hohe Geburt jetzt nicht das richtige Maß annehmen? Alles sprach für diese vernünftige Voraussetzung. Mrs. Forster unterschätzte die Vortheile einer edlen Geburt nicht. Sie selbst hatte ihrer Zeit, als die Tochter einer der ältesten vornehmsten Familien Amerika's, einen deutschen Flüchtling geheirathet, und an sich die Folgen einer in ihrer Verwandtschaft nur schwer verziehenen Mesalliance durchgemacht. Jahre hatte es bedurft, um diesen Unterschied auszugleichen. Dem vollen Aufwande ihrer geistigen Kraft und Forsters ausgezeichneten Eigenschaften war es in den ersten Zeiten allein zu verdanken, daß sie sich in all den kleinen unsichtbaren Schlachten aufrecht erhielten, in denen man angegriffen ward, ohne den Feind oft nur zu sehen, geschweige denn selbst attaquiren zu können. Jetzt nun stand Emmy im Begriff einen ähnlichen Schritt zu thun. Zweierlei mußte ihrer Mutter Ansicht zufolge geschehen: erstens, Arthurs Rang in New-Jork genügend geltend gemacht, dann aber, was sie selbst und Emmy betraf, in Deutschland eine Stellung angenommen werden, die ihre Tochter nicht bloß als reiche Partie und weiter gar nichts erscheinen ließ. Mrs. Forster hatte zu viel erlebt, um nicht zu wissen, wie wenig Adel und hoher Rang oft werth sind; zugleich aber auch: wie viel sie wiederum oft bedeuten. Erwins Absichten indem er auf seinen Rang renoncirte, hatte sie begriffen. Arthur aber in Amerika als Mrs. Arthur auftreten zu lassen, während die NewJorker Verwandtschaft doch sogleich erfahren hätte wer er sei, wäre den wunderbarsten Vermuthungen und Geschichten Thür und Thor aufsperren gewesen. Niemand hätte Vernunft darin gesehen, daß Emmy, halb deutsch bereits ihrer Natur nach, einen Deutschen heirathete, der, statt zu Hause seine natürlichen Vortheile geltend zu machen, in New-Jork als geschäftsloser Privatmann lebte. Denn daß Arthur niemals im Sinne ihres verstorbenen Mannes ein Amerikaner werden würde, sah Mrs. Forster wohl ein. Man würde geglaubt haben, ein versteckter Skandal halte ihn von seinem Vaterlande entfernt. Und deshalb: Arthur sollte bleiben wo er war, und Emmy als seine Frau eine ihrer würdige Stellung einnehmen. Und deshalb begann Mrs. Forster damit, Arthurs altes Gut zurückzukaufen, während sie für sich und Emmy über ein anderes bereits in Unterhandlung stand, sowie über ein Haus in der Stadt, das sie während des kommenden Winters con amore einzurichten gedachte. Arthur würde sich dann als vornehmer Privatmann eine Stellung zu machen suchen. Die nächste Zukunft bot hinreichende Gelegenheit politisch aufzutreten. Und dies, meinte sie, jetzt zu hören, und nebenbei zu vernehmen man sei der ehrliche Sohn seiner Eltern, müsse Angesichts einer so glücklichen Zukunft, einem starken jungen Manne, der bei Sadowa mitgekämpft hatte, nicht anders als sehr erwünscht sein. Solche Erwägungen waren es welche Mrs. Forsters Gedanken füllten während sie zu Arthur unterwegs war, den sie gebeten hatte, sie zu bestimmter Zeit am heutigen Tage bei sich zu erwarten. Als Arthur und Emmy an diesem Morgen zusammen saßen und ihre Reiseroute besprachen, waren Schloß und Wald und See und der Mann mit den Enten völlig vergessen. Arthur hatte Karte und Reisehandbücher vor sich, und debattirt wurde, ob man über den Brenner oder den Gotthardt nach Mailand ginge. Ein Paquet erschien. Emmy's Reisekleid darin, das morgen nach der Trauung gleich angelegt werden sollte. Man trug es auf ihren Befehl rasch ins andere Zimmer: Arthur mußte damit überrascht werden. Emmy knotete an den Schnüren eines Paares englischer Stiefelchen von hellgelbem Juchtenleder mit dicken eisen-beschlagenen Sohlen, das sie hinter einem Schaufenster bewundert und heute Morgen in der Stube vorgefunden hatte. Was so ein festes, unverwüstliches Stück Lederarbeit beruhigende Gedanken erweckt, sagte sie. Man meint, nichts könne zerreißen und alles sei dauerhaft wie das. Dann die Sohlen betrachtend, fielen ihr die Berge der Schweiz ein. Ein paar Tage wollten sie in Luzern verweilen, das war ausgemacht. Sie sah sich mit Arthur da herumsteigen. Sie

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meinte die frische Luft von dort schon einzuathmen. Es war ihr als blickte sie aus der Höhe über Felsen und Tannen auf den See in der Tiefe, wo von fern ein Dampfschiff ankam von der Stadt her, deren Häuser wie schneeweiße Punkte durch die lichte Luft sich zeigten. Sie hörte den reinen Wind gehen durch die Tannenäste, sie sah die Wolken nah und greifbar heranschwimmen: — sie hatte das alles erlebt, aber allein, ohne Arthur, jetzt mit ihm zum zweiten Male wollte sie es genießen, mit anderen Athemzügen die Welt einathmend. Arthur! rief sie, und sah ihn strahlend an, woran denkst Du? Sie meinte, er müsse ganz das gleiche vor sich gesehen haben. Am schönsten wäre doch, sagte er, wir ließen Schweiz und Italien und führen gleich nach Mountainville! Was köstlicher, als mit Dir auf dem Schiffe in der Einsamkeit des Meeres? Was köstlicher als der Wald vor Wilsons Hause? Die Welt kommt mir abgetragen und matt vor in Europa, wie ein Bilderbuch, in dem zu viele Hände blätterten. Wie Du willst, sagte Emmy. Laß uns morgen eine Tagesreise ins Ungewisse thun und uns dann erst entscheiden. Du bist dann der Herr, fügte sie hinzu und kannst befehlen. Sie lächelte und ward roth als sie das sagte. Arthur bemerkte dann, es sei Zeit für ihn, zu gehen und allerlei dringendes noch zu besorgen. Emmy glaubte ihm das wohl. Es drängte ihn, den Schuldirector aufzusuchen. Sie trennten sich. Emmy ging in die Nebenstube, wo ihr Paquet lag. Sie öffnete es und faltete das Kleid auseinander. Sie sah es an, sich in Arthur hineinversetzend, was er sagen würde. Zu verlockend lag es da, sie schlüpfte hinein, ein Kleid von brauner Seide; sie betrachtete sich im Spiegel; in vollem Uebermuthe setzte sie nun das Reisehütchen auf, das auch schon dalag, und um die Illusion vollkommen zu machen zog sie Handschuh an und nahm das rothe Reisebuch. So ging sie ein paarmal durch das Zimmer, und plötzlich, sie wußte nicht warum, in Thränen ausbrechend, warf sie das Buch fort und saß da, laut schluchzend ihre Augen mit dem Taschentuche bedeckend. Heraus wieder aus dem Kleide wollte sie, es war als hätte sie, so unschuldig die kleine Maskerade war, ein Glück mit ihr vorweggenommen, das nun unerreichbar sei. Und doch, ebenso schnell als diese Trauer gekommen, ebenso rasch die Tröstung: sie hörte Arthurs Stimme durch das offene Fenster von der Straße hereinklingen. Wie ein Blitz war sie daran und erblickte ihn mit Erwin im heitersten Gespräche unten an der Thür des Hotels stehend. Sie sah die Menschen an ihnen vorübergehen und die Damen alle sich nach den beiden Männern umsehen. Sie begriff es so sehr. Sie hätte ebenso natürlich gefunden, wenn Niemand weiter gegangen wäre, gebannt alle durch Arthurs Anblick. Erwin sah hinauf und grüßte sie zuerst, Arthur sah sie dann auch, und zufälliger Menschen Blicke, die die Bewegungen beobachtet, nahmen dieselbe Richtung an. Arthur verabredete mit Erwin eben, um wieviel Uhr man im Hotel zu Tisch wieder sich treffen wolle. Dann fuhr Erwin in seinem Wagen ab, während Arthur, nach einem Blick noch zu Emmy hinauf, gleichfalls seines Weges ging. Er sah den Leuten unbefangen und glücklich ins Gesicht und überlegte wie er seine Heirath bekannt machen wollte. Ob er sie nicht anzeigen könne als bloßer Mr. Arthur und ohne in Deutschland abzuwarten was man darüber sagte. Kehre ich als Mr. Arthur dann einmal zurück, so mache ich mir das Vergnügen mit Mrs. Arthur die alte Gräfin in Schlesien aufzusuchen, dachte er weiter, wie man Gedanken zuweilen ausspinnt mit der Gewißheit sie doch nicht zur Ausführung zu bringen. Dann aber, je näher er dem Hause des Direktors kam, dessen Wohnung er ausfindig gemacht, begann er sich mehr mit dem Gegenstande seines Besuches zu beschäftigen. Die Idee stieg ihm auf, ob man den Menschen nicht nach Amerika verpflanzen könne, um ihn geistig zu curiren — wie mich, setzte er hinzu. Und wieder andere Gedanken zum Schluß: er kam an dem Hause vorüber, in dessen Hintergebäude er so lange gesteckt. Die Wohnung gehörte ihm noch und die alte Köchin hauste wieder darin. Sie konnte da so lange sie lebte wohnen bleiben inmitten des alten gräflichen Gerümpels. Sollte er einen Augenblick hinaufspringen? Im Thorwege war er schon, als ihm die eingeschlossene Luft des Hofes plötzlich so jammervoll bekannt aus früheren Zeiten entgegenwehte daß er umkehrte. Es überlief

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ihn ein Schauder beinahe. Die Alte konnte ins Hotel kommen und sich dort von ihm und der Gräfin verabschieden. Der Gräfin! Er dachte so und sagte sich selbst sofort: wie wunderlich! Eben noch hatte er von „Mrs. Arthur" phantasirt der alten Aristokratin in Schlesien gegenüber, und nun bei der Köchin kam dann doch in ihm selbst wieder „die Gräfin" zum Vorschein. Arthur war so sehr in der Stimmung, sich den schönen Morgen durch keinen unangenehmen Gedanken stören zu lassen, daß ihm der Gang selber den er vorhatte unnütz und unentbehrlich erschien. Was konnte ihm der Schuldirector groß mittheilen? Gleichgültig wer der Mensch auf dem Gute war, es ließ sich auch ohne die Kenntniß seiner Vergangenheit für ihn sorgen. Arthur wollte nichts trauriges heute hören. Diese Gedanken ließen ihn die Hand sogar zurückziehen, die er erhoben um an des Direktors Thür die Glocke zu ziehen. Doch überwand er sich und was er von dem alten Herrn hörte war schließlich nichts das ihm irgendwie peinliche Gedanken erregte. Es war ein schöner und talentvoller und guter Knabe, berichtete der Direktor. Er ward zu einem unserer Lehrer in Pension gethan. Der Graf introducirte ihn als den Sohn seines verstorbenen Kammerdieners, für den er zu sorgen versprochen. Ich wünschte zu wissen, welcher Karriere er ihn bestimmt habe. Der eines gebildeten Mannes und einstigen Staatsdieners, sagte Ihr Vater. Es solle nichts an ihm gespart werden; es sei seine Absicht den jungen Menschen in die beste Gesellschaft eintreten zu lassen; sein Vater habe sich zwar kein Vermögen erspart, er aber übernehme die Erziehung und fernere Unterstützung im weitesten Sinne. Und so ging die ersten Jahre gut vorüber. Philipp lernte vortrefflich und hatte etwas freies, so zu sagen vornehmes in seinem Auftreten, fast etwas stolzes. Er besuchte bereits die Secunda, als er eines Tages, aus den Ferien, in denen er dem Herrn Grafen der es erlaubt hatte, draußen auf dem Gute einen Besuch gemacht — doch durfte dies nur sehr selten geschehen — in auffallendem Zustande zurückkam. Er schien ganz verändert. Düster, träumerisch, gereizt; nachlässig in seinen Arbeiten von jetzt an und unaufmerksam während des Unterrichts. Ich will Sie nicht mit der Beschreibung des anwachsenden Fortschrittes dieser Zustände ermüden, kurz, es kam zu Scenen, Strafen, Nachforschungen, die zuerst nur zu Ausreden und leeren Versprechungen sich zu ändern, eines Sonntags dann aber, als ich ihn apart nahm und in ihn drang, unter Strömen von Thränen zu völligem, ich kann sagen: hingebendem Vertrauen und zu dem Geständniß führten, er habe aus Erzählungen der Leute im Dorfe als sicher erfahren, daß er nicht der Sohn des Kammerdieners, sondern des Grafen selbst sei. Dieser nämlich hatte seinem Kammerdiener niemals die Heirath gestattet. Philipp war ein uneheliches Kind. Verwandte seiner Mutter, die damals nicht mehr am Leben war, hatten ihm diese neuen Ideen in den Kopf gesetzt. Es gelang mir nicht, ihn zu beruhigen. Das neue seltsame Wesen ward endlich so arg, daß ich es für meine Pflicht hielt mit dem Grafen zu reden. Ihr Herr Vater besuchte mich. Wir sprachen hier auf diesem selben Flecke zusammen. Ich bemerkte ihm, meine Pflicht erfordere nur, ihm die Sache mitzutheilen, um nöthigen Falles für den jungen Menschen, den ich weiter zu leiten nicht im Stande sei, eine andere Stelle zu suchen. Ihr Vater sagte mir darauf Folgendes, nachdem ich ihm in die Hand versprochen gegen Niemanden davon Gebrauch zu machen ohne seine Billigung. Allein Sie sind sein Sohn und Nachfolger, Sie sind großjährig, ich darf, scheint mir, dies Geheimniß Ahnen wie einen Theil der Ihnen gehörigen Erbschaft, als anvertrautes Depositum gleichsam zurückgeben: Der Kammerdiener Ihres Herrn Vaters war ihres Herrn Vater Bruder eigentlich. Seine Mutter eine Bäuerin im Dorfe. Daher das ungemeine Vertrauen welches Ihr Vater dem Manne geschenkt hatte und hinterher die Sorge für seinen Sohn. Nur das eine war nie zugegeben worden: daß Leonhardt sich verheirathete. Die Verwandtschaft sollte ein Ende haben, keine Nebenlinie gleichsam geschaffen werden. Ihr Vater gestand mir, er bereue diese Härte jetzt von Herzen und empfinde daher seine Verpflichtung dem jungen Menschen gegenüber als eine um so größere. Dies sei

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der wahrheitsgetreue Sachverhalt. Niemals aber dürfe Philipp ihn erfahren. Daß derselbe vernünftiger werde, wolle er zu bewirken suchen. Ihr Vater schloß sich darauf mit Philipp ein und sie sprachen eine Zeitlang zusammen. Es schien auch für die erste Zeit gefruchtet zu haben. Allein lange hielt es nicht vor. Immer wieder leuchteten die einmal erweckten Ideen auf und die heftigsten Begegnungen erfolgten. Es kam so weit, daß der Graf seine Hand von ihm abziehen zu wollen drohte, allein er that es nicht. Aus dieser Zeit stammt der Brief welchen Sie mir mittheilten. Ich fühlte mich wie befreit, als endlich, durch Ihres Vaters Verwendung, ein Jahr früher als der gesetzliche Termin war, Philipp die Schule verließ, hörte seitdem nichts wieder von ihm und, ich muß es gestehen, war froh nichts mehr hören zu dürfen. Denn es hatte etwas erschütterndes, vor Augen zu sehen, wie diese reichbegabte, offene, freie Natur unter dem Einflusse eines verderblichen Wahnes, der schließlich doch nur auf Befriedigung von Stolz und Hochmuth hinauslief, schrittweise sich änderte, so daß nichts als Unglück und Verderbniß vorauszusehen war. Herr Direktor, sagen Sie mir offen, bemerkte Arthur, als der Graf Ihnen die Abstammung Philipps darlegte —glaubten Sie ihm?, Der alte Mann zuckte mit den Achseln. Es war zu natürlich daß ihm dieselben Zweifel längst gekommen waren, so sehr auch der Graf die Wahrheit gesagt. Beide drückten sich die Hand und trennten sich. Arthur wandte sich nach Hause um die Mama zu erwarten. Mochte Philipp sein wer er wollte: ihm selber, der von dieser Familie ja nicht einen Tropfen Blut in sich fühlte, konnte das gleichgültig sein. Jedenfalls aber mußte für den Menschen, den ihm die Vorsehung einmal über den Weg getrieben hatte, gesorgt werden. Seine Mittel, dies auf die eine andere Weise zu thun, waren ja nun bald aber so groß, daß er sich über das wie keine Gedanken zu machen brauchte. Dies die klare Rechnung deren Abschluß er in seinem Zimmer auf- und niedergehend herstellte, als der Diener eintrat: der Förster vom Gute sei draußen und müsse den Herrn Grafen selbst sprechen. Nun, Förster? empfing ihn Arthur, dem auch das wieder unbehaglich war, dem Manne von neuem zu begegnen, von dem er im Stillen für immer Abschied genommen. Gnädiger Herr Graf, sagte der Förster, es war gestern doch noch etwas das gesagt werden mußte. Und was? fragte Arthur ungeduldig. Ja, Herr Graf, Sie werden gnädigst verzeihen, es ist ein albernes dummes Gerede, aber es ist am Ende doch besser, Sie wissen es. Denn ehe Sie vielleicht einmal davon hören ohne zu wissen woher es kommt, ist es besser, Sie wissen es gleich. Aber wenn Sie meinen, so kann ich auch ebenso gut stillschweigen. Haben Sie die Güte, mein lieber Förster, sagte Arthur in der Art die er seine Leute dienstlich anzureden gewohnt gewesen, mit einer gewissen kahlen Deutlichkeit jedes Wort betonend, mir ohne jeden Umschweif mitzutheilen, um was es sich handelt. Nun, mit Erlaubniß, der Mensch draußen, der sich für den Sohn des seligen Herrn Grafen ausgiebt, läuft im ganzen Dorfe umher und behauptet, der gnädige Herr Graf, als wie Sie selbst, wären gar nicht der Sohn des seligen Herrn Grafen und das wolle er beweisen. Eine so verdammte, niederträchtige Behauptung — der Förster hatte die Absicht, durch eine ganze Reihe solcher Kraftausdrücke seine Ueberzeugung vom Gegentheil auszudrücken, schwieg jedoch plötzlich, er wußte selbst nicht warum. Arthur war blaß geworden. Das hat er mehreren Leuten also gesagt, die Sie namhaft zu machen im Stande sind, Förster? Dem Müller Schmidt hat er es gesagt, dem Inspector Rühlig, dem — Lassen Sie die Namen nur, unterbrach ihn Arthur. Dafür ist später Zeit. Einstweilen meinen besten Dank. Die Sache eilt ja nicht. Da hier etwas, um zu sehen, was es in Berlin zu essen und zu trinken giebt. Arthur drückte ihm einen Fünfthalerschein in die Hand und der Mann ging. Er hatte vielleicht ein anderes Benehmen erwartet. Arthur las es ihm vom Gesichte ab. Aber er konnte nichts mehr hören über diese Dinge. Es ist hohe Zeit, scheint mir, sich hier fortzumachen, sagte er mit Bitterkeit zu sich selbst. Wenn ich mich nicht beeile, kommt am Ende eine dienstliche Anfrage von

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Regimentswegen, mich über meinen Adel auszuweisen, und irgend ein Zeitungscorrespondent nimmt sich des armen Schlachtopfers im Walde draußen an und schreibt eine Reihe Sensationsartikel darüber, und so und soviel tausend Abonnenten gerathen in Aufregung. Mit unbarmherziger Geschäftigkeit malte ihm seine Phantasie die Scene aus, wie er in Florenz oder Neapel, erfreut einmal wieder eine deutsche Zeitung zu finden, das Blatt in die Hand nähme und den Artikel darin fände und beim Table d'hote das deutsche Publikum darüber sprechen hörte, und wie einer der das Fremdenbuch gesehen, plötzlich den Anderen anstieße und bedeutend ansähe und allgemeines Schweigen entstände. Und dann der Baron, der den Juden Baruch adoptirte, mit welchem Entzücken der von diesem unvergleichlichen Skandal Kenntniß nehmen würde. Hatte er seinen Adel verschachert, so hatte er doch ächtes, probehaltiges Eigenthum verkauft! Was würdest du antworten, fragte es in ihm, wenn dir der Baron entgegenträte? Und wenn die alte Gräfin das Blatt vom Professor erhält und beide in die Worte ausbrechen: Bah! also das das große Geheimniß! Und was verhindert den Menschen draußen, wenn er heute im Dorf laut spricht, nicht morgen hierher zu kommen? Hier bei mir einzutreten? Warum morgen, und nicht lieber heute schon? Da ins Zimmer? Und ich stehe vor ihm wie ein ertappter Dieb, und muß frech sein und ihn als einen Lügner zurückweisen, nur um mich nicht mit Füßen von ihm treten zu lassen! Es ist Zeit, sich davonzumachen aus Europa! Diese Gedanken waren immer peinlicher geworden. Jeder konnte ja morgen schon darum wissen. In die Kirche während der Trauung konnte der Mensch eindringen und ihn beschimpfen. Etwas von der Idee einer Flucht dämmerte in ihm auf: als plötzlich Schritte auf seine Thür zukommen und er, mit Sicherheit erwartend der Mensch vom Gute werde eintreten, auffährt und nach der Thür starrt. Mrs. Forster erschien. Ging, ein wenig erstaunt daß Arthur so unbeweglich blieb und sie dabei wunderlich ansah, auf ihn zu, betrachtete ihn eine Weile und fragte: Nun, warum sehen Sie mich so groß an, lieber Arthur? Meine verehrte Mama, erwiederte er und suchte sich soviel in seinen Kräften stand zu beherrschen, ich bin so zerstreut heute, daß ich unsere Abrede vorhin ganz und gar vergessen hatte, und mir als Sie eintraten wirklich einbildete, es sei irgend etwas besonderes geschehen. Soll Ihnen hiermit verziehen sein also, sagte die Frau und setzte sich behaglich hinter den Tisch nieder, wie man sich zum Spiel oder zum Essen niederläßt. Setzen Sie sich dahin, lieber Arthur, sagte sie. Er gehorchte und erwartete was werden würde. Sah die Frau darauf in die Tasche greifen und ein kleines Paquet Papiere zum Vorschein bringen, die sie auseinanderfaltete, flüchtig durchsah, dann die Hand flach darauf legte, und schließlich Arthur mit so zufriedenem Lächeln anschaute, daß dieser, der die Gedanken an denjenigen, dessen Besuch er eigentlich erwartet hatte, bis zum letzten Augenblicke nicht hatte loswerden können, jetzt endlich sich insoweit wenigstens zu beruhigen anfing, als er einen Aufschub der bevorstehenden Execution annehmen durfte. Mrs. Forster, sah er wohl, hatte nichts im Sinne jetzt, das mit dergleichen im Zusammenhange stand. Mein lieber Arthur, begann diese und blickte ihm mit mütterlicher Zärtlichkeit gerade in die Augen, sehen Sie sich dies Papier an, das Sie vielleicht interessirt. Mich? fragte Arthur und nahm aus ihren Händen die Schrift in Empfang, in welcher der Baron Guido rc. erklärte, daß das dem Grafen Arthur rc. zugehörige Gut rc. an diesen von ihm verkauft worden sei. Lesen Sie, sagte Mrs. Forster. Arthur las. Nachdem er gelesen, legte er den Contract wieder in seine Falten, das Papier dann zwischen sich und Mrs. Forster auf den Tisch, und sah vor sich nieder. Nun? sagte diese nach einer kleinen Weile. Arthur antwortete nicht. Er hatte völlig los zu sein geglaubt von dem Gute, und jede Stunde war ihm zu lang, die er unnütz in Deutschland noch zubrächte. Er wollte fort. Und mit einem Schlage hing ihm dieses Gewicht plötzlich wieder an. Was war ihm das Gut noch werth? die Erinnerung schon eine zu große Last für ihn.

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Nun? fragte Mrs. Forster von neuem. Liebe Mama, begann Arthur, meine und Emmy's Ansicht war nicht, hier, überhaupt nicht in Deutschland und Europa, zu wohnen, uns vielmehr loszulösen so viel als möglich. Sie wissen, setzte er zögernd hinzu, denn niemals war ihm unerträglicher auf diese Dinge wieder einzugehen als im jetzigen Augenblicke, daß ich den Namen, den ich führe, zu führen das Recht nicht habe. Bin ich in dieser Sache einstweilen auch nur mein eigener Richter, so ändert das nichts. Ich mag nicht auf etwas basirt sein gesellschaftlich, das mir nicht zukommt. Und dies um so weniger, als ich über Adel und was damit zusammenhängt, andere Ansichten gewonnen habe als die früher gehegten. Wirklich andere? fragte Mrs. Forster jetzt und streckte ihm die Hand entgegen. Zweifeln Sie daran? fragte er und drückte sie ihr lächelnd, denn er hoffte, Mrs. Forster werde auch jetzt, nachträglich noch, auf seine Ideen eingehen und ihn gewähren lassen. Nein, ich zweifle nicht daran! rief sie; und damit Sie sehen, wie fest ich darauf vertraue, sollen Sie jetzt etwas hören, das Sie mehr überraschen wird als was Sie jemals gehört haben. Arthur überlief ein leichtes Zittern bei dieser Eröffnung. Mein lieber Arthur, fuhr Mrs. Forster fort, Sie glauben nichts zu wissen von Ihrer Herkunft? Sie halten einen unbekannten Menschen für Ihren Vater — Sie haben das alles in Ihrem Briefe geschrieben. Wenn nun Jemand im Stande wäre, Ihnen Mittheilungen, und zwar ganz unumstößliche zu machen über diesen räthselhaften Unbekannten, Mittheilungen durch Briefe Ihrer Mutter selbst zu belegen, so daß gar kein Zweifel bleibt, und zwar durch Briefe die in meinem Besitze sind —? Sie waren während dieses Gespräches aufgestanden und im Zimmer langsam auf und nieder gehend endlich auf den Balkon getreten, auf den der Wind die letzten Blätter der großen Pappel herüberwehte, die zwischen den Häusern da mit ihrer Spitze endlich in die freie Luft avancirt war. Arthur, als er Mrs. Forsters Worte hörte, fing an mit beiden Händen die Balustrade des Balkons zu erfassen. Er mußte etwas Festes in Händen haben, däuchte ihm. Wer ist im Stande mir diese Nachrichten zu geben? fragte er als die Frau nicht weiter sprach. Sie hatte gefragt sein wollen. Ich, lieber Arthur! sagte sie nun. Dieser Unbekannte, begann sie von neuem, hat Ihre Mutter geliebt und ist von ihr geliebt und dann mißhandelt worden, was sie freilich bitter bereute. Diese Leidenschaft aber fällt in die Zeiten vor ihrer Ehe, und dieser Mann ist so sicher Ihr Vater nicht, als Emmy nicht Ihre Schwester ist. Denn sein Name war Forster, und er war mein Mann, und Emmy ist sein Kind. Und die Briefe, die das belegen, neben dem was er mir selbst gesagt hat — und niemals ist eine Lüge über seine edlen Lippen gekommen — werden Sie morgen im Hotel bei mir lesen, oder können sie mit auf die Reise nehmen. Und was Sie selbst anlangt, so sind Sie der ächte Erbe Ihres Namens, und nichts treibt Sie mehr aus Deutschland fort, und keiner gemachten Theorien bedürfen Sie mehr um glücklich zu sein. Nichts gesunder als die Wahrheit, das ist mein Wahlspruch gewesen so lange ich im Leben drinstehe. Und als Arthur nichts thut als sie schweigend ansehen, beginnt sie nun doch in großen Zügen zu erzählen was, zwischen Forster und Arthurs Mutter vorgefallen war. Arthur scheint zuzuhören. Seine Augen beginnen sich wie zu erhellen von innerem Lichte, ein wunderbares Lächeln überstiegt ihn, er athmet weit auf, reckt sich empor und steht da. Nicht wahr, es ist besser so, als das Versteckspielen von früher? sagt Mrs. Forster und sucht nach seiner Hand, um sie noch einmal zu drücken, was Arthur geschehen läßt. Sie beginnt zu empfinden, Arthur wolle allein sein weil er sich fassen müsse. Deshalb sagte sie noch einmal: hier der Contract! — sie tippt mit dem Finger darauf —; um fünf Uhr sehen wir uns beim Essen, wenn Sie nicht etwa früher kommen. Nickt ihm zu und verläßt, im Gefühle Recht gethan zu haben, das Zimmer.

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Arthur sah ihr nach, wie man einer Fliege nachsieht die von einem Ende des Tisches nach dem andern spaziert: man folgt ihr mit den Augen ohne sich im mindesten etwas dabei zu denken. Mit untereinandergeschlagenen Armen, rückwärts gegen den Tisch gelehnt, stand er da, sah zu Boden vor sich und nickte leise, wie im Takte zu einer inneren Melodie. Schon einmal hatte er so gestanden, in einem Momente der viel bedeutete. Und wieder lauschte er in sich einer Stimme, die wie aus fremder Macht in ihm sprach und ihm Gedanken zuflüsterte. An die furchtbare Beschämung dachte er, unter deren Druck er bisher umhergegangen; bis sie im letzten Momente ihn beinahe wie einen flüchtigen Verbrecher davongetrieben; wo Jeder das Recht gehabt hätte ihn anzuhalten und zu fragen, mit welchem Rechte er seinen Namen führe —: — jetzt aber durfte er die Stirn hoch tragen wieder, und der sollte kommen der seine Geburt anzuzweifeln wagte! Hund! rief er und dachte an den Menschen draußen, der den Bauern von seiner unehelichen Geburt zu sprechen gewagt. Weiter aber: der Gräfin sah er sich jetzt gegenüber, sah sie in ihrem pompösen Hochmuthe dastehen und vernahm noch einmal den Umschlag des Accentes mit dem sie ihn angeredet, den höhnischen Ton mit dem sie ihn Graf genannt. Wen denn besseres hätte sie nun doch finden können, um Josephine einen ebenbürtigen Gemahl zu geben? Und Josephine selbst erblickte er jetzt! Schön und vornehm, wie sie war! Seine Geburt, hatte ihm die Gräfin gesagt, sei werthvoll genug, um die Millionen ihrer Enkelin aufzuwiegen. Arthur lächelte als er es dachte. Josephine stand vor ihm und blickte ihn an! Gar nicht daß ihr Anblick sein Herz bewegt hätte: das schien ganz todt — dennoch erblickte er sie, und sich als Herrn ihrer Besitzungen neben ihr! Alles überhaupt todt oder schlafend in ihm, nur ein ungeheurer Stolz lebendig, der wie ein losgelassenes Pferd im Kreise umherjagte, von Lichtern und Menschenblicken und dem leisen teuflischen Klang dessen, der in der Mitte mit der Peitsche stand, rasend gemacht. Er wollte eine Stellung einnehmen im Lande — bei Hofe — dem Volke gegenüber. Er wollte den Glanz seines alten Namens neu auffrischen. Niemand solle mehr wagen dürfen, seines Vaters in unehrerbietiger Weise auch nur zu gedenken. Die ganze Handlungsweise des Mannes war plötzlich eine andere geworden in seinen Augen. Forster ein Aventurier, den man mit Recht aus dem Hause gewiesen! Seiner Mutter Neigung eine flüchtige Jugendthorheit! Emmy -ja, Emmy! der Name endlich gab ihm die Besinnung wieder. Plötzlich alle Lichter aus im Circus! Mitten im Karriere hält das Thier inne, steht und sieht sich um. Und so all jene Gedanken mit einem Schlage ausgelöscht bei Arthur. Er blickte auf und sah umher. Da lag der Contract auf dem Tische. Er setzte sich vor ihm nieder. Was war denn geschehen? Hatte er nicht eben noch als Mr. Arthur mit Emmy nach Amerika flüchten wollen? und jetzt war er wieder ächter Graf und Herr des alten Familiengutes und hatte von Josephine geträumt und ihren und seinen sechszehn Ahnen? Klar ward ihm was in seiner Seele vorgegangen war. Mit einem Sprunge eilte er zur Thür und schob den Riegel vor, denn Erwin oder Emmy oder deren Mutter konnten eintreten — und kein Versteck verborgen genug, um sich in dieser Erniedrigung seines Herzens vor ihren Blicken zu verbergen. Würde Emmy ein einziger Blick nicht sagen jetzt, welche Treulosigkeit er gegen sie begangen? Hätte er den Muth, zu leugnen? Zu schändlich seine Verrätherei, als daß sie ihm nicht an der Stirn zu lesen sein müßte. Und jetzt kehrte Emmy's Bild in vollem Glanze ihm zurück, wie er sie eben kaum verlassen; ihre Schönheit, ihre Treue, ihr Vertrauen; und all das war ausgelöscht gewesen aus seinem Gedächtnisse, und Josephine war sein erster Gedanke gewesen! Er saß wieder da, stützte das Kinn in die Hand, schüttelte manchmal mit dem Kopfe und stieß ein paar lachende Laute aus. Mit ironischer Schärfe zerlegte er sich vor sich selber. Und wenn er sich in seiner ganzen Erbärmlichkeit langsam so zusammengesetzt, wie ein Kind ein Geduldspiel, warf er die Stücke wieder durcheinander und begann von neuem.

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Und nun, sagte er mit schneidender Ironie sich selbst endlich, ein würdiger Schluß: Emmy weiß ja von nichts! Morgen ist ja die Hochzeit. Was brauche ich ihr denn freiwillig meine elende Schwachheit zu verrathen? Wir können ja nun einen gräflichen Haushalt hier anfangen mit Wappen und Vorstellung bei Hofe. Können ja der Gräfin in Schlesien unsere Karten senden und persönlich hinterher Visite machen. Und mein sauberer Bruder draußen wird statt meiner womöglich nach Amerika exportirt. Und ich habe die Freude, mit der Zeit all die übrigen Eigenschaften meines seligen, nun wieder richtigen Vaters in mir durchbrechen zu sehen, und bin mit fünfzig Jahren ein hochmüthiger, hartherziger Aristokrat wie er, nur daß ich die Schwäche meiner Mutter noch obenein übernommen habe. Er lachte wieder, jetzt aber anders als vorhin. Denn indem er sich die Möglichkeit dieser Zukunft dachte, empörte sich etwas in ihm mit solcher Gewalt dagegen, daß er fühlte: niemals solle und könne das sein. Und zugleich aber indem er das nun einsah, fiel seine ganze Zukunft: Glück und Emmy und alles was ihm theuer war, todt zusammen vor seinen Augen, und eine Verzweiflung bemächtigte sich seiner, die um so stärker war, als er älter und erfahrener als zwei Jahre früher, mit ganz anderer Klarheit sich der wahren Lage der Dinge bewußt gegenüber sah.

Zweiundvierzigstes Capitel. Mrs. Forster fragte im Vorbeigehen nach Erwin. Es war gerade die Zeit wo er auf einen Moment zu Hause zu kommen pflegte, um einen Bissen zum Frühstück zu nehmen und nachzusehen, ob etwa nach ihm gefragt worden sei. Nun, mein lieber Doctor, trat Mrs. Forster ein, alles in Ordnung. Erwin, welcher dies für eine ganz allgemeine Bemerkung hielt, gab ebenso allgemein seine Befriedigung darüber zu erkennen. Hätten Sie mich von Anfang an gewähren lassen, fuhr sie fort, so hätte Arthur seit Wochen bereits gewußt was er jetzt weiß und wir uns sämmtlich wohler dabei befunden. Was? was weiß er? fragte Erwin über sein Notizbuch hin, in das er einige Bemerkungen eintrug. Daß er seines Vaters richtiger Sohn ist und nebenbei das Gut ihm auch wieder gehört. Beides abgethan. Erwin streifte das Gummiband um sein Büchelchen, warf es in seinen Hut und nahm einen Stuhl, auf dessen Lehne er sich stützte. Verzeihen Sie, sagte er, ich war nicht ganz bei der Sache; Arthur weiß das alles? Woher denn? Von mir, antwortete Mrs. Forster. Und seit wann? Ich komme von ihm. Und wie nahm er die Sache auf? Wie ich mir von Anfang an gedacht, daß er thun würde. Wissen Sie, lieber Erwin, fügte sie hinzu, was die Behandlung von Männern anlangt, da finden die Frauen bei all ihrer gewöhnlichen Blindheit manchmal doch ein Körnchen. Nun, ich gebe meinen Segen dazu, sagte Erwin, worauf Mrs. Forster sich verabschiedete. Was Emmy anlangt, sagte sie im Fortgehen noch, so mag Arthur selbst ihr die Neuigkeit mittheilen. Sie wissen, sie betrachtet ihn ganz als ihr Eigenthum beinahe, und ich würde vor Zeiten vielleicht an ihrer Stelle meiner Mutter auch übelgenommen haben, wenn diese mit meinem Manne einen Tag vor der Hochzeit eine so bedeutende geistige Operation vorgenommen hätte ohne mich zu fragen. Eifersucht vererbt sich. Sie lachte und Erwin mußte ihrer, nun wieder frischen und stattlichen Erscheinung gegenüber sich eingestehen, daß was er vor vier Wochen auf eintretendes Alter und Kränklichkeit geschoben hatte, nur die Folge der geistigen Spannung gewesen sei, die mit dem heutigen Tage als ganz und gar überwunden anzusehen war.

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Erwin fuhr dann auch ab. Je öfter er sich auf den kurzen Fahrten zwischen seinen ärztlichen Besuchen die Sache überlegte, desto weniger wollte es ihm gelingen, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie die Enthüllungsscene zwischen Arthur und Emmy's Mutter verlaufen. Daß alles so ganz glatt abgegangen sein sollte, erschien ihm auffallend. Nun, um fünf Uhr, wenn er bei Forsters mit Arthur zusammentraf, würde er ihn ja sehen und sprechen. Und dennoch beeilte er sich bei seinen Besuchen um ihm womöglich vorher noch zu begegnen, und erübrigte in diesem Bestreben ein gutes Stück Zeit. Kaum die Treppe hinauf, fragte er nach dem Grafen. Er sei gleich am Morgen ausgegangen und noch nicht wieder zurück. Erwin trat in Arthurs Zimmer ein. Da fiel ihm auf: die Schublade des Schreibtisches war unverschlossen halb herausgezogen und der Schlüssel steckte im Schloß, und an einem kleinen Kettchen daran hingen die anderen Schlüssel welche Arthur unter allen Umständen sonst bei sich zu tragen pflegte. Aus dem Tische aber lag der Kaufcontract über das Gut. Erwin erschrak. In demselben Momente ward Arthurs alte Köchin bei ihm gemeldet. Der Herr Graf, berichtete die alte Frau, sei vor einigen Stunden in seiner alten Wohnung erschienen. Sie habe geglaubt, daß er der Abreise wegen manches noch habe ordnen wollen, als er dann aber so gar nichts von sich habe hören lassen, habe sie durchs Schlüsselloch gesehen und ihn am Tische sitzen sehen in unbeweglicher Stellung, und nachdem sie nach einer Weile noch einmal hindurchgeblickt, habe er immer noch so dagesessen. Der Herr Graf müsse vielleicht eine Gemüthsbewegung gehabt haben und allein sein wollen. Doch sei ihr Angst geworden und sie gekommen um es zu sagen, wenn man etwa nicht wissen sollte wo er sei. Erwin beruhigte sie. Sie solle zurückgehen. Es sei allerdings etwas vorgefallen wie sie meine, doch habe es nichts zu bedeuten. Gott sei gedankt, sagte sie. Ich wollte gerade hinfahren und den Herrn Grafen abholen, sagte Erwin. Machen Sie sich wieder auf den Weg und geben Sie mir den Schlüssel, da ich vor Ihnen dort sein werde. Die Köchin ging. Erwin befahl den Wagen wieder, ging in Arthurs Zimmer, verschloß den Contract und nahm die Schlüssel an sich. Es machte ihm einen wunderlichen Eindruck das zu thun und die blanken Schlüssel, die Arthur niemals aus den Händen gab, beizustecken als gehörten sie Niemandem mehr. Im Fortgehen sah er sich noch einmal um. In verstärktem Maße überkam ihn das Gefühl: Arthur sei fortgegangen ohne seine Gedanken recht beisammen gehabt zu haben. Etwas wie Todtenstille und Verlassenheit überschlich ihn. Er kam bei Arthur an. Die Köchin hatte sich eine Droschke genommen und saß oben auf der letzten Treppenstufe an der verschlossenen Thür. Er verbot ihr auf das ernstlichste, zu horchen während er beim Herrn drin sei, trat ein und fand Arthur in der Ecke des Canapee's sitzend, die Stirn in die hohle Hand gelegt, in der anderen einen Handschuh haltend. Arthur ließ ihm nicht das erste Wort. Er hielt ihm den Handschuh entgegen: Den hat sie hier liegen lassen, an jenem Abend wahrscheinlich, sagte er. Erwin achtete nicht darauf, setzte sich neben ihn und griff an seinen Puls, der eher zu langsam als zu rasch ging. Ihm gefiel das am wenigsten. Nun, Arthur? sagte er. Ich sehe, Du weißt die Sache, erwiederte er. Natürlich. Ich wußte sie am ersten Tage wo ich Deiner Schwiegermutter hier wieder begegnete, sagte er so ruhig und gleichgültig als möglich. Und Emmy wußte sie auch? Auch Emmy, bemerkte Erwin in demselben Accente. Und wenn Dir nichts gesagt wurde, so geschah es deshalb, weil Emmy und ihre Mutter auf das dringendste von mir ersucht worden waren, Dir diese Aufklärung nicht eher zu Theil werden zu lassen, als bis einige Jahre in Amerika verflossen wären und allerlei Zukunft dort um Dich lebte, die Dir diese Dinge der Vergangenheit als weniger bedeutend erscheinen ließe. Gott

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weiß warum Deine Schwiegermutter nun doch, ohne mir etwas zu sagen und eigentlich ihrem Versprechen entgegen, vor der Zeit damit herausgekommen ist. Es hätte vielleicht werden können wie Du meintest, sagte Arthur gedankenvoll. Es wird werden, versetzte Erwin und sah auf die Uhr. Es ist nun aber Zeit, sagte er, uns anzuziehen wenn wir zu rechter Zeit im Hotel sein wollen. Arthur sah gleichfalls auf die Uhr. Ja, ja, es ist Zeit, sagte er, rührte sich aber nicht. Komm also, sagte Erwin, aufstehend und sich vor ihn stellend als erwarte er von ihm das Gleiche. Arthur deutete auf die Gemälde an den Wänden. Ich habe die Herrschaften da so lange sträflich vernachlässigt, beleidigt und verleugnet, sagte er mattlächelnd; ich kann nicht so leicht fort von hier wie Du. Sie müßten es übelnehmen. Erwin hielt Contenance. Willst Du überhaupt nicht zu Mittag essen heute? fragte er dann noch ganz natürlich. Ich kann nicht sagen daß ich Hunger hätte, entgegnete Arthur, genau Erwins Accent nachahmend. Ein Dritter würde geglaubt haben, sie seien beide in der allergleichgültigsten Stimmung. Es wird Dir ja leicht sein, mich bei Forsters zu entschuldigen. Es giebt ja soviel tausend Ausreden. Der Ausdruck „bei Forsters" hatte etwas seltsames. Erwin sah Arthur an, und seine innere Rathlosigkeit mußte durchleuchten, so sehr er sie zu verbergen suchte. Arthur erwiederte seine forschenden Blicke mit völliger Ruhe. Du wolltest wohl sehen ob es ganz richtig mit mir sei, fragte er scherzend. Einstweilen noch. Sag' doch im Hotel, ich hätte soviel zu thun gehabt und im Fluge irgendwo allein essen wollen. Ich käme Abends. Erwin setzte sich wieder und dachte nach. Du erinnerst Dich wohl, fuhr Arthur fort, jenes Tages als ich Dir meinen Brief an Emmy vorlas und Du über die ungeheure Wirkung mit mir strittest, die der Glaube an jenen nun aufgehellten Unbekannten auf mich ausgeübt. Du begriffest es damals nicht, und so auch vielleicht heute nicht, daß ich mich ein wenig elend fühle. Du meinst, es sei wohl nur so etwas Rheumatismusartiges, das sich zuweilen durch tüchtige Bewegurrg heben läßt. Aber es sitzt hier! Er deutete auf seine Stirn und lächelte trübe. Weißt Du, was mein erster Gedanke war? fuhr er fort als Erwin sich damit begnügte ihn scharf anzusehen: kindisch aufflammender Stolz! nein, Eitelkeit! Und dann — dann die Erinnerung an eine Frau! Du meinst wohl an Emmy? Nein, an ein Mädchen, das ich kaum kenne und gar nicht liebe, aus dessen Munde ich sogar beinahe hörte, daß sie Dich liebe: an Josephine, Deine Cousine in Schlesien, weißt Du? Ihrer sechszehn Ahnen wegen dachte ich an sie! Du weißt, was morgen für ein Tag sein sollte; und heute steht mir die vor den Sinnen, weil ihre Großmutter sie mir angeboten und ich sie ausschlug nur weil ich mich nicht für ebenbürtig hielt. Und nun, da ich erfahre daß ich es wieder sei: sie mein erster Gedanke. Das nennt man Treue! Erwin erinnerte sich Josephinens wohl. Als Kind hatte er sie zuletzt gesehen, wo sie bei einem Spaziergange sich an seinen Arm gehangen und er sich dann mit ihr zwischen den Stämmen gejagt und als er sie gefangen ihr einen Kuß gegeben. Seitdem war er ihr nie wieder begegnet. Ich bin ja nicht der alte, unvernünftige Mensch mehr, fuhr Arthur ruhig, fast langsam fort, (niemals hatte ihn Erwin in diesem Tempo reden hören). Ich sage mir ja, daß Gedanken, die uns durch's Hirn fahren, keine Sünde sind. Was könnte man nicht alles denken? Seinen Eltern den Tod wünschen. Es sind Angelhaken des Teufels, die erst verderblich werden wenn man sich von ihnen fangen läßt und fangen lassen will. Ich habe das nie gewollt und auch jetzt mich herausgerissen. Und weiter: was kann mir groß daran gelegen sein, ob ich nun des Mannes dadrüben, er deutete auf seines Vaters Portrait, oder jedes anderen Menschen Sohn bin? Es müßte mich ja freuen, meines Vaters wie meiner Mutter wegen. Ich bin doch etwas wie ein Mann geworden durch das Leben und nehme Vernunft an von mir selber, ohne sie erst von Anderen erbetteln zu müssen: aber wenn ich so einsichtig bin, mir jetzt ein wenig Ruhe zu

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gönnen: sei Du es auch, zu begreifen daß ich sie brauche. Du weißt wohl, so eine Wanduhr, oder Pendeluhr, so eine Uhr wie sie die Bauern in der Stube haben, neben dem Ofen, so eine große Schwarzwälder Uhr — Erwin sah ihn ängstlich an — wenn man einer solchen Uhr — er hielt inne und schlug sich vor die Stirn. Ich wollte ein Gleichniß davon hernehmen, sagte er dann, aber ich weiß nicht wo es geblieben ist. — Richtig! rief er, eine solche Uhr, wenn man der den Perpendikel aushängt, fängt sie an mit Geschwindigkeit zu schnurren, ich machte mir als Kind oft den Spaß beim Förster; siehst Du, so könnte es auch mit mir kommen. Einstweilen hängt der Perpendikel noch und ich gehe richtig Tiktak. Aber lässest Du ihn nicht ganz unberührt jetzt, so reißt es und fängt mir an zu schnurren im Kopfe. Und wer weiß wie lange? Als Arzt wirst Du das verstehen und öfter beobachtet haben. — Vollkommen, sagte Erwin, der sich mit Gewalt in dem beinahe verlorenen ruhigen Tone zu halten suchte. Ich werde Dich jetzt allein lassen, Dich bei Forsters entschuldigen wie Du wünschtest, und hernach wieder Vorkommen. Ich darf doch? Ich frage nur, damit Du nicht etwa fortgehst um mir auszuweichen. Denn Ruhe brauchst Du, und ich kann ebensogut erst morgen früh wieder Vorfragen. Ich begreife Deinen Zustand in jeder Weise. Am besten ist, Du läßt das Mittagessen überhaupt so lange, bis Du entschiedenen Hunger hast. Er reichte Arthur die Hand, und ging. Der Frau sagte er, der Graf habe drin noch zu thun, er werde selbst gegen Abend wiederkommen. Er ging. Mit schwerem Herzen. Die Sache muß abgewartet und durchgekämpft werden. Als er im Hotel in den Salon eintrat, saß Emmy am Flügel und spielte. Sie deutete mit einer freundlichen Kopfbewegung auf einen Sessel und spielte weiter. Es war Erwin am liebsten so. Er versuchte, sich von der Musik erfüllen zu lassen. Emmy spielte fast nur Beethoven. Es war die Sonate die wie ein Duett beinahe beginnt, als stritten sich und versöhnten sich zwei die nicht von einander loskönnen. Emmy spielte diese Sonaten so zart und kräftig zugleich, daß Erwin sie nie tiefer empfunden gehört zu haben glaubte. Er sah sie dasitzen und die leichte Bewegung des Spieles ließ das reine Ebenmaaß ihrer Gestalt schöner blicken als je. Endlich stand sie auf vom Flügel. Verzeihen Sie, lieber Freund, sagte sie, aber ich hatte die Sonate lange nicht vor Augen gehabt, und Arthur sprach gestern davon. Ich wollte sie ihm so gern Vorspielen und vorher noch einmal durchnehmen. Emmy hatte wieder eine Blume vor der Brust stecken, nahm sie ab, stellte sie in Arthurs Weinglas auf dem Tisch der gedeckt dastand und an dem, da man öfter zusammen aß, jeder seinen festen Platz hatte. Dann ein paar Tropfen Wasser dazu gießend, sagte sie: Arthur und ich sind nun einmal Hauptpersonen in diesen Tagen, da müssen außerordentliche Dekorationen vorgenommen werden. Dann stellte sie das Glas wieder vor seinen Teller und rückte ein paar mal hin und her damit, weil es nicht auf den rechten Fleck zu stehen schien und die Blume nicht so gerichtet war, um gerade ihm entgegen sich zu entfalten wenn er davorsäße. Arthur wird erst nach dem Essen kommen, bemerkte Erwin jetzt leichthin. Er hat soviel zuguterletzt noch zu kramen und zu schreiben gefunden, daß er es in einem hin abthun möchte da er einmal dabei ist. Er will sich ein wenig Essen auf sein Zimmer bringen lassen. Ein leichter Schatten überflog Emmy's Stirn, doch für einen Moment nur. Arthur thut wohl daran, die Dinge ganz so zu besorgen wie ihm am bequemsten ist, sagte sie. Am liebsten wäre mir freilich gewesen, er hätte all diese Papiere und dergleichen irgendwo sicher untergebracht und sich für die ersten zehn Jahre dabei beruhigt. Sie ging, klingelte und befahl Arthurs Couvert fortzunehmen. Ich könnte keinen Bissen essen wenn ich den leeren Platz da vor mir sähe, sagte sie, nahm die Rose aus dem Glase und steckte sie sich wieder vor, während Erwin etwas seltsam zu Muthe ward, als er Arthurs Teller und Stuhl fortnehmen und die übrigen ein wenig auseinanderrücken sah um die Lücke auszugleichen. Unwillkürlich nahm er es als eine symbolische Handlung. Das Leben war so. Der oder jener erscheint eines Tages nicht mehr; sein Couvert wird fortgenommen und die Plätze weiter gestellt.

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Wo ist Arthur? trat Mrs. Forster ins Zimmer und Erwin wiederholte seine Lüge. Man saß ziemlich eintönig beim Diner. Mrs. Forster sprach von verschiedenen Besorgungen, des Vorganges am Morgen ward natürlich, Emmy's wegen, nicht gedacht. Nach Tische zog Emmy sich zurück. Mrs. Forster, nachdem sie ihr nachgegangen, die Thüre hinter ihr fest geschlossen, einige Augenblicke daran gehorcht und sich dann einen Stuhl dicht neben den Erwins geholt, fragte leise: wo ist Arthur? Er fühlte sich doch ein wenig angegriffener als Sie vorausgesetzt, sagte Erwin. Weiter nichts? Gewiß weiter nichts? fragte die Frau. Was befürchten Sie? fragte Erwin dagegen. Ich will Ihnen sagen, begann Mrs. Forster: nun da es geschehen und der Druck von mir genommen ist der mich dazu trieb, kommt es mir hinterher beinahe so vor, als hätte es doch am Ende aufgeschoben werden können. Aber man glaubt alt und erfahren zu sein und thut immer wieder Uebereiltes. Sie sah Erwin an als sollte er sie beruhigen. Besser wäre es gewesen, sagte Erwin; indessen, hoffen wir, es werde Alles gut vorübergehen. Wie so gut? rief die Frau, deren innere Bewegung sich nun deutlicher verrieth. Ist etwas nicht gut, wie hat er sich denn geäußert? Nichts, nichts, beruhigte sie Erwin, der mit Schrecken daran dachte, es könne ihr etwa einfallen, aus übertriebenem Eifer für Arthurs Wohl, diesen jetzt in Person beruhigen zu wollen. Er stand auf. Heute Abend denke ich mit Arthur hier zusammen zu sein. Kommen Sie recht bald, rief Mrs. Forster ihm nach die Treppe hinab. Ja, ja, wie gewöhnlich, antwortete Erwin zurück und fuhr ab um nach Arthur zu sehn. Aber er fand ihn nicht. Der Herr Graf sei längere Zeit schon fortgegangen, berichtete die alte Köchin, besorgt an Erwins Augen hängend, was er dazu sagen würde. Er sagte nichts als guten Abend und ging. Auch bei sich im Hause traf er ihn nicht. Er war gar nicht dort gewesen. Noch einmal fuhr er ins Hotel, um vom Portier zu erfragen ob der Graf oben sei. Nein, er sei nicht dagewesen. Erwin hinterließ, man solle ihn benachrichtigen sobald er käme; dasselbe ließ er nachträglich der alten Köchin sagen. Weiter war nichts zu thun für den Moment. Er konnte nicht durch alle Straßen der Stadt fahren, ob er Arthur vielleicht begegnete.

Dreiundvierzigstes Capitel. Emmy war auch ohne Arthur die Zeit rasch vergangen: sie hatte die letzten Vorbereitungen für den nächsten Tag gemacht. Alles stand nun fertig, sie war gerüstet. Sie sah auf die Uhr. So spät schon? Arthur hätte längst da sein müssen. Sie schlug den Flügel auf und legte die Noten hin um die Sonate noch einmal zu spielen. Die Thür öffnete sich und Arthur trat ein. Sie flog ihm entgegen: Dante gebraucht das Bild so gern, wenn er den Flug der Sehnsucht ausdrücken will: Quali colombe dal disio chiamate, Con láli aperte e ferme, al dolce nido, Volan, per l´aër dal voler portate So wie vom Verlangen gelockte Tauben Fest die Flügel gebreitet, rasch sich senken Durch die Lüfte zum süßen Neste nieder. Sie zog Arthur an's Licht. Du siehst so blaß aus? rief sie. Das viele Thun und Denken hat mir den Kopf etwas wüst gemacht, sagte er. Sie saß eine Weile neben ihm und hielt seine Hand. Soll ich Dir die Sonate spielen? fragte sie dann, da sie zu fühlen glaubte, er schweige am liebsten und ruhe sich aus. Aber vielleicht ist Dir auch das zu viel heute? setzte sie hinzu.

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Arthur bat sie darum und sie begann. Wenn je Sehnsucht, Glück und Zärtlichkeit von Beethoven in Tönen aufgefangen worden sind, so geschah es in diesem Werke. Arthur empfand es wohl. Er horchte und suchte sich in den Gedanken hineinzuträumen: Alles sei wie sonst, und morgen um diese Zeit er mit Emmy allein weit fort schon; durch die Nacht hinfliegend vielleicht und die Funken des Lokomotivqualmes beobachtend, der durch die Stämme der finstern Waldungen sich hindurchriß, oder über undeutliche Ebenen hinflog. Es gelang ihm wirklich. So nah wie jemals fühlte er sie seinem Herzen. Er stand auf, lehnte sich vor ihr über den Flügel und sah sie an. Ich kann nicht weiterspielen, wenn Du mich so ansiehst, sagte sie, ohne jedoch innezuhalten. Laß uns fort! sagte er mit gedämpfter Stimme, aber deutlich, und sah sie durchdringend an. Sie verstand ihn nicht. Sie meinte er spräche vom nächsten Tage. Ja, ja, weit fort, sagte sie, so weit Du willst. Sie hatte die Hände in den Schooß gelegt. Jetzt! sagte er. Ich kann Dich keinen Augenblick entbehren! Emmy stockte mit den Gedanken. Was er wohl meinen mag? fragte sie sich selbst. Er soll es mir morgen erzählen, dachte sie. Sie begann wieder zu spielen. Arthur sah sie noch einmal fest an und ging auf seinen Platz zurück. Bücher lagen auf einem kleinen Tischchen neben ihm. Auch Dante's göttliche Comödie. Die Musik war schon nicht mehr mächtig genug, die furchtbare Unruhe zu bändigen, von der er sich erfüllt fühlte. Diese Unruhe war es gewesen, die bewirkte, daß er am Morgen, leise und mit beinahe scheuen Blicken bei Erwin die Treppe heruntergeschlichen war um sich irgendwo zu verbergen. Rasch ging er zuerst als handelte es sich um eine Flucht beinahe, bog dann in Nebenstraßen ein wo weniger Menschen gingen, und, fast ohne zu wissen wohin er die Schritte lenkte, stand er vor seiner alten Wohnung und trat in die Stube ein, die er nicht wiedergesehen seit dem Abend als er Emmy nachgereist war. Die Köchin hatte das Zimmer hübsch sauber gehalten als erwarte es seinen alten Herrn jeden Augenblick. Der Schreibtisch in Ordnung, jedes Stückchen an der rechten Stelle. Das Glas mit den vertrockneten Veilchen sogar stand da. Arthur sah sie an indem er es sich langsam drehen ließ wie an jenem Morgen. Ich weiß nicht, bin ich lange schon todt oder ist es Emmy? sagte er sich. Jedenfalls einer von uns beiden. Es liegt etwas unübersteigliches, undurchdringliches zwischen uns. In der Unsterblichkeit werden wir vielleicht in ungeheuren Kreisen uns um einander bewegen; aber nur wissen werden wir von einander. Mehr nicht. Er begann in verjährten Zeitungsblättern zu lesen die da lagen. Dann trat er ans Fenster und sah hinab. Wie kehrten da die vergangenen Jahre in sein Gedächtniß zurück. Die vielen kleinen Fenster der Hinterhäuser, die da zusammenstießen, zählte er wieder, die Ziegel sogar die auf den Dächern fehlten, die alte Stange die aus einem dunklen Bodenloche herausragte, und die Linie der Dächer, von Schornsteinen unterbrochen, die seinen Horizont gebildet; der Kirchthurm auch, der in der Ferne daraus hervorragte. Ein Mädchen, das er zuletzt als elf- oder zwölfjähriges Kind drüben am Fenster hatte sitzen sehen, saß an derselben Stelle als junges Mädchen und nähte noch immer; der grünglasirte Topf, in den er sie einen Geraniumschößling eines Morgens hatte einpflanzen sehen, war von einer großen Staude nun überwachsen und stand auf dem Brette draußen. All das betrachtete er wie ein Gefangener aus seiner Zelle. Ein wunderbares Gefühl hatte er, als dürfe er nicht fort und müsse lange Jahre eingeschlossen hier sitzen. Dann kam Erwin. Jedes Wort, das er von ihm hörte, durchschnitt ihn. Er nahm sich nur zu so großer Ruhe zusammen, um ihn zum Fortgehen zu bewegen. Dann verschloß er die Thür hinter ihm. Als die Dämmerung dann aber einbrach, wurde ihm Angst; er fürchtete, Erwin könne mit Gewalt wieder eindringen, und er ging fort ohne der Köchin ein Wort zu antworten, die ihn fragte was sie sagen solle wenn der Herr Doctor käme. Er streifte dann in den Straßen umher, und endlich, planlos wie er vorhin zu seiner alten Wohnung gelangt war, verirrte er sich beinahe nun zu Emmy, und fühlte sich so

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unendlich beruhigt und glücklich mit ihr. Lange hatte er, mit der Thürklinke in der Hand schon, auf dem Vorplatze gestanden, Emmy innen hin und hergehen hören, und gezögert einzutreten weil ihm schauderte bei dem Gedanken, auch sie werde von dem enthüllten Geheimniß zu sprechen beginnen, und ihn zwingen, ihr gegenüber sogar, sich erinnern müssen an seine Treulosigkeit und Vergessenheit. Losgelassen hatte er sogar die Thür wieder und einen Schritt zurückgethan, als die Sehnsucht ihn wie mit Armen packte und vorwärts stieß. Und wie dankbar war nun, daß sie so gar nichts davon erwähnte, ja es nicht einmal zu wissen schien. Für den bloßen Anschein so dankbar. Und nur die Furcht in ihm jetzt noch: Emmy heute doch wieder verlassen zu müssen und der alten Oual neu überliefert zu werden. Zweimal hatte er sie gebeten mit ihm zu kommen. Er hatte nichts bestimmtes dabei im Sinne gehabt. Warum aber schwieg sie und sagte nichts von dem was sie doch wissen mußte? Er sah scheu von der Seite manchmal zu ihr hinüber, und auch daß sie ihm vorgeschlagen, spielen zu wollen statt zu reden, ließ den Verdacht aufsteigen, sie wolle nicht reden. Er schlug Dante's Gedicht auf und las. Aber auch das stille Lesen vermochte ihn nicht an die Verse zu fesseln, er las laut, ganz unbekümmert um Emmy, die wiederum im Spiel sich unterbrach und zuhörte, erstaunt, Arthur so ganz aus seinem gewohnten Wesen herausgehen zu sehen. Denn er störte sie niemals sonst und duldete nicht daß Jemand sich regte wenn sie spielte, mit einer Tyrannei von der sie oft beschämt und gerührt war zu gleicher Zeit. Und jetzt las er laut mitten hinein, und zwar wie für sich, denn er sah nicht ein einziges Mal aus dem Buche auf zu ihr. Jene Stelle gerade hatte er aufgeschlagen, wo vor Dante und seinem Führer Virgil der furchtbare Sturm der Hölle vorbeisaust und die Gestalten derer vor ihnen hinführt, denen die Liebe zum Verderben wurde, und wie ihnen endlich da Francesca von Rimini mit dem Geliebten begegnet: Als ich so sie gehört, des Alterthumes Frauen und Helden, die er bei Namen nannte, War ich vernichtet fast von großem Mitleid. Doch dann sagt' ich: Dichter! mit jenen Beiden Spräche ich gerne ein Wort, die dort so innig Dichtaneinandergedrängt der Sturm dahintreibt! Und er: Laß sie nur näher sein! dann rede kühn sie an um der Liebe willen, die sie führt, und sie werden stehen und Antwort geben. Und als der Luftstrom näher sie führte, rief ich: „O, ihr kummerbeladenen Schatten, hört mich! „Kommt, und redet mit uns, wenn es erlaubt ist! Und wie vom Verlangen gelockte Tauben Fest die Flügel gebreitet, rasch sich senken durch die Lüfte zum süßen Neste nieder. Trennten jene sich ab vom großen Zuge uns zu, durch den widerwittigen Sturmwind, Weil zu freundlich unsere Stimme sie anrief. Sterblicher, sagte die eine, edelgesinnter, Durch den Athem der Hölle wandelnd suchst du Uns auf, die wir die Welt mit Blut geröthet!

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Wäre der Herr des Weltalls gnädig uns noch, Beten würden wir gern für deinen Frieden Weil du Mitleid fühltest mit unserem Elend. Was dich zu wissen verlangt und was zu fragen, Sprich: wir hören es gern und geben Antwort, Wenn uns der Sturm nicht vorher von dir fortreißt! Wo ich geboren wurde die Stadt? — Am Ufer Liegt sie des Meeres, zu dem der Po hinabsteigt Mit den Begleitern all', um Ruhe zu finden. Jung noch war ich und schön, und meine Schönheit Die zum Schatten geword'ne (und so grauenvoll Daß die Erinnerung jetzt noch Schaudern aufregt!) Ließ die Liebe, die rasch in edlen Herzen Aufflammt, so mit Gewalt mich dem verbinden Dem ich vereint bin, daß er mich hier nicht losläßt! — Lies nicht weiter. Bitte, thue es nicht, sagte Emmy zu ihm tretend und die Hand auf das Buch legend. Es muß furchtbar sein, sagte er, innehaltend, immer aber die Augen auf das Buch geheftet, so seinen Geliebten ans Herz drücken und ewig doch nur einen Schatten zu halten. Arthur, sagte sie, Du fühlst Dich erschöpft und angegriffen? Nicht wahr? Geschäftssachen sind nichts für Dich: Du hast Dich zu sehr angestrengt? Du brauchst Ruhe, ich fühle es Dir an! Deshalb allein bat ich Dich, nicht weiter zu lesen. Ich hätte auch nicht spielen sollen. Komm mit! sagte er leise. Ach, ich ginge so gern mit Dir, sagte sie, legte die Hände auf seine Schulter und sah zu ihm nieder. Komm mit! rief er — fort! — weit — weit! Ja, weit fort! wiederholte sie. Ihre Blicke leuchteten, sie wußte nicht was er wollte, nicht was sie selbst sagte, sie antwortete wie eine Nachtigall aus der Dunkelheit der Stimme zurückruft die sie lockte. Ja komm, rief er, umfaßte sie und zog sie auf seine Kniee nieder. Nicht wahr, flüsterte er weiter, Du bleibst bei mir? Du verläßt mich nicht? Du kommst? — Was bedarf es denn? Du gehörst mir ja, bist mein? Er drückte sie an sein Herz und küßte sie. Emmy wußte nicht ob sie träumte, aber ihr war als regiere ein fremder Wille in ihr, wie im Traume manchmal. Es erschien ihr gar nicht wunderbar, jetzt fortzugehen wie sie war, in die Nacht hinein an Arthurs Arme, ohne Gedanken an anderes als an ihn. Weißt Du, fuhr er ganz leise fort, die Lippen dicht an ihr Ohr legend — Du mußt mich festhalten, Du mußt mich behüten, Du allein kannst die Gedanken forthauchen, die mich quälen. Quälen? fragte sie. Ja, quälen! O als flöge ich mit den Verdammten die Dante beschreibt. Du bist wie der Engel mit dem Schwerte, vor dem sie flüchten. Du bewachst die Thüre des Paradieses, Du! Ja, das thue ich wenn Du willst, antwortete sie. Alles was Du willst, thue ich — Alles! Und gehst jetzt mit mir? sagte Arthur wieder mit angstvollem Drängen in der Stimme. Er hatte ein Gefühl als könne sie ihn retten und wolle irgend eine Macht es verhindern. Wenn Du mit mir kommen willst, sprach er weiter, wir gehen dann weder zu Erwin noch zu mir! Nein, wir gehen hin und nehmen uns ein paar Pferde und reiten fort in die Nacht hinein. Wir suchen eine Stelle wo wir sicher sind, wo Niemand von uns weiß,

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versteckt, wie Nachts dort als wir im Schnee steckten. Dahin möchte ich mit Dir. Aber fort! Gleich. Bis morgen ist noch eine Ewigkeit und ich darf nicht getrennt sein von Dir bis dahin. Emmy war so völlig von dem erfüllt das ihn erfüllte, daß sie sich neben ihm hingalloppiren sah durch die Dunkelheit. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn draußen die Pferde getrappelt hätten, die sie bereits erwarteten. Nun, denn komm, sagte er, sich sanft mit ihr erhebend und sie schwebend an seinem Herzen haltend. Komm, Du brauchst ja nichts, als mit mir zu gehen. Emmy dachte nicht an die Pferde mehr, an nichts mehr, nur an Arthur und daß es unmöglich sei ihn loszulassen. Sie war bereit. Ja, komm, sagte sie und that, da er stillstand, den ersten Schritt zur Thüre hin. Nun, Liebster? sagte sie dann als er sich nicht rührte. Arthur stand als lauschte er. Er hatte Geräusch im Nebenzimmer gehört. Es kam etwas wie eine Erstarrung über ihn. Nun? sagte Emmy, ihren Arm um ihn schlingend. Wer ist dadrin, fragte Arthur. Deine Mutter? Laß doch, sagte sie lächelnd. Laß es doch sein wer will. Laß uns doch gehn, nimm mich doch mit Dir. O Arthur, wenn Du wüßtest welche Nächte ich durchwacht habe in Thränen und Schluchzen um Dich, wie ich allein war, wie einsam, wie ich mein Leben gegeben hätte für eine Minute an Deinem Herzen; und jetzt Dir nicht folgen? Dich verlassen wo Du sagst ich solle bei Dir bleiben? Sie sprach so süß und schmeichlerisch, daß sie Arthur aus dem Gefühle völlig herausriß das ihn überkommen hatte beim Gedanken an Emmy's Mutter. Ja, rief er, fort! komm! und schritt vorwärts der Thüre zu mit Emmy, als die Thüre sich aufthat und die Mutter vor ihnen stand. Sie trat auf beide zu und streckte Arthur die Hand entgegen. Er drückte sie und stand befangen da. Er fühlte daß Emmy, die seinen Arm noch hielt, ihn leise fortzog als wolle sie fragen, warum gehen wir nicht? Wollten Sie gehen ohne mir gute Nacht gesagt zu haben? fragte die Frau freundlich. O nein, antwortete Arthur und setzte sich wie zur Bekräftigung in einen Sessel nieder. Sie schwiegen alle drei. Emmy hielt sich dicht neben Arthur, die Augen auf ihn geheftet. Allmählig, in dieser Stille, wurde ihr nun doch klar, was es eigentlich sei, mit Arthur so planlos jetzt davonzugehen. Er selbst saß da als sei er beim größten Unrecht betroffen worden, und Emmy's Mutter fühlte sich so beklommen neben ihnen, daß sie nichts zu sagen fand. Solltet Ihr nicht beide lieber schlafen gehen? sagte sie endlich. Morgen wird soviel zu thun sein. Arthur war zu Muthe wie bei jenem ersten Glockenschlage der Uhr am ersten Abend bei Emmy. Ja, sagte er und erhob sich. Emmy schwieg; halb erwartete sie noch, daß er ihr zuflüstern würde mitzukommen. Aber er that es nicht. Wie ein kühler Herbstwind eine Schaar welker Blätter über den Weg treibt, durchschauerten ihn die Gedanken der Einsamkeit, der er sich eben entrissen hatte, von neuem. Er küßte Mrs. Forster die Hand und sagte gute Nacht. Er trat zu Emmy. Sie gab ihm die Rose die bei Tisch in seinem Glase gestanden u n d nun an ihrer Brust gesteckt hatte. Arthur hielt die Rose in den Fingern und sah bald hierhin bald dorthin, als vergliche er sie mit Emmy. Dann riß er die Geliebte an sich, drückte sie an sein Herz und war fort. Emmy trat ans Fenster und hörte seine Schritte verklingen in der milden Finsterniß. Als sie nichts mehr zu vernehmen im Stande war und tiefe Stille den letzten Klang aufgetrunken hatte, wandte sie sich zu ihrer Mutter. Nun, wie hat er Dir davon gesprochen? fragte die Frau eifrig. Wovon Mama? Wovon? Von dem großen Geheimniß, das endlich enthüllt ist? Welchem Geheimniß? rief Emmy erschreckt.

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Aber, Kind, rief die Frau, ungeduldig vor Verlegenheit: daß er nun weiß wer er ist und wer er nicht ist. Mutter! rief Emmy zitternd, ich muß zu ihm! Was hast Du? was ist denn geschehen? fragte Mrs. Forster. Auf der Stelle muß ich ihm nach! Er ist krank! Er kann mich nicht entbehren. Er hat mir's gesagt. Ich verstand ihn nicht. Ich gehe wie ich bin, rief sie, in furchtbarer Aufregung nun, es sieht mich Niemand im Finstern, die Straßen sind leer. Ich nehme nur das Tuch über den Kopf — so — und indem sie that was sie aussprach, hatte sie ein seidenes Tuch über das Haar geworfen, und ehe ihre Mutter sich klar gemacht was geschehen sei und geschehen solle, war Emmy die Treppe hinunter, aus der Thür, die eben geschlossen werden sollte, und an der der Portier ihr erstaunt nachsah in die Dunkelheit, heraus ins Freie. Wie auf der Flucht schlich sie an den Häusern entlang, sie dachte nicht an Furcht, auch rührte sie keiner an; wie der Wind an Mauern hinfliegt, ging es vorwärts, und athemlos stand sie an Erwins Thüre, wo man, an nächtliche Störungen gewöhnt, ihr bald öffnete, und die Dienerschaft im höchsten Grade erstaunt war, sie so erscheinen zu sehen.

Vierundvierzigstes Capitel. Wäre Emmy nicht so athemlos fortgeeilt, so würde sie gemerkt haben, daß sie Arthur selbst streifte beinahe, der zur Seite wich und nicht ahnte, welcher Schatten dahinflog. Was am Menschen alles so vorbeikommt, dachte er ihr nach, und man hat nicht einen Tropfen Neugier dafür übrig — mag es sich nun um tödtliches Glück oder Unglück handeln. Er merkte jetzt daß er Erwins Hause zuginge. Das war seine Absicht nicht. Wohin aber? Noch weniger, in seine alte Wohnung zurück. Er dankte dem Himmel, ihr entronnen zu sein. Wohin aber? Er stand still und dachte nach. Die Nacht war vorgeschritten und der Mond begann zu scheinen. Er fühlte sich ermüdet. Da sah er eine Gesellschaft Reiter dunkel die Straße hinuntertraben, sie hatten sich wohl auf einer Partie verspätet. Reiten wolle er, fiel ihm ein. Er ging zu der Reitbahn wo sein Pferd stand und er die Leute kannte. Es gelang ihm, ins Haus zu kommen. Er ging in den Stall und drückte dem Stallknecht, welcher die Woche hatte, ein so gewichtiges Trinkgeld in die Hand, daß dieser aus aller Schläfrigkeit herausgerissen, auf der Stelle seinen Wünschen nachkam. Sein Pferd wandte den Kopf um und schnob ihn mit warmem Athem an als er ihm auf die Schulter schlug. Der Geruch und das Gerassel manchmal und Gestampf erinnerte ihn an die Soldatenzeit und es ward ihm freier zu Muthe. Und so ritt er fort, an Erwins Haus vorüber, wo die Fenster hell waren und Schatten sich an den Vorhängen bewegten. Wer mag noch bei ihm sein? dachte Arthur. Und dann hinaus immer vorwärts. Der Mond stieg höher, die Wege fingen an sichtbarer zu werden, das Pferd schnaubte tüchtig und ging in gestrecktem Trabe. Es war der Weg zu seinem Gute. Arthur merkte bald daß er diese Richtung eingeschlagen. Es zog ihn etwas an von da draußen her. Je weiter er vorwärts kam, um so entschiedener die Absicht dorthin zu reiten, und je mehr er seinem Ziele sich näherte, um so freier, selbstvergessener fühlte er sich. Sein Bruder wohnte ja dort, auch war es sein Eigenthum wieder. Er gehörte dahin. Mehr Gefühle das aber, als Gedanken. Im Mondenschein erkannte er die einzelnen Bäume des Waldes die ihm zunächst standen, und Gruppen von Bäumen in der Ferne, die der Mond ganz anders zeigt als die Sonne und die er als Kind so gesehen zu haben sich erinnerte. Er ritt als ginge es in ein Märchenland hinein. Die Allee that sich auf die zum Schlosse führte, die dunkle Masse des Hauses wuchs ihm größer und größer entgegen, er wollte vorüber dem Försterhause zu, als er hinaufblickend einen Lichtschein oben zwischen den Ritzen der Fensterläden bemerkte. Wer war denn da noch so spät in der Nacht? Es schien ihm gar nicht wunderbar, sondern als gehörte es zu seinem nächtlichen Ritte, Unerwartetes

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zu erleben. Er hielt an und lauschte, stieg ab, schlug die Zügel des Pferdes um die Zacken des Gartengitters und schritt die Stufen zur Hausthür hinauf die halb offen stand. Er trat ein. Durch die Treppenfenster kam ihm der Mondschein entgegen, der über dem See stand. Er ging die Treppe hinauf und durchschritt eine Reihe Stuben in die der Mond einleuchtete, bis zu der die die letzte war und das Licht gezeigt hatte, dem kleinen Salon mit den zwei Fenstern und dem Marmorkamin. An einem der Vorsprünge des Kamins sah er ein kleines Wachslicht angeklebt, wie es auf Weihnachtsbäumen zu brennen pflegt. Auf dem Canapee aber saß mit der Büchse zwischen den Knien der Mensch aus dem Walde, Philipp, sein Bruder jetzt wieder. Sie sahen sich beide an. Philipp, der die Büchse eben niedergestellt zu haben schien, als hätte er einen Ueberfall vermuthet, verneigte sich im Sitzen und rückte ein wenig zur Seite. Wenn Sie Platz nehmen wollen, sagte er durchaus freundlich, ja mit absichtlich höflichem Accente und lächelte dabei — ich bitte —. Arthur kam auch das gar nicht seltsam vor. Er setzte sich nieder neben ihm. Es ist ein wenig leer hier, fuhr der Andere mit entschuldigendem Accente dann fort, und lächelte wieder. Arthur schwieg. Wir sind uns im Walde neulich hier begegnet, sagte er. Es unterhält mich dann und wann einen Schuß zu thun, antwortete der Andere. Wohnen Sie hier im Hause? fragte Arthur. Nein, versetzte er; ich streifte nur vorüber und es kam mir die Lust an, einmal hinaufzugehen und durch die Zimmer zu wandern. Meine Absicht war, dann wieder zu gehen, und unser Licht, fürchte ich, reicht nicht mehr auf lange. So gehen wir zusammen, erwiederte Arthur. Sie traten aus dem Hause, wo das Pferd scharrte. Sie werden beim Förster oder im Hofe schwerlich jemand mehr wach finden, sagte Philipp. Ich bewohne den kleinen Pavillon im Walde. Wenn Sie mich begleiten wollten, würden Sie dort wenigstens Unterkunft bis morgen früh finden. Es lag etwas ungemein zuredendes in seiner Stimme als er diesen Vorschlag machte. Das Pferd wird schwer dahinauf kommen, sagte Arthur. O, bemerkte der Andere, das stellen wir bei dem Förster ein, dessen Stall offen steht und wo genügsamer Raum vorhanden ist. Das sollte Sie nicht abhalten. Gut, sagte Arthur. Sie machten sich auf den Weg, nebeneinander hergehend. Der Stall des Försters nahm das Pferd auf, das sie gemeinschaftlich abzäumten und mit Stroh und Heu versorgten ohne daß Jemand sie gehen hörte, und als das geschehen war schlugen sie den Weg zum Walde ein, Philipp einen halben Schritt voran, Arthur ihm folgend. Beim ersten Vorschlage des Menschen, mit ihm zu gehen in seine einsame Wohnung, hatte er instinctmäßig die Beobachtung gemacht, es sei ihm viel daran gelegen ihn dahinzubringen. Und so ging er jetzt mit einer gewissen Erwartung. Statt das mindeste Mißtrauen zu hegen aber, war er im Stillen dankbar, in etwas hineingerissen zu werden, das ihn immer mehr von seinen früheren Gedanken entfernte. Und wirklich, bei jedem Schritte tiefer in den Wald hinein, schien der Druck der letzten Stunden von ihm abzulassen. Es rührte sich nichts. Der volle Mond schwamm im reinen Aether und der wie ein Spiegel strahlende See blitzte durch die Bäume zuweilen. Arthur ward immer leichter, er dachte weder vorwärts noch rückwärts. Ein paar Sätze, die Wilson ausgesprochen, deren er sich zum ersten Male wieder erinnerte, als hätte es dieser Stille bedurft um sie aus der Tiefe emporzubringen, kamen ihm zurück: „In die Wälder verloren, finde ich Ruhe und Vertrauen wieder. Kein Unglück hat da Gewalt über mich, empfinde ich; kein Verlust, wenn er mir nur die Augen gelassen hat. Der Athem der Natur umgiebt mich und saugt die ewige Qual auf, immer an mich selbst denken zu müssen. Ich werde durchsichtig wie mein Auge selbst; ich bin nichts: ich sehe nur. Der Strom des allgemeinen unendlichen Lebens nimmt mich auf und ich werde zu einem verschwimmenden Tropfen in ihm. Ich denke nicht mehr an Bekannte, an Freunde, an Brüder, als ständen sie mir näher als Anderes:

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Alles umfasse ich und das Rauschen der Bäume klingt so verständlich in meinem Ohre wie eine Sprache die in deutlichen Worten redet." Als Wilson das aussprach, erschien es Arthur zu allgemein damals. Er glaubte, es lasse sich einfacher sagen. Jetzt aber verstand er anders was damit gemeint sei: in der Tiefe eines Waldes so zu verschwinden und sein belastetes Herz zugleich aufgelöst zu fühlen. Arthur kannte den Weg wohl. Der Andere schritt rasch vor ihm her, die Büchse über die Schulter gehangen, zuweilen sich umsehend ob er käme. Rechts um den See gingen sie; über ein Stück freies Feld, jetzt mit neuer niedriger Schonung bedeckt, die Arthur noch nicht gesehen: seiner Zeit war da moosiges Wiesenland gewesen; dann wieder in den Wald hinein: halbhohe dichtstehende Weißbuchen mit Buschwerk dazwischen; endlich zu dem Jagdhause, dem verwitterten Roccocopavillon mit verschnörkelter, sonnenverbrannter Thür, zu der hinauf ein paar auseinanderplatzende Steintritte führten. Oft hatte Arthur als Kind da gesessen, und später als junger Mensch mit der Büchse vor sich in den Wald gesehen. Es war ein angenehmer Ruhepunkt. In dem Hause war er nie gewesen, und seit Menschengedenken Niemand, soviel er wußte. Der Andere öffnete die Thür, ließ Arthur eintreten, schloß sie hinter ihm, indem er einen Riegel vorschob, und holte Streichhölzer aus der Tasche, immer noch mit der Büchse an der Schulter, entzündete ein Licht und stellte es auf den Tisch. Dann postirte er sich dicht vor Arthur, sah ihm eine Weile frech ins Gesicht und lachte laut auf. Sehr angenehm, Sie hier bei mir zu sehen, Herr Graf! rief er dann. Wahrhaftig, ich hatte es nicht erwartet. Arthur fühlte sich so wenig in der Stimmung, sich über was auch sei zu wundern, daß er diese Fortsetzung seines Verkehres mit seinem Bruder nicht als etwas besonderes ansah. Ein alter Stuhl stand da, auf dem er sich niedersetzte. Der Andere rückte einen zweiten einige Schritte weit ihm gegenüber hin und nahm gleichfalls Platz. Hob die Büchse von der Schulter, untersuchte den Hahn, nahm das Zündhütchen ab, setzte ein neues auf und legte die Waffe über die Kniee mit beiden Händen darauf. Nun, rief er dann, indem er seinen niedrigen Filzhut von dem Kopfe riß und auf die Erde fliegen ließ, nun betrachten Sie mich, Herr Graf! Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die ziemlich frei von Haar war, zum Scheitel hinauf. Ganz dieselbe Bewegung hatte Arthur an seinem seligen Vater betrachtet. Was? Sieh mich genau an! Er ging plötzlich ins Du über und seine Sprache wurde rascher und schneidender. Fällt Dir keine andere Stirn ein bei der meinigen? Bin ich einer, den man aus den Grenzen seines Besitzes ausweist wie einen Vagabonden, der kein Recht hat den Fuß auf diesen Boden zu setzen? Er sprang auf, als wolle er sein Recht zur Geltung bringen, hier zu stehen. Arthur betrachtete ihn. Der Mensch glich offenbar seinem verstorbenen Vater. Auch war das ja kein Wunder nun, da er ihn für seinen Bruder hielt. Dies Gefühl aber auch gab ihm so volles Vertrauen ihm gegenüber. Hat man Dich hier fortweisen wollen? fragte er milde, und schlug, sich zurücklehnend, die Arme untereinander. Der Andere schien nicht zu hören was er sagte. Er trat einen Schritt zurück. Dann die Büchse, die eine Hand am Kolben, die andere am Drücker, langsam erhebend, immer höher, als wäre sie eine schwere Last, hatte er sie endlich mit der Wange auf einer Höhe und legte an, den Lauf auf Arthurs Augen gerichtet, der ohne sich zu rühren ihm zusah. Halb noch befangen von dem traumhaften Zustande, in dem er sich befand, halb noch unter dem Eindruck des letzten Feldzuges, von dem her der Anblick von gezückten Waffen und die Erwartung des Verderbens durch sie ihm zur Gewohnheit geworden war, konnte ihn, was er hier vor sich sah, nicht in Schrecken versetzen. Er erblickte das Rund der Mündung und die auslaufenden Züge darin, er sah wie dieser glänzende kleine Kreis mit dem dunkeln Mittelpunkt zu zittern begann, er starrte darauf hin, als könne die Kugel unmöglich ihm zugedacht sein, sondern als werde sie möglicherweise durch ihn durchfliegen wie durch leere Luft. Er hätte so einschlafen können vielleicht.

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Ich weiß nicht, sagte er nach einer Weile kalt, wozu Du diese Stellung eingenommen hast? Der Lauf zitterte jetzt stärker und senkte sich dann. Der Mensch trat wieder zu dem Stuhle, auf dem er gesessen hatte, und setzte sich. Er war bleich und murmelte vor sich hin. Er wollte reden, aber seine Sprache zitterte jetzt wie seine Hände. Er wollte viel sagen, aber er brachte es nur zu dem kurzen Satze: Wofür halten Sie mich? Wofür hältst Du Dich? erwiederte Arthur mit all dem Mitleid im Accente, das der arme Mensch ihm einflößte den er für seinen Bruder hielt. Ich halte mich für den Grafen und Herrn dieses Gutes, antwortete der Andere, und Dich für einen verfluchten Bastard und Eindringling! Mich? Wofür? rief Arthur, und was die Lebensgefahr eben nicht vermocht hatte: ihn in das volle Gefühl der Lage zu versetzen, in der er sich befand, das gelang jetzt den Worten die er eben gehört. Was? er, im Begriff zu verzweifeln, weil er nicht der Sohn jenes verehrten Unbekannten sein sollte; er, glaubend, daß er nicht mehr leben könne, weil er rechtmäßig in der Ehe geboren war, stand hier einem Wahnsinnigen gegenüber, der ihn ebendeshalb morden wollte? Und wer war das? Dieser Mensch selbst ein armes uneheliches Kind, das nur deshalb den Vorrang vor ihm zu haben glaubte, weil er selber noch viel unächter wäre? Arthur überblickte den seltsamen Irrthum als läse er ihn in einem Romane dargestellt. Niemals war ihm die ganze Jämmerlichkeit dieser angeerbten, verrücktmachenden Ansprüche deutlicher vor die Seele getreten. So lustspielmäßig komisch erschien ihm die Situation, daß er lächeln mußte. Lieber Freund, rief er aus (Bruder zu sagen war ihm doch noch zu ungewohnt), Du kannst nicht wissen, was mich eben zum Lachen bringt, aber ich bin überzeugt, Du wirst künftig auch darüber lachen müssen. Komm her, er reichte ihm die Hand hin, gieb mir die Hand und laß uns vernünftig zusammen reden. Und zugleich sah er den Menschen sich gegenüber mit ganz anderen Augen an, und dann betrachtete er den alten Tisch, auf dem das Talglicht in einem Holzklotz stand der als Leuchter diente, und sah sich um: es roch so muffig in der Stube, und die Frage kam ihm, wie er nur diesen unsinnigen Ritt hieher habe thun können die letzte Nacht vor seinem Hochzeitstage. Dann wieder sah er den Menschen vor sich an, der seine Hand nicht annahm, sondern wie ein Kranker der ins Bett gehört, in vollem Fieber vor ihm saß und ihn mit seinen glänzenden unruhigen Augen ansah. Es ist nothwendig den Lebenslauf des Unglücklichen kurz anzudeuten. Er hatte, nachdem er die Schule verlassen, auf mehreren Universitäten studirt, und der Graf, dessen Art mit dem Gelde umzugehen wir kennen, ihm zur Verfügung gestellt beinahe was er forderte. Der Graf hatte die Absicht, ihn in eine gute Carriere hineinzubringen, und freute sich gelegentlich zu hören daß der junge Mensch Talent zeige. Diese Großmuth wurde natürlich für nichts genommen als Beweise der bereits zu einem Lebenselement gewordenen Ueberzeugung. Nur bändigte Philipp sich insofern jetzt, als er nicht mehr darauf drang sich anerkannt zu sehen. Auch war ja Arthur vorhanden. Mehr verlangte er damals nicht: als mit der Zeit vielleicht in die Familie aufgenommen zu werden. Darauf hin suchte er die vornehmsten unter den Studenten auf und wußte immer eine Anzahl derselben, dadurch sowohl daß er Geld hatte, als auch daß er mit dem Grafen offenbar in Verbindung stand und sich offen für seinen Sohn ausgab, an sich zu fesseln, studirte aus, ging auf Reisen, immer mit Geld genug in der Tasche, machte sein Examen und trat bei einem Gerichte ein. Sein Lieblingsstudium waren Familiengeschichten die der seinigen ähnlich waren. Da plötzlich der Tod des Grafen. Auf der Stelle traf er ein, aber weder ein Testament fand sich, noch, wie man damals sogleich wußte, Vermögen. Wie ein Donnerschlag traf ihn das. All seine Hoffnungen zerstört und obendrein nicht einen Pfennig an Hinterlassenschaft. Er selbst besaß nichts mehr um weiter zu existiren, hatte dagegen Schulden gemacht. Indessen er war auf dem Gute geboren. Heimlich quartierte er sich in dem alten Pavillon ein und begann dort zu existiren. Der neue Besitzer hatte nur gekauft, um ein Geschäft zu machen. Ließ, wie erzählt worden ist, einige hundert prachtvolle Eichen niederschlagen, die er brillant verkaufte, und übergab einstweilen die Bewirtschaftung

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dem bisherigen Inspector gegen billige Pacht. Dieser und der Förster ließen den armen Menschen gewähren, der, nicht anders wie Arthur in der Stadt, immer tiefer in Einsamkeit versinkend, eine Richtung aufs Grübelnde nahm, die bald in phantasiren überging. In diesem Zustande empfing er aus den Erzählungen einer Bäuerin, die im Schlosse ihrer Zeit gedient, Mittheilungen von jenem Gerede, das sich nach jener Nacht, in welcher Forster fortging, bei einigen wenigen gebildet und erhalten hatte. Jetzt war es um ihn geschehen. Zu Muthe war ihm als würde ihm eine Offenbarung zu Theil, als er das hörte. Er der alleinige ächte Nachkomme des Grafen! Er, mochte geschehen sein was da wollte, Herr auf diesem Grund und Boden! Ein paar alten Bauern theilte er sich mit und fand vollen Glauben. An und für sich schien ihnen die Sache wahr, schon der Aehnlichkeit mit dem Grafen wegen, außerdem aber: er verlangte kein Geld? und schließlich, es brachte ihnen sogar Vortheile, denn er gab reichliche Versprechungen auf die Zukunft. Der Glauben bildete sich nun in ihm, man dulde ihn weil man ihn nicht anzutasten wage. Er fing an zu prahlen mit geheimen Verbindungen, die ihn eines Tages als Herrn würden erscheinen lassen, und selbst dem Inspector und dem Förster imponirte das in gewissem Sinne. Sein Auftreten war vornehm. Nie verlangte er etwas. Was er schoß, lieferte er dem Förster ab. Für das wenige das er brauchte, hatte er noch eine geringe Summe aus früheren Zeiten. Und in diese Stimmung hinein die Nachricht jetzt: Arthur sei wieder Besitzer des Gutes geworden! Und endlich Arthurs Besuch! Schon vorher war die Rede davon im Dorfe gewesen, und so wüthend hatte es Philipp gemacht, daß er auf den Inspector, als ihm dieser, nicht eben fein, den Abschluß mittheilte, die Büchse anschlug. Offen hatte er sich dann gerühmt den Grafen niederzuschießen wenn er sich zeigen sollte. Ohne zu essen und zu trinken, ein paar Nächte schlaflos bereits, hatte er den letzten langen Tag im Walde neben der Chaussee wie auf dem Anstande gelegen auf Arthur, und triumphirend dann im Dorfe verkündet, er habe da gelauert, Niemand aber gewagt sich zu zeigen. Man wisse wohl warum. Endlich Nachts, in der romantischen Idee das Schloß seiner Ahnen vertheidigen zu müssen, drang er in das verlassene Haus ein, wo er aus einem Raume in den andern gehend wie ein Geist umwandelte, bei jedem Geräusche mit der Hand an der Büchse. Da plötzlich steht Arthur vor ihm. Jetzt überraschte ihn selbst ein unerwartetes Hinderniß jedoch. Es verbot ihm etwas, den Mord zu begehen. Er wollte; er hatte die Büchse in der Hand; er konnte nicht. Er zitterte statt dessen und seine Gedanken wurden verwirrt. Sich selbst suchte er nun zu täuschen. Es schicke sich nicht, in seinem eigenen Schlosse den Akt der Gerechtigkeit zu vollziehen. Im Walde, in freier Luft, solle das geschehen. Deshalb die listige Ruhe und Freundlichkeit, mit der er Arthur aufgefordert ihn zu begleiten. Endlich nun hat er ihn in der tiefsten Einsamkeit allein. Soweit bringt er sich selbst jetzt, auf ihn anzulegen, und wieder ein Zittern der Hände und ein Schwinden der Gedanken, das ihm die That unmöglich macht. Als Arthur selbst nun aber so ruhig bleibt, dann sogar lächelt und ihm die Hand reichen will, giebt ihm das den Rest. Todtenblaß sitzt er da und ist keiner Bewegung und keines Wortes fähig. Arthur zog die Hand zurück endlich, nachdem er sie ihm einige Minuten lang fruchtlos entgegengestreckt. Komm, sagte er, und sprich vernünftig mit mir. Ist es denn nothwendig, daß Du die Büchse auf mich anlegst, wenn ich der Sohn des Grafen nicht bin? Nehmen wir an, ich sei es wirklich nicht. Was dann? Was habe ich Dir gethan? Oder was ist Dir gethan worden in meinem Namen, denn wahrhaftig, ich habe nichts von Dir gewußt bis auf den heutigen Tag? Arthurs eigene Worte waren es die den Menschen jetzt wieder in die Richtung brachten, die er selber in plötzlicher Gedankenschwäche beinahe verloren hatte. Hier er, dort der unberechtigte Eindringling! Hier er, der rechtmäßige Besitzer; dort der, dem das Gut gehörte und dem er weichen sollte! Und damit zugleich die anderen Gedanken rückkehrend, die ihn ein Jahr lang nun fast ausschließlich beschäftigten. Wie ein Bienenstock von seinen Einwohnern umschwärmt, war er von diesen Ideen umgeben die einsamen Wege im Walde gegangen, jeder ausfliegende Gedanke nur das Eine

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zurückbringend was Honig für ihn war und alles andere nicht berührend. Er sprang auf. Mir die Hand zu bieten wagst Du? Räuber, der bei Nacht kommt auf meinen Grund und Boden, weil er den Tag nicht erwarten kann, an dem er mich fortzustoßen denkt! Meinst Du hier den Herren zu spielen? Meinst Du ein Kauf zwischen einem in meine Familie eingeschmuggelten Bastard und einem Juden in der Stadt sei stark genug, mein Recht hier zu berühren? Wer seid Ihr, und wer bin ich? Auf meinem Boden stehe ich: Erbe und Eigenthum meiner Familie, über das König und Kaiser kein Recht haben. Hier will ich stehen, und soviel Kugeln ich in der Tasche habe, soviel Spitzbuben will ich es entgelten lassen, die mein Eigenthum betreten ohne ein Recht dazu. Hier ist mein Vater Herr gewesen und hier bin ich es nach ihm. Laßt Euch doch nicht irre machen, als gebe es Gesetze die dieses Grundrecht eines Edelmannes zu erschüttern vermöchten! Reichsunmittelbar ist unsere Familie gewesen. Soviel Recht wird mir doch noch übrig bleiben: als der letzte meines Stammes hier zu stehen und zu sterben? Du aber sollst der erste sein, der daran glauben wird! Wer hat Dich geheißen den Fuß hierherzusetzen? Meine Schuld nicht, daß das Schicksal das Loos Dich ziehen ließ, das nun einmal gezogen ist. Denn seh Dich um, von hier wirst Du nicht wieder fortgehen wie Du gekommen bist! Arthur sah sich um wie ihm gesagt worden war. Immer klarer ward ihm zu Muthe. Da stand eine Bettstelle mit ein paar wollenen Decken darauf. Dort ein Haufen Bücher, durcheinander geworfen wie Kehricht. Allerlei sonstiger armseliger Hausrath, das Licht zu trübe um die Gegenstände zu unterscheiden, er mußte an seine eigene einsame Stube denken, an sein Leben dort, an seine Ideen, an seine erste Unterredung mit Erwin. Er betrachtete den Menschen wieder, der dastand, die Blicke auf ihn geheftet. So mochte er selbst damals von Erwin betrachtet worden sein. Und was wäre aus ihm geworden, hätte das gütige Schicksal damals nicht eingegriffen? Von unbeschreiblichem Mitleid fühlte er sich erfüllt. Sein Bruder war es, der vor ihm stand. Nichts Gemeines klang aus seiner Rede, sondern Satz für Satz mit einer Hoheit zuweilen sprechend, als sei er wirklich der letzte Edelmann, der hier für sein Recht zu sterben entschlossen war, lag etwas überzeugendes in ihm sogar. Warum hatte dieser Mensch nicht früher einen Freund gefunden, wie er? Seine Pflicht aber, jetzt dafür einzutreten. Philipp, redete er ihn zuerst mit seinem Vornamen an, laß uns zusammen reden, wie Brüder reden. Komm. Er ging auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Du bist unglücklich. Du glaubst mich hassen zu müssen. Sei gewiß, wenn ein Mensch auf Erden jetzt so brüderlich liebevoll gegen Dich gesonnen ist, daß dies Gefühl alles aufwiegt was Andere empfinden könnten gegen Dich, so bin ich es. Du hältst mich nicht für Deinen rechtmäßigen Bruder? Gut. Lassen wir das. Nehmen wir an, es sei unentschieden. Laß uns Übereinkommen, daß wir Deine und meine Abkunft in der Folge genau feststellen wollen, jeder ganz objectiv und mit der Sorgfalt, die Ehrenmännern und Edelleuten geziemt; nehmen wir ferner an, ich besäße irgend etwas, viel oder wenig, das ich Dir geben könnte, oder das Du ein Recht hättest von mir zu verlangen; sprich es aus. Willst Du hier Herr sein? Ich könnte Dir ja vielleicht dies Gut zu Theil werden lassen. Willst Du meinen Namen führen? Es ist doch kein Diebstahl den ich an Dir begangen habe, daß ich ihn trage? Man könnte mich als unmündiges Kind ja von Zigeunern gekauft haben um ihn mir beizulegen; gut, es wäre einmal geschehen und ich hätte es dulden müssen? Und wenn ich selbst jetzt behaupten wollte, ich hätte kein Recht, wer sogar wollte ihn mir abnehmen? Ich habe ja niemals gewußt daß Du lebtest, daß Dir daran gelegen sei, daß ich etwas besäße was möglicherweise Dir zustände? Aber selbst das nicht einmal sollst Du mir vorwerfen dürfen, ich wollte Dir den Namen jetzt noch vorwegnehmen. Es läßt sich vielleicht erlangen daß man Dir das Recht zuerkennt ihn zu führen. Meinst Du, ich würde Dir entgegentreten? Ich bitte Dich zu glauben daß ich alles in meinen Kräften stehende thun werde: sprich nur aus was Du verlangst. Sprich mit dem darüber der Dir am nächsten steht, der Dein Bruder ist. Laß uns in Frieden darüber verhandeln und hier

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meine Hand: daß ich thun werde was ein Bruder für den anderen zu thun im Stande ist. Der Andere hatte Arthurs Hand längst abgeschüttelt, hörte ihn aber und verstand ihn. Es lockte ihn etwas, Arthurs Worten Glauben zu schenken, aber eine zweite Stimme sagte, es sei alles nur eine List um loszukommen. Er gab keine Antwort. Du glaubst, ich sei es der das Gut hier besitzt? fuhr Arthur fort. Es gehört mir nicht. Eine Dame deren Tochter ich heirathen werde, hat es hinter meinem Rücken gekauft und mich erschreckt durch die Nachricht daß dieser Kauf abgeschlossen sei. Ihre Idee war, wir sollten hier wohnen; niemals aber würde ich darauf eingegangen sein. Warum bist Du jetzt hier? fragte Philipp und dachte in der Stille, aha, gefangen! Arthur ward verlegen. Aber warum die Wahrheit nicht sagen? Höre an, fuhr er fort. Durch einen wunderbaren Zufall kam auch mir vor einem Jahre etwa zu Ohren, ich sei der Sohn meines Vaters nicht. Ich glaubte es. Du wirst mich verstehen wenn ich Dir sage daß ich vorher auf meine Geburt fast wahnsinnig stolz und dadurch beinahe unfähig war etwas vernünftiges im Leben anzufangen. Die vermeinte Entdeckung, ich sei unseres Vaters Kind nicht, hatte mich umgestaltet. Ihr verdankte ich alles. Und deshalb, als ich gestern plötzlich erfuhr, ich sei dennoch der Sohn meines Vaters, gerieth ich außer mir. Ich wollte meine Gedanken sammeln. Ich stieg zu Pferde und ritt fort. Ich kam hier an, fast ohne zu wissen wo ich sei. Das ist es was mich hierher geführt hat, und nichts anderes. Und wolltest mir das Gut hier schenken? fragte der Andere spöttisch und lauernd. Wie kann ich Dir fest versprechen was mir nicht gehört? sagte Arthur. Aber bist Du denn gefesselt hier an diesen Boden? Bin ich es denn? Glaubst Du, ich wolle hier wohnen? Wenige Tage noch und ich bin verheirathet und gehe nach Amerika mit meiner Frau. Was ich Dir vorschlage, ist, geh' mit uns. Aha! dachte der Andere, mich fortlocken! Er sagte nichts, aber seine Züge verdüsterten sich. Arthur errieth ihn beinahe und glaubte einlenken zu müssen. Nicht für immer, sagte er. Nur für ein paar Jahre. Damit Du dort kennen lernst, was leben und arbeiten eigentlich sei. Versteh' mich wohl: arbeiten im großartigen Sinne des Lebens dort. Und hier meine Hand, bestehst Du in drei Jahren darauf zurückzuwollen, so will ich Dich nicht halten und Du sollst hier auf diesem Gute herrschen und sollst der einzige sein in Europa der meinen Namen führt, denn ich lege ihn ab drüben, und wenn ich Kinder habe so soll keines von ihnen je auf den Gedanken kommen ihn wieder anzunehmen. Und nun, schloß er, laß uns hier ein Ende machen. Ueberlege Dir was ich gesagt habe. Arthur fühlte es sei genug. Zugleich aber eine Sehnsucht zu Emmy bemächtigte sich seiner, wie er sie noch niemals gefühlt so lange er sie liebte. Zu ihr hin wollte er und wandte sich der Thür zu. Der Tag brach durch die blinden Scheiben des Gemaches. Mit den Schatten der Nacht schien das letzte von Arthur abgefallen zu sein, das seit seiner Unterredung mit Mrs. Forster wie Finsterniß auf ihn gesunken war. Zu einer neuen Anschauung der Dinge däuchte er sich erwacht, die sein ganzes bisheriges Leben nun, auch in den klarsten Momenten noch, wie von einer dämonischen Trübe angehaucht erscheinen ließ. Und deshalb, als er den Menschen jetzt mit einem Satze auf die Thür losspringen und mit dem Rücken dagegen und der Büchse in der Hand sich ihm gegenüber postiren sah, durchrieselte ihn ein Schauder bei dem Gedanken, ihm zum Opfer fallen zu müssen vielleicht. Zugleich aber jetzt der männliche Entschluß, das Mögliche zu seiner Rettung zu versuchen, und das Bewußtsein, sich kaltblütig und entschlossen zu fühlen. Mochte Philipp sein Bruder sein: in diesem Augenblicke war er nichts als ein Wahnsinniger, wenn nichts schlimmeres, gegen den er sein Leben, an dem Emmy's Glück und Zukunft hing, zu vertheidigen hatte. Nicht mehr zu unterhandeln war hier, sondern verbrecherische Gewalt abzuwehren. Er wußte daß Philipp vorhin nicht den Muth gehabt loszudrücken, er sah ihn auch jetzt nicht einmal den Versuch machen die

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Büchse anzulegen. Er wartete deshalb eine Zeit lang ruhig ab bis es völlig Tag geworden wäre, ohne ihn dabei einen Moment aus den Augen zu lassen. Dann, immer fester seine Blicke concetrirend, trat er einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen, und dann, mit einem plötzlichen Sprunge, auf ihn zu packte er die Büchse mit beiden Händen, die losging, die Kugel seitwärts durch die Scheiben fliegend, riß ihn, der an die Büchse angeklammert war, mit einem verzweifelten Ruck von der Thür fort und schleuderte ihn in die Mitte des Raumes, worauf er ohne ihm einen Blick weiter zu gönnen den Riegel zurückstieß und ins Freie trat. Die Sonne war eben im Aufgehen. Ausgeflossenes Gold erfüllte den Horizont und ein kühler Luftzug drang aus dem Boden empor. Niemals in seinem Leben hatte sich Arthur so leichten Muthes gefühlt, und mit großen Schritten ging er durch das thauschwere Gras und die Büsche quer durch den Wald auf die Wohnung des Försters zu.

Fünfundvierzigstes Capitel. Erwin war als Arthur im Hotel erschien, sofort durch den Portier davon in Kenntniß gesetzt worden. Auf's freudigste überrascht, glaubte er Alles nun im gehörigen Geleise wieder und erwartete ruhig Arthurs Erscheinen. Nicht wenig erstaunt war er deshalb, Emmy zu so später Stunde bei sich eintreten zu sehen. Wo ist Arthur? rief sie. Dann sich besinnend: Nein, er kann noch nicht hier sein, ich war so eilig wie der Wind. Er muß kommen. Sie setzte sich nieder um sich zu beruhigen. Unmöglich für Erwin sich irgend vorzustellen was geschehen sein könnte. Nach einiger Zeit begann Emmy dann zu erzählen. Er sah die Sache nicht im mindesten ängstlich an wie sie, die sich freilich auch nur auf ihr Gefühl berufen konnte. Zehn Minuten später erschien auch Mrs. Forster. Die Frau war ernstlich böse auf Emmy, obgleich sie sich in demselben Athem in dem sie die Vorwürfe erhob, entschuldigte sie auszusprechen, da sie ja in kurzem den letzten Rest ihres Rechtes auf Kritik werde aus den Händen geben müssen. Wegen Arthurs hegte sie nicht eine Spur von Besorgniß, und mit Lebhaftigkeit ging sie darauf über, zu demonstriren daß seine Pläne in Betreff einer Uebersiedlung nach Amerika unpraktisch und ihrer Ansicht nach unmöglich seien. Zuerst hatte ihr Gespräch dazu gedient die Zeit zu verkürzen und die Stille auszufüllen in welcher Emmy und Erwin verharrten. Allmählich ward es diesen beiden ängstlich sie anzuhören und mit immer wachsender innerer Unruhe Arthurs Ausbleiben zu bedenken. Erwin hatte natürlich nichts verrathen von dem Zustande in dem er Arthur getroffen und weshalb er nicht zu Tische gekommen sei. Auch jetzt schwieg er. Einiges wenige jedoch deutete er an, nur um Mrs. Forster klar zu machen, daß Emmy's Besorgniß doch nicht so ganz und gar ohne Grund seien. Aber er hatte nicht bedacht, in welchem Zustande Emmy war. Aus Erwins Mienen errieth sie was er verschwieg. Sie erblaßte und begann zu zittern, während Mrs. Forster ebensosehr durch diesen Anblick als durch Erwins Worte zu einem plötzlichen Umschwunge gebracht, verstummend dasaß und rathlos zu fühlen begann, sie könne doch vielleicht geirrt haben. Die Nacht war vorgerückt. In seine alte Wohnung konnte Arthur nicht gegangen sein, denn die Köchin hatte versprochen, sobald er käme, und wäre es mitten in der Nacht, es zu melden. Noch immer hielt Erwin eine gewisse Unbefangenheit aufrecht. Emmy beobachtete, wie er heimlich auflauschte wenn eine Thür ging, oder eine leise Erschütterung des Hauses das Oeffnen und Schließen der Hausthür unten anzeigte. Ich weiß daß er nicht kommt, sagte Emmy. Niemand antwortete. Ich weiß auch wo er ist! Wo? fragte Erwin, aus tiefen Gedanken auffahrend. Draußen! rief Emmy. Wunderbarer Weise war Erwin auf dieselbe Idee gekommen. So stark schon im Stillen, daß er sich zu erklären gesucht hatte, warum. Es wacht etwas im Menschen auf in Fällen höchster Bedrängniß, sich compaßartig zuweilen dem Punkte zugerichtet zu

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fühlen, den sie suchen mit ihrer Sehnsucht. Arthur hatte Emmy erzählt, wie er in den ersten Zeiten nach dem Verkauf durch etwas wie den Instinct eines Hundes sich auf dem Wege nach dem Gute gefunden hatte, so daß er zuletzt bei seinen Ritten und Gängen diese Gegend ganz gemieden. Dies ein Theil des Grundes, weshalb er, als Mrs. Forster dem Kutscher auf den Weg einzulenken befahl, dagegen opponirte. Erwin schickte einen Diener nach der Reitbahn, ob der Graf sein Pferd noch genommen. Ja wohl, war die Meldung nach einer unerträglichen Pause steinernen Wartens, während dessen sich ihre Gedanken auf diese Antwort concentrirten als hinge alles Heil an ihr. Wir können nun allerdings wohl annehmen daß er hinausgeritten ist, sagte Erwin mit soviel Ruhe als er zu erschwingen vermochte. Ich will zu ihm! sagte Emmy, sich erhebend als wäre es ihr gleichgültig, ob man sie auf dem Wege begleitete oder nicht. Erwin und Mrs. Forster sahen sich an. Der Kutscher ward herausgetrommelt und mußte anspannen. Die schweigende Nacht umgab sie als sie im offenen Wagen bei brennenden Laternen fortfuhren, Emmy in Arthurs weiten Militairmantel gehüllt. Zurückgelehnt vertiefte sie ihre Augen in die Sterne, die groß und klar wie über dem Meere dastanden. Als in den Sandweg endlich eingebogen ward und langsam und vorsichtig gefahren werden mußte, hielt Erwin sie mühsam zurück, nicht auszusteigen und zu Fuß vorwärts zu eilen. Einen solchen Drang empfand sie vorwärts, daß es sie körperlich peinigte als hielte sie etwas mit Gewalt fest. Endlich beim ersten Morgengrauen kamen sie an dem fahlen ausgestorbenen Schlosse vorüber. Da ist Jemand geritten vor kurzer Zeit! rief Emmy, sich aus dem Wagen lehnend und deutete auf die frischen Spuren des Pferdes die sie entdeckt hatte. Der Kutscher fuhr beim Förster vor und knallte. Nichts rührte sich zuerst. Es war die Zeit wo der Schlaf der Menschen am tiefsten ist. Erwin sprang heraus und schlug gegen die Thür. Nach einiger Zeit ein schwaches Rumoren im Hause, dann ein undeutlicher Kopf an einem der Fenster, dann der Schrei durch's Haus: die gnädige Herrschaft! Erwin hatte - währenddem auf eigene Faust den Stall aufgesucht und Arthurs Pferd gefunden. Mit wunderbar erleichtertem Herzen wollte er eben die Entdeckung mittheiten, schwieg aber weil der inzwischen erschienene Förster weder von Arthur noch von dem Pferde wußte. Jetzt schrak er zusammen. Die Damen waren in die Stube eingetreten, Erwin nahm den Förster bei Seite, der nun von dem Menschen im Walde allerlei fallen ließ. Den Damen wurde gesagt, Arthur werde wahrscheinlich um Niemand aufzuwecken einen Spaziergang gemacht haben. Erwin beschloß nach kurzer Ueberlegung ihn aufzusuchen. Er schritt auf gut Glück in den Wald hinein, einstweilen dem Pavillon zu, in dem Arthurs vermeintlicher Bruder hauste. Der Weg dahin war ihm von alten Zeiten her wohlbekannt. Emmy hatte Erwin zuerst begleiten wollen, sah dann aber ein es sei besser ihn allein gehen zu lassen; auch hätte Arthur ja während ihrer Abwesenheit eintreffen können. Sie ging in den Stall und ließ das Pferd ein paar Stücke Zucker aus der Hand fressen, streichelte es und sah in die großen bläulich schwimmenden dunklen Augen des Thieres, als müßte es zu reden anfangen und von seinem Herrn erzählen. Dann kam sie zu ihrer Mutter in die Stube zurück und setzte sich still nieder. Die Augen waren ihr schwer, sie fühlte sich unendlich müde. Von Zeit zu Zeit sich ermunternd fuhr sie auf und lauschte als wären Arthurs Schritte hörbar geworden. Sie sah durch das kleine Fenster auf den See hinaus, über dem ein lichter Abglanz des morgendlich aufstrahlenden Himmels hingehaucht war. Horch, ein Schuß! fuhr sie plötzlich auf. Es war der welcher losging als Arthur Philipps Büchse zur Seite schlug. Nur ein Gehör wie das ihre vermochte den Schall auf so weite Entfernung jetzt zu hören. Was ist? rief die Mutter, die halbeingeschlafen in der anderen Ecke des Sophas lehnte. Ein Schuß! rief Emmy. Der Förster trat ein. Ein Schuß! rief sie. Haben Sie es nicht gehört? Die gnädige Gräfin müssen wohl ein wenig geträumt haben, sagte der Mann gutmüthig lächelnd. Er hatte nichts gehört.

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Ich will hinaus, sagte Emmy. In welcher Richtung ist der Herr gegangen vorhin? Allein können die gnädige Gräfin nicht gut gehen, sagte der Förster. So gehen Sie mit mir oder nicht oder Jemand anders, rief Emmy und war bereits vor der Thür. Ihre Mutter sagte nichts, sie wußte warum. Der Förster war nun an Emmy's Seite. Dahinaus, sagte er, und Emmy machte sich auf den Weg mit ihm. — Erwin war ihnen weit voraus. Zuweilen stand er still, nahm die hohlen Hände vor den Mund und rief: Arthur! Ar—thur! Nichts aber gab Antwort. Aus dem Walde trat er heraus; über die Schonung, auf die Arthur noch vor kurzem den Mond scheinen sah, flog die erste Sonne und lockte aromatischen Dampf aus dem Boden. Rechts unten lag der See, halb überschattet vom Walde noch, der bis tief an seine Ufer sich herabzog. Dort auch das Schloß, licht nun von der Sonne angestrahlt, daß die Fenster sich kräftig im Wasser spiegelten. Erwin hatte die Schonung beinahe durchmessen und wollte in den sich erneuenden Wald wieder eintreten. Er machte einen Augenblick Halt, um sich umzusehen. Das Bild war zu schön. Da tönten Schritte und vor ihm stand Arthur. Sie sahen sich erstaunt einige Momente an. Arthurs freies Auge und seine ersten Worte zerstreuten alle Besorgniß. Was führt Dich her? rief er Erwin entgegen und streckte ihm die Hand hin. Jetzt möchte ich wahrhaftig wissen, fügte er hinzu, wie Du meine Spur bis hierher gefunden hast, oder war es ein bloßer Zufall? Ich nicht allein, antwortete Erwin. Emmy und ihre Mutter erwarten Dich unten beim Förster. Es rauschte hinter ihnen etwas in den Büschen. Erwin unterbrach sich. Was ist das? fragte er. Arthur blickte leicht hinter sich. Nichts, sagte er. Komm, laß uns gehen, sagte Erwin. Ja, ja, rief Arthur. Stand aber noch immer still und sah Erwin an. Sieh mir in die Augen, begann er, ob eine Spur noch darin ist vom alten Wahnsinn. Und wenn Du in mein Herz sähest, da ist eins jetzt nur lebendig, und das für ewig. Erwin sah ihm in die Augen. Arthur lächelte. Niemals hatte sein Blick dem seines Freundes so ruhig und klar Stand gehalten. Ich weiß nicht, was sich im Busche da bewegt, rief Erwin wieder. Ja, komm, wir wollen gehen, sagte Arthur. Nur einen Blick noch dahinunter. Siehst Du das Schloß dadrüben? Der Mensch soll nicht Dinge über sich Herr werden lassen, die todt sind und die er nach Belieben vernichten und wieder aufbauen und wieder vernichten kann wenn es sein Wille ist. Weder Gedanken noch Bauwerke. Jetzt bin ich Herr wieder hier und dieser Boden gehört mir. Warum denn nach Amerika gehen, statt da zu wirken und zu leben wo man geboren ist? Warum ewig im Vergangenen herumwühlen und sich davon meistern lasten? Wenn es mir gut dünkt, so lasse ich heute den Wald hier abholzen, mag ihn gepflanzt haben wer will, mögen Erinnerungen daran hängen welche wollen: den Lebendigen gehört die Welt als freies Eigenthum! Morgen am Tage sollen die Maurer heraus und das Schloß drüben abreißen, einen Garten will ich da pflanzen und dort wo nichts steht am Uferrand, baue ich ein anderes Haus und will es bewohnen mit meiner Frau und meinen Kindern! Er sprach mit Begeisterung, die Hand ausgestreckt nach der Stelle wo er sein neues Haus bauen und mit Emmy wohnen wollte, und der sanfte Luftzug des Morgens spielte in seinem Haar. Erwin sah ihn an. Jetzt erst schien ihm Arthur ein fertiger Mensch, ein Mann, und ausgewachsen. Es war als schwebte die Zukunft um ihn her, die er erwartete. Aber wieder rauschte es in den Büschen. Es wäre besser gewesen, Arthur hätte hier nicht so laut ausgesprochen daß er hier der Herr sei und daß er das Schloß wolle abbrechen lassen am nächsten Tage - Es hatte eine Weile gedauert, ehe der Mensch der sich für des Grafen Sohn hielt, die Situation begriffen. Zur Seite geschleudert saß er da und starrte auf die offene Thür hin, durch die Arthur fortgegangen war. Plötzlich sprang er auf, ergriff die auf den

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Boden gesunkene Büchse und begann sie zu laden. Die Thätigkeit gab ihm Gedanken zurück. Er überlegte bei voller Vernunft. Es war ihm lieb, an einem Vorhaben gehindert zu sein, welches er durchzuführen — soviel machte er sich klar — jetzt nicht mehr die Kraft besessen. Lange genug hatte er in der Welt gelebt und so tief war er noch nicht von den Phantasien der letzten Jahre überwältigt, um endlich nicht einzusehen oder zu fühlen wenigstens, daß Arthur, mochte er sein wer er wollte, es ehrlich mit ihm meine. Er wiederholte sich seine Worte. Das Gefühl sogar ward mächtig in ihm, das Arthur Jedem einzuflößen wußte dem er begegnete: das der Liebe und Anhänglichkeit. Und deshalb, als er sich jetzt aufmachte und, die Büchse vor sich als spüre er einem Wilde nach, Arthurs Spuren nachging, waren es keine feindseligen Gedanken die ihn leiteten. Die Idee nach Amerika zu gehen mit Jemand der sich freiwillig ihm so nahe stellte, der Haß mit Liebe vergelten wollte, der keinen Vortheil bei dem im Sinne haben konnte was er ihm vorschlug, erfüllte ihn mit einem wilden Entzücken. So viel Klarheit kam über ihn, daß ihm der Gedanke: sich losreißen zu dürfen von diesem Stück Erde das ihn wahnsinnig gemacht hatte, eine Wohlthat ward. Arthur verdankte er das. Dieser Mensch, den er sein lebenlang gehaßt ohne ihn zu kennen, liebte ihn und war freundlich und gut gewesen. Er wollte ihm nach. Er wollte nicht übertroffen werden an Edelmuth. Lieben und schützen wollte er ihn, vertheidigen wo man ihn anzutasten wagte, zeigen daß er sein Bruder sei, wie er sich als den seinigen bekannt. Ein nie gefühltes Entzücken durchdrang ihn. Wie ein Hund der die Fährte seines Herrn sucht, eilte er Arthur nach. Es bedurfte nicht viel, um im thauigen Grase seinen Weg ausfindig zu machen. Leise, schüchtern beinahe folgte er ihm dann als er ihn endlich entdeckte, die Hand immer noch an der Büchse, als könnten hier sogar seine Dienste verlangt werden. Und so waren sie durch den Wald gegangen. Arthur trat ins Freie. Nur ein Dutzend Schritte, und auch der Andere hätte sich jetzt gezeigt, ihn angerufen vielleicht, demüthig mit Zeichen der Liebe sich ihm genähert, als Erwins Erscheinen ihm Halt gebot. Im Gebüsche steckend, dicht bei ihnen, vernahm Philipp ihr Gespräch, und vernichtend drang in ihn ein was Arthur sagte. Alles Täuschung und Lüge also! Nicht nach Amerika! Hier bleiben! Hier auf seinem Eigenthum! Das Schloß einreißen lassen wollte er am nächsten Tage! Mehr bedurfte es nicht, um den zurückgedämmten Wahnsinn von frischem losbrechen zu lassen. Lügner, Verräther, Bastard, murmelte der Mensch, indem er Arthur auf's Korn nahm, dann, nachdem er einige Minuten auf ihn gezielt, kaltblütig losdrückte als handelte es sich um ein Astloch an dem er sein Auge üben wollte, und dann, nachdem es geschehen, ruhig die Büchse auf die Schulter nahm und den Weg zurück antrat, als sei das gleichgültigste Werk unter der Sonne vollbracht worden. Jetzt bin ich allein der Herr hier, und wehe den andern die mich zu vertreiben gedenken! — dies das einzige das sich in seinem Hirne regte und das er immer von vorn wiederholte. Erwin hatte ihn bemerkt. Einen Kopf sah er aus den Büschen hervorlugen, mit wahnsinnig zitternden Augen ihn und Arthur anblicken; ein paar Arme die eine Büchse erhoben und anlegten; und ehe er im Stande gewesen sich klar zu machen was geschähe — so rasch folgte eine Bewegung der andern — hatte diese Büchse Feuer gegeben und Arthur war zu Boden gestürzt. Zwei Gedanken in Erwins Seele jetzt: den Mörder zu verfolgen und Arthur beizuspringen. Eins aber nur konnte geschehen. Sich niederwerfend neben seinem armen Freunde, der im morgenfeuchten, weichen Haidekraute lag, riß er ihm die Kleider auf und suchte die Stelle wo die Kugel ihn getroffen hatte. Obgleich so sehr gewöhnt an dergleichen, das ihm die letzten Monate vom Morgen bis zum Abend einziges Tagewerk gewesen, schauderte er doch als auf den weißen entblößten Rücken Arthurs die lichte Sonne schien und er die warme, frisch gerissene Wunde sah, aus der Blut hervordrang. Er wußte jetzt welchen Weg die Kugel genommen. Keine Rettung, sagte er sich. Leise wandte er Arthur wieder um, der die Augen aufschlug.

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Da sitzt sie, sagte er und legte die Hand auf die Stelle der Brust, bis zu der die Kugel vorgedrungen war. Nur Eins möchte ich noch: einen Blick in Emmy's Augen. Seine Blicke schweiften über den See. Da steht es und glänzt in der Sonne, und ich hatte ihm Vernichtung zugedacht, sagte er. Wie viel hundert Jahre die Steine nun noch aufeinander bleiben werden. Wie schön der Tag ist. Sag' Emmy, wie sehr ich sie geliebt habe. Nur einen Blick noch aus ihren Augen, einen einzigen! Und er sah seitwärts, wo der Weg zum Försterhause herabging. Emmy aber kam. Vorwärts war sie geschritten mit dem Förster, schweigend beide. Immer noch klang ihr der leise dumpfe Schall des Schusses in den Ohren. Nur ein paar hundert Schritte noch zu der Stelle wo Arthur und Erwin eben noch im Gespräch gestanden. Das grüne Gold der Schonung schimmerte von weitem durch die Stämme, da plötzlich der zweite Schuß. Förster, rief sie, das war eine Kugel! Ja, es klang danach, sagte der Förster und lief vorwärts dann, um zu sehen wo etwa der Rauch aufstiege. Dort! rief Emmy, und nun wie der Sturmwind vorwärts eilte sie der Stelle entgegen. Sie flog, sie sah die zwei Gestalten, sie sah Arthur liegen, sie sah seine nackte Schulter leuchten, einen furchtbaren zweiten Schrei ausstoßend eilte sie ihn zu erreichen. Arthur hatte sie gehört und wandte ihr die Augen zu. Emmy! rief er. Du kommst! Du kommst! Ja, ich komme, ich bin bei Dir, rief sie, warf sich bei - ihm zu Boden, schlang die Arme um ihn und haftete ihre Lippen auf die seinigen. Sie fühlte plötzlich wie seine Arme ermatteten, die im ersten Momente Emmy so kräftig noch umschlossen hielten. Sie richtete sich sanft auf und sah ihm in die Augen. Er sah sie klar an und lächelte. Du bist bei mir? Du bist es wirklich? Jetzt aber ganz leise schon sprechend. Plötzlich überflog seine Augen der starre D u f t a b e r, d e r anzeigt daß der sehende irdische Blick des Geistes auf ewig ihnen fortgenommen ist. Emmy sah es. Sie fühlte nichts mehr. Sie lag über ihn gebreitet, und Erwin wußte nicht ob auch sie jemals wieder erwachen würde. Der Förster war herangekommen. Von dorther ist geschossen worden, sagte Erwin leise. Ich will nicht Ruhe haben, sagte der Förster und umspannte seine Büchse als wollte er Wasser daraus Pressen, ehe ich den im Walde da nicht fest habe. Ich bin Schuld an allem. Gedroht hatte er lange damit und ich es verschwiegen aus Mitleid. Tiras hier! pfiff er und wollte auf den Pavillon zu. Erwin legte ihm die Hand auf die Schulter. Lassen Sie mir die Büchse hier und gehen Sie hinunter, sagte er, und holen Sie Leute. Zu Befehl gnädiger Herr, antwortete der Förster und ging wie ihm gesagt worden war. Erwin aber, die Büchse quer vor sich haltend, weil jeden Moment der Mensch ja seinen Wahnsinn erneuen konnte möglicherweise, stand Wache bei den Beiden. Wieder regte sich nichts ringsum. Ein paar kleine Schmetterlinge, verspätete Nachzügler des Sommers, flogen hin und her und um einander herum und eine Biene brummte leise über die Spitzen des Bodens hin. Erwin senkte die Augen wieder auf die Beiden zu seinen Füßen. Wer weiß wozu es gut war? sagte er sich, und während er so dachte, brachen ihm die Thränen hervor. Er sah Arthur da stehen und die Zukunft besprechen, eben erst war es gewesen; er sah Emmy am Klavier sitzen, so ruhig in vollem Glücke Arthur erwartend. Vorüber Alles. Warum war er es nicht, der für Arthur diese Kugel empfangen konnte, die er nicht gefürchtet hätte?

Sechsundvierzigstes Capitel. Es giebt keinen lieblicheren Platz in Europa, soweit ich es kenne, als die Terrasse vor der kleinen Kirche zu Montreux. Der glänzende See in der Tiefe, weit hingestreckt nach allen Seiten und prachtvoll begrenzt gegenüber von dem rein aufsteigenden Gebirge;

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die kraftvoll außeinanderstrebenden Wallnußbäume in nächster Nähe, auf deren Kronen man hinabsieht abwärts, oder in deren herrliches Gezweig aufwärts das Auge eindringt, die Stille, der warme Hauch des Südens, die flüsternde Ruhe der Bäume und das ewige Spiel und Widerspiel der Wolken am Himmel und auf dem See, lassen ein Gefühl unendlichen Friedens und unzerstörbarer Herrlichkeit des Geschaffenen in unsere Seele dringen. Keine Spur von Fremdheit regt uns hier auf wie in den Berner oder Graubündner Alpen, wo die Colosse übermächtig auf uns eindringen, oder wie an den italienischen Seen, wo zu süß und ausländisch sich die Ufer hindehnen. Zu Hause fühlt man sich und gefesselt, und zu stillerem Takte die Gedanken beruhigt. Es war im ersten Beginn des neuesten Frühlings, an einem sonnigen Vormittage. Eine Gesellschaft hat sich da zusammengefunden. Da sitzt Mrs. Forster; eine schöne alte Frau, jetzt mit schneeweißem Haar. Wer sie oberflächlich angesehen, würde nichts als eine gutmüthig erscheinende ältere Dame in ihr erblickt, wer sie genauer betrachtete, Spuren furchtbaren Leidens in ihren Zügen entdeckt haben. Sie aber hätte sich weder um die Blicke des Einen noch um die des Anderen viel gekümmert. Ihre Augen haben nur ein einziges Ziel, wenn auch eins das nichts von dieser Aufmerksamkeit fühlen soll: Emmy. Emmy ist immer noch schön wie früher. Nur zu schön vielleicht. Ihre Augen glänzen noch immer. Nur zu sehr vielleicht. Ihre Wangen sind zart geröthet. Nur zu zart vielleicht. Etwas von der Mattigkeit einer wilden Rose hat sie jetzt, deren lose Blätter in demselben Momente, wo sie sich erschließen, auch abzusinken drohen. Sie sitzt auf der niedrigen Mauer welche mit Epheu bewachsen den Platz umgiebt, und blickt hinab auf den See. Nicht so fest wie früher hält sie sich aber, sondern leicht gebeugt, als wäre ihr bequemer sich anzulehnen irgendwo. Sie verfolgt mit den Augen die Wolkenzüge, die schwer aufliegend auf dem Kamme der Berge drüben, herüberziehen über das Gewässer, während ihr Widerschein in den Spiegelglanz des See's einfließt. Sie hält ein paar Veilchen in der Hand: große, üppige Blüthen die vollen Duft ausströmen, sie sieht die Blumen an und legt sie plötzlich neben sich und ihr Taschentuch darauf, als wollte sie sie nicht mehr sehen. Und auch Erwin sitzt da, etwas entfernt von Emmy, neben Mrs. Forster, scheinbar in Zeitungen lesend, auch er dennoch wie Emmy's Mutter mit einem Ziele nur für seine Blicke, und auch er es verheimlichend. Auf den Stufen der Kirchthür aber mit einem Buche das kleine berliner Fräulein, das aus Italien kommt. Nachdem es sich in den böhmischen Lazarethen über seine Kräfte beinahe abgearbeitet, ist es mit einer nervenschwachen reichen alten Dame für den Winter nach Rom gegangen, hat derselben schließlich in aller Güte erklärt, daß diese Stellung unerträglich sei, hat einen Remplayant ausfindig gemacht, installirt und angelernt, und sich dann allein auf die Rückreise begeben. In Mailand hat es darauf eine rumänische vornehme Familie kennen gelernt, den Musikunterricht zweier jungen Damen daraus übernommen, und ist glücklich bis Montreux gelangt, wo soviel zusammentrifft in den Herbst und Frühlingsmonaten. Drei Personen aber gehen langsam auf und nieder. Mr. Wilson, der aus Amerika gekommen ist auf Erwins schriftliche Bitten, und Mr. Smith, und neben ihm seine junge Frau, die er kürzlich in Paris geheirathet hat, eine Russin, kaum achtzehn Jahre alt, fein und zierlich gebaut, in ein rothes Wollenhemdchen gekleidet das ein goldener Gürtel eng zusammenhält, und mit ein paar dunklen, weitgeschlitzten, sanften Augen, mit einem wunderbar golden-bräunlichen Anflug im Teint und von einer ewigen zierlichen Unruhe in ihrem Wesen. Wie ein schönes ausländisches Thierchen bewegt sie sich in der Gesellschaft, wie ein zahmes Reh mit goldenem Halsband, das, wenn es auch kein Wort spricht, doch überall dabei ist als schweigende Hauptperson. Sie pflegt meistens nur anzuhören was die Anderen sagen, lächelnd als verstände sie alles, und dabei mit den sanftfeurigen Augen träumerisch vor sich hin oder vielmehr auf ihren Mann sehend, an den sie wie festgezaubert zu sein scheint. Und wenn Smith erzählt wie er sie erbeutete, ist es als berichtete ein Seefahrer von einer halsbrechenden Expedition, von der er die kleine Gestalt als Sklavin oder

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Königstochter mitgebracht. Und doch hat er im Grunde nur den leidenden und sie den activen Theil gespielt. Es war ihm alles über den Kopf weggenommen worden. Die russische Familie, eine fürstliche sogar, hatte zuerst nichts weder von der Leidenschaft des Mädchens noch von einer Verbindung mit Mr. Smith wissen wollen. Er war den Leuten auf der Eisenbahn begegnet: als ganze Caravans hatten sie sich auf irgend einem südlichen Winkel des Reiches auf die große Weltreise begeben mit Söhnen, Töchtern, Kindern an der Ammenbrust, Kammerjungfern, Bedienten, Hunden und Betten. In eines der Coupes mithineingerathen in die dieser Strom gefluthet war, der aus England nach Paris überzufließen im Begriffe stand, hatte Smith die Aufmerksamkeit aller zusammen erregt, war angeredet, angezogen und schließlich für Paris eingeladen worden. Seine behagliche, männliche und zugleich doch sammetweiche Art sich anzuschließen und familienmäßig freundlich zu sein, ließ ihn bald wie zu einem Verwandten werden; ihn selber amüsirte es, auf diesem Wege eine Art Häuslichkeit zu finden die ihm neu war, und er dachte an nichts Arges oder nur Ernsthaftes. Er ritt mit den Söhnen und dem Vater, fuhr mit den Damen, balgte sich mit den Kindern, fehlte nirgends und war stets bei guter Laune, bis er eines Tages beim Frühstück sitzend ein räthselhaftes Billet empfing, von der regierenden Dame abgefaßt, die ihm in erträglichem Englisch mittheilte, so verblümt und höflich als möglich, er möge sich zurückziehen. Smith fand das Schriftstück so unverständlich, daß er lange davor saß und sich einen Weltweisen herbeiwünschte um ihm den Inhalt klar zu machen, bis er auf die sehr natürliche Idee kam, zu gehen und an der Quelle selber die Erklärung dieses Textes zu verlangen. Man nahm ihn nicht an, die Dienerschaft ging ihm kleinlaut aus dem Wege, dagegen erschien am nächsten Morgen ein zweiter Brief, welcher, schärfer abgefaßt, deutlicher lautete. Jetzt wachte er auf. Er sollte der kleinen Matuschka den Kopf verdreht haben? Er sich eingedrängt haben in diese Familie? Er seinen Stand vergessen haben? Er, Mr. Smith, aus NewJork, fragte er sich selbst nun, amerikanischer Bürger und freier Mann: welchen Stand hatte er denn, der unter irgend welchem anderen Stande wäre? Auf den Tisch schlug er (er war allein) daß das Zimmer dröhnte. Allerdings war ihm das Mädchen reizend vorgekommen, nie aber hatte er an die Dinge gedacht, deren er sich hier beschuldigt sah. Ihn empörte das zumeist: daß er heimlich zu Werke gegangen sein sollte, während er, wenn er offen hätte verfahren wollen, sich wahrhaftig nicht zu geniren brauchte. Immer noch der Ehre zuviel für dies halbasiatische Gelichter! Sein Blut empörte sich. So deutlich als ecplicirte er in Amerika vor einer Wahlversammlung seinen Standpunkt, sprach er das jetzt schriftlich aus und als ächter Amerikaner schloß er damit: er habe bei den Herrschaften so und soviel Diners und Thee's eingenommen, taxire jedes auf 100 Frcs., und lege eine Quittung über 2000 Frcs. bei, welche er darauf hin dem Polizeicommissaire des Arrondissements in dem er wohnte für die Armen eingehändigt. Habe er zu niedrig taxirt, so wolle er das Doppelte oder Fünffache zahlen, man möge es ihn nur wissen lassen. Dieses Billet machte einen sonderbaren Effect. Insofern zuerst, als die Familie dahinter kam daß sich die kleine Prinzeß ganz ohne sein Zuthun in Mr. Smith auf eigne Faust verliebt, und daß man einen Mann beleidigt habe der nicht mit sich spaßen lasse. Jetzt gab es furchtbare Scenen, woran Bedienten, Ammen und Kammerjungfern theilnahmen und die Hunde heulten. Und das Ende war: der Vater hatte so lange stillschweigend calculirt, die Mutter so lange russisch, französisch und englisch geschwatzt, die kleine Uebelthäterin war so lange wie ein in Brand gerathener Schwärmer unter den Ihrigen umhergefahren, bis diese, in Angst gerathend, Smith gegenüber mildere Saiten aufzuziehen beschlossen, für deren Melodien er selbst jedoch so lange taub blieb, bis er triumphirend sogar bei ausgespannten Pferden wieder in die Familie hineingezogen ward. Jetzt begann er die Sache ernsthafter anzusehen. Sich zu verheirathen, wäre längst für ihn an der Zeit gewesen. Er sehnte sich danach, seinen Reisen einen Abschluß zu geben und in Amerika festsitzen zu bleiben. Unter den Damen dort, auch unter seinen Landsmänninnen nicht, die er unterwegs getroffen, war ihm keine recht gewesen (daß er an Emmy nicht denken

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dürfe, fühlte und wußte er zu gut), überhaupt die Amerikanerinnen gefielen ihm nicht. Er verlangte etwas weniger Verstand und mehr Phantasie, etwas weniger Unruhe und mehr Leidenschaft: die kleine Prinzeß Matuschka besaß das alles. Aus ihr konnte er machen was er wollte, und ihren vielen Geschwistern gab es am Ende Mittel aus dem Wege zu gehen. Und schließlich: es war Mr. Smith nicht gleichgültig eine Fürstentochter zu heirathen, mochte immerhin eine kalmückische Tante möglicherweise in der Familie heimlich drinstecken. Er war ein freier Mann, und wenn ihm das „Fürstliche" zusagte, konnte er sich seinem Geschmacke ja hingeben, es ging Niemand etwas an. Und so erschien ihm das junge Mädchen immer reizender, anmuthiger, erwerbungswürdiger, ohne ihn jedoch in seiner natürlichen Geschäftsroutine irre zu machen. Vielmehr ließ er in dieser Sache Ruhe und Klugheit so kräftig walten, daß man ihm, die ersten Anträge machte, worauf er denn zuletzt wie ein europäischer Matrose den eine wilde Völkerschaft zum Kaiser machen will, sich mit Grazie die kleine Dame um den Hals hängen ließ und nachdem das geschehen war sie sofort auf Reisen davonführte. Mr. Wilson machte jetzt in Montreux mit ihr stille Erziehungs- und Zähmungsversuche, und war es ihm bereits gelungen, der jungen Frau eine Ahnung dessen beizubringen, was aus ihrem zumeist mit französischem Romanfutter gefüllten kleinen Kopfe heraus und was hinein müsse. Mr. Smith, außerordentlich dankbar dafür, litt es geduldig daß seine blonde Mähne, als Gegenleistung, etwas zusammengezwängt und seine Toilette auf einen anderen Fuß eingerichtet wurde. Und so gehen sie jetzt auf und nieder und Wilson muß auf Smiths Bitten von seiner Wildniß erzählen und Smith beschreibt das Zimmerchen in dem sie bei ihm logiren werden und die kleine Russin hört das alles an und ist es ihr ganz gleichgültig, so lange nur ihr Mann bei ihr ist, ob seine und seiner Freunde Besitzungen in Amerika, Afrika oder Australien oder sonstwo liegen, da alle Erdtheile in ihrem Kopfe doch eine große allgemeine Masse bilden, die wie die ewige Wirthshausmayonnaise überall gleich schmeckt. Und wer dort? Als hätte das Schicksal die Laune gehabt, Niemand solle fehlen vom alten Kreise, soweit er noch am Leben war, stellten sich rein zufällig an verschiedenen Seiten erscheinend der alte Kunstfreund und der alte Oberst ein in Montreux. Ersterer auf einer Entdeckungsreise durch die Schweiz begriffen, bei der es sich jedoch weder um naturhistorische noch um ästhetische Ziele handelte, sondern um Gemälde. Wunderbares hatte er dabei gefunden. In altertümlichen reichen Bauerhäusern gute Bildwerke und Schnitzereien; in kleinen Dorfkapellen, abseits vom großen Wege liegend, werthvolle Altargemälde; Sammlungen endlich, versteckt wohnender alter Patrioten in dieser oder jener Stadt oder auf Landgütern. Ganz voll war er von einem entzückenden Portrait, das er in einem alten Thurmschlosse entdeckt, wo es, unter anderen Bildern, von seinem Besitzer bewacht und bewundert, wie ein verstecktes Dornröschen geschlafen hatte und das jetzt der Welt wieder offenbart und verkündet werden sollte. Auf jahrelang unbetretenen Böden hatte er Holzbildwerke gefunden, oder in vergessenen Stuben alter Rathhäuser die er die Leute ihm aufzuschließen zu nöthigen verstand, seltsame Stühle auf denen Richter, Rathsherren und Bürgermeister gesessen. Ueber all das waren auf abenteuerliche Papierstücken, auf die Rückseiten von Rechnungen und Couverts Notizen gemacht, die er jetzt in seinem Tagebuche geordnet zusammenstellte. Der alte Oberst dagegen, nachdem er als Anhängsel der böhmischen Armee Siegesberichte für einige norddeutsche Zeitungen verfaßt hatte, war zur Erholung nach Spanien gegangen, um dort die eigenen alten Schlachtfelder noch einmal aufzusuchen, hatte dabei in Kirchen und Palästen Murillo's und Velasquez' Werke nun zum zweiten Male schon von neuem betrachtet und sprach darüber mit solchem Feuer, daß der alte Kunstfreund ihm wider Willen zuhören mußte. Ueberhaupt stand es anders zwischen ihnen als sonst, ihre Verehrung für Emmy hatte etwas wie eine geistige Verwandtschaft begründet. Sie theilten sich ihre Sorgen mit um sie, und statt eifersüchtig zu beobachten wie in früheren Zeiten ob der eine oder der andere der begünstigtere sei, freute sich jetzt jeder über den geringsten Lichtschein

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von Lächeln, der ihrem Ideale abgewonnen ward, gleichgültig welchem von ihnen beiden es gelungen war. Und endlich, als Schluß der Gesellschaft, der Bildhauer, derjenige der vielleicht tiefer als sie alle den Verfall des großen Glückes empfand den er mit erlebt hatte, und der sich zugleich in sich selbst doch am glücklichsten fühlte. Neben den beiden alten Herren stehend, die etwas abseits von Emmy an einer anderen Stelle der Mauer ihren Sitz genommen, horcht er ihrem Gespräche, und die Ferne, in die diese Reise sein erster Weg hinein ist, steht in dem vollen Zauber noch vor seinen Blicken, wie ein Kind in sie hinein blickt. Wer ahnte damals als er Arthurs Züge zuerst für seine Kunst sich zu nutze machte, daß ihm jetzt der Auftrag zu Theil werden würde, ein Grabdenkmal für ihn zu arbeiten? In Carrara wollte er den Marmorblock selbst aussuchen und es in Rom dann vollenden. Die dafür ausgesetzte Summe machte diese Reise und mehrjährige ruhige Arbeit in reichlichem Maaße möglich. Der höchste Wunsch des jungen Mannes war so in Erfüllung gegangen, und das Traurigste mußte, nach der alten Regel: daß Leben dem Tode entquillt, hier dazu dienen, ihm einen Weg des Ruhmes vielleicht zu eröffnen, der Sturz einer edlen Existenz die Basis eines neuen Lebens begründen helfen. Der alte Kunstfreund aber, entzückt von der Begeisterung seines jungen Freundes, den er geistig genommen in unschuldiger Anmaßung zuweilen seinen Schüler nennt, ist beinahe entschlossen mitzugehen nach Carrara, und das kleine Fräulein, das sich nun zu ihnen hingewandt hat, erbietet sich als Jemand der das Land aus dem Grunde kenne mitzugehen und die Wirtschaft zu führen. Und nachdem der Roman ein wenig ausgesponnen, geht sie zu Emmy und theilt ihr diese Pläne mit, nur um eines einzigen kleinen Lächelns willen, und der Bildhauer und die beiden alten Herren hören aus halber Entfernung die Erzählung aufmerksam mit an, jeder in der Verfassung sobald sich bei Emmy das erwartete Lächeln zeigt, mitzulachen. Sie aber hört es zwar freundlich an, vermag aber selbst diesen kleinsten Tribut heute nicht zu erschwingen. Sie fühlt sich zu ermattet innerlich von anderen Gedanken, die sie lange schon bewegen. Wo war Arthur? Sie wußten es Alle. Erzählt war es, besprochen und beweint worden. Emmy hatte ihn nicht gesehen wie er todt dalag, schön und friedlich wie eine herrliche Statue, die für bessere Zeiten vergraben werden soll, um unberührt eines Tages sich wieder zu erheben und angestaunt zu werden von fremden spätgeborenen Generationen. Sie war nicht dabei gewesen, als an dem nebligen regnerischen Morgen Erwin und der Bildhauer dem Sarge folgten durch die noch morgentodten Straßen hinaus auf den Kirchhof, wo der dunkle frische Erdhaufen aus dem Boden gerissen dalag, von dem sie beide als letztes Geschenk ein paar Schollen hinabwarfen. So viel Tage nach dem erst war Emmy sich ihres Lebens wieder bewußt geworden. Die Augen hatte sie aufgeschlagen und umhergesehen, ihre Mutter und Erwin erkannt, die an ihrem Bett saßen, mit matter Neugier weiter umhergestarrt und plötzlich die Augen wieder geschlossen. Dann sprach sie Arthurs Namen aus, und als Niemand antwortete hatte sie ihn niemals wieder ausgesprochen. Langsam sich dann aufgerichtet, geredet über Gleichgültiges und ihrer Mutter von Anfang an versichert, sie fühle sich wohl und werde bald wieder ganz gesund sein. Aber sie hustete; sie schlief nicht; sie nahm fast keine Speise zu sich. Bis auf einen gewissen Grad erholte sie sich trotz alledem, dann aber wollte es nicht weiter. Erwin sprach aus, man müsse fort sobald als möglich. Er selbst ging mit. Er dachte nicht daran wie lange es dauern könne, ob es mit seiner öffentlichen Stellung verträglich sei, er fühlte es sei unmöglich Emmy zu verlassen; und so waren sie nach Montreux gelangt, mit der Idee im Sommer irgendwo an die See oder wenn möglich nach NewJork zurückzugehen. Für Erwin und Mrs. Forster nur die eine Beschäftigung jetzt: Emmy's Athemzüge und Pulsschläge zu zählen, und zu berathen ob es vorwärts ginge oder nicht. Nur mit Wilson besprach die Frau dann auch die Vergangenheit. Ihm schüttete sie ihr Herz aus und fühlte sich beruhigt wenn er in seiner klaren Weise den Faden der Notwendigkeit entdeckte, der von Anfang an gesponnen keine andere

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Richtung nehmen konnte. Emmy aber beanspruchte, daß man sie als gesund gelten ließe. Sie wußte besser als Erwin und ihre Mutter, wie sehr sie es nicht sei, bezeigte sich aber dankbar daß man den Schein aufrecht erhielt ihren Wünschen gemäß. Sie sprach davon wie schön das Land und wie wohlthuend die Luft hier sei. Wenn sie allein sein wollte, heuchelte sie Schläfrigkeit, und wenn sie Nachts still dalag, Schlaf, um ihre Mutter nicht zu ängstigen. Und die ganze Gesellschaft ging ein auf diesen unschuldigen Trug. Keine Trauer sollte gezeigt werden. Das kleine Fräulein war unerschöpflich an Erzählungen. Böhmen berührte sie nicht, Arthurs wegen, Italien dagegen beschrieb sie auf das liebenswürdigste. Die Construction aller Betten in denen sie da hatte liegen müssen, aller der wunderbar decorirten Zimmer in denen sie logirt, aller Kutscher mit denen sie gefahren, aller Esel auf denen sie geritten war. Alle Melodien hatte sie behalten, die ihr von der Straßensängerei bis zur Opernmusik durch die Ohren gegangen waren. Statuen, Bilder, Paläste, Nationalspeisen, Trachten, Gerüche: ein unendlicher Kehrichthaufen von Erinnerungen, der sich in ihr aufgethürmt hatte. Von vornherein mit der Absicht nach Italien gegangen: alles zu bemerken und in Acht zu behalten, hatte sie in umfangreichster Weise sich selbst übertroffen in diesem Bestreben. Und indem sie ohne Auswahl Eins an's Andere kettend bei überquellender Wortproduction doch stets reelle Eindrücke und wirkliche Anschauungen zum Besten gab, so amüsirte sie stets und man hörte dankbar und wohlgewogen zu. Und so auch lächelt Emmy und hört freundlich zu, als die kleine Mrs. Smith jetzt auf sie zukommt, sich an sie schmiegt, ihre Hand streichelt und, in die Tasche greifend, zu allgemeiner Ueberraschung und mit eigener geheimnißvoller Miene einen halbverrosteten Schlüssel von bedeutender Größe producirt, der aber an einer schweren goldenen Kette hängt und den sie in die Höhe hält als schlösse er zu der Schatzkammer eines Königs. Rathen Sie, woher ich das habe, sagte sie schalkhaft, während die andern neugierig zusehen. Ich habe ihn bei meinem Manne entdeckt! ruft sie triumphirend. Er schließt zur Gartenthür zwischen Ihnen und uns in New-Jork. Künftig werde ich immer zu Ihnen können, wenn ich will, und Sie haben kein Mittel mich zurückzuhalten! Sie hat nicht eher Ruhe gehabt, als bis ich ihn ihr gegeben habe, sagte Smith. Er war mir zufällig in der Tasche stecken geblieben. Emmy aber dachte an den Morgen, wo sie dort durch die Hecke sich drängte, und an die Bäume, unter denen Arthur gelegen, Thränen dringen ihr aus den Augen und sie muß sich abwenden. Die andern sahen es alle. Sie errathen, daß irgend eine Erinnerung wohl diese Trauer in Emmy erweckt haben mußte. Mr. Smith suchte deshalb einen Ausweg. Liebes Kind, wandte er sich zu seiner jungen Frau, Amerika liegt einstweilen noch ein gutes Stück entfernt von uns und andere Punkte sind näher. Wenn es nach mir ginge, so stiegen wir alle in diesen jungen frischen Tagen jetzt in drei bis vier Wagen und führen über die Alpen und dann langsam die Riviera entlang nach Pisa, und dann gingen wir auf die Eisenbahn und suchten so recht behaglich Neapel zu erreichen und mietheten eine große Villa in Sorrent, und wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: so lüden Mrs. Forster und ich die ganze Gesellschaft ein, mit uns dahin zu gehen und auf unbestimmte Zeit uns die Ehre zu gönnen, sie wie in unserm eigenen Hause aufzunehmen. Was? Damit schließend sah er sich im Kreise um und Niemand schien etwas dagegen zu haben, wenigstens in diesem Momente nicht. Was, liebe Freundin? wandte sich Smith dann noch einmal zu Emmy. Emmy nickte als wolle sie sagen, sie erkenne ihres alten Freundes guten Willen an. Was, Mr. Wilson? wandte sich Smith weiter herum. Und als Wilson nichts sagte, gerieth sein Geist auf noch höhere Gedanken. Im April, rief er, kommt mein Freund Brown mit seiner Jacht nach Neapel. Diese Jacht miethe ich ihm ab auf sechs Monate und wir fahren alle nach Aegypten, nach Jerusalem und Constantinopel. Constantinopel! rief die kleine Russin neben ihm und klatschte in die Hände. Und von

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da — wenn die Gesellschaft nichts dagegen hat — wieder zurück nach Marseille und von da gehen wir in die Pyrenäen! Und im Herbst nach Biarritz! Was, Mr. Wilson? Ganz Ihrer Meinung, lieber Freund, sagte dieser, nur daß wir Andern Sie und Ihre liebe junge Frau einstweilen allein die Reise machen lassen, während wir Sie hier in aller Stille zurückerwarten. Und es scheint mir als würde unsere oberste Instanz, der Doctor, ebenfalls dieser Meinung sein. Doctor, appellirte Smith jetzt in ganz kläglichem Tone an Erwin, glauben Sie nicht, daß eine solche Tour, bei allem nur erdenklichen Comfort, unter Umständen die günstigsten Resultate für Miß Emmy haben könnte? Gewiß! Gewiß! betheuerte die kleine Mrs. Smith, deren Geist bereits völlig in Constantinopel einlogirt war, und sah Erwin mit ihren Augen an, als könnte hier bitten helfen. Erwin wollte etwas verbindlich beruhigend ablehnendes antworten, als Emmy sich von ihrem Platze erhob und die wenigen Schritte, deren es bedurfte, um ihn zu erreichen, auf ihn zukam. Emmy hatte, während das Gespräch so um sie schwirrte, weitabliegende Gedanken gehabt. Längst hatte sie Erwin etwas sagen wollen und immer nicht gesagt, weil sie fühlte daß es sie zu sehr erschüttern würde. Heute aber sollte es geschehen; es durfte nicht aufgeschoben werden. Und so war jetzt der Moment gekommen, den gefaßten Entschluß auszuführen. Lieber Freund, sagte sie, ich möchte ein wenig dahinaus mit Ihnen gehen — sie deutete auf die am Abhang hinführende Straße — wollen Sie? Erwin erhob sich. Sie legte ihren Arm in den seinigen und sie gingen langsam Schritt vor Schritt von der kleinen Kirche fort, den herrlichen, schattenüberwölbten Weg entlang, von dem sich der ewig wechselnde, ewig gleiche Doppelblick bietet: rechts über die sanften Gipfel der Bäume zum See hinab, links in Felsen und Stämme und Wurzeln und üppiges Grün hinauf, das in den Spalten des zerklüfteten Steinreichs sich festhielt und über die sanfteren Flächen sanfter sich hinbreitete. Mitten hindurch reißt sich von Zeit zu Zeit ein Bergquell, quer über den Weg selbst seine Straße sich wählend um auf der anderen Seite sich in die Tiefe zu verlieren. Und durch die Luft schwebend der Duft der Narcissen, die, in dichten Büscheln im Grünen stehend, die weißen Blumen an den schwankenden Stengeln ringsum sich voneinandersenken ließen. Eine kleine Strecke waren sie so gegangen, als Emmy halt machte. Ein gewaltiger Nußbaum, abgeholzt und schon in Stücke zersägt, lag am Wege. Emmy setzte sich darauf nieder und bat Erwin sich neben sie zu setzen. Lieber Freund, begann sie, hielt dann aber inne, weil sie den Athem erst noch ein wenig zusammensuchen mußte — lieber Freund, wiederholte sie, Sie wissen wieviel Vertrauen ich zu ihnen habe. Ja, sagte er, das weiß ich. Gewiß, denn Sie müssen es wissen, fuhr sie fort. Nun aber quält mich etwas Tag und Nacht — etwas, das zu ändern in Ihrer Macht liegt. Erwin schwieg als ahnte er was kommen sollte. Es quält mich, sagte sie weiter, daß Sie unthätig hier Ihre Zeit mit uns verbringen, während zu Hause soviel Sie erwartet: Pflichten gegen die Menschen, gegen ihr Vaterland, gegen sich selbst. Erwin sah auf den Boden und zog Linien in den Sand mit dem Stocke, den er in der Hand hielt. Wenn ich mir auf irgend eine Weise vorrechnen könnte, fuhr sie fort, Sie dürften bleiben, so würde ich Sie bitten uns nicht zu verlassen. Aber ich kann es nicht und darf es nicht. Emmy! rief Erwin hastig aus und schwieg dann wieder. Sie sind jung, sagte sie. Sie haben Arthur und mir zuviel schon geopfert: Zeit und Gedanken. Lassen Sie uns ganz ruhig reden, sie legte die zarte Hand auf seinen Arm weil sie an der Art, wie er mit seinem Stocke spielte sah wie bewegt er war. Sagen Sie

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mir ehrlich: ist Ihr Leben nicht zu gut, um neben mir sich noch Monate lang vielleicht so hinschleifen zu dürfen? Ohne anderen Nutzen als daß mir eine Freude damit geschieht, der ich zu Gunsten Anderer welche größere Ansprüche haben, aber doch entsagen muß! Wer hat Ansprüche an mich? fragte er. Ich weiß nicht, antwortete sie, wer. Aber wenn ich mich ansehe und Sie: es ist sündlich, eine Kraft wie die Ihrige wie ein Spielwerk hier abzunützen. Geschieht nicht so wichtiges, bedeutendes jetzt bei Ihnen zu Hause, das Ihre Gegenwart fordert, wie aller derer welche ihr Vaterland lieben? Und ich? Sehen Sie mich an, sprechen Sie redlich: glauben Sie daß ich zum Leben bestimmt sei? Ich hoffe es zu Gott, antwortete er. Wer sollte nicht wenigstens hoffen dürfen? sagte sie. Meine Mutter darf es und die Anderen. Sie aber nicht, Erwin, Sie wissen es besser. Und nun bedenken Sie: wollen Sie dies langsame Abrinnen des Sandes bis zum letzten Körnchen miterleben? Lieber Freund — sie sprach weder bewegter noch auch nur hastiger —: ich weiß, wie sehr Sie mich lieben. Ich habe zufällig ein Gespräch zwischen Ihnen und meiner Mutter gehört. Ich fühle es! Können Sie erwägen, in welchem Maße mich das quält? Wie ich Sie hier Gefühle und Gedanken, die einst einer Anderen gehören, nutzlos vergeuden sehe? Jeder Tag mehr so, ein Zuwachs an Vorwürfen, die ich mir machen muß. Wollen Sie, daß zu allem was ich leide, das noch hinzutrete? Und wenn ich Ihnen nun erwiedere, sagte Erwin jetzt, daß es für mich in alle Zukunft kein Glück geben wird, als, sei es um auf Ihre Gedanken einzugehen, die Erinnerung nur an die Zeit die ich jetzt noch mit Ihnen verleben darf? Daß Sie durch jeden Tag mehr den Sie mich neben sich dulden dieses Glück vergrößern? Kann Sie das nicht bewegen, diese Gedanken um mein Wohl bei Seite zu legen? Und da Sie nun wissen und aussprechen, was ich selbst vor Ihnen zu erwähnen niemals den Muth gehabt hätte: sind Sie nicht im Stande nun zu ermessen was mir jeder Ihrer Athemzüge werth ist? — mag Ihnen nun eine beschränkte Anzahl nur, oder mögen Ihnen, wie ich hoffe und glaube, unzählige noch zugemessen sein. Ich glaube es Ihnen wohl, sagte sie leise, aber es darf nicht sein. Sie wähnen, fuhr Erwin fort, ich sei unentbehrlich zu Hause. Wie entbehrlich ist der Mensch doch überall, wie sehr bin ich es zumal, wie wenig genügt mir was ich thue. Ich war beschäftigt vom Morgen bis zum Abend weil es mein Wille war; dieser Willen aber ist erschöpft. So zu wirken und einzugreifen wie meiner Sinnesart und meinen Fähigkeiten angemessen wäre, wird mir nie gelingen. Meine ärztliche Thätigkeit, mag man mir großes Zutrauen schenken und meine Praxis sich ausdehnen, wird immer mehr zu einem Metier in meinen Augen, in dem jeder Andere an meiner Stelle ziemlich dasselbe zu leisten vermöchte. Bald genug wird mich Niemand mehr vermissen, oder sich meiner erinnern nur. Ich sehne mich danach die Fesseln abzuwerfen die unser heutiges Leben umschließen. Ich will mit freieren, unabhängigeren Menschen in Verkehr treten. Will mich heftigeren Naturen gegenüber sehen; kräftiger, sichtbarer eingreifen, als mir zu Hause jemals möglich sein wird. Ich müßte an einer anderen Stelle stehen um das bei uns zu können. Leben nicht jenseits des Oceans Millionen Deutsche schon, blutsverwandte Landsleute, unter deren Füßen, weil sie Deutsche sind, auch in Amerika deutscher Boden liegt? Darf ich mich nicht, wenn es mich dazu drängt, dorthin wenden, wo diesem nagenden Gefühle: nichts zu sein und nichts zu vermögen, anderer Widerspruch sich entgegenstellt? Dort das Meinige zu thun daß deutsches Wesen aufrecht erhalten werde und nicht zusammensinke, ist ein edles, würdiges Ziel für den welcher sich in diesem Sinne zum Missionar berufen fühlt. Dort werde ich säen und Frucht erleben, während ich hier nichts mehr zu entdecken vermag das mich anlockte meine Kräfte zu gebrauchen. Emmy faltete die Hände, weil Erwins Heftigkeit sie zum Zittern brachte. Und Sie, fuhr er fort ohne zu gewahren wie er Emmy erschütterte, Sie, die es belastet, mich neben sich zu fühlen, Sie wollen mir zu allem was ich trage, das unerträgliche noch aufbürden: Sie jetzt verlassen zu müssen? Getrennt von Ihnen, unaufhörlich an

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Sie zu denken? Keine Nacht zu ruhen ohne brennende Sorge um Sie. Tag für Tag mir vorzuwerfen, daß ich Ihnen nachgebend Sie verließ und anderen Händen überantwortete und anderen Augen die Sie weniger gut zu errathen und zu behandeln verstehen, die Sie opfern vielleicht, während es mir gelungen wäre Sie zu erhalten? — wenn auch nicht für mich — fügte er leise hinzu. Denn ich sprach wohl davon mit ihrer Mutter und Sie haben richtig gehorcht, niemals aber rechnete ich darauf. Zu frühzeitig habe ich gelernt, daß dem Einen volle Becher, dem Andern kein Tropfen beschieden sei vom Trunk des Glückes, und daß der Himmel sich weder zwingen noch erbitten läßt. Ja, wenn Sie sagten: besser, wir wären uns niemals begegnet, so würde ich nicht zu widersprechen wagen. Aber da mir nun einmal zu Theil geworden ist, Dir zu begegnen, und da ich so lange schon mich für ein Leben vorbereitet habe ohne Dich, Emmy: warum mir noch dies Letzte nehmen wollen? Ich will Dir versprechen Dich zu verlassen wenn Du wieder gesund bist; jetzt aber stoße mich nicht von Dir. Emmy sah ihn traurig an und machte eine verneinende Bewegung. Ich weiß nicht, was geschehen wird, sagte sie dann, aber ich fühle es. Rasch genug wird sich erfüllen was Deine Kunst nicht verhindern kann. Fühlst Du nicht, wie es mich beruhigen würde, zu wissen es werde Dir erspart bleiben, dieses letzte Ende mitzuerleben? Fühlst Du nicht wie es mich ängstigt, mich zu schuldig zu wissen an Deinem Bleiben, bei solchen Gedanken? Erwin, ich weiß wie sehr Du mich liebst: laß mich um dieser Liebe willen Dich bitten, geh' fort! Versuche sobald als möglich für Dich zu leben wieder. Du wirst glücklich werden eines Tages. Und wenn Du dann an mich zurückdenkst, kannst Du Dir sagen, daß es gut war meine letzte Bitte erfüllt zu haben. Gut für uns beide. Ich will sehen ob ich Kraft habe Dir zu gehorchen, sagte er. Du wirst sie haben, rief Emmy und erhob sich um den Weg zu den Andern mit ihm zurückzukehren. Sie sprachen nicht mehr darüber. Nur einmal im Laufe des Tages fragte sie ihn: wann reisest Du, Erwin? und er antwortete: Laß es mich noch bedenken. Kommt es denn auf einen Tag mehr oder weniger an, liebe Emmy? setzte er hinzu. Nein, sagte sie, ich weiß selbst nicht, was mich die Frage eben wieder thun ließ. Und doch fragte sie an demselben Tage noch einmal. Eine wachsende Unruhe erfüllte sie, die sich so aussprach. Erwin flüsterte ihrer Mutter zu, der Puls ginge ein wenig erregter. Wie konnte er an Reisen denken? Emmy aber erschütterte es, nur seine Finger an ihrem Handgelenk zu fühlen. Sie ging umher in Träumen. Abends träumte sie schon als liege sie allein zu Bette und saß doch noch mit den Anderen vor der Thür unter den Fittigen der milde streichelnden Nacht (Erwin hatte nichts schädliches darin gefunden) und die Sterne schienen ihr wie große, große Lichter auf sie einzudringen. Erinnerst Du Dich, sagte sie zu Wilson, was Du mir einmal vor Jahren sagtest: Wenn die Sterne alle tausend Jahre nur in einer einzigen Nacht schienen, wie würde die erwartet werden von den Menschen, und Generationen auf Generationen sich erzählen von diesen Stunden in denen sich die Wohnungen des Himmels aufthaten. Die ganze Gesellschaft, die eine Zeit lang schon in Schweigen versunken, wurde wie aufgeweckt durch diese Worte, die aus Emmy's Munde rein in die Stille hineinklangen; jedem eine Fülle von Gedanken erregend, und keiner doch wagte sie auszusprechen. Nachts aber hatte Emmy einen wunderbaren Traum. Sie war Abends, als sie sich legte, von einem Zittern überschlichen worden und Wilson und ihre Mutter hatten neben ihr sitzen müssen bis sie einschlief. Sie hatten von Mountainville gesprochen und jenem Tage wo Arthur dort mit ihnen zusammentraf. Manchmal war ihr als säße sie dort, und sie sprach so. Dann schlief sie ein, und Wilson schlich sich leise fort um selbst zu schlafen. Dies Emmy's Traum aber. Zwischen Mitternacht und Morgen glaubte sie zu erwachen. Ihr erster Blick auf das Fenster, durch das matte Helligkeit einströmte, war frei und klar und sie wußte wo sie war. Auch ihre Mutter die neben ihr schlief, hörte sie athmen. Noch einen Moment weiter aber, und mit einem Druck den sie nie zuvor empfunden,

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befiel sie überwältigende Angst. Es waren nicht mehr jene einzelnen Gedanken, die sie in den letzten Tagen quälten, sondern als hielte eine Riesenhand alle Gebirge der Erde an einem dünnen Faden über ihr und jeden Moment könnten sich die Finger öffnen die ihn hielten und die Masse Herabstürzen um ewige Zeiten auf ihr liegen zu bleiben. Sie irrte mit den Blicken umher in sich und außer sich, nach einem Schimmer von Licht suchend, nichts aber bot sich dar, der Schein des Fensters erloschen, der Athem ihrer Mutter nicht mehr hörbar, und erstickende Einsamkeit sie umgebend als würde sie niemals wieder Lebendiges erreichen. Sie wollte rufen aber sie konnte nicht, sie wollte sich rühren aber kein Glied mehr gehorchte ihr. Ganz still war es, ganz finster, keine Gedanken selbst mehr möglich zu fassen in dieser furchtbar eintönigen Angst: die Erinnerung sogar ihr fortgenommen — da ein Gedanke endlich zurückkehrend: Arthur! Und wunderbar jetzt: es war als hätte sich dieser eine Gedanke in einen Lichtpunkt verwandelt der den Augen sichtbar wurde. Und in dem Maße, wie der Gedanke anwuchs zu grenzenloser Sehnsucht, wuchs dieses Licht, kam und dehnte sich aus, und plötzlich als spränge es auseinander und entfaltete sich und nähme Gestalt an — Arthur stand vor ihr! Sie sah ihn, sie erkannte ihn endlich. Er war es sicherlich selbst. Er lächelte und war dicht neben ihr. Sie sah nicht ob er nackt sei, nicht ob er bekleidet sei: er aber war es, sie kannte ihn zu wohl, er selbst, kein Phantom nur das seine Gestalt angenommen. Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte: Komm! Niemals hatte seine Sprache so süß und lockend geklungen wie heute. Mit aller Kraft deren sie fähig war, suchte sie ihre Arme zu erheben ihm entgegen; aber sie vermochte es nicht. Er kam noch näher und streckte die Hand näher auf sie zu: Komm! sagte er noch einmal. Emmy war als müsse die Gewalt, mit der sie ein Wort wenigstens über die Lippen zu bringen versuchte, Berge zu verrücken im Stande sein, nicht aber dies eine Wort zu sagen vermochte sie. Arthur sah sie an und sie ihn. Nur die Möglichkeit jetzt, einen Finger zu bewegen, und sie hätte ihn berührt. Und nun das furchtbarste: er schien zurückzuweichen wieder! Komm! sagte er zum dritten Male. Und sie im Gefühle, daß er zum letzten Male gesprochen, daß die furchtbare Finsterniß wieder Hereinbrechen werde auf seinen himmlischen Anblick, von einer Angst jetzt erfüllt die sie zerriß wie der Frost Bäume spaltet, machte den letzten Versuch die Arme zu ihm zu erheben. Unmöglich aber die Schwere und Kälte zu überwinden die sie gefesselt hielten — da aber, wie eine Knospe platzt, aus der eine Blüthe wächst vor unseren Augen, herauswachsend aus ihren Armen leuchtend andere Arme, glänzende andere Schultern aus ihren Schultern, und diese Arme sich hebend Arthurs Armen entgegen und er mit seinen Händen ihre Hände fassend, und langsam zurückschwebend sie nach sich ziehend, und die ganze herrliche Gestalt mit ihnen, die sich erhob aus der Emmy's. Jedes Haus in Montreux hat seinen kleinen Garten. Keines liegt auf derselben Höhe wie das andere, immer giebt es Stufen heraus und herab zu steigen. Jedes dieser Gärtchen bildet eine Terrasse für sich, und an den Mauern wächst edles Obst, Feigen, Rosen und Lorbeer. Ein Lorbeerbaum, zu breiter dichter Krone die Aeste ringsum ausgebreitet, stand vor Emmy's Fenstern. Die Aussicht war hier nicht so frei als von dem Platze an der Kirche herab. Rechts schnitt sie ein alter Thurm ab, der zum Hause gehörte, links eine Wand von jungbelaubten Weinstöcken, und weil das Haus viel tiefer lag als die Kirche, erschien der Gebirgszug über den See hinüber höher und mächtiger. Hier saß Erwin am Morgen des nächsten Tages. Er hielt einen eben empfangenen schwarzgeränderten Brief in der Hand, hatte ihn gelesen und sah nach den Bergen hinüber. Sein Onkel aus Schlesien schrieb ihm. Beide Söhne waren aus dem Kriege nicht zurückgekommen. Die armen Jungen, sagte sich Erwin; wenn ich ihnen begegnete, sahen sie mich immer an als sei ich ihnen unbekannt und hätte sie zugleich persönlich

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beleidigt. Nun war er, Erwin, der nächste Verwandte, der Einzige. Sein Onkel fragte an, ob er zu ihm kommen wolle, wiedereintreten wolle in die Familie. Er schrieb voll Liebe; voll Sehnsucht, Jemand in der Nähe zu haben der ihn tröstete und ihm verwandt war. Er erwähnte Josephine, die ihre Bitten den seinigen anschließe, und deren Großmutter, die ihn mit offenen Armen aufnehmen werde. Seine besonderen Ursachen hatte es, wenn dieser Brief einen überraschenden Eindruck auf Erwin machte. Ganz in der Frühe am heutigen Tage, getrieben von unerklärlicher innerer Unruhe war er aufgestanden und den Weg nach Glion hinaufgestiegen, das auf der steilen Höhe hoch über Montreux am Felsen hängend einen so prachtvollen Blick auf den See weithin fast bis nach Genf bietet rechts hin, während man links in die Berge hineinsieht, aus denen die Rhone herauskommt, und auf die Fläche die sie in den Jahrtausenden ihres Laufes aus mitgenommenem Erdreich in den See hineingeschwemmt hat. Allein hatte Erwin da gestanden, als auch Wilson erschien, zufällig gleich ihm diesen Punkt aufsuchend. Manches hatten beide zusammen verhandelt seitdem sie sich getroffen, keins ihrer Gespräche aber den Grund der Dinge berührt bis jetzt. Eine natürliche Zurückhaltung von beiden Seiten war die Ursache gewesen. Wilson hatte gefühlt, daß Erwin über das Alter hinaus sei wo man das Bedürfniß hat sich Anderen ganz zu erschließen; Erwin, daß Wilson zu gut sei um, wenn einmal innerer, geistiger Verkehr begonnen sei, auf der Oberfläche der Dinge zu verweilen. Und so waren sie mehr nebeneinander hergegangen und hatten dem Moment nicht einmal erwartet der sie einander näher führen würde. Jetzt aber bot er sich dar. Was Erwin zu Emmy gesagt am Tage zuvor über seine Absicht ihr nach Amerika zu folgen, war vor der Zeit gleichsam hervorgelockt worden in ihm. Es hatte unfertig lange noch in ihm schlummern können. Nun lag es ausgesprochen da und war für ihn selbst beinahe noch zum Problem wieder geworden. Wilsons Gegenwart däuchte ihm wie ein Wink, darüber jetzt dem Manne zu reden mit dem allein dergleichen sich bereden ließ, und ohne Umschweife begann er mitzutheilen was zwischen Emmy und ihm sich ereignet hatte. Und Wilson hörte ihn ruhig an, und als Erwins Erzählung sich am Ende so natürlich zu einer Frage gestaltete, gab er Antwort. Für Deutschland glauben Sie wirken zu können in Amerika? sagt er. Hüten Sie sich einen Weg zu betreten, den Sie unfehlbar früher oder später als den unrichtigen erkennen werden. Haben Sie bedacht, wieviel Zeit und Anstrengung es Sie kosten wird, sich in die neuen Zustände hineinzufinden in die Sie eintreten ohne daß Sie etwas zwingt, und den Verlust derer die Sie aufgeben ohne daß wiederum direkter Zwang Sie forttreibt zu verwinden? Darf ein Entschluß wie der Ihrige hervorgehen aus momentaner Stimmung? Hat ein Mann wie Sie: jung, voll Thatkraft und Kenntnisse, das Recht sich dahin zu wenden, wo das was die Blüthe seiner Persönlichkeit ist, sich doch niemals entfalten würde? Wohl ist überall Deutschland wo Deutsche wohnen: das wahre Vaterland Ihres Volkes dennoch aber da nur, wo dessen geistige Geschicke sich bilden, und das geschieht bei Ihnen hier in Europa. Die Männer die in dem letzten Kriege jetzt siegen halfen, haben mehr für die Deutschen in Amerika gethan als irgend Jemand zu thun vermocht hätte der selbst gegangen wäre um in Amerika seine Kräfte zu vergeuden. Sorgen Sie dafür, daß die Deutschen in Deutschland einen mächtigen Staat bilden: wie gewaltige Blitze wird das hinüberleuchten zu uns und mehr Licht bringen als die kleinen Flämmchen die Einzelne herübertragen. Sorgen Sie dafür, daß in Berlin Bücher geschrieben werden, die deutschen Geist in wahrhaftiger, unvergänglicher Sprache enthalten: herüberfliegen werden sie zu uns und den Deutschen bis in die fernsten Wälder des Westens eindringlicher predigen als der einzelne Mann jemals vermöchte der sich selbst auf den Weg machen wollte. Da müssen die edelsten Kräfte eines Mannes eingreifen, wo das geistige Centrum der Nation liegt. Nicht ablösen darf er sich: seine Stimme wird machtlos sobald er sich vereinsamt. Reden Sie mit wo die Besten Rath halten, suchen Sie einzutreten in die

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Gemeinschaft derer in deren Händen die Geschicke des Landes jetzt geformt werden; drängen Sie sich da mit ein wo das Gedränge am dicksten ist: dort allein ist der Platz wo Energie und Thatkraft sich am nützlichsten entfalten. Ich würde so denken und handeln wie Sie sagen, erwiederte Erwin, wenn in meinem Leben nicht jener bedenkliche Schritt hätte gethan werden müssen, den Sie kennen werden aus dem was meine Freunde Ihnen von mir erzählt haben und der mich jetzt forttreibt. Ich mag nicht länger Arzt sein. Meine Natur verlangt eine weitere, höhere Thätigkeit. Das Staatsleben ist das Feld für das ich mich geschaffen fühle. Unmöglich aber für mich ein Uebertritt dahin. Durch das Ablegen des Ranges, der nun einmal mein Erbtheil, habe ich den Anschein einer bestimmten politischen Farbe auf mich gebracht, die mit meinen Ueberzeugungen nicht übereinstimmt. Unmöglich aber auch, das einmal abgeworfene wieder aufzunehmen. Schon die äußeren Mittel würden fehlen, die diesen Rücktritt entschuldigen könnten. Erwin schwieg bei diesen Worten, fast als bliebe er stecken in seiner Rede. Es verhinderte ihn etwas, fortzufahren. Denn ein wunderbarer Zwiespalt erfüllte ihn. An Arthurs Lebenslauf hatte er gesehen, aus welchen Gedanken all das Unheil geflossen war das seinen Untergang herbeigeführt, und doch, wenn er ganz wahr sein wollte: er selbst, hätte er seinen Adel nicht niedergelegt, heute würde er ihn nicht niederlegen. Wilson sah Erwin scharf an. Darf ich etwas bemerken, sagte er, das Sie vielleicht verletzt? Aber das sicherlich nicht böse gemeint ist. Wie würden Sie jemals verletzen wollen? sagte Erwin; bitte, reden Sie ganz offen. Sie bereuen was Sie gethan haben, sagte Wilson. Ja, ich thue es, erwiederte Erwin, denn ich würde, stände ich da wohin ich eigentlich gehöre, eine bedeutende Wirksamkeit haben können zum Besten des Volkes, während ich an der Stelle, auf die ich mich selbst gestellt habe, machtlos bin. Und so betrachtet: scheint es Ihnen jetzt nicht dennoch mehr als eine bloße Laune des Augenblicks, wenn ich fühle daß unter den Deutschen jenseits des Oceans eher meine Stelle sei als hier? Aeltere Leute können Jünglinge belehren, sagte Wilson; Männer aber, die das Leben kennen, vermögen wohl Ansichten auszutauschen, nicht aber einander zu rathen. Es muß aus ihnen selber kommen. Das fühlen wir beide. Aber mein Wunsch wäre, daß ein Weg sich öffnete für Sie, ohne daß Sie Europa zu verlassen brauchten. Gestatten Sie, daß ich Eins noch ausspreche. Ihr Vaterland scheint mir in der Lage zu sein, alle seine Kräfte zu brauchen. Deutschland befindet sich im vollen Uebergange von einer blos imaginären Weltmacht zu der einer wirklichen Weltmacht. Und Sie, Sie lieben Ihr Vaterland und möchten Alles für sein Heil thun; Sie erkennen an und haben durch ihre Handlungsweise bewiesen, daß Sie die Vorrechte der Geburt für oberflächliche Nebendinge ansehen, werthvoll und nützlich für Geister zweiten und dritten Ranges, gleichgültig und entbehrlich für Leute ersten Ranges. Und trotzdem wollen Sie durch das Eingreifen einer so im höchsten Grade äußerlichen Unbequemlichkeit als Ihnen aus dem Niederlegen ihres Ranges erwachsen ist, sich nun bestimmen lassen, für immer fortzugehen sogar aus ihrem Vaterlande! Wenn ich fühlte, man bedürfe meiner in Amerika, so wäre es mir einerlei, ob ich, wenn es wirklich zum Heile meines Vaterlandes nothwendig wäre, den Titel eines freigelassenen Sklaven oder den eines Kaisers mir gefallen zu lassen hätte. Nennen könnte man mich wahrhaftig wie man wollte. Und so würden Sie am Ende begreifen, sagte Erwin, wenn ich, statt in Amerika ein freier Bürger zu werden, in meinem Vaterlande bliebe und ruhig den alten Titel wieder annähme, an dem mein armer Freund elend zu Grunde gegangen ist? Warum nicht, wenn Sie Ihrem Lande sich nützlich machten indem Sie es thäten? erwiederte Wilson. Es scheint, fügte er nach einer Weile hinzu, daß man dergleichen noch nicht entbehren könne in Europa, und es wäre thöricht, das Gute zu verkennen das damit zusammenhängt. Alexander der Große ließ sich sicherlich nur deshalb für den Sohn Jupiters erklären, weil es dieses Scheines bedurfte, um die Völker alle zusammenzuhalten, die er sich unterworfen hatte.

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Dies das Ende ihrer Unterhaltung, während sie an dem Vorsprunge eines Felsens stehend die Morgennebel aufschweben und sich in der Sonne verzehren sahen. Schweigend waren sie dann zusammen wieder hinuntergestiegen und hatten sich getrennt vor dem Hause, Erwin aber den Brief jetzt gefunden, der soviel enthielt. War sein Gespräch mit Wilson nicht wie vom Schicksal hervorgerufen, um ihn die Zukunft ganz begreifen zu lassen, die hier sich aufthat? Sicher in allen seinen Entschlüssen, fast in solchem Grade bisher, daß er im ersten Momente das Richtige zu treffen pflegte, saß er jetzt zweifelnd da und kämpfte in seinen Gedanken. Sollte er aushalten neben Emmy, fortfahren sich ihr aufzudrängen? oder ihr gehorchend sich von der so plötzlich neu eingreifenden Strömung treiben lassen? Josephine hatte ihre Bitten mit denen seines Onkels vereint! Was war ihm Josephine? Immer aber doch ein Herz in ihr, das seiner vielleicht bedurfte. Zuweilen war ihm als stände er ganz allein, als hätte Emmy's gestrige Rede ihn schon losgerissen von ihr, dann wieder fühlte er sich unauflöslich mit ihr verbunden. Rathlos blickte er auf das Haus, in dem noch nichts sich regte. Da sah er Emmy's Mutter aus der Thür treten. Nein! sagte er und steckte den Brief zu sich. So lange ein Hauch noch auf ihren Lippen lebt, nicht von ihr! Die Frau kam näher. Sie sagte nichts. Sie winkte Erwin. Er ging auf sie zu; sie sah blasser aus als gewöhnlich, fast starr in den Zügen. Kommen Sie, sagte sie, nahm ihn bei der Hand und klammerte sich an seine Finger mit den ihrigen. Sie zog ihn ins Haus hinein. Da war Emmy's Zimmer. Die Thür stand halb offen. Sie lag auf ihrem Bette. Wilson saß daneben, wandte sich mit den Augen zu ihm und blickte dann wieder auf Emmy. Ihre Hände waren auf der Brust gefaltet, ihr schönes Haar fiel rechts und links über das Kopfkissen zu ihren Schultern nieder. Sie lächelte, aber die Lippen waren kalt. Die Frau kniete am Bette nieder. Wilson reichte Erwin die Hand über Emmy herüber. Wann ist sie gestorben? fragte Erwin endlich. Sie lag heute Morgen so, sagte Wilson. Ihre Mutter schlummerte ganz leicht neben ihr und ahnte nichts. Es scheint als sei im Schlafe ihr Geist davongeflogen; als hätte sie von Arthur geträumt, und die Sehnsucht, die zu groß war, die flatternde Seele ganz losgerissen von der Hülle, an die sie mit so schwachem Faden nur noch geknüpft war. Doch wer weiß das, setzte er hinzu, und darf das wissen? Erwin sah in ihr liebes Gesicht. Leben schien noch in ihm zu wohnen, so freundlich und gut ihre Züge. Es jammerte ihn, aber er dachte an jenen Morgen im Walde, wo sie über Arthur gebreitet dalag. Was sollte sie beginnen ohne ihn? Nicht er hatte daran zu denken gewagt, sie jemals gesund zu machen und für sich selbst dem Tode zu entreißen. Ihre Mutter hatte davon gesprochen, und er ihr geantwortet wie man auf Träume eingeht. Die Mutter erhob sich wieder, stellte sich neben Erwin und faßte seinen Arm als hielte sie sich daran. Sie wissen wie ich sie geliebt habe, sagte sie; aber ich habe sie gemordet! ich! Und ich? fragte Erwin. Wer hat nicht im besten reinsten Willen das oder das gethan, das mit allzu genauer Wage gewogen zu einer Anklage werden könnte? Und doch wer ist schuldig an ihrem und Arthurs Ende? — Zwei Tage lag Emmy noch da. Die nächsten Freunde standen trauernd um sie her mehr als einmal, ab und zu gehend, leise, als schliefe sie nur. Jeder hatte seine einsamen Momente neben ihr, in denen ihr Bild in doppelter Schönheit dann aufstieg. Einheimische und Fremde kamen, die Emmy von weitem nur gesehen und Theil genommen an ihrem Schicksal, das so leicht von Einem zum Andern dort sich hintrug. Noch ein paar Wochen, und Niemand mehr da von Allen. Wilson und Mrs. Forster mit Smith und seiner Frau auf dem Wege nach New-Jork. Erwin in Berlin, um seine Verhältnisse zu ordnen und darauf nach Schlesien zu gehen. Die Andern dahin und dorthin, wie ihre Wege sie führen. — Nur einer noch zurückgeblieben in Montreux: der Bildhauer. Auch für Emmy's Grab war ihm die Errichtung eines Denkmals nun zugefallen. Ihm stand die Welt offen. Aber er konnte sich sobald nicht losreißen. Manchen Abend wenn die Sonne schräg über den See hinschien, stand er an Emmy's

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GrabhĂźgel, und nur die Gedanken trĂśsteten ihn: wie er in Marmor ihr und Arthurs Angedenken jetzt am reinsten verherrlichen wollte.

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