Anna Karenina

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ANNA KARENINA

CHRISTIAN SPUCK
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ANNA KARENINA

BALLETT VON CHRISTIAN SPUCK

Nach dem gleichnamigen Roman von Lew Tolstoi (1828-1910)

Musik von Sergej Rachmaninow, Witold Lutosławski, Sulkhan Tsintsadze und Josef Bardanashvili

Uraufführung: 12. Oktober 2014, Ballett Zürich, Opernhaus Zürich

Choreografie Christian Spuck

Musikalische Leitung Paul Connelly

Bühnenbild Christian Spuck, Jörg Zielinski

Kostüme Emma Ryott

Lichtgestaltung Martin Gebhardt

Video-Design Tieni Burkhalter

Sound-Collagen Martin Donner

Dramaturgie Michael Küster, Claus Spahn

Koproduktion mit Den Norske Opera & Ballet, Oslo

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich,

jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.
Lew Tolstoi, Anna Karenina (1. Buch, 1. Kapitel)

DIE PERSONEN

DIE OBLONSKIS

Stiwa

(Fürst Stepan Oblonski) höherer Beamter in Moskau mit besten Kontakten in die Petersburger Regierungskreise

Dolly

(Fürstin Darja Oblonskaja, geb. Schtscherbazkaja), seine Frau

DIE KARENINS

Alexej Karenin hoher Staatsbeamter in St. Petersburg

Anna Karenina

(geb. Oblonskaja) seine Frau, Schwester von Stiwa und spätere Geliebte des Grafen Wronski

Serjoscha

Sohn der Karenins

DIE LEWINS

Konstantin Lewin

Gutsbesitzer in Zentralrussland und Jugendfreund Stiwas

Kitty (Jekaterina Lewina, geb. Schtscherbazkaja), seine Frau, Schwester von Dolly

DIE WRONSKIS

Graf Alexej Wronski

Offizier und Grossgrundbesitzer, Geliebter Anna Kareninas

Gräfin Wronskaja

seine Mutter

Fürstin Betsy Twerskaja

Freundin Annas und Leitfigur der mondänen Petersburger Salons

Begleiter der Fürstin Betsy

Gräfin Lidija Iwanowna

«Gewissen der Petersburger Gesellschaft», streng religiöse Vertraute Karenins und spätere Erzieherin von Serjoscha

Prinzessin Sorokina

Wunschkandidatin der Gräfin Wronskaja

für ihren Sohn

HANDLUNG UND MUSIK

PROLOG

Martin Donner: Züge I

Sergej Rachmaninow: Moment musical op. 16 Nr. 3 h-Moll

SALON I

Stiwa Oblonski betrügt seine Frau Dolly mit den weiblichen Hausangestellten.

Kitty Schtscherbazkaja wird vom Gutsbesitzer Konstantin Lewin umworben, der dafür eigens in die Stadt gekommen ist.

Sergej Rachmaninow: Sinfonische Tänze op. 45,

2. Andante con moto (Tempo di Valse)

ANKUNFT IN MOSKAU

Aus St. Petersburg ist Anna Karenina nach Moskau gekommen, wo sie zwischen Stiwa und Dolly vermitteln will. Auf dem Bahnsteig wird Anna von Stiwa erwartet, während ihre Reisebekanntschaft, die Gräfin Wronskaja, von ihrem Sohn

Alexej abgeholt wird. Anna Karenina und Alexej Wronski werden einander vorgestellt, und der erste Blick bleibt beiden unvergesslich.

Witold Lutosławski: Novelette für Orchester, Nr. 1 Announcement

DER BALL

Lewin hält um Kittys Hand an und wird von ihr abgewiesen. Sie schwärmt für Wronski und erhofft sich einen Heiratsantrag von ihm. Doch Wronskis einziger

Wunsch ist es, auf dem Ball Anna Karenina wiederzubegegnen. Als Anna erscheint und Wronski nur noch Augen für sie hat, bricht für Kitty eine Welt zusammen. Anna erkennt, dass sie der Grund für Kittys zerstörte Hoffnung ist und reist ab.

Sergej Rachmaninow:

Sinfonische Tänze op. 45, 2. Andante con moto (Tempo di Valse)

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NACH ST. PETERSBURG

Wronski folgt Anna nach St. Petersburg. Auf der Reise kommen sie sich näher. In St. Petersburg wird Anna Karenina von ihrem Mann Alexej und ihrem Sohn

Serjoscha abgeholt.

Sergej Rachmaninow: Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 für Klavier und Orchester, Variation 12

Martin Donner: Züge II

AUF DEM LAND I

Nach seinem abgewiesenen Heiratsantrag flüchtet sich Lewin in die Abgeschiedenheit seines Landgutes und meidet die Gesellschaft.

Sergej Rachmaninow (Arr.: Christophe Barwinek):

Noch’ pechal’na, op. 26 No. 12 (Die Nacht ist traurig)

BETSYS SALON

Der Salon von Betsy Twerskaja, einer Freundin Annas, ist Treffpunkt der dekadenten Petersburger Gesellschaft. Während auch hier die Streitigkeiten zwischen Dolly und Stiwa weitergehen, geniessen Anna und Wronski ihre Wiederbegegnung. Als Karenin erscheint, um seine Frau abzuholen, lehnt sie es ab, mit ihm nach Hause zu fahren. Die Karenins sind das Gesprächsthema im Salon: Anna hat einen Schatten namens Wronski.

Als sich die Gesellschaft entfernt, kennt Annas und Wronskis Leidenschaft füreinander kein Halten mehr. Wronskis Liebe lässt Anna Schuldgefühle und Scham über ihren Ehebruch vergessen.

Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll op. 18, 3. Satz

Witold Lutosławski: Chain 3 für Orchester, III. 38

PFERDERENNEN

Anlässlich eines Pferderennens trifft sich die vornehme Gesellschaft, darunter die Karenins, die Oblonskis, Betsy und die Gräfin Wronskaja. Dass Anna aufschreit, als Wronski mit seinem Pferd stürzt, ist für Karenin und die Anwesenden der Beweis für ihre Untreue. Karenin fordert von Anna die eheliche Pflicht ein.

Sergej Rachmaninow: Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, Variationen Nr. 8 und Nr. 9

Witold Lutosławski: Klavierkonzert, 2. Satz

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AUF DEM LAND II

Lewin nimmt an der Heumahd teil. In der gemeinsamen Arbeit mit seinen Bauern vergisst er seinen Liebesschmerz und findet neuen Lebenssinn. Die gewandelte Kitty ist aufs Land gekommen. Sie und Lewin nähern sich einander an.

Martin Donner: Sensen

Sergej Rachmaninow (Arr.: Christophe Barwinek):

Ne poy, krasavitsa! op. 4 Nr. 4 (Singe nicht, Schönheit)

IM HAUSE KARENINS

Nach der Geburt von Wronskis Tochter droht Anna zu sterben. In dieser Situation verzeiht Karenin ihr und seinem Nebenbuhler. Wronski, der befürchtet, dass Anna zu ihrem Ehemann zurückkehren wird, unternimmt einen Selbstmordversuch.

Sergej Rachmaninow (Arr.: Christophe Barwinek):

Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, Variation 17

Witold Lutosławski: Klavierkonzert, 1. Satz

PAUSE

Vorspiel:

Witold Lutosławski: Novelette für Orchester, Nr. 1 Announcement

ITALIEN / RUSSLAND

Wronski ist mit Anna in Italien. Sie hat ihr altes Leben – auch Serjoscha – zurückgelassen. Wronski hat ihretwegen seine Karriere beim Militär aufgegeben. Sie geniessen den Überschwang ihres Glücks zu zweit, doch bald sehnt sich Anna nach ihrem Sohn, während Wronski das Leben in der Gesellschaft vermisst. Sie kehren nach Russland zurück. Dolly scheint sich mit ihrem Leben an der Seite des notorisch untreuen Stiwa arrangiert zu haben.

Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll op. 18, 2. Satz

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HOCHZEIT

Kitty und Lewin haben zueinander gefunden und heiraten.

Sulkhan Tsintsadze (Arr.: Christophe Barwinek): Miniaturen für Streichquartett, 5. Lied

SERJOSCHAS GEBURTSTAG

Heimlich besucht Anna ihren Sohn Serjoscha, der mittlerweile von Karenins Vertrauter, Lidija Iwanowna, betreut wird. Die beiden machen dem Wiedersehen von Mutter und Sohn ein rasches Ende. Anna und Karenin führen eine harte Auseinandersetzung, nach der Anna allein und verstört zurückbleibt.

Sergej Rachmaninow: Prélude cis-Moll op. 3 Nr. 2

EINSAMKEIT I

Anna ist am Boden zerstört. Sie zweifelt an Wronskis Treue und versucht, Schmerz und Eifersucht mit Opium zu betäuben.

Sergej Rachmaninow (Arr.: Christophe Barwinek):

Uvyal tsvetok o. op. (Verwelkt ist die Blume; Text Seite 74)

ISOLATION

Während Wronski weiter am öffentlichen Leben teilhaben kann, wird Anna als Ehebrecherin von der Gesellschaft geächtet und geschnitten. Selbst ihre einstige Freundin Betsy wendet sich von ihr ab. Eifersuchts­ und Wahnvorstellungen nehmen zwanghafte Formen an. In der Prinzessin Sorokina, die Gräfin Wronskaja als Frau für ihren Sohn ausersehen hat, vermutet sie eine Nebenbuhlerin.

Witold Lutosławski: Novelette für Orchester, Nr. 2 First Event

Witold Lutosławski: Novelette für Orchester, Nr. 1 Announcement

Sergej Rachmaninow: Prélude fis-Moll op.23 Nr.1

EINSAMKEIT II / ANNAS TOD

In grosser Einsamkeit zurückgelassen, lösen sich für Anna alle Zusammenhänge und Bindungen auf. Auch Wronski ist für sie kein Halt mehr. Sie geht in den Tod.

Josef Bardanashvili: Concerto quasi una fantasia, 2. Sostenuto

Sergej Rachmaninow: Ne poy, krasavitsa! op. 4 Nr. 4 (Vorspiel)

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Ich hätte damals meinen Mann verlassen und mein Leben von vorn beginnen sollen. Ich achte ihn nicht. Ich brauche ihn, und ich ertrage ihn.

Dolly (6. Buch, 16. Kapitel)

Ich muss auf die Gefahr hinweisen, die

sogar meine Macht einsetzen.

ich sehe, davor warnen und
Karenin (2. Buch, 8. Kapitel)

Er fühlte, dass die Liebe ihn vor der Verzweiflung rettete und dass diese Liebe durch die drohende Verzweiflung noch stärker und reiner wurde.

Lewin (5. Buch, 20. Kapitel)

LIEBE, VERZWEIFLUNG UND MORAL

Über die Figuren in Lew Tolstois Roman

Anna Karenina, eine der attraktivsten Heldinnen der Weltliteratur, ist eine junge, schöne, fundamental gute und fundamental verlorene Frau. Sie wurde von einer wohlmeinenden Tante sehr früh an einen vielversprechenden Beamten mit einer glänzenden Karriere verheiratet und führt ein zufriedenes Leben in den funkelndsten Zirkeln der St. Petersburger Gesellschaft. Sie vergöttert ihren kleinen Sohn, achtet ihren um zwanzig Jahre älteren Gatten und geniesst mit ihrem lebhaften, optimistischen Wesen all die oberflächlichen Freuden, die ihr das Leben bietet. Als sie auf einer Reise nach Moskau Wronski kennenlernt, verliebt sie sich in ihn. Diese Liebe verwandelt alles um sie herum; alles sieht sie jetzt in einem anderen Licht. Ihre Leidenschaft für Wronski ist wie ein weisses Flutlicht, in dem ihre frühere Welt wie eine tote Landschaft auf einem toten Planeten aussieht.

Anna ist eine Frau mit einer vollen, kompakten, bedeutenden moralischen Natur: Alles an ihrem Charakter ist bedeutungs­ und eindrucksvoll, und das gilt auch für ihre Liebe. Sie vermag nicht wie eine andere Figur des Romans, Fürstin Betsy, mit einer heimlichen Affäre vorlieb zu nehmen. Ihr wahrheitsliebendes und leidenschaftliches Wesen macht ihr Verstellung und Heimlichtuerei unmöglich. Anna schenkt Wronski ihr ganzes Leben, stimmt sogar einer Trennung von ihrem vergötterten kleinen Sohn zu – trotz der Qual, die es ihr bereitet, ihn nicht zu sehen –, und sie lebt mit Wronski zusammen, zuerst in Italien und später auf seinem Landsitz in Zentralrussland, obwohl diese «offene» Affäre sie in den Augen ihrer unmoralischen Kreise als unmoralisch abstempelt.

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Schliesslich kehren Anna und Wronski in das Leben der Stadt zurück. Der Skandal, den sie in der heuchlerischen Gesesllschaft auslös, geht nicht so sehr auf ihre Liebesaffaire zurück als auf ihre offene Missachtung der gesellschaftlichen Konventionen.

Während auf Anna die volle Wucht des gesellschaftlichen Zorns niedergeht, sie beleidigt und geschnitten wird, bleibt Wronski von dem Skandal verschont. Er wird eingeladen, er macht Besuche, trifft sich mit seinen alten Bekannten, wird nach aussen hin wohlanständigen Damen der Gesellschaft vorgestellt, die keine Sekunde lang in einem Zimmer mit der in Ungnade gefallenen Anna bleiben würden. Noch liebt er Anna, doch ist er zuweilen auch gerne wieder zurück in der Welt der Jagd und der Mode, und gelegentlich macht er von ihren Freuden Gebrauch. Anna missdeutet triviale Illoyalitäten als ein Absinken der Temperatur seiner Liebe. Sie hat das Gefühl, ihre Zuneigung allein reiche ihm nicht mehr, sie könne ihn verlieren. Wronski hat keine Geduld mit ihrer Eifersucht und scheint damit ihren Verdacht zu bestätigen. Am Abend eines Maisonntags wirft sich Anna aus Verzweiflung über das Durcheinander und den Morast, in dem ihre Leidenschaft dahindümpelt, unter einen Güterzug. Zu spät wird Wronski klar, was er verloren hat. Ziemlich praktisch für ihn und für Tolstoi steht der Russisch­Türkische Krieg bevor – wir schreiben 1876 – und er bricht mit einem Freiwilligenbataillon an die Front auf. Parallel und anscheinend völlig unabhängig davon entwickelt sich die Geschichte der Werbung von Lewin und Prinzessin Kitty Schtscherbazki. Lewin, der mehr eine Selbstporträt Tolstois ist als jede andere seiner männlichen Figuren, ist ein Mann mit moralischen Idealen, ein Mann mit Gewissen. Es lässt ihm keine Ruhe. Er ist völlig anders als Wronski. Dieser lebt ganz seinen Impulsen. Lewin dagegen betrachtet es als seine Pflicht, die Welt um sich her zu begreifen und sich einen Platz darin zu erarbeiten. Daher entwickelt sich sein Wesen stetig weiter, wächst er während des ganzen Romans auf die religiösen Ideale zu, die Tolstoi zu jener Zeit für sich selbst entwickelte.

Um diese Hauptfiguren bewegen sich eine Reihe anderer. Stepan «Stiwa» Oblonski, Annas leichtlebiger, nichtsnutziger Bruder; seine Gattin Dolly, geborene Schtscherbazki, eine gütige, ernsthafte und leidgewohnte Frau. Hinzu kommt der Rest der Familie Schtscherbazki, eine von Moskaus alten Adelsfami­

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lien, Wronskis Mutter und eine ganze Galerie von Angehörigen der Petersburger High Society. Die Petersburger Gesellschaft unterschied sich stark von ihrem Moskauer Pendant: Moskau war die herzliche, unscheinbare, schlaffe, patriarchalische alte Stadt, Petersburg hingegen (wo ich etwa dreissig Jahre später geboren wurde) die kultivierte, kalte, förmliche, elegante und relativ junge Hauptstadt. Natürlich ist da ausserdem noch Herr Karenin selbst, der Gatte, ein trockener, selbstgerechter Mann, grausam in seiner theoretischen Tugendhaftigkeit, der ideale Beamte, der spiessige Bürokrat, der bereitwillig die Pseudomoral seines Bekanntenkreises akzeptiert, ein Heuchler und Tyrann. In seltenen Augenblicken ist er zu einem Zug der Güte, einer freundlichen Geste imstande, doch allzu bald ist das vergessen und wird seinen Karriereerwägungen geopfert. Karenins Anwandlung von Aufrichtigkeit und Grossmut ist nicht von langer Dauer, und als er bei dem Versuch, die Scheidung einzureichen – für ihn eine Sache ohne besondere Bedeutung, für Anna aber ein Unterschied wie Tag und Nacht –, vor der Notwendigkeit steht, einige unangenehme Komplikationen auf sich zu nehmen, gibt er auf und weigert sich, jemals einen erneuten Versuch zu machen, gleichgültig, was diese Weigerung für Anna bedeutet.

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ANNAS TRAGIK

Die Ahnung ihrer Gefährdung verbindet Anna und Wronski von Anfang an. Sie prägt auch die Stunde des Glücks, die Szene der ersten körperlichen Vereinigung. Schon hier, wo die Beziehung zwischen Anna und Wronski noch am Beginn ihrer Entwicklung steht, wird versteckt, aber deutlich auf die Möglichkeit ihres Ausgangs hingewiesen. «Alles ist beendet» sagt Anna, «lch habe nur noch dich, denk daran». Anna bindet ihr weiteres Schicksal an Wronski und macht ihn auf die Verpflichtung aufmerksam, die er damit übernimmt. So wie sie nur noch für ihn lebt, soll er nur noch für sie leben. Erstmals meldet sich hier Annas übersteigerter Besitzanspruch, den der Beginn ihres Zusammenlebens mit Wronski spürbar verstärkt. Die Kapitel des ltalienaufenthalts zeigen auf der einen Seite Anna, die durch und durch glücklich ist, weil sie sich ganz ihrer Liebe hingibt, und auf der anderen Seite Wronski, der die Liebe weniger ausschliesslich auffasst.

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Jedesmal, wenn Wronski wegfährt, kommt es zu «Szenen». Von einer seelischen Einheit, wie sie einmal bestand, kann trotz der Versöhnungen keine Rede sein. Vertrautheit wendet sich in Entfremdung, Liebe in Kampf und Hass. Am Ende steht, fast zwangsläufig, der Tod. Spätestens in der Ausweglosigkeit des Selbstmords enthüllt sich Anna nicht nur als Schuldige, sondern auch als Opfer. Schon der Vefall ihrer Persönlichkeit ist zugleich ein Ausdruck von Unsicherheit und Hilflosigkeit. Die sich immer unsicherer und hilfloser fühlende Anna ist von einem bestimmten Punkt der Entwicklung an der Lage nicht mehr gewachsen. Dazu hat ihre lsolierung von der Gesellschaft wesentlich beigetragen. Beide, Anna und Wronski, haben diese lsolierung unterschätzt. Beide erweisen sich dann am deutlichsten als Geschöpfe der Gesellschaft, als sie versuchen, ohne ihre Regeln auszukommen. Zur eigentlichen Ursache für das Scheitern der Beziehung wird der lrrtum Annas und Wronskis jedoch nicht. Anna geht weder an der verurteilenden Haltung der Gesellschaft noch an Karenins Verweigerung der Scheidung zugrunde, sondern

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an der Zwangsläufigkeit des «bösen Geists» in ihr selbst. Gemeint ist damit die Entartung ihrer Leidenschaft zu Wronski. Annas Tragik gründet darin, dass sie durch das vernichtet wird, was sie befreit. Denn nicht ihr Tod ist tragisch, vielmehr die Tatsache, dass er auf dem Weg erfolgt, der den unterdrückten Willen zum Leben aus der Unterdrückung führt. Tragisch ist die Einheit der Befreiung und Vernichtung. Annas Leidenschaft erscheint entartet, weil sie die Trennung von Ehemann und Sohn bewirkt, kurz, weil sie als Selbstzweck verwirklicht wird.

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EINE EIGENE ÄSTHETISCHE DIMENSION ABRINGEN

Ein Gespräch mit Christian Spuck über seine Annäherung an «Anna Karenina»

Christian, 2014 hast du den 1000-Seiten-Roman Anna Karenina von Lew Tolstoi als Ballett auf die Bühne gebracht. Was hat dich an dem Stoff fasziniert?

Wie sich da eine Frau in Leidenschaft und Emotionen verliert. Anna Karenina entscheidet sich gegen das gesicherte Leben an der Seite ihres Ehemanns und stürzt sich rückhaltlos in eine verbotene Liebe. Sie opfert alles für diese Liebe, ihr gesellschaftliches Ansehen, ihre Familie, sogar ihren über alles geliebten Sohn. Rationale Entscheidungen sind ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr möglich, sie folgt einzig dem Hochgefühl von Liebe und Leidenschaft, und dieser Weg führt in den Abgrund. Man empfindet mit ihr, weil sie ihre Liebe in der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht leben kann.

Wie ist dir Tolstois Roman zum ersten Mal begegnet?

Ende der 90­er Jahre habe ich die Verfilmung mit Sophie Marceau als Anna gesehen. Es gibt darin Szenen, die ich nicht mehr vergessen habe, etwa wie diese Anna, von der Gesellschaft geschnitten, einsam in ihrem luxuriösen Zuhause sitzt und sich in Eifersuchtsanfälle steigert. Mich hat beeindruckt, wie eine Frau mit ihrer Liebe nicht nur an der Gesellschaft scheitert, sondern auch an sich selbst verloren geht. Die Ballettadaptionen des Stoffes, die ich dann danach gesehen habe, erschöpften sich meist in der Darstellung eines Eifersuchtsdramas zwischen einer Frau und zwei Männern. Aber in dem Stoff steckt sicher viel mehr.

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Ist es nicht ein aussichtsloses Unterfangen, einen so umfassenden Roman in einem zweistündigen Ballettabend erzählen zu wollen?

Das

Der Versuch einer buchstabengetreuen Nacherzählung des Buches wäre natürlich zum Scheitern verurteilt, man kann dem riesigen Kosmos der Romanvorlage niemals gerecht werden. Das ist aber auch nicht unser Anliegen. Wir zeigen ein Ballett nach Tolstois Buch. Der Roman fungiert als Vorlage, von der man sich irgendwann auch lösen muss, um nicht im Nachbuchstabieren stecken zu bleiben. Die Kunstform des Balletts bietet die Chance, eine solche Geschichte in grosser Direktheit der Gefühle zu erzählen. Mich interessiert vor allem, die Protagonisten in ihrer Vieldeutigkeit zu zeigen. Gerade bei Anna gibt es viele Verhaltensweisen, die man nicht nachvollziehen kann. Man fragt sich: Warum macht sie das? Wie kann sie so weit gehen? Mitunter erscheint sie sogar unsympathisch, und trotzdem empfindet man immer eine grosse Empathie für sie. Natürlich ist es schwierig, das Gesellschaftspanorama des zaristischen Russlands, das Tolstoi in aller Breite ausmalt, auf die Bühne zu bringen. Das kann das Hollywood­Kino besser. Die Stärke unserer Erzählform liegt im konzentrierten Blick auf Figuren und Situationen. Tanz eröffnet die Möglichkeit, die einzelnen Figuren in ihrer ganzen emotionalen Vielfalt und Widersprüchlichkeit plastisch hervortreten zu lassen.

In der Vergangenheit hast du immer wieder grosse literarische Vorlagen zu Handlungsballetten verarbeitet. Mit wie viel Respekt begegnest du den Stoffen?

Respekt heisst für mich vor allem, ehrlich mit einem Kunstwerk umzugehen. Und das bedeutet, sich intensiv mit dem Buch auseinanderzusetzen und dann eigene künstlerische Entscheidungen zu treffen. Spannend wird es doch erst, wenn man einem solchen Stoff eine eigenständige ästhetische Dimension abringen kann. Respektlos gegenüber einem so grossartigen Roman wie Anna Karenina fände ich es, sich nur kleinmütig am Strang der Geschichte entlang zu hangeln.

Welche Konsequenzen hat es, einen so sprachmächtigen literarischen Stoff ohne Worte erzählen zu müssen?

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Darin liegt ja die grosse Stärke des Balletts. Ganz wichtig ist, dass man dieser «Sprachlosigkeit» mit einer wohlüberlegten Musikauswahl begegnet. Bei jedem neuen Stück ist das für mich immer die langwierigste und komplizierteste Arbeit. Mit der passenden Musik kann man die Figuren wie unter einem Mikroskop betrachten. Für Anna Karenina habe ich nach russischer Musik gesucht und mich durch das Gesamtwerk von Sergej Rachmaninow gehört. Die Verbindung von Süsse und eigentümlicher Schwere in seiner Musik hat mich fasziniert. Man spürt darin das, was so gerne als «russische Seele» beschworen wird. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass Rachmaninows Musik eines starken Kontrastes bedarf. Den habe ich bei Witold Lutosławski gefunden, einem der wichtigsten und spannendsten polnischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Seine Musik wirkt im Gegenschnitt fast wie eine Dekonstruktion von Rachmaninow und vermittelt mit ihrer verstörenden Tiefe das Gefühl, den Figuren ganz nahe zu kommen.

Was ist noch zu bedenken bei der Musikauswahl für ein Handlungsballett?

Es sollte Musik sein, die noch nicht vertanzt wurde und als Folie für den Stoff funktioniert. Sie muss Unsichtbares sichtbar machen und Emotionen wortlos unterstreichen. Wenn ich die Musik höre, muss ich sofort verstehen, was auf der Bühne passiert. Musik ist für mich immer der Schlüssel zum Inhaltlichen, man kann ihr gar nicht genug vertrauen. Ich lasse Bilder manchmal einfach stehen, weil alleine die Musik sehr genau sagt, worum es gerade geht. Oft kann Musik viel mehr erzählen als irgendwelche Schritte. Habe ich Musik gefunden, die sowohl zum Thema als auch zu den Figuren passt, ist es entscheidend, eine dramaturgisch stringente Reihenfolge zu finden, was ein ständiges Durch­ und Nachhören bedeutet. Die Knackpunkte sind die Übergänge. Das ist wie ein Puzzlespiel, bei dem jedes Teil an seinen richtigen Platz gebracht werden muss. Wenn ich schon beim Hören merke: Hier geschieht nicht viel, verwende ich diese Musik auch nicht. Es muss etwas passieren! Theater hat für mich immer mit Fallhöhe und überraschenden Wendungen zu tun. Daran arbeite ich mit den Tänzern intensiv. Wir müssen die Konflikte und Widersprüche stark machen. Harmonie und Ornamentik, die pure Schönheit, wird nach zehn Minuten langweilig.

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Wie wichtig ist die Besetzung der Titelrolle bei Anna Karenina? Anna Karenina habe ich 2014 für Viktorina Kapitonova kreiert. Im Entstehungsprozess war sie meine wichtigste Inspirationsquelle. Ich fand es damals bewundernswert, wie sie nicht in Schritten, sondern immer im Charakter der Figur gedacht hat. Wenn ich ihr Schrittmaterial gegeben habe, war schon bei der zweiten Wiederholung der schauspielerische Gestus da. Sie hat mich wirklich sehr inspiriert.

Mit Anna Karenina kommt ein russischer Roman mit sehr gefühlvoller russischer Musik auf die Bühne. Birgt diese Kombination aus grosser Emotion und gross besetztem Ballett auch eine gewisse Kitschgefahr?

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Das kommt darauf an, was man unter Kitsch versteht. Kitsch im Ballett bedeutet für mich, aufgesetzte Emotionen und das Behaupten einer Ästhetik, die inhaltlich nicht begründet ist. Ich hoffe, dass wir in diesem Sinne keinen Kitsch auf die Bühne bringen. Unsere Anna Karenina­Interpretation lebt von extremer szenischer Verdichtung, es gibt jähe Schnitte und Brüche in der Szenenfolge wie in der Musik. Anders kann man die Geschichte in Ballettform nicht erzählen.

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Woran scheitert der Versuch von Anna und Wronski, ihre Liebe zu leben?

Als Ehebrecherin wird Anna von der Gesellschaft geächtet. Aber auch im italienischen Exil, wo man für beide ja das grosse Glück vermuten könnte, werden sie nicht wirklich glücklich. Es ist die Crux der absoluten Liebe, dass sie scheitert, wenn sie sich von der Gesellschaft isoliert und ihren Sinn allein in der Zweisamkeit zu finden hofft. Alle Liebenden, die sich auf eine einsame Insel zurückziehen, reissen sich nach ein paar Tagen die Haare aus. Wirkliches Glück entsteht erst, wenn Partner in der Lage sind, loszulassen und sich gegenseitig Freiheit und Vertrauen zu schenken.

Wie ist das bei Kitty und Lewin, dem zweiten Paar, von dem der Roman handelt? Finden sie ihr Glück?

Natürlich sind die beiden ein Gegenentwurf zu Anna und Wronski. Kitty und Lewin stürzen nicht leidenschaftstrunken aufeinander zu, sondern finden

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in einem langwierigen Selbstfindungsprozess zueinander. Ihre Annäherung hat im Roman in der grandiosen Szene des «Kreidespiels» ihren Höhepunkt.

Sie gestehen sich darin mit einem geheimen Spiel der Zeichen Zug um Zug ihre Liebe. Ihre Annäherung verläuft leise und vorsichtig und bezieht ihre Energie, anders als bei Anna und Wronski, nicht aus dem Feuer ungezügelter Leidenschaft. Tolstoi erzählt aber auch, dass mit der stärker werdenden Liebesverbindung auch die Gefährdungen grösser werden. Von daher bleiben Zweifel, ob die beiden wirklich glücklich werden. Die glückliche Ehe halte ich sowieso für eine Utopie, weil Ehe ja immer eine schwer einlösbare Begrenzung persönlicher Freiheit bedeutet.

Tolstois Roman spielt in Moskau, St. Petersburg und auf dem Land und bezieht viel Spannung aus den wechselnden Orten und Milieus. Wie gehst du auf der Ballettbühne damit um?

Unser Schauplatz ist eine Art Ballsaal, in dem die wechselnden Orte hauptsächlich über die Kostüme des Corps de ballet erzählt werden. Moskau, St. Petersburg, die Landgüter – man merkt, wie das wechselt, aber auch hier gilt: weg vom Buch! Nicht nacherzählen, sondern den Figuren nachspüren. Ein wichtiges Motiv im Roman ist die Eisenbahn, «schwerfällige, dröhnende und dampfende Züge, die Tolstois Gestalten von einem Ort zum anderen und vom Leben in den Tod befördern», wie es der Schriftsteller Vladimir Nabokov formuliert hat. Aber das heisst für mich noch lange nicht, dass ein Zug über die Bühne fahren muss. Das kann und muss man anders lösen. Abstraktion ist Reduktion auf das Notwendigste. Verknappung ist immer auch die Chance, das Wesentliche zu erzählen.

Mit welcher Art Tanzvokabular erzählst du die Geschichte?

Wenn man Anna und Wronski mit zwei wunderbaren klassischen Tänzern besetzt, hat das natürlich Konsequenzen für das Bewegungsmaterial. Man muss damit spielen und das Material an den Charakteren ausrichten. Dolly zum Beispiel wehrt sich, anders als im Buch, gegen ihren fremdgehenden Ehemann Stiwa. In ihren Bewegungen spürt man ein Aufbegehren. Lewin etwa ist im Ball­ und Salonmilieu der Stadt ein Fremdkörper und Aussenseiter. Er findet

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erst in der ländlichen Umgebung zu seiner wirklichen, auch tänzerischen Identität.

Du hast gesagt, du legst grossen Wert auf schauspielerische Präzision. Lässt die sich mit einer klassischen Ballettsprache in Einklang bringen? Auf keinen Fall schliessen sie sich aus. In der Arbeit mit der Compagnie versuche ich, das choreografische Material in eine schauspielerische Dimension zu überführen. Es ist ein grosses Glück für mich, wie die Tänzerinnen und Tänzer mir auf diesem Weg folgen. Sie haben verstanden, dass es mir nicht um blosse tänzerische Virtuosität, sondern um eine auch im Tänzerischen glaubhafte schauspielerische Darstellung geht. Die Ballettsprache darf sich nicht selbst genug sein, sie muss eine Geschichte erzählen und Charaktere entwerfen. Ich muss bis ins letzte Detail verstehen, welche Figuren die Tänzer verkörpern und was sie zum Ausdruck bringen möchten.

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Das Gespräch führten Michael Küster und Claus Spahn.
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MYTHOS ANNA

Lew Tolstois «Anna Karenina» gilt als einer der grössten Romane der Literaturgeschichte. Was fasziniert uns so an diesem Stoff? Ein Gespräch mit dem Karenina-Spezialisten Wolfgang Matz

Herr Matz, Sie haben sich mit den berühmtesten Ehebrecherinnen der Literaturgeschichte befasst, mit Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest. Was sind Gemeinsamkeiten zwischen den Frauen?

Die Frauen bilden ein Dreigestirn. Sie haben alle drei den Romanen ihren Namen gegeben, und die Grundkonstellation ist immer gleich: Eine verheiratete Frau verliebt sich in einen anderen Mann, begeht Ehebruch, verlässt ihre Familie und zahlt am Ende mit dem Leben dafür.

Gustave Flaubert, Lew Tolstoi und Theodor Fontane haben die Romane im 19. Jahrhundert geschrieben, jeweils in einem Abstand von ungefähr 20 Jahren. Gleicht sich ihr Blick auf das Schicksal der Frauen?

Nein, Ihr Interesse an den Figuren ist sehr unterschiedlich. Gustav Flaubert hat eine grosse Sympathie für seine Titelfigur Emma Bovary, aber er hat noch eine viel grössere Sympathie für den Ehebruch. Er will das Amoralische. Er hat schon als Fünfzehnjähriger geschrieben, das Wort adultère (Ehebruch) sei das schönste der französischen Sprache! Tolstoi hingegen ist kein Ver fechter des Ehebruchs. Anders als Flaubert urteilt er nicht. Tolstoi will untersuchen, was in einer solchen Situation passiert. Er hört in die Figuren hinein, folgt ihnen, will sie verstehen, und aus dem Verstehen wird eine persönliche Sympathie. Obwohl er das Verhalten von Anna Karenina sicher nicht billigt. Er verurteilt es aber nicht von einem moralischen Standpunkt aus, sondern er hält es für falsch.

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Warum hält er es für falsch?

Anna Karenina setzt ihr Leben auf eine einzige Karte, das ist die Liebe. Sie richtet ihre Existenz nur noch aus auf die Liebe zu Wronski. Aber jeder weiss, dass es im Leben noch andere wichtige Dinge gibt – eine gesellschaftliche Existenz, ein ganzes Lebensnetz mit Mann, Kind, Familie, Freunden, Geld, Wohnung, Status usw. Annas Leben spielte sich in der mondänen Petersburger Gesellschaft ab. Das alles gibt sie auf für die Liebe. Aber die Liebe ist ein wackeliges Ding. Sie ist das unsicherste und flüchtigste Element im Leben des Menschen, das weiss Tolstoi ebenso gut wie wir. Das Herz ist ein elastisches Organ. Und deshalb hält er es für falsch, alles auf die Karte der Liebe zu setzen. Seiner Meinung nach kann man ein Leben unter solchen Prämissen nicht führen, auch die grösste Liebe hat ihren Sinn nur im gesamten Netz des Lebens.

Mit welcher inneren Einstellung begeht Anna Karenina den Ehebruch?

Das wird im Vergleich zu Emma Bovary sehr deutlich. Emma sucht seit Jahren nach dem Mann für den Ehebruch. Anna aber sucht gar nicht. Womöglich war ihre Ehe bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie Wronski getroffen hat, gar nicht unglücklich.

Aber sie sagt, ihr Mann Alexej habe sie nicht geliebt. Das sagt sie, nachdem ihre Affäre mit Wronski bereits ihren Lauf genommen hat, und das nimmt man dann gerne für bare Münze. Aber im Buch wird über die acht Jahre Ehe von Anna und Alexej Karenin so gut wie nichts erzählt. Wenn sie später sagt, er habe sie nicht geliebt, ist das auch die Schutzbehauptung einer Frau, die zu einem anderen Mann will. Es wird schon ein Teil Wahrheit dran sein, aber wie gross der wirklich ist, wird von Tolstoi nicht gesagt. Bei Emma Bovary wird uns lang und breit erzählt, warum sie einen anderen will, bei Anna nicht. Völlig unvorbereitet begegnet sie auf dem Bahnhof diesem Mann, und es trifft sie, wie man so schön sagt, der Blitzschlag.

Stürzt Anna also in ihr Verderben, weil sie eine grosse Liebende ist?

Da möchte ich nochmal auf Flaubert verweisen. Sein Verdienst ist es, dass er den Begriff der reinen oder wahren Liebe zerstört. Er erzählt in seinem Roman:

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Liebe ist auch nur ein Wort, und unter diesem Wort versteht jeder etwas anderes. Auch Emma bildet sich ein, ihre Liebhaber zu lieben. Liebe ist als psychisches Phänomen ja immer eine Form von «Einbildung», darin liegt ihr Wesen. Aber Flaubert überzieht Emmas Vorstellungen von Liebe mit Hohn und Spott. Er zeigt, dass die Aussage «A liebt B» nichts erklärt. Nach Flaubert ist es für den Leser eigentlich unmöglich geworden, noch am Begriff von der reinen, sozusagen grundlosen Liebe festzuhalten.

Wie ist das bei Tolstoi?

Tolstoi führt nicht aus, dass Anna falsche oder verklärte Vorstellungen von Liebe hat. Insofern lässt er sie tatsächlich aus Liebe in diese Geschichte stürzen. Tolstoi tut gewisser massen so, als ob klar wäre, was es heisst, zu lieben.

Aber versuchen Anna und Wronski nicht genau diesen Traum von der wahren, durch nichts anfechtbaren Liebe zu leben, indem sie die Petersburger Gesellschaft hinter sich lassen und nach Italien fliehen?

Dieses Fluchtthema ist hochinteressant, denn diese «Lass uns fliehen»­Sehnsucht ist ja der romantische Traum schlechthin. Warum fliehen Anna und Wronski?

Erstens, weil die Lebenssituation in der Petersburger Gesellschaft für Anna als Ehebrecherin unmöglich geworden ist, sie muss da raus, und zweitens, weil die beiden es sich leisten können. Sie gehen auf grosse Reise, wie das unter den wohlhabenden Adeligen in Russland durchaus üblich war. Tolstoi zeigt, dass die sogenannte grosse Liebe für eine gelingende Beziehung allein nicht reicht, und er macht klar, dass der Traum – in die Tat umgesetzt – zum Albtraum wird. Liebe ohne soziale Bindungen, ohne eine Welt, in der man sich bewegt, funktioniert nicht. Tolstoi hält die Verabsolutierung des Gefühls für falsch. Kein Mensch kann sich sein ganzes Leben lang ausschliesslich damit beschäftigen, zu lieben.

Eigentlich denkt man doch, Annas verbotene Liebe zu Wronski scheitert an den strengen Normen der Gesellschaft. Sie aber glauben, dass die Liebe sie ruiniert, indem sie sich von der Gesellschaft abkoppelt? Das ist ein komplexes Wechselspiel. Selbstverständlich hindert die Gesellschaft

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Menschen an der Verwirklichung bestimmter Formen der Liebe. Das erfährt Anna in Petersburg. Aber auf der anderen Seite ist die Gesellschaft mit ihren Regeln Basis und Rahmen für eine gelingende Liebe. Wenn ich die Welt von heute anschaue, in der gesellschaftliche Restriktionen ja viel weniger eine Rolle spielen als im zaristischen Russland, kaum mehr vorhanden sind, habe ich trotzdem nicht den Eindruck, dass die Summe der Glücklichen unter den Liebenden grösser geworden ist, eher im Gegenteil. Davon handeln zum Beispiel die Romane von Michel Houellebecq.

Woran machen Sie das Scheitern der Liebe von Anna und Wronski in Italien fest?

Ganz einfach: Die beiden wissen nach einer Weile nicht mehr, womit sie ihre Tage füllen sollen. Ihre Beschäftigungen sind die reicher Adeliger. Sie müssen nichts tun, sie können es auch jederzeit lassen. Und insbesondere Wronski vermisst sein bisheriges Leben. Anna war für ihn der Traum, gewiss, aber er würde auch gerne mal wieder mit seinen Kumpanen ein paar Flaschen leeren. Man kann es noch trivialer formulieren: Jeder Verliebtheitszustand transformiert sich irgendwann in etwas anderes, und nicht nur Tolstoi würde sagen: Zum Glück! Wenn Wronski den Drang verspürt, mal wieder etwas anderes zu machen, versteht Anna das sofort als ein Abrücken von ihr. Annas Angst, dass Wronski sich von ihr entfernt, hat damit zu tun, dass sie nicht mit Wronski verheiratet ist, dass die Beziehung nicht legal ist und nur auf der Liebe gründet. Es fehlt der Rahmen der Ehe. Der ermöglicht es, mit den unvermeidlichen Veränderungen von Gefühlen in einer Liebesbeziehung umzugehen.

Also urteilt Tolstoi doch und kritisiert die kopflose, «wilde» Liebe? Das lässt sich so einfach nicht sagen. Ein paar Jahre später steht er auf dem Standpunkt, dass nicht der Ehebruch das moralische Skandalon ist, sondern die Ehe selber. Es gibt ein Zitat aus seinen Tagebüchern: «Das Leben von Menschen so beschreiben, dass man mit der Schilderung der Hochzeit abbricht, ist nicht anders, als beschriebe man die Reise eines Mannes und bräche den Bericht an der Stelle ab, wo er Räubern in die Hände fällt.» Das ist schon starker Tobak.

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Aber solche Fundamentalkritik an der Ehe übt er in Anna Karenina ja noch nicht.

Nein. Die grosse künstlerische Leistung, die Tolstoi in Anna Karenina vollbringt, liegt in der Fülle des Erzählens, der Fülle der Perspektiven und dem Auffächern all dessen, was möglich ist. Der Roman bewegt sich jenseits von moralischen Urteilen. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die sich heillos in ihrem Leben verstrickt und da nicht mehr hinausfindet. Dass in jede Darstellung dabei auch eine Wertung einfliesst, ist unvermeidlich.

Wir haben bisher nur über die Liebe von Anna Karenina und Wronski gesprochen, aber der Roman erzählt ja noch von anderen Paaren. Wie verhalten sich diese verschiedenen Erzählstränge zueinander?

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Der Roman heisst Anna Karenina, obwohl – überspitzt gesagt – die Hälfte des Romans mit der Titelfigur gar nichts zu tun hat. Tolstoi entwickelt parallel die Liebesgeschichte zwischen Kitty und Lewin, und es gibt mit Stiwa und Dolly noch ein drittes Paar, dessen krisenhafte Ehegeschichte erzählt wird. Tolstoi hat trotzdem Recht, den Roman Anna Karenina zu nennen, denn Anna ist nun mal eine hinreissende und dominierende Figur, nicht unbedingt in quantitativer, sondern in qualitativer Hinsicht.

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Lewin, ein Mann des Landlebens und kauziger Aussenseiter in der Petersburger Gesellschaft findet zu der jungen, noch backfischhaften adeligen Schönheit Kitty. Sie weist sein Werben zunächst zurück, weil sie in Wronski verliebt ist, aber im Verlaufe des Romans finden die beiden doch zusammen. Sie heiraten und werden glücklich. Ist das die positive Gegengeschichte zu Annas und Wronskis Katastrophe? Natürlich ist es die Gegengeschichte. Aber ob das wirklich ein ungetrübtes Glück ist, bleibt offen. Ich finde, dass man in der Beschreibung des Ehealltags der beiden schon den späteren Tolstoi erahnt, der gesagt hätte: Die Ehe ist das Schlimmste, auch diese beiden müssten sich eigentlich trennen. Schliesslich äussert Lewin nach der Hochzeit Selbstmordgedanken…

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… und zwar so starke, dass er das Gewehr zu Hause lassen muss … Die Szene steht auf brutale Weise da und wird überhaupt nicht erklärt. Da spürt man Tolstois Thema, dass auch das Eheglück nicht alles ist. Selbst wenn die Sache positiv läuft, kommt die grosse Ernüchterung. Bei Freud gibt es eine Untersuchung über die unausweichliche Enttäuschung bei eintretendem Glück. Es dauert lange, bis Kitty und Lewin zueinander finden, und die Erwartungen, die sich da aufgebaut haben, kann die Ehenormalität unmöglich sofort einlösen.

Tolstoi überzeichnet in der Beschreibung das Hochzeitsglück der beiden so sehr, dass es fast karikaturhafte Züge annimmt. Und was ihnen am Ende bleibt, ist nicht nur eine unromantische, sondern eine antiromantische Perspektive.

Ist Anna Karenina eigentlich ein Liebesroman? Sie schreiben ja in Ihrem Buch, dass der Roman viel mehr von der Einsamkeit des Menschen an sich erzählt im Gegenüber des Todes. Wo zeigt sich das?

Das für Anna immer stärker werdende Gefühl, ihr Geliebter entferne sich von ihr, empfindet sie als tödliche Bedrohung. Sie hat ja alles andere um diese Liebe herum zerstört. Es bleibt ihr nichts mehr jenseits von Wronski. Sie ahnt, dass der Tod am Ende dieses Wegs stehen muss. Da neigt sie zu einer pathetischen Sichtweise und übertreibt mitunter auch. Die Angst vor dem Nichts bemächtigt sich ihrer immer mehr bis hin zum Selbstmord. Doch am Ende wirft sie sich nicht nur im Bewusstsein finaler Ausweglosigkeit vor den Zug, sie will mit ihrer Tat Wronski bestrafen. Sie ist immer noch in der fatalen Liebesspirale verstrickt, doch ist sie sich in ihrem Leben nie so fremd gewesen wie im Moment des Selbstmordentschlusses.

Wenn der Roman aber mehr eine Geschichte über Einsamkeit zum Tode ist, was ist dann mit all den Hollywood-Filmen und Theaterstücken, die den Anna Karenina-Stoff als schwelgerisch-tragische Liebesromanze vorführen? Ist das alles ein Missverständnis?

Ja. Das könnte man so sagen.

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Der Literat kriegt also Anfälle, wenn er Anna Karenina-Kinofilme sieht? Ich gucke mir das nicht an. Ich weiss, dass man mit solchen Filmen den Bereich der Literatur verlässt. Das ist dann halt so. Interessant wird es, wenn die Übertragung in eine andere Kunstform dem Stoff etwas hinzufügt, mit eigener Logik und eigener künstlerischer Konsequenz.

Missverständnisse hin oder her, der Stoff übt bis heute einen starken Sog auf das Publikum aus. Was spricht denn da so stark zu uns, zumal das Thema Ehe und Ehebruch sich heute doch gar nicht mehr so stellt? Es ist einfach ein grossartiger Roman, und das Thema Liebe, Treue, Verrat hat sich vielleicht doch weniger verändert, als man zu glauben geneigt ist. Und es ist in gewisser Weise eben doch möglich, Anna Karenina als Liebesroman zu lesen, im Gegensatz zu Flauberts Emma Bovary, wo es nahezu unmöglich ist, sich mit den Figuren zu identifizieren. Was Flaubert natürlich nicht zufällig unterlaufen ist. Die objektive Kälte, die dem Roman nachgesagt wird, ist bewusst angelegt. Die hat Anna Karenina überhaupt nicht. Die künstlerische Grösse von Tolstois Roman liegt darin, dass er alle Probleme, Widersprüche und offenen Fragen in sich aufnimmt. Die Fragen, die wir uns jetzt hier gestellt haben, sind zwar alle extrem wichtig, bleiben aber unterhalb der Ebene des Romans. Das Kunstwerk weiss mehr.

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Das Gespräch führten Claus Spahn und Michael Küster (2014).

Wolfgang Matz ist Buchautor und Lektor im Hanser Verlag München, wo er die 2009 erschienene Neuübersetzung von «Anna Karenina» betreut hat. Sein neuestes Buch, «Die Kunst des Ehebruchs», ist 2014 im Wallstein Verlag Göttingen erschienen.

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«Nein, Sie irren sich nicht», sagte sie langsam und blickte verzweifelt in sein kaltes Gesicht.

«Sie irren sich nicht. Ich war verzweifelt und kann nur verzweifelt sein.

Ich höre Ihnen zu und denke an ihn.

Ich liebe ihn, ich bin seine Geliebte, ich kann Sie nicht ertragen, ich fürchte, ich hasse Sie ... Machen Sie mit mir, was sie wollen.»

Anna zu Karenin (2. Buch, 29. Kapitel)

DER GRÜNE GRAF

Lew Tolstoi war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Aussteiger, Pazifist, Prophet, Anarchist und der erste Öko-Aristokrat.

Am 10. November 1910 um fünf Uhr in der Frühe liess der Graf die Pferde satteln. Das Ende rückte näher, und er wollte endlich so leben, wie er es in seinen Büchern beschrieben hatte: anspruchslos, auf der Strasse, das Gesicht dem Wind und der Unendlichkeit zugewandt, ohne Ziel, ohne Ehrgeiz, gottergeben. Wir wissen aus vielen Filmen, Büchern und Berichten, dass er, längst ein vergötterter Star des internationalen Literaturbetriebes, nicht weit gekommen ist. An der Bahnstation Astapowo überfiel ihn das Fieber, und man bettete ihn in das Bahnwärterhäuschen. Die Söhne und Töchter reisten an, tranken mit den russischen Reportern und den Schaulustigen in der Bahnhofsschenke, die Ehefrau kam mit einem Sonderzug. Das Sterbebett lag verkehrsgünstig. Tolstoi hat die Eisenbahn wie jede technische und maschinelle Neuerung verachtet. Sie verhalte sich zur Reise, hat er einmal gesagt, wie das Bordell zur Liebe. Sie sei genauso bequem wie unmenschlich, mörderisch und einförmig. Der Mensch, fand er, sollte lieber zu Fuss gehen, barfuss oder in selbst geschusterten Stiefeln. Aber das hat ihm alles nichts genützt. Er ist am 20. November 1910 neben den Schienen gestorben, in den Fängen des Eisenbahnnetzes, beinahe vor laufender Kamera. Am Abend vor seinem Tode soll er sich noch aufgebäumt und laut gerufen haben: «Ich gehe irgendwo hin, damit mich niemand stört. Lasst mich in Frieden.» Aber niemand hat auf ihn gehört.

Dieser Tod ist legendär. Man erzählt von ihm als einem letzten grossen Aufbruch des zornigen alten Mannes, der die Welt um sich verachtete für ihre Ruhmsucht und ihre Gier nach Bequemlichkeit. Und der es auf der allerletzten Lebensstrecke endlich geschafft habe, das verfluchte Gut in Jasnaja Poljana zu verlassen, und die Einfachheit gefunden habe, nach der es ihm sein Leben lang

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verlangte. Aber das ist eine Beschönigung dieses Medientodes. Es ist sogar eine Uminterpretation seines grossen Lebensdramas: Er wollte ein Baum sein und war ein Graf. Er wollte sich Gottes Wort überlassen und war ein Schriftsteller. Er wollte den Zug der Modernisierung anhalten und tat seinen letzten Atemzug in einem ihrer Dienstgebäude.

Wir haben den Tolstoi, der der erste weltbekannte Aussteiger aus der modernen Zivilisation war, heute beinahe vergessen. Wir lesen Krieg und Frieden und Anna Karenina, doch seine ungezählten religions­ und gesellschaftskritischen Schriften, die allein in der deutschen Ausgabe des Eugen Diederichs Verlags vierzehn Bände umfassen, sind nahezu unbekannt. Der Romancier ist unsterblich, der Prophet, zu dem man um 1900 aus allen Weltteilen pilgerte, ist gescheitert. Dabei stand er jahrzehntelang im Russenkittel und in seinen selbst gemachten Stiefeln an der Kreuzung, an der die Geschichte in die Industriemoderne abbog, und beschwor sie, die Fahrtrichtung in letzter Sekunde noch zu ändern. Doch weil die Geschichte unbeeindruckt mit Höchstgeschwindigkeit in die vom Grafen unerwünschte Richtung weitersauste, wurde aus dem Weltguru ein liebenswerter Kauz, der besser bei seinem lukrativen Kerngeschäft, der schönen Literatur, geblieben wäre. Doch heute, wo die Welt vollständig so geworden ist, wie Tolstoi sie nicht wollte, ist er – je nachdem, wie man Kosten und Nutzen dieser Entwicklung miteinander verrechnet – entweder so brandaktuell oder so hoffnungslos überholt wie nie. Wie sähe die Welt aus, wenn sie auf Tolstoi gehört hätte? Vermutlich stiller, eintöniger, klimafreundlicher und gottesfürchtiger. In Stuttgart gäbe es keinen Bahnhof und in Gorleben keinen Atommüll. Es gäbe keine Autobahnen und keine Wagnerfestspiele. Es gäbe keine Schlachthäuser und keine Kurpackungen für mittellanges, blondes Haar. Keinen Geburtenrückgang und keine Frauenbeauftragten. Stattdessen ausgedehnte Wälder, Felder, Wiesen und Weiden. Die Männer müssten ihre Familie von ihrer Hände Arbeit ernähren. Die Frauen so viele Kinder wie möglich gebären (eine junge Frau, die keine Kinder bekommt, kam dem Grafen vor wie fruchtbare Schwarzerde, auf die man Schotter geworfen hat). Wir trügen kurze Schafspelze, Filzstiefel, Unterjacke, Hose und Hemd. Wir wären nicht mehr getrieben von Eigennutz und Geltungssucht, sondern von Wahrheitsliebe und Mitmenschlichkeit. Mit anderen Worten: Wir würden die

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Welt, die auf Tolstoi gehört hätte, heute kaum ertragen. Dennoch ist das abschliessende Urteil der Literaturgeschichte falsch, Tol­stoi sei zwar ein aussergewöhnlicher Schriftsteller, aber ein schlechter Denker gewesen. Im Gegenteil, es lohnt sich sehr, seine radikalen agrar­anarchistischen Träume von einem urchristlichen Sozialismus zumindest in der Komfortzone des Buch­ und Zeitungswesens heute wieder ernst zu nehmen. Zumal Tolstoi seit seiner Abkehr von der Literatur und seiner Hinwendung zum Welterlösertum im Jahr 1877 – er war damals 49 Jahre alt und hatte den Roman Anna Karenina gerade beendet – diesen Träumen den grösseren Teil seiner literarischen Begabung und den kleineren Teil seines Besitzes zum Opfer brachte. Sehr zum Kummer seiner um die Tantiemen und den gewohnten Lebensstandard barmenden Gattin. Die radikale Verwandlung des Grafen in einen christlichen Anarchisten fällt in die letzten Jahrzehnte des Zarentums. Die Leibeigenschaft war seit gut zehn Jahren abgeschafft. Die feudal und patriarchalisch bestimmte Jugendwelt Tolstois war verloren. Slawophile und Reaktionäre – Lenin und der einflussreiche sowjetrussische Tolstoi­Biograf Viktor Schklowski schlugen den wilden Grafen ebenfalls diesem Lager zu – wollten das alte bäuerliche Russland konservieren. Liberale und Sozialisten setzten auf die Industrialisierung. Doch Tolstoi war gegen alle. Gegen die Slawophilen wegen ihrer Kirchenfrömmelei und Staatstreue, gegen die Sozialisten wegen ihres Fortschrittsglaubens. Er misstraute jeder historischen Grossbaustelle und war der Erste, der aussprach, was die Lebensreformbewegung des 20. Jahrhunderts später mannigfach und nicht ohne eine bescheidene Langzeitwirkung nachbuchstabierte: Du musst dein Leben ändern, wenn du die Welt ändern willst.

Das gute Leben – heute das von der Wellness­Industrie verhätschelte Wickelkind im weissen Bademantel – war für Tolstoi einfach, genügsam und ländlich. Von jeher hat Tolstoi die Anspruchslosigkeit und Unabhängigkeit der bäuerlichen Lebensweise den Ränken und Statussorgen der Stadt vorgezogen. Wer wollte, konnte das aus seinen Romanen herauslesen. Doch waren Romanmeinungen etwas, das ihm in seiner zweiten Lebenshälfte nichts mehr bedeutete. Literatur hielt er seitdem für einen überflüssigen Spiegel eines überflüssigen Lebens. Nur einmal noch hat er später die Simulationsmaschinen angeworfen und «nach alter Manier» den Bestseller Auferstehung geschrieben, um mit dem Erlös einer

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urchristlichen Sekte zur Ausreise nach Kanada zu verhelfen. Ansonsten wollte er nur noch mit dem Herzen denken, auf dem Lande arbeiten, die Kinder in seiner Dorfschule unterrichten und Gott in seiner Seele suchen.

Es war ein einfacher, aber hochexplosiver Gedanke, der Tolstoi zu Fall brachte, die Zensurbehörden des Zarenreiches alarmierte und die griechischorthodoxe Kirche dazu trieb, den weltberühmten Adligen zu exkommunizieren. Er bestand darin, die Bergpredigt wörtlich auf das Leben anzuwenden, um festzustellen, dass dieses Leben einem frontalen Auffahrunfall mit dem christlichen Grundlagentext nicht standhielt. Alles, was man brauchte, um das zu erkennen, war die Fähigkeit zur kindlich genauen Lektüre. Sie ergab zweifelsfrei, dass weder der Staat noch seine Gerichte, weder seine Steuereintreiber noch sein Heer mit den Geboten der Bergpredigt übereinstimmten. Die Technik der kunstvoll­naiven Entlarvung hatte Tolstoi in seinen Romanen zuvor bis zur Vollendung erprobt. So war es eine Revolte aus dem Geist der Literatur, die den Weltautor über Nacht zum Staatsfeind und Gottesnarren gemacht hat. Die verbotenen Schriften, in denen der Graf die Bauern nach seiner Bekehrung gegen seinesgleichen aufbrachte, fanden reissenden Absatz. Eindringlich beschwor er seine Leser, das Land, die Höfe und Äcker nicht zu verlassen, die bäuerliche Realwirtschaft nicht aufzugeben und keine «Scheinarbeit» in der Stadt anzunehmen, um Dinge herzustellen, die niemand wirklich braucht. Himmel und Hölle, wahr und falsch, echt und künstlich, natürlich und unnatürlich – nach diesem rousseauschen Fahrplan entwarf er eine alle Lebensbereiche umfassende Kulturkritik. Der Widerspruch zwischen scheinbarem und wirklichem Reichtum ist bis heute ein unauflösbares Paradox der hoch verschuldeten Wohlstandsstaaten und ihrer ewig unzufriedenen reichen Untertanen. Für Tolstoi war er die Jahrhundertfrage, die das Opfer eines halben Schriftstellerlebens mehr als wert war. Dass wir nicht auf ihn gehört und uns statt den Bäumen, dem Gras und dem Erdboden der Wirtschaft, ihren endlosen Produktlinien und virtuellen Finanzpaketen anvertraut haben, nimmt er uns vermutlich noch immer übel. Entschuldigen kann man sich da schlecht. Doch wem es in der komfortablen Hölle seines Scheinarbeitslebens hin und wieder zu stickig wird, der kann nach Feierabend noch immer ein wenig Trost und Frischluft finden beim grünen Grafen Tolstoi.

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Daniil Rathaus

Verwelkt ist die Blume

Verwelkt ist die Blume! An einem lasurblauen Morgen im Mai brach im Gewitter der Stengel. Und als ob sie Tränen vergiessen würde, verlor die Blume ihre Blätter und ist verwelkt.

Sie liebte dich mit überirdischer Kraft, wie nur ein Priester seine Göttin lieben kann.

Doch du liegst nun im kalten Grab!

All ihren Träumen und Wünschen entfremdet, ist die Seele deines armen Freundes nun erschöpft.

Es gibt kein Zurück zu den wunderbaren Tagen, sie sind erloschen.

Verwelkt ist die Blume!

Sergej Rachmaninow vertonte das Gedicht von Daniil Rathaus.

DIE KOMPONISTEN

Sergej Rachmaninow

Am 20. März 1873 wurde Sergej Rachmaninow im zum Gouvernement Nowgorod gehörenden Semjonow geboren. Seine Familie entstammte dem Landadel und kannte keine ernsten materiellen Sorgen. Der Grossvater väterlicherseits war ein glänzender Pianist, der bei John Field studiert hatte und auch komponierte. Die Mutter, eine ernste und ausgeglichene Frau, am Klavier eine begabte Dilettantin, gab dem Sohn den ersten Klaverierunterricht. Vater Rachmaninow liess seine Familie 1882 im Stich. Im selben Jahr war Sergej am St. Petersburger Konservatorium untergekommen, wo seine Begabung rasch erkannt wurde. Der Neunjährige spielte spektakulär vom Blatt und zeichnete sich durch ein phänomenales Gedächtnis aus. Im vollen Bewusstsein seiner Wunderkind­Anlagen war der junge Rachmaninow allerdings undiszipliniert und faul. So kam er auf Anraten des Vetters Alexander Siloti nach Moskau, wo er beim strengen Nikolai Serew Klavierunterricht bekam, bei dem er auch wohnte. Dort hatte er sich regelrechtem Drill zu unterziehen. Am Moskauer Konser vatorium waren zudem Anton Arenski und Sergej Tanejew (Theorie und Komposition) seine Lehrer. Der Einzelgänger wurde bald als die Begabung des Konservatoriums erkannt und schloss bereits 1892, ein Jahr vor der Zeit, seine Ausbildung ab. Die Lehranstalt zeichnete ihn mit der Grossen Goldmedaille aus, die zuvor nur zweimal vergeben worden war. 1895 vollendete er seine d-Moll-Sinfonie. Doch die Uraufführung im Rahmen der Russischen Symphoniekonzerte unter Alexander Glasunow geriet zum Debakel. Die Folge waren immer wiederkehrende Selbstzweifel und depressive Phasen, die sich wie ein roter Faden durch sein Leben zogen. Immer wieder wollte er das Komponieren ganz aufgeben; nur 45 Werke mit Opuszahl hat er in seinem 70­jährigen Leben hinterlassen. Er zweifelte stets an der Qualität seiner Arbeit und fragte sich oft, «ob dies nicht alles Unsinn» sei. «Ich ähnelte einem Schlaganfallpatienten, dem für lange Zeit Kopf und Glied­

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massen gelähmt waren», schrieb er Jahre nach dem Desaster. Der Misserfolg stürzte den 23­Jährigen in eine kreative Krise. Drei lange Jahre komponierte er nicht mehr und widmete sich seiner Karriere als Dirigent und Pianist – und wurde prompt als «Moskauer Halbgott» gefeiert. Aber dennoch brauchte er das Komponieren wie «Atmen oder Essen». Nach einer Hypnose­Therapie fand er zu neuem Selbstvertrauen; als kreativer Befreiungsschlag entstand das international erfolgreiche Zweite Klavierkonzert. In der Folge komponierte er «wie ein Besessener», auch wenn er weiterhin ständig an Selbstzweifeln litt. Von 1906 bis 1909 verbrachte Rachmaninow die Wintermonate mit seiner Familie im damals politisch stabileren Dresden, wo sie wie Einsiedler lebten. Diese Jahre zählten zu den produktivsten seines Lebens. Hier entstanden die 2. Sinfonie und die Sinfonische Dichtung Die Toteninsel, die er für eine USA­Tournee 1909/10 komponierte. Aber Rachmaninow kehrte nach Russland zurück und liess sich in Moskau nieder, wo er 1911 bis 1914 die Kaiserlichen Symphoniker leitete. Die Oktoberrevolution nahm ihm seine Heimat und die Gesellschaft, in der er emotional wie ästhetisch verwurzelt war. Rachmaninow floh in die USA und erlebte die zweite grosse Krise. Diesmal dauerte es beinahe ein Jahrzehnt, bis er wieder zu komponieren begann. Nach grossen Erfolgen als Dirigent und Pianist beendete er 1926 das Vierte Klavierkonzert, das er bereits 1917 begonnen hatte. Nun entstanden in rascher Folge die weiteren Hauptwerke, meist in seinem Schweizer Refugium in Hertenstein bei Weggis, wo er die Sommermonate verbrachte. Er schrieb die Rhapsodie über ein Thema von Paganini, die 3. Sinfonie, die Sinfonischen Tänze sowie seine Corelli-Variationen. Am 28. März 1943 erlag er in Beverly Hills einem Krebsleiden.

Die Urteile über Rachmaninows Werke sind noch heute verschieden. Seine lebenslange Melancholie ist deutlich in seinen Kompositionen zu spüren. Das kam nicht bei jedem gut an. So fragte Lew Tolstoi nach einem Konzert Rachmaninows und des Bassisten Fjodor Schaljapin in Jasnaja Poljana: «Braucht irgendjemand solche Musik?». Mittlerweile waren in der Musikwelt neue und ungewohnte Töne der klassischen Moderne auf dem Vormarsch – mit der Rachmaninow aber nichts anfangen konnte. Seine Musik schwelgt noch fest in der russischen Spätromantik, deren Klangsprache er in das 20. Jahrhunderte hinüberrettete.

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«Musik ist für mich nichts als der freie Ausdruck der menschlichen Seele mittels akustischer Phänomene.» Witold Lutosławski, 1913 in Warschau geboren, zählt neben Frédéric Chopin und Karol Szymanowski zu den wichtigsten polnischen Komponisten. Kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat sich so intensiv mit den unterschiedlichen avantgardistischen Kompositionstechniken seiner Zeit auseinandergesetzt. Vom Neoklassizismus über die Zwölftonmusik und die Aleatorik bis hin zu einem vom französischen Impressionismus in der Malerei geprägten Lyrismus hat Lutosławski die unterschiedlichsten Stilmittel in seine unmittelbar wirkende Musiksprache einfliessen lassen . Obwohl er sich selbst zu einer abstrakten Auffassung von Musik bekannte, hat er mit seiner subtilen Anverwandlung neuer Kompositionstechniken die Musik der Moderne aus ihrer formalen Hülle gelöst. Lutosławski studierte in den 1930er­Jahren Klavier, Komposition und Mathematik in Warschau. Nach der Flucht aus der deutschen Kriegsgefangenschaft schlug er sich als Caféhauspianist in Warschau durch. 1941 entstanden seine Paganini-Variationen für zwei Klaviere, ein bis heute vielgespielter Reisser. Mitte der 1950er­Jahre begründete er das Musikfestival «Warschauer Herbst» mit, auf dem sich die internationale Musikavantgarde traf. Kompositorisch besonders an Bartók und Strawinsky orientiert, änderte sich sein Stil, als er im Radio einen Ausschnitt aus John Cages Klavierkonzert hörte. Er integrierte in seine Stücke das, was er «aleatorischen Kontrapunkt» nannte: Passagen, in denen nach sehr strengen Vorgaben improvisiert werden musste. Die wichtigsten und schönsten Werke dieses neuen, härteren Stils sind Trois poèmes d’Henri Michaux, das Streichquartett, die 2. Sinfonie, Livre pour orchestre, das Cellokonzert, Novelette und die 1983 entstandene

3. Sinfonie – sein reifstes und beeindruckendstes Werk überhaupt.

Ab Mitte der achtziger Jahre verfeinerte sich der Stil von Lutosławski noch einmal in Richtung auf den von ihm stark bewunderten Impressionismus –bestes Beispiel dafür ist das Klavierkonzert von 1988. Lutosławski: «Ich war stets Befürworter der abstrakten Auffasssung der Musik. Musik drückt durch sich allein keinerlei nichtmusikalische Inhalte eindeutig aus. Musik ist Musik! Selbstvertändlich ist diese Demonstration nicht zufriedenstellend, denn es ist

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bekannt, wie sehr Musik auf menschliche Emotionen wirkt.» In diesem Spannungsfeld ist seine Musik überragend modern und gleichzeitig immer auf Anhieb verständlich. Lutosławski starb am 7. Februar 1994 in Warschau.

Josef Bardanashvili wurde 1948 in Batumi (Georgien) geboren. Er studierte Komposition an der Musikakademie in Tbilissi bei Aleksandr Shaverzashvili. Er leitete die Musikschule in Batumi und war 1993/94 Vize­Kulturminister von Adjara. 1995 übersiedelte er nach Israel. Er war Musikdirektor der Biennale Tempus Fugit für zeitgenössische Musik in Tel Aviv. Gegenwärtig ist er Composer in residence bei der Israel Camerata Jerusalem und unterrichtet an der Universität Tel Aviv sowie an der Academy of Music and Dance in Jerusalem. Wichtige Werke sind seine Oper A Journey to the End of the Millenium, die Ballette A Woman’s Ballad, Tutor und Moving Soul, die vom Israel Philharmonic Orchestra in Auftrag gegebene Sinfonie Nr. 3 Bameh Madlidkin und das Triptychon Children of God für Singstimmen und Orchester. Ausserdem komponierte Josef Bardanashvili zahlreiche Instrumentalkonzerte und schrieb die Musik zu 40 Filmen und 50 Theaterproduktionen.

Sulkhan Tsintsadze (1925­1991) ist einer der wichtigsten georgischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sein in Tbilissi begonnenes Cello­Studium setzte er von 1945 bis1953 am Moskauer Konservatorium fort, wo er bei Semyon Bogatyryov auch Komposition studierte. Lange spielte Tsintsadze als Cellist im Georgian State String Quartet, für das zahlreiche Kammermusikkompositionen entstanden sind, u.a. die auf georgischer Volksmusik basierenden Miniaturen für Streichquartett. Ausserdem schrieb er Opern, Ballettmusiken, Sinfonien und Konzerte. In seinen Werken benutzt er traditionelle Formen, zeigt sich aber auch sehr beeinflusst von Dmitri Schostakowitsch und Vissarion Shebalin.

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LEW TOLSTOI

Zeittafel

1828 Geburt in Jasnaja Polja im Gouvernement Tula

1844-1847 Bricht zweimal das Universitätsstudium in Kasan ab: zunächst Orientalistik, später Jura

1851 Begleitet seinen Bruder Nikolai in den Kaukasus und tritt in die Armee ein

1852 Veröffentlicht den autobiografischen Roman «Kindheit»

1854-1856 Teilnahme am Krimkrieg, veröffentlicht «Sewastopoler Erzählungen»

1857 Erste Europareise (Frankreich, Schweiz, Deutschland)

1858 Wird während der Jagd von einem Bären angefallen und trägt seither eine Narbe im Gesicht. Verliert wegen schlechter Hygiene alle Zähne

1860-1861 Zweite Europareise (Deutschland, Frankreich, Italien, England, Belgien). Besucht zahlreiche Schulen, um seine eigenen pädagogischen Projekte voranzutreiben

1862 Heirat mit Sofia Andreewna Behrs

1868 Publikation von «Krieg und Frieden»

1878 Publikation von «Anna Karenina». Beginn der religiösen Lebenskrise, die aber nur eine Radikalisierung früherer Ansichten bedeutet

1884 Gründet mit Wladimir Tschertkow den Verlag «Der Vermittler», in dem seine moralischen Traktate in hoher Auflage erscheinen

1892 Hilft bei der Bekämpfung der Hungersnot

1899 Veröffentlicht seinen letzten Roman «Auferstehung»

1901 Exkommunikation aus der russischen Kirche

1910 Flucht aus Jasnaja Poljana und Tod in der Eisenbahnstation Astapowo

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BALLETT ZÜRICH

Christian Spuck stammt aus Marburg und wurde an der John Cranko Schule in Stuttgart ausgebildet. Seine tänzerische Laufbahn begann er in Jan Lauwers’ Needcompany und Anne Teresa de Keersmaekers Ensemble «Rosas». 1995 wurde er Mitglied des Stuttgarter Balletts und war von 2001 bis 2012 Hauschoreograf der Compagnie. In Stuttgart kreierte er fünfzehn Uraufführungen, darunter die Handlungsballette Lulu. Eine Monstretragödie nach Frank Wedekind, Der Sandmann und Das Fräulein von S. nach E.T.A. Hoffmann. Darüber hinaus hat Christian Spuck mit namhaften Ballettcompagnien in Europa und den USA gearbeitet. Für das Königliche Ballett Flandern entstand The Return of Ulysses, beim Norwegischen Nationalballett Oslo wurde Woyzeck nach Georg Büchner uraufgeführt. Das Ballett Die Kinder beim Aalto Ballett Theater Essen wurde für den «Prix Benois de la Danse» nominiert, das ebenfalls in Essen uraufgeführte Ballett Leonce und Lena nach Georg Büchner wurde von den Grands Ballets Canadiens de Montreal und vom Stuttgarter Ballett übernommen. Die Uraufführung von Poppea//Poppea für Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart wurde 2010 von der Zeitschrift Dance Europe zu den zehn erfolgreichsten Tanzproduktionen weltweit gewählt sowie mit dem deutschen Theaterpreis Der Faust 2011 und dem italienischen Danza/Danza-Award ausgezeichnet. Christian Spuck ist auch im Bereich Oper tätig. Auf Glucks Orphée et Euridice an der Staatsoper Stuttgart folgten Verdis Falstaff am Staatstheater Wiesbaden sowie Berlioz’ La Damnation de Faust und Wagners Fliegender Holländer an der Deutschen Oper Berlin. Seit der Saison 2012/13 ist Christian Spuck Direktor des Balletts Zürich. Hier waren seine Choreografien Romeo und Julia, Leonce und Lena, Woyzeck, Der Sandmann, Messa da Requiem, Nussknacker und Mausekönig, Dornröschen und Monteverdi zu sehen. Das 2014 in Zürich uraufgeführ te Ballett Anna Karenina wurde in Oslo, am Moskauer Stanislawski­Theater sowie vom Koreanischen Nationalballett und vom Bayerischen Staatsballett ins Repertoire übernommen. Für das 2018 in Zürich uraufgeführte Ballett Winterreise wurde er mit dem «Prix Benois de la Danse» ausgezeichnet. 2019 folgte beim Ballett Zürich Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (Auszeichnung als «Produktion des Jahres» durch die Zeitschrift tanz). Für das Ballett des Moskauer Bolschoitheaters entstand 2021 das Ballett Orlando. Mit Beginn der Saison 2023/24 wird Christian Spuck Intendant des Staatsballetts Berlin.

Esteban Berlanga

Erster Solist

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Esteban Berlanga stammt aus Spanien. Nach seiner Ausbildung am Royal Conservatory of Albacete und am Professional Dance Conservatory of Madrid tanzte er von 2006 bis 2013 im English National Ballet. Dort wurde er 2012 zum 1. Solisten ernannt. U. a. tanzte er Prinz Siegfried in Schwanensee von Derek Dean, den Prinzen in Kenneth MacMillans Dornröschen, Albrecht in Giselle von Mary Skeaping, den Nussknacker in der Choreografie von Wayne Eagling und Frédéric in L’Arlésienne von Roland Petit. Ausserdem war er in Choreografien von Jiří Kylián und Maurice Béjart zu sehen. Für Faun(e) von David Dawson wurde er für den «Benois de la Danse» nominiert. Von 2013 bis 2018 war er Principal Dancer in der Compañia Nacional de Danza España. Dort war er solistisch u.a. in Choreografien von William Forsythe, Itzik Galili, Roland Petit und Kenneth MacMillan zu erleben. Seit der Saison 2018/19 ist er Mitglied des Balletts Zürich und tanzte hier u. a. in Christian Spucks Winterreise, Dornröschen und Anna Karenina, die Titelrollen in Marco Goeckes Nijinski und Edward Clugs Peer Gynt sowie in Choreografien von Crystal Pite, William Forsythe und Johan Inger.

Jan Casier

Erster Solist

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Jan Casier wurde in Belgien geboren. Er studierte an der Königlichen Ballettschule in Antwerpen. Nach einem ersten Engagement beim Royal Ballet of Flanders (2008­2012) wurde er Mitglied des Balletts Zürich. Hier war er bis 2014 in Balletten von Christian Spuck zu sehen: als Leonce in Leonce und Lena, als Paris in Romeo und Julia und in der Titelrolle von Woyzeck. Ausserdem tanzte er in Choreografien von Edward Clug, Sol León/Paul Lightfoot, Marco Goecke und Wayne McGregor. Von 2014 bis 2016 war er Mitglied im Semperoper Ballett Dresden. Dort trat er in Choreografien von Aaron Watkins (Prinz in Der Nussknacker), William Forsythe, Alexei Ratmansky, David Dawson und Alexander Ekman auf. 2016 kehrte Jan Casier zurück zum Ballett Zürich. Er tanzte u. a. in Forsythes Quintett, Godanis rituals from another when und war in den Titelrollen von Edward Clugs Faust und Peer Gynt, Marco Goeckes Nijinski sowie als Drosselmeier in Spucks Nussknacker und Mausekönig und als Flieder fee in Dornröschen zu sehen. 2019 wurde er von der Zeitschrift tanz zum «Tänzer des Jahres» gekürt, ausserdem wurde er mit dem «Tanzpreis der Freunde des Balletts Zürich» ausgezeichnet.

www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses

Programmheft

ANNA KARENINA

Ballett von Christian Spuck

Nach dem gleichnamigen Roman von Lew Tolstoi

Musik von Sergej Rachmaninow, Witold Lutosławski, Sulkhan Tsintsadze und Josef Bardanashvili

Uraufführung am 12. Oktober 2014, Spielzeit 2014/15

Wiederaufnahme am 19. März 2023, Spielzeit 2022/23

Herausgeber Opernhaus Zürich

Intendant Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Michael Küster Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli

Titelseite Visual François Berthoud

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Druck Fineprint AG

Textnachweise:

Lew Tolstoi: Anna Karenina. Aus dem Russischen neu übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. München

2009. – Figurenverzeichnis, Handlung und Musik: Michael Küster. – Die Interviews mit Christian Spuck und Wolfgang

Matz führten Michael Küster und Claus Spahn für das Magazin des Opernhauses Zürich (Ausgabe 22/2014). –

Vladimir Nabokov: Vorlesungen über russische Literatur.

Hrsg. v. Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen v. Dieter E. Zimmer. Hamburg 2013. – Bodo

Zelinsky: Der russische Roman. Köln / Wien 2007. – Iris

Radisch: Der grüne Graf. In: Die Zeit Nr. 47/2010. – Zeittafel

Lew Tolstoi. In: Ulrich Schmid: Lew Tolstoi. München 2010.

Abbildungen: Admill Kuyler fotografierte das «Anna Karenina»-Gastspiel des Balletts Zürich in Istanbul im Juni 2022. Die Compagnie wurde portraitiert von Jos Schmid. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechsabgeltung um Nachricht gebeten.

Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz.

PARTNER

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Neue Zürcher Zeitung AG

Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

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Irith Rappaport

Richards Foundation

Luzius R. Sprüngli

Madlen und Thomas von Stockar

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