HMB Kienzle

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Hencke Marken Bibliothek

Band 1 Jan Lehmhaus Tim Stefan Schmidt Peter Welchering



«(...) mit einer Armbanduhr der Marke Kienzle beschenkte der Vater mich zum Geburtstag.» Günter Grass «Beim Häuten der Zwiebel» © Steidl Verlag, Göttingen 2006


Herausgeber: Prof. Dr. Stefan Hencke Autoren: Jan Lehmhaus, Tim Stefan Schmidt, Peter Welchering Lektorat: Regula Walser, Zürich Verlag: Orell Füssli Verlag AG, Zürich Gestaltung: Roland Schweizer, Strichpunkt GmbH, Winterthur Bilder: Arne Wohlgemuth Verlagsberatung und -realisation: Gian Laube Lithos: Digicom Digitale Medien AG, 8307 Effretikon Druck: fgb • freiburger graphische bertriebe, Freiburg 1.Auflage © 2008 Orell Füssli Verlag AG, Zürich www.ofv.ch Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des ­Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen ­Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig. © Hencke Marken Bilbliothek Ein Produkt der Media Tune AG, Zürich www.media-tune.ch ISBN 978-3-280-05331-7 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Inhalt Vorwort des Herausgebers

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1. Einleitung

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2. Geschichte

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3. Marke

3.1 Die Tradition der Marke 3.2 Ein Neubeginn

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4. Personen

38 4.1 Johannes Schlenker, Jakob Kienzle: die Gründer und ihre Nachfolger 39 4.2 Marco Hahn: Bauchentscheider und Unternehmensversteher 60 4.3 Stephan W. Kruse-Thamer: Der Promotor und Uhrensammler 64 5. Werbung und Sponsoring 5.1 1920–1945 5.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg 5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke

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6. Produktion und Diversifikation

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7. Historische Uhren aus acht Jahrzehnten

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8. Die aktuellen Uhrenkollektionen

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8.1 Edition Jakob Kienzle 8.2 Kienzle 1822 8.3 Kienzle Klassik 8.4 Kienzle-Wecker und -Großuhren 9. Uhren sind nur der Anfang

158 Round-Table-Gespräch mit Marco Hahn und Stephan W. Kruse-Thamer 10. Anhang Literaturverzeichnis Die Autoren

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Vorwort des Herausgebers Strategische Markenführung und Markenmanagement gehören zu den großen Aufgaben des modernen Marketings. Marken sind oftmals das wertvollste Kapital von Unternehmen. Aber was zeichnet große Marken aus? Wie differenzieren sie sich von ihren Mitbewerbern? Wie arbeiten Marken auf internationalen Märkten? Marken spiegeln oftmals das wider, was sich Menschen wünschen. Motive und Emotionen werden über Marken und deren Produkte befriedigt. Starke Marken haben ein klares Profil und einen hohen Wiedererkennungswert. Eines der wichtigsten Kriterien ist dabei der Marken- bzw. der Imagewert. Kienzle ist eine solche Marke. Sie hat gelernt, mit ihrer wechselhaften Geschichte gut umzugehen und diese als Stärke herauszuarbeiten. Das Autorenteam um Peter Welchering, Jan Lehmhaus und Tim Stefan Schmidt hat es verstanden, diesen Punkt deutlich zu machen. Stetige und innovative Veränderung, Entwicklung neuer Ansätze und Produktideen, aber insbesondere das Herausarbeiten von realisierbaren Ideen und eine positive Markenentwicklung zeichnen die Gegenwart aus. Das Buch zeigt die Geschichte der Marke, aber auch die Menschen, die Kienzle kennzeichnen und die für die Marke stehen und sie repräsentieren. Neben tiefen Einblicken in genau diese Gegenwart erlaubt es uns auch, auf der anderen Seite Ausblicke in die Zukunft der Marke zu erlangen. Das Ziel der Marken Bibliothek ist die Darstellung, das Hineintauchen und tiefere Verständnis von Marken. Als Herausgeber möchte ich mich an dieser Stelle bei den Autoren sowie bei Gerhard Weyler aus Italien für seine großzügige Mithilfe insbesondere bei den historischen Daten bedanken. Einen besonderen Dank möchte ich dem Team der Kienzle AG, insbesondere Marco Hahn, dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates, sowie dem Vorstand Stephan W. Kruse-Thamer für die wertvolle, konstruktive, angenehme und sehr gute Zusammenarbeit bei der Herstellung dieses Buches aussprechen. Die Zusammenarbeit hat mir sehr viel Freude bereitet.

Prof. Dr. Stefan Hencke

Stuttgart, Herbst 2008



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1. Einleitung Der so visionäre wie dynamische Unternehmer Jakob Kienzle verband in seinem Unternehmen ab 1883 die uhrmacherischen Traditionen der Region mit neuen, effizienten Fertigungs- und Vertriebsmethoden. Aus traditionellen handwerklichen Strukturen entstand ein leistungsfähiger Industriezweig. Durch ein früh geknüpftes Netz von Auslandsvertretungen, die konsequente Pflege der Beziehungen zum Fachhandel und durch erheblichen Werbeeinsatz wurde Kienzle mit seinen Produkten zu einer der ersten auch international bekannten deutschen Marken. Deren Strahlkraft, vor allem aber die anhaltende Flexibilität und Innovationskraft des Unternehmens ließen es als eines der wenigen den Niedergang der deutschen Uhrenindustrie in den 1970er- und 1980er-Jahren überleben. Auch ein Teil des Firmenarchivs überstand verschiedene Besitzerwechsel und Umzüge und wurde den Autoren dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Es bildete eine der Grundlagen für die Recherchen zu diesem Buch. Als erster Band der Marken Bibliothek, konzipiert vom Herausgeber Prof. Dr. Stefan Hencke, will diese Publikation mehr sein als eine Firmenchronik. Sie zeigt die wechselvolle Geschichte des Hauses, stellt die Unternehmer vor und dokumentiert Aufbau und Führung der erfolgreichen Marken. Weitere vertiefende Kapitel beleuchten die sich wandelnden Produktionsbedingungen und die zur Unternehmenskultur gehörenden Diversifikations-Bestrebungen wie auch die Werbeauftritte und Strategien der Firma. Zwei Abschnitte sind den Uhren aus dem Hause Kienzle gewidmet: Auf eine Reihe historischer Leader-Modelle und zeittypischer Produkte folgt die Vorstellung der aktuellen Produktlinien. Daran schließt sich ein Roundtable-Gespräch mit der heutigen Geschäftsführung an, die sich zu ihren Erwartungen und weiteren Plänen für die Traditionsmarke äußert.


Uhrenstadt Schwenningen: der Stolz der Stadt als Postkartenmotiv


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2. Geschichte Kienzle hat seine Heimat in Schwenningen, einem kleinen Ort im Württembergischen, der erst durch die Uhrmacherei im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Stadt heranwuchs – dann allerdings zu einer veritablen Industriestadt, die einige Tausend Arbeiter und Arbeiterinnen, daneben Handwerker der ver­ schiedensten Fach­richtungen ernährte. Die Geschichte Kienzles war lange eng mit der Industriestadt Schwenningen verbunden – dem glorreichen Aufstieg folgten mehrere bewältigte Krisen und ein langer, unaufhaltsamer Niedergang der Uhrenindustrie in der Region. Heute gehört Kienzle zu den wenigen Marken, die deren Ende überlebt haben und weiterhin international erfolgreich sind. Die Historie der Firma beginnt einige Jahre vor der Geburt ihres Namensgebers – und hat ihren Ursprung in einer Nachbarregion, dem Schwarzwald. Und das nicht nur weil hier die südwestdeutsche Uhrmacherei ihren Anfang nahm, sondern weil sie hier bereits zu ihrer Rolle fand: der Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit erschwinglichen Zeitmessgeräten – unter konsequenter Minimierung des technischen Aufwands, aber ohne Einbußen bei der dem Zweck angemessenen Belastbarkeit und Zuverlässigkeit. Auch darin äußert sich das uhrmacherische Erbe der Schwarzwälder Handwerker für die Schwenninger Fabrikanten wie der Firma Kienzle. In den in vielerlei Hinsicht abgelegenen Schwarzwald gelangten die ersten Uhren vermutlich erst im späten 17. Jahrhundert, zu einer Zeit, als der Gebrauch solcher Zeitmesser in den kultivierteren Regionen Europas auch außerhalb der Klöster längst üblich geworden war. Der Legende nach waren es «Glasträger», die nach Auslieferung des einzigen Schwarzwälder Exportprodukts, Produkte der wenigen Glashütten, simple Uhren aus dem Böhmischen in die südwestdeutsche Heimat brachten. Stets darum bemüht, die für die Landwirtschaft unproduktiven Wintermonate sinnvoll zu nutzen, hatten die Schwarzwälder Bauern über Generationen eine hohe Fertigkeit in der Herstellung hölzerner Gerätschaften entwickelt. «Schnefler», Schnitzer, wurden die auf diese Arbeiten spezialisierten Handwerker genannt. Der Nachbau der ersten importierten Uhren fiel ihnen daher


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2. Geschichte

nicht schwer: Wesentliche Bestandteile der sogenannten Waaguhren waren ein mit zwei Gewichten versehener jochförmiger Balken, der mittels einer Spindel hin- und herbewegt wurde, und drei aus Holz geschnitzte Räder. Der Mechanismus lief nur zwölf Stunden lang, bevor er wieder mit Energie versorgt werden musste; und die Tatsache, dass er nur einen Stundenzeiger hatte, war seiner mangelnden Genauigkeit gerade angemessen. Technische Verbesserungen wurden in den Folgejahren nicht nur von einer zunehmenden Zahl von Handwerkern ertüftelt, sondern auch systematisch aus dem Ausland importiert und mit den heimischen Mitteln umgesetzt. Als die Schwarzwälder um 1720 den «Zahnstuhl» einführten, ein Gerät, mit dem sich gleichmäßig geformte Zahnräder in Serie herstellen ließen, bauten sie ihn in Ermangelung anderer Werkstoffe aus Holz und nicht aus Metall wie seine französischen Vorbilder. Auch so ließen sich die Räder nicht nur wesentlich genauer, sondern auch in immer größeren Serien herstellen, um den wachsenden Bedarf an Uhren zu befriedigen. Und die Zifferblätter wurden bald nicht mehr einzeln aufwändig bemalt, sondern wie die weit verbreiteten Heiligenbildchen auf Handpressen gedruckt und mit Wasserfarben koloriert.

In Positur: Kienzle-Belegschaft um 1900


2. Geschichte

Nach Schwenningen kam die Uhrmacherei wohl deshalb, weil der Ort, zwischen dem Ostrand des Schwarzwalds und der Hochmulde der Baar gelegen, das Privileg besaß, Märkte abhalten zu dürfen. Hier übergaben im späten 18. Jahrhundert zunehmend viele Schwarzwälder Uhrenträger ihre Produkte an Zwischenhändler, anstatt sie, wie bis dahin üblich, selbst bis auf die weit entfernten Absatzmärkte im Ausland zu transportieren. Für die Schwenninger Bevölkerung, die sich nur mühsam von der Landwirtschaft ernähren konnte, war es nahe liegend, ebenfalls die Produktion von Uhren aufzunehmen. Einer der Nebenerwerbs-Uhrmacher war der 1787 geborene Johannes Schlenker. Aus den Napoleonischen Kriegen heimgekehrt, besserte er ab 1822 sein Einkommen aus einer kleinen Bauernstelle mit dem Verkauf selbst gefertigter holzgespindelter Uhren auf. Seine Söhne vergrö­ ßerten das Geschäft wesentlich und organisierten den Vertrieb. Auch als sie 20 Mitarbeiter beschäftigten und bald bis zu 20 000 Uhren jähr­lich herstellen konnten, blieb die Produktion noch rein handwerklich. Das änderte sich bald nach dem Eintritt von Jakob Kienzle in den Betrieb. 1859 in Schwenningen geboren, hatte er eine kaufmännische Lehre absolviert und Erfahrungen aus der Uhrenfertigung seines Onkels. Bald Schwiegersohn und Teilhaber des Firmenchefs, steigerte er in den Folgejahren die Produktion rasant: Von den vergleichsweise aufwändigen Wanduhren mit 14 Tagen Gangdauer und den Weckern wurden 1888 bereits 65 000 Stück hergestellt, 1893 waren es 162 000. Kienzle setzte auf das «amerikanische System». An die Stelle handwerklich-individueller Fertigung trat die Montage standardisierter Einzelteile, die in großen Serien maschinell vor-

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Schnelle Entwicklung: in wenigen Jahren vom Handwerksbetrieb zum Unternehmen mit internationaler Korrespondenz


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2. Geschichte

gefertigt wurden. Aus Kosten- und Gewichtsgründen wurden die ab 1894 angebotenen Wecker mit durchbrochenen Platinen gefertigt; seit der Jahrhundertwende fand sich diese Bauweise auch bei den Tisch- und Wanduhren des Hauses. Die dafür nötigen Stanzen wurden mit der bereits 1885 angeschafften Dampfmaschine angetrieben, für die das Wasser zunächst noch in Fässern vom Neckar herbeigeschafft werden musste. Als Ausdruck entschiedener Modernität des Unternehmens ist sicher auch die Einführung des elektrischen Lichts 1896 zu sehen. Zwei Jahre später war Jakob Kienzle Alleininhaber des Unternehmens. 400 Facharbeiter produzierten 470 000 Uhren. Neben der Modernisierung der Produktion sorgte Kienzle früh für eine möglichst ungehinderte Aktivität des Unternehmens im Ausland. Eine weitere Fabrik war inzwischen im böhmischen Komotau gegründet worden. Durch Schutzzölle vor importierter Konkurrenz sicher, versorgte sie den tschechischen Markt. Für den Absatz der Schwenninger Produkte im Ausland sorgten Verkaufsbüros, zunächst in London, Paris und Mailand. Seit 1902 ließ Kienzle, ebenfalls aus zolltechnischen Gründen, die Uhren für den italienischen Markt bei einer Tochterfirma in Mailand montieren. Das Sortiment des Unternehmens wurde ständig erweitert, seit 1904 entstanden preiswerte Taschenuhren, bereits ein Jahr später kamen die ersten Kienzle-Reisewecker auf den Markt. Schon 1908 bot das Haus die gerade bei Damen in Mode kommenden Armbanduhren an und stellte ab 1910 Borduhren für die ersten Automobile her. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs steigerte das Unternehmen die Jahresproduktion auf weit über zwei Millionen Uhren und Werke und beschäftigte im In- und Ausland 3000 Mitarbeiter. Die Exportquote lag bei 75 Prozent. Umso krisenhafter war für Kienzle der Kriegsbeginn 1914. Neben dem wegbrechenden Auslandsgeschäft wurde der Materialmangel, der die Produktion nahezu unmöglich machte, zur größten Bedrohung. Dann aber verschaffte sich Kienzle große Aufträge aus der Rüstungs­ industrie, in Schwenningen waren die Werke mit der Produktion von 10 000 bis 12 000 Zündern am Tag mehr als ausgelastet. Dazu verdiente das Unternehmen an der Fertigung von bis zu 12 000 Armee-Armbanduhren pro Woche, deren Zeiger und Ziffern mit Radium-Leuchtfarbe versehen wurden und so auch im Dunkeln ablesbar waren. Die Nachkriegszeit fiel mit dem ersten Generationenwechsel in der Familie Kienzle zusammen; 1919 übergab Jakob Kienzle das Unternehmen an seine Söhne Christian und Herbert Kienzle, dabei blieb das Werk in Komotau im Besitz des Firmengründers.


Know-how: Patentanmeldung in den USA


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2. Geschichte

Die Folgejahre brachten nach einem anfänglichen Wachstum und der Umwandlung des Unternehmens in eine AG 1922 eine wirtschaftlich schwierige Phase. In der Folge der Hyperinflation kam das Inlandsgeschäft 1923/24 fast zum Erliegen, es gab Kurzarbeit und Entlassungen. Nur das inzwischen bis nach Japan und Lateinamerika ausgebaute Vertriebsnetz verhinderte eine wesentliche Betriebseinschränkung. Dem über Jahre anhaltenden Preisverfall versuchte Kienzle auf verschiedene Arten zu begegnen. 1925 wurde in den Schwenninger Werken die Fließfertigung eingeführt, um die Produktion zu rationalisieren. Strategisch bemühte man sich um die Übernahme und Integration kleinerer Konkurrenzunternehmen und plante seit 1926 eine Großfusion der führenden Uhrenhersteller im Süddeutschen Raum, die aber nicht zustande kam. 1928 gründete Kienzle unter anderem mit Junghans, dem Konkurrenten aus Schramberg, ein Syndikat, das sich zum Ziel setzte, den Wettbewerb unter Kontrolle zu bringen. Die Fusion scheiterte 1930 genauso wie die Versuche, unter Einbeziehung Frankreichs, Italiens und der USA einen internationalen Uhren-Trust zu bilden. Ebenso wenig gelang die gemeinsame Entwicklungsarbeit mehrerer Hersteller an neuen, elektronischen Zeitmessgeräten. Die Idee, die Einheitszeit von einer besonders genau laufenden Hauptuhr aus über Tonfrequenz-Impulse im Stromnetz oder gar per Funkfernsteuerung auf Nebenuhren zu übertragen, war den technischen Möglichkeiten der Zeit zu weit voraus und musste aufgegeben werden. Auch die erste elektrische Schlagwerksuhr, die Kienzle 1929 vorstellen konnte, wurde nicht zum erhofften Verkaufserfolg. Für die Verbraucher war sie, allemal in der bald darauf einsetzenden Weltwirtschaftskrise, schlicht zu teuer. Als weitaus lohnender erwies sich 1931 die Einführung eines Produkts, das näher bei der Tradition des Hauses war als luxuriöse Hochtechnologie-Produkte: die sogenannte Strapazier-Armbanduhr, ausgestattet mit Werken des Typs 051. Dieses Kaliber, bereits 1923 entwickelt, verzichtete mit seiner Stiftankerhemmung Kienzle-typisch auf den aufwendigen Besatz des Ankers mit kleinen Steinpaletten. Dazu verfügte es über keine Lagersteine; die Zapfen der Wellen drehten sich in kleinen Körnungen der metallenen Basis. Das Produkt war nicht sehr genau, sein schlichter Aufbau aber äußerst belastbar und über Jahrzehnte ideal für den Massenmarkt. 1975 feierte Kienzle den Verkauf der 25-millionsten Uhr mit einem solchen Werk. Bereits 1929 hatte Kienzle in Villingen die Kienzle-Taxameter und Apparate AG gegründet, die den Bau von Taxametern und Tachographen, also


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Fahrtenschreibern, übernahm. Mit der Unabhängigkeit des Unternehmens unter Führung eines Sohnes Jakob Kienzles war 1931 die Aufspaltung der Firma in Uhren- und Apparatebau vollzogen, auch wenn beide Unternehmen bis in die 1980er-Jahre hinein partnerschaftlich verbunden blieben. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ab 1933 wurden auch in Schwenningen die bis dahin starken Gewerkschaften entmachtet. Hatten noch 1932 Demonstranten dem im Wahlkampf stehenden Adolf Hitler das Mikrofonkabel durchtrennt und die Schwenninger Großkundgebung statt mit seiner Rede mit der Internationalen beschallt, so fügte sich die bis dahin sozialistisch wählende Bevölkerung nach der «Gleichschaltung» ihrer Organisationen und der Verfolgung ihrer politischen Führung unter die Hakenkreuzfahne. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der man in den 1920er-Jahren Taschenuhren mit einem Lenin-Konterfei und der Parole «Proletarier aller Länder, vereinigt euch» in die Sowjetunion geliefert hatte, entstanden bei Kienzle Zeitmesser mit Hakenkreuz auf dem Zifferblatt – wie 1943 für die Angehörigen der «Leibstandarte Adolf Hitler». Schwenningen produzierte, was der Markt verlangte. Seine Betriebe wurden nach der überstandenen Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren wirtschaftlich wieder erfolgreicher. Ab 1934 verzeichnete Kienzle ein im In- wie Ausland stark anziehendes Geschäft, konnte beispielsweise seine Exporte nach China bedeutend

Neue Werbe-Wege: einer der ersten Kienzle-Busse


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Zwei Klassiker: Montage der Sternzeichen-Uhr (l.), digitale Version der Weltzeituhr

steigern und ließ sich deshalb auch nicht von Meldungen beeindrucken, dass Japan in Massen Billiguhren nach Europa verkaufte. In den Verkaufserfolgen sah Kienzle auch eine Bestätigung für den wesentlich gesteigerten Werbeaufwand. Bis zum Verbot von RundfunkWerbesendungen 1936 setzte das Unternehmen auf die Breitenwirkung dieses neuen Mediums. Noch im selben Jahr begann das Haus, seine Produkte deutschlandweit in dafür umgebauten Bussen zu präsentieren. Der gesteigerte Absatz von Uhren in Kaufhäusern allerdings führte zu Konflikten mit den Fachgeschäften und musste unter deren Druck wieder zurückgefahren werden. Besonders erfolgreich vertrieb Kienzle seine Wecker, weltweit eingeführt unter der Marke «Flügelrad». Dazu rundeten Stoppuhren und Kurzzeitmesser das Sortiment ab. Und 1938 und 1939 reüssierte das Haus mit zwei Tischuhren im gehobenen Preissegment: Die Sternzeichen-Uhr und die Weltzeituhr, beide unter der Leitung des Gestaltungs-Chefs Heinrich Möller entstanden, blieben als Designklassiker für Jahrzehnte im Sortiment. Nach Jahren der Vollbeschäftigung zahlte Kienzle 1939 zum ersten Mal nach neun Jahren wieder eine Dividende. Das Vorhaben, politisch bedingten Einbußen im Exportgeschäft durch verstärkte Auslandsreisen zu begegnen, wurde durch den Ausbruch des Krieges vereitelt. Während der Kienzle-Apparatebau in Villingen von Aufträgen des Militärs profitierte, Getrieberegler für Luftfahrt-, Ketten- und Kradfahrzeuge baute und Druckmessgeräte für U-Boote entwickelte, musste sich


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Neuauflage: Werbe-Bus der 1950er-Jahre

die Uhrenproduktion in Schwenningen wieder auf die Herstellung von Zeitzündern umstellen. Bis 1942 ging der Anteil der Uhrenfertigung auf zehn, bis zum Kriegsende auf sieben Prozent zurück. Doch baute das Unternehmen seine Produktionsstätten weiter aus und zahlte trotz des staatlichen Preisdiktats bis 1944 regelmäßig Dividenden aus. Mit der Umstellung auf Rüstungsgüter wurden die Uhrenfabriken der Stadt von deren größtem Kapital zur größten Bedrohung. Am 2. Januar 1945 wurde Schwenningen bei einem Bombenangriff schwer beschädigt; die Kienzle-Werke waren kaum betroffen. Allerdings war nach Kriegsende die Fabrik in Komotau verloren, die Uhrenfabriken AG wurde zu Reparationslieferungen an die französische Besatzungsmacht verpflichtet, der Apparatebau verlor bei der Demontage die Hälfte der Maschinen. Die unmittelbare Nachkriegszeit war von erheblichem Rohstoff- wie Personalmangel gekennzeichnet. Dazu verhinderten die mangelnde Energieversorgung und nicht zuletzt die Nahrungsmittelknappheit die Wiederaufnahme einer normalen Produktion. Umso erstaunlicher war ein bald nach dem Abschluss der Demontage und dem Ende der Bewirtschaftung 1948/49 einsetzender Wiederaufstieg des Kienzle-Unternehmens wie auch anderer Uhrenproduzenten vor Ort. Dieser machte Schwenningen zur «größten Uhrenstadt der Welt» und trug Kienzle die deutsche Marktführerschaft bei Armbanduhren ein. Schon 1951 hatte das Unternehmen wieder 2163 Mitarbeiter und erlebte eine Umsatzsteigerung von 33 Prozent. Mit 50 Prozent Auslandsanteil war das Haus wieder auf dem Weg zum Vorkriegsstand.



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Basis des Erfolgs im Ausland war das Geschäft mit Weckern, im Inland wurden zahlreiche Autos mit den Einbau-Uhren aus Schwenningen ausgestattet. Auch der in Villingen ansässige Apparatebau profitierte vom Boom der Fahrzeugindustrie und fertigte seit 1952 große Mengen von Parkuhren. Die Kienzle Uhren AG unterstützte ihren Erfolg mit einem steigenden Werbeaufwand, für den der Etat bereits 1953 über eine Million DM betrug. Das Unternehmen hatte frühzeitig nicht nur die nach dem Krieg verlorenen Maschinen ersetzt, sondern schaffte zu Beginn der 1950er-Jahre wieder Busse an, die das jeweils aktuelle Sortiment auch in der Provinz präsentieren konnten. Ausgestattet mit Neonlicht, aufwendigem Belüftungssystem, Tonbandgerät, Kühlschrank und fließendem Wasser, zeigten die «rollenden Musterkoffer» Kienzles Nähe zu modernen Technologien. Die Früchte der Investitionen werden auch bei einer Umfrage zum Bekanntheitsgrad von Wortbildzeichen aus dem Jahr 1959 deutlich. 94 Prozent der Befragten nannten zum Kienzle-Logo das Stichwort «Uhr». Dazu begann man 1960 mit Fernsehwerbung. Im Ausland wurden werbewirksam Teile der hauseigenen Uhrensammlung präsentiert, die ab 1961 das Kienzle-Museum bildete. Zum unternehmerischen Konzept gehörte die intern immer wieder diskutierte, aber mit geringen Ausnahmen über lange Jahre durchgehaltene Fachhandelstreue des Hauses. Auch als erste Fachhandelsketten Filialgründungen innerhalb großer Kaufhäuser planten, verweigerte Kienzle die Belieferung, weil das Unternehmen angesichts fallender Preise im Billigsegment erkennbar auf «Klasse statt Masse» setzte. Trotz des anhaltenden Erfolgs der preiswerten, 0-steinigen Armbanduhren mit Handaufzug wurde ein zeitgemäßes, wesentlich höherwertiges Modell entwickelt: 1956 kam die «Volksautomatik» auf den Markt. Ein in beide Drehrichtungen aufziehender Rotor versorgte sie mit Energie, statt der Stahlstifte war der Anker mit Rubinstäben bestückt. Der Verkaufspreis war mit 65 DM relativ hoch – eine Armbanduhr mit dem Erfolgswerk 051 kostete nur 16 DM –, betrug aber nur etwa die Hälfte dessen, was die Konkurrenz für eine Uhr mit der modernen Aufzugstechnik verlangte. 1962 stellte das Haus ein Handaufzugschronometer vor, eine Armbanduhr mit besonders großer, zertifizierter Ganggenauigkeit. Die Rohwerke für diese Präzisionsinstrumente kaufte Kienzle in der Schweiz. 1966 stammte jede vierte in Deutschland verkaufte Armbanduhr von Kienzle, Marktführer blieb das Unternehmen bis mindestens 1972. Kienzle-Wecker: auch in den 70ern Basis des Erfolgs


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2. Geschichte

Zeitgeistig: Design der 80er-Jahre


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Zu Beginn der 1960er-Jahre profilierte sich Kienzle auch mit elektronischen Produkten. Die batteriebetriebenen Wecker verkauften sich im Ausland hervorragend, für Furore sorgte 1963 die erste Solaruhr. 1970 erwarb das Unternehmen einen deutschen Produzenten von digitalen, wechselstromgetriebenen Uhren. Seit 1972 durften die deutschen Hersteller ihre Novitäten auf der Basler Fachmesse vorstellen. Dort präsentierte Kienzle 1978 ein vollelektronisches Uhrenschlagwerk mit digitalisiertem Klang und ein Jahr darauf den ersten quarzbetriebenen Reisewecker. Ab 1982 produzierte das Unternehmen seine Quarzwerke auf einer neuen Montagestraße. Kienzle schien für die Zukunft der Uhrmacherei an seinem Traditionsstandort gerüstet. Den anhaltend rasanten Preisverfall, vor allem einfacher Uhren, hatte Kienzle bereits in den frühen 1950er-Jahren erkannt und setzte ohne nachhaltigen Erfolg seine Politik der Preisabsprachen mit anderen deutschen Herstellern fort. Zunehmend nämlich drängten Billigimporte aus China und den Ländern des Ostblocks auf den Markt. Trotz oder wegen dieser Bedrohung konnten sich die großen Hersteller nicht zu effektiven Kooperationen durchringen, sondern verharrten in der Konkurrenz. So plante Kienzle, um weiter Verhandlungen über ausreichende Mengen höherwertiger Armbanduhren anbieten zu können, neben den zugekauften Schweizer Werken auch in größerer Stückzahl Seiko-Produkte zu verbauen. Die Japaner allerdings fürchteten, damit Kienzle in einem Segment zu unterstützen, das sie selbst besetzen wollten. Mit erheblichem Aufwand wurde in Schwenningen noch 1979 ein eigenes mechanisches Armbanduhrenwerk entwickelt, das sich aber auf dem inzwischen weitgehend von der Elektronik beherrschten Markt nicht mehr etablieren konnte und bereits nach zwei Jahren aufgegeben wurde. In dem bis etwa 1970 anhaltenden Auftrags-Boom und dem gleichzeitigen Fachkräftemangel, dem Kienzle mit der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften und der verstärkten Lehrlingsausbildung kaum ausreichend begegnen konnte, setzten die Gewerkschaften erhebliche Einkommenssteigerungen durch, die Investitionen in neue Technologien waren beträchtlich und standen immer geringeren Erlösen gegenüber. Der Rückgang des Autouhrengeschäfts zu Beginn der 1970er-Jahre trug erheblich zur Krise bei, die erst um 1978 überwunden schien. Nach mehr oder weniger glücklichen Versuchen mit Diversifikationsprodukten war die Mitarbeiterzahl von ihrem Nachkriegs-Höchststand 1969 (3000 Mitarbeiter) im Jahre 1980 auf knapp 1000 gesunken.


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Zwei Erfolgsrezepte: Manche Schwenninger Familie arbeitete über Generationen bei Kienzle. Das Unternehmen blieb lange Jahre dem Fachhandel treu.

Bereits Mitte der 1960er-Jahre hatten die Kreidler-Werke den Mehrheitsbesitz an Kienzle erlangt. Die Eigentümerfamilie führte das Unternehmen durch die Jahre der «Quarz-Krise»: Die traditionelle europäische Uhrenindustrie hatte den importierten Massen immer preiswerterer elektronischer Uhrwerke nichts entgegenzusetzen. Auch in Kienzles Nachbarschaft gaben zahlreiche Uhrenhersteller und Zulieferbetriebe auf. Kienzle hingegen weihte noch 1987 in Schwenningen einen umfangreichen Fabrikneubau ein, dessen hochmoderne Ausstattung die Erwartungen aber nicht erfüllen konnte. Zwei Jahre später wurde Kienzle von der DUFA, einer Dachgesellschaft für mehrere kleinere Hersteller, übernommen und umstrukturiert. Der Uhrenbereich ging 1997 an eine Hongkonger Firmengruppe, die Produktion von Großuhren und Weckern wurde nach China verlagert. 2006 übernahm das Unternehmen die weltweiten Markenrechte und begann die strategische Neuausrichtung.



Foto: Uhrenmuseum Furtwangen

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3. Marke Diversifizierung des Produktportfolios und Mehrgleisigkeit in der Markenführung wechselten sich bei Kienzle ab mit einer Strategie der Fokussierung auf eine zentrale Marke. Gleichzeitig sollte der Markenaufbau sowohl über unterschiedliche Distributionskanäle erfolgen, als auch den Anforderungen einer besonderen Fachhan­ delstreue genügen. Das wurde zum unauflösbaren Widerspruch, den keine Markenführungsstrategie auflösen kann. Die historische Entwicklung des Markenaufbaus von Kienzle ist nicht nur eine äußerst spannende Angelegenheit. Sie kann auch als idealtypische Auseinandersetzung zweier Strategeme verstanden werden. 3.1 Die Tradition der Marke Nur ein Jahr nachdem die Uhrenfabrik Johannes Schlenker ihren Namen in «Schlenker & Kienzle» geändert hatte, stellte der damalige Werkführer Johannes Rösch fest, dass «der neue Name sich als Handels-Marque» durchgesetzt und bei den Kunden einen guten Klang habe. Jakob Kienzle und Carl Johannes Schlenker galten formal zwar als gleichberechtigte Partner im Hause Schlenker & Kienzle. Carl Johannes Schlenker legte aber großen Wert auf die Namensreihung. Schlenker & Kienzle sei eben nicht Kienzle & Schlenker, pflegte er zu sagen, wenn er darauf angesprochen wurde, dass Jakob Kienzle der Ansprechpartner vieler Uhrenhändler sei und auch sehr viel mehr reise als er. Durchaus war die Rede von den guten Uhren, die Jakob Kienzle im Angebot habe. Jakob Kienzle pflegte diesen Umstand herunterzuspielen, und das aus gutem Grund. Er war am 18. April 1883 in die Uhrenfabrik von Johannes Schlenker eingetreten, die im Jahr 1822 als kleine Uhrenwerkstatt in Schwenningen am Neckar gegründet worden war. Das Verhältnis der beiden Partner war offensichtlich zwiespältig. Jakob Kienzle tat nach Berichten verschiedener Zeitzeugen offensichtlich alles, um die Uhrenfabrik Schlenker & Kienzle zum Erfolg zu führen, wollte aber seinen eher zurückhaltenden Schwager mit seinen unternehme­ rischen Ideen nicht vor den Kopf stoßen. Jakob Kienzle war sich durchaus des Umstandes bewusst, dass er durch seine Verbindung mit Agathe


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3.1 Die Tradition der Marke

Schlenker in die Uhrenmanufaktur mehr oder weniger eingeheiratet hatte. Das machte so manche geschäftliche und unternehmerische Entscheidung kompliziert. Gleichwohl hielt er sich in der Außendarstellung nicht zurück, reiste in die Schweiz und nach Italien und sorgte für erhebliche Umsatzsteigerungen bei Schlenker & Kienzle. Auch der Kauf des Fabrikgeländes in der Schwenninger Bahnhofstraße ist von Jakob Kienzle betrieben worden. Sein Schwager Carl Johannes Schlenker wollte sich dem nicht in den Weg stellen. So galt die Uhrenfabrik am Schwenninger Bahnhof schon recht bald als Kienzles Uhrenfabrik, obwohl der Firmenname auch nach dem Ausscheiden von Carl Johannes Schlenker im Jahr 1897 unverändert blieb. Spätestens nach Erweiterung des Produktportfolios um Taschenuhren ab dem Jahr 1905 war in Schwenningen von den Kienzle-Taschenuhren die Rede. Doch erst im Jahre 1919 firmierte Schlenker & Kienzle, die Jakob Kienzle als Alleininhaber führte, in die Kienzle Uhrenfabriken KG um. Die Marke Kienzle hat sich also deutlich früher herausgebildet und war bereits am Markt gut eingeführt, als die Uhrenfabrik noch gar nicht so firmierte. Sehr gut lässt sich hier die Entwicklung zu einer Marke verfolgen, die eindeutig über die Person des Unternehmers lief. Viele der Eigenschaften, die Jakob Kienzle zugeschrieben wurden, sind auch mit den Kienzle-Uhren verbunden. Anhand der Kienzle-Strapazier-Taschenuhr, lässt sich das gut verfolgen. Im Jahre 1905 kommt die Strapazier-Taschenuhr auf den Markt. Beworben wird sie ausschließlich als Strapazier-Taschenuhr. Am Markt ist sie bekannt als die StrapazierTaschenuhr vom Kienzle. Und weil sie von Kienzle war, war sie solide hergestellt und taugte in den Augen der Käufer etwas. Die Uhrenfabrik Schlenker & Kienzle bewarb ausschließlich einzelne Produktlinien. So etwas wie eine Dachmarkenstrategie kann erst in den wilden 1920er-Jahren ausgemacht werden. Bis dahin werden stets die Vorteile der Strapazier-Taschenuhren oder im Falle der Standuhren der Westminster-Uhr hervorgehoben. Offensichtlich ist der Markenname «Kienzle» innerhalb des Unternehmens zum ersten Mal im Zusammenhang mit Reiseweckern verwendet worden. Bis dahin führte jedes Produkt ein sehr eigenes Markenleben, insoweit hier von Marken überhaupt gesprochen werden kann. Allerdings setzte sich auch schon bei den Kunden die Redensart von den «Uhren vom Kienzle» durch, und zwar sowohl bei den Uhrenhändlern als auch bei den Endkunden. Erste Schritte hin zu einer bewussten Markenpolitik des Unterneh-


3.1 Die Tradition der Marke

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mens sind ab dem Jahr 1911 nachweisbar. So gründet Erich Kienzle, Sohn von Jakob Kienzle, am Park Place das Unternehmen «Kienzle Clock», nachdem die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Vertriebspartner Schissgall zuvor beendet worden war. Erstmalig nachweisbar ist auch für das Jahr 1911 die werbliche Erwähnung von «Kienzle-Patenten» im Uhrmacherwesen. So wirbt Schlenker & Kienzle im Deutschen Uhrmacherkalender von 1911 mit «amerikanischen und massiven Regulateurwerken (Patent Kienzle)». Ansonsten aber werden in dieser Zeit die Marke «Flügelrad» für Wecker und Fantasieuhren und die ESKA-Taschenuhr als geschützte Marke beworben. Als die Schlenker & Kienzle Uhrenfabrik in Schwenningen zum 1. Januar 1919 in die Kienzle Uhrenfabriken KG und die Niederlassung in Komotau in Jakob Kienzle Uhrenfabrik umbenannt werden, wird die bisherige Werbelinie für die Uhren der Marke weitgehend beibehalten. Allerdings erhalten die Werbemittel und Drucksachen den zusätzlichen Aufdruck «Kienzle Uhren», der seitdem systematisch gepflegt wird. Insoweit ist wohl der Rückschluss zulässig, dass sich in dieser Zeit die Verantwortlichen im Unternehmen dazu entschlossen haben mussten, alle Großuhren, Wecker, Taschenuhren, Messuhren, Armbanduhren und Fantasieuhren unter der Dachmarke Kienzle auf den Markt zu bringen. Konsequent angewendet wird diese Strategie offensichtlich bis zum Jahr 1925. Mit der Markteinführung der Tam-Tam-Weckerfamilie werden die Marke und die Tam-Tam-Wecker wieder intensiv beworben. Auch in Korrespondenz mit Uhrenfachgeschäften ist von diesen «Marken» die Rede. Daneben aber wird in der «Deutschen Uhrmacherwoche» nach wie vor für «Kienzle-Wecker» geworben. Vermutlich geht diese Mehrgleisigkeit in der Markenführung auf unterschiedliche strategische Ansätze zurück, die sich seit 1922 firmenintern herausgebildet hatten und eifrig diskutiert wurden. Nach der Umwandlung der Kienzle Uhrenfabriken in eine Aktiengesellschaft tritt Christian Kienzle sehr stark für eine einheitliche Markenführung der «Kienzle-Uhren» ein, während sich sein Bruder Herbert gerade bei der Tam-Tam-Weckerfamilie einen größeren Werbeeffekt von den «drei Brüdern Tam Tam» verspricht. Die Tam-Tam-Linie bestand nämlich aus drei unterschiedlichen Weckerfamilien. Immerhin werden aber die Niederlassungen des Unternehmens einheitlich als «Kienzle-Niederlassungen» geführt. Dies war allerdings noch auf Erich Kienzle zurückzuführen, der 1911 auch bereits die Kienzle Clock


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3.1 Die Tradition der Marke

in New York gegründet hatte und alle Produkte und Aktivitäten der Uhrenfabrik unter dem Namen «Kienzle» zusammenführen wollte. So hat er nach dem Ersten Weltkrieg «Kienzle Berlin» als zentrale Verkaufsstelle aufgebaut, von der die Uhrmacher in ganz Deutschland direkt beliefert wurden. Diese Direktlieferungen an die Uhrmacher liefen sämtlich unter dem Markennamen Kienzle. Besonders verbunden sei mit der Marke Kienzle die Fachhandels­ treue, berichtete Erich Kienzle noch Anfang 1920. Auch die spanische Niederlassung wird unter dem Namen Kienzle geführt. Das war Teil der erklärten Markenpolitik von Erich Kienzle, der allerdings am 17. April 1920 stirbt. Nach seinem Tod werden die Namen der Niederlassungen zwar beibehalten, doch neue Produktreihen können wieder mit eigenen Markennamen auf den Markt gebracht werden, weil sich nach Erich Kienzles Tod für einige Jahre offensichtlich niemand um die Markenpolitik im Hause kümmert. Das ändert sich erst wieder, als im Jahre 1929 die ersten elektrischen Schlagwerksuhren auf den Markt gebracht werden. Hier entscheidet sich die Geschäftsführung, die Marke «Kienzle Electric» aufzubauen und dementsprechend die Produktlinien Westminster-Uhren, Celesta-Uhren und BimBam-Uhren nicht mehr unter jeweils eigenem Namen zu vermarkten. Die Entscheidung, diese Produktlinien ausschließlich unter dem Namen «Kienzle Electric» zu vermarkten, bleibt allerdings unternehmensintern umstritten und führt letztlich dazu, dass die Marke eigenständig bleibt und nicht dem Markenauftritt der Kienzle-Uhren untergeordnet wird. Mit großer Leidenschaft vertritt Prokurist Martin Käfer in dieser Zeit eine Strategie der Dachmarke. Er weist nach, dass Konkurrent Junghans vor allen Dingen aufgrund des besser eingeführten Markennamens auf Platz 1 der Uhrenfabriken in Deutschland steht. Kienzle besetzt zwar einen guten zweiten Platz, liegt aber beim Umsatz um sieben Millionen Reichsmark hinter Junghans. Käfer argumentiert, Junghans sei nur zu schlagen, wenn konsequent in die einheitliche Marke Kienzle investiert werde. Diese Argumente finden im Vorstand erst Gehör, als Erich Kienzle im Jahre 1931 aus dem Vorstand ausscheidet und die Leitung der Kienzle Taxameter und Apparate AG in Villingen übernimmt. Der neue Vorstandsvorsitzende Hans Schmoller will die Marke Kienzle konsequent ausbauen und lässt den bisherigen Verkaufsschlager «Strapazieruhr» nur noch als «Kienzle-Strapazieruhr» vermarkten. Kritiker bemerken später, dies sei keine sonderlich riskante Operation


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gewesen, weil die Strapazieruhr seit ihrer Markteinführung im Jahre 1905 bei den Kunden ohnehin als «Strapazieruhr von Kienzle» gegolten habe. Immerhin gelingt es Schmoller mit dieser Aktion, einheitliche Werbeauftritte durchzusetzen, die alle die Marke «Kienzle-Uhren» bekannt machen. Zeitgleich wird darüber diskutiert, ob unter diesem Markennamen auch Frankiermaschinen und Grammophone produziert werden sollen. Der Aufsichtsrat entscheidet sich mehrmals gegen eine solche Diversifizierung. Neben ungenügenden Absatzmärkten für die Diversifikationsprodukte wird in erster Linie damit argumentiert, dass man den Markennamen «Kienzle-Uhren» nicht durch eine Ausweitung auf andere Produktlinien in der Akzeptanz gefährden wolle. Der Kunde sei dann womöglich verunsichert, für welche Produkte Kienzle stünde. Kienzle müsse für Qualitätsuhren stehen, argumentiert Vorstandsvorsitzender Schmoller. Tatsächlich wirkt sich die einheitliche Markenstrategie Schmollers aus: Umsatz und Gewinn steigen. Und so gibt es keinerlei Widerstand, als die im Jahre 1939 gefertigte Weltzeituhr unter dem Namen «Kienzle-Weltzeituhr» an den Markt geht. Der Kienzle-Uhrenbus, der durch Deutschland fährt und Kienzle-Uhren auch in ganz kleinen Dörfern bekannt macht, stärkt die Marke. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzen die Vorstände Hellmut Kienzle und Willy Haller konsequent auf den Markenausbau von «Kienzle-Uhren». Noch vor seinem altersbedingten Ausscheiden weist der inzwischen zum Direktor aufgestiegene Prokurist Martin Käfer in einer Vorstandssitzung im Jahre 1950 darauf hin, dass es in Zeiten billiger Stapelware, die zweifelsohne vor der deutschen Uhrenindustrie liegen würden, immer stärker auf einen guten Markennamen ankomme. Käfer kämpfte sehr stark dafür, die «Marke Kienzle als Qualitätsmarke» zu führen. Hellmut Kienzle nimmt diese Argumente auf und schafft im Jahr 1952 sogar den dritten Kienzle-Uhren-Reisebus an. Die rollende KienzleUhrenausstellung mit ihren immerhin 1000 Modellen soll nicht nur die Uhrenhändler und Uhrmacher in ganz Deutschland besuchen, sondern vor allen Dingen den Markennamen Kienzle bei den Endverbrauchern penetrieren. Die Strategie geht auf. Der hauseigenen Werbeabteilung wird vorgegeben, dass sie Kommunikation für einen Markenartikel zu leisten habe. Konsequente Qualitätsziele bestimmen dabei die Konzepte. Kienzle soll die Qualität der Uhrenmodelle als USP aufbauen. «Ein Fingerzeig beim Uhrenkauf: Steht Kienzle drauf?» wurde zum Werbespruch des Jahres 1953/54.


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Foto: Uhrenmuseum Furtwangen

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Der Vorstand schreibt fest, dass ausschließlich der Fachhandel beliefert wird. Denn die mit der Marke verbundenen Qualitätsziele können nur erreicht werden, wenn Fachpersonal den entsprechend kompetenten Service leistet. Der spätere Vorstandsvorsitzende Alfred Reif stellt rückblickend für die erste Hälfte der 1950er-Jahre fest, dass die Fachhandelstreue und Qualitätsziele die wesentlichen Elemente der Markenstrategie waren. Der Werbeetat beträgt im Jahre 1953 eine Million Deutsche Mark. Die Werbestrategie wird verlagert, und zwar Alfred Reif zufolge «zugunsten der Grossisten und des Publikums zur Vertiefung des Marken-Gedankens und zur Stärkung des Gegengewichtes zu den Handelsmarken und Organisationen». Kienzle positioniert sich also eindeutig als Uhrenmarke gegen den Marktführer Junghans. Hohe Qualität, gutes Design und die Robustheit der Uhren werden mit der Marke Kienzle von den Endverbrauchern verbunden. Als der Versandhandel Ende der 1950er-Jahre sich immer stärker als Absatzkanal für Uhren etabliert, wird auch bei Kienzle heftig über den Aufbau neuer Vertriebswege diskutiert. Doch mit der Marke sei die Fachhandelstreue verbunden, weist Werbeleiter Paul Schindler immer wieder darauf hin. Kienzle bleibt fachhandelstreu, sorgt aber für eine stärkere Penetration des Kienzle-Schriftzuges beim Fachhändler. Dahinter steht die Überlegung, dass die von Experten, nämlich dem Uhrmacher, empfohlene Uhr eine Kienzle-Uhr ist. Der Marktanteil erhöht sich innerhalb von vier Jahren von 6,5 auf 7 Prozent. Markenaufbau sei eine ausgesprochen langwierige Angelegenheit, werden im Kienzle-Vorstand erste Klagen laut. Da Konkurrenten, beispielsweise der Reiseweckerhersteller Rittinghaus, allein über den Preis Marktanteile erobern wollen, steht die Markenstrategie immer wieder in der Kritik. Hellmut Kienzle hält aber an den Qualitätszielen innerhalb der Markenstrategie fest und macht auf dem Uhrmachertag im Jahre 1957 in Dortmund noch einmal deutlich, dass die Fachhandelstreue das Kernelement der Markenstrategie von Kienzle sei und bleibe. Er kann dabei auf durchaus beachtliche Erfolge verweisen. Immerhin gehen pro Jahr 3,1 Millionen Kienzle-Uhren über die Ladentische der Fachhändler. Der Marktanteil steigt weiterhin. Der sich erst Jahre später auswirkende Sündenfall passiert im Jahre 1958. Aufsichtsratsmitglied Wilhelm Schick und die Vorstände Willy Haller und Georg Ehnes setzen eine eigene Uhrenkollektion für die


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Handels­marken Zentra und Dugena durch. Kienzle müsse sich in diesem Bereich gegen Diehl und Junghans behaupten, lautet das Argument. Hellmut Kienzle setzt dagegen auf Produktivitätsverbesserungen und eine Sortimentsbereinigung, nach deren Durchführung nur noch fünf Schwerpunkte das Portfolio bilden sollen, nämlich Armbanduhren, Großwecker, Reisewecker, Autouhren und Batterieuhren. Willy Haller dagegen erhofft sich von einer verstärkten Zusammenarbeit mit Warenhäusern eine erhebliche Beschleunigung des Warenumlaufs. Ende der 1950er-Jahre beziehungsweise Anfang der 1960er-Jahre werden, einer Statistik des Zentralverbandes der Uhrmacher zufolge, 75 Prozent der Uhren über den Fachhandel verkauft. Fünf Prozent gelangen­ über die Warenhäuser an den Endkunden, elf Prozent über den Versandhandel. Im Jahre 1961 wird in Vorstand und Aufsichtsrat sogar länger über den Kienzle-Schriftzug diskutiert. Es besteht keineswegs mehr Einmütigkeit darüber, dass die Marke Kienzle den Kienzle-Schriftzug unbedingt braucht. Schließlich einigt man sich darauf, den Handschriftzug von Jakob Kienzle in eine «moderne Blockschrift» zu ändern, den Schriftzug aber bis auf Weiteres beizubehalten. Die Kollektionen für Zentra und Dugena sind der Anfang einer Diversifizierung, die der klaren Fokussierung der Marke «Kienzle-Uhren» Schaden zufügt. «An den Rändern wurden die Marken-Konturen unscharf», meint viele Jahre später ein Kienzle-Mitarbeiter. Und der spätere Kienzle-Geschäftsführer Alfred Reif stellt für das Jahr 1964 fest: «Im Inland machen sich die großen Handelsmarken-Unternehmen immer stärker und unangenehmer bemerkbar, vor allem Zentra, Ankra und Dugena.» Das ist zweifelsohne eine Folge des Marken-Doppelbeschlusses aus dem Jahre 1958 und der damit verfolgten Diversifizierung. Der Aufsichtsratsvorsitzende Alfred Kreidler setzt aber stark auf Produktdiversifizierung, eine erhebliche Fertigungstiefe im eigenen Haus und den Aufbau des Distributionskanals Warenhaus. Insbesondere als Timex im Jahre 1966 mit großer Aggressivität den deutschen Markt in Angriff nimmt, lässt Kreidler es auf Konflikte mit dem Uhrenfachhandel ankommen. Die Warenhäuser werden mit sogenannten Domestikuhren beliefert. Alfred Reif notiert dazu: «Der Entrüstungssturm der Fachhändler ist programmiert und läst nicht auf sich warten.» Als daraufhin auch noch Qualitätsprobleme bei den Damen-Armbanduhren verstärkt auftreten, leidet das Markenimage enorm. Kienzle muss gegensteuern, intensiviert die Fachhandelswerbung ohne nennenswerten Erfolg und bildet Sortiments-


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gruppen unter der Dachmarke Kienzle. «Kienzle Boutique» wird als modische Linie für junge Kunden kommuniziert, während in der Sortimentsgruppe «Kienzle Alfa» die preiswerten Modelle zusammengefasst werden. Es gelingt nur unzureichend, die als modisch-elegante Sortimentsgruppen entwickelten «Kienzle life» und «Kienzle design» davon abzusetzen. Auch die Einordnung von «Kienzle International» fällt den Fachhändlern und Verbrauchern schwer. Lediglich «Kienzle Sport» und «Kienzle antique» erreichen eine klare Zielgruppenkommunikation. Hinzu kommen interne Probleme, die Alfred Reif zu der Schlussfolgerung veranlassen: «Leider gehen Pünktlichkeit in der Belieferung der Abnehmer, Qualität und Preise ungenügend mit den Werbeaussagen einher.» Das ist ein deutliches Indiz, dass die Markenkommunikation in den jeweiligen Sortimentsgruppen durch eine konsequente Markenführung gedeckt war. Insbesondere Produktentwicklung und Produktion führten ein gewisses Eigenleben bei Kienzle. Markenführungskonzepte wurden daher intern nicht umgesetzt. Markenpolitik wird in den 1970er-Jahren auf Markenkommunikation durch Werbung reduziert. Das wirkt sich verhängnisvoll aus, als Operationsskalpelle und Außenspiegelsteuerungen in die Marke Kienzle integriert werden sollen. Zum einen bleibt die Produktentwicklung teilweise stecken, zum anderen nehmen die durch die große Fertigungstiefe im eigenen Haus verursachten Probleme zu. Schließlich misslingt der Markentransfer von einer Produktgruppe auf die andere. Das hat letztlich auch mit Qualitätsproblemen zu tun. Hinzu kommt, dass die Fokussierung der Marke nicht mehr gelingt. Die Marke wird unscharf und damit verwechselbar. Beim Verkauf der Kienzle Uhrenfabriken GmbH im Jahre 1989 spielt denn auch der Markenname keine wesentliche Rolle mehr. Das Unternehmen wird umbenannt in DUFA Deutsche Uhrenfabrik GmbH & Co. KG. Bei der Diversifizierung der Dufa im Jahre 1995 entsteht die Kienzle Uhrenfabriken GmbH neben den vier anderen Dufa-Gesellschaften. Es gelingt zum Erstaunen mancher Branchenexperten zwar sehr rasch, den Markennamen Kienzle, der im Bewusstsein der Verbraucher erstaunlich gut verankert ist, wieder einzuführen. Doch nur ein Jahr später muss auch die Kienzle Uhrenfabrik GmbH wie alle Dufa-Tochtergesellschaften Konkurs anmelden. Der Markenname Kienzle wird von der in Hongkong ansässigen Highway Holdings Ltd. zunächst gepachtet, dann gekauft.



3.2 Ein Neubeginn

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3.2 Ein Neubeginn Nachdem Highway Holdings Kienzle 1997 übernommen hatte, wurde es um die Uhrenmarke Kienzle recht still in Europa. Die Produktion wurde nach Südchina verlegt, der Vertrieb über Hongkong abgewickelt. Im Jahr 2002 kehrte Kienzle mit der Gründung der Kienzle AG in Hamburg teilweise wieder nach Deutschland und mithin nach Europa zurück, konnte aber als Marke zunächst nur sehr schwer Fuß fassen. Das änderte sich, nachdem im Jahre 2007 die Besitzverhältnisse neu geordnet wurden und ein neues Management antrat. Seit Ende 2007 wirkt sich die von Marco Hahn und Stephan W. KruseThamer entwickelte Markenstrategie aus. Erste Ergebnisse dieses Ansatzes waren auf der Münchner Schmuck- und Uhrenmesse Inhorgenta 2008 bereits deutlich festzustellen. «Kienzle ist wieder da», berichtete das Fachmagazin «Goldschmiede Zeitung» in seiner Online-Ausgabe von der Messe. Mit dem Motto «Kienzle – Zeit hat einen Namen» trat Kienzle mit einem klassischen Dachmarkenmarketing an. Das Produktmarketing wurde ganz bewusst an zweiter Stelle aufgebaut und soll von Image-Transfers der Dachmarke profitieren. Dabei nehmen die Markenverantwortlichen Bezug auf einen recht nachhaltigen Trend des «Made in Germany» und präsentieren Kienzle als Marke aus Deutschland. Das bietet zwei Vorteile. Kienzle wollte sich in den 1960er- und 1970er-Jahren sehr stark als europäische Marke etablieren. Das ist damals über zahlreiche Tochtergesellschaften in vielen westeuropäischen Staaten nur in Ansätzen gelungen. Bei der Präsentation als Marke aus Deutschland – wohlgemerkt: Kienzle präsentiert sich nicht als deutsche Marke – wird dem früheren europäischen Markenansatz nicht widersprochen. Er könnte, was bisher allerdings nicht geschehen ist, sogar aufgegriffen und mühelos integriert werden. Denn die Marke aus Deutschland kann natürlich eine Marke für Europa – und mehr – sein. In der Markenkommunikation wird die Trias von Qualität, Tradition und Innovation sehr deutlich herausgearbeitet. Mit der Penetration der Jahreszahl 1822 wird auf den Beginn der Uhrenherstellung durch Johannes Schlenker, also auf die Tradition Bezug genommen. Und mit der Penetration des Gründernamens Jakob Kienzle wird der Qualitäts­

Das Kienzle-Haus in Hamburg ist für die Präsentation der Marke von zentraler Bedeutung.


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aspekt abgedeckt, weil dieser Uhrenfabrikant aus dem Schwarzwald für ein hohes Qualitätsbewusstsein steht. Der Innovationsaspekt wird durch ein modernes Design betont und soll durch die Markteinführung weiterer Produktgruppen verstärkt werden. Dabei ist eine Diversifikation geplant, die sich von den üblichen Strategien deutlich unterscheidet. Der Markenname Kienzle ist durch die erfolglose und teilweise nicht sehr planvoll wirkende Produktdiversifikation in der Ära Kreidler ein wenig belastet. Davon muss sich die aktuelle Marken- und Produktstrategie natürlich absetzen. Dies geschieht durch den völligen Verzicht auf einen Ausbau der Fertigungstiefe und einen weitgehenden Verzicht auf Entwicklungen im eigenen Hause. «Der Produktstimulus muss aus dem Hause Kienzle kommen», lautet einer der wesentlichen Leitsätze der gegenwärtigen Markenführung bei Kienzle, die Umsetzung muss mit Partnern erfolgen. Auch die Produktion wird von Partnern besorgt, sodass der Aufbau einer eigenen Fertigung im Hause nicht vonnöten sein wird. Das Qualitätsmanagement allerdings bleibt im Hause und wird direkt mit der Verantwortlichkeit für die Markenführung verknüpft. «Kienzle Optik» ist das erste Erweiterungssegment, das auf den Markt gebracht wird. Nach dem bisherigen Planungsstand sollen noch vier weitere folgen. Mit diesen Erweiterungssegmenten und Produktgruppen soll die Marke Kienzle zu einer mittelständischen Lifestyle-Marke ausgebaut werden. Uhren werden der Kernbereich der Marke bleiben. Die Erweiterungssegmente werden jeweils über den Lifestyle-Aspekt angedockt. Dabei kann das Markenimage recht komfortabel übertragen werden. Image-Transfers sind von jeder Produktgruppe auf alle anderen möglich. So können mit derselben Markenbotschaft recht unterschiedliche Zielgruppen angesprochen werden, ohne dass es zu Widersprüchen oder Irritationen kommt. Die Marke Kienzle erreicht gegenwärtig bei den über 30-Jährigen einen sehr hohen Bekanntheitsgrad. Davon gehen die Markenverantwortlichen aus und entwickeln zunächst mit den Produktgruppen «Kienzle Optik» und «Kienzle Med» (Medizintechnik) Nutzwertprodukte für diese Zielgruppe, die aber sehr stark über den Lifestyle-Aspekt kommuniziert werden. Auch bei alltäglichen Gebrauchsgegenständen mit direktem Nutzwert wie einer Brille oder einem Blutdruckmessgerät kann dieser Aspekt über ein Design verstärkt werden, das den Lebensstil dieser Zielgruppe ausdrückt und ihm entspricht.


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Dabei ist das Preis-Leistungs-Verhältnis ein zentraler Punkt. Leistung wird dabei nicht nur über den direkten Gebrauchswert und eine hohe Qualität des Produktes definiert, sondern über den Nutzen, der sich aus der mit dem Produkt möglichen Selbstpräsentation ergibt, beziehungsweise mit dem Nutzen, der sich ergibt, dass ein ganz bestimmtes Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht werden kann. Kienzle soll als Marke den «kleinen Luxus» verkörpern. Das ist ein sehr alltagszugewandter Wert, der aber mit der Mittelschicht auf eine sehr breite Zielgruppe ausgerichtet ist. Dieser Markenwert kann nur etabliert werden, wenn er durch Sekundärwerte unterfüttert wird. Das sind Attribute wie beispielsweise «technisch solide», «von hoher Verarbeitungsqualität» und «erschwinglich». Diese Attribute müssen in der Markenführung mit der Möglichkeit zur Differenzierung und Selbstpräsentation verknüpft werden.


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4. Personen Menschen prägen Marken und Unternehmen. Im Falle Kienzles hat neben dem Gründer der Uhren-Manufaktur, Johannes Schlenker, vor allen Dingen sein Schwiegersohn Jakob Kienzle das Unter­ nehmen geprägt wie kein anderer. Als sich seine Nachfolger von der Wertewelt Jakob Kienzles stückweise verabschiedeten, war der Niedergang des Unternehmens vorprogrammiert. Heute lebt die Marke Kienzle mit den Personen, die sie gestalten, wieder in einer zeitgemäßen Wertewelt, die erstaunliche Parallelen mit derjenigen von Jakob Kienzle aufweist. So darf man urteilen: Werte lassen Unternehmen erst erfolgreich werden.

Ursprünglich im Bestand des Kienzle-Uhrenmuseums hat die Bronze-Büste Jakob Kienzles ab Mitte der 1980er-Jahre einen regelrechten Irrweg zurückgelegt, bis sie ihren Platz im Uhrenmuseum Furtwangen fand.


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4.1 Johannes Schlenker, Jakob Kienzle: die Gründer und ihre Nachfolger 1883 war für Kienzle-Uhren ein ganz entscheidendes Jahr. Denn am 3. Juli dieses Jahres heiratete Jakob Kienzle seine Verlobte Agathe Schlenker. Bereits im Frühjahr war der Verlobte von Agathe in die Uhrenmanufaktur seines Schwiegervaters, Christian Schlenker, eingetreten. Am 18. April übergibt Christian Schlenker die Uhrenfabrik seinem Sohn Carl Johannes­ und seinem späteren Schwiegersohn Jakob Kienzle. Mit Kienzle Uhren geht es spürbar bergauf. In Schlenker & Kienzle wurde der Uhrenbetrieb umbenannt, den Johannes Schlenker, der Großvater von Jakob Kienzles Frau Agathe, bereits im Jahre 1822 in Schwenningen gegründet hat. Johannes Schlenker hat zunächst elf Jahre lang im Leibregiment König Friedrichs Dienst getan, hat an den napoleonischen Feldzügen und später an den Befreiungskriegen teilgenommen. Als Unteroffizier mit einem stattlichen Handgeld entlassen, wendet sich Johannes Schlenker zunächst der Landwirtschaft zu und lernt neben dieser Tätigkeit alles über die Fertigung von Holzuhren mit Schnur-Gewichtsaufzug. Als typischer «Hüslifabrikant», wie die Schwarzwälder ihre Uhrmacher im Nebenerwerb spöttisch nennen, steht er in aller Herrgottsfrühe um 5.00 Uhr auf, kümmert sich um das Vieh und sitzt von 7.00 Uhr bis 9.00 Uhr an der Werkbank. Danach ist Feldarbeit angesagt, die durch das Mittagessen pünktlich um 12.00 Uhr unterbrochen und bis mindestens 15.00 Uhr fortgesetzt wird. Nach der Nachmittagsspeisung, zu der Käse, Milch und Brot gereicht werden, geht es wieder an die Werkbank. Nur in den Erntemonaten dauert die Feldarbeit bis in den Abend hinein. Schon seit dem Jahre 1820 trug Johannes Schlenker sich mit der Absicht, eine eigene Uhrmacher-Werkstatt mit Verkauf zu gründen. Viele Louisdor sparte er, um im Frühjahr des Jahres 1822 im Außendorf 171 zu Schwenningen am Neckar endlich eine Werkstatt eröffnen zu können. Nun wurde die Landwirtschaft zum Nebenerwerb. Rasch erkennt Johannes Schlenker, welche Chancen die über Urach aus England eingeführten feinen Stahlwerkzeuge für die Uhrenfertigung darstellen. Er spindelt nun auch Rad und Rieb der Uhren in Messing. Schon nach kurzer Zeit entwickelt sich daraus neben den Holzuhren die zweite Produktlinie Schlenkers. Nur wenige Jahre später können die beiden älteren Schlenker-Söhne


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Erhard und Johannes die erste Niederlassung in Prag gründen. Von dort tragen die sogenannten «Hausierer» die Uhren auf «Krätze» genannten Tragstühlen in die Dörfer und bieten sie durchaus erfolgreich zum Verkauf an. Schlenker-Sohn Christian kümmert sich derweil recht erfolgreich um den Ausbau der Werkstatt in Schwenningen. Daraus wird später eine florierende Uhrenmanufaktur. Besonderen Aufschwung nehmen die Geschäfte, nachdem der 24-jährige Jakob Kienzle gemeinsam mit seinem späteren Schwager Carl Johannes Schlenker die Geschäfte am 18. April 1883 übernommen hat. Kienzle beherrscht beide Seiten des Uhrengeschäfts, die Technik wie den Verkauf. Am 12. April 1859 wird Jakob Kienzle als Sohn eines Getreidehändlers in Schwenningen geboren. Allerdings hat er seinen Vater nie kennengelernt. Denn Getreidehändler Kienzle starb drei Monate vor Jakobs Geburt. Friedrich Mauthe, der Ehemann von Maria Kienzle, der Schwester von Jakobs Vater, übernimmt die Vormundschaft. Friedrich Mauthe hatte Maria Kienzle im Jahre 1844 geheiratet und war zunächst als Gemischtwarenhändler tätig. Mit der Zeit handelte er aber auch zunehmend mit Werkzeugen und Rohstoffen für die Uhrenfabrikation und wurde ab 1850 als Uhrengroßhändler tätig. Ende der 1860erJahre gründete er in gemieteten Räumen eine Uhrenfabrik und stellte zwölf Arbeiter ein. Das Geschäft mit den dort hergestellten Schotten-Holzzug-Uhren, Kuckucksuhren und Federzuguhren lief gut. Die Produktion musste ausgeweitet werden. Mauthe brauchte mehr Platz. Deshalb wurde das Gasthaus zur Krone erworben und zum Fabrikgebäude umgebaut. Als 14-Jähriger arbeitete Jakob Kienzle in der Uhrenfabrik seines Pflegeonkels Friedrich Mauthe. Hier lernte er die Grundlagen der Uhrenproduktion kennen. Doch Ende 1873 schickte ihn sein Vormund nach Triberg. Jakob Kienzle trat als Kaufmannslehrling in eine Kolonialwarenhandlung ein. Der durchaus komplexe Handel mit Importware aus Übersee, namentlich Kaffee, Kakao, Zucker, Gewürze und Tee, begeisterte den Lehrling Kienzle. Im Jahre 1877 schickte ihn sein Pflegeonkel, der sich damals schon aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte, nach Mühlhofen bei Meersburg an den Bodensee. Dort arbeitete der junge Jakob Kienzle als Kaufmann in einer Weberei. Drei Jahre nachdem Mauthe sein Unternehmen in die Hände seiner beiden Söhne Jakob und Christian gegeben hatte, kehrte Jakob Kienzle im Jahre 1879 in die Firma Friedrich Mauthe zurück und


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arbeitete dort als Kaufmann in der Uhrenversandabteilung. Mauthe war von den Talenten seines Ziehkindes Jakob Kienzle sehr überzeugt. Ihm war vor allen Dingen daran gelegen, dass Jakob Kienzle in die Planungen der neuen Fabrik in Schwenningen einbezogen wurde. Bereits nach eineinhalbjähriger Planungs- und Bauphase konnte die erste mit Dampfkraft betriebene Uhrenfabrik in Schwenningen im Frühjahr 1881 die Produktion aufnehmen. Zwar hatten zu dieser Zeit Christian und Jakob Mauthe die Leitung der Uhrenfabrik Friedrich Mauthe inne, doch im Hintergrund hielt Vater Mauthe noch immer die Zügel in der Hand. Oft erschien er sonntags in der Uhrenversandabteilung von Mauthe, in der er auch an den Wochenenden emsig mit buchhalterischen Aufgaben beschäftigt war. Allerdings ging es Friedrich Mauthe weniger darum zu überprüfen, wie gewissenhaft sein Zögling Rechnungen bearbeitete, sondern er wollte sich in erster Linie von dessen Fortschritten beim Erlernen der französischen Sprache überzeugen. Als Friedrich Mauthe sich dann Ende 1883 aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr für die Fabrik interessieren konnte und Jakob Kienzle somit seinen Förderer verlor, suchte sich der 24-Jährige eine neue Anstellung und fand sie im Gewerbebetrieb des Uhrmachers Christian Schlenker. Sein Ziehonkel Friedrich Mauthe verstarb am 2. Februar 1884. Bei Schlenker konnte Jakob Kienzle schon bald als gleichberechtigter Partner von Carl Johannes Schlenker, dem Sohn Christians, seine Geschäftsideen in die Tat umsetzen. So reiste er im Hochsommer 1883 in die Schweiz und nach Norditalien und knüpfte vielversprechende Verbindungen. Der Export von Uhrenwerken legte enorm zu. Kein Wunder, dass die Werkstätten im Außendorf 171 zu Schwenningen zu klein wurden, war doch die Zahl der produzierten Uhrenwerke von 3000 auf knapp 30 000 Stück gestiegen. Für den Ausbau der Werkstätten in Außendorf holte sich Jakob Kienzle aus der Uhrenfabrik Mauthe deren Werkführer Johannes Rösch. Mehr als 20 Mitarbeiter hat die Uhrenfabrik Schlenker & Kienzle. Und das Unternehmen wächst weiter. Deshalb kauft Jakob Kienzle das Grundstück des Schwenninger Fabrikanten Benjamin Bürk, das damals in der Bahnhofstraße gelegen ist, und baut dort eine moderne Uhrenfabri­ kation. Die Maschinen werden von einer 10 PS starken Dampfmaschine angetrieben. In der Folge baut Kienzle konsequent die Uhrenherstellung als Serienfertigung aus. Inzwischen arbeiten 70 Mitarbeiter auf dem Fabrikge-


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lände am Bahnhof, und zahlreiche Heimarbeiter liefern Vorprodukte zu. Doch dann ziehen dunkle Wolken am Himmel auf. Im Jahre 1887 erhöhte die österreichisch-ungarische Zollverwaltung auf Geheiß Kaiser Franz Josephs I. die Einfuhrzölle für Uhren dramatisch. Uhren aus Schwenningen waren danach einfach nicht mehr konkurrenzfähig. Das war auch durchaus beabsichtigt, denn die Uhrenfabrikanten in Karlstein und Wien hatten Franz Joseph um protektionistische Hilfe gebeten, drohten sie doch auf dem einheimischen Markt von den Herstellern aus dem Schwarzwald verdrängt zu werden. Jakob Kienzle handelt sofort und gründet eine selbstständige Tochterfirma im böhmischen Komotau. Die böhmische Uhrenfabrik wird von Carl Johannes Schlenker geleitet, der nach Böhmen übersiedelt. Der Ableger in Komotau profitiert von den österreichischen Schutzzöllen. Teilweise werden größere Stückzahlen in nahezu alle europäischen Staaten exportiert als aus Schwenningen. Gleichzeitig erweist sich die Fabrik in Komotau als leistungsstarkes Ausweichquartier, als im Jahre 1888 ein Brand im Kesselhaus der Schwenninger Fabrik ausbricht und Teile des angrenzenden Fabrikgebäudes zerstört. Jakob Kienzle verlegt sofort einen Teil der Schwenninger Produktion nach Komotau. Der Transport der zum Glück nicht in Mitleidenschaft gezogenen Maschinen geschieht im wahrsten Sinne des Wortes unter Volldampf. Die Lokomotiven ziehen mehr als 30 Waggons mit Produktionsausrüstung nach Komotau. Der Entschluss Jakob Kienzles stand nach dem Brand sofort fest. Er wollte nicht einfach die zerstörten Anlagen wieder aufbauen, sondern er dachte vielmehr daran, noch Grundstücke an der nordwestlichen Seite der Bahnhofstraße hinzuzukaufen und hier moderne Produktionsstätten zu errichten. So ließ er in einem ersten Schritt Werkstätten, den Versand und Großlagerräume in den neuen dreigeschossigen Neubau ziehen. In einem zweiten Schritt wurde ab 1890 eine Südost-Erweiterung an dieses neue Fabrikgebäude angegliedert, das dann der neuen Weckerproduktion eine Heimat gab. Ein zweiter Brand im Jahr 1895 war der Anlass für den Unternehmer Jakob Kienzle, strengere Sicherheitsvorschriften einzuführen und ein für die damalige Zeit geradezu revolutionäres Sicherheitsprogramm umzusetzen. Ebenfalls gründete er eine Betriebskrankenkasse der Uhrenfabrik Schlenker & Kienzle Schwenningen, die sich allerdings nicht nur um Betroffene von Betriebsunfällen oder Katastrophen wie Brände kümmern


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sollte, sondern für die gesamte Gesundheitsfürsorge der Mitarbeiter zuständig war. Die Gründung einer Unterstützungskasse für alle Mitarbeiter folgte wenige Jahre später. Die Sorge um die Absicherung der Mitarbeiter hat Jakob Kienzle ständig umgetrieben. Häufiges Thema im Familienkreis war zum Beispiel die Verantwortung von Unternehmern gegenüber Mitarbeitern und Mitbürgern. Seine jüngste Tochter Martha hat über diese ernste Sorge ihres Vaters nicht nur berichtet, sondern diese Verantwortung gemeinsam mit ihrem Ehemann Herbert Ehrlich sehr aktiv wahrgenommen. So hat das Ehepaar Martha und Herbert Ehrlich im Südwesten Schwenningens eine Belegschaftssiedlung bauen lassen, um die zur damaligen Zeit erhebliche Wohnungsnot in der württembergischen Uhrenstadt zu lindern. Auch nach dem Tode Herbert Ehrlichs, der am 12. Dezember 1921 einer Virusgrippe erlag, hat Martha Ehrlich, geborene Kienzle, dieses Engagement tatkräftig weitergeführt. Im Jahr 1897 setzte Jakob Kienzle stark auf weitere Expansion. Sein Schwager Carl Johannes Schlenker hatte starke Bedenken und verweigerte sich den Ausbauplänen Kienzles. Dieser zahlte daraufhin seinen Teilhaber Schlenker aus und wurde Alleininhaber der Schlenker & Kienzle Uhrenfabriken in Schwenningen und Komotau. Carl Johannes Schlenker gründete noch im Jahre 1897 eine eigene Uhrenfabrik. Allerdings war ihm damit wenig Fortune beschieden. Auch die gesundheitliche Situation Schlenkers verschlechterte sich. Nach kurzen Verhandlungen entschloss sich Jakob Kienzle Anfang 1899, die Uhrenfa­ brik seines Schwagers zu kaufen. Allerdings hatte er sich damit finanziell ziemlich übernommen. Deshalb konnte er auch das Angebot von Arthur Junghans, den er als Kollegen und Mitbewerber persönlich ausgesprochen schätzte, nicht annehmen, eine gemeinsame Aktiengesellschaft zu gründen. Noch viele Jahre später hat sich Jakob Kienzle ausgesprochen bedauernd darüber geäußert, dass er diese historisch einmalige Chance des Jahres 1899 aus finanztechnischen Gründen nicht ergreifen konnte. Um die Jahrhundertwende kann Jakob Kienzle auf eine ausgesprochen erfolgreiche Karriere zurückschauen. 600 Mitarbeiter beschäftigt seine Uhrenfabrik zu dieser Zeit. Noch bis zum Jahre 1919 hält der Uhrenpatriarch die Zügel bei Kienzle fest in der Hand. Diese Zeit ist geprägt durch stetigen Ausbau und eine überlegte


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Für seinen Sohn Oskar hatte Jakob Kienzle ambitionierte Pläne. In der Fachschule für Uhr­ macher wurden Oskars Arbeiten mehrfach ausgezeichnet. Seine kreativen Ideen beim Entwurf neuer Uhren, insbesondere bei den Großuhren, denen auch sein Vater innig zugetan war, fanden oft das Lob seiner Lehrer. Erhalten ist leider nur noch eine Arbeit aus der Zeit des Fachschulbesuchs Oskar Kienzles, die im Besitz des Uhrenmuseums Furtwangen ist.


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Internationalisierung. Die Gründung der Niederlassungen in Mailand und in Paris zählen genauso dazu wie der Ausbau der Produktionsstätten in Komotau. Besonders intensiv beschäftigte sich Jakob Kienzle im Laufe des Jahres 1903 mit der Idee, das Portfolio um Taschenuhren zu ergänzen. Oftmals, so berichteten Zeitzeugen, habe er im Kreise seiner engsten Mitarbeiter über diese Produktpläne diskutiert. Dabei wurde sehr deutlich, dass Jakob Kienzle bei aller umtriebigen Konsequenz seines unternehmerischen Handelns stets sehr großen Wert auf den Rat seiner Mitarbeiter gelegt hat. So ist von der Aufnahme einer Taschenuhr in das Produktspektrum die Anekdote überliefert, dass Jakob Kienzle zwei seiner ältesten Maschinenführer jeweils kurz vor Arbeitsende an der Werkbank aufgesucht und um ihren Rat gebeten habe. Er wollte von ihnen wissen, was für eine Art von Taschenuhr sie ihren Söhnen zur Konfirmation schenken würden. Eine Stunde nach Arbeitsende habe Jakob Kienzle noch im Gespräch vertieft mit seinem Mitarbeiter an der Werkbank gestanden. Heraus kam dabei bekanntlich die Kienzle-«Strapazier-Taschenuhr», denn «ebbes G’scheits muss es soi», wie ihm seine Mitarbeiter ans Herz gelegt hatten. Über viele Jahre hinweg erweist sich die «Strapazier-Taschenuhr» als regelrechter Verkaufsschlager. Ähnlich handhabte Jakob Kienzle auch die Produkteinführung der Reisewecker. Er fragte zunächst seine Mitarbeiter, ob sie sich einen solchen kleinen Wecker zum Mitnehmen kaufen würden, um «außer Haus pünktlich geweckt zu werden». Dann wollte er wissen, wie viel sie für solch einen Wecker ausgeben würden. Erst nachdem er das Votum der Mitarbeiter eingeholt hatte, ging es an die Konstruktion, Entwicklung und Produktion der Reisewecker. Der Erfolg gab Kienzle Recht. Denn das Votum der Mitarbeiter spiegelte die Bedürfnisstruktur der Kunden wider. Das besondere Steckenpferd Jakob Kienzles sind aber zeitlebens die Großuhren geblieben. Das zeigt sich auch im Produktportfolio. So verzeichnet ein Großuhrenkatalog aus dem Jahre 1908 insgesamt 560 verschiedene Modelle. Eine Großuhr mit Westminster-Klang war Kienzles persönliche Favoritin. Doch mit einem wachen Blick für die Bedürfnisse seiner Zeitgenossen hat Jakob Kienzle sich stets für die Produktinnovationen entschieden, für die der Markt gerade reif war und die auch technisch machbar waren. Auf die wirtschaftlich sinnvolle Umsetzung technologischer Innovationen achtete der Firmenpatriarch besonders.


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Den ganzen Sommer des Jahres 1913 beispielsweise ging Jakob Kienzle mit der Idee schwanger, das seit Neuestem verfügbare Zeitmesssignal, das von einer Sendeanlage auf dem Eiffelturm in Paris abgestrahlt wurde, auch in Schwenningen zu empfangen und für die eigene Arbeit zu nutzen. Anfang Oktober wurde auf dem Dach der Fabrik in der Bahnhofstraße eine Empfangsanlage montiert. In Schwenningen regierte nun die Echtzeit. Von 1914 bis 1918 ist Jakob Kienzle hauptsächlich mit einem Thema befasst: seine Uhrenfabrik über den Krieg zu retten. Die Sorgen um seinen in den USA internierten Sohn, Dr. Herbert Kienzle, machte ihm dieses ohnehin schwierige Tagesgeschäft, das nur allzu oft eine Gratwanderung war, nicht leichter. Hinzu kam der Militärdienst seiner Söhne Christian, Oskar und Erich sowie seiner Schwiegersöhne Ernst Ammer und Georg Mall. Berichten seiner Tochter Martha zufolge ging er in diesen Jahren oft mit gebeugten Schultern durch die teilweise auf Kriegsproduktion umgestellte Fabrik. So sehr bedrückten ihn die Verantwortung seinen Mitarbeitern gegenüber und die Sorgen um seine Familie. Gleichwohl, er gab trotz großer Schwierigkeiten nicht auf, sondern kämpfte. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde der Zahlungsverkehr mit dem Ausland völlig eingestellt. Kunden aus den USA, aber auch aus dem europäischen Ausland konnten die Kienzle-Rechnungsbeträge aus rein technischen Gründen nicht zur Zahlung anweisen. Jakob Kienzle hat auch hier unter großem persönlichem Einsatz Wege gefunden, um die Löhne und Gehälter pünktlich zahlen zu können. Er kümmerte sich um Aufträge aus dem Inland, um die Fabrik nicht schließen zu müssen. So hat er gemeinsam mit seinem Betriebsleiter Ingenieur Dickhoff eine Armee-Armbanduhr mit Leuchtziffern entwickelt. Zeiger und Ziffern bekamen einen Radium-Anstrich, und fortan konnte auch in völliger Dunkelheit die Uhrzeit zuverlässig und einfach abgelesen werden. Die persönlichen Schicksalsschläge während des Ersten Weltkrieges haben ihm zweifelsohne zugesetzt. Das war nach Martha Kienzles Bericht besonders schlimm, nachdem ihn Ende Januar 1915 die Nachricht ereilt hatte, dass sein Sohn Oskar gefallen sei. Die Belastungen während der Kriegsjahre haben in Jakob Kienzle ab 1918 den Entschluss reifen lassen, sich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen. Und so hat er dann im Jahre 1919 das Unternehmen zunächst umfirmieren lassen. Eine Entscheidung, die schon lange angestanden hatte. Aus dem Unternehmen «Schlenker & Kienzle» ist somit die Kienzle


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Uhrenfabriken KG geworden. Die Eintragung in das Handelsregister Rottweil erfolgte am 18. Dezember 1919. Als persönlich haftende Gesellschafter weist das Register Jakob Kienzle und seine Söhne Christian, Erich und Herbert aus. Ihnen hat er gleich nach dem erfolgten Handelsregistereintrag die Leitung der Kienzle Uhrenfabriken übertragen. Das Werk in Komotau bleibt allerdings im Besitz von Jakob Kienzle. Auch diese Entscheidung entsprang seinem tiefen Verantwortungsbewusstsein. Denn die Situation in Komotau ist nach der Gründung der Tschechoslowakei für die Uhrenfabrik schwierig. Kienzle will seine Söhne nicht auch noch damit belasten. Die Schwenninger Uhrenfabrik durch die Wirren der Zeiten zu bringen sei schon eine Aufgabe gewesen, welche die Kienzle-Söhne stark gefordert habe, urteilte der damals als Betriebsleiter in Schwenningen tätige Salomon Reuter. Erst nach Jakob Kienzles Tod am 25. Februar 1935 geht das Werk in Komotau an seine Kinder und Erben, bleibt aber gesellschaftsrechtlich selbstständig. Und im Jahre 1941 hat die J. Kienzle Uhrenfabrik nach heftigen internen Diskussionen die Mehrheit an der J. Kienzle Uhrenfabrik Komotau übernommen. Nach dem Rückzug aus der Geschäftsführung der Schwenninger Fabrik wurde es nicht sehr viel ruhiger. Er verlegte seinen Wohnsitz nach Stuttgart, kümmerte sich aber nach wie vor intensiv um den Liederkranz in Schwenningen, dem er mit dem Beethovenhaus im Jahre 1925 sogar ein eigenes Vereinsheim stiftet. Seit 1906 hatte sich Kienzle als Vorstand des Liederkranzes engagiert und fährt auch nach seinem Umzug nach Stuttgart noch regelmäßig zu Veranstaltungen «seines» Liederkranzes nach Schwenningen. Nachdem das Beethovenhaus im Jahre 1927 eingeweiht worden war, wurde Kienzle zum Ehrenmitglied des Liederkranzes ernannt. Insgesamt blieb Jakob Kienzle durchaus reiselustig. So hat er sich im Juli 1922 gemeinsam mit seiner Gattin auf den Weg nach Rom gemacht. 39 Jahre lang waren die Kienzles in diesem Sommer verheiratet. Jakob Kienzle empfand die lange Ehe als ein Gnadengeschenk und wollte auf jeden Fall vor dem 40. Ehejubiläum im Rahmen einer Audienz bei Papst Pius XI. dessen Segen erbitten. Auf der Rückfahrt nach Stuttgart machte er in Mailand Station und berichtete dem dortigen Kienzle-Vertreter Giulio Schneider tief bewegt von seinen Erlebnissen in Rom. Ohnehin hält das Jahr 1927 bemerkenswerte Ehrungen für Jakob Kienzle bereit. Er wird Ehrenbürger seiner Heimatstadt Schwenningen. Die Technische Hochschule in Stuttgart verleiht ihm anlässlich ihres


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100-jährigen Bestehens die Ehrendoktorwürde. Er hat kurz vor seinem Tode gestanden, dass ihn denn insbesondere diese beiden Auszeichnungen des Jahres 1927, die Ehrenbürgerschaft und die Ehrendoktorwürde, tief bewegt hätten. Zeitzeugen zufolge hat allerdings bei der eigentlichen Verleihungszeremonie der Ehrendoktorwürde eher das Understatement des erfolgreichen Unternehmers dominiert. Gegenüber Hochschulvertretern brachte Kienzle zum Ausdruck, dass er sich sehr freue, dass sein 1887 geborener Sohn als Elektroingenieur viel in Stuttgart gelernt habe und die Ergebnisse seiner Dissertation zum Dr.-Ing. über die «Arbeitsweise der selbsttätigen Drehbänke» direkt in den Produktionsprozess in Schwenningen eingeflossen seien. So habe er, Kienzle, der Technischen Hochschule dankbar zu sein, für die Vorteile, die sein Sohn und seine Fabrik aus der wissenschaftlichen Arbeit hätten ziehen dürfen. Jakob Kienzle nahe stehende Zeitzeugen haben betont, dass gerade dieses Understatement typisch für die Person Kienzles gewesen sei und letztlich sogar als Zeichen seiner tiefen Bewegtheit gelten müsse. 1925 muss Kienzle noch einmal kurz in die Geschehnisse der Fabrik in Schwenningen eingreifen. Am 24. September 1925 war im Alter von nur 39 Jahren Christian Kienzle, sein ältester Sohn und maßgebliches Vorstandsmitglied des inzwischen als Kienzle Uhrenfabriken Aktiengesellschaft firmierenden Unternehmens, verstorben. Mit der Unterstützung Jakob Kienzles tritt Hellmut Kienzle die Nachfolge seines Bruders im Vorstand an. Auch im Jahr 1931 kehrt Jakob Kienzle noch einmal für kurze Zeit als «geschäftsführender Seniorchef» nach Schwenningen zurück. Nachdem seine Frau Agathe, geborene Schlenker, am 25. Februar verstorben war, hat sich Kienzle – aus vielleicht nahe liegenden Gründen – wieder stärker ins Geschäftsleben gestürzt. Gemeinsam mit seinem Sohn Hellmut hat er sogar eine Geschäftsreise nach Südamerika unternommen. In der Folge konnte Hellmut Kienzle überaus fruchtbare geschäftliche Verbindungen nach Brasilien und Argentinien realisieren. Im Jahre 1931 hat der Aufsichtsrat unter maßgeblichem Einfluss von Jakob Kienzle den Rechtsanwalt Hans Schmoller zum Vorsitzenden des Vorstandes bestellt. Er arbeitet sich rasch ein und übernimmt nach dem Tode Jakob Kienzles mehr und mehr Leitungsaufgaben auch aus anderen Vorstandsbereichen in der Kienzle Uhrenfabriken AG. Schmoller war im Jahre 1922 von Jakob Kienzle gebeten worden, die Interessen der Uhrenfa-


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brik im Steuerstreit mit dem Finanzamt Rottweil wahrzunehmen. Er verblieb nach Abwehr der millionenschweren Forderungen im Unternehmen und wurde von Jakob Kienzle maßgeblich in seiner beruflichen Entwicklung gefördert. 1924 war Schmoller in die Hauptabteilung Finanzen der KienzleUhrenfabrik eingetreten und arbeitete unter Leitung des Prokuristen Wilhelm Maier einen betriebsintern viel beachteten Konsolidierungsplan zur Absicherung des Eigenkapitals aus. Nach der Fusion mit der Th. Haller Aktiengesellschaft wurde er am 18. Juni 1928 stellvertretendes Vorstandsmitglied. So kann er im Jahre 1931 schon auf ein gutes Netzwerk innerhalb des Unternehmens und der Branche zurückgreifen.Ab 1939 wird Schmoller als Major der Wehrmacht dienstverpflichtet. Allerdings kann er in Abstimmung mit seinen direkten Vorgesetzten beim Militär ereichen, dass er jeweils zu den Vorstandssitzungen Urlaub erhält. Die dadurch entstehende Doppelbelastung nimmt der als außerordentlich pflichtbewusst geltende Hans Schmoller hin. Wann immer möglich versucht er während seiner kurzen Anwesenheiten im Unternehmen in den Jahren 1939 bis 1945, den Kontakt mit den Belegschaftsmitgliedern zu halten. Im April 1945 stirbt Hans Schmoller in der Nähe der norditalienischen Ortschaft Lonate Pozzolo. Noch im April 1945 hat der Aufsichtsratsvorsitzende der Kienzle Uhrenfabrik AG, Dr.-Ing. Robert Durrer, Hellmut Kienzle und Willy Haller als Vorstände bestätigt. Robert Durrer war seit 1924 mit Jakob Kienzles Tochter Martha verheiratet, die er nach dem Tode ihres Gatten Herbert Ehrlich im Rahmen seiner Tätigkeit im Verwaltungsrat nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft 1922 kennengelernt hatte. Der Diplom-Ingenieur Willy Haller war 1918 in die Uhrenfabrik seines Bruders Thomas E. Haller an der Austraße in Schwenningen eingetreten und hatte die Umwandlung des Unternehmens in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung wesentlich vorangetrieben. Er war auch maßgeblich an den Verhandlungen zwischen Kienzle und Haller beteiligt, die im April 1928 zum Fusionsbeschluss der beiden Uhrenfabriken geführt haben, der am 18. Juni formell vollzogen wurde. Gleichzeitig trat Haller in den Vorstand des fusionierten Unternehmens ein. Er ist also bestens mit allen Interna bei Kienzle vertraut und kann auf eine lange und einvernehmliche Zusammenarbeit mit Hellmut Kienzle zurückblicken. Haller übernimmt das technische Ressort. Hellmut Kienzle hatte innerhalb von drei Jahren drei Karrieresprün-


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ge gemacht: 1925 ist er zum stellvertretenden Vorstandsmitglied bestellt worden. Ein Jahr später wird er Nachfolger seines verstorbenen Bruders Christian als ordentliches Vorstandsmitglied. Nach weiteren zwölf Monaten erhält er 1926 das Alleinvertretungsrecht. Als Vorstand kümmert er sich um den Vertrieb. Mit einem für die Zeitzeugen schon beinahe unverständlichen festen Glauben an eine gute Zukunft für Kienzle haben die beiden Vorstände tatsächlich im Laufe des Jahres 1946 so etwas wie einen Neuanfang ins Werk gesetzt. Colonel Japy, der Vertreter der französischen Uhrenindustrie in der Militärverwaltung, hat der Uhrenindustrie in Deutschland drückende Auflagen gemacht. Davon war in den Jahren 1946/47 natürlich auch Kienzle sehr stark betroffen. Umso wichtiger war das Verhandlungsgeschick, das Willy Haller und Hellmut Kienzle in den Gesprächen mit der Militärverwaltung an den Tag legten. So konnten sie die Demontage der Fabrikanlagen in Schwenningen verhindern. Das Werk in Komotau allerdings wurde entschädigungslos verstaatlicht. In Schwenningen werden allein 1946 mehr als 350 Maschinen als Reparationen beschlagnahmt. Insgesamt verliert Kienzle fast 1300 Maschinen durch Beschlagnahme. Allerdings konnte Hellmut Kienzle auch erreichen, dass der Kollektivvertrag der französischen mit der deutschen Uhrenindustrie Kienzle durchaus Vorteile brachte. Die vereinbarte bevorzugte Belieferung der französischen Uhrenindustrie hatte nämlich für Kienzle eine Umsatzsteigerung und die Zuteilung von Material und Vorprodukten zur Folge. Mit ihrem Optimismus behielten Hellmut Kienzle und Willy Haller Recht. Nach der Währungsreform des Jahres 1948 und der Aufhebung der Bewirtschaftungsvorgaben für die Uhrenindustrie wachsen Umsatz, Gewinn und Exportanteil. Das Unternehmen und die gesamte Branche durchlaufen eine ausgesprochen befriedigende Entwicklung. Für ihre Verdienste erhalten Aufsichtsräte und Vorstände der Kienzle AG im Laufe der Jahre viele Auszeichnungen. 1954 wird Hellmut Kienzle in den Aufsichtsrat des Förderwerks der Deutschen Uhrenwirtschaft berufen. Auf dem Uhrmachertag 1957 in Dortmund wird ihm vom Uhrmacherverband die «Goldene Ehrennadel» überreicht. In seiner Dankesrede thematisierte Kienzle das Problem der Markentreue und betonte, dass das Prinzip der Fachhandelstreue bei Kienzle absolute Priorität habe. Willy Haller erhält 1955 anlässlich seines 65. Geburtstages das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik und die Würde eines Ehrensenators der Universität Tübingen und der Technischen Hochschule Stuttgart. Auf-


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sichtsrat Ernst Hohner wird am 28. Juli 1956 anlässlich seines 70. Geburtstages die Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen verliehen. Bis zu seinem Tod am 31. August 1973 hat Willy Haller die Entwicklung bei Kienzle auch als Ruheständler sehr aufmerksam verfolgt. Das Jahr 1957 stand bei Kienzle ganz im Zeichen der personellen Konsolidierung der Führungsetage. Am 15. Oktober hat der Aufsichtsrat die langjährige Kienzle-Führungskraft Georg Ehnes als ordentliches Vorstandsmitglied bestellt. Gleichzeitig ist Hellmut Kienzle auf den seit drei Jahren als Prokuristen tätigen Dr. Werner Kienningers aufmerksam geworden und baut ihn konsequent als Führungsnachwuchs auf der Vorstandsebene auf. Als Entdeckung von Hellmut Kienzle galt auch Dr.-Ing. Walter Schweizer, der 1955 als Entwicklungsleiter bei Kienzle begonnen hat. Nach einem halben Jahr Tätigkeit als Prokurist ist er am 1. August 1959 stellvertretendes Vorstandsmitglied geworden. Gleichberechtigt rückt der «Doppeldoktor» Werner Kienningers an dessen Seite. Schließlich ist im Jahre 1960 auch noch Erich Kienzle, der Sohn von Hellmut Kienzle, in das Unternehmen eingetreten. Nachdem er sämtliche Abteilungen durchlaufen hat, beginnt Hellmut Kienzle, ihn zu seinem Nachfolger aufzubauen, scheitert damit aber sowohl an Widerständen innerhalb des Aufsichtsrates als auch in der erweiterten Unternehmensleitung. Erich Kienzle arbeitet insgesamt 20 Jahre im Unternehmen und war 1980, als er ausschied, im Bereich Werbung und Public Relations tätig. In Aufsichtsrat und Vorstand war man sich in diesen Jahren vollkommen einig: Hellmut Kienzle setzte nicht nur auf starke personelle Kontinuität, sondern er erkannte auch sehr frühzeitig Führungstalente und förderte sie entsprechend. Das sollte sich im Juli 1961 auszahlen, als Haller und Kienzle wunschgemäß aus dem Vorstand ausscheiden. Noch in der gleichen Aufsichtsratssitzung wird Georg Ehnes zum Vorstandsvorsitzenden bestellt, Werner Kienningers und Walter Schweizer rücken zu ordentlichen Vorstandsmitgliedern auf. Hellmut Kienzle hat seine Vorstandsfunktion in einer Zeit abgegeben, in der gleich zwei neue Großaktionäre ihr Interesse an Kienzle durch starken Zukauf von Anteilscheinen kundtun. Neben dem Werkzeugmaschinenfabrikanten Dietrich Bührle aus dem schweizerischen Oerlikon hat vor allen Dingen Alfred Kreidler, Inhaber der Kreidler Metall- und Drahtwerke in Stuttgart-Zuffenhausen, von der Öffentlichkeit völlig unbe-


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merkt in mehreren Tranchen Anteilsscheine an der Kienzle AG in jeweils sechsstelliger Höhe erworben. Helmut Kienzle führte sowohl mit Bührle wie mit Kreidler intensive Gespräche über die Markenstrategie von Kienzle. Er wollte die wichtigen Aktionäre einbinden und versprach sich davon Rückendeckung für seine Strategie der Fachhandelstreue und für den Aufbau der Kienzle-Uhr als Markenartikel. Früh hat er den Paradigmenwechsel vom Verkäufermarkt zum Käufermarkt prognostiziert und wollte Kienzle handlungsfähig halten. Ein knappes halbes Jahr nach seinem Ausscheiden aus dem Kienzle-Vorstand stirbt Hellmut Kienzle am 16. Februar 1962 im Alter von 62 Jahren. Nach dem Tode von Hellmut Kienzle ist Dr. Werner Kienningers aus dem Vorstand ausgeschieden. Brancheninsider bringen diese Entscheidung mit dem Tod seines Förderers in Zusammenhang. Von denselben Brancheninsidern wurde auch registriert, dass Kienningers bereits Ende 1961 in Vorstand und Aufsichtsrat vehement dafür eingetreten ist, der Entwicklung zum Käufermarkt im Uhrensegment stärkere strategische Aufmerksamkeit zu schenken, sich damit aber nicht in gewünschter Weise durchsetzen konnte. Kienningers Vorstandsposten ist nach seinem Ausscheiden nicht wiederbesetzt worden.Vielmehr haben sich Georg Ehnes und Walter Schweizer dessen Zuständigkeiten geteilt. Doch bereits im Juni 1963 bestellten die Aufsichtsräte den Produktionsfachmann Erich Hilser als stellvertretendes Vorstandsmitglied, der bis dahin dem Vorstand Georg Ehnes direkt zugearbeitet hatte. Als Walter Schweizer 1963 erkrankt und der 71-jährige Ehnes um Entlastung aus gesundheitlichen Gründen bittet, erarbeitet Erich Hilser federführend einen neuen Geschäftsverteilungsplan, der die Auflösung der bisherigen Stabsstellen vorsieht und Georg Ehnes von allen unmittelbaren Aufgaben entbindet. Der Oktober 1964 hält für das Kienzle-Management eine Hiobsbotschaft bereit. Walter Schweizer musste aus gesundheitlichen Gründen den Vorstand verlassen, der angeschlagene und von allen unmittelbaren Aufgaben entlastete Georg Ehnes und Erich Hilser bildeten daraufhin gemeinsam den Vorstand. Bald aber stellte sich heraus, dass diese Lösung auf Dauer nicht tragbar war, und so nahm man das Ausscheiden des Aufsichtsratsvorsitzenden Professor Robert Durrer im Jahre 1965 zum Anlass, die Aktiengesellschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umzuwandeln. Diese erhielt


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einen Aufsichtsrat, der Alfred Kreidler als Vorsitzender und Dr. Dietrich Bührle als sein Stellvertreter vorstanden. So waren die wichtigsten Gesellschafter direkt eingebunden. Erich Hilser und der Techniker Max Favret wurden zu Geschäftsführern bestellt. Die Familie Kienzle war somit nicht mehr in den Führungsgremien der Kienzle Uhrenfabriken vertreten. Die Eigentumsverhältnisse verändern sich im darauffolgenden Jahr dramatisch. Bührle verkauft seine Kienzle-Anteile an Kreidler, der damit 95 Prozent des Grundkapitals der Kienzle Uhrenfabriken hält. Als Hauptgesellschafter drängt Kreidler darauf, seine Gattin Elisabeth und den Finanzchef seiner Metallwerke, Karl Krämer, in den Aufsichtsrat zu entsenden. Der Diplom-Kaufmann Dr. Hans Consilius wird Mitglied der Geschäftsführung und leitet bis 1970 die Kienzle-Verwaltung. Ihm folgt Heinrich Hoffmann, ein ausgebildeter Volkswirt. Alfred Kreidler hat tief in die Strukturen der Kienzle Uhrenfabriken eingegriffen und das Unternehmen in sehr kurzer Zeit erheblich schlanker werden lassen. Diversifizierung stand ganz oben auf Kreidlers Agenda. Nach der Organisation der Beteiligungen an der Kienzle Zürich AG, der Dufa GmbH und der Halle GmbH hat Kreidler über die Geschäftsführer augenständige Verantwortungsbereiche zuweisen lassen. Finanzbuchhaltung, Vertrieb, Design, Unternehmensplanung, Einkauf und Verkauf wurden von jeweils einem Prokuristen direkt verantwortet. Dieser hatte bei Bedarf auch im Aufsichtsrat zu seinem Geschäftsbereich Rede und Antwort zu stehen. Kreidler pflegte seine Anweisungen als indirekte Wünsche oder Bitten zu formulieren. Doch diejenigen Mitarbeiter, die diesen Bitten nicht schnell genug nachkamen, lernten sehr rasch, sie so einzuschätzen, wie sie eigentlich gemeint waren: als unbedingte Befehle, die sofort auszuführen waren. Den Export, das wichtigste Standbein von Kienzle, ließ der Aufsichtsrat aus dem Verantwortungsbereich Verkauf ausgliedern und ernannte einen nur für diesen Bereich zuständigen Prokuristen. Heinz Engelien übernahm diesen Bereich. Innerhalb der Geschäftsführung war Erich Hilser für Vertrieb und Marketing zuständig, dem 1973 Dr. Konrad Schubert folgt. Viktor Storz ist der für die Technik zuständige Geschäftsführer. Max Favret hatte das Unternehmen Mitte 1967 verlassen. Georg Ehnes verstarb im Oktober 1968. Kreidler peitschte die Umstrukturierung und Diversifizierung regelrecht durch. Marktbeobachter sprachen ganz offen davon, dass aus der J. Kienzle Uhrenfabrik das Kreidler-Unternehmen geworden sei, in dem


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Kienzle-Uhren gefertigt würden. In der Tat hat Alfred Kreidler der Kienzle Uhrenfabrik nachhaltig seinen Stempel aufgedrückt. Er kannte die Märkte sehr genau und er war ein passionierter Uhrenliebhaber. Allerdings war ihm wenig Fortune im Umgang mit dem Betriebsrat und den Mitarbeitern in Produktion und Verwaltung beschieden. Es gelang Kreidler nicht, die Gewerkschaftsvertreter mit ins Boot zu holen. Er setzte einseitig auf massive Umsatzsteigerung und eine erhebliche Kostenreduktion. Doch die Kienzle-Mitarbeiter kannten nur das Produktionsprinzip der Werkstättenfertigung. Damit wollte Keidler radikal aufräumen, jedoch sagte er den Mitarbeitern nicht klipp und klar, wie seine Strategie aussah. Als die Lieferungen von Autouhren an VDO ausgelaufen sind und in der Folge 500 Mitarbeiter entlassen werden sollen, kommt es zum Eklat. Der Betriebsrat fordert einen Sozialplan, die Unternehmensspitze lehnt aus Kostengründen ab, ordnet stattdessen Kurzarbeit an. Kreidler droht, sich von Kienzle zurückzuziehen. Das treibt Kienzle auf die nächste Eskalationsstufe. Die Banken machen Druck und verlangen einen Sanierungsplan. Ein Teil der Zulieferer kündigt an, die Vorprodukte und Materialien nur noch gegen Barzahlung zuzustellen. Auf Empfehlung der Banken kommen Unternehmensberater ins Haus und erstellen eine Analyse. Der Betriebsart fühlt sich unzureichend eingebunden und setzt der Geschäftsführung die Pistole auf die Brust. Streikdrohungen liegen in der Luft. Statt nun mit der Gewerkschaftsseite offene Gespräche zu führen, lavieren die Mitglieder der Geschäftsführung und reichen die Probleme weiter an den Aufsichtsrat. Dort wird die Werkschließung als Alternative ins Spiel gebracht. Das lässt den Geduldsfaden bei den Arbeitnehmervertretern endgültig reißen. Die Vertrauensleute der Industriegewerkschaft Metall formulieren eine Entschließung, in der die Neuordnung der Kapitalseite gefordert wird. Die Beschäftigten der Firma Kienzle hätten das Vertrauen in Herrn Kreidler endgültig verloren, heißt es sogar. Diese Entschließung wird in einer Betriebsversammlung am 24. August 1974 verlesen und an den Aufsichtsratsvorsitzenden sowie Mitglieder der Landesregierung von Baden-Württemberg und Bankenvertreter übermittelt. In Villingen-Schwenningen brenne die Luft, war die Einschätzung im Stuttgarter Wirtschaftsministerium. Brancheninsider gaben Kienzle keine Chance mehr. Aus dem Umfeld des Aufsichtsratsvorsitzenden wurden Gerüchte über einen Verkauf der Kienzle Uhrenfabriken an den Schweizer Uhrenkonzern Ebauches kolportiert. In dieser Situation hat Aufsichtsratsmitglied Walter Wiedmann,


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Rechtsanwalt aus Stuttgart, eingegriffen und zunächst separate Gespräche mit dem Betriebsrat, den Vertrauensleuten und der Geschäftsführung geführt, danach gemeinsame Gesprächsrunden initiiert. Er hat Erfolg damit. Die Situation beruhigt sich ein wenig. Der Betriebsrat stimmt weit reichenden Kurzarbeitsmaßnahmen und sogar einem Arbeitsplatzabbau zu. Der Aufsichtsrat entlässt die gesamte Geschäftsführung. Alfred Reif, der 1974 auf Drängen des Aufsichtsratsvorsitzenden als Produktionsexperte zur besonderen Verwendung in das Unternehmen geholt worden war, wird zum technischen Geschäftsführer bestellt. Reif war bis zum Jahre 1958 Betriebsleiter bei Kreidler Fahrzeugbau und danach zum Automobil-Zulieferer Bosch gewechselt. Zum kaufmännischen Geschäftsführer wurde Dr. Hans Börger berufen. Beide treten zum 1. Mai 1975 ihre neuen Positionen an. Insgesamt werden 700 Arbeitsplätze abgebaut. Die Lehrlingsausbildung wird im Laufe des Jahres 1976 dramatisch abgebaut, die große Ausbildungsstätte geschlossen. Im Jahre 1977 nimmt der frühere Präsident der Landeszentralbank Baden-Württemberg, Dr. Fritz Schiettinger, das ihm auf Vermittlung der Landesregierung angetragene Aufsichtsratsmandat an und leitet eine aufwändige Umschuldungskampagne ein, an der auch die IKB Düsseldorf beteiligt wird. Nach 18-monatigen Konsolidierungsarbeiten kündigten sich im Jahre 1979 erste Anzeichen einer nachhaltigen Verbesserung an. Die Finanzen habe man im Griff, stellt der damalige Geschäftsführer Alfred Reif fest. Die Tochtergesellschaften in Österreich und in den USA liefern befriedigende Gewinne nach Villingen-Schwenningen. Reif notiert eine positive Zwischenbilanz der Konsolidierung. Da stirbt am 9. September 1980 Alfred Kreidler. Der als äußerst diplomatisch geltende Walter Wiedmann übernimmt übergangsweise den Aufsichtsratsvorsitz. Fritz Schiettinger fungiert als sein Stellvertreter. Elisabeth Kreidler setzt die Berufung ihres Sohnes Axel in den Aufsichtsrat durch. Im Jahr 1981 überschlagen sich bei den Kienzle Uhrenfabriken die Ereignisse. Nach dem Tode Alfred Kreidlers müssen die Kreidler-Werke einen Liquidationsvergleich anmelden. Da die Erben Alfred Kreidlers Mehrheitsgesellschafter bei Kienzle sind, reagieren die Banken mit äußerster Skepsis. Mitte des Jahres bringen gleich zwei Ereignisse die Kienzle Uhrenfabrik an den Rand des Ruins. Zunächst wechselt Geschäftsführer Hans Börger nach Meinungsverschiedenheiten mit dem Testamentsvollstreckerrat


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zum größten Kienzle-Wettbewerber Junghans. Fachjournalisten sagten sofort das baldige Ende von Kienzle voraus. Aus dem Fachhandel kam die bange Anfrage, ob die Versorgung mit Ersatzteilen denn auch weiterhin sichergestellt sei. Außerdem sorgte eine Ausschreibung zum Verkauf von Kienzle, die der Testamentsvollstreckerrat getroffen hatte, für erhebliche Unruhe weit über die Branche hinaus. Der damalige Geschäftsführer Reif notierte, dass die Kienzle-Geschäftsführung über diese Ausschreibung nicht informiert gewesen sei und ganz beiläufig von Kollegen erfahren habe, dass Kienzle zum Verkauf stehe. Davon hat sich Kienzle bis zum tatsächlichen Verkauf an die Gesellschafter der Firma Andres Haller, Fabrik für Feinmechanik in St. Georgen, zum 1. Januar 1989 nicht mehr erholt. Immer wieder tauchten Verkaufsgerüchte auf und sorgten für tiefe Verunsicherung bei Fachhändlern und Endverbrauchern. Immer wieder wurden – offenbar aus dem Umfeld der Erbengemeinschaft Kreidler – Pläne über den bald anstehenden Verkauf kolportiert. Kienzle ist deshalb in den Jahren 1981 bis 1989 nicht mehr zur Ruhe gekommen. Als Aufsichtsratsvorsitzender war Mitte 1981 der Stuttgarter Rechtsanwalt Dr. Walter Sigle tätig. Er scheidet mit dem Verkauf an Haller aus dem Aufsichtsrat aus. Die Kienzle Uhrenfabrik GmbH wird in DUFA Deutsche Uhrenfabrik GmbH & Co. KG VS-Schwenningen umbenannt. Im Jahre 1930 hatte die Familie Kienzle bekanntlich die Deutsche Uhrenfabrik Popitz & Co KG in Leipzig aufgekauft. Waldemar Popitz wurde damals Vorstandsmitglied bei Kienzle für den Bereich Verkauf Inland. Auch nachdem durch die Umbenennung der Unternehmensname Kienzle verschwunden ist, hält sich der Markenname sehr nachhaltig und bleibt im Bewusstsein der Verbraucher und Fachhändler.


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4.2 BauchEntscheider und Unternehmensversteher Marco Hahn, der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Kienzle-AG, steht zu unkonventionellen Investitionsentscheidungen. Wer das Kienzle-Haus an der Heimhuder Straße im Hamburger Stadtteil Harvestehude betritt, wird sogleich von der notablen, aber unprätentiösen Atmosphäre hanseatischer Großkaufleute eingenommen. Das Haus gehörte früher einem Hamburger Gewürzhändler. Der ließ Einsprengsel römischer Baukultur mit typischen britischen Interieurs verbinden. Dadurch besitzt das Haus an der Heimhuder Straße eine Großzügigkeit und Leichtigkeit, die dem Eintretenden das Gefühl vermittelt, willkommen zu sein. Gleichzeitig wird noch in der Eingangshalle die Anmutung übermächtig, dass man es hier mit streng rechnenden Kaufleuten zu tun hat. Mit «Kaufmannsehre» ist die Wertewelt von Marco Hahn wohl am treffendsten beschrieben. Für ihn handelt es sich dabei nicht um einen Codex der reichen hamburgischen Kaufmannschaft. «Ich komme aus Flensburg, das ist weit weg von Hamburg», unkt Hahn gerne. Vielmehr geht es um gelebte Wertschätzung. Hahn schätzt Leistung und Engagement, Verlässlichkeit und Unabhängigkeit sowie wohltemperiertes Auftreten und zupackendes Verhalten. Er gilt als ausgesprochen rational denkender Mensch, behauptet aber von sich: «Ich lasse mich stark von meinem Bauch leiten.» Für ihn ist das kein Widerspruch, denn Verstandesentscheidungen ohne Gefühl bleiben fade und folgenlos. Seit 20 Jahren ist der 40-Jährige Unternehmer. Nach dem Realschulabschluss hat er eine Lehre als Industriekaufmann absolviert. «Und da war mir klar, dass ich etwas Eigenes auf die Beine stellen will», berichtet Hahn.

Fühlt sich der Marke Kienzle stark ver­pflichtet: Aufsichtsratschef Marco Hahn


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Es war die Zeit, als der Personal-Computer seinen Siegeszug antrat und auch die Welt der kleinen und mittleren Unternehmen revolutionierte. Der Mittelstand in Deutschland wurde für die Manager der Computerindustrie zur umworbenen Zielgruppe. Marco Hahn machte sich als Berater für verschiedene Softwarehäuser und einen Hardwarehersteller selbstständig. Mittelständlern in Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen verkaufte er Computerlösungen. Und das war ein Erfolgsrezept. Während seine Konkurrenten Softwarepakete, einzelne Computerprogramme oder Rechner an den Mann bringen wollten, hörte sich Hahn die Probleme der Mittelständler an, um dann eine Computerausstattung zusammenzustellen, mithilfe derer diese Probleme gelöst werden konnten. «Ich habe damit richtig viel Geld verdient», blickt er auf die Zeit in den 1980er-Jahren zurück. Und er konnte gutes Geld verdienen, weil seine Kunden mit den von ihm angebotenen Computerlösungen auch gutes Geld verdienten. «Nah am Kunden zu sein bedeutet, seine Probleme genau zu kennen», fasst er sein Erfolgsrezept zusammen. Um die Probleme des Kunden kennenlernen zu können, muss man sich auf ihn einlassen, offen auf ihn zugehen, ihm zuhören. «Das war das eigentlich Spannende», meint Selfmademan Hahn, «ich habe ganz verschiedene Menschen in sehr unterschiedlichen Branchen kennengelernt.» Von diesem Wissenskapital zehrt er noch heute, wenn er eine Investitionsentscheidung treffen muss. «Mir fallen dann oft Kundengespräche aus dieser Zeit ein, die einen Hinweis enthalten für die anstehende Entscheidung», erläutert Marco Hahn. Entscheidungsbasis ist dabei für ihn die Antwort auf die Frage, wie die anstehende Investitionsentscheidung wohl jeweils in den unterschiedlichen Branchen ausfallen würde. «Das führt mitunter zu unkonventionellen Investitionsentscheidungen», urteilt Hahn, «sogar zu Entscheidungen aus dem Bauch, aber immer auf der Grundlage von ganz viel Wissen und Erfahrungen aus den jeweiligen Branchen.» Entscheidungen aus dem Bauch, das sind für ihn Entscheidungen auf der Grundlage verdichteten Wissens. Dahinter stehen 20 Jahre Erfahrung als Unternehmer. Neben dem Wissenskapital hat Marco Hahn während seiner Zeit als Berater für die Computerbranche auch Finanzkapital angesammelt. «Von jeder verdienten Mark habe ich 80 Pfennig zurückgelegt, um sie später in eigene Unternehmungen zu investieren», beschreibt er seine Methode der Kapitalbeschaffung.


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4.2 Marco HahN

Auf dieser Grundlage hat Hahn ein ganzes Beteiligungsbündel aufgebaut. So hält er Anteile an Druckereien, Distributionsunternehmen, in der Finanzbranche und nach wie vor in der Computerindustrie. Dabei hat er sich stets von seinem «Beteiligungsinstinkt» leiten lassen und so manches Mal bei sogenannten Private-Equity-Experten für Erstaunen gesorgt. Auf dem Höhepunkt des Internet-Hypes etwa kaufte Marco Hahn eine Druckerei. «Mann, das ist doch Technologie von gestern und überhaupt nicht sexy», missbilligte ein Mitbewerber im Beteiligungsgeschäft seine damalige Entscheidung. Sie erwies sich nur wenige Jahre später als goldrichtig und bringt noch heute gute Gewinne ein. «Ich bevorzuge es, das Risiko auf breite Schultern zu stellen», gibt Hahn unumwunden zu. Er ist zwar nicht gerade ein ängstlicher Typ, aber er mag keine vermeidbaren Risiken. Und auch wenn er seine Entscheidungen gern aus dem Bauch heraus trifft, er rechnet Investitionen stets gründlich und mit äußerst spitzem Bleistift nach. Seine unprätentiöse Verbindlichkeit und die Offenheit, die man im Gespräch sofort spürt, sind die beiden Eigenschaften Hahns, an die sich seine Gesprächspartner sofort erinnern. Weil er Risiken gerne aufteilt, um sie zu minimieren, war er auch von der Idee begeistert, bei Kienzle einzusteigen. «Mit 40 Prozent war das im Jahr 2007 eine überschaubare Minderheitsbeteiligung, und die Marke Kienzle war für mich nur positiv besetzt», begründet er die Kaufentscheidung. Fortan faszinierte ihn Kienzle. «Das ist eine wirkliche Marke», gerät Hahn ein wenig ins Schwärmen und fährt fort: «Keine meiner Beteiligungen hat solch einen Fokus erreicht wie Kienzle, das macht unglaubliche Freude.» Gemeinsam mit seiner Ehefrau Claudia hat Marco Hahn vor wenigen Wochen ein ganz kleines Uhrenfachgeschäft mitten in der Provinz besucht. «Das war reiner Zufall», erzählt er, «wir waren da aus rein privaten Gründen, sahen wirklich schöne Uhren in der Schaufensterauslage und sind dann einfach in den Laden hineingegangen», sprudelt es aus ihm heraus. Seine Ehefrau fragte den Uhrmacher dann, ob er eigentlich auch KienzleUhren führe. «Dessen Miene hellte sich spürbar auf, der Blick bekam etwas Leidenschaftliches, und er bedauerte, dass er keine Kienzle-Uhren führe, aber die hätte er liebend gern im Angebot.» Unnötig zu erwähnen, dass dieser Uhrmacher jetzt Kienzle-Fachhändler ist. Diese Begeisterung für Kienzle-Uhren und die Marke Kienzle spornt Marco Hahn an. «Das gibt mir richtig Drive», meint er, «denn Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, die sind mir wichtig.» Und für


4.2 Marco HahN

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Kienzle wollen viele Menschen arbeiten. Hahn freut sich natürlich, wenn Kienzle gelobt wird. Noch mehr aber freut er sich, wenn Menschen mit Leidenschaft und Engagement bei Kienzle mitarbeiten wollen. Aus der Minderheitsbeteiligung von 40 Prozent ist inzwischen mehr geworden. «Das war auch nicht anders zu erwarten», kommentiert sein Kollege Stephan W. Kruse-Thamer. Inzwischen gehört die Kienzle-Aktiengesellschaft Marco Hahn zu 100 Prozent. «Das ist meine Marke», begeistert er sich. Er hat sogar seine Uhrensammlung verkauft, weil ihn nur noch Kienzle interessiert. «Da muss man sich eben entscheiden», meint Hahn. «Kienzle leben und eine andere Uhr tragen, das geht gar nicht», lautet sein knapper Bescheid. Mit Stephan W. Kruse-Thamer arbeitet er schon seit zehn Jahren im Beteiligungsgeschäft zusammen. Ihn holte er folgerichtig im Jahr 2007 auch ins Kienzle-Boot. Und gemeinsam mit Kruse-Thamer machte er sich an die notwendigen Aufräumarbeiten, welche die beiden binnen kürzester Zeit durchzogen. «Die Marke Kienzle mit Stephan gemeinsam weiterzuentwickeln fordert mich enorm heraus», sagt Marco Hahn. Durchschnittlich zwei Tage in der Woche widmet sich Hahn ausschließlich Kienzle. «So exzessiv war das bisher noch bei keiner Beteiligung», urteilt er. Aber viele Gründe sprechen für diesen hohen persönlichen Einsatz. «Die Marke ist einzigartig, und die Uhrenbranche ist auch etwas Besonderes», erläutert er. «Wir sind Kienzle», beantwortet er die Frage nach der Motivation für diesen hohen Einsatz. «Wir sind Kienzle», das sagen auch seine Mitarbeiter. Und ganz wichtig für dieses Wir-Gefühl ist das Kienzle-Haus an der Heimhuder Straße. «Das Haus repräsentiert die Marke und gibt dem Unternehmertum, das mit Kienzle untrennbar verbunden ist, eine Heimstatt», erklärt Marco Hahn. Deshalb fiel seine Wahl auf ein klassisches hanseatisches Kaufmannshaus. Denn das verkörpert die Kienzle-Tugenden, die Hahn sogleich aufzählt: «Solidität, Innovation, Tradition, Qualität und klassische Eleganz mit ungewöhnlichen Designelementen».


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4.3 Stephan W. Kruse-Thamer

4.3 Der Promotor und Uhrensammler Vorstand Stephan W. Kruse-Thamer sieht Kienzle nach wie vor als ein Familienunternehmen. Sein Vater ist Goldschmied und Juwelier in der dritten Generation. Zur Konfirmation hat er sich eine Junghans-Armbanduhr gewünscht und eine Kienzle bekommen. Als Werbefachmann hat er Marken wie Reemstma, Jever-Bier, Sony und Nivea betreut. In einer Modeagentur hat er die Modernisierung von Schiesser erfolgreich durchgesetzt. Jetzt will er den unbedingten Erfolg für Kienzle: Stephan W. Kruse-Thamer kennt die Sehnsucht der Deutschen nach Originalen und Marken und arbeitet erfolgreich damit. «Mein Sohn ist in der Reklame», hat sein Vater sich gern etwas abfällig geäußert, wenn er gefragt wurde, was Stephan W. Kruse-Thamer denn so mache. Natürlich hätte der Sohn Goldschmied und Juwelier werden sollen, wenn es nach dem Willen des Vaters gegangen wäre. «Aber ich habe schon als Schüler gewusst, dass mir für die Arbeit am Werkbrett die Begabung fehlt», erinnert sich Kruse-Thamer mit durchaus gemischten Gefühlen. Also ging es nach dem Abitur zunächst einmal an die Uni und von dort als diplomierter Kommunikationswirt in die Hamburger Agenturszene der wilden 1980er-Jahre. Die Einführung der Bildplatte, die umweltbewussten Öl-Manager von Texaco, der Börsengang von Beate Uhse – wenn etwas die Werbeszene bewegte, dann konnte man sich sicher sein, dass Stephan W. Kruse-Thamer dabei war.

Plädiert für den wohl überlegten Ausbau der Lifestyle-Marke Kienzle: Vorstand Stephan W. Kruse-Thamer


4.3 Stephan W. Kruse-Thamer

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«Ich bin eben den klassischen Werbeagenturweg gegangen», berichtet er, und das gewollte hanseatische Understatement hört man seiner Stimme deutlich an. «Man darf in Hamburg Erfolg haben, aber darf sich dafür nicht feiern lassen», hat Will Teichert, der frühere Leiter der Hamburger Akademie für Publizistik, einmal gesagt. Kruse-Thamer lebt das hanseatische Wertemodell mit allen Fasern seines Wesens. Bodenständig-solide als Grundorientierung und zurückhaltend-verbindlich im Umgang, genau diese Mischung hat den Erfolg der Agenturszene in den 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre ausgemacht. Diese Mischung lebt Kruse-Thamer als Vorstand bei Kienzle auch heute noch. Mit dieser Mischung hat er sich als Kommunikator einen Namen gemacht. 1998 hat er Marco Hahn auf einem Fest in Flensburg kennengelernt. Da war von Anfang an viel Sympathie im Spiel. «Wir denken auf der gleichen Wellenlänge», beschreibt Kruse-Thamer das Verhältnis. Marco Hahn hatte zu der Zeit schon einen Namen in der Beteiligungsbranche. Stephan W. Kruse-Thamer war Partner und Mitinhaber einer Werbeagentur und haderte ein wenig mit seiner Branche. «Das war die Zeit, in der die Agenturszene plötzlich so kurzatmig wurde», blickt er zurück und fährt fort: «Als Unternehmer müssen Sie aber langfristig denken, wenn Sie wirklich Erfolg haben wollen.» Da kam das Angebot von Marco Hahn gerade recht, in die Beteiligungsbranche zu wechseln und sich um den Markenaufbau von bisher recht unbekannten Unternehmen zu kümmern, die dauerhaft aber nur als Marke in ihren Marktsegmenten bestehen konnten. «Also habe ich meine Anteile an der Werbeagentur verkauft und bin bei Hahn eingestiegen», berichtet der Mitvierziger Kruse-Thamer. Für Systektum und Euroleasing konzipierte er die Markenkommunikation völlig neu und etablierte die Unternehmen gemeinsam mit Marco Hahn als anerkannte Marken in ihrem Segment. Kruse-Thamer blieb aber auch in dieser Funktion Unternehmer und beteiligte sich an Firmen der HahnGruppe. Als sich dann 2007 die Gelegenheit bot, bei Kienzle einzusteigen, zögerte er nicht lange. «Kienzle wird unser Meisterstück», war ihm sofort klar. Unverblümt zeigte er seinem Mitstreiter Marco Hahn aber auch die Konsequenzen der Entscheidung für Kienzle auf: «Wenn wir das jetzt machen, dann machen wir das die nächsten zwanzig Jahre.» Diese Perspektive konnte Marco Hahn aber nicht schrecken, im Gegenteil. Er antwortete prompt: «Das machen wir mit einem Generatio-


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4.3 Stephan W. Kruse-Thamer

nenvertrag.» Bestandteil dieses Generationenvertrages sind die zu diesem Zeitpunkt jeweils achtjährigen Söhne der beiden Entrepreneurs. «Wir haben die Vision entwickelt, dass wir eines Tages Kienzle an unsere Söhne übergeben und diese dann das Traditionsunternehmen weiterführen», erläutert Kruse-Thamer. Doch vor dem Einstieg bei Kienzle schauten die beiden sich die noch in Villingen-Schwenningen ansässige Rumpffirma an, besichtigten die Produktion und prüften natürlich mit großer Akribie die Bücher. Nach einigen Wochen waren sich die beiden einig: Kienzle ist ein wirkliches Original, das aber kräftig saniert und teilweise völlig neu aufgebaut werden muss. Gerade die Originalität Kienzles findet Stephan W. Kruse-Thamer ausgesprochen hilfreich für die Markenkommunikation. «Die Menschen sehnen sich nach Originalen und damit nach gut geführten Marken», lautet sein Credo. Mit dem Einstieg bei Kienzle änderte sich für Kruse-Thamer dramatisch viel. «Die Entscheidung für Kienzle ist eine Lebensentscheidung», findet er. Aus dem kreativen Kommunikator und dem umtriebigen Unternehmer ist ein Marken-Botschafter geworden. Dass der Markt nach einer guten Uhr zu einem guten Preis geradezu verlangte, war Kruse-Thamer klar. Dass Kienzle aber, trotz aller erheblichen Schwierigkeiten und teilweise vernichtenden Niederlagen, als Marke ein Name wie ein Donnerhall vorauseilte, wo immer der neue Kienzle-Vorstand vorsprach, hat ihn tief beeindruckt. «Ich habe so etwas wie eine weit reichende Verantwortung für die Tradition der Marke entwickelt», gibt er sich nachdenklich. Der passionierte Uhrensammler Kruse-Thamer saß an einem Herbstabend im Oktober 2007 vor seiner umfangreichen Sammlung und hatte sich schon fast entschieden, auf einer Abendveranstaltung, zu der er gleich aufbrechen wollte, eine Ebel zu tragen, als ihm plötzlich durch den Kopf schoss: «Stephan, das geht so nicht.» Der Kienzle-Vorstand wollte keine Ebel tragen. Er trug an diesem Abend eine Jakob Kienzle Edition Nr. 1. Seine Uhrensammlung hat Kruse-Thamer aber nicht verkauft. Er trägt allerdings nur noch Kienzle-Uhren. Letztere Entscheidung hat auch Marco Hahn getroffen. Die beiden haben darüber nie miteinander gesprochen. Aber die Entscheidung des jeweils anderen, nur noch Kienzle-Uhren zu tragen, haben beide erwartet. Als Uhrensammler schlägt das Herz von Stephan W. Kruse-Thamer natürlich für die Jakob Kienzle Edition. Aber er ordnet sie sofort ein. «Mit


4.3 Stephan W. Kruse-Thamer

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dieser Kollektion decken wir das obere Preissegment der Volksuhr ab», erklärt er und legt dabei die Betonung auf «Volksuhr». Das weckt Reminiszenzen an die 1956 von Kienzle auf den Markt gebrachte «Volksautomatic». Der Name war damals Programm. Denn Kienzle wollte damit eine Uhr für jedermann auf den Markt bringen. Die Volksautomatic war beileibe kein Billigartikel, sondern kostete fast ein durchschnittliches Monatsgehalt. «Aber diese Uhr war der kleine Luxus, den man sich leisten konnte», beschreibt Kruse-Thamer den wichtigsten Erfolgsfaktor dieser Uhr. Davon ist er auch in seiner Funktion als Kienzle-Vorstand beseelt: «Die Volksuhr müssen wir weiterleben lassen.» Das Programm einer Volksuhr auszubauen ist für Stephan W. Kruse-Thamer ein klarer Auftrag. Einer in seinen ziemlich langen Arbeitstagen, die in der Regel um 7 Uhr beginnen und mitunter um 22 Uhr noch nicht zu Ende sind. Wie so mancher passionierte Uhrensammler ist auch Stephan W. Kruse-Thamer ein Perfektionist. Deshalb stellt er die eigenen Konzepte für die Markenkommunikation immer wieder in Frage und prüft deren Tragfähigkeit stets aufs Neue. Damit fordert er die Mitarbeiter immer wieder zu Bewertung und Diskussion auf. Keine Frage, Kienzle bestimmt das Leben von Stephan W. KruseThamer. «Ich wache morgens mit Kienzle auf und gehe abends mit Kienzle ins Bett», fasst er zusammen. Aber für diesen Lebensinhalt hat er sich ganz bewusst entschieden und entscheidet sich immer wieder neu dafür. Seine Familie trägt die Entscheidung mit. «Die Marke Kienzle steht dafür», lautet die Familienmeinung.



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5. Werbung und Sponsoring Die Firma Kienzle hat eine Linie: keine unnötigen Experimente bei allen Firmenangelegenheiten. Zunächst bezieht sich dieser Handlungsgrundsatz selbstverständlich vornehmlich auf die Entwicklung und den Bau von Uhren beziehungsweise Uhrwer­ ken. Das Motto ist aber auch durchaus für die Werbung und das Sponsoring der Marke zutreffend. Denn Kienzle hat sich seit seiner Firmengründung in Bezug auf Werbung eher zurück­ haltend verhalten. Es fragt sich, ob ein anderes Verständnis von Werbung in der Firmenführung vorlag oder ob sie einfach nicht für genügend notwendig erachtet wurde. Für das Verständnis der Werbearbeit der Kienzle AG stellt sich also zunächst folgende Frage: Welche Auffassungen des Werbebegriffs gibt es und wie sah dieses Verständnis bei Kienzle aus? Grundsätzlich gilt Werbung als gezielte Beeinflussung der Menschen zu einem meist kommerziellen Zweck. Sprich, Kunden sollen animiert werden, Geld auszugeben. In der Werbung spricht der Werbende, also die Marke oder Firma, den Kunden an und will in ihm Bedürfnisse wecken. Durch emotionale oder sachlich informative Werbebotschaften lässt sich dieses Ziel auf verschiedenen Wegen erreichen. Wichtig ist, dass die Werbung die nötige Zielgruppe erreicht. Spricht die Werbung von Anfang an die falschen Personen an, so ist sie vergebens. Daher ist die Verwendung von Werbung auch sehr schwierig und muss auf unterschiedlichste Studien gestützt werden. Ihr Nutzen hingegen lässt sich leicht durch Studien und Verkaufsergebnisse belegen beziehungsweise widerlegen. Eine universitäre Forschung, die sich mit den Auswirkungen von Werbung auf den Konsumenten befasst, begann bereits 1915 an der Universität in Köln. Bei Kienzle war Werbung hauptsächlich getrieben von persönlichen Interessen der Verantwortlichen. Werbung war Chefsache. Eine nicht unübliche Strategie zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Daher wundert es nicht, dass neben der reinen Produktwerbung hauptsächlich Sportler gefördert wurden, die der Firmenführung sympathisch waren. Sei es nun durch ihre ausgeübte Sportart oder etwa durch ihre Person an sich.


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5. Werbung und Sponsoring

Zeitgenรถssische Darstellung der Kienzle Uhrenfabriken, 1913


5. Werbung und Sponsoring

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Auch scheint man in der Firmenführung die Vorteile des Sponsorings als günstiger erachtet zu haben. Denn das Sponsoring im Sport ermöglichte die Ansprache und Kontaktpflege einer Zielgruppe auf nicht kommerzieller Ebene. Personen und Image, beispielsweise von den Olympischen Spielen, wurden genutzt, um die eigenen Unternehmenswerte in den Vordergrund der Betrachter zu rücken. Durch Multiplikatoren wie Massenmedien, die bei den Olympischen Spielen 1936 zum ersten Mal eingesetzt wurden, hatte Kienzle zusätzlich die Möglichkeit, ein noch größeres Pu­blikum zu erreichen. Vergleicht man die Werbebestrebungen von Kienzle mit anderen Marken, kann aber festgestellt werden, dass diese Form der Produktanprei­ sung eher nicht der Politik des Unternehmens entsprach. Bis in die 1960erJahre etwa nutzte die Marke zum Beispiel das Thema Sponsoring nicht aus, und auch Testimonials waren nicht vorhanden. Dabei wurde bereits in den 1930er-Jahren die Wirkung prominenter Persönlichkeiten genutzt, um auf die eigene Marke aufmerksam zu machen. Die deutsche Hollywood-Schauspielerin Camilla Horn, bekannt geworden durch den Film «Faust – eine deutsche Volkssage», warb zum Beispiel für Elida-Glanz-Shampoo und der Pilot Ernst Udet für AlpinaUhren. Udet, wohl einer der bekanntesten Jagdpiloten des Ersten Weltkrieges mit der höchsten Abschusszahl nach dem Roten Baron, nutzte seinen Bekanntheitsgrad, um als Idol für Fliegeruhren herzuhalten. Eine Entwicklung, die Kienzle zu der Zeit nicht gesehen und damit nicht für eigene Zwecke genutzt hat. Man muss also feststellen, dass sich Kienzle, vor allem in der frühen Firmengeschichte, stets zurückhaltend gezeigt hat, wenn es darum ging, alle möglichen Werbemittel zu nutzen. Seit der Neugründung der Firma jedoch weicht man von dieser Linie ab, bringt Werbung in einem breiten Umfeld und nutzt alle zur Verfügung stehenden modernen Medien. Neben Hörfunk- stehen TV-Werbung und Printwerbung, um den Bekanntheitsgrad und Sympathiewert der Marke zu steigern.


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5. Werbung und Sponsoring

Uhrenkatalog von 1908


5.1 1920–1945

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5.1 1920–1945 Als Johannes Schlenker 1822 mit dem Bau von Uhren begann, war Werbung noch weitgehend unbedeutend. Doch es entwickelte sich schnell die Erkenntnis, dass durch eine umfangreiche Außendarstellung des Unternehmens zusätzliche Käufer gefunden werden konnten. Kommunikation, zu der letztlich auch die Werbung gehört, war ein Thema, das bei Kienzle stets beachtet wurde. Umfangreiche Mitarbeiterzeitungen und Informationsblätter zeugen davon. Sie sind das Manifest dafür, dass der Darstellung und Kommunikation durchaus ein großer Stellenwert beigemessen wurde. Dieser beschränkte sich jedoch zunächst auf eine interne Darstellung der Firmengeschehnisse und Werte. Nach außen stellte sich die Marke vornehmlich durch zwei Dinge dar: durch ihre Produkte und ihre Marken- sowie Firmennamen beziehungsweise Logos. So ist neben dem Kienzle-Schriftzug, den bis heute jede Uhr trägt, die Flügelradmarke ein wichtiges Logo des Kienzle Uhrenkonzerns. Der Namensschriftzug wurde in den verschiedenen Jahren der Firmengeschichte immer wieder dem Einfluss von Trends unterworfen und angepasst. Ursprünglich stammte das Namenslogo von Jakob Kienzle selbst. Er hatte es geschrieben. Als in der Nachkriegszeit die Firma diskutierte, ein modernes Auftreten zu gestalten, änderte man den Namen. Fortan wurde er nur noch in Druckbuchstaben geführt wie auf dem KienzleFirmenschild. Heute gibt es beide Versionen. Um Werbung im heutigen Sinn war es zunächst recht still. Erst im Jahr 1923 weisen erste Firmenaufzeichnungen darauf hin, dass man von einer Mund-zu-Mund-Propaganda abwich und auf den Einsatz von Werbung in Zeitungen setzte. Zu dieser Zeit sorgten die staatliche Regulierung und die wirtschaftliche Situation im Land dafür, dass viele Firmen mit Werbemaßnahmen eher vorsichtig umgingen und die Ausgaben herunterfuhren. Die Weckerreihe «Tam-Tam» war die erste Serie des Hauses, die umfassend beworben wurde. So schreibt Helmut Kienzle in einem Firmenmemo: «Mit großer Sorgfalt und bedeutenden Kosten haben wir für die drei Brüder Tam-Tam in allen Ländern Reklame entfaltet. Diese Wecker sind hierdurch bei der Kundschaft gut eingeführt worden.» Tatsächlich wurden die Wecker zu einer der erfolgreichsten Serien des Unternehmens. Der Name war, ähnlich wie die Marke «Flügelrad», weltbekannt. 1929 beträgt der Werbeetat 200 000 Reichsmark. Gemäß Statisti-


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5.1 1920–1945

Die Weckerreihe Tam-Tam ist die erste Uhrenkollektion, die international beworben wurde. Anzeige von 1925


5.1 1920–1945

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1925: das berĂźhmteste Produkt aus dem Hause Kienzle: Tam-Tam


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5.1 1920–1945

schem Bundesamt sind dies heute, verglichen an Kaufkraft, rund 72 000 Euro. Obwohl es sich, bezogen auf den Umsatz des Hauses zur damaligen Zeit, nur um rund 2 Prozent handelt, ist dies eine hohe Summe. Denn schließlich muss bedacht werden, dass die Umstellung von einem Hersteller- zum Kundenmarkt erst sehr spät stattgefunden hat und Kienzle mit seinem Produkt eher am Rand des Werbespektrums lag. Der Durchschnitt der Werbeausgaben zu dieser Zeit lag bereits bei 5 Prozent des Firmenumsatzes. Andere Zweige wie beispielsweise Lebensmittel- und Automobilindustrie sowie Drogeriemarken lagen teilweise sogar bei rund 40 Prozent. Marken wie Odol, Maggi, Nivea oder Tempo traten massiv in Zeitungsanzeigen auf. Dies sorgte dafür, dass sie noch heute als Synonym für bestimmte Artikel verwendet werden. Es zeigt sich also, dass die Firmenleitung von Kienzle eher vorsichtig mit Werbung und vor allem den dazugehörigen Ausgaben umgegangen ist. Die Werbung in der NS-Zeit zeigte gewisse Charakteristiken, die auf die staatliche Kontrolle zurückzuführen waren und sich auch auf die Art und Weise der Kienzle-Werbemaßnahmen auswirken sollten. So wurde selbst unpolitische Werbung politisiert und für Propagandazwecke genutzt. Bei Bausparverträgen der Sparkasse wurde etwa an das deutsche Heimatgefühl appelliert und damit ein nationalsozialistischer Bezug hergestellt.

Der Kienzle-Werbewagen soll Fachhändlern die Uhrenpräsentation bis vor die Ladentür bringen.


5.1 1920–1945

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Ein Großereignis in Deutschland wurde daher auch zur bis dahin größten Werbeaktion von Kienzle. So stellte die Kienzle Uhrenfabrik für die Olympischen Spiele 1936 einen Ausstellungs-Lkw. An den Wänden des Lkw war der Namensschriftzug angebracht. Ob die Firma auch Gelder in die Staatskasse zur Finanzierung der Spiele fließen ließ, ist nicht belegt. Neben der Euphorie im Lande und der Aufregung der Teilnehmer vor diesem sportlichen Großereignis muss man sich jedoch auch fragen, ob eine Beteiligung an einem derartigen Event gerechtfertigt war. Denn Adolf Hitler gab während der Vorbereitungen der Spiele Versprechungen und Presseerklärungen ab, dass die Spiele und deren Teilnehmer in keinerlei Weise eingeschränkt werden würden, widerrief diese Zusagen aber schon kurz vor Beginn der Spiele. Eine Parallele zu den Olympischen Spielen 2008 in China liegt nahe. Denn auch hier beteuerten Veranstalter, Sportler sowie Sponsoren, dass es sich schließlich nur um Sport handle. Ähnlich wie bereits damals entzogen sich Sponsoren und auch Sportler ihrer politisch moralischen Verantwortlichkeit. In beiden Fällen hat sich gezeigt, dass alle Versprechungen des Landes schnellstmöglich revidiert wurden. So wurde unter anderem im März 1936 die entmilitarisierte Zone wieder besetzt und kurz vor Beginn der Spiele allen jüdischen Sportlern aus Deutschland die Teilnahme an der Olympiade versagt.

Nach einigen Misserfolgen wird das Konzept des oben abgebildeten Wagens auf andere Transportmittel adaptiert.


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5.1 1920–1945

Kienzle-Werbemarken


5.1 1920–1945

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Die Geschichte hat aber auch ihre positiven Seiten. Denn der Lkw war nicht einfach nur ein bloßes Werbemittel, sondern konnte gleichermaßen die Spiele retten. Als bei einem Wettkampf der Strom ausfiel und die Austragung des Wettkampfes zu scheitern drohte, konnte das Notaggregat des Kienzle-Werbewagens den notwendigen Strom liefern, um das Event doch noch möglich zu machen. Dann kam der Zweite Weltkrieg, und mit der Welt geriet auch Kienzle in eine Krise. Die Produktion wurde schnell auf kriegswichtige Geräte umgestellt. Auch die Werbung orientierte sich an diesen Umständen. So wurde zum ersten Mal der «Volksempfänger» genutzt, um massive Publikumswerbung zu platzieren. 1939 fand die erste Radiowerbung von Kienzle statt. Im September des gleichen Jahres strahlte das Unternehmen die Sendung «Deutsch die Uhr, deutsch der Klang» aus. Die politische Richtung zeigt sich schon im Namen der Sendung, die überraschenderweise für eine Werbung sehr lang ist. Fast drei Minuten spricht der Sprecher und preist die neuen Schlagwerke der Kienzle-Uhren an. Für diese hatte man einen neuen Gong entwickelt, der sich nun an altem deutschem Liedgut orientierte und die mutmaßlich schlechten ausländischen Titel und Melodien ausließ. In dieser Werbung zeigen sich, neben der Erkenntnis des unschätzbar großen Werbepotenzials eines Radios, zwei weitere Dinge: die Liebe des Firmengründers zur Musik, die sich auch auf spätere Sponsoringaktivitäten auswirken sollte, und natürlich der fremdenfeindliche Hintergrund und Tenor, der zu dieser Zeit im Dritten Reich vorherrschte. In dieser Zeit stellte Kienzle nicht nur Uhren für die Kriegsmarine des Landes her, sondern auch verschiedene andere Zeitmesser, darunter Zünder für Granaten und Torpedos. Auch die Uhren der SS-Grenadiereinheit «Leibstandarte Adolf Hitler» waren ein Produkt aus der Kienzle Uhrenmanufaktur. Neben diesen Aufträgen hatte das Haus aber auch normale Werbemittel zur Verfügung gestellt, um beispielsweise den eigenen Handelsreisenden mehr Möglichkeiten zur Auslandvertretung zu geben. Die Beträge, die dazu zur Verfügung standen, wurden erhöht und der Return on Investment (RoI) als außerordentlich gut eingestuft. In dieser Zeit hatte das Unternehmen in den USA eine Dependance gegründet und war sehr zufrieden über die Anläufe des Geschäfts in Übersee. Mit dem Beginn des Weltkrieges endete jedoch die positive wirtschaftliche Lage.



5.2 Nach dem zweiten Weltkrieg

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5.2 Werbung und Sponsoring nach dem Zweiten Weltkrieg Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet Kienzle vollständig in die Krise. Lieferengpässe bei den Rohmaterialien führten dazu, dass eine neue Produktion nur schleppend aufgenommen werden konnte. Trotz vorliegender Aufträge ging der Umsatz zurück. Auch die laufenden Enteignungen machten die Aufnahme der Produktion schwierig, da man Maschinen verlor und damit gesamte Bereiche aufgeben musste. Es dauerte daher lange, bis die Produktwerbung wieder aufgenommen wurde. 1950, mit Beginn des Koreakrieges, setzte der eindeutige wirtschaftliche Aufschwung der Marke ein. Zwar wurden Uhrmacher vornehmlich durch die Preissenkungen von 10 bis 15 Prozent verärgert, aber die immer größer werdende Nachfrage zwang sie dazu, Kienzle-Uhren zu ordern. Der Exportanteil stieg auf 38 Prozent des Umsatzes an, und umfangreiche Werbeprojekte wurden initiiert. 1952 bringt die Firma den «Kienzle Uhren Reporter» heraus. Das Blatt soll für Uhrmacher und Liebhaber gleichermaßen Informationen bereitstellen. Die Schrift berichtet über Neuheiten, Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Uhrmachergeschäft und erfreut sich großer Beliebtheit. Durch den immer größer werdenden Stellenwert von Werbung, besonders den im Fernsehen gesendeten Werbespots, sah sich Kienzle dazu gezwungen, ebenfalls die Werbemaßnahmen zu verstärken. Die Kommunikation eindeutiger Markenziele und ein ausdrücklicher Hinweis auf die Qualitätsmerkmale der Marke sollten neue Kunden ansprechen und zum Kauf animieren. Der Werbespruch «Ein Fingerzeig beim Uhrenkauf: Steht Kienzle drauf?» wurde geboren. Die ausschließliche Belieferung des Fachhandels kam bei der Käuferschaft gut an und wurde mit hohen Absatzzahlen honoriert. Der Werbeetat, im Haus auch «Reklame-Etat» genannt, wurde auf umgerechnet eine Million Euro aufgestockt. Die beauftragte Werbeagentur Lorz aus München gab die Empfehlung, die Werbung zugunsten der Grossisten und des Publikums zu vertiefen. Der Markengedanke solle hervorgehoben und vertieft werden. So gelang es, die Niedrigpreisarmbanduhr «051» als Markenartikel zu etablieren.

Autouhren-Werbung aus dem Jahre 1968


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5.2 Nach dem zweiten Weltkrieg

1953 war die Kienzle-Publikumswerbung auf zwei Produktreihen ausgelegt: Wecker und Armbanduhren. In der Anfangspreislage bot Kienzle einen Wecker für 7,80 DM und eine Küchenuhr für 17,50 DM an. Die Werbung zeigte sich erfolgreich. Nach eigener Studie im Jahr 1959 reagierten 94 Prozent der Befragten positiv auf die Wortbildmarke «Kienzle» und konnten sie mit dem Wort «Uhr» in Verbindung bringen. Nachdem bereits wichtige deutsche Firmen umfangreiche TV-Werbung gestartet hatten, zog nun auch Kienzle nach. 1960 erstellt das Unternehmen den ersten Werbespot im Fernsehen. 1961 wird die Wortmarke Kienzle geändert. Nach Jahren der Tradition entschließt sich die Firmenleitung für den Weg in die Moderne. Der handschriftliche Namenszug wird in Druckbuchstaben geändert. Daneben wird eine große Uhrensammlung an die Stadt Stuttgart gegeben. Am 17. Februar 1961 wird das Uhrenmuseum eingeweiht. Die Uhren wurden vor allem von Hellmut Kienzle und seiner Frau Inge zusammengetragen. Inge Kienzle war ihrerseits erfolgreiche Skiläuferin und nutzte die Zeit zwischen ihren Rennen, um im Schwarzwald auf Uhrensuche zu gehen. An dem Erfolgsprojekt «Werbewagen» wurde zunächst festgehalten. Mittlerweile nannte die Uhrenmarke ihren fünften Lkw mit Schriftzug und Werbematerial ihr Eigen. Die Neuausrichtung der Werbung mit einem Auftritt im Fernsehen machte es notwendig, die nötigen Geldmittel aufzustocken. 4,6 Prozent vom Gesamtumsatz gab Kienzle nunmehr für Werbekampagnen aus. Dies war nach wie vor ein relativ verhaltener Etat. Schließlich gaben viele Firmen bereits in den 1930er-Jahren rund 5 Prozent ihres Gesamtumsatzes für die Werbung aus.


5.2 Nach dem zweiten Weltkrieg

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Ein Wettbewerb holt Kunden mit ins Boot. Wichtige Informationen wurden gewonnen und in die Produktentwicklung integriert.

1963 schaffte sich die Manufaktur einen weiteren Wagen für 100000 DM an und intensivierte die Fernsehwerbung abermals. Allein in den Monaten von Januar bis April liefen knapp 40 Werbespots im Fernsehen, die auf die Firma Kienzle aufmerksam machen sollten. Interessante Projekte lieferte das Geschäftsjahr 1964. Neben der Erweiterung der Werbemaßnahmen wurde ein gemeinsames Werbeprojekt mit anderen Uhrenmarken umgesetzt. Zusammen mit Junghans, Mauthe und Diehl startete das Unternehmenstrio eine großflächige Werbekampagne für Facheinzelhändler. Mit dem Motto «Gute Uhren tragen gute Namen» warben die Marken gemeinsam beim Verbraucher um die Kaufleidenschaft. Daneben interessierten sich Fernsehsender für das jüngst entstandene Uhrenmuseum und waren zu Gast bei Kienzle, was zusätzlich für Pu­ blicity sorgte. 1967 erreichte Kienzle den höchsten Mitarbeiterstand seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch die Umsatzzahlen waren gut. Knapp 10 Prozent Zuwachs konnten verbucht werden. Die Werbeausgaben wurden ein weiteres Mal erhöht. 2,52 Millionen DM stellte der Vorstand im darauffolgenden Geschäftsjahr 1968 für Kampagnen zur Verfügung. 1971 griff die Marke ein altbewährtes Werbekonzept wieder auf und lancierte Uhren zur Olympiade. Der «Kienzle Stop-Timer» war an die


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5.2 Nach dem zweiten Weltkrieg

Das Erfolgskonzept Olympia wurde 端ber die Jahre hinweg immer wieder belebt. Abb.: Armbanduhr zu den Olympischen Spielen in Sapporo, Japan


5.2 Nach dem zweiten Weltkrieg

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Winterspiele in Sapporo, Japan, angelehnt und wurde in allen Bereichen beworben. Daneben startete Kienzle eine neuartige Konsumentenbefragung, um den Uhrengeschmack der Kunden noch besser einschätzen zu können. Die «Kienzle-Wunsch-Uhr-Aktion» wurde ins Leben gerufen. Prospekte mit insgesamt 98 Uhren aus dem Programm wurden an Geschäfte und Fili­ alen verteilt. Kunden erhielten die Möglichkeit, Gedanken und Wünsche aufzuschreiben und an Kienzle zu schicken. Insgesamt gingen so 35000 Verbraucherurteile bei Kienzle ein, die daraufhin ausgewertet wurden. Bei der Gewinn-Ausschreibung zog Glücksfee Heide Rosendahl vom Glücksrad die Gewinner. Die Werbekosten beliefen sich in diesem Jahr auf 2,61 Millionen DM. Durch die Erhöhung der Werbegelder erhoffte sich die Firmenleitung eine Steigerung im Absatzmarkt bei den sogenannten Domestik-Uhren. Hier hatten die Rechnungen ergeben, dass eine Kostendeckung wesentlich schneller zu erreichen wäre als bei anderen Uhrensparten. Um diesen Plan zu verwirklichen, intensivierte man nochmals die Fachhandelswerbung. Über 1000 Fachhändler wurden bei dieser Kampagne mit den neuen Ideen und Marketingstrategien bekannt gemacht und zum Kauf von Kienzle Uhren animiert. Für diese groß angelegte Werbeaktion wurden neue Werbeslogans und Headlines entworfen. Sie sollten der Marke Aufwind geben. So wurden beispielsweise die Alfa-Modelle mit dem Slogan «die preiswerten Modelle für jung und alt» beworben. Sehr zum Bedauern der Firmenleitung war diese Werbekampagne weniger erfolgreich als erhofft. Obwohl viele gute Ideen konzipiert wurden, kam die Umsetzung den eigenen Zielen nicht nach. Lieferengpässe und daraus resultierende Unpünktlichkeit machten den Werbeerfolg teilweise zunichte. Auch Qualität und Preis ließen sich schwerlich mit der gemachten Werbeaussage kombinieren und dem Konsumenten schlüssig beibringen. Der Erfolg der Aktion blieb daher gering. Bei den Olympischen Sommerspielen sponserte die Kienzle AG Heidemarie Rosendahl. Die 1947 geborene Leichtathletin gewann bei den Spielen insgesamt zwei Goldmedaillen und eine Silbermedaille. Heide Rosendahl galt zu dieser Zeit als beliebteste Sportlerin Deutschlands. Ihr gelang es, bei den Spielen in München die erste Goldmedaille für die deutschen Athleten zu gewinnen. Sie siegte im Weitsprung mit 6,78 m und verwies die Bulgarin Diana Jorgowa damit auf den zweiten Platz. Ein Jahr vor


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5.2 Nach dem zweiten Weltkrieg

Fast alle berühmten Automarken hatten eine Kienzle-Uhr im Wagen Abb.: Werbung von 1968.

ihrem Karriereende wurde die Weitspringerin ebenfalls als Sportlerin des Jahres ausgezeichnet. Insgesamt gewann sie innerhalb ihrer aktiven Zeit allein 40 deutsche Meistertitel. Die werbewirksame Ikone des deutschen Sportes legte allerdings bereits 1973 ihr Amt nieder und heiratete einen bekannten Basketballspieler, sodass zukünftige gemeinsame Werbeaktionen ausblieben. 1973 erschwerte sich die wirtschaftliche Lage für die Uhrenfabrik drastisch. VDO kündigte den Vertrag über Auto-Uhren. Dadurch war Kienzle gezwungen, massive Einsparungen vorzunehmen. Arbeitsplätze mussten rationalisiert werden. Dies betraf nicht nur die Kienzle-Fabriken, sondern auch die Zulieferer der Marke. Die Werbeausgaben mussten erneut beschränkt werden. Mit 2,52 Millionen DM lagen sie fast 20 Prozent über dem firmenintern aufgestellten Maximum und waren zu einem erheblichen Kostenfaktor geworden, den es nun zu senken galt. Die Misere konnte allerdings so schnell nicht weiter gestoppt werden und verschlimmerte sich sogar noch. Bereits ein Jahr später war die wirtschaftliche Lage des Unternehmens so schlecht, dass der Bestand gefährdet war. Die Umsätze gingen nach einer ursprünglichen Umsatzplanung


5.2 Nach dem zweiten Weltkrieg

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um 20 Prozent zurück. Real wurden Umsatzrückgänge von ca. 8,5 Prozent verzeichnet. Trotzdem konnten nochmals 2,4 Millionen DM für einen Werbeetat bereitgestellt werden, um die Produkte den Verbrauchern näher zu bringen. Diese hatten sich in letzter Zeit vielfach für andere Marken entschieden. Hauptgrund dafür, so die Firmenleitung, schienen die Pro­bleme bei der Lieferfähigkeit der einzelnen Produkte zu sein sowie die mittlerweile nicht mehr zeitgerechte Qualität der Uhren. Das Marken­ image war stark beschädigt und musste dringend wieder gestärkt werden. Doch die Lähmung im Betrieb sowie die immer stärker werdende Konkurrenz machten eine Verbesserung der Lage schwierig. Die Krise hielt noch weitere Jahre an. Werbemaßnahmen wurden auf ein Minimum beschränkt und ein Großteil des Budgets eingefroren. 1977 betrugen die Ausgaben für alle Werbebereiche gerade einmal 850 000 DM. Joint Ventures, vor allem im asiatischen Markt, und eine Mischkalkulation brachten das Unternehmen allerdings wieder auf Erfolgskurs. Eine Werbepremiere wurde gefeiert, deren Grundidee bereits im Werbe-Lkw von 1936 begründet war: die Kienzle-Uhren-Schau. Hierzu hatte das Unternehmen einen Waggon der Deutschen Bundesbahn umgerüstet und zu einer Werkschau ausgebaut. Das ganze KienzleUhren-Sortiment war in dem umgebauten Salon des Wagens zu bewundern. Insgesamt besuchte der Waggon 42 deutsche Städte. Dabei hatten die Fachhändler die Möglichkeit, von 10 bis 22 Uhr Kienzle-Produkte mit einem Rabatt zu ordern und sich von Qualität und Design der Zeitmesser zu überzeugen. Die Werbung zeigte schnell Erfolge. Marketingleiter Terhalle war mit seiner Kampagne zufrieden. Sie sorgte dafür, dass ein Großteil des Verbraucher- und Händlervertrauens zurückgewonnen werden konnte. Der Erfolg des Bahnwaggons schien sich als ausgemachter Glücksgriff zu entpuppen und füllte erneut die Orderbücher. Damit war das Konzept, die Werbewagenstrategie auf eine andere Beförderungsart mit mehr Reichweite und Möglichkeiten zu adaptieren, geglückt. Schließlich hatte der Erfolg der Kienzle-Lkws lange angehalten, war in letzter Zeit aber deutlich eingebrochen und hatte so die Vertriebs- und Marketingleitung dazu veranlasst, sich nach Alternativen umzusehen.



5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke

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5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke Die Werbung der 1980er-Jahre ist gekennzeichnet durch Fotoshootings und Kampagnen, die an das Lebensgefühl und den Lifestyle der Menschen appellieren. Die Reihe «Swing» etwa erinnert nicht allein durch ihren Namen an den gleichnamigen Musikstil, sondern soll ganz unzweifelhaft auch an die mit dem Swing verbundene Lebenseinstellung appellieren. Swing, als Unterart des Jazz bekannt, gilt als lebhafte Musikrichtung mit einem Rhythmus, der über den normalen Vier-Viertel-Takt hinausgeht. Swing ist lebendig, lebensfroh. So soll auch die Marke auftreten. Die Fotos der Serie zeigen daher Menschen in unterschiedlichsten Posen. Freudestrahlende Models blicken auf den Kunden, springen umher, tanzen, lachen und vermitteln das Lebensgefühl der 1980er-Jahre. Mit der Reihe durchbrach Kienzle erstmals den Stil anderer Werbungen, die sich als eher konservativ unaufdringlich beschreiben lassen. Die in den 1970er-Jahren etablierte Geschenk-Kampagne zum Beispiel zeigte stets Uhren in Weihnachts- oder Geburtstagsverpackung. Schleifen und Bänder waren um die einzelnen Werke gewickelt und sollten Uhrenliebhaber animieren, die Zeitmesser als Geschenk für die Liebste oder den Liebsten zu kaufen. Die Werbefotos sind dabei Stillleben mit ruhigem Hintergrund wie beispielsweise Couch- oder Küchentisch Trotz der Lebendigkeit des durch die vorangegangene sexuelle Revolution der 68er-Generation und Emanzipation gekennzeichneten Jahrzehnts bleibt die Werbung der Kienzle-Uhren bodenständig und ruhig. Vielleicht sogar, um in dieser wilden Zeit einen Gegenpol darzustellen und zu zeigen, dass auf Kienzle Verlass ist und die Experimente der Jugend ein anderer Teil deutscher Geschichte sind. Hippies, Langhaarfrisuren und moderner, freizügiger Lebensstil waren Dinge, mit denen sich Kienzle-Uhren zu diesem Zeitpunkt noch nicht zusammenbringen ließen. Vielmehr standen die Uhren für Beständigkeit, Wertigkeit, Zuverlässigkeit und deutsche, wenn auch industrielle Handwerkskunst. Es zeigt sich, dass sich diese Ansicht in den 1980er-Jahren wesentlich ändert. Kienzle durchläuft einen Wandel, der sich auch in der Ausrichtung der heutigen Firmenführung erkennen lässt. Kienzle wandelt sich von einer ehemaligen traditionellen deutschen Marke zu einem Hersteller von Lifestyle-Produkten mit großer Diversifikation. In den 1980ern etablierten sich unterschiedlichste Lebensstile in


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5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke

Deutschland. Besonders bemerkenswert war das aufkommende Kulturphänomen der Yuppies (Young Urban Professionals), die wohl aus heutiger Sicht als Urtyp des Lifestyle-Menschen verstanden werden können. Dieser Menschentyp machte den Genuss wieder salonfähig. Der Yuppie stand für die gehobene Mittelschicht mit genügend Einkommen, um an den schönen Dingen des Lebens teilzuhaben. Diese Professionals hatten gute Jobs und konnten mit ihrem Gehalt ihr Leben schön gestalten. Der Genuss von Wein, Whisky und vor allem der Kauf von Lebensgefühl in Form schöner Dinge, auch alltagstauglicher Gegenstände, standen im Vordergrund. Mit der Werbung und der neuen Ausrichtung sollten besonders modebewusste Menschen angeregt werden, sich auf die Traditionsmarke einzulassen. Hier wurde ein Konzept entwickelt, das bis dato so noch nicht vorhanden war: nämlich die Verschmelzung von Lebensgefühl und Moderne auf der einen und von Tradition und Handwerkskunst auf der anderen Seite. Was heute für Luxus-Uhrenmarken wie Breguet, Patek Philippe oder Breitling ganz selbstverständlich ist, zeigt sich hier auch bei Kienzle. So sollten die neuen Kampagnen an das Modebewusstsein der Zeit, an die Kauflust appellieren und die Firmentradition an die handwerklich gehobene Arbeit und damit an das Qualitätsbewusstsein der Käufer. Die Werbekosten stiegen daher in den folgenden Jahren nochmals an. Gab der Konzern 1983 noch 1,62 Millionen DM für Werbung aus, um den Umsatz zu steigern, waren es 1986 bereits 3,35 Millionen DM. Dieser Betrag konnte durch ein umsatzschwaches Jahr allerdings nicht lange gehalten werden und musste bereits im darauffolgenden Jahr wieder auf


5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke

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2,41 Millionen gesenkt werden. Bedenkt man, dass die Marke mit diesem Etat unterschiedlichste Sparten bewerben musste, wie etwa Uhren und Kaliber, Bürk-Zeitsysteme, Wiego-Kaffeemaschinen, Elektro-Kleingeräte und andere Kunststoffspritzteile, sind die Werbekosten verglichen mit anderen Unternehmen nach wie vor sehr gering. Sicher liegt auch hier ein Grund, der zu den späteren geschäftlichen Misserfolgen geführt hat. Zum 1. Januar 1989 ergab sich eine weitere wesentliche Änderung im Konzern, der auch vor der Werbung nicht haltmachte. So wurde Kienzle als Marke unter ein neues Firmendach gestellt und war ab sofort Mitglied der Deutschen Uhrenfabrik GmbH & Co. KG, kurz Dufa genannt. Zwar änderte sich an Vertrieb und Markenauftritt dadurch zunächst wenig, allerdings wird die große Produktpalette noch einmal klarer und zeigt auf, wie wenig Werbemittel letztlich für die einzelnen Warenbereiche bereitgestellt werden konnten. So belief sich der Werbeetat im Jahre 1991 auf nur 1,05 Millionen DM und verkündete die wirtschaftlich immer schwieriger werdende Lage des Unternehmens. Vergleicht man die Ausgaben mit anderen Konkurrenten der Zeit, wie beispielsweise dem Erfolgsunternehmen Swatch, zeigt sich, dass Kienzle stark in die Krise geraten war. Swatch beispielsweise hatte bei Markeneinführung allein für ein Werbebanner am Gebäude der Commerzbank in Frankfurt 150 000 DM gezahlt. Hier zeigt sich, dass Kienzle nicht mit den modernen Marken mithalten konnte und die Umsätze so stark einbrachen, dass auch eine größere und notwendige Werbung unmöglich war. Mit ein Grund für die hohe Konkurrenz war sicherlich auch die wenig gelungene Umstellung auf eine Lifestyle-Marke. Denn Konkurrenten wie beispielsweise Swatch gingen wesentlich offensiver mit dem Thema um und schafften es, sich schnell zu etablieren. Obwohl günstig hergestellt und handwerklich wenig anspruchsvoll wurde die Uhr zu einem absoluten Modeobjekt und von Jung wie Alt, gleich welcher Berufsgruppe, getragen. Dieser Umstand wirkte sich deutlich auf die Projekte bei Kienzle aus, wo der Konkurrenzdruck auch immer wieder in firmeninternen Dokumenten besprochen wurde. Als letzte große Sponsoringmaßnahme der Kienzle Uhrenfabrik wurde Katja Seizinger gesponsert. Die Ski-Fahrerin sollte für Deutschland bei den Olympischen Spielen Gold gewinnen. «Es wäre toll, wenn Katja bei den Olympischen Winterspielen auf dem Treppchen stünde», freute sich Geschäftsführer Otto Hott über die Zusammenarbeit. Sein Wunsch erfüllte sich und Katja Seizinger holte die Bronzemedaille bei den Olympischen



5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke

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Spielen in Albertville 1992. Hier bleibt Kienzle den Wurzeln treu und zeigt abermals, dass die Sponsoring-Etats hauptsächlich von persönlichen Interessen und Sympathien angetrieben werden. Während andere Firmen sich in der Werbung und im Sponsoring bereits auf die Lifestyle-Themen bezogen, wie Avionik, Motorsport und Ähnliches, blieb Kienzle standhaft und investierte in eine doch eher am Rande wahrgenommene Sportart. Kurze Zeit später musste das Unternehmen aufgelöst werden und wurde an einen Investor in Hongkong verkauft. Seit der Neugründung im Jahr 2005 versucht das Unternehmen, sich an der zuletzt entwickelten Werbestrategie auszurichten und diese konsequenter durchzusetzen. Die Struktur der Produkte ist darauf ausgelegt, dass zwei Hauptsparten als Einkommenszugpferde auf dem Markt bestehen und eine dritte als Imagegenerator danebensteht, um der Marke die nötigen Attribute für ein erfolgreiches Marketing zu verschaffen. Werbekampagnen finden multimedial statt und zeigen hauptsächlich die Werte, die Kienzle wieder vornehmlich in den Fokus der Konsumentenöffentlichkeit stellen will, nämlich deutsche Uhrmacherkunst, große Komplikationen und hochwertige Verarbeitung. Die Luxusserie soll Uhrenliebhaber an die Tradition des Unternehmens erinnern und sie zum Sammeln, Kaufen und Wertschätzen der Marke animieren, die sich seit über 100 Jahren zweifellos einen Platz in der deutschen Uhrengeschichte verdient hat.

Abb. links: Model mit Saxofon aus der Werbekampagne Swing


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5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke

Für abenteuerlustige Käufer mit Lebensart: Kienzle spricht Männer an, die das Leben genießen.


5.3 Von deutscher Handwerkskunst zur Lifestyle-Marke

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Stilvoll und unaufdringlich: Werbekampagne ÂŤWrapÂť



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6. Produktion und Diversifikation Das Unternehmen Kienzle erlangte seine internationale Be­ deutung auch durch den frühen Einsatz jeweils moderner Produktionsmittel und -methoden, dank derer die zunächst noch handwerkliche Uhrenfertigung zu einem Industriezweig wurde. Dass Jakob Kienzle, kurz nachdem er in die später nach ihm benannte Firma Schlenker eingeheiratet hatte, die Anschaffung einer 10 PS starken Dampfmaschine gegen den erheblichen Willen seines Schwiegervaters durchsetzte, zeigt seinen Innovationswillen. Kienzle war nicht der erste deutsche Hersteller, der Uhren aus vorgestanzten Teilen und mit Gewicht und kostensparenden Platinen montieren ließ, aber er war bei der Einführung des «amerikanischen Systems» ein Pionier. Auffallend ist die frühe Einrichtung von Produktionsstätten im Ausland, in denen – die hohen Einfuhrzölle der Zeit meidend – Uhren für die dortigen Märkte hergestellt oder endmontiert wurden. In Schwenningen und seiner Nachbarschaft wurden im Laufe der Jahrzehnte einige Werkstätten erworben, gewechselt, umgenutzt und für neue Aufgaben zeitgemäß umgerüstet. Die bereits 1925 eingeführte Fließfertigung, zumal diejenige am Laufband, wurde in den 1970er-/1980erJahren wieder zurückgenommen, weil sie sich unter den geänderten Marktbedingungen als zu wenig flexibel erwies. Das Haus Kienzle, das sich schon früh mit elektronischer Technik auseinandergesetzt hatte, an der Entwicklung der ersten Solaruhren und Uhren-Funktechnik maßgeblich beteiligt war und auf dem Weltmarkt Erfolge mit Hightech-Produkten feierte, profitierte bei den hausinternen Abläufen nicht immer von den neuen technischen Möglichkeiten. Während die Computer aus den Konstruktionsabteilungen bald kaum noch wegzudenken waren, wurde die Einführung der EDV in der Verwaltung des Unternehmens von der Geschäftsführung als zeit- und kostenaufwendige Belastung und durchaus nicht als Rationalisierung erlebt.

Überwiegend Frauensache: Fließbandfertigung im Schwenninger Werk


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6. Produktion und Diversifikation

Tradition und Moderne: manuelle Uhrwerks-Montage, frühe EDV

Auch der erhoffte Produktivitätsgewinn durch die Inbetriebnahme der 40 Millionen DM teuren, 1987 eröffneten Fabrikgebäude trat zunächst nicht ein, durch erhebliche Fehlfunktionen in der technischen Ausrüstung kam es zu anhaltenden Verzögerungen in der Herstellung und der Auslieferung an die Kunden. Insbesondere bereiteten schwere Mängel des modernen, automatisierten Hochregallagers große Probleme. Das Lager nahm Ware an, gab jedoch kaum je das Gewünschte heraus. Schwenningen amüsierte sich über das «Kienzle-Grab», dem Unternehmen entstand bis zur Behebung der Hardware- und Programmierfehler gravierender Schaden. Gerade weil Kienzle stets bezahlbare Gebrauchsartikel lieferte, sich am Bedarf des Massenmarktes orientierte, spiegelt sich in den über viele Jahrzehnte entstandenen Produkten Wirtschafts- und Sozialgeschichte wider. Das gilt auch für die Diversifikationsprodukte des Hauses, das sich schon früh bemühte, seine Kompetenzen nicht nur in herkömmlichen Zeitmessern einzusetzen. An ihnen lassen sich wichtige Entwicklungen der letzten 100 Jahre ablesen. Im Grunde genommen war für den traditionsreichen Produzenten großer Uhren auch die Armbanduhr ein Diversifikationsprodukt und ihre Markteinführung ein mutiger Schritt. Noch wenige Jahre zuvor war das Tragen der wertvollen Zeitmessgeräte nur im Schutz einer Westentasche denkbar gewesen. Lediglich vereinzelt waren seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Schmuckuhren hergestellt worden, die die Handgelenke vornehmer Damen zierten. Um 1890 herum sollen es vor allem Amerikanerinnen gewesen sein, die in der Schweiz zierliche Ührchen an metallenen Armbändern erwarben. Diese


6. Produktion und Diversifikation

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Noch Handarbeit: Konstruktionszeichnung aus der Entwicklungsabteilung (oben und n채chste Seite)



6. Produktion und Diversifikation

ermöglichten ihren Trägerinnen, in Gesellschaft die Zeit unauffällig abzulesen, ohne ungeduldig und damit unhöflich zu wirken. Dass dieses modische Accessoire bald darauf auch an immer mehr Männerarmen zu sehen war, verdankte es wohl vor allem seinem von den Herstellern emsig propagierten Wert für Militärs. Ein schneller Blick auf die Armbanduhr zog die Aufmerksamkeit des Soldaten weit kürzer vom Kampfgeschehen ab als das umständliche Hervornesteln einer Taschenuhr, wie schon Teilnehmer des Burenkriegs zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu berichten wussten. Auch wer im zivilen Leben schnell auf die Armbanduhr sah, verlor keine Zeit, denn die war in der Industriegesellschaft als wertvolles, weil knappes Gut erkannt worden. Während manche Uhrmacher noch jahrelang gegen die Armbanduhren polemisierten, weil sie, ständig Staub, Feuchtigkeit und heftiger Bewegung ausgesetzt, niemals zuverlässig würden arbeiten können, hatten die Taschenuhren schon 1925 nur noch einen Marktanteil von 65 Prozent. Nur fünf Jahre später stand es bei den Verkaufszahlen 50:50. Kienzles früh begonnene Armbanduhrenfertigung wurde zu einer der tragenden Säulen des Geschäfts. Mit der Autouhr, eigentlich kein wirkliches Diversifikationsprodukt, erschloss sich Kienzle einen Abnehmerkreis für verschiedenste Erzeugnisse. Ähnlich früh wie auf den Trend der Armbanduhren setzte Kienzle auf die Kraftfahrzeuge, die in den folgenden Jahrzehnten die Gesellschaft so mobil machten wie nie zuvor. Auch wenn 1910, in dem Jahr also, in dem Kienzle die ersten Autouhren anfertigte, noch wenig motorgetriebene Wagen in deutschen Städten

Auf Mark und Pfennig: Taxameter

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6. Produktion und Diversifikation

F端r pferdelose Wagen: eine der ersten Kienzle-Autouhren


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zu sehen waren, hatte in den USA bei Ford bereits die Massenfertigung erschwinglicher Modelle begonnen. Die Automobile wurden alltagstauglich; der Scheibenwischer war 1903 erfunden worden, ins Armaturenbrett eingebaute Zeitmesser ersparten den Fahrern den gefährlichen Seitenblick auf die Uhr in oder an der Hand. Dabei setzten sich auf dem Markt die Hersteller durch, deren Erzeugnisse das Rütteln und die Stöße auf den noch unebenen Straßen zuverlässig überstanden. Das später von Kienzle entwickelte Modell mit Acht-Tage-Werk erhielt durch die Drehung der Lünette unkompliziert Energie für mehr als eine Woche. 1913 kaufte Kienzle die Fabrik von C. Werner in Villingen. Dort baute man seit 1905 Taxameter, zunächst noch für Pferdedroschken, in denen sich der Einbau der Geräte seit den 1890er-Jahren durchgesetzt hatte. Im Jahr des Produktionsbeginns schrieb Berlin für Droschken der 1. Klasse bereits den Einsatz eines Taxameters vor. Die bis 1934 rein mechanischen Geräte wurden in den folgenden Jahrzehnten auch zum Exporterfolg, besonders in den USA. Mit ins Programm kam 1927 ein moderner Fahrtenschreiber, der, anders als seine Vorgänger, nicht nur mittels eines Rüttelpendels Fahr- und Haltezeiten festhielt, sondern auch die Geschwindigkeit und die zurückgelegte Wegstrecke erfassen konnte. Vorgeschrieben wurde der Einbau in deutschen Lkws erst in den 1950er-Jahren, aber schon in den 1930ern kam es wegen der zunehmenden Zahl schwerer Lkw-Verkehrsunfälle vermehrt zu Geschwindigkeitsmessungen durch die Behörden. Die freiwillig mitgeführten Fahrtenschreiber konnten hier als Entlastungszeugen dienen. Die am Bedarf der stetig an Bedeutung zunehmenden Automobilsparte ausgerichtete Diversifikation führte über die Gründung der Kienzle-­ Apparatebau-Tochter in Villingen und deren 1931 vollzogene Unabhängigkeit zur Aufteilung des Unternehmens. Während das Stammhaus in Schwenningen weiterhin mit seinen Autouhren Erfolg hatte, baute der Villinger Betrieb in den 1950er-Jahren eine weitere Hervorbringung des automobilen Zeitalters: Parkuhren. Der stark zunehmende Autoverkehr in den Großstädten der USA hatte bereits in den 1930er-Jahren Überlegungen zu einer sinnvollen Parkraumbewirtschaftung ausgelöst; die Kommunen stellten erste «coin controlled parking meters» auf. Neben anderen deutschen Herstellern produzierte die Kienzle Apparate GmbH ab 1952 Parkuhren, die sich im Stadtbild aber gegen den Protest vieler Wagenbesitzer erst durchsetzen konnten, als 1956


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6. Produktion und Diversifikation

Variante der 1950er-Jahre: Autouhr am R端ckspiegel


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ihre Zulässigkeit durch eine Änderung der Straßenverkehrsordnung juristisch geklärt wurde. Das Stammhaus, die Schwenninger Kienzle Uhrenbau GmbH, begann 1977 eine Diversifikationsoffensive, die sich die Erfahrungen des Uhren­herstellers im feinmechanischen wie elektronischen Bereich zunutze machte. Das Haus präsentierte überraschend einen Quarz-Reisewecker mit eingebautem Radio und die erste elektronische Stoppuhr mit LED-Anzeige auf dem deutschen Markt. Die Leistungsfähigkeit im Hightech-Bereich dokumentierte das Unternehmen mit einem Multifunktions-Tischgerät. Eine elektronische Uhr konnte an mehrere Termine erinnern; der inte­ grierte Rechner zählte Telefoneinheiten mit. Alle drei Innovationen standen bald nach ihrer Einführung unter starkem Konkurrenzdruck ähnlicher Fernost-Produkte. Seit 1978 wurden Entwicklung und Vertrieb weiterer uhrenferner Erzeugnisse vorangetrieben. Die guten Verbindungen in die Automobilindustrie nutzte Kienzle, um dort ein Getriebe für die motorische Verstellung der Außenspiegel anzubieten, die aus Sicherheitsgründen in immer mehr Fahrzeugen Verwendung fand. Gebaut wurden die Kienzle-Getriebe ab 1980; bemerkenswerterweise hatte das Unternehmen sechs Jahre später auch Erfolg mit einer traditionellen Variante, einem System mit manueller Verstellung, das ein Autohersteller aus Gewichtsgründen einsetzte. Länger brauchte die Entwicklung eines elektronischen Heizkostenverteilers. Aufgabe war es, ein preiswertes Gerät zu bauen, dessen Messwerte genauer sein sollten als die Werte herkömmlicher Apparate. Das technische Know-how war im Hause Kienzle grundsätzlich vorhanden; neu war das Messen im Hundertstel-Millimeter-Bereich. Die Auslieferung der ersten Heizkostenverteiler im Jahre 1982 fiel zusammen mit der Einstellung der Armbanduhrenfertigung in Schwenningen und dem Produktionsstopp für das Operationsskalpell, dem dritten Diversifikationsprojekt. Obwohl dessen Qualität außer Zweifel stand, konnte es sich nicht auf dem für Kienzle neuen Markt etablieren, den man nach eigenem Eingeständnis zu wenig hatte untersuchen lassen. Während 1978 Gespräche mit IBM über die mögliche Produktion von Computer-Baugruppen für den US-Konzern scheiterten, begann Kienzle 1983 mit der Leiterplattenfertigung für einen anderen Hersteller, die infolge dessen Zahlungsunfähigkeit bereits ein Jahr später aufgegeben werden musste.


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6. Produktion und Diversifikation

Zeiterfassungsger채t von B체rk: ab 1985 Teil der Kienzle-Geschichte


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Seit 1982 der Schwenninger Haushaltsgerätehersteller Wigo Konkurs gemacht hatte, wurden bei Kienzle die Übernahme der Firma und der Einstieg ins Geschäft mit der «Weißen Ware» erwogen. 1984 kaufte Kienzle Wigo sowie dessen Neuffener Tochterfirma ESGE und integrierte deren Erzeugnisse in das eigene Produkt-Portfolio. Der Gesellschafts-Vertrag der Kienzle Uhren GmbH wurde der neuen Ausrichtung des Unternehmens angeglichen. Sein Gegenstand war nun offiziell «die Entwicklung und der Vertrieb von Uhren und Uhrenbestandteilen sowie von Erzeugnissen der Elektro- und der Kunststofftechnik». Der Vertrieb der Kaffeemaschinen, Haartrockner und anderen Kleinelektrogeräte von Wigo war für Kienzle anfangs mühsam. Schnellere Erfolge verzeichnete ESGE, die nicht nur Spritzguss-Kunststoffteile für Wigo fertigte, sondern unter anderem auf dem Markt gut eingeführte Regelantriebe herstellte. Als Kienzle 1985 die ins Trudeln geratene Schwenninger Firma Bürk übernahm, wuchs dem Unternehmen später ein Produktzweig zu, der die feinmechanische Industrie der Region von Anfang an mitbestimmt hatte: die Produktion sogenannter Kontrolluhren. Der Firmengründer Johannes Bürk hatte ab 1855 mit großem Erfolg tragbare Nachtwächterkon­ trolluhren hergestellt, mittels derer sich das pflichtgemäße und pünktliche Absolvieren vorgeschriebener Rundgänge überprüfen ließ. Ein innen liegender Papierstreifen wurde mit Hilfe von an verschiedenen Stationen fest installierten Schlüsseln gelocht und dokumentierte damit den Verlauf des Wachdienstes. Bürk hatte damit einen Urtyp moderner Zeiterfassungssysteme entwickelt, 1879 stellte sein Haus den ersten «Arbeitszeitregis­ trierapparat» her, ein Gerät, das als «Stechuhr» noch stärker zum Inbegriff der Fabrikarbeit wurde als das erst später entwickelte Fließband. Letzteres bestimmte die Arbeitsbedingungen; die technische Zeiterfassung disziplinierte die Mitarbeiter der großen Betriebe und deren Umfeld und schuf damit die Grundlage industrieller Fertigung. Stechuhren waren ein Normalisierungs- und Herrschaftsinstrument, sorgten zugleich für Fairness bei der Lohnabrechnung. Die Zeiterfassungssysteme von Bürk produzierte Kienzle bis zur Trennung der Firmen 1996 gewinnbringend. Die Kienzle Uhren GmbH hat heute ihren Stammsitz in Hamburg, wo im Juli 2008 ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes Stadthaus nach aufwendigen Sanierungsarbeiten bezogen wurde. Das Unternehmen beschäftigt momentan 35 Mitarbeitende. Die ersten vier Modelle der «Edition Jakob Kienzle», mit ihren kom-



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plizierten mechanischen Werken im uhrmacherischen Premiumsegment angesiedelt, wurden von Gerd Hofer entwickelt, der bis zu seinem Tod 2007 hohes Ansehen in der Uhrenbranche genoss. Die in der Schweiz eingekauften Automatik-Werke der EditionsUhren veredelt der freischaffende Uhrmachermeister Stefan Kudoke mit aufwendigen Gravuren des Rotors. Uhren für die «Klassik»-Linie, Wecker und Großuhren wählt Kienzle aus dem Angebot des internationalen Marktes aus und lässt ihr «Gesicht», das Zifferblatt, nach eigenen Vorgaben gestalten. Nach heutigem Stand liegt dabei kein Geschäftsprinzip zugrunde, nach dem die Fertigung außerhalb des Hauses stattfinden soll. Die Geschäftsführung hält es für denkbar, in Zukunft in einer eigenen Fabrik am Standort Hamburg Uhren herzustellen – womöglich auch mit selbst entwickelten mechanischen Werken, was die Werkstätten in der Fachsprache der Uhrenbranche zur Manufaktur adeln würde. Um – schon mit Blick auf den in der Branche notorischen Fachkräftemangel – das alte Handwerk der Uhrmacher weiter zu beleben, gehört zu diesen Überlegungen auch die Gründung einer entsprechenden Ausund Weiterbildungsstätte in Hamburg, einer Kienzle-Akademie. Mit einem solchen Engagement und der bereits in der Fachpresse in Aussicht gestellten Gründung eines neuen Kienzle-Museums würde das Haus an weitere Traditionen aus Schwenninger Zeit anknüpfen. Viel weiter gediehen sind die Pläne zur Diversifikation. Bereits im Frühjahr 2009 soll eine unter dem Dach der Kienzle AG gegründete GmbH, die Kienzle Optik, eine erste Kollektion von Brillen und Gläsern vorstellen. Für die kommenden fünf Jahre ist die Gründung weiterer Gesellschaften vorgesehen, deren Produkte die Bereiche Messtechnik, medizinische Technik und Datentechnik bedienen. Hinzu kommt ein Unternehmen, das Kienzle-Lederwaren und Accessoires herstellen wird.

Neubeginn: der Kienzle-Firmensitz in Hamburg



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7. Historische Uhren aus acht Jahrzehnten In über 100 Jahren als Schwenninger Unternehmen baute die Firma Kienzle die unterschiedlichsten Zeitmessgeräte. Neben die aus der handwerklichen Tradition der Schwarzwald­ uhren herrührenden Wanduhren und Wecker traten um die vorvergangene Jahrhundertwende immer mehr kleine, mobile Geräte. Es waren auch Taschenuhren, dann, sehr früh, Armbanduhren aus dem Hause Kienzle, die es nicht mehr nur Wohlhabenden ermöglichten, die Zeit stets bei sich zu führen. Auch für Jugendliche bedeutete das Überreichen einer eigenen Armbanduhr Anerkennung. Kienzle versorgte breite Bevölkerungsschichten mit «Gebrauchsuhren», solchen, die bei der täglichen Arbeit zuverlässig ihren Dienst versahen, und solchen, die als Wohnraum- oder «Sonntagsuhr» eine dekorative und repräsentative Funktion hatten. Gestalterisch bot das Unternehmen nicht nur den durch das jeweilige Sortiment der Zulieferer bestimmten modischen Mainstream. Im Haus entstanden durchaus eigenständige Schöpfungen, besonders der langjährige Chefdesigner Heinrich Möller entwarf Klassiker, die bis heute Geltung auf dem Sammlermarkt besitzen. Mit seinen preiswerten Uhren und seiner immer dem Stil der Zeit angepassten Gestaltung wurde das Haus Kienzle für lange Zeit zu einem der Marktführer nicht nur in Deutschland. So spiegelt seine Produktion die materielle Kultur und das Geschmacksempfinden der Bevölkerung zuverlässiger wider, als elitäre Produkte kleiner Manufakturen das vermögen. Dass der Kienzle-Schriftzug nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich ständig sichtbar war, auf Taxametern etwa und seit den 1950er-Jahren auf Tausenden von Parkuhren, trug das Seine zur Bekanntheit der Marke bei. Die im Folgenden gezeigten Uhren gehören zur heutigen Sammlung des Hauses Kienzle, das diese Stücke in den vergangenen Jahren angekauft hat oder übereignet bekam. Viele von ihnen zeigen deutliche Gebrauchsspuren – das lag in ihrer Bestimmung und mag sie noch authentischer machen.



7. Historische Uhren aus acht Jahrzehnten

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Taschenuhren Die Taschenuhr war das erste wirklich transportable Zeitmessgerät, wegen seines für die Zeit hohen Miniaturisierungsgrads aufwendig herzustellen und wegen seines beträchtlichen Preises lange Zeit nur dem Adel und reichen Bürgern vorbehalten. Erst als einige Unternehmer im späten 19. Jahrhundert damit begannen, Taschenuhren in großen Serien industriell herzustellen, wurden sie zum erschwinglichen Massenprodukt. Bei Kienzle entstanden auf der Grundlage solider Werke Modelle ohne komplizierte Zusatzfunktionen und mit sehr unterschiedlichem Charakter. Nach repräsentativen, teilvergoldeten Uhren mit schon damals historisierendem Dekor – goldene, durchbrochene Zeiger, Ziffern wie handgemalt – gab es bald Stücke in klarem, nüchternem Design, dessen strenge Typografie an die Gestaltungsideale des Bauhauses gemahnt. Dass solche Uhren von Angestellten und Arbeitern nicht nur sonntags spazieren getragen wurden, zeigt eine Sonderausstattung, die Kienzle lieferte: Bergleute konnten ihre Taschenuhr mit einem zusätzlichen Klapp-Gehäuse vor den Belastungen an ihrem Arbeitsplatz schützen.



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Große Uhren Der Bau von Wand- und Tischuhren war – ursprünglich Schwarzwälder – Tradition, aus der sich die Uhrenindustrie Schwenningens entwickelte. Kienzle baute Nützliches wie Repräsentatives, schuf dabei auf beiden Feldern Klassiker. Für die Küche, über deren ergonomische Gestaltung man sich seit den 1920er-Jahren verstärkt Gedanken machte, hatte Kienzle Uhren mit Schlüsselaufzug und pflegeleichtem Keramik-Gehäuse im Programm, die auch optisch dem reformerischen Geist verpflichtet waren. Diese und ähnliche Uhren wurden über Jahrzehnte angeboten und in den 1990er-Jahren – batteriebetrieben und mit dem ebenfalls typischen Kurzzeitmesser ausgerüstet – als Retro-Modell wieder auf den Markt gebracht. Ebenso allgegenwärtig waren die von einer Zentrale elektrisch gesteuerten Uhren, die Kienzle an die Bundesbahn lieferte. Für den Wohnbereich entstanden behäbige Kaminuhren im Holzgehäuse, aber auch, vor allem unter der Leitung von Heinrich Möller, elegante, eigenständige Designs im Stil des Art déco. Mit seiner Sternzeichenuhr, die seit ihrer Premiere 1938 in zahlreichen Varianten erschien, und vor allem mit der Weltzeituhr schuf Möller Ikonen der Designgeschichte, die heute besonders auf dem nordamerikanischen Sammlermarkt fest mit dem Namen Kienzle verbunden sind. Der Weltzeituhr, die jahrzehntelang zur Grundausstattung besserer Arbeitszimmer gehörte, konnte selbst die spätere Digitalisierung kaum etwas von ihrem Charakter nehmen. Fast ein Kuriosum ist der Keramik-Elefant, der wahrscheinlich in den 1930er-Jahren entstand. In seiner Flanke lässt sich eine Kienzle-Autouhr aus der Zeit unterbringen.



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Wecker und Reiseuhren Die in der Industrialisierung zeitlich disziplinierte Gesellschaft benötigte Wecker. Mindestens einer in jedem Haushalt garantierte den rechtzeitigen Tagesstart; stattliche Gehäusegrößen sorgten für angemessen lautes Klingeln. Der einfache Mechanismus wurde über die Jahre um Finessen ergänzt: eine Vorrichtung dafür, dass es nur alle 24 Stunden klingelte, oder eine Weckwiederholung auf Knopfdruck. Dass diese «Repeat Alarm» hieß, war keine werbliche Allüre, sondern spiegelt den Exporterfolg wider, den Kienzle mit seinen Weckern vor allem in Nordamerika hatte. Der zunehmenden, auch internationalen Reisetätigkeit entsprach das Unternehmen durch die Produktion von Reiseweckern, deren Konstruktion höhere Anforderungen stellte: Das Werk musste allen Erschütterungen beim Transport gewachsen sein, mit seinem Läuten zuverlässig andere Geräusche übertönen und dabei in einem handlichen Gehäuse Platz finden. Wer sich auf Reisen auf den Weckruf des Hotelportiers verließ, führte vielleicht eine zierliche, elegant belederte Reiseuhr mit sich und platzierte sie auf Schreib- oder Nachttisch.



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Autouhren, Fahrtenschreiber, Taxameter Kienzle wurde früh zum Zulieferer der gerade erst entstehenden Automobil­ industrie. Die ersten in Schwenningen entstandenen Auto-Uhren passten mit ihrer wenig technischen Optik besser zu Pferde- als zu Kraftwagen und speicherten nur Gangenergie für einen Tag. Spätere Modelle erhielten über das einfache Drehen der Lünette Kraft für acht Tage. Eine an die Wehrmacht gelieferte Autouhr wurde vom Fahrer des Wagens bei Kriegsende ausgebaut und in kanadischer Gefangenschaft behelfsmäßig zur Tischuhr umfunktioniert. Weitere Autotechnik lieferte die Kienzle-Apparatebau in Villingen: Die Fahrtenschreiber der Firma wurden Fernfahrern so geläufig wie TaxiFahrgästen die Argo-Taxameter.



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Armbanduhren 1920er-Jahre: «Tonneau», das Tönnchen Hatten die allerersten Armbanduhren ihre Herkunft von der Taschenuhr kaum verborgen, suchten sie mit wachsendem Erfolg gestalterische Eigenständigkeit. Sie fanden eine nahezu logische Form: Was sie von den Vorläufern unterschied, war das Armband. Wurde für seine Anstöße das Rund der Uhr bei der Zwölf und der Sechs beschnitten, entstand die Silhouette eines bauchigen Fässchens: die Tonneau-Form, die in der Folge mal zum «Kissen» gestaucht, mal lang und rechteckig gestreckt wurde. Längst nicht in alle diese Gehäuse wurden entsprechend geformte Werke eingebaut. Viele blieben dem traditionellen Rund verhaftet und passten durch gestalterische Kniffe in die kreisförmigen Gehäuse genauso wie in die länglichen: Elegant facettierte Ausbuchtungen an den Flanken schufen Platz für das Standardwerk und ließen das Gehäuse trotzdem schlank wirken. Einer der großen Nachteile der nicht runden Gehäuseformen allerdings war die Tatsache, dass sie sich damals noch hartnäckig dem Versuch widersetzten, sie wasser- oder auch nur staubdicht zu machen, womit sich diese frühen Armbanduhren nur noch stärker dem Vorwurf mancher Uhrmacher aussetzten, nicht mehr als ein unpraktischer Modegag zu sein.



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1930er-Jahre: Die Strapazieruhr Kienzles 1931 speziell für den Einsatz in runden Armbanduhren auf den Markt gebrachtes Werk 051 war eine schlichte Konstruktion. Der Anker, der die Antriebsenergie reguliert, griff nicht mit kleinen, reibungs- und abnutzungsfreien Steinen aus künstlichem Rubin in das nächstliegende Zahnrad, sondern mit schlichten Stahlstiften. Dazu drehten sich die Wellen des Werks in Vertiefungen der Platine, nicht in Lagersteinen. Preiswert herzustellen, rechtfertigte das Kaliber 051 den Namen «Strapazierwerk» und überstand auch härtere körperliche Arbeit seiner Besitzer unbeschadet. Neben den auch optisch zurückhaltenden Modellen – mit einem Durchmesser von knapp 30 Millimetern erscheinen sie uns heute winzig – entstanden Ausführungen mit elegantem Kupfer-Blatt und Art-décohaftem Gehäuseschwung. Bis in die 1970er-Jahre hinein wurden das 051 und verwandte Werke je nach Zeitgeschmack nüchtern, repräsentativ oder avantgardistisch eingehüllt.



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1950er-Jahre: Die Volksautomatic Seit den 1920er-Jahren hatte es Versuche gegeben, Armbanduhren mit verlässlichem automatischem Aufzug zu entwickeln; diverse Verfahren waren präsentiert und bald wieder eingestellt worden. Erst in den 1950ern begann sich das Prinzip des Rotors durchzusetzen, der, durch Armbewegungen des Trägers in Bewegung gesetzt, die Antriebsfeder des Uhrwerks spannt. Eine automatische Armbanduhr, die das tägliche Aufziehen von Hand überflüssig machte, war für viele äußerst erstrebenswert, aber kaum erschwinglich, bis Kienzle 1956 seine «Volksautomatic» vorstellte. Sie kostete etwa halb so viel wie die – technisch aufwendigeren – Konkurrenzprodukte und brachte ihre Wertigkeit im eher opulenten Stil der Zeit auch optisch auf den Punkt. Ein vergoldetes Gehäuse rahmte das Zifferblatt mit aufgesetzten Zahlen und breiten, keilförmigen Indizes.



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Die strengen 1960er-Jahre Auf die stilistisch oftmals behäbigen, konservativen 1950er-Jahre folgte eine Ära der als Ausdruck von Modernität empfundenen gestalterischen Reduktion. Das Zifferblatt einfarbig, die Zeiger geradlinig, das war nun der in West- wie in Ostdeutschland verbreitete Design-Gestus. Auffallend ist vor allem das weitgehende Fehlen der Ziffern auf dem Blatt, die, manchmal mit Ausnahme der Zwölf und der Sechs, durch schmale, strichförmige Indizes ersetzt sind. Ein Traditionsunternehmen wie Kienzle konnte sich bei der Gestaltung seiner Produkte von eigenen Entwürfen früherer Epochen inspirieren lassen.



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Sportlich-bunte 1970er-Jahre, trendige 1980er Nach den Jahren ernsthafter designerischer Strenge begannen Ende der 1960er-Jahre ganz neue Zeiten. Auch geführt von der überbordenden Farbenfreude der Hippie-Bewegung, wurde der Alltag bunt wie das mittlerweile farbige Fernsehen. Man wagte nicht nur mehr Demokratie, sondern auch einen nie gesehenen Dekor- und Mustermix als Ausdruck praller Lebensfreude. Dazu gehörte die Sportbegeisterung, die Kienzle mit Uhren in markantem Design, mit Olympia-Emblem und einfachen Stoppvorrichtungen bediente. Anklänge an den Rallyesport waren schwarz beschichtete Gehäuse und groß gelochte Armbänder aus Leder oder Kunststoff.



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Scheibenuhren mit digitaler Zeitanzeige hatte es schon in den 1920er-Jahren gegeben. Nun aber gehörten sie ins modernistische Design-Programm des raumfahrtseligen «Space-Age». Kienzles Modelle hießen «Life 2002», was damals nach reiner Science-Fiction geklungen haben mag. Drinnen aber tickte das ebenfalls schon betagte Strapazierwerk. Spätestens in den 1980er-Jahren war die Uhr ein millionenfach billig hergestellter Massen-, Mode- und Wegwerfartikel geworden. Sie verkaufte sich wesentlich über auffallendes Design, mit dem sie sich in ein LifestyleKonzept einfügte, zu dem jeweils passende Ikonen aus Warenwelt und Kultur gehörten. Neben seinem optisch zurückhaltenden Standardprogramm präsentierte auch Kienzle Zeitgeistiges, beispielsweise eine Uhr mit Marilyn-Monroe-Lookalike auf dem Zifferblatt, und erwarb eine Lizenz, um Cola-Produkte grafisch verwerten zu dürfen.



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Elektrische Uhren und Wiedergeburt der Mechanik Das Zeitalter der elektronischen Uhren begann bereits in den 1950ern, Jahrzehnte vor der Quarz-Welle. Zwar war mit Einführung der Automatik das energetische Problem uhrmacherisch weitgehend gelöst. Aber ein elektromechanischer Antrieb versprach eine gegenüber dem rein mechanischen Werk enorm gesteigerte Präzision des Gangverhaltens – und war an der Hand des Trägers ein klares Bekenntnis zur technologischen Moderne. In den Swissonic-Werken der zweiten Generation, die Kienzle in den 1970er-Jahren in der Schweiz einkaufte, ersetzte eine elektrisch angeregte, mit 300 Hertz schnell schwingende Stimmgabel die klassische Unruh als Regulierorgan und versprach Gangabweichungen von nicht mehr als einer Minute pro Jahr. Eingeschalt wurden die Werke in voluminöse und zeitgemäß asymmetrische Gehäuse; Dezenz war hier nicht gefragt. Als erstes deutsches Unternehmen produzierte Kienzle zu Beginn der 1970er-Jahre auch Quarz-Armbanduhren, die auf Knopfdruck die Zeit vorübergehend mit einer rot glimmenden Segmentanzeige preisgaben. Das war ein echter Hingucker – und nicht sehr praktisch. Die digitale Anzeige etablierte sich erst mit Einführung der Flüssigkristalltechnik wenige Jahre später. Für mindestens eine Dekade schien der extrem genaue und unempfindliche Quarzantrieb die Mechanik vollkommen verdrängt zu haben. Als dann in den 1980er- und 1990er-Jahren die Renaissance der traditionellen Uhrmacherei einsetzte, fanden sich bald auch im Kienzle-Programm wieder Uhren mit Handaufzug. Durch die Skelettierung ihres Innenlebens unterschieden sie sich auf den ersten Blick von elektronischer Standardware.



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8. Die aktuellen Uhren­ kollektionen Die aktuelle Uhrenkollektion des Hauses schließt sich lückenlos an die historischen Modelle an. Das Credo des Firmengründers, günstige mechanische Uhren herzustellen, soll weiter fortgesetzt werden. Schließlich wird auch in den neuen Serien auf die Historie des Hauses verwiesen. Allen voran mit der Edition «Jakob Kienzle». Sie ist das Aushängeschild der Uhren­ manufaktur und beinhaltet mechanische Zeitmesser der Luxus­ klasse. Dementsprechend ist sie losgelöst von der sonst gängigen Preispolitik. Sie stellt vielmehr eine Serie für Sammler und Uhrenliebhaber dar. Alle anderen Uhren, egal ob Armband-, Wand- oder Taschenuhr folgen der obigen Maxime und bedienen ein Preissegment, das von Einstiegs- bis Mittelpreislage reicht. Die kleinste Kienzle-Uhr ist schon für 12 Euro zu haben. Die günstigste Armbanduhr lässt sich für 49 Euro erstehen. Wichtigstes Merkmal bei Kienzle: Die neue Marke besitzt unzählige Uhrenmodelle. Damit findet sich für jeden Geschmack das passende Modell. Die beiden anderen Armbanduhrenlinien sind «Kienzle 1822» und «Kienzle Klassik». Beide Serien sind nochmals unterteilt in mechanische Uhren, sportliche, klassische, Satelliten- und Taschenuhrenmodelle. Neben Zeitmessern für Handgelenk und Tasche hält Kienzle aber auch an den Ursprüngen der Marke fest und führt weiterhin ein festes Programm an Großuhren. Wecker sind in der aktuellen Kollektion in einer eigenen Serie vertreten. Vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren konnte Kienzle auf dem Markt mit günstigen Reiseweckern überzeugen. Analoge Quarzwecker, analoge und digitale Funkwecker, mechanische Wecker sowie Kurzzeitmesser und Wanduhren gehören in diese Sparte. Rund 50 Uhren stellen ein umfangreiches Angebot für die Bedürfnisse der Kunden dar. Küchenuhren, Nachttischwecker und anderes lassen sich hier finden. Der Preis gibt hier ebenfalls den Ton an. In der Regel kosten Uhren aus dem Sortiment zwischen 20 und 40 Euro. Preislagen, für die sich in Deutschland die meisten Käufer finden.


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8. Die Aktuellen Uhrenkollektionen

Nach einer Studie der Zeitschrift «Stern», bei der rund 50,44 Millionen Menschen im Alter von 14 bis 64 Jahren exemplarisch befragt wurden, ergeben sich große Potenziale für den Absatzmarkt der einzelnen Serien. Im Einstiegssegment befinden sich die meisten Käufer: Insgesamt 61 Prozent der Befragten gaben an, 100 Euro für eine Uhr zu investieren. Ein gutes Drittel davon ist unter 30 Jahren. Hier dürften daher auch die meisten potenziellen Käufer einer Kienzle-Uhr zu finden sein. Schließt man die Luxusedition aus, heißt das, dass sich allein acht Millionen Bundesbürger bis 30 Jahre für eine Kienzle-Uhr entscheiden könnten. Bei der Premiumklasse ist das anders. Hier entschließen sich zunehmend ältere Personen für die Investition in eine Uhr. Dementsprechend bedient Kienzle mit seiner Edition «Jakob Kienzle» diesen Markt zielgerecht. Hier ist das Durchschnittsalter der Uhrenkunden im Schnitt über 40 Jahre. Vornehmlich ist die Käuferschaft männlich und lässt sich in ihrer Kaufentscheidung von emotionalen Werten, wie beispielsweise der Markensympathie, leiten. 0,72 Millionen der Befragten ließen sich als Luxusuhreninteressierte herauskristallisieren. Bemerkenswert ist vor allem die Tatsache, dass die Bereitschaft zur Zweit-, Dritt-, ja sogar Viertuhr je nach Preissegment von unten nach oben ansteigt. Das bedeutet, dass Käufer, die sich einmal für eine Jakob Kienzle Edition entschieden haben, immer wieder als Kunde gewonnen werden können. Nach einer hauseigenen Studie verfügt Kienzle bei Uhrenkennern über einen großen Wiedererkennungswert. Bei einer Befragung der über 30-Jährigen ergab sich ein ungestützter Bekanntheitsgrad (unaided recall) von immerhin 59 Prozent. Wenn man bedenkt, dass die bekannteste Uhrenmarke der Welt, Rolex, vergleichsweise gerade einmal auf 85 Prozent kommt, ist der Wert besonders beeindruckend und zeugt von der großen Akzeptanz der Marke. Nicht nur der Bekanntheitsgrad, sondern auch die Vertriebswege unterscheiden sich je nach Uhrenmarkt stark. Kaufen die meisten Kunden ihre 100-Euro-Uhr in einem Kaufhaus, ändert sich das Kaufverhalten drastisch, je höher der Preis des Zeitmessers ist. Liebhaber, die bei einer mechanischen Uhr Wert auf Verarbeitung, Marke, Qualität, Design und andere Entscheidungsfaktoren legen, erstehen ihre Ware nicht in einem Kaufhaus, sondern vornehmlich beim Juwelier oder im Ausland. Gerne wird beispielsweise bei einer Reise der begehrte Chronograph im Dutyfree-Shop am Flughafen eingepackt. Die Uhren ändern sich also nicht nur in Fabrikation, Preis und Material je nach Serie, sondern auch in Vertriebsart sowie Kundenansprache.


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Mit moderner Produktion will die Kienzle AG seit ihrer Neugründung im Jahr 2002 nun den Markt erobern. So werden zum einen die alten Standorte in China behalten, aber auch neue Produktionsstätten in Deutschland aufgetan. Dazu gibt es unterschiedlichste Projekte der Zusammenarbeit. Verschiedene Firmen, Designer und Dienstleister wurden ins Boot geholt, um den neuen Kienzle-Uhren ein modernes und dennoch traditionsreiches Gesicht zu geben. Marktgerecht werden dabei die einzelnen Produktionsstandorte angesprochen und genutzt. Beachtenswert ist beispielsweise, dass die Uhrenmodelle in China hauptsächlich für den europäischen Markt gebaut und damit importiert werden. Dagegen liegen die Absatzmärkte für KienzleUhren «made in Germany» eher im Ausland.


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Edition Jakob Kienzle Nr. 1


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8.1 Edition Jakob Kienzle Die Edition Jakob Kienzle stellt in jeder denkbaren Form ein Highlight der Uhrenlinien der Traditionsmarke dar. Insgesamt gehören acht Luxusmodelle der Serie an. Alle Zeitmesser sind von eins bis acht durchnummeriert und haben keinen besonderen Namen. Das Modell «Nr. 1» ist eine Repetitionsuhr und «Nr. 2» eine Dreizeigeruhr mit kleiner Sekunde. Die Editionsuhr «Nr. 3» besticht durch eine 52-Wochen-Anzeige. Nummer vier hat einen ewigen Kalender als Hauptmerkmal und «Nr. 5» kann mit einer Mondphase als Zusatzfunktion aufwarten. Nummer sechs ist eine Zweizeigeruhr. Der dritte Zeiger stellt allerdings nicht die Sekunden dar, sondern den richtigen Tag an der am Zifferblattrand gelegenen Datumsanzeige. Editionskaliber «Nr. 7» übernimmt die Datumsanzeige des Vorgängers und kombiniert sie mit einer Mondphasenanzeige und einer roségoldenen arabischen Ziffern-Minuterie. Letzte im Bunde ist die «Edition Jakob Kienzle Nr. 8». Sie überzeugt mit klassischer Zurückhaltung, einfacher Dreizeigercharakteristik und einer Datumsanzeige auf der Drei. Hier liegen die Highlights in den Details, wie beispielsweise einer schön gefertigten Krone in Zwiebelform oder den rosévergoldeten Blattzeigern. Für die Uhrenteile und Gehäuse werden erstklassige Materialien verwendet und ausgesuchte Werke erstellt. Dabei lässt sich Kienzle einzelne Werke als Grundmodelle zuliefern und gibt die Veredelung der Kaliber dann in Auftrag. Hauptlieferant ist der Schweizer Werkhersteller ETA. Daneben liefert aber auch Dubois Depraz Werke und Teile an die Hamburger Manufaktur. Der ebenfalls schweizerische Hersteller hat sich schon früh durch mechanisch anspruchsvolle Werke hervorgetan und ist bekannt für seine aufwendigen und komplizierten Kadraturen. Diese zusätzlichen Schaltmechanismen geben der Serie ihre Sonderfunktionen. Das 1902 im Schweizer Vallée de Joux gegründete Unternehmen stellt auch für weitere namhafte Uhrenhersteller Module her und ist damit ein anerkannter Garant für Qualität. Die ETA-Werke fertigen die Hauptkaliber 2824–2 und 6498–1. Beide Automatikwerke werden als Grundkaliber für die Uhren der Serie verwendet. Wichtigstes Merkmal bei der Werksbearbeitung von Seiten Kienzles ist die Veredelung des Rotors. Modelle mit Handgravur, Skelettierung, Rosévergoldung und Guilloche gehören zu den üblichen Rotoren dieser Reihe.


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Edition Jakob Kienzle Nr. 4


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Der verglaste Gehäuseboden, wohl eines der optischen Hauptmerkmale einer luxuriösen Uhr, auch für Nicht-Kenner der Branche, gibt Betrachtern Einblick in die Werksveredelungen. Hier kann auch der KienzleNamensschriftzug vom Rotor selbst abgelesen werden. Das Automatikwerk 2824–2 selbst hat 25 Steine und eine Gangreserve von 38 Stunden. Bei der «Jakob Kienzle Kalender Nr. 7» wurde das Werk mit einem Kalendermodul versehen. Auf die Sekundenstoppvorrichtung wurde jedoch verzichtet. Technisches Glanzstück der Edition Jakob Kienzle ist die «Repetition Nr. 1». Mit ihrer Komplikation reiht sie sich in die Uhren mit Grande Complication ein und besticht durch herausragende Uhrmacherkunst. Das Repetitionsmodul von Dubois Depraz lässt bei Betätigung des Drückers die Stunden und Fünfminutenintervalle ertönen. Stunden werden dabei mit einem einzelnen Schlag, fünf Minuten mit einem Doppelschlag wiedergegeben. Rotorveredelung mit Genfer Schliff, Handguillochierung auf dem Gewicht der Rotorschraube sind nur einige bedeutsame technische Daten des Vorzeigemodells. Die Gangreserve der Uhr hat 42 Stunden und lässt so den Träger fast zwei Tage lang keinen Gedanken an den Stillstand verschwenden. Beim Design der Uhr folgt Kienzle abermals der Tradition. Das Gesicht der Marke bleibt damit immer gleich, obwohl aktuelle Strömungen und Trends in die Gestaltung der Uhr mit einfließen können. Zifferblätter werden in Weiß und Schwarz angeboten. Die Zeiger sind dabei schlicht und, passend zum Rotor, ebenfalls vergoldet. Arabische Ziffern erleichtern das Ablesen und geben der Uhr eine moderne Anmutung. Das LouisianaAlligator-Lederarmband hingegen verweist wieder auf die Klassik und setzt so einen gestalterischen Kontrast. Eine weitere Uhr soll noch erwähnt werden. Es handelt sich um die Edition Jakob Kienzle Nr. 4. Der Zeitmesser mit ewigem Kalender zählt neben der Nr. 1 sicher zu den interessantesten Uhren der Marke. Nicht nur wegen ihrer technischen Raffinesse, sondern auch wegen des Designs und den verwendeten Materialien. So wird für das Werk beispielsweise eine Nivarox-Spirale verwendet. Die spezielle Legierung der Spirale sorgt für weniger Abweichungen im Lauf. Nur 0–0,5 Sekunden Abweichung sind bei dieser Uhr während 24 Stunden auszumachen. Daneben steht eine Glucydur-Unruh, deren besondere Härte (franz. «Dur») ebenfalls für zusätzliche Ganggenauigkeit sorgt. Bei der Produktion geht Kienzle verschiedene Wege. Zum einen wer-


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8.1 Edition Jakob Kienzle

Edition Jakob Kienzle Nr. 7


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den die Werke in Saarbrücken von der Firma Nivrel verbaut, zum anderen wird die Veredelung der einzelnen Kaliber vom selbstständigen Uhrmacher Stefan Kudoke übernommen. Gerd Hofer, der erst kürzlich verstorbene Firmenchef von Nivrel, hat für Kienzle die Luxusuhren der Kollektion entworfen. Sein Haus steht für individuelle Anfertigungen und Sondermodelle. Bekannt geworden ist Nivrel hauptsächlich für seine extravaganten Zifferblattgestaltungen und die hauseigene Werksveredelung von gekauften Schweizer Uhrwerken. Als Nachfolgerin ist seine Tochter, Dr. Anja Hofer, heute im Unternehmen tätig und als zweite Geschäftsführerin für die wichtigen Belange des Hauses zuständig. Stefan Kudoke lernte das Uhrmacherhandwerk von klein auf. Sein großes Interesse an der Handwerkskunst zeigte sich schon früh und mündete in eine herausragende Abschlussnote bei seiner Gesellenprüfung. Er schloss als Landessieger von Brandenburg seine Ausbildung ab und wurde anschließend für die Manufaktur Glashütte Original tätig. Nach einer Vertiefungsphase im Servicebereich für Marken wie Breguet oder Blancpain machte sich Stefan Kudoke selbstständig. Der in Frankfurt an der Oder ansässige Uhrmacher fertigt alle Werksveredelungen der «Edition Jakob Kienzle» an und gibt jedem Kaliber seinen finalen handwerklichen Schliff. Alle Uhren der Edition von Nr. 1 bis 8 haben eines gemeinsam: Sie alle sprechen den Uhrensammler und Kenner an, und es sind erstklassige deutsche Uhrmacher verpflichtet, um die Zeitmesser zu bauen. Die Uhren begeistern durch mechanisch aufwendige Werke und richten sich an kaufkräftige Kunden aus dem In- und Ausland. Vornehmlich verkaufen sich die luxuriösen Stücke in die arabischen Länder sowie Asien und Russland. Hier hat sich der ungestüme Drang nach Luxus zu einem festen Lebensstil eta­ bliert. Understatement ist out. Genau in diese Märkte will die Marke mit der Luxus-Kollektion vordringen. Hier liegt das größte Potenzial für langjährige, treue Kunden, die noch dazu über das nötige Geld verfügen, eine kleine persönliche Sammlung von Kienzle-Uhren ihr Eigen zu nennen. Design, Mechanik und Preislage der Uhrenreihe liegen weit über den restlichen Stücken des Hauses und nehmen eine einmalige Sonderstellung in den Kollektionen ein. Die Edition Jakob Kienzle ist das High-End-Segment der Kienzle Uhren AG und dürfte für die wenigsten je erschwinglich sein.



8.2 Kienzle 1822

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8.2 Kienzle 1822 Die Kollektion «Kienzle 1822» ist eine der beiden Hauptserien des Hauses. Ihr Name lässt sich auf das Gründungsjahr des Unternehmens zurückführen. In insgesamt fünf Serien erscheinen verschiedene Uhren unter diesem Banner. Die Linien sind: Mechanik, Sports, Luxury, Retro und Taschenuhren. Rund 120 Uhren befinden sich in der Kollektion «Kienzle 1822». Die neuesten Modelle für das Geschäftsjahr 2008/2009 werden unter dem Label «Made in Germany» herausgebracht. Sie erweitern die bestehende Kollektion «Kienzle 1822». Die Zeitmesser der Serie «Made in Germany» wurden von einem bekannten Schweizer Designstudio entworfen. Das Design-Team um Stephan Messmer und Alex Seiler hat die Federführung für alle Entwürfe übernommen und ist damit für das Gesicht jeder Uhr verantwortlich. Messmer & Seiler, mit Firmensitz in Basel, haben unter anderem schon spannende Gehäuse und Zifferblätter für namhafte Hersteller wie Minerva, Hamilton, Wempe, Carl F. Bucherer, Omega oder TAG-Heuer entworfen. Stephan Messmer, 1964 in Basel geboren, ist für die Produktdesigns verantwortlich. Der international erfahrene Designer lernte sein Handwerk unter anderem am Art Center College of Design in Pasadena, USA. Später war er für verschiedene Firmen in Deutschland und der Schweiz tätig. 1998 gründete er zusammen mit Alex Seiler, der selbst aus einer Uhrenfamilie stammt, das Industrial Design-Büro Messmer & Seiler in Basel. Wenn alle Entwürfe fertig sind, werden die aktuellen Produkte der Reihe von Stefan Haase und Dirk Weiß ausgewählt. Produktmanager Haase und Vertriebsleiter Weiß sind dabei verantwortlich dafür, die Linien an die Bedürfnisse des Marktes anzupassen. Bis eine Serie vollständig produktionsreif ist, dauert es im Schnitt 12 bis 18 Monate. Alle anderen Uhrenmodelle der Reihe werden bei unterschiedlichen Herstellern bzw. Designern eingekauft. Produktionsstandort ist das als Uhrenhochburg bekannte Ruhla im Thüringer Wald. Hier, nahe des geografischen Mittelpunktes von Deutschland, hat sich in den vergangenen Jahren ein wichtiger Standort für die Uhrmacherei entwickelt, der aus den Werken der Ex-DDR entstanden war. So entwickelte sich etwa aus den VEB Uhrenwerken die private Firma Gardé. Sie ist für die Produktion der Kollektion «Kienzle 1822» zuständig. Das Traditionsunternehmen Gardé, nahe Eisenach gelegen, hatte sich kurz nach Firmengründung 1962 mit der Taschenuhr «Fearless» in Amerika einen Namen gemacht.


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8.2 Kienzle 1822

Schweizer Designschmiede gibt Kienzle-Uhren ein neues, einheitliches Gesicht.

Das erhabene «K» ziert alle neuen Kienzle-Kronen der Kollektion «Kienzle 1822»


8.2 Kienzle 1822

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Gegründet wurde das Unternehmen bereits 1862. Damals noch als Gewerbe für Pfeifenbeschläge von den Gebrüdern Thiel angemeldet, stellte das Unternehmen schnell seine Hauptproduktion auf Uhren um. 1945 wurden die Gebrüder Thiel enteignet. Ein einschneidender Punkt in der Firmengeschichte. Die Nachkriegsproduktion des Hauses wurde auf Wecker umgestellt. 1962 erfand das Unternehmen das Stiftankerwerk Kaliber 24, von dem rund 120 Millionen Stück gebaut wurden. Nach der Wiedervereinigung wurden aus dem ehemaligen Großkonzern mehrere Splitterfirmen. Dabei entstand unter anderem das Unternehmen Gardé Uhren und Feinmechanik Ruhla GmbH, das heute für den Bau der Kienzle-Uhren verantwortlich ist. Die Kollektion «Kienzle 1822» befindet sich im Einstiegs- und Mittelpreissegment. Beginnend bei rund 100 Euro und endend beim Dreizehnfachen des Einstiegspreises, spricht die Linie sowohl Erstkäufer als auch Markenliebhaber an. Die Diversifikation der Modelle ist daher auch recht stark. Bleiben andere Uhrenmarken einem Stil sehr treu, zeigt Kienzle unterschiedlichste Stile unter einem Dach. Auch technisch sind die Uhren der Serie sehr verschieden. Unterschiedlichste mechanische und andere Werke kommen zum Einsatz. Quarz-Werke von Ronda, Miyota und ETA werden hauptsächlich verwendet. Wichtigste mechanische Werke sind ETA 2824 und 7750. Klassisches Design und damit die Weiterführung der Markenphilosophie zeigt sich am ehesten in der «Retro-Kollektion». Diese befindet sich an der oberen Marke der Preiskategorie und besticht durch die robusten Mechanikkaliber ETA 2824 und 7750. Letzteres gilt als das Standardwerk für mechanische Chronographen und wird von fast allen bekannten Uhrenmarken als solides Modell verwendet. Seine Robustheit und die damit verbundene Ganggenauigkeit machen es sehr beliebt. Das Thema Sport steht im gestalterischen Gegensatz zur Klassik. Hier sollen Dynamik, Geschwindigkeit und Aktion eingefangen werden. Hauptmerkmal der Unterserie ist die Verwendung von Stahlarmbändern und der Verzicht auf Leder. Für die Zeitangabe sind hier Ronda-Werke vom Typ 5030D verantwortlich. Das Werk sorgt für die gewohnte Dreiaugen-Gestalt eines Chronographen. Dreißigminutenzähler, Kleine Sekunde und Zwölfstundenzähler bilden die Anzeigen im Zifferblatt der Uhr. Die Kollektion «Made in Germany» ergänzt die «Kienzle 1822»-Serie nicht nur um weitere Modelle, sondern bringt auch neue Designgedanken ein. Vor allem scheint sich hier ein neues Corporate Design zu bilden, das auf


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8.2 Kienzle 1822

Schlichte Eleganz: Auch ohne rundes Geh채use sind Kienzle-Uhren ein echter Hingucker.


8.2 Kienzle 1822

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festgelegten, klaren Stilmitteln beruht. So wurde die Krone der neuen Uhren mit einem erhabenen «K» versehen und in ihrer Form angepasst. Auch das Gehäuse wurde dynamischer und gleichsam schlanker gefertigt und erfährt durch eine neue Abrundung sanftere Formen. Hochwertigere Materialien wie Saphierglas, einfach und doppelt gebogen, sowie handveredelte, goldplattierte Rotoren gehören ebenfalls zur neuen Schönheitskur. Wichtigste gestalterische Merkmale aller Kienzle-Uhren sind der Namensschriftzug, der sich mal unter der Zwölf, mal neben der Drei befindet, sowie die Zeiger. Diese sind konkav geformt, in der Regel mit Leuchtmasse versehen und bilden ein sogenanntes «Feuille» (Blatt). Sie ziehen sich durch alle Serien der Marke hindurch, bilden so ein immer wiederkehrendes Element und geben der Uhr einen unverwechselbaren Charakter. Die preislichen Unterschiede ergeben sich hauptsächlich aus den verwendeten Materialien und Werken sowie der Art der Verarbeitung. So wird bei einfachen Modellen und Uhren mit Einstiegspreis auf eine aufwendige Verschraubung des Gehäusebodens verzichtet. Mineralglas wird als Sichtglas verwendet. Bei den Taschenuhren der Reihe sogar Plexiglas. Geschäftsführer Stephan W. Kruse-Thamer ermittelt mit seinem Team den optimalen Materialmix, passend zu den qualitativen Ansprüchen der Marke und den potenziellen Kunden.



Die Werbekampagne von 2008 setzt auf Lifestyle, Lebensgef체hl und die Affinit채t zu Luxus und Tradition.


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8.3 Kienzle Klassik


8.3 Kienzle Klassik

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8.3 Kienzle Klassik Auch die Kollektion «Kienzle Klassik» kann mit einer Vielzahl von Uhren­ modellen aufwarten. 191 Modelle wurden für das Geschäftsjahr 2008/2009 ausgesucht. Die Rubriken sind ähnlich wie in der 1822-Serie. Mechanik, Sport, Eleganz, Klassisch, Satellit und Taschenuhr heißen die einzelnen Sparten der Reihe. Alle Uhren der «Kienzle Klassik»-Reihe werden von der Kienzle time HK Ltd. produziert. Die Tochtergesellschaft von Highway Holdings, dem Hauptanteilseigner der Kienzle AG, verfügt über alle notwendigen Ressourcen, um den Marktanforderungen standzuhalten. Produktionsstätten in Longu Hua und Ping Hu im chinesischen Shenzhen bieten die nötigen Effizienzgrundlagen für die Entwicklung einer solchen Serie. Highway Holdings, unter anderem Nasdaq-notiert seit 1996, wurde erst vor rund 20 Jahren gegründet. 1990 wurde die Holding ins Leben gerufen, die in Asien vornehmlich in der Metallverarbeitung und Technikbranche tätig ist. Insgesamt arbeiten fast 2000 Arbeitnehmer für Highway Holdings Ltd. in Hongkong. Durch die Ausnutzung außereuropäischer Produktionsstandorte kann Kienzle die Klassik-Kollektion zu ansprechenden Preisen auf dem Markt anbieten. Mit einer Preisspanne von 49 bis 299 Euro liegt die Serie im Einstiegssegment und trifft, wie bereits erwähnt, auf ein hohes Käuferpotenzial. Damit bietet die Kollektion Uhrenfreunden zudem die Möglichkeit, eine mechanische Uhr auch in dieser Preiskategorie finden zu können. Mit einem durchschnittlichen Kaufpreis von ca. 150 Euro bilden diese ein attraktives Nebenangebot zu den hochwertigeren Kalibern der beiden anderen Serien. Gestalterisch sind die Modelle der Reihe modern und abwechslungsreich. Unterschiedlichste Gehäuseformen sind in der Serie vorhanden. Runde, quadratische und moderne Quarzuhr-Gehäuseformen kommen bei «Kienzle Klassik» vor. Passend dazu gestaltet sich der Kienzle-Schriftzug auch modern in Druckbuchstaben. Eindrucksvollste Modelle sind die Tonneau-Uhren und Zeitmesser mit quadratischem Gehäuse aus der Klassisch-Rubrik. Ein markantes Zifferblatt mit Doppelkreis, der kleinere für die Sekunde, machen diese Uhren unverwechselbar. Strahlenförmig und wahlweise in Stahl oder Rosévergoldung bilden die Blockindizes einen weiteren sonnenhaften Kreis um das Zifferblattin-


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8.3 Kienzle Klassik

Egal ob rundes Gehäuse, Tonneau oder Taschenuhr – klassisch oder modern: Der Kienzle-Kenner findet immer die passende Uhr.


8.3 Kienzle Klassik

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nere. Beim Tonneau sorgen zudem römische Ziffern für bessere Ablesbarkeit und edle Anmutung. Daneben stehen vor allem die Taschenuhren im kontrastreichen Gegensatz. Schließlich sind Taschenuhren weniger modern und scheinen zumindest aus vergangenen Tagen. Dass dies ein Trugschluss ist, beweisen die Taschenuhren der Serie. Moderne Materialien finden hier ihren Weg in das Gehäuse und beweisen, dass Taschenuhren nicht nur in Großvaters Nachttisch gut aufgehoben sind. Schließlich macht man auch heute im Anzug und mit Taschenuhr als Herr eine gute Figur. Und attraktive Preise sorgen dafür, dass Uhr und Anzug nicht im krassen Missverhältnis stehen. Trotz zeitgemäßer Bauweise sind die Taschenuhren mit den typischen Elementen antiker Bauten versehen. Weißes Zifferblatt und römische Ziffern beispielsweise sind die Grundelemente aller eleganten Herrenuhren. Zifferblattskelletierungen und andere optische Aufwertungen geben der Taschenuhrreihe Spannung und Charakter. Wer lieber eine Mischung aus Moderne und Klassik hat, der ist hier dennoch gut aufgehoben und kann sich ein anderes Modell aussuchen. Denn neben dem Zifferblatt mit römischen Indizes gibt es auch sachliche Gestaltungswege mit Strichindizes und/oder arabischen Ziffern. Ähnlichkeiten zur Bahnhofsuhr machen diese Modelle gut ablesbar. Die Klassik-Edition aus dem Hause Kienzle ist ohne Zweifel das Arbeitstier unter den Uhrenkollektionen. Mit ihr wird das Geld verdient, wogegen in anderen Serien der Markencharakter generiert wird. Trotzdem können und sollen hier Uhrenliebhaber von morgen langsam an mechanische Uhren und an die Faszination Kienzle herangeführt werden. Schließlich ist die Schaffung von Markentreue eines der Hauptziele eines Unternehmens. Gute Verkaufszahlen beim Start der Kienzle AG im Jahr 2004 zeugen vom Erfolg der unterschiedlichen Marketingstrategien und Produktionswege.


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8.4 Kienzle-Wecker und -GroĂ&#x;uhren


8.4 Kienzle-Wecker und -Großuhren

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8.4 Kienzle-Wecker und -Großuhren Neben der umfangreichen Armbanduhrenkollektion gehören Weckermodelle seit Firmengründung zur Kienzle-Geschichte. Die neue Kollektion von Weckern sowie Groß- und Wanduhren umfasst insgesamt 50 Modelle und verfügt damit über eine umfangreiche Produktpalette. 9 Großuhren und 4 Kurzzeitmesser sind Bestandteil der Kollektion. Daneben gibt es mechanische Wecker, Wecker mit Doppelglocke, Funkwecker mit LCDAnzeige und Zifferblatt sowie Quarzwecker. Die Stile rangieren zwischen klassischem Chic und moderner Sachlichkeit. Retromodelle bestechen durch römische Zifferblätter und althergebrachte Zeiger. Zifferblattkreationen in silbernem Ton sowie die Gehäuseform alter Reisewecker geben den Retroweckern einen Hauch des Lebensgefühls aus alter Zeit. Demgegenüber stehen Modelle mit rundem Gehäuse und reduzierter Formensprache. Einfache, gerade Zeiger und bewusst simpel gehaltene Indizes geben den Uhren eine aktuelle Note. Sie wirken geradlinig, modern und positiv zweckgebunden. Was wäre aber ein Wecker ohne seine Funktion? Schließlich gibt sie der Uhr den Namen. Daher wird auf das Wecksignal großen Wert gelegt. Eindringlich und aufweckend muss es sein, aber auch sympathisch und wenig aggressiv. Gerade so, dass der Inhaber der Uhr sanft aus seinen Träumen gerissen wird, um seinem Tagewerk nachzugehen. Ein intermittierendes Wecksignal wurde dazu in fast alle Modelle integriert. Dabei beschränkt sich die hinter dem Zifferblatt oder der Anzeige stehende Technik bewusst aufs Wesentliche. Streng nach dem Motto, keine unausgereifte Technik zu verbauen, bleibt Kienzle der robusten Einfachheit für jedermann auch in seiner Weckerlinie treu. Kunden, die lieber auf neue Weise ihre Zeit ablesen, haben die Möglichkeit, auf LCD-Displays zurückzugreifen. Kurzzeitmesser erleichtern den Umgang mit wichtigen Tätigkeiten. Gerade beim Kochen oder anderen Arbeiten im Haushalt sind sie ein unerlässliches Handwerkszeug. Eine kundenfreundliche Preisgestaltung von 12 bis 60 Euro für einen KienzleWecker macht die Zeitmesser zu einem erschwinglichen Gerät täglichen Gebrauchs, das auf keinem Nacht- oder Küchentisch fehlen darf.


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9. Uhren sind nur der Anfang Der Vorstand und Marketingverantwortliche der Kienzle AG, Stephan W. Kruse-Thamer, sowie der Vorsitzende des Aufsichtsrates, Marco Hahn, äußern sich im Gespräch mit den Autoren des vorliegenden Buches, den Journalisten Jan Lehmhaus und Peter Welchering, zu Kienzle und zur Zukunft der Marke. Die Moderation des Roundtables lag bei Professor Dr. Stefan Hencke, dem Herausgeber der Buchreihe «Hencke Marken Bibliothek». Als ein Bekannter im Jahre 2005 dem Hamburger Werbefachmann Stephan W. Kruse-Thamer berichtete, dass die bekannte Uhrenmarke Kienzle zum Verkauf stehen würde, war er wie elektrisiert. Seit 1998 arbeiten Stephan W. Kruse-Thamer und der Unternehmer Marco Hahn erfolgreich zusammen. Kruse-Thamer kontaktierte kurzfristig seinen Geschäftspartner: das Thema Kienzle. «Diese Marke», glaubten die beiden erfolgreichen Unternehmer, «das ist ein Markenname wie ein Donnerhall.» Und so beschlossen sie: «Wir steigen ein und machen etwas aus dieser Marke.» Und schon bald war beiden klar, dass die Marke viel mehr Potenzial hat als nur das einer Uhrenmarke.

Stephan W. Kruse-Thamer hat sich in der von Professor Dr. Stefan Hencke moderierten Runde einen Vor­ mittag lang den kritischen Fragen der Fachjournalisten Peter Welchering und Jan Lehmhaus gestellt. (Personen von links nach rechts)


9. Round-table-Gespräch

Marco Hahn will Kienzle zu einem mittel­ ständischen Lifestyle-Konzern ausbauen.

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Professor Dr. Stefan Hencke (links) und Peter Welchering interessiert die große Bedeutung des Stand­ortes Deutschland für Kienzle.

Hencke: Ich habe ein paar Zahlen mitgebracht: Der Bekanntheitsgrad von «Kienzle» bei der Zielgruppe der über 30-Jährigen liegt bei 59 Prozent. Wie bewerten Sie das Ergebnis nach einem fast dreijährigen Markenaufbau? Kruse-Thamer: Wir bewerten das Ergebnis als sehr gut. Bedenken Sie, dass wir die Marke aus einem historisch schwierigen Umfeld übernommen haben. Und natürlich wollen wir uns verbessern. Aber schauen Sie sich diese 59 Prozent einmal genauer an. Omega, als Uhrenmarke eine der wichtigsten Marken weltweit, verfügt in Deutschland gemäß den «Stern»-Markenprofilen von 2006 ebenfalls über einen Bekanntheitsgrad von 59 Prozent. Lehmhaus: Wenn ich das richtig verfolgt habe, dann startete der «neue» Markenaufbau ja recht langsam. Nach meinen Beobachtungen wird seit 18 Monaten intensiv an der Marke gearbeitet. Kruse-Thamer: Der von Ihnen angesprochene Zeitrahmen kommt ungefähr hin. Unser Ziel ist ein nachhaltiges Wachstum und eine Marke, die hinsichtlich ihres Marktauftrittes und Markterfolges mittel- bis langfristig ausgerichtet ist. Wir sind an einem langfristigen Erfolg interessiert. Und da lassen wir uns gerade bei der Neupositionierung und dem Neuaufbau der Marke auch etwas Zeit. Welchering: In den vergangenen Jahren wurde insbesondere durch


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9. Round-table-Gespräch

Vor allen Dingen beim Transfer von Markenimages innerhalb der sechs geplanten Produkt­ gruppen hat Jan Lehmhaus den Aufsichtsratsvorsitzenden Marco Hahn und den Vorstand Stephan W. Kruse-­Thamer nach Strategien gefragt.

die Anstrengungen von in Glashütte beheimateten Marken der Produktionsstandort Deutschland, aber auch die Kennzeichnung «Made in Germany» zunehmend wichtig – und das im nationalen als auch im internationalen Geschäft. Davon konnte Kienzle doch wohl erheblich profitieren. Ich denke, dass der Markenaufbau angesichts der starken Ausprägung dieses Trends einfach schwieriger war. War das ein Grund für Sie, Herr Hahn, sich als Investor mit diesem Thema zu beschäftigen? Hahn: Die Tendenz zu einer zunehmenden Nachfrage im Bereich «Made in Germany» habe ich natürlich sehr wohl wahrgenommen. Und das hat sich sicherlich auch positiv auf die Wahrnehmung der Marke «Kienzle» ausgewirkt. Denn Kienzle steht für die Werte, die die Menschen mit diesem Trend verbinden. Und das ist die Kombination von Qualität, Tradition und Innovation. Hencke: Wenn ich hier kurz nachfragen darf. Bekannte Marken wie Lange & Söhne oder auch Glashütte Original sind bei der Positionierung in anderen Bereichen unterwegs. Wenn Sie mit dem automobilen Segment einen Vergleich ziehen sollten, was wäre Lange und was Kienzle? Hahn: Oh, das ist gar nicht so einfach. Eine Lange & Söhne sehe ich persönlich beispielsweise bei Mercedes-Benz, hier aber eher bei der ­S-Klasse oder einem Maybach. Und eine Glashütte Original sehe ich bei einem 7er-BMW. Wir bei Kienzle sind eher bei Audi positioniert, zumindest was unsere Linien Klassik und 1822 angeht.


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Welchering: Ich möchte nochmals kurz auf den Punkt «Made in Germany» zurückkommen. Die Marke Kienzle arbeitete schon 1885 ganz bewusst mit dem Produktionsstandort Deutschland, also zu dem Zeitpunkt, in dem die Uhrenfabrik Johannes Schlenker in Schlenker & Kienzle umgewandelt wurde. Ist das von 1970 bis Mitte der 1990er-Jahre nicht einfach durch eine unglückliche Strategie verloren gegangen? Kruse-Thamer: Verloren gegangen würde ich nicht sagen. Wie bei den meisten anderen Uhrenunternehmen in Deutschland stand das Thema «Made in Germany» in diesem Zeitraum nicht so stark im Vordergrund der Markenkommunikation. Aber um auf Kienzle zurückzukommen: Der Produktionsstandort führte eher eine Art Schattendasein. Wir haben deshalb auch ganz bewusst Bezug auf den Beginn der Uhrenherstellung im Jahre 1822 durch Johannes Schlenker genommen, weil dadurch die Marke erst möglich war und damals die heute wieder gültigen Werte entstanden sind. Welchering: Aber die 1980er-und 1990er-Jahre sind durch eine unklare Strategie, Tarifauseinandersetzungen, Arbeitsplatzabbau und eine zumindest unglückliche Kommunikation zwischen der Kienzle-Geschäftsführung und der Arbeitnehmerseite gekennzeichnet. Lehmhaus: Und das hat die Markenwahrnehmung doch wohl auch geprägt. Oder wie sehen Sie das? Hahn: Ja, da gebe ich Ihnen recht. Das prägt die Marke heute aber nicht mehr. Wir kommunizieren auch, dass es diese wenig erfreuliche Entwicklung gegeben hat, dass Arbeitsplatzabbau und strategische Fehler der damals Verantwortlichen zur Firmengeschichte gehören. Wir müssen das akzeptieren. Eine nachhaltige Unternehmenspolitik bedeutet aber auch, dass wir aus Fehlern lernen sollten, und das haben wir getan. Wir haben die Fehler unserer Vorgänger analysiert und diese in unsere strategischen Überlegungen mit einbezogen. Hencke: Die aktuelle Strategie bezieht sich aber nicht nur auf Uhren. Betrachtet man die DNA der Marke, würde sie zur Diversifikation anregen. Hahn: Uhren sind der Einstieg.


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Kruse-Thamer: Genau. Uhren sind ein wunderbarer Einstieg, aber eben ein Einstieg. Wir wollen und sollten auch diversifizieren und planen, in den kommenden Jahren weitere Produktgruppen auf den Markt zu bringen. Welchering: Wiederholen Sie damit nicht den Fehler, den Alfred Kreidler mit seiner Diversifizierungsstrategie machte? Damals entwickelte Kienzle für teures Geld ein Operationsskalpell, das dann niemand brauchte und niemand kaufen wollte. Lehmhaus: Und diese Tradition wurde ja in den Folgejahren mit dem elektronischen Heizkostenverteiler fortgesetzt. Mit anderen Worten: Die Marke wurde unscharf. Hencke: Wie wollen Sie das vermeiden? Hahn: Indem wir ergänzende Produktgruppen auf den Markt bringen. Wir haben das Ziel, Kienzle zu einem mittelständischen LifestyleKonzern auszubauen. Wir werden keine Operationsskalpelle und keine Heizkostenverteiler auf den Markt bringen, sondern Produktgruppen, die vorwiegend im Lifestyle-Bereich angesiedelt sind. Kruse-Thamer: Für das Frühjahr 2009 haben wir uns den OptikBereich vorgenommen. Auf der internationalen Optikmesse Mido in Mailand Anfang 2009 werden die ersten Kienzle-Modelle präsentiert. Die Gestelle sind von einem anerkannten Designer in diesem Bereich entwickelt worden. Design und Material werden überraschen, zum Beispiel wurde für die Gläser einer Linie ein besonders hochwertiger Kunststoff entwickelt. Der Innovationsgrad ist dabei enorm, weil diese Gläser eigentlich nicht zu zerstören sind. Dabei werden wir bei der jetzigen Segmentstrategie bleiben, wie wir sie im Uhrenbereich ja durchaus mit Erfolg umsetzen. Die Jakob-Kienzle-Brille wird im oberen Preissegment angeboten, die Kienzle-1822-Brille im mittleren und die Kienzle-Klassik-Brille im unteren Preissegment. Welchering: Können diese Segmente denn so ohne Weiteres auf die Optikbranche übertragen werden?


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Hahn: Warum nicht? Zwischen beiden Konsumgütergruppen gibt es hinsichtlich des Vertriebs, des Marktauftritts oder auch der Werbung und der Kommunikation gewisse Parallelitäten. Wir haben es in Deutschland mit rund 5400 relevanten Facheinzelhändlern für Uhren zu tun, von denen etwa 1400 auch Optik-Produkte in ihrem Sortiment führen. Wir haben 11 500 Optiker in Deutschland. Von denen suchen mehr als 60 Prozent nach einer Arrondierung ihres Portfolios. Über die Brille schaffen wir eine Verlinkung von Uhren- und Optiksegment. Außerdem bleiben wir mit beiden Produkten im Lifestyle-Bereich. Hencke: Welche Produktgruppen wird es danach noch geben? Kruse-Thamer: Lassen Sie mich zumindest Folgendes andeuten. Für die Kienzle-Brille brauchen wir ein Etui. Das soll ein schönes und ansprechendes Leder-Etui sein. Da liegt es nahe, diesen Accessoire-Bereich zu erschließen. Der «Kienzle-Style» wird dann auch weitere Lederwaren umfassen. Ab dem Frühjahr 2010 wollen wir mit dieser Produktgruppe antreten. Hahn: Hier brauchen wir aber noch etwas Entwicklungszeit. Ein Kienzle-Aktenkoffer wird auch nicht nur das zweite Produkt neben den Brillen-Etuis sein, sondern die konsequente Fortführung des Kienzle-StyleGedankens legt es dann auch nahe, einen so aktuellen Trend wie etwa einen Timer und das komplette Umfeld mit aufzugreifen. Kruse-Thamer: Hier treffen sich die Renaissance des papiernen Kalenders und eine nachhaltig-trendige Schreibkultur. Ein Timer ist da einfach ein Klassiker. Hencke: Lassen Sie dieses Segment extern oder intern entwickeln und produzieren? Hahn: Die Entwicklung der Produktgruppe muss hier im Hause erfolgen. Wir arbeiten aber mit einer Kombination von internen und externen Designern und Produktentwicklern zusammen. Die Produktion wird extern sein. Welchering: Wer ist dabei für das Qualitätsmanagement zuständig?


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Stephan W. Kruse-Thamer versteht sich auch als Markenbotschafter.

Hahn: Das bleibt im Hause. Denn es handelt sich ja um KienzleProdukte. Das heißt, wir initiieren den Entwicklungsprozess der jeweiligen Produktgruppen. Wir prüfen, ob sich die Produktentwicklung gemäß unserem Markenkonzept vollzieht. Und wir nehmen akribisch die Qualitätskontrolle der Produkte vor. Das hat übrigens tatsächlich zwei Seiten: Zum einen sind wir für die Modellierung des Prozesses und damit für das Qualitätsmanagement verantwortlich. Zum anderen prüfen wir auch die Produktqualität in Einzelfällen. Beides ist notwendig, damit die Trias von Qualität, Tradition und Innovation im Markennamen vermittelt wird. Kruse-Thamer: Jedes Produktsegment kann einen Image-Transfer auf andere Produktsegmente leisten. Dazu muss aber das Qualitätsmanagement den Erfordernissen der Markenführung entsprechen. Das muss einfach sichergestellt sein. Sonst geht das schief. Welchering: Von diesem Lifestyle-Gedanken her gedacht, gibt es aber nur wenige Bereiche für eine solche Diversifizierung. Wo sehen Sie noch Chancen?


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Kruse-Thamer: Wir wollen sechs Bereiche angehen. Außer den Brillen, die schon konkret in Vorbereitung sind, und Kienzle-Style denken wir da noch an Kienzle-Med, an Kienzle-Data und auch an die KienzleMesstechnik. Lehmhaus: Und der sechste Bereich? Hahn: Das sind die Uhren als unser Kernbereich. Daraus wird die Marke Kienzle entwickelt. Die Uhren werden weiterhin an zentraler Stelle eine große Bedeutung haben. Welchering: Wo liegt die Verbindung von Kienzle-Data zum Lifestyle? Hahn: Die ergibt sich praktisch von selbst. Denn Produkte der Informationstechnologie sind heutzutage Lifestyle-Produkte. Welchering: Setzen Sie dabei hauptsächlich auf Accessoires, wie zum Beispiel Lautsprecher für Laptops, stylische Kartenleser, iPod-Kopfhörer? Hahn: Möglicherweise. Aber das wird gegenwärtig noch evaluiert. Mehr möchte ich dazu heute noch nicht verraten. Lehmhaus: Inwieweit spielt Innovation eine Rolle beim Image-Transfer von der Kienzle-Analysetechnik auf die anderen Produktsegmente? Kruse-Thamer: Für die Innovation spielt die Kienzle-Analysetechnik mit Sicherheit eine tragende Rolle. Jedoch wirkt diese sich auf die jeweiligen Produktsegmente unterschiedlich aus. Hahn: Mit den unterschiedlichen Produktsegmenten bedienen wir ja durchaus unterschiedliche Zielgruppen, sodass die Image-Transfers hier jeweils je nach angesprochener Zielgruppe unterschiedlich modelliert sein müssen. Hencke: Welches Produktsegment profitiert denn sofort und ganz unmittelbar von der Trias «Messen, Zählen, Wiegen»?


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Ein Vormittag im August: Im Besprechungsraum des Hamburger Kienzle-Hauses treffen sich zwei Fachjournalisten mit Marco Hahn und Stephan W. Kruse-Thamer. Unter der Moderation von Professor Dr. Stefan Hencke wird drei Stunden lang intensiv über Markenführung und Strategie von Kienzle gesprochen.

Mit hanseatischem Understatement zum Ausdruck gebrachte Noblesse bestimmt die Präsentation der Lifestyle-Marke Kienzle.

Kruse-Thamer: Ganz klar Kienzle-Med. Wir wollen zwar hier auch dem Lifestyle einer älteren Zielgruppe gerecht werden, der Design-Aspekt spielt also eine gewichtige Rolle. Aber bei Produkten der Medizintechnik ist das Vertrauen der Verbraucher in die Ergebnisse, die sie liefern, noch höher zu bewerten als der Design-Faktor. Hahn: Bei Kienzle-Med stand die Überlegung am Ausgang der strategischen Planung, dass Kienzle als Marke bei den über 30-Jährigen einen hervorragenden Bekanntheitsgrad hat. Diese Zielgruppe wird älter und Kienzle-Med soll mit seinen Produkten gerade bei der älteren Zielgruppe zu Hause sein. Lehmhaus: Welche Produkte sind das ganz konkret? Kruse-Thamer: Nach dem bisherigen Stand der Überlegungen werden das ein Blutdruckmessgerät, ein Rohr-Fieberthermometer, ein Blutzuckermessgerät und eine Körperfettwaage sein. Hahn: Design, Nutzwert und die Validität der Ergebnisse sind dabei wichtige Aspekte für die Kaufentscheidung. Deshalb ist die Trias «Messen, Zählen Wiegen» für Kienzle auch in diesem Segment wichtig. Denn darüber wird das Vertrauen in die Korrektheit der Messergebnisse dieser medizintechnischen Produkte hergestellt. Das hängt dann natürlich ganz


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eng mit dem Nutzwert zusammen. Hinzu kommt, dass diese Zielgruppe Wert auf ansprechendes Design und bei solchen konkreten Hilfen im Alltag, beispielsweise ein Blutdruckmessgerät, ein Produkt haben möchte, das ihrem Lebensstil entspricht und ihn ausdrückt. Lehmhaus: Wie kann ich das verstehen? Soll Medizintechnik auch Spaß machen? Kruse-Thamer: Sie ist ab einem bestimmten Alter oder in bestimmten Situationen Teil des Lebens und muss dann zu diesem Leben passen. Hahn: Die Menschen wollen den kleinen Luxus, und sie wollen ihn in allen Lebenslagen. Auch wenn sie auf bestimmte medizinische Werte achten müssen. Welchering: Was heißt dabei «kleiner Luxus»? Hahn: Wie schon zu Beginn erwähnt, sehe ich uns im Umfeld von VW und Audi. Hochwertig, technisch solide, erschwinglich, aber auch mit einem kleinen positiven Kick dabei. Und da haben wir den Mittelstand und die Mittelschicht ganz klar im Fokus. Das sind immerhin 80 Prozent der Bevölkerung. Lehmhaus: Aber im Uhrenbereich bietet Kienzle doch nicht nur den kleinen Luxus. Kruse-Thamer: Wir werden im Uhrenbereich sicherlich nicht gegen Glashütte antreten. Insofern bieten wir auch hier den kleinen Luxus. Und diesen kleinen Luxus bieten wir in drei unterschiedlichen Preislagen an. Hahn: Entscheidend ist dabei das Preis-Leistungs-Verhältnis. Das muss eine große Spannbreite beim Nutzen bieten. Das kann auch der Mehrwert der Selbstpräsentation oder der Imagewert sein, womit ein bestimmtes Lebensgefühl mit einem Produkt zum Ausdruck gebracht wird. Welchering: Eine Diversifikation der Produkte verursacht immer Kosten. Das hat nur ein Alfred Kreidler, als er Kienzle um jeden Preis diversifizieren wollte, nicht erkannt. Die Folgen waren dramatisch.


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Hahn: Der Kreidler-Weg war schon vor 30 Jahren kaum bezahlbar. Aber das hat nichts mit der notwendigen Diversifizierung zu tun, sondern mit der Art und Umsetzung der Diversifizierung. Eine der wichtigsten Managementaufgaben besteht zweifellos darin, die Kosten im Griff zu behalten. Bei einem breit gefächerten Produktportfolio verursacht gerade die In-house-Entwicklung und -Fertigung zwangsläufig hohe Kosten. Das haben viele Unternehmen in Deutschland vor 30 Jahren lernen müssen, nicht nur Kienzle, und das gilt auch heute noch. Deshalb gehen wir auch einen ganz anderen Weg. Wir arbeiten mit einer festen Kernmannschaft und holen uns dann die Spezialisten jeder Produktgruppe ins Boot. Welchering: Aber Sie streben mit den unterschiedlichen Produktsegmenten doch eine erhebliche Diversifizierung an. Hahn: Sicherlich, wer nicht diversifiziert, geht unter. Wer mit großer Fertigungstiefe diversifiziert, geht auch unter. Ebenso gilt: Wer mit zu hohen Entwicklungskosten diversifiziert, geht ebenfalls unter. Es muss anders gehen. Dass es anders geht, zeigt Sony. Die haben nur noch eine kleine Kernmannschaft und keine riesige Diversifizierungstruppe. Diese Lektion haben wir bei Kienzle auch gelernt. Die Kernmannschaft muss sich um Designer für den Entwurf kümmern. Sie muss als Einkaufstrupp mit Produktscouts zusammenarbeiten, die ihre jeweiligen Märkte kennen. Und sie muss vor allem die Qualitätskontrolle im Griff haben. Kruse-Thamer: Die Produktidee muss aus der Marke Kienzle selbst herauskommen. Die Umsetzung realisieren wir dann mit Partnern. Und das gilt auch für die Fertigung mit unseren Partnern. Lehmhaus: Aber die Fertigung ist ja durchaus ein neuralgischer Punkt. Wenn da etwas schiefläuft, sind die Kunden rasch enttäuscht. Hahn: Das ist Sache der Qualitätskontrolle. Hier brauchen Sie heutzutage einen doppelten Prozess. Der besteht aus der internen Qualitätskontrolle beim Fertigungspartner und unserer Qualitätskontrolle, die wiederum zwei Aufgaben hat, die konkrete Produktqualität immer wieder zu überprüfen und zu schauen, ob die Prozesse der Qualitätskontrolle beim Fertigungspartner mit unseren Erfordernissen übereinstimmen.


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Hencke: Wie wichtig ist der Standort der Fertigung? Hahn: Das muss unter Beachtung der Qualitätskriterien und der Kostenfaktoren jeweils entschieden werden. Der einzigartige Verkaufsvorteil ist die Qualität. Jede Marke wird an ihrer Qualität gemessen. Diese Qualität muss zu erschwinglichen Kosten hergestellt werden. In diesem Zusammenhang beobachte ich mit großem Interesse, dass einige Unternehmen ihre Fertigung – zumindest teilweise – wieder nach Deutschland verlagern. Lehmhaus: Ich habe gehört, dass Kienzle demnächst in Hamburg fertigen wird. Stimmt das? Hahn: Wir denken darüber nach. Zum einen halten wir es für eine gute Idee, das, was an Tradition mit der Marke Kienzle verknüpft wird, stärker erlebbar werden zu lassen. Das wäre mit einer Teilproduktion oder einem Uhrenmuseum sehr schön zu realisieren. Das Uhrenmuseum müsste mit dem Kienzle-Haus eng verbunden sein. Zum anderen denken wir auch über eine Manufaktur nach, die Kienzle-Uhren herstellt. Hier führen wir Gespräche mit zwei Firmen. Eine ist allerdings nicht direkt in Hamburg angesiedelt, sondern liegt 200 Meter von der hanseatischen Grenze entfernt. Welchering: Lässt sich Kienzle einfach nach Hamburg verlagern? Ist da nicht zu vieles mit Schwenningen und dem Neckar verbunden? Kruse-Thamer: Die Marke lässt sich ohne Probleme nach Hamburg verlagern. Allerdings hatte das zur Voraussetzung, dass wir den Hof besenrein bekommen haben. Wir mussten uns also von sehr vielen Altlasten trennen. Und dabei hat sich ergeben, dass nach diesem sauberen Schnitt ein Neuanfang eigentlich überall möglich wäre. Kienzle ist eine Marke, die für Solidität und Qualität zu einem vernünftigen Preis steht. Das ist, wenn Sie so wollen, nicht nur schwäbisch, sondern hanseatisch. Das kann auch westfälisch oder holsteinisch sein. Die Hauptsache ist, dass wir in Deutschland sitzen und entsprechende Qualität abliefern. Welchering: Aber die Fertigung galt doch als Qualitätsarbeit aus dem Schwarzwald?


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Das wichtigste Kapital von Kienzle: die enorm motivierten Mitarbeiter

Kruse-Thamer: Eine Zeit lang war das sicherlich so. Doch diese Zeiten sind schon lange vorbei. Mit dem Standort Schwenningen war ja auch ein Niedergang verbunden. Die Marke musste zu neuem Leben erweckt werden. Das ist gelungen. Und nun kann dieses positive Markenimage auch von Hamburg aus wirken. Hencke: Lassen Sie uns zum Abschluss noch über die Vertriebswege sprechen. Lehmhaus: Da war Kienzle in der Geschichte ja ausgesprochen fachhandelsorientiert, aber das hat sich seit 1999 völlig geändert. Hahn: Und es hat sich, als Stephan W. Kruse-Thamer und ich dazugestoßen sind, noch einmal geändert. Kienzle lebt seine Fachhandelsorientierung sehr stark. Wir arbeiten zurzeit mit 800 Fachhändlern intensiv zusammen und wollen diese Zahl bis Ende 2009 verdoppeln. Lehmhaus: Wenn man sich die geplanten Produktsegmente ansieht, dann sind die aber nicht ausschließlich für den Fachhandel konzipiert.


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Hahn: Die unterschiedlichen Produktgruppen erfordern einen Mix der Vertriebskanäle. Dabei spielt in jeder Produktgruppe der Fachhandel eine ganz wichtige Rolle. Über den Fachhandel hinaus werden wir natürlich auch den Versandhandel und den Online-Handel bedienen. Das ist völlig klar. Dabei ist aber entscheidend, dass diese Vertriebskanäle nicht in Konkurrenz zum Fachhandel betrieben werden. Sie müssen in jedem Fall eine Ergänzung darstellen. Lehmhaus: Denken Sie dabei auch an eigene Flagship-Stores? Hahn: Das könnte, vorsichtig formuliert, eine mögliche Option werden. In Kombination verschiedener Produktgruppen kann ich mir das in einigen Jahren vorstellen. Aber das ist allenfalls eine langfristige Option. Diese Kienzle-Stores würden dann von der Synergie der verschiedenen Kienzle-Produktgruppen erheblich profitieren. Deshalb ist es eine attraktive Option, die wir nicht aus den Augen lassen sollten. Aber hier darf man nichts überstürzen. Kruse-Thamer: Vor allen Dingen dürfen solche Stores den Fachhändlern keine Konkurrenz machen, sondern müssen aus der Synergie der unterschiedlichen Produktgruppen heraus ganz andere Bedürfnisse ansprechen als ein Fachhandelsgeschäft. Zahlreiche Beispiele haben gezeigt, dass Flagship-Stores den Umsatz im Facheinzelhandel sogar verbessert haben. Hencke: Welches sind denn die nächsten strategischen Schritte? Hahn: Zunächst die Bestandsaufnahme: Der Orderkatalog für die Produkte steht. Wir gehen auf den Fachhändler aktiv zu. Im Uhrenbereich läuft es gut, und wir werden hier kontinuierlich weiter ausbauen. KienzleOptik wird der nächste Bereich sein, den wir auf den Markt bringen. Kienzle-Med wird danach in den Startlöchern stehen. Wir wollen auf diese Weise jedes Jahr zwei Produktgruppen lancieren. Damit ist Kienzle auf dem Weg, ein mittelständischer Lifestyle-Konzern zu werden, der den Mittelstand ganz klar im Blick hat. Hencke: Besten Dank allen Beteiligten für den regen Informationsaustausch.



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Literaturverzeichnis

Bender, Gerd: Die Uhrmacher des hohen Schwarzwaldes und ihre Werke, Bd. 1, 1975 Ders., Band 2, 1978 Boegel, Maik: Die eilende Zeit, Dokumentarfilm, Deutschland 2007 Brunner, Gisbert L.: Armbanduhren, München 1998 «Chronos»-Sonderdruck 6, 2005 Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel, Steidl Verlag, Göttingen 2006 Kahlert, Helmut; Mühe, Richard; Brunner, Gisbert: Armbanduhren – 100 Jahre Entwicklungsgeschichte, München 1990 Kienzle-Apparate GmbH, Villingen (Hrsg.): Kienzle-Blätter 1957–59, Kienzle-Blätter 1960–62, Kienzle Blätter 1963–65 Kreuzer, Anton: «Armbanduhren», Klagenfurt 1995 Reif, Alfred, Kienzle-Chronik (Typoskript) Scherzinger, Geschichte der Gütenbacher Uhrenmacherei, Freiburg 2007 Simon, Ulrike: Uhren aus Deutschland für Asien, in: «Die Welt», 27.05.2007 Trueb, Lucien F.: Die Zeit der Uhren, Ulm 1999 Uhr am Huf, in: «Der Spiegel», Nr. 17, 17.4.1967


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Die Autoren

Jan Lehmhaus

Tim Stefan Schmidt

Geb. 1965, wohnt und arbeitet in Hamburg. Von 2000 bis 2007 Leiter des Lektorats der «Financial Times Deutschland», arbeitet jetzt als freier Journalist mit dem Schwerpunkt Uhren, Schmuck und Lebensart. Veröffentlichungen unter anderem in der «Financial Times Deutschland», «AD», «Chronos», «How to spend it», etc.

Geb. 1974 in Seoul, Korea, wohnt und arbeitet in Stuttgart. Er kam über verschiedene Ausbildungswege zum Tageszeitungsjournalismus. Absolvierte ein Volontariat bei der GZ Goldschmiede Zeitung. Seit Juli 2008 arbeitet er als Redakteur für Hörfunk und Printmedien bei der Vox Mundi Medienanstalt. Veröffentlichungen in verschiedenen nationalen und internationalen Magazinen.

Peter Welchering

Professor Dr. Stefan Hencke

Geb. 1960, wohnt und arbeitet als geschäftsführender Gesellschafter der VoxMundi Medienanstalt GmbH, einer Produktionsgesellschaft für elektronische Medien, in Stuttgart und Köln. Als Technik- und Wissenschaftsjournalist ist er für Hörfunk, Fernsehen, Zeitschriften und Zeitungen tätig. Weiterhin hat er verschiedene Lehraufträge an Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Geb. 1962 in Birkenfeld, wohnt und arbeitet in Stuttgart, Trier, Salzburg und Zürich. Er ist als Unternehmer, Publizist und Professor für Marketing und Kommunikation tätig.



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