Ulrike Haß: Kraftfeld Chor. Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek

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Ulrike Haß Kraftfeld Chor



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Ulrike Haß · Kraftfeld Chor


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Ulrike Haß Kraftfeld Chor Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek

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ISBN 978-3-95749-279-1 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-338-5 (ePDF)


Ulrike Haß Kraftfeld Chor Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek



Inhalt

Ohne Anfang ohne Ende ........................................................................ 7 I Aischylos Sophokles Antike Konstellationen

Gattungs-trouble .................................................................................... 16 Fragment-Bewusstsein ........................................................................ 37 Topologie des Chors .............................................................................. 64 Der andere Körper des Theaters ........................................................ 98 II Kleist Abfall der Könige, Fürsten und Väter

Um 1800.................................................................................................. 128 Das Guiskard-Fragment ...................................................................... 142 Der Prinz in der Orchestra ................................................................ 164 III Beckett Kein dramatisches Vakuum ohne Chor

Spiele mit Zuschauern ........................................................................ 202 „Ne travaillez jamais!“ ........................................................................ 241 IV Jelinek Abfall von der Rolle Frau und von allem

Die Rolle verwerfen ............................................................................ 270 Im Abseits. Theater schreiben .......................................................... 294 Altes Lied .............................................................................................. 319 Zum Schluss, vorerst .......................................................................... 333 Endnoten .............................................................................................. 336 Abbildungsverzeichnis........................................................................ 356 Danksagung .......................................................................................... 357



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Alle Versuche, den Anfang des Chors zu ermitteln, laufen ins Leere. Sie stoßen zwar auf eine Vielzahl von Ursprungsherden in den ländlichen Dionysien und Agrarkulten, aber diese verzweigen sich weit über das archaische Zeitalter hinaus und schließlich verlieren sie sich. Für die Anfänge des Chors gibt es keine Zeitangabe, kein Datum. Der Chor hat weder Adresse noch Urheber. Kein Dichter hat ihn sich ausgedacht. Sicher ist nur, dass der Name chorus zunächst einen Tanzplatz bezeichnete, einen simplen Treffpunkt für all jene, die sich zu den großen Frühlingsfesten versammelten, um tage- und nächtelang zu singen und zu tanzen. Die Feste galten den Wiedergeburten des Gottes Dionysos wie auch der Erde. Denn beide haben ihr eigenes Leben, das endet und das wiedergeboren wird und das in allem schlicht das Nichtidentische bezeichnet, dem Menschen begegnen, ohne die Möglichkeit, es einzusehen oder zu verstehen. Diesseits einer naiven Mimetik von Naturprozessen und ebenso diesseits eines verschwommenen, kosmischen Organizismus kannten archaische Gesellschaften das Opfer, mit dem sie die Fremdheit des Lebens heiligten. Heilig machen, sacrum facere, heißt, eine andere Welt mittels eines Opfers in ihrer Unzugänglichkeit zu würdigen; es heißt, eine Grenze zu markieren und diese festlich zu achten. Dazu wurde ein Opfer der Zugehörigkeit zu dieser Welt ausgesetzt. Die Fremdheit der fremden Erde ist absolut unberührbar, kein Mensch langt dahin. Im siebten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert, die von der klassischen Archäologie als archaische Epoche zusammengefasst werden, bilden sich tyrannische Könige heraus, die wesentlich zur Entmachtung konkurrierender aristokratischer Sippen und Clans beigetragen haben. Im Umfeld dieser Tyrannen entstehen im Übergang zum fünften Jahrhundert Stadtstaaten, die sich von den ländlichen, älteren Götter- und Umweltbezügen ablösen. Griechenland erlebt einen regelrechten Gründerboom. Die attische Polis, in der freie Männer das Wort führen – und frei sind, weil sie durch Sklaven von der Arbeit und durch Frauen von der Sorge um das Haus entlastet sind –, beruht auf einer Reihe präziser Trennungen, mit denen sich die Polis gegen ihr Außen zu verschließen sucht. Zugangs-, Besitz- und Wohnrechte werden eigens geregelt. Für den städtischen Binnenraum wird eine Zweigliederung maßgeblich, die mit den Begriffen Polis und Oikos eine strenge institutionelle Scheidung von öffentlicher und häuslicher Sphäre bezeichnet. Doch mit dieser


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Zweigliederung geht ein wichtiger missing link einher. Was zwischen den Zweien verlorengeht, insofern ihm keine eigene Stelle mehr eingeräumt wird, ist kein uranfängliches Chaos, sondern die Ordnung des Kosmos mitsamt seiner Osmosen. Die Metamorphosen und befremdenden Eruptionen der ländlichen Dionysien werden allmählich vergessen. Erst einmal gegründet, differenziert sich die Polis mit atemberaubender Geschwindigkeit in ihrem Innern. Neben der Agora, dem zentralen öffentlichen Platz der Gerichtsbarkeit und der offiziellen Verlautbarungen, entstehen Gymnasien, Sportanlagen und Theater. Die Polis richtet alljährlich große städtische Dionysien aus. Für diese Festspiele im Frühjahr des Polis-Kalenders löst sich die chorische Form von ihren ländlich weit verstreuten Tanzplätzen. Sie erbt vom Tanzplatz ihren Namen und zieht als chorus in die Polis ein, die für den Chor im staatlichen Rahmen ihrer Festspiele verschiedene Funktionen in der festlichen Eröffnung und eine neu installierte Tanzplatte vorsieht: die Orchestra. In der Polis setzt sich ein Chor aus Einwohnern der Stadt zusammen, die von einem Chorführer (koryphäe) in Gesang, Stimme und Tanz unterrichtet werden. Für ihren Unterhalt kommen reiche Bürger der Polis auf. Die Festspiele werden als Theaterwettbewerb durchgeführt. Die Annahme eines Stücks wird damit besiegelt, dass dem Dramatiker für die Aufführung von der staatlichen Organisation der Festspiele ein Chor zur Verfügung gestellt wird. Während wir es im Fall des Chors mit einem veritablen Umzug zu tun haben, über den wir im Einzelnen wenig wissen, lässt sich für die Theaterfigur des Protagonisten ein relativ exaktes Gründungsmoment feststellen, das von verschiedenen Texten überliefert wird, die auf ein Datum und einen Einzelnamen hinweisen: Thespis, der Berater des Tyrannen Peisistratos, habe um 534 v. Chr. dem Chor zum ersten Mal einen ‚Haupthandelnden‘ gegenübergestellt und damit die tragische Form ‚erfunden‘. Lassen wir die Erfindungsrhetorik beiseite, so lässt sich zumindest festhalten, dass die Figur des Protagonisten mit den staatlichen Gründungsenergien der Polis und ihren neuartigen Repräsentationslogiken im späten sechsten Jahrhundert verbunden ist und mit diesen zusammen entsteht. Dem Theaterort Orchestra wird zum Teil erst später, wie im Fall des Dionysos-Theaters in Athen, ein Bühnenhaus (Skene) mit einem davorliegenden Podest (Proskenion) für den Auftritt der Protagonisten angefügt. Mit der Addition dieser beiden Orte, Orchestra und Skene,


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liegt die asymmetrische Bühnengliederung des antiken Theaters vollständig vor. Beide Bühnenorte tangieren einander. Aber sie überschneiden sich nicht und werden sich als Auftrittsorte für die beiden Körper des Theaters, Chor und Protagonist, nicht vermischen. Der Chor in der Orchestra ist ein anderer als der in den ländlichen Dionysien. Obwohl ihm ein Bühnenort zugewiesen ist, wird der Chor in der Polis nicht einfach heimisch. Seine Fremdheit und seine Andersheit kommen in zahlreichen formalen Aspekten zum Ausdruck, das heißt, sie werden geachtet. Der Chor ist vorgängig, er kommt von woanders her. Daher können die Werke der großen Tragiker auch als Versuche gelten, die Figur des Chors zu begreifen und am Ort der Tragödie zu bestimmen. Dabei treten zwischen Aischylos, Sophokles und Euripides starke Unterschiede zutage. Trotz aller Differenzen wird jedoch ein Grundmuster eingehalten, mit dem die Dichter variantenreich spielen. Das Muster sieht vor, dass der Chor durch jenes der beiden Tore, das zum umgebenen Land (chōra) zeigt, in das Theater einzieht und es mit seinem Eingangslied eröffnet. Ebenso beschließt er es mit einem Schlusslied und seinen Auszug durch das zur Polis weisende Tor. Sowohl die zeremonielle Praxis der Theaterfeste als auch die Werke der Tragiker zeigen uns den Chor als einen Ort, der dem Theater vorausgeht und an dem sich im Herzen der Polis eine Bezugnahme auf jene Außen- und Umweltsphären artikuliert, von denen sich die Stadtstaaten abwandten, um sich zu gründen. Im Übergang von der sogenannten Archaik zur klassischen Epoche Griechenlands trennen sich nicht nur ,Stadt und Land’, es trennen sich Zeitalter voneinander. Der Übergang kommt mit einem Weltformwechsel überein, in dem sich nach und nach eine Traditionslinie der europäischen Souveränität herauskristallisiert. Sie manifestiert sich zunächst in den griechischen Stadtstaaten und deren Einrichtungen und konsolidiert sich in dem Maße, in dem diese sich gegen eine konstitutive Umweltlichkeit überindividuellen und transhumanen Lebens verschließen. Ein solcher Schließungsversuch richtet sich gegen die Abhängigkeit menschlicher Einrichtungen von allem, was mit deren vorgeformten Konzepten nicht übereinstimmt. Er geht von der Beherrschbarkeit primärer Abhängigkeiten aus. Damit handelt es sich jedoch um ein maßloses oder, wie die antiken Autoren sagen, hybrides Unterfangen. Im Zuge heutiger, vor allem technologisch und ökologisch bedingter Transformationen offenbart sich dieser Schließungsversuch als vollständig


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vergeblich. Er ist am Ende, das ohne Ende ist. Und die griechischen Tragödien zeigen uns, dass es sich von Anfang an so verhalten hat. Sie insistieren und weisen uns auf eine latente Korrespondenz hin, die den antiken Weltformwechsel mit unserer Zeit verbindet, in der sich die Welt gegenwärtig auf eine unüberschaubare Weise neuerlich transformiert. Die für menschliches Wissen und Können undurchdringlichen Zusammenhänge, die in Phänomene wie zum Beispiel die Erderwärmung oder das Artensterben eingehen, sind in ihrer Fremdheit anzuerkennen. Weder sind solche hyperkomplexen Zusammenhänge auf das Taschenformat eines umgebenden Mediums zu verkleinern noch irgendeiner menschlichen Rettungsaktion zugänglich. Aber sie geben uns eine Erfahrung davon, dass sich die Menschenwelt am Rand sehr viel größerer, transhumaner Räume und Prozesse abspielt, in die sie schon immer verstrickt ist. Auch darauf weist uns der chorische Körper des Theaters hin: dass wir derart Umwelt nicht haben, sondern Umwelt sind. Wir sind symbiontische Wesen, mit anderen Symbionten verstrickt. Der Chor vermittelt im Übergang vom sechsten zum fünften Jahrhundert nicht zwischen Religion und Polis, wie manchmal behauptet wird. Er vermittelt auch nicht zwischen Polis, Politik und Theater, wie andere sagen, und ebenso wenig zwischen Publikum und Darstellung. Immer wieder ist der Chor als Vermittlungsfigur zwischen allen möglichen Polen und Sphären lokalisiert worden. Aber damit ist man nur einer Beschreibung des Chorkörpers ausgewichen und hat nicht danach gefragt, was ihn überhaupt dazu befähigt, vorübergehend einen Zusammenhang auszubilden. Man hat nicht nach den Besonderheiten dieser Zusammenhangsform gefragt, in der sich mehrere Körper und Stimmen auf Zeit miteinander verknüpfen. Ebenso wenig hat man versucht, die Beziehungsweise zu beschreiben, um die es sich hier offenkundig handelt. Sie mag diesseits manifester Sichtbarkeiten oder Sagbarkeiten spielen, aber sie ist deswegen nicht ohne Ausdruck, eigene Merkmale und Regelhaftigkeiten. Gegenüber binären Paarbildungen ist der Chor als andere Beziehungsweise und gegenüber familiären Verwandtschaftsbildungen als grundlegend andere Zusammenhangsform in Betracht zu ziehen. Sicherlich ist das Theater, wie Bertolt Brecht notiert, Theater dadurch geworden, dass es den Kult verlassen hat. Doch mit dem Chor, der definitiv nicht aus dem Theater kommt und ihm niemals ganz zugehörte, stützt sich Theater auch weiterhin auf das kultische


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Dispositiv. Wenn Jean-Luc Nancy zufolge alle Künste einen heiligen Ursprung haben, weil sie aus dem Kult hervorgegangen sind, dann wird genau dieser Zusammenhang im Theater vollständig bewahrt. Theater ist eine Zusammensetzung. Das zusammengesetzte Ding des Theaters beginnt in der griechischen Antike mit einer Figur der Pluralität, der Vielstimmigkeit und des Mehrfachen, die in jedem Fall vor der Eins einsetzt. An die Eins mögen sich die Namen von Protagonisten oder die Titel von Tragödien heften, aber der Name der Tragödie, der sich aus tragos (Bock) und ōdē (Gesang) zusammensetzt, ist der Name dionysischer Kultlieder. Wenn also im Theater stets auch etwas geschieht, das von ‚daher‘ kommt, so liegt das sicherlich an der anderen Verfasstheit jenes dionysischen Tanzplatzes, der mit dem Chor in das Theater einzieht. Begreifen wir das Heilige hier nicht in den Registern der Religion, sondern in den Registern kultischer Praktiken, die geeignet waren, die unberührbare Fremdheit des Fremden zu würdigen, so nähern wir uns einem „Theater als Kunst des Bezugs“ (Nancy). Eine solche Kunst richtet sich nicht an den Nächsten und nicht an den anderen. Sie ist vielmehr heterogen, vielfältig, und ausdrücklich nicht gerichtet: intraaktiv, also chorisch verfasst. Solch eine Kunst ermöglicht, dass Bezüge und Bezugnahmen statthaben. Sie ist Stätte der Bezugnahme und deren Affirmation, noch vor ihrer Verwirklichung in Beziehungen, die sich jeweils so oder so konkretisieren. Kennzeichnen wir das Theater als einen solchen Ort der Bezugnahme, tritt das Nichtkomprimierbare in den Beziehungen selbst hervor. Sie zeigen sich dann als reines Einander-beigefügt-Sein, das nicht begründbar ist (weil) und sich weder ideell noch gegenständlich berechnend (für etwas) schließen lässt. Der Chor zieht aus den vegetativen Zyklen der Landschaften in die Stadt, aus einer Welt, die das Opfer kannte, in eine Polis-Welt der gleichsam säkularisierten Opfer. Aus dieser Passage geht seine unaufhebbare Janusköpfigkeit hervor. Der Chor weist eine dem Kollektiv der Polis und ihrem lógos zugewandte Seite auf und eine von der Polis abgewandte Seite, die mit einer außerordentlichen dýnamis verbunden ist, mit den Kräften der Mannigfaltigkeit: zwei Seiten, die Sebastian Kirsch als choro-logische und choro-nomische Dimension unterscheidet. Die Passage einer Grenze zeichnet die Körper, die sie überqueren. Chorkörper verwahren an ihren äußersten Enden eine Erfahrung des Angrenzens an eine absolute und unverfügbare Fremdheit. Der Chor wird uns von den Tragikern daher als


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ein für die Erinnerung äußerst begabtes Wesen gezeigt, dem noch immer etwas von seiner Zugehörigkeit zur Landschaft anhaftet, bewahrt von einem selbst rätselhaften Körper-Gedächtnis. Demgegenüber ist die Stadtgründung a priori mit dem Problem ihres Erhalts verbunden. Die Gründung ginge verloren, wenn sich nicht Wege fänden, ihr über den Tod ihrer ersten Bürger hinaus Bestand zu geben. Jede Gründung ist daher mit Fragen der Fortsetzung verknüpft, die in den Registern von Filiation, Genealogie, Herkunft und Abstammung einer ‚Lösung‘ zugeführt werden. In diesem Zusammenhang wird die Einheit eines Vorfahren bedeutend, denn nur von ihm aus lässt sich Abstammung zählen. Ursprünge müssen gelernt werden. Doch zuvor müssen sie sauber voneinander getrennt werden, denn die Zeiten mannigfaltiger und vermischter Herkünfte liegen noch nicht so lange zurück. Unordentliche und vermischte Herkünfte müssen zugunsten genealogischer Ordnung explizit verworfen werden. Abstammung und Filiation liegen nicht einfach als Naturtatsachen vor, sondern müssen in Erfahrung gebracht und gelernt werden, wie der Fall des Findelkindes Ödipus zeigt. Die Verwandtschaftsbeziehungen ordnen sich unter der Maßgabe, dass es eine männliche Fruchtbarkeit und einen männlichen Anteil an der Zeugung gibt, welche zur ersten Bezugsgröße für Abstammungslinien gemacht werden. Das geht mit heftigen Turbulenzen vor sich, wie die Tragiker zeigen, zumal ein Erzeuger noch längst keinen Vater hergibt (wie der brüderlich zeugende Ödipus beweist). Diese gewaltigen Transformationen vollziehen sich gleichzeitig mit einer Verdrängung jener Kulte, die kosmischen Milieus galten, in denen das Lebendige als unendliches Wirkungsgefüge begriffen wurde. Fragmente aus der chorlyrischen Tradition (Alkman) belegen die Hauptrolle, die jungen Mädchen und Frauen in der Entstehungszeit von Chören zukam. In seinen großen theatralen und diskursiven Untersuchungen zum Chor hat Einar Schleef immer wieder darauf hingewiesen, dass der Frau und den jungen Mädchen eine Hauptrolle bei der Konstitution des Chors zukommt. Sie haben ihn in der Gesamtheit seiner überdauernden Eigenschaften geprägt. Umgekehrt ist Chor-Verdrängung mit einer Vertreibung der Frau aus dem tragischen Konflikt verknüpft. Die beiden Thematiken Frau und Pluralität sind innig miteinander verbunden. Anders als die Körper der patrilinearen Genealogie, die Abstammungslinien pflanzen wollen, ist der Körper des Chors jeweils begrenzt (für die Dauer eines Festes, einer Aufführung), aber auch immer wieder von neuem


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ein anderer, sodass er sich selbst niemals ähnlich werden kann. Er hat in der Orchestra seinen Platz, aber dieser Ort behaust ihn nicht. Ein Chor wohnt nicht. Der Chor ist schlicht ein Wesen, das immerfort Grenzen ein- und ausfaltet und auf diese Weise ins Spiel bringt. Dem Chor kommt noch nicht einmal das Aktivum der Aufteilung zu. Was er teilt, ist schon da als aufgeteilt, ist schon da als Stimmen und Körper, die einander nicht ähnlich sind. Als in sich geöffneter Körper verräumlicht der Chor mehrfache Gegenwarten gleichzeitig. Das ist auch ein anderer Name für Situation. Chöre stehen definitiv nicht auf Seiten der Gründung und sie wollen auch nichts gründen: kein Haus, keine Stadt, keinen Bund, kein Familienwerk. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass die Anfänge des europäischen Theaters mit einer Standardisierung jener genealogischen Ordnung einhergingen, die sich unter der Ägide des Mannes etablierte. Von daher verwundert es nicht, dass im Theater immer dann Rückbesinnungen und Neuentdeckungen des Chors stattfinden, wenn Zusammenhangsbildungen nach dem Muster genealogischer Ordnung nicht mehr gelingen. Haben sich die Institution und der Name des Vaters als unhaltbar erwiesen und ist keine väterliche Instanz durch Bittflehen mehr zu erreichen, wird unweigerlich der Saum des Chors berührt (Kleist). Hat sich eine inklusive Mehrheit als Standard etabliert und schweigt wie die deutsche Mehrheit nach 1945, wird ihr Standard als absolutes Vakuum kenntlich, dann geht das Bestreben dahin, sich der Eins und dem Protagonisten zu entziehen und ihre Logik vollends zu erschöpfen (Beckett). Der Chor ist niemals die Mehrheit, sondern das Vielfache, das Vielstimmige und Universelle im Sinn der Minderen und all derer, die der Standard ins Abseits verweist. In den Fluchtlinien eines bodenlosen, sich nach Art des Chors unablässig verzweigenden Werdens geht es darum, die Zwei der Geschlechter aufzukündigen (Jelinek). Auf allen diesen Feldern wirkt sich die Kraft einer Asymmetrie aus, die mit der antiken Konstellation zwischen Chor und Protagonist anhebt. Diese Asymmetrie ist, anders als es zunächst klingt, nicht einfach gestrickt. Sie wirkt sich heute in technologischen, ökologischen und queeren Auseinandersetzungen aus und sie dauert in diesen Auseinandersetzungen an, die kein Ende nehmen. Doch es ist an der Zeit, sich den Stücken zuzuwenden.



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I Aischylos Sophokles Antike Konstellationen

Das Theater der griechischen Antike beginnt mit einer Figur, die nicht ganz zum Theater gehört und die über das Theater, wie wir es kennen, hinausführt. Eine Figur der Pluralität, der Vielstimmigkeit und des Mehrfachen. Sie setzt diesseits der Eins ein und ist von den antiken Tragikern unterschiedlich gedeutet worden, ohne sie festmachen zu können. Ich untersuche diese Figur anhand einiger Stücke von Aischylos und Sophokles und frage: Welche Gründe werden für die Verteidigung Thebens angeführt? Wie beginnt die älteste, uns erhaltene Tragödie des Aischylos, Die Perser? Wie artikuliert sich inmitten des antiken Gattungstroubles die chorische Erinnerung an „ein Leben“ (Deleuze)? Inwiefern verlangt die Dramaturgie des Ödipus (mit Foucault gelesen) einen erweiterten Chorbegriff? Wie lässt sich der Chorbegriff auf Sphären kosmischer Kommunikation sowie auf Sphären eines niederen, nicht namhaften Wissens beziehen, welche definitiv keinem Einzelwesen zugehören? Ein Chor ist schon da, bevor irgendjemand ‚ich‘ sagt. Am Ort der Tragödie spricht dieser Chor. Er sagt auch ‚ich‘, aber es ist nicht das ‚ich‘, das wir kennen. Es kommt nicht aus einem Mund und es wird nicht angesichts anderer gesprochen.


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Aischylos Sophokles / Antike Konstellationen

Gattungs-trouble

Die antike Tragödie kreist um die Genese des herausragenden Einzelnen. Sie entsteht mit ihr und ist nur ihretwegen da. Sie zeigt uns diese Einzelnen als Protagonisten, die etwas gründen, retten oder wiederaufrichten möchten, die Zwecke verfolgen und Listen zu ihren Gunsten anwenden, die Positionen verteidigen oder verlieren, die überwunden werden und zugrunde gehen. Und die Tragödie offenbart, inwiefern die Geburt dieser Einzelfigur mit gewaltigen Schmerzen der Zerreißung, der Isolation und Vernichtung einhergeht. Doch diese hervorragenden Einzelnen, mag ihr Ruhm auch durch die Jahrhunderte leuchten, haben nicht die Kraft, als Einzelne zu erscheinen. Sie erreichen den Schauplatz der Tragödie nicht auf sich selbst gestellt und nicht aus eigener Kraft. Die Protagonisten, so ließe sich zugespitzt formulieren, sind weder für sich noch in ihrer Zusammensetzung mit anderen widerstreitenden Protagonisten tragödienfähig. In der Tragödie, die sich durch sie vollzieht, können sie nur auftreten, indem ihnen ein Ort oder ein Grund eingeräumt wird, den sie von sich aus nicht mitbringen und über den sie als Einzelne per definitionem nicht verfügen können. Dieser Grund oder Ort wird ihnen in der Tragödie vom Chor eingeräumt. Insofern ist die Möglichkeit ihres Erscheinens abhängig von der Raumspende, die ihnen ein Chor gewährt. Der Protagonist findet sich nicht als Einzelwesen vor. Die Tragödie zeigt ihn uns vielmehr als Figur, die Einzelner werden muss, und zeigt uns eben dies als Tragödie, die sich durch den Protagonisten vollzieht. Indem er sich als Einzelfigur realisiert, ist der Protagonist mit den Fragen konfrontiert, wer er ist. Er fragt sich, woher er kommt und von wem er mit welchen Konsequenzen abstammt. Er fragt sich, mit wem er zusammengehört. Der Chor kennt solche Fragen nicht. Er kommt und begleitet den Protagonisten für ein Stück, so wie man von Wegen sagt, dass man sie ein Stück mitgeht. Danach zerstreut er sich, um zum nächsten Anlass, der ein nächstes Stück ist, als ein anderer wiederzukommen. Seine merkwürdige Art zu dauern, indem er ohne Ende und Anfang permanent zerfällt und wiederkehrt, plagiiert die Eigenschaften des kommenden und des vielnamigen, fremden Gottes Dionysos, der vergeht, zerstückelt und zerstreut wird und dennoch immer wieder aufersteht und wiederkehrt.


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Der Chor ist eine vielstimmige Figur, ein Ort der Mehreren und des Mehrfachen. Als Figur ist er auch eine Form, jedoch ohne Umzäunung und Maß. Er kann sich von selbst nicht zu einer Eins zusammenschließen. In ihm laufen für eine gewisse Zeit mehrere Gegenwarten gleichzeitig zusammen. Das ist alles. Daher kann der Chor auch nichts gründen – kein Haus, kein Sein, keine Macht. Als ein temporär versammeltes Wesen bildet er eine Alternative zu jener Zusammengehörigkeit, die genealogisch organisiert ist. Seine nicht-genealogische Weise, sich zu versammeln und auf Zeit zusammenzugehören, lässt keine Frage nach seinem Woher zu, ebenso wenig die nach seiner Richtung: wohin. Demgegenüber wird für den Einzelnen die Frage seiner Herkunft zentral. Sie bleibt jedoch auf der Ebene der Einzelfigur unlösbar und kann von daher immer wieder nur neu aufgeworfen werden. Der Protagonist sucht seinen Ort in einer Genealogie, die in ihrer Unwägbarkeit, ihren Verstrickungen und Ausfällen in der gesamten dramatischen Literatur Europas, bis hin zum bürgerlichen Trauerspiel und zur heutigen Familiengroteske, eine überwältigende Rolle spielen. Dabei zeigt uns nicht erst die sophokleische Antigone das volle Ausmaß der Unzuverlässigkeit familiär-verwandtschaftlicher Strukturen, die sich entlang von Abstammungslinien bilden sollen. Die durch und durch sexualisierte familiäre Genealogie des Stammbaums gründet sich als Hohlform. In ihrer Höhlung nistet ein im Namen des Herrn vergessener, vielgeschlechtlicher Gattungskörper. Der Chor als Schwellenfigur

Im Folgenden geht es um den Chor als Sprach- und Erinnerungsort eines älteren Erdwissens. Zu diesem Wissen zählen monströse Erdherkünfte, die Aufmerksamkeit für das absolut unpersönliche Leben alles Lebendigen und nicht-geschlechtlichen Produktionsweisen. Mit diesen Gaia-Aspekten sind solche der Gattung angesprochen, die jedoch keinesfalls als einfacher, sondern als ein extrem widersprüchlicher Bezugspunkt an den Rändern der griechischen Antike erscheint. Dabei handelt es sich nicht nur um graduelle Unterschiede zwischen einzelnen Autoren, Philosophen und Dichtern, sondern um Fragen, die der „Übergang vom Mythos zum Logos“ und die „Wende von der archaischen zur klassischen Zeit“ selbst aufwerfen.1 In diesem Übergang, der selbst die Ausdehnung einer Epoche hat, geht es um Transformationen, die notwendig unvollständig bleiben müssen. Vormals kannten nomadische, aber auch agrarische


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Aischylos Sophokles / Antike Konstellationen

Gesellschaften kultische Praktiken, mit denen sie ein fremdes, unverfügbares Außen heiligten. Mit dem Blut eines (menschlichen, tierischen) Opfers zelebrierten sie eine irreduzible Differenz, die sie rituell gleichwohl berührten. Sie markierten so eine Grenze, die sie unausgesprochen als Gattungswesen bezeichnete. Im neuartigen Raum der griechischen Stadtstaaten tritt eine mit dem Typus des Protagonisten verknüpfte Gründungsenergie auf den Plan, die auf Abstammungslinien, Progression, Prokreation und Häuser setzt. Weder wird jedoch das frühere Paradigma ganz vergessen werden, noch wird sich das protagonistische Paradigma vollständig, das heißt zu seinen eigenen Bedingungen, durchsetzen. In diesem Übergang erscheint namentlich das Gattungswesen als ein Ding der Sprach- und Denkunmöglichkeit, während nicht-signifikante Wissens- und Aktivitätsformen allmählich unkenntlich werden. Hinzu kommt, dass diese sich eher als Passivitätsformen verhalten und schon als solche mit ihrer Selbstanzeige und Sagbarkeit hadern. Jedoch auch dies geschieht wiederum nicht vollständig, denn sie bleiben nicht ohne Erinnerung. In Differenz und Wiederholung setzt sich Gilles Deleuze kritisch mit dem Versuch des Aristoteles auseinander, einen Begriff der Gattung zu entwickeln. Aristoteles unterstellt in seiner Metaphysik den Begriff der Gattung vollständig dem Regime des Begriffs (Logos), indem er die Gattung als eine formale Ursache auffasst, die durch verschiedene Arten aufgeteilt wird.2 Eine Gattung enthält Artdifferenzen wie „befußt“ oder „geflügelt“, die wie konträre Gegensätze, also wie größte Differenzen behandelt werden, während die Gattung dabei für sich genommen dieselbe bleibt. Sie wird damit zu einem leeren begrifflichen Behälter.3 Indem die „andere Natur der Gattungsdifferenzen“ (55) übergangen wird, gerate jedoch, so Deleuze, im vierten Jahrhundert des Aristoteles auch das Werden der Differenzen nicht mehr in den Blick. Entsprechend entwickelte sich die relative Artdifferenz zum alleinigen Fixpunkt für das „griechische Durchschnittsauge, das den Sinn für den dionysischen Taumel und die Metamorphose verloren hat“ (54). Eine Aufmerksamkeit für das Werden der Gattungen würde den Sinn für die andere Andersheit berühren, für den aufrührerischen, verzweigten Grund des Lebendigen, der im Außen menschlicher Umgebungen spielt und diese an ihren Rand verweist. Durch die Widersprüche der aristotelischen Bestimmungen hindurch spürt Deleuze dem Fortwirken dieser älteren, noch vom Außenbezug ge-


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prägten Erfahrung des Vitalen nach, dem „Gebrüll des Seins“ (58), das sich einer signifizierenden Logik absolut entzieht und dennoch nicht ohne Ausdruck bleibt. Es scheint, sagt Deleuze, als gebe es neben dem Logos von Sprache und Denken noch einen anderen „Logos der Gattungen, den Logos dessen, was sich durch uns hindurch denkt und aussagt“ (55). Sobald wir jedoch versuchten, diesen anderen Logos auszusagen, unterliegt dieser Versuch den Bedingungen der Repräsentation und jener andere, nicht-signifikante Logos würde notwendig verfehlt. Es gibt also ein sprachlogisches Problem der Bezeichnung. Aber, so ließe sich hier anfügen, gibt es nicht auch ein Problem der Aussageweise? Ein „Logos dessen, was sich durch uns hindurch denkt und aussagt“, verlangte als solcher nach einer nicht gerichteten, vielstimmigen und heterogenen Aussageweise. Dieser andere Logos, der sich in der impliziten und verworrenen Einheit der ersten Person Plural „durch uns hindurch“ aussagt, bedarf zweifellos einer chorischen Artikulation, die im Logos der strengen Bezeichnung und Beweisführung keinen Platz hat. Wenn es also bei Aristoteles so scheint, „als ob es zwei von Natur aus verschiedene ‚Logoi‘ gäbe“ (55), dann zeichnet sich darin deutlich ein Riss ab, der dem Denken zugefügt wurde. Dieser Riss signalisiert gravierende Veränderungen, die sich im Entstehungszeitraum des griechischen Denkens und der Polis-Gründungen ab dem siebten Jahrhundert zutragen. Jean-Pierre Vernant zufolge hat sich das griechische Denken aus Verfahren entwickelt, durch die Menschen aufeinander mittels der Sprache Einfluss nehmen. Es hat sich also „nicht so sehr aus den Techniken der Bearbeitung der natürlichen Welt entwickelt“4 und sich ebenfalls „der physischen Wirklichkeit nicht sehr weit angenähert“. In allen seinen Zügen erweise sich das griechische Denken als das „ureigene Produkt der Stadt“. Im Zeichen ihrer Vernunft machen sich die Stadtstaaten die Aufteilungen des Landes zur Regel, bestimmen Eigentümer und Anteile und identifizieren diese im Namen eines Logos der Zahl und des Maßes, der mit allen denkbaren Praktiken der Ein- und Ausschließung einhergeht. Demgegenüber kannten noch die homerischen Gesellschaften weder Umzäunung noch Besitz etwa von Weideland. Sie verteilten die Herden im unbegrenzten Raum und lokalisierten sie vorübergehend. Deleuze spricht von einer „Verteilung, die man nomadisch nennen muss, ein nomadischer nomos, ohne Besitztum, Umzäunung und Maß“ (60).


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Aischylos Sophokles / Antike Konstellationen

Für den Übergang vom sechsten zum fünften Jahrhundert gilt mit besonderem Gewicht, dass die städtischen Organisationsformen der Polis nicht einfach etwas Vormaliges überwinden oder es ersetzen. Das ist schon allein deshalb nicht möglich, weil es sich nicht um dieselbe Stelle handelt, die freigelassen oder eingenommen werden könnte. Vielmehr gilt für diesen, in allen seinen Zügen zutiefst asymmetrischen Übergang, dass sich ältere Praktiken in der Polis erhalten und transformieren. Die umgrenzte Polis, die unter ihr Gesetz zwingt, was drinnen ist, und abtrennt, was draußen ist, wird den pastoralen Sinn nomadischer Verteilung nicht vollständig verdrängen oder vergessen machen können. Der dionysische Taumel mag im fünften Jahrhundert entschieden weniger taumeln als zu archaischen Zeiten, aber er erhält in den Großen Städtischen Dionysien einen Ort, an dem er erinnert und zelebriert wird. Der nomadische Untergrund mag sich sukzessive weniger umtriebig verhalten, aber er wird in der Figuration des Chors erinnert, genauer gesagt in der Art und Weise, wie sich der Chor als diese unmögliche Figur verhält, die ständig zerfällt und sich ständig anders neu zusammensetzt. In allem steht der Chor in einer besonderen Beziehung zu dieser Umbruchzeit. Er kann als Schwellenfigur par excellence gelten. Er transformiert sich, indem er nicht mehr den kultisch gehüteten Außenbezügen zugehört, sondern buchstäblich Theater wird. Er fügt diesem Theater der Polis das Wissen der Umgebungen (im Plural) hinzu. Er hält einen Außenbezug aufrecht und verursacht dadurch, zumindest in den ältesten Tragödien des Aischylos wird dies noch sehr deutlich, dass sich die Stadt selbst als ein poröses Gebilde weiß, das von den Kräften der Erde, der Natur und den Göttern durchquert wird, anstatt ihnen gegenüber zu liegen. Er erinnert ein Leben aller von der Erde getragenen und genährten Wesen als ein gleiches, egal wie ungleich es sich jeweilig verwirklicht. Der Chor erinnert den pastoralen Sinn, die nomadische Verteilung. Seine Nähe zur Erde und seine Zugehörigkeit zur Landschaft sind, etwa bei Hegel oder von Einar Schleef, in herausragender Weise bemerkt worden.5 In den Tragödien des fünften vorchristlichen Jahrhunderts erscheint der Chor nur insofern als Sprach- oder Erinnerungsort der Gattung, als er selbst keine eigene Ursprungserzählung kennt. In der antiken Konstellation bildet er den Ort, an dem das Differenzierende vor der Differenz, die Pluralität vor dem Kollektiv und die Metamorphose vor der Identität statthaben (während sich die Pro-


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tagonisten in der Behauptung der Differenz, des Kollektivs oder der Identität üben). Nur weil sich im Chor das Universalste und das Singulärste in einer unbestimmten Erinnerung zu berühren vermögen, ohne zu einem Begriff zu gerinnen, lässt der Chor sich mit dem Aspekt eines Gattungswissens in Verbindung bringen. Doch das ganze Terrain des Begriffs der Gattung bleibt vage und seine Anwendung auf den Chor hat auch immer etwas Gewaltsames und zu Abstraktes an sich. Wenn dieser Zusammenhang hier dennoch stark gemacht wird, so vor allem deshalb, weil der Aspekt der Gattung heute neuerlich eine Rolle für die Versuche spielt, die Transformationen unserer neoliberal verfassten Gesellschaften im ökologischen Horizont analytisch zu begreifen. Für das 20. Jahrhundert hat Michel Foucault eine signifikante Verschiebung in den Regierungslogiken ausgemacht, welche die ehemaligen Machttypen der Souveränität und der Disziplinarregimes sukzessive ersetzen und überlagern. Foucaults Begriffe der Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität bilden keine sauberen Aufeinanderfolgen oder Epochenschritte ab. Vielmehr bleibt der eine Machttypus im anderen zumindest punktuell wirksam. Im 20. Jahrhundert geht es vor allem um die Verschiebung hin zu gouvernementalen Regimes. Während sich Disziplinarregimes vorrangig auf das Leben von Einzelnen stützten, die als sichtbare Körper zur ersten Adresse von disziplinargesellschaftlichen Anforderungen wurden (Leistung, Sexualität, Gesundheit), fokussieren gouvernementale Regimes das Leben von Bevölkerungen, um es massenhaft zu bewirtschaften. Die Verankerung der Macht und der Regierungstechniken verlagert sich „vom Körpermenschen zum Gattungsmenschen“6. Gouvernementalitätslogiken beziehen sich auf Gattungs– wesen, deren Gesundheit öffentlich sowie industriell bewirtschaftet wird, deren Körper tendenziell als Organbanken gelten und deren demografische Prozesse akribisch kontrolliert und stimuliert werden. Zudem gerät die unüberschaubare Vielfalt von Gesamtprozessen in den Blick, in denen Lebewesen in Wechselwirkung mit ihren Umgebungen und zueinander vorkommen. Mit Blick auf die Umbruchprozesse des fünften Jahrhunderts scheint es, als würden wir heute eine umgekehrte Dynamik als jene durchlaufen. Es scheint, dass wir am Ende einer langen Periode der protagonistischen Verdrängung angelangt sind und inmitten einer technologie- und machtgestützten Neuauflage des Hervordringens von Gattungsaspekten stehen. So tritt heute die primordiale Gewalt


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sphärischer und klimatischer Kräfte in den Vordergrund, die ehedem in den Figuren der griechischen Mythologie und in den kultischen Praktiken als unberührbare und zugleich konstitutive Umweltlichkeit geehrt wurden – bevor sie in einem Griechenland, das sich anschickte, ‚klassisch‘ zu werden, der Verdrängung anheimfielen. Oidipodeia

Im Übergang von der archaischen zur klassischen Epoche Griechenlands bewegen sich anthropologische, mythische, rituelle, verwandtschaftliche, sprachliche (linguistische) und artifizielle Äußerungsschichten, die, wie George Steiner vermutet, „aller Wahrscheinlichkeit nach nicht voneinander zu trennen“7 sind. Neben dem Plural eines unbestimmten Gattungswissens schiebt sich ein Protagonist in den Vordergrund, mit dem sich das genos als familiäres Geschlecht übersetzen will. In den Jahrhunderten, die dieser Übergang währte, entstehen auch die Erzählungen der Oidipodeia, auf die Sophokles später für die kristalline Gestalt seiner Tragödie zurückgreift. Claude Lévi-Strauss geht in seinen weit gespannten, mythenvergleichenden Arbeiten der Frage nach, wie Verwandtschaften unter Menschen überhaupt entstehen. Er entdeckt die Herausbildung von verwandtschaftlichen Systemen, die er bekanntlich wie eine Sprache auffasst und zu lesen versucht. Im Rahmen seiner Studien der Mythen indigener Bevölkerungen Brasiliens sowie indogermanischer Mythen zieht Lévi-Strauss die Oidipodeia zum Vergleich heran, denn insbesondere der Ödipus-Mythos habe den Vorteil, „daß jeder ihn kennt, so daß man ihn nicht zu erzählen braucht“8. Wie entsteht das thebanische Geschlecht, aus dem Ödipus hervorgeht? Alle Mythen indigener Völker kennen Versionen einer Erdgeburt der Menschen, die in der Mythologie, so Lévi-Strauss, häufig durch Männer dargestellt werden, die direkt der Erde entspringen. Genau dies ist auch bei der Gründung von Theben der Fall. Kadmos, der auf der Suche nach seiner von Zeus entführten Schwester Europa ist, tötet einen Drachen, der sich ihm in den Weg wirft. Die Zähne des Monstrums fallen in die Erde. Aus ihnen sind am nächsten Morgen Krieger entstanden. Nachdem Kadmos einen steinernen Ball unter sie geworfen hat, beginnen sie sofort, gegeneinander zu kämpfen und sich gegenseitig umzubringen. Anders als im Fall des Mythos von Medea, der auch derartige Kriegergeburten aus


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Drachenzähnen kennt, gelingt es Kadmos jedoch, die Selbstausrottung der Sparten (der „Ausgesäten“) aufzuhalten. Mit denen, die überbleiben, es sind fünf an der Zahl, gründet er die Stadt Theben. Nach Kadmos herrschen in Theben aufeinanderfolgend sein Sohn Labdakos, dessen Sohn Laios und dessen Sohn Ödipus, der vor seinem Einzug in Theben wiederum ein chthonisches Monster, die Sphinx, zu stürzen weiß. Alle drei Eigennamen in der väterlichen Sippe des Ödipus weisen auf eine „Schwierigkeit, aufrecht zu gehen“, hin, was Lévi-Strauss zufolge als ein Mal der Autochthonie des Menschen gilt: „In der Mythologie werden häufig die aus der Erde geborenen Männer so dargestellt, als seien sie im Augenblick ihres Auftauchens gleichsam noch unfähig zu gehen“, als gingen sie „hinkend“ (Labdakos), „linkisch“ (Laios) oder mit „geschwollenem Fuß“ (Ödipus).9 Die autochthone Lösung aus der Erde geht sozusagen nicht ohne Haftungswiderstand vor sich. Gleichzeitig 10 gestaltet sich die Einrichtung verwandtschaftlicher Beziehungen unter den Erdgeborenen fragil und unsicher. Sie schwanken zwischen einer Übernähe intimerer Art, als es die sozialen Regeln zulassen (Iokaste), oder völliger Vernichtung, die in der Tötung von Vater (Laios) oder Bruder (Polyneikes) zum Ausdruck kommt. Solange es jedoch noch nicht um Blutverwandtschaften und Genealogien geht, ist dem Topos der Autochthonie eine bestimmte Anfangslosigkeit eigen. Zusammengesetzt aus den Worten autós („Selbst“) und chthōn („Erde“) kommt dieser Begriff im Altgriechischen ohne ein Äquivalent für die Termini von Stamm, Geburt oder Herkunft aus. Erst das altlateinische Adjektiv indigen ergänzt hier mit genus („Stamm“) von gignere („gebären“) im Sinne von Herkunft und Geburt. Autochthon der Erde Entsprossene werden nicht von Menschen geboren. Sie sind auch nicht von außen eingedrungen. Sie haben keine gewaltsame Landnahme hinter sich und sich nicht gewaltsam gegen andere behauptet. Sie gehen aus einem Dual mit der Erde hervor, das sich nicht in Zwei auftrennen lässt und finden sich als solche, sozusagen einfach gestrickt, vor.11 Genealogiebildungen setzten erst mit der Frage ein, wie einer aus Zweien kommt. Sie gehen von einer inklusiven Definition aus, die Menschen als solche definieren, die von zwei Menschen herkommen oder gezeugt wurden. In den Hintergrund tritt die Gattungserinnerung an ein unbestimmtes Leben, das von der Erde gezeugt, genährt und von ihr getragen wird. Gleichzeitig hat sich diese Erinnerung jedoch in deutlichen Spuren erhalten.


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Hierzu sollen zunächst Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Schutzflehenden von Euripides genauer betrachtet werden. Beide Stücke zählen inhaltlich zum Umfeld der Ödipus-Tragödie. Mit Eteokles und Polyneikes treten die beiden Söhne des Ödipus am siebten Tor Thebens mit tödlichem Ausgang gegeneinander an. Bei Euripides flehen die sieben Mütter der vor den Toren Thebens gefallenen Söhne ihren König Theseus an, die Körper der Toten zurückzuführen, um sie bestatten zu können. In beiden Tragödien werden ausführliche Begründungen für die Verteidigung eines Gemeinwesens oder die Bestattung von Angehörigen in ‚heimatlicher Erde‘ gegeben. In beiden Tragödien handelt es sich, wie die Zahl Sieben12 anzeigt, um Vorgänge, die tendenziell alle angehen und in einem universellen Horizont spielen. Die Tragödie des Aischylos beginnt in dem Moment, in dem Theben kurz vor dem Angriff von sieben Feldherren mit ihren Heeren auf die sieben Tore der Stadt steht. König Eteokles ruft alle Männer zusammen und legt ihnen die Gründe für die Verteidigung der Stadt dar. Er breitet eine dreiteilige Argumentation aus. Erstens muss Theben verteidigt werden, „um den Altären heimischer Götter und der Stadt / Zu helfen“ (V. 14 f., Staiger). Zweitens ist die Verteidigung geboten, damit „die Ehre nie den Kindern […] schwinde“ (V. 15 f.). Drittens wird die Verteidigung der Stadt verlangt, um „beizustehen ihr, unser aller Amme, / Mutter Erde, die klaglos ertrug, aufzuziehn euch, / Kriechend auf allen Vieren ihr auf dem Rücken, / Ihr, die euch nährte, Gäa“ (V. 16 ff., Grünbein). In der Übertragung von Staiger heißt es fast noch drastischer, dass die Erde „ganz der Pflege volle Not“ (V. 18) übernahm und „euch zu Bewohnern, schildbewehrten, auf[zog]“ (V. 19), damit „ihr verlässlich in der heutigen Drangsal seid“ (V. 20). Diese Argumentation ist höchst bemerkenswert. Verteidigt wird nicht das Leben von Städtebewohnern, für deren Schutz die Götter um Hilfe gebeten werden, sondern genau umgekehrt: Die Verteidigung der Stadt ist zuallererst eine Hilfe für die hier heimischen Schutzgötter und ihre Altäre. Im zweiten Argument geht es darum, die Ehre der Kinder der Stadt, der Städtebewohner also, hochzuhalten, während es im dritten Argument um jene Kinder geht, die von der Erde getragen, genährt, gepflegt und aufgezogen wurden, also um alle. Die Kindschaft der Thebaner wird also doppelt definiert. Zum einen sind sie Kinder der Stadt und als solche zu ehren, während dieselbe Ehre ihnen die Verteidigung der Stadt abver-


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langt. Zum anderen verdanken sie sich als („schildbewehrte“) Städtebewohner in Gänze der Erde. Weder gibt es ein Leben, das einem gehöre oder verliehen worden sei, noch moralische Ansprüche. Als das zu Verteidigende wird vielmehr alles Lebende verstanden, das die Erde in Theben trug und nährte. Dem Kollektivkörper Theben und seiner ‚Mutter‘ (Gaia) gebührt die Achtung. Aufgezogen von der Erde, benötigen deren Kinder jetzt Beistand. Die Aufgabe der Verteidigung ist damit eher als eine flankierende Maßnahme ausgewiesen, ähnlich sekundierend wie im Verhältnis zu den Göttern. Die Thebaner fürchten, im Fall einer Niederlage versklavt zu werden. Das ist das große Thema zwischen Eteokles und dem Chor der jungen Thebanerinnen, die sich davor fürchten, in Unfreiheit zu geraten und verschleppt zu werden. In diesem Fall würden jedoch die Stadt und mit ihr die Altäre der Stadtgottheiten verwaisen. Eine geschleifte Stadt kann ihre Götter nicht ehren. Nur eine starke, blühende, lebendige Stadt ehrt ihre Götter, wie Eteokles klar zum Ausdruck bringt: Eine Stadt ehrt die Götter, indem sie gedeiht (vgl. V. 77). Diese Argumentation stellt uns die Stadt als einen Übergangsort dar. Sie geht nicht von der Idee einer Götter- oder einer Außenwelt aus, die vom Stadtkörper unabhängig und gar als Gegensatz von ihm getrennt vorliegen würden. Vielmehr erscheint die Stadt als ein poröses Gefäß, das etwas aufnimmt, das sie der Erde als schaffendem, hervorbringendem Prinzip verdankt. Die Stadt selbst schafft nicht, sie ist nicht kreativ, sie schützt. Gleichermaßen will sie auch ihr eigenes Gedeihen, ihre Weiterentwicklung und Prosperität, jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern um den Göttern zu helfen. Doch lohnen die Götter dies ihrerseits? Die Götter erscheinen hier schwankend. Mal sind sie ihrer Stadt wohlgesinnt und zugewandt, mal wenden sie sich bösartig ab, je nachdem. „Bis heute hielten, ein Glück, die Götter zu uns“, heißt es (V. 21, Grünbein). Die Götter können sich jedoch auch entziehen und dann helfen keine Brandopfer mehr, dann siecht die Stadt dahin. Der Umgang mit den Göttern stellt sich also eher als ein Feilschen dar. Man tut, was man kann, aber ob die eigenen Mittel ihren Zweck wirklich erreichen, bleibt unsicher. Eteokles redet mit den Göttern Klartext: „Was uns nützt, bedenkt das, das nützt auch euch“ (V. 76, Grünbein).


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Schon-da: ein Leben

Ein Chor wird häufig allzu schnell als Statthalter der Öffentlichkeit gedeutet. Hier soll er als eine Figuration akzentuiert werden, die von einer Passage über eine Grenze zeugt, die sich sofort vervielfältigt, wenn man sie in den Blick zu nehmen sucht und die zeitlich von unbekannter Ausdehnung ist. Mögliche Strukturmerkmale der nicht-genealogischen Figur des Chors sollen im Verlauf der Auseinandersetzung sukzessive deutlich werden. An dieser Stelle sei zunächst nur auf die Figur des Schon-da hingewiesen, die den Chor in eklatanter Weise auszeichnet. Der Chor ist älter als die Tragödie. Er kommt von woanders her, zieht in das Theater ein und eröffnet es. Er ist schon da, wenn die erste Rede eines Protagonisten statthat. Niemals braucht er eigens unterrichtet zu werden, er kennt die Situation schon und auch die, um die es gehen wird. Dennoch behandelt das antike Drama den Chor nicht wie einen Einheimischen, sondern eher wie einen Migranten. Die antiken Autoren machen ihn notdürftig fest, indem sie ihn in der sozialen Umgebung eines Protagonisten verorten. Der Chor, das sind die Mägde, Bediensteten, Städtebewohner oder dergleichen. Zu diesem sozial-räumlichen Merkmal tritt sehr deutlich ein generationelles Merkmal hinzu. Ein Chor besteht aus Ältesten, aus Greisen, aus jungen Mädchen, aus Müttern und Knaben. Sowohl das Thema einer sozial-räumlichen Umgebung als auch das Merkmal der Generationen im Plural variieren Figuren des Schon-da. In Sieben gegen Theben setzt sich der Chor aus den jungen Mädchen der Stadt zusammen. Sie fürchten die Angreifer vor allem als Männer, von denen sie im Fall eines Siegs „fortgezerrt [würden,] / Die Kleider am Leib zerrissen“ (V. 326 f., Grünbein). Der Chor malt das Bild einer entvölkerten Stadt als puren Horror.

„Kaum mit Worten zu fassen, was dem folgt […] / Feldfrüchte, wahllos verstreut auf dem Boden – / Trostlos ihr Anblick. […] / Sinnlos treiben die Gaben / Der Erde zerquetscht umher / Im Strom der Verschwendung. / Den Mägden, so jung, steht ihr Leid erst bevor. / Im Bett, auf der Folterbank […] / Statt vom Liebsten bezwungen / Brutal vom verlockenden Feind“ (V. 356 ff., Grünbein).

Der Chor zeichnet die jungen Mädchen hier als mögliche Geschlechtsgenossinnen wehrfähiger Männer und definiert sie als Fruchtbarkeitsbank oder -reserve im demografischen Sinn.


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Ähnlich wie in den Persern von Aischylos, wo der Chor aus alten, wehrunfähigen Männern der verwaisten persischen Metropole Susa besteht, beklagt der Theben-Chor die Möglichkeit einer Niederlage nicht als eingebüßte staatspolitische Größe oder als politisch-ökonomischen Machtverlust, sondern als demografische Katastrophe. Die Leere, welche die ausgezogenen persischen Heerführer als „Bett-/genossen“13 der Perserinnen hinterließen, ist dem PerserChor deutlich wichtiger als die politische Bedeutung einer möglichen Niederlage. Der Chor fokussiert den intergenerationellen Grund, der einer Einzelfigur vorausgeht und über sie hinausreicht. Ihm gelten die Städte nicht als Paläste, sondern als vorübergehende Orte von Gattungsmenschen im Verbund mit einem unpersönlichen Leben, das über diese hinausweist. Theben wäre, würden die geraubten Frauen anderen Staatswesen Nachkommen gebären, im Fall einer Niederlage entvölkert. Die Gaben der Erde würden an dieser Stelle ungebraucht verfaulen und damit verschwendet, wie es das große Bild des Aischylos ausdrückt. Es handelt sich um ein unbestimmtes Gattungsbewusstsein, das sich in diesen Chören zu Wort meldet. Sie nehmen von den qualvollen Niederlagen der Protagonisten Kenntnis und beklagen sie, aber deren Tragödie ist definitiv nicht ihre Perspektive. Die Chöre akzentuieren den Rhythmus eines unpersönlichen Lebens. Sie fokussieren den Gattungsmenschen, nicht den Körpermenschen, der als Einzelner ein bestimmtes Leben mehr oder weniger verdienstvoll führt, um es dann mit ‚seinem‘ Tod zu endigen. Man kann bei dieser Unterscheidung auch an die beiden altgriechischen Begriffe zoé für das unpersönliche, unendliche Leben und bíos für das bestimmte, endliche Leben denken. Das unpersönliche Leben alles Lebendigen versagt sich dem Schema eines Organismus. Das heißt jedoch keinesfalls, dass es sich anderswo oder auf einer abstrakten oder allgemeinen Ebene irgendwo abspielt. Vielmehr spielt es ‚hier‘. Es ist schon da und durchquert dieses Leben von einzelnen Wesen, Menschen, Städten, Jahreszeiten. Es ereignet sich in Vitalkomplexen aller Art, es durchquert Diesheiten. Ein beliebiges Leben, das niemandem gehört und niemandem zuhanden ist, ereignet sich, indem es die vorhandenen, je singulären Leben durchzieht. Es individuiert ein Wesen in diesem Moment, der sich keiner Person, keinem Subjekt und keiner individuellen Eigenschaft verdankt, sondern einer Abwesenheit von persönlichen Verdiensten.14


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Die Klage der Mütter in Die Schutzflehenden von Euripides fällt deswegen so bitter aus, weil sie über die Dilemmata von Einzelwesen hinausgeht. Der Tod ihrer Söhne hat diese Mütter zu „Kinderlosen“ (V. 810, Donner/Kannicht) gemacht. Sie sind keine Mütter mehr und werden als solche weder den Lebenden beigezählt noch den Toten (V. 968 f.). Diese Definition schert sich nicht um Biografien. Sie gilt hier, in diesem unverwechselbaren Moment im Leben dieser Mütter. Sie ist unabhängig davon, wie ihre Kinder waren und ebenso unabhängig davon, ob es sich um einen befohlenen, verdienstvollen oder erfolglosen Feldzug gehandelt hat, in dem die Söhne fielen. Indem sie fielen, war auch das Los ihrer Mütter beschieden. Deren Dasein gleicht keinem persönlichen Leben mehr, sondern nur noch einer unpersönlichen Frist, die sich mit Jammer füllt: „Denn ach, der Kinder Tod weckt den Schmerz / Mächtig auf im Mutterherzen, / Dass das Jammern nie verstummt – weh!“ (V. 83 ff.). Ihre Klage gilt nicht bestimmten, individuellen Toten, sondern jenem unpersönlichen Leben, das von der Erde genährt wird, ohne Ansehen des Einzelnen. Daher fällt auch die Klage um verbrecherische Tote nicht geringer aus als die um verdiente Tote. In den Schutzflehenden klagen sieben Mütter um sieben sehr unterschiedliche tote Söhne. Es sind jene, die vor den sieben Toren im Kampf um Theben fielen. Unter ihnen der kriegslüsterne, aggressive Tydeus, der „übel“ geopfert hat (Sieben gegen Theben, V. 379, Staiger), ein Totschläger über den Kriegsanlass und die notwendigen Kampfhandlungen hinaus. Das alles spielt keine Rolle. Die Klage gilt auch ihm, gleichermaßen. Mit diesem von der Erde getragenen Leben hängt ebenfalls die überragende Bedeutung der Bestattungsfrage in den antiken Tragödien zusammen. Das Stück Die Schutzflehenden handelt ausschließlich davon, dass die Leichen der vor den sieben Toren Thebens gefallenen Söhne nach Argos zurückgeführt werden. Daher bitten sieben alte, kinderlose Mütter den Herrscher Athens, Theseus, um Schutz und flehen ihn an, mit „starker Hand“ (V. 590) die toten Söhne aus Theben zu holen. Es geht um das Recht der Toten auf „ein heimisch Grab“ (V. 25) in der Erde, die sie einst nährte und trug. Diese Erde ist kein allgemeines Prinzip, sondern die Erde des Gattungsmenschen. Es ist nicht gleichgültig, wo oder in welcher Erde die Toten bestattet werden. Die Erde wird hier im Sinn einer beliebigen Erde begriffen, die daher auch immer nur die je konkret, singulär und real bestimmte Erde ist. In den Schutzflehenden wird diese Frage ausführlich diskutiert. Theseus legt sie dem Boten auseinander, der soeben ankündigte,


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dass Theben die Leichname nicht herausgeben wird, denn „gefallnen Götterfeinden“ (V. 494) stünde keine Bestattung zu. Wollte Theseus, der „keinen Teil an Argos“ (V. 473) hat, gewaltsam gegen Theben ziehen, würde dies Krieg bedeuten. Theseus bestätigt zunächst, dass Theben sich zu Recht und ruhmvoll gegen seine Feinde gewehrt habe, doch damit sei keineswegs „auch alles Recht für sie dahin“ (V. 530). Theseus zufolge, der hier möglicherweise auch als Repräsentant eines demokratisch verfassten Athens spricht (V. 403–408), hat die Stadt das partikulare Recht auf Selbstschutz und Verteidigung, aber nicht „alles Recht“. Die Stadt hat ihre Feinde vernichtet, doch sie hat kein Recht dazu, ihre Feinde über den Tod hinaus zu verfolgen, zu entehren oder zu brandmarken. Die Stadt kann die Zeit der Lebenden regeln, aber nicht die der Toten und der Ungeborenen. Es ist falsch und „feige“ (V. 540), doppelt zu töten, und unmöglich, einen Leichnam zu besitzen. Die „Rechte“ (V. 539) der Toten auf Bestattung werden als „ein alter heiliger Gottesbrauch“ (V. 563) bezeichnet. Kein Gesetz also, nichts Schriftliches, sondern eine Praxis von alters her, die den Werdensgrund alles Lebendigen ehrt. Es geht nicht um einen mehr oder weniger verdienten Tod, einen Tod um einer Sache willen, sondern um die Bedingung allen Lebens, sterblich zu sein. Die Übertragung von Donner/Kannicht findet dafür im Deutschen den präzisen Ausdruck vom „leiblösenden Tod“ (V. 46). Dieser Tod betrifft einen unpersönlichen Körper, den niemand besitzt und der einer Stätte bedarf, über die keine Polis zu bestimmen hat. Theseus spricht in diesem Sinne Klartext:

„Laßt nun die Toten bergen in der Erde Schoß! / Woher ein jedes an das Licht geboren ward, / Dorthin zurück auch kehrt es, Geist in Äthershöhn, / Der Leib zur Erde. Ihn besitzen wir ja nicht / als unser eigen: nur das Leben wohnt in ihm / Und, die genährt ihn, nimmt dereinst ihn wieder auf.“ (V. 531–536)

Das Recht der Toten auf Bestattung darf nicht verweigert werden, aber die Bestattung lässt sich nicht allgemein vollziehen. Die Erde selbst zeigt sich vielfältig und konkret, als diese Erde von Argos oder jene von Theben in Böotien. Doch als Erde obliegt sie nicht den politischen Körperschaften, die sie nur vorübergehend und gewissermaßen oberflächlich, nämlich als Boden, einnehmen und besitzen. Die selbst bodenlose Erde gehört hingegen niemandem und wo sich Praktiken des Wissens oder des Gedächtnisses auf diese Erde beziehen, führen sie stets über die Bedürfnisse und Zwänge einer be-


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stimmten Polis hinaus. Ganz in diesem Sinne fragt Theseus den Boten Thebens: Meint ihr, „[d]ie Toten nicht begrabend, kränkt ihr Argos nur?“ (V. 537) Nein: „Alles Volk trifft euer Hohn“ (V. 538). Es geht um etwas, das alle angeht und das, unbestimmt wie der Artikel ‚ein‘, über alle konkreten Stadtstaaten hinausführt. Gleichwohl liegt die bodenlose Erde nicht als solche, sondern nur lokal vor. Sie ist mit verschiedensten Geografien und Biografien unendlich verflochten. Von daher geht eine Bezugnahme auf diese Erde zwingend mit der Frage einher, wo bestattet wird. Theseus fährt in seiner Argumentation fort: Wenn „Argos’ Söhnen“ (V. 528) das Grab im pelasgischen Argos verwehrt wird, werden sie nicht durch die Pelasger geehrt werden können. Die toten Söhne Argos’ würden dieser Ehrung beraubt, die ihrem unpersönlichen, der Erde Argos’ geweihtem Leib gälte. Wenn sich jedoch derartiges durchsetzen sollte, würde das die Tapferen lähmen und sie „feige, ja kleinmütig“ (V. 540) machen. ‚Alles Volk‘ würde also getroffen, wenn diese Toten nicht „im Erdenschoße“ (V. 17) Argos’ geborgen würden. Theseus endet seine Rede ungestüm: „Gebt die Toten mir heraus […] / Wo nicht, so wisse: mit Gewalt bestatt ich sie!“ (V. 558 und 560) Diese glasklaren Sätze fallen in der Mitte des Stücks. Theseus spricht sie nicht sofort und gleichsam nicht aus eigener Kraft. Vorausgegangen ist ein Schutzflehen, das vielfältig gestaffelt im Zentrum dieser Tragödie steht. Die Mütter sind „ans Knie“ (V. 44) der greisen Mutter des Theseus gesunken, um sie um ihren Schutz zu ersuchen. Sie bitten Aithra darum, dass sie ihren Sohn anfleht, er möge die Leichen ihrer vor Theben gefallenen Söhne zurückholen. Das Stück setzt mit Aithra im Heiligtum der Demeter ein. Bevor sie mit ihrem Sohn sprechen wird, ruft sie die Göttin in der Sache der Mütter an. „Demeter“ lautet das erste Wort des gesamten Textes. Nur schrittweise, in der Wechselrede von Chor und Aithra, gelingt ihnen die Überzeugung des Theseus. Bis dieser seinen Entschluss gefasst hat und in der dargestellten komplexen Argumentation vorträgt, wird also ein ganzer Zirkel von Mütter- und Demeter-Kräften aufgeboten, die an jene Zone des Heiligen rühren, die niemandem gehören kann. Dieser Zirkel trägt auch das Gedeihen von Städten. Er umfasst Könige, kriegführende Parteien, scheiternde oder siegreiche Protagonisten gleichermaßen. Er findet in den Chören Ausdruck, die im Innenraum der Polis dessen unendliche Verflechtung mit einem unpersönlichen Leben erinnern, das zugleich außen und absolut immanent ist.


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Wie einer aus Zweien kommt

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Im Gegensatz zum vielursprünglichen Chor, der keine Herkunftserzählung kennt, ist die Geburt des Protagonisten zwingend mit der Frage verknüpft: Woher komme ich? In der Übertragung von Kurt Steinmann lautet die zentrale Frage der Untersuchung, die Ödipus im Stück des Sophokles durchführt: „Aber meinen Ursprung, / und sei er auch gering: ich werd ihn sehen wollen“ (V. 1076 f., Steinmann). Im Griechischen lauten diese Verse: toumon d‘ egō, kein smikron esti, sperm‘ idein boulēsomai. Sie führen uns sofort ins Zentrum der Herkunftsfrage, wenn wir beachten, dass das von Steinmann mit „Ursprung“ übersetzte Wort im Griechischen sperm‘ lautet, also sperma. Dieses Wort meint zunächst das Ausgesäte oder den Samen, im übertragenen Sinn auch die Nachkommenschaft. Die Verben spermainō oder speirō betonen den Vorgang: säen, ausstreuen, verstreuen, sprengen, besäen und im übertragenen Sinn wiederum erzeugen, während das substantivierte Säen die Zeugung oder den Geschlechtsverkehr meint. Die Herkunft wird damit auf der Ebene der Einzelfigur an den Erzeuger geknüpft. Der Protagonist erscheint als primär männlich erzeugtes Wesen und damit in größter Entfernung zu jenen erdhaften, Mutter- und Demeterkräften, die für die Mütter in den Schutzflehenden des Euripides zentral sind. Doch die Frage der Herkunft wird als Frage nach dem Samen, aus dem ich komme, keineswegs einfacher. Die scheinbar naheliegende Antwort lautet, sinngemäß übertragen, ‚vom Vater, der mich einst in der Mutter zeugte‘. Abgesehen davon, dass der Terminus sperma nicht den ‚Vater‘, sondern nur den ‚Erzeuger‘ hergibt, ist diese Antwort alles andere als klar und eindeutig. Eben das ist der Fall des Ödipus, der seine Herkunft zu kennen glaubt, jedoch einer falschen Erzählung aufsitzt und so in die bekannten Verstrickungen gerät. Die Frage der Herkunft verlangt, der Pluralität eine Stelle einzuräumen, die als solche für die Einzelfigur nicht verfügbar ist. Das Ausgangs- oder Herkunftsproblem des Einzelwesens kleidet Lévi-Strauss in die Frage, „wie einer aus zweien entstehen kann: wie kommt es, dass wir nicht einen einzigen Erzeuger haben, sondern eine Mutter und dazu noch einen Vater?“15 Der Sachverhalt zeigt sich jedoch, wie die Frage des Ödipus verdeutlicht, noch komplexer. Denn im Zuge der Entdeckung eines männlichen Anteils an der Erzeugung wird das Sperma, wie die zentrale Frage des Ödipus zeigt,


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zunächst als erste Zeugungsursache eingesetzt. Demgegenüber tritt die bezeugende Funktion, wie sie in der Formulierung von LéviStrauss aufscheint („eine Mutter und dazu noch einen Vater“), erst im späteren Verlauf der Etablierung paternaler Ordnungsmuster hinzu und wird erst dann zu der wesentlichen Funktion des Vaters erklärt. Doch ein solcher Vater ist in der Tragödie des Ödipus weit und breit nicht zu sehen. Zwischen einem todbringenden und getöteten Vater, einem Ziehvater und einem brüderlich zeugenden Vater stellt sich gerade die Vaterfunktion in dieser Tragödie auffällig instabil und verworren dar. Die bezeugende Funktion obliegt im Moment ihrer Herausbildung, wie sich anhand der Struktur der Ödipus-Tragödie zeigen lässt, einer verzweigten Pluralität. Ein menschliches Wesen wird nicht nur aus Zweien geboren, sondern auch zweifach geboren. Einmal geboren, unterliegt es seiner Bezeugung durch jene, die von ihm wissen und ihm sagen werden, wer ihm Mutter und Vater ist. Das griechische Verb idein, das in der Frage des Ödipus von Steinmann mit ‚sehen‘ übertragen wird (von gr. eidon), spielt genau zwischen den Registern ‚sehen‘ (erblicken, wahrnehmen) und ‚wissen‘ (einsehen, erfahren, erkennen). Indem es Erkennen und Erblicken eng führt und zusammenfasst, verweist dieses Verb kurz und knapp auf eine äußerliche Umgebung. Es ist an dieser Stelle zwingend mit einer unabsehbaren Pluralität verknüpft, die zur überragenden Thematik des SehenWollens als Wissen-Wollen in der Tragödie des Ödipus wird. Die bezeugende Funktion erscheint in Ödipus mit jenen Vielheiten von Vogelschwärmen verbunden, mit denen der zu Rate gezogene Seher Tereisias umgeht oder mit jenem praktischen Know-how, mit dem die zuletzt zu Rate gezogenen Namenlosen, Hirten und Sklaven, verknüpft sind. Das Einzelwesen kann seine genealogische Frage Woher komme ich? unmöglich ‚selbst‘ lösen. Der Chor hingegen wirft keine entsprechende Frage auf, er kennt sie überhaupt nicht. Aus der Verbindung von Ödipus und Iokaste gehen vier Kinder hervor: die Mädchen Antigone und Ismene sowie die Jungen Polyneikes und Eteokles. Letztere stehen sich als Gegner am siebten Tor von Theben gegenüber, nachdem sie von ihrem brüderlich zeugenden Vater Ödipus verflucht worden sind, ihr Erbe ‚Theben‘ mit dem Schwert zu teilen. Nachdem Iokaste Selbstmord verübt hat und der geblendete Ödipus in die Verbannung gegangen ist, haben die Brüder vereinbart, Theben jeweils im jährlichen Wechsel zu regieren. Doch Eteokles als König von Theben verweigert die vereinbarte Ablösung.


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Polyneikes zieht daraufhin mit sechs weiteren Heerführern gegen Theben, um seinen Anspruch durchzusetzen. Am siebten Tor stehen sich also nicht nur zwei Brüder, sondern auch zwei Erben gegenüber: der amtierende König Eteokles als Erbe von Theben und Polyneikes, der auf seine brüderlichen Rechte pocht und ebenfalls sein Erbe will. Allein der Versuch zu erben, muss vor dem Hintergrund ihrer inzestuösen Zeugung scheitern. Denn Polyneikes und Eteokles sind nicht nur die Söhne von Ödipus und Iokaste, sondern zugleich Enkel ihrer Mutter und Brüder ihres Vaters. Die beiden, die sich da gegenüberstehen, sind also Enkel, Söhne und Brüder in einem, und die gleiche Rechnung lässt sich für ihre Schwestern aufmachen. Im Text heißt es: „Eine Welle […] / Erhebt sich dreifach klaffend und schäumt / Ums Heck der Stadt“ (V. 758 ff.). Nur zu einem Drittel, als Söhne und Töchter, folgen sie ihren Eltern nach, während diese als Großmutter und Bruder die Stelle der Eltern gleichzeitig blockieren. Die ‚dreifach klaffende Welle‘ kann also zumindest assoziativ auf die genealogischen Probleme des Hauses Ödipus bezogen werden, obwohl diese Bezüge bei Aischylos über die mythologischen Figuren der Erinnyen noch differenzierter gewebt sind. Die Erinnyen bilden die „fahle Dreigestalt des Wehs!“ (V. 987) mit Alekto (die unaufhörliche Jagd), Megaira (den neidischen Zorn) und Tisiphone (die Vergeltung). Der Chor bezeichnet sie als „schwarze Erinys, gewaltig und stark“ (V. 975), wiederholt auch als „Schatten des Ödipus“ (V. 976, 987). Sie verfolgen unerbittlich das „leidvolle Geschlecht“ (V. 993), das aus dem Privileg männlicher Zeugungskraft hervorgehen wollte und Nachkommen generierte, die nicht nachkommen können. Seit dem Muttermord des Orest heften sich Erinnyen an die Fersen derer, die zur Nichtung der Mütter beitragen. Ihre ruhelose Rache steht auf Seiten der Mütter, lässt sich aber dennoch nicht einfach matriarchal verrechnen. Im Fall der Erinnyen lassen sich Mütter nicht mit den Namen konkreter Mütter identifizieren. Was Erinnyen nicht ruhen lässt, sind eher erdhafte Mütter- und Demeterkräfte mit ihren sehr viel weiterreichenden Bezügen von Verwandtschaften, die zwischen Leben und Tod spielen und rituell in Fruchtbarkeits- und Totenkulten beschworen werden. Anstelle von Blutsverwandtschaften geht es den Erinnyen, metaphorisch gesprochen, um das Blut der Erde. Das „Weh!“ der Erinnyen tritt dreifach auf. Die Tragödie des Aischylos mündet in auffälliger Weise in Variationen des Zwiefältigen, die mit völliger Ausweglosigkeit einhergehen.


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Die außerordentliche eheliche Umarmung von Ödipus und Iokaste verunsichert das Woher ihrer Nachkommen. Im genealogischen Schema der Abstammung, das allererst wird und in seinen Konturen noch kaum festgestellt ist, wirkt sich ihre intergenerationelle Umarmung als ursprüngliche Herkunftsberaubung aus. Da sich in ihrer Umarmung die Abfolge sozusagen ‚ursprünglich‘ verwirrt, scheint auch für ihre Sprößlinge die Nachfolge verriegelt. Herkunft, die nicht mehr zwischen Leben und Tod spielt, sondern als Abfolge von Eltern und Nachkommen definiert wird, lässt sich entsprechend verunsichern oder auch rauben. Herkunftslosigkeit wirkt sich unter diesen Bedingungen als Schranke gegen jede weitere, mögliche Nachkommenschaft aus – und zwar umso mehr, als sich das Schema der Abstammung etabliert und je unnachgiebiger seine Regeln als die einzig möglichen erscheinen. Am siebten Tor bringen Polyneikes und Eteokles sich im selben Moment gegenseitig um. Der Bote berichtet vom „Wechselmord“ (V. 821). Der Chor beklagt „zwiefaches Geschick“ und den „zwiefachen Kummer, Jammer des Wechselmords“ (V. 848 f.). Der Chor ist sprachlos: „Was sage ich nun?“ (V. 850). Eteokles konnte nicht allein, sondern nur „versöhnt“ (V. 883) herrschen. Versöhnt heißt aber in diesem Fall, dass Eteokles und Polyneikes ihre Sohnschaft als Brüder nur mit ihrem Vater und nicht nach ihm oder ohne ihn behaupten können. In diesem Paradox ist ihr Tod beschlossen. Antigone und Ismene treten zu den Leichen. Antigone: „Zwiefältiges Sagen!“ (V. 971) Ismene: „Zwiefältiges Schauen!“ (V. 972) Antigone: „Entsetzlich zu sagen.“ (V. 983) Ismene: „Entsetzlich zu sehen.“ (V. 983). Ein Bote verkündet den Beschluss des Stadtrats: Eteokles soll in Theben begraben werden, Polyneikes soll unbestattet vor die Tore der Stadt geworfen werden und „keine Hand“ (V. 1022) soll ihn beerdigen. Antigone kündigt ihre Widerhandlung an. Je rigider die Frage der Herkunft mit dem Einzelwesen verknüpft wird, je rigider sich das genealogische Schema der Fortpflanzung als Filiation durchsetzt und ihren Nachkommen seine Regeln der Nachfolge aufprägt, desto zerstörerischer zeigen sich die Folgen. Obwohl sich auch jeder Stammbaum, je weiter er zurückverfolgt wird, rhizomatisch verzweigt, entspricht seinen, in eine unabsehbare Pluralität übergehenden, losen Vervielfältigungen kein Bewusstsein mehr, keine Praxis, keine Erinnerung. Das hat verheerende Folgen, die bei Euripides drastisch ausbuchstabiert werden. Zu den Müttern, die in den Schutzflehenden des Euripides Demeter anrufen, um die


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Heimführung ihrer toten Söhne zu erreichen und damit erfolgreich sind, tritt am Ende des Stücks ein Chor von Knaben, der aus den Söhnen der Gefallenen besteht. Diese sinnen auf Rache und sprechen im Namen des Vaters: „Wohl, wenn die Götter wollen, kommt der Rachetag / für meinen Vater“ (V. 1146 f). Im Handumdrehen wechseln die Mütter, die soeben noch das Leben als Gabe der Erde beschworen haben, zur Partei des Krieges über. Keine erdgeborenen Erinnyen halten sie mehr davon ab. Diese sieben Mütter von sieben namentlich ausgezeichneten Helden werden zu Kriegstreiberinnen im Sinn paternaler Vergeltung. Sie spornen ihre Enkel an: Wohlan! „Dich wird Asopos’ heiterer Quell empfangen einst / Im Waffenschmuck als Führer des Argeierheeres, / Auf das du den Tod des Vaters rächest.“ (V. 1150–1152) Zum Schluss des Stücks erscheint die mutterlose, allein vom Vater her gezeugte Pallas Athene als Dea ex machina. Sie prophezeit den Knaben, dass sie, sobald sie mannbar seien, als Epigonen ihre Väter rächen und die Stadt Theben erobern und zerstören werden. Damit ist bei Euripides eine der ersten jener Vater-Sohn-Ketten angedeutet, die um einiges später von den Juristen des augustinischen Roms ausgearbeitet und von der Tradition zu einem Standard ‚westlicher Kultur‘ erhoben werden wird.16 Je dominanter das Prinzip des Protagonisten in den Vordergrund rückt, der sich mit der Gründung von Abstammungslinien seiner Endlichkeit widersetzt, desto blasser gerät die chorische Erinnerung an eine unbestimmte, mit der Erde verbundene ‚Kindschaft‘ aller Lebewesen. Mit ihr rückt auch das Bewusstsein von der absoluten Immanenz eines infiniten und unpersönlichen Lebens in den Hintergrund.


Das Amphitheater Epidauros nach den Ausgrabungen, die 1926 durch die Archäologische Gesellschaft Athen abgeschlossen wurden.


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Das Chorgedächtnis der antiken Tragödien betont die Erde als Trägerin und Nährerin aller Lebewesen und als ihr Grab. In der Tradition von klassischen Philologen und Übersetzern wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Wolfgang Schadewaldt oder Emil Staiger werden Erinnerungen chthonischer Art ausnahmslos mit Metaphern aus dem maternalen Umfeld wiedergegeben. Das lateinische Attribut ‚maternal‘ wird mit ‚mütterlich‘ oder ‚mütterlicherseits‘ übersetzt und steht in enger semantischer Beziehung zu den Feldern von Abstammung und Vererbung. Es verzichtet zwar auf den Zusatz einer linearen Logik wie das adjektivische ‚matrilinear‘, das die soziale und erbrechtliche Folge ‚in der Linie der Mutter‘ bezeichnet. Dennoch stehen beide Bezeichnungen vollständig im Horizont der Idee einer genealogischen Abfolge. Die Übertragung von verwandtschaftlicher Herkunft, Ansehen und Eigentum von einer Generation auf die nächste wird entlang einer mütterlichen Linie imaginiert und geregelt, während die des Vaters ohne Bedeutung bleibt. Allein schon die Zusammensetzung von ‚maternal‘ und ‚linear‘ erscheint widersinnig. Die Idee einer Linearität, die zwischen Herkunft und Nachfolge im Einzelfall vermitteln soll, setzt sich maßgeblich erst mit der Gründungsenergie von Stadtstaaten und ihren männlichen Protagonisten durch. Voraussetzung dafür ist eine Entdeckung, die sich in den langen Übergängen zwischen nomadischen und agrarischen Kulturen allmählich herausgebildet hat: die Entdeckung einer männlichen Fruchtbarkeit, die in ländlichen Phalluskulten und als Phallusphorien in den Zeremonien zur Eröffnung der städtischen Dionysien in klassischer Zeit mit dem Tragen hölzerner Phalloi gefeiert wird. Die Entdeckung selbst erfolgt jedoch alles andere als gradlinig, sondern in Vermischung mit dem heterogenen, kultischen Umfeld eines Gottes, der wie kein anderer ein polyvalenter und sich verwandelnder Gott ist. Der „fremde“ und „differente Gott“ Dionysos, der „nicht etwa historisch spät aus nichtgriechischen Gegenden in das griechische Pantheon übernommen wurde, wie einflussreiche Forscher lange behauptet haben, sondern den Griechen seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. bekannt war“17, gilt als der Gott der Metamorphosen schlechthin. Er kann als Reflexionsfigur und Widerlager jener Transformationen gelten, an deren vorläufigem Ende auch der Versuch steht, entlang männlicher Abstammung Verwandtschaften zu bezeichnen und Nachfolgen zu


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regeln. Die Widersprüche, innerhalb derer sich dieser Versuch herauskristallisiert, werden indessen durch einen Gott wie Dionysos indiziert, der keine eindeutige Ursprungserzählung noch die Idee von Herkunft oder Abstammung kennt. Dionysos taucht als ein Hybrid aus vielfältigen kulturellen Traditionen und Gebräuchen auf. Wie der Chor geht er von heterogenen Ursprünglichkeiten (im Plural) aus, die als reine Disparata nicht an sich selbst befragbar sind. Sie stehen dem Prinzip der Verwandlung, nicht dem Prinzip der Herkunft nahe. Ungeachtet all dieser Verwicklungen bedienen die Übersetzungen der klassischen Philologen älterer Schulen, sobald das Verhältnis von Erde und Menschen ins Spiel kommt, das protofamiliäre Schema, das sie mit Metaphern der Geburtlichkeit („Erdenkindschaft“), der Herkunft („Schoß der Erde“), der Mütterlichkeit („Amme“) oder Mutterschaft („unser aller Mutter“) wiedergeben. Unterstützt wird dieses Vorgehen möglicherweise von der Vorstellung, dass die gesamte Oidipodeia „einen gewaltsamen, unklaren Übergang von einem ererbten matrilinearen System zu den patrilinearen Konventionen von Thronfolge und Besitzteilung widerspiegelt“18. Doch selbst in dieser Formulierung George Steiners wird der in Frage stehende Übergang insgesamt als ein ‚gewaltsamer‘ und ‚unklarer‘ Vorgang bezeichnet, während er uns in den gängigen Übertragungen aus dem Griechischen stark geglättet und geklärt entgegensieht. Ganz so, als hätte es die Familie schon immer gegeben, werden Zusammenstellungen verwandtschaftlich gedeutet. Diese gewaltsam harmonisierende Ideologie zeigt sich ursprungsverpflichtet und ist an der Linearität von Vorher-nachher-Folgen orientiert. Dieser Ideologie ist aus unterschiedlicher Perspektive widersprochen worden. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Nicole Loraux, die als Historikerin und Altphilologin den Unsicherheiten geschlechtlicher Kodifizierung in vorklassischer und klassischer Zeit nachgeht.19 Zu nennen ist ebenso Judith Butlers Lektüre von Antigone, die sich der Unsicherheit jener Verwandtschaft „zwischen Leben und Tod“20 widmet, durch die sich Antigone in Widerspruch zu jenen männlich kodierten Nachfolgen setzt, für die eine Polis-Ordnung unter der Ägide von Kreon beispielhaft steht. Christina von Braun wiederum geht unter Bezug auf sozial- und kulturhistorische Studien zum Phallizismus in der griechischen Antike davon aus, dass die Konzepte ‚mütterliche Blutsverwandtschaft‘ und


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‚geistige Genealogie der Väter‘ im vorklassischen Athen unentschieden miteinander konkurrierten.21 Auch Steiner konstatiert eine grundlegende „Unsicherheit in Bezug auf Verwandtschaft“22. Er situiert sie in den „Grenzregionen“ mündlich tradierter Mythen und nimmt einen engen Zusammenhang zwischen ihren Erzählungen und der Herausbildung der schriftsprachlichen Syntax an. Steiners Hypothese zufolge entstehen die Grammatik des Kasus, des Genus, der Tempora und die Modi des Verbs gleichzeitig mit den Versuchen und Irrwegen „in der Herausbildung abendländischer Verwandtschaftssysteme“. Steiner resümiert: „In der Geschichte vom Haus des Laios sind die anthropologischen, die soziologischen und die linguistischen Ursprünge und Abstammungslinien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht voneinander zu trennen.“23 Konstatieren wir an dieser Stelle nur das Faktum einer aus unterschiedlichen Perspektiven betonten Unsicherheit in Bezug auf die Herausbildung von Verwandtschaften und geschlechtlichen Zuschreibungen, die sich aus einer Zone von vor langer Zeit mythisch verbürgten Hybridwesen und göttlichen Tierheiten erst allmählich und über unterschiedliche Ketten von Versuch und Irrtum herauslösen. Konstatieren wir damit auch, dass der Prozess der Hominisation im Sinn der bündigen Formulierung von Lévy-Strauss, dass Menschen als solche festgestellt werden, ‚die aus Zweien kommen‘, das heißt, aus zwei Menschen hervorgehen, als solcher nicht abgeschlossen vorliegt. Als ein in sich brüchiger Prozess wird die Hominisation in den Tragödien der klassischen Epoche Griechenlands lebhaft erinnert, etwa im Prometheus-Fragment oder den Hiketiden von Aischylos, um nur diese beiden zu nennen. Die extreme Nachhallzeit dieses Vorgangs bewirkt, dass transhumane Herkünfte in den Tragödien (vor allem des Aischylos) mitspielen und noch keineswegs eindeutig verworfen werden. Sie führt uns auch dazu, den fast zwanghaften Einbruch des kleinfamiliär-verwandtschaftlichen Vokabulars in den gängigen Übertragungen aus dem Griechischen strikt abzulehnen. Vor allem in Bezug auf Tragödientexte, die sich der Darstellung einer prinzipiell unsicheren Verwandtschaft widmen, ist besondere Aufmerksamkeit geboten. Der Unsicherheit und Brüchigkeit, die hier im Spiel ist, wird am ehesten der Begriff des Fragments gerecht, wie ihn der Altphilologe Anton Bierl aus gräzistischer Sicht fruchtbar gemacht hat.24 Bierl löst den Begriff des Fragments aus seiner engen Bedeutung, die er als Charakteristikum einer Überlieferungslage innehat und dehnt


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ihn auf das Fragmentarische aus, mit dem besondere Stilmerkmale poetischer Verfahren bezeichnet werden. Darüber hinaus kennzeichnet der Begriff jedoch nicht nur poetische Dramaturgien des Fragmentarischen im engeren Sinn, sondern auch Verfahrensweisen der Poetik im Sinn eines grundlegenderen Fragment-Bewusstseins der Griechen. Wenn etwa Aischylos zitiert wird, der seine Tragödien als „Schnitten von den großen Mahlzeiten Homers“25 bezeichnet hat, dann wird im Bild der herausgetrennten Schnitte etwas deutlich, das den Übergang von größeren mythologischen Erzählströmen in die Dramatisierung von Teilstücken als einen Vorgang des Fragmentierens erfasst. Bierl betont vor allem eine Ästhetik der Fragmentierung. So würde etwa eine körperliche Zerreißung häufig sprachlich nachgebildet und somit eine somatische Fragmentierung in die Form eines Sprechakts übertragen. Bierls Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf das „poetologische Experiment“, auf die Notation „zerhackter und rätselhafter Sätze“ sowie die „häufig unverbunden aneinandergereihten Wortfetzen“26. Die fragmentierende Poetik, in Sonderheit der Vorsokratiker an der Wende zum fünften Jahrhundert, ist selten so pointiert in den Blick gerückt worden wie von Bierl. Es ist von besonderer Bedeutung, dass dieses sich im poetologischen Experiment ausdrückende Fragment-Bewusstsein nicht einfach als Niederschlag einer gewissen anthropologischen Verfasstheit gewertet wird, etwa als Niederschlag eines Bewusstseins, das die sterbliche Existenz ‚des Menschen‘ als Bruchstück oder Stückwerk begreift. Vorschnelle Lektüren dieserart gehen mit der Unterstellung einer Verstoßung aus einem ehemals gefüllten Ursprung einher und überziehen antike Texte mit einer christlich eingefärbten Interpretation. (Doch die Tischgemeinschaft mit den Göttern gleicht nicht dem Paradies. Allein die Bilder und die Verfassung dieser mythischen Orte sprechen eine völlig andere Sprache.) Mit Bierl ist für die fragmentierende Poetik vielmehr ein Denken wie das der Vorsokratiker in Betracht zu ziehen, das sich in der Frage nach dem Ursprung, der archē aller Dinge, fragmentiert. Es splittet sich aber nicht deshalb auf, weil diese Frage seit jeher unterschiedlich beantwortet wird, sondern weil das „Ganze“, wonach sie sich streckt, nur als „Nichtganzes“ vorliegt. Das „Ganze“ und das „Nichtganze“ sind in diesem Denken weder als Aufeinanderfolge noch als wechselseitige Ausschließung, sondern nur konjungiert zu denken. Sie sind einander beigefügt oder, ohne dass hier irgendeine Hierarchisierung möglich


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wäre, ineinandergefügt. Dieses vom Fragment ausgehende Denken betont das Bruchstück nicht als etwas, das aus einem ehemals vollen Zusammenhang herausgefallen ist, sondern als etwas, das sich zusammentragen und fügen lässt. Das Bruchstück ist kein Unterpfand einer verlorenen, abwesenden Einheit, sondern Mittler eines vielleicht verborgenen, aber vorhandenen Ganzen ohne bezeichnende Schranke. Das Bruchstück interessiert nicht unter dem Aspekt des Verlusts, sondern in seiner Potenzialität und seiner Möglichkeit, mit etwas zusammenzustimmen. Das Zusammentragen auseinandergetragener Scherben betont den Vorgang, das Tun (dran). Der Vorgang selbst ist Vermitteln und Berühren, ist Wissen und Erfahrung in einem. Er ist derart grundlegend, dass wir ihn überall finden: im Philosophieren, im Regieren, im Wissen, in der Poetik. Nicht die Position, sondern die Komposition sei die erste Aufgabe des tragischen Dichters, hält Aristoteles in seiner Poetik fest.27 Der Vorsokratiker Heraklit aus Ephesos bringt das Fragmentarische in der Verlaufs- und Darstellungsform seiner Aphorismen in extremer Weise zur Geltung. Bei Heraklit bezeichnet das Fragmentarische nicht nur eine Denkweise oder eine besondere poetische Diktion, sondern schließt auch, wie Bierl aufzeigt, die Rezeption ein. Was auf der Ebene der Schrift als unvermittelte Aneinanderreihung von widersprüchlichen Bruchstücken erscheint, führt im rezipierenden Sprechakt zur Erfahrung einer verborgenen Zusammengehörigkeit. Heraklit selbst spricht diesbezüglich von der Wirkung einer „gegenwendigen Harmonie (Fr. 51)“28. Im Sprechakt sei dem Lesenden eine Erfahrung des inhärenten Ganzen möglich, das als solches manifest nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Bierl zitiert das Fragment 10 DK von Heraklit, das dieses Denken des Fragmentarischen programmatisch zum Ausdruck bringt, indem es dieses Denken vorführt: „Zusammen-Ergreifungen (Verstehen […] bzw. innige Berührungen […]), Ganzes und Nichtganzes, zusammentragend-auseinandertragend, zusammenstimmend-auseinanderstimmend, und aus Allem Eins und aus Einem Alles.“29

Im sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhundert steht das Fragmentarische, weit über seine poetologische Funktion hinaus, mit einem Denken des Juridischen, des Symbolischen, der Weisheit oder der Wahrheit in Beziehung. Das Fragmentarische ist zentral für einen Begriff des Theaters, der es als Zusammensetzung von


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Orchestra und Skene erfasst. Entsprechend modelliert das Fragmentarische auch die Einrichtung dramatischer Strukturen, die sich im antiken Drama zwischen Chorpartien und Epeisodien buchstäblich „zusammentragend-auseinandertragend“ fügen. In beispielhafter Weise bestimmt das Fragment-Bewusstsein der Griechen, das sich in Anbetracht des aristotelischen tópos-Begriffs auch als Gefäß-Bewusstsein bezeichnen lässt, die Dramaturgie der Tragödie Ödipus Tyrann von Sophokles. Auf Michel Foucault geht die Entdeckung zurück, dass das Fragmentarische in seiner Verbindung mit der Wahrheitstechnik des sýmbolon die dramaturgische Struktur der Ödipus-Tragödie in Gänze ausmacht. Foucault hat dem sophokleischen Ödipus insgesamt drei große Lektüren gewidmet. Er trägt seine Entdeckung erstmals in den Brasilianischen Vorlesungen 1973 vor, die unter dem Titel „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ in die Edition der Schriften aufgenommen werden.30 Foucault interessiert sich für einen Komplex des Ödipus, der nicht auf individueller Ebene spielt, sondern im vergessenen Ganzen der Beziehungen liegt, die Macht und Wissen zueinander eingehen. Auch wenn wir die Analysen Foucaults hier nicht in ihrer machttheoretischen Orientierung verfolgen, so ist doch die von ihm entdeckte Dramaturgie des Fragments als Träger einer komplexen räumlichen Architektur der Ödipus-Tragödie von hohem Interesse für einen sukzessive zu erweiterten Chorbegriff. Das Zuviel-Wissen des Tyrannen (Foucault)

„König Ödipus: Der Mann, der zuviel wusste“ lautet der redaktionell verantwortete Titel, unter dem Foucaults genannte Vorlesung zur Ödipus-Tragödie 1989 in der Zeitschrift Lettre International erstmals auf Deutsch erschien.31 Die bekannte Formel vom Mann, der zuviel wusste, trifft den sophokleischen Titel Oidipus Tyrannos insofern sehr gut, als sie das entscheidende Charakteristikum jener Tyrannen bezeichnet, die im siebten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland Städte aufrichten. Der tyrannos zeichnet sich durch eine Art „weise“ (sophos) zu sein aus, die in sich selbst verschlossen ist und die sich als despotisches Regime behauptet. Es handelt sich um einen Typus des inkorporierten Wissens. Foucault schreibt: „Das Wissen des Ödipus, ebenjenes Wissen, durch das er an die Macht kam, ist ein Wissen, das man bei niemandem erlernen


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kann. Er konnte weder auf göttliche Zeichen noch auf menschliche Gerüchte zurückgreifen. Er braucht sein Wissen nicht von anderswoher zu beziehen.“32 Auf diese Art sophos ist Ödipus, der das Rätsel der Sphinx löst und damit ein Wissen zur Geltung bringt, das dem der anderen absolut überlegen ist (alle vor ihm waren am Rätsel der Sphinx gescheitert) – und das überlegen bleibt, denn das von keiner anderen Instanz und von keiner Umgebung abgeleitete Wissen verlässt den Körper seines despotischen Trägers nicht. Zeichentheoretisch könnten wir auch sagen, dass sich der Tyrann mit einem despotischen Signifikanten gleichsetzt, indem er ihn inkarniert. Er ist aus diesem Grund zwingend ein Alleinherrscher, der Deutungsmacht, Interpretationsgewalt und überlegenes Wissen nicht beansprucht, sondern innehat und daher nur agieren muss. Als ein solcherart Wissender nimmt Ödipus in der sophokleischen Tragödie die Untersuchung auf. Das Wissen des Tyrannen dient vor allem der „Aufrichtung“ einer Stadt. Hier erscheint es – oder vielmehr: hier tritt es in Kraft. Der Chor verwendet den Ausdruck orthosan (von orthoō), „aufrichten“, oder auch anorthosan polin, „die Stadt aufrichten“ (V. 46; 51), um die Heilung der Stadt Theben zu bezeichnen. Tyrannen gelten als Inkarnationen des Wissens um die Stadt. Sie können sie heilen und ihrem Kollektivkörper Atem verschaffen oder ihr, wie im Fall des Ödipus, zur Ursache ihres Siechtums gereichen. Zu Beginn wird Ödipus vom Chor der Thebaner überschwänglich begrüßt. Sie preisen ihn als „Besten“ unter den Sterblichen (V. 46). Ihm sei es gelungen, Kadmos’ Stadt von der „gnadenlosen Sängerin“ zu befreien, „und dies“, der Chor wird hier sehr präzise in seiner Beschreibung des überlegenen, tyrannischen Wissens, „obwohl von unserer Seite du kein weitres Wissen hattest, / keine genaue Kunde, sondern mit Beistand eines Gottes, / so sagt und denkt man, habest du das Leben uns aufgerichtet“ (V. 37 ff.). Diese rühmende Haltung des ThebanerChors bezieht sich nicht nur auf den besonderen Fall des Ödipus. In ihr spiegelt sich auch ein allgemeineres, historisches Faktum: Seit dem sechsten Jahrhundert v. Chr. stemmen sich Tyrannen wie Periandros oder Kleisthenes gegen die verheerende Wirkung konkurrierender aristokratischer Clans und ebnen der Einführung der Demokratie den Weg. Mit Bezug auf einschlägige Stellen im Geschichtswerk des Herodot hält der Altphilologe Bernhard Zimmermann fest: „Um ihre aristokratischen Konkurrenten im Kampf um


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die Alleinherrschaft auszuschalten, stützten sich die Tyrannen auf das Volk, das sie unter anderem dadurch aufwerteten, dass sie neue Formen von Chor-Darbietungen wie Dithyramben stärkten.“33 Der Chor preist den Tyrannen also auch aus Eigeninteresse oder zumindest aus traditionellen Gründen, die das Verhältnis zwischen Tyrannen und Chören positiv färben. Foucaults Analyse konzentriert sich zunächst auf das tyrannische Zuviel-Wissen, auf eine Form despotischer Weisheit, die keine andere Begründung kennt als den tyrannos, der sie ausspricht. Mit ihm oder durch ihn ist dieses Wissen Wirklichkeit und Macht und darin ist es tyrannisch. Diese Form des Wissens erscheint ganzheitlich, nicht diskursiv und zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Zum einen ist es in sich geschlossen, zum anderen ist es an den Körper eines Sterblichen gebunden. Das heißt, es handelt sich nicht um einen Wissenstypus idealer, sonnengleicher oder ewiger Art, sondern um einen körperlich und sterblich konkretisierten Typus von Allwissen. Wahrheit, Irrtum oder Schuld werden in diesem oder anhand dieses sterblichen Körpers verhandelt. Sie sind keine Angelegenheiten von Worten. Aus diesem Grund kennt Ödipus Tyrann auch keine einzige Rede des Ödipus, die erwägt, dass er etwas Unrechtes verübt, dies jedoch nicht willentlich oder wissentlich getan habe. Dieser Umstand ist umso auffälliger, als er im Ödipus auf Kolonos des Sophokles ganz im Gegenteil ausführlich Ausdruck findet. Da heißt es zum Beispiel in einem Vers der Antigone: „da ihr die Kunde / vernahmt seiner unabsichtlichen [akōn: unfreiwillig, wider Willen, ohne Absicht] Taten“ (V. 240 f.). Oder in einem Vers des Ödipus: „Meine Taten / habe ich ja, wisse, mehr erlitten [paschō] als verübt [draō]“ (V. 266 f.). Im Wechselgesang mit dem Chor sind es vor allem die Verse: „Schlimmstes [kakotēs: Lasterhaftigkeit, Schlechtigkeit, Feigheit, Unglück] lud ich [pherō] auf mich, auf mich, ihr Fremden, lud es auf mich wider Willen [akōn], / Gott soll es wissen: / Nichts von dem war frei gewählt [antheireton ouden: nicht selbstbestimmt]“ (V. 521 ff.). Und in Bezug auf den Vatermord heißt es wenig später: „Von Verblendung umstellt, mordete, tötete ich, / vor dem Gesetz jedoch rein; ahnungslos verfing ich mich drin“ (V. 548 f., Steinmann). In Ödipus Tyrann gibt es diese ganze Rede eines unabsichtlich verursachten Unglücks oder einer unwissentlich aufgeladenen Schuld nicht. Stattdessen sehen wir einen tyrannischen Seher, begabt mit Macht und Überlegenheit, dessen Sache das Wohlergehen


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der Stadt ist. Ödipus will „in allem“ (V. 12) der Stadt helfen, ihre Krankheit abzuschütteln, koste es, was es wolle: „meine Seele aber stöhnt um die Stadt“ (V. 64). Ödipus ist der Stadt magisch verbunden und mit ihr auch ihrer Bevölkerung (V. 55). In der Figur des Tyrannen bilden Despotie und Wissen ein Amalgam. Das eine geht in das andere über und kann nicht getrennt vom anderen vorgestellt werden. Handelt es sich jedoch bei dem sterblichen Ödipus um ein Wesen, das der Stadt Verderben bringt, kann sich auch der Tyrann nicht mehr halten. Er wird nicht gestürzt, sondern er fällt aus dem Nabel von Despotie und Wissen, die sich in ihm verschlungen haben und die nun ohne Verbindung zur Stadt dastehen. Wird dieser Fall des Ödipus als das eigentliche Thema dieser Tragödie angesehen, so führt dieser in Bezug auf ihren Titel einen Schnitt zwischen die Namen Ödipus und Tyrann ein. Ohne despotischen Bezug zu seiner Stadt, ist Ödipus getrennt, halbiert, zerschlagen. Ein umherirrender Rest, so könnte man sagen, der Kreon um seine Verbannung bittet (V. 1517), ein gesichtsloser Körper, der nichts mehr signifiziert. Ödipus, der als Tyrann „die berühmten Rätsel löste, mächtig wie kein zweiter“ (V. 1525), erscheint in Ödipus auf Kolonos ohnmächtig, ohne Anteil am Leben, blind und vollständig isoliert, verlassen von den Göttern, den Thebanern und (mit Ausnahme von Antigone, die ihn stützt) von seinen nicht eindeutigen Kindern, zwischen denen er Zwietracht sät. Im Zusammenhang ihrer Darstellung nicht-signifikanter Zeichensysteme in Tausend Plateaus kommen Deleuze und Guattari in einer Nebenbemerkung auf diesen Wechsel zwischen dem ersten Teil (Ödipus Tyrann) und dem zweiten Teil (Ödipus auf Kolonos) der Ödipus-Tragödien von Sophokles zu sprechen. Sie schreiben:

„Etwas verwirrt uns wieder: die Geschichte von Ödipus. Denn Ödipus ist in der griechischen Welt nahezu einmalig. Der ganze erste Teil ist königlich, despotisch, paranoisch, interpretativ und seherisch. Aber dann im ganzen zweiten Teil das Umherirren von Ödipus, seine Fluchtlinie mit einer despotischen Abwendung, der seines Gesichts und des Angesichts Gottes.“34


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Die Wahrheit der Hälften (Foucault)

Die Möglichkeit einer Auftrennung zwischen Ödipus und Tyrann, zwischen dem sterblichen Körperwesen und der Instanz tyrannischen Wissens und Macht, entspricht dem Wahrheitsspiel zweier Hälften, das Foucault zufolge die gesamte Form und die Dramaturgie in Ödipus Tyrann strukturiert. Foucault schreibt:

„Diese wirklich beeindruckende Form […] ist nicht nur rhetorischer Art, sondern zugleich auch religiösen und politischen Charakters. Sie besteht in der bekannten Technik des σύμβολον, des griechischen Symbols. Sie ist ein Machtinstrument, ein Mittel der Ausübung von Macht: Jemand, der ein Geheimnis besitzt oder über Macht verfügt, zerbricht einen beliebigen, meist aus Keramik gefertigten Gegenstand und behält die eine Hälfte für sich, während er die andere jemanden übergibt, der die Botschaft übermitteln und deren Echtheit bestätigen soll. Fügt man die beiden Hälften zusammen, erkennt man die Echtheit der Botschaft, das heißt die Kontinuität der ausgeübten Macht. Die Macht manifestiert sich, schließt ihren Kreislauf, bewahrt ihre Einheit dank des Zusammenspiels kleiner, voneinander getrennter Bruchstücke desselben Ganzen, ein und desselben Objekts, dessen allgemeine Gestalt die manifeste Form der Macht ist. Die Ödipusgeschichte ist das Zerbrechen dieses Stücks, dessen vollständiger, wieder vereinter Besitz zugleich den Besitz der Macht und die Echtheit der von ihr gegebenen Anweisungen beweist. Die Botschaften und Boten, die sie ausschickt und die zurückkehren müssen, beglaubigen die Verbindung zur Macht durch die Tatsache, dass jeder von ihnen ein Fragment des Stücks besitzt und es mit den übrigen Fragmenten zusammenfügen kann. Das ist die gerichtliche, politische und religiöse Technik, die von den Griechen σύμβολον, Symbol, genannt wird.“35

Das zu Beginn der Tragödie in Ödipus verschlossene Machtwissen wird durch den Richter Ödipus auf die Probe gestellt, der die Wahrheit darüber zu erfahren sucht, wem die Befleckung zuzuschreiben ist, derentwegen ganz Theben dahinsiecht. Die Mittel der Probe oder auch der „Mechanismus der Wahrheitsfindung“ gehorchen dabei, so Foucault, „einer reinen Form, die man als das Gesetz der Hälften bezeichnen könnte. In Hälften, die ineinander passen und sich aneinander fügen lassen, schreitet der Prozess der Wahrheitsfindung in König Ödipus voran“36


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Über drei große Akte hinweg ereignet sich die Wahrheit. Sie setzt sich bruchstückhaft, wie die Scherben eines zerbrochenen Gefäßes, zu einer Wahrheit zusammen, die mit dem Wissen des Tyrannen bricht. Auf jeder Stufe dieser drei Akte wird sie jeweils durch zwei Hälften eines komplementären Paares präsentiert. Über die großen Epeisodia hinweg ereignet sich der Fall des Ödipus in juridischem Sinn. Ödipus nimmt die Untersuchung in die Hand und wendet dabei eine alte Praxis der Wahrheitsprüfung an. Er macht diesbezüglich sozusagen alles richtig. Doch die alte Technik des Beweises über die Zusammenfügung zweier zueinander passender Hälften desselben Ganzen führt nicht mehr zur Wiederherstellung derselben, ehemals uneingeschränkten Macht, sondern im Gegenteil zu ihrer Nichtung. Über die drei Stufen seiner Wahrheitsprüfung lässt Ödipus eine Wahrheit zutage treten, die nicht mehr kompatibel ist mit der Einheit von überlegenem Wissen und Despotie, die Ödipus zu Beginn inkarniert. Zu Beginn sitzt Ödipus im Nabel des Machtwissens und stellt diesen Nabel selbst dar. Zuletzt gewinnt Ödipus ein Wissen, das er nicht mehr inkarniert, sondern nur noch wissen kann. Sein Fall aus der tyrannischen Macht ist die Folge. Auf der ersten Stufe tragen Kreon (V. 87–150) und Teiresias (V. 216– 426) die beiden ersten Hälften der Wahrheit zusammen. Iokastes Bruder Kreon wird von Ödipus zum delphischen Orakel geschickt, um Apollon zu befragen, und Kreon kehrt mit der Auskunft des Gottes zurück, dass der Mord am einstigen König Laios das Land beflecke. Auf die Frage, wer der Mörder gewesen sei, verweigerten ihm „die Sprüche des Nabels im Kreuzpunkt der Erde“ (V. 480 f.) von Delphi jedoch jede Auskunft. Der blinde Seher Teiresias wird herangeholt, „Apolls menschliche Doppelgänger, sein sterblicher Schatten“37, wie Foucault schreibt. Der Sonnengott und der blinde Seher ergänzen einander wie Tag und Nacht. Unsterblich und unendlich hell der eine, kurzlebig und blind der andere. Er heißt ein „göttlicher Seher“, denn er liest im Vogelflug und begreift „alles […], Sagbares, / Unsagbares“ (V. 298, 300 f.). Orakel und mantische Seherkunst wissen nicht nur Vergangenes, sondern ganz wie die Götter auch Zukünftiges, das die Form der Voraussage annimmt. Teiresias sträubt sich zu sprechen und wird von Ödipus, der ihn provokativ beleidigt und seine Seherkünste in Frage stellt, eigens dazu herausgefordert. Schließlich antwortet Teiresias und sagt ihm direkt ins Gesicht: Des „Landes heilloser Besudler bist du!“ (V. 353) Ödipus glaubt, seinen Ohren nicht zu trauen, und bittet ihn, es noch einmal zu sagen.


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Teiresias wiederholt seine Aussage noch unverblümter: Der „Mörder, den du suchst, sag ich, bist du!“ (V. 362). Als Paranoiker misstraut Ödipus jedoch allem und jedem. Sofort bezichtigt er Kreon des falschen Spiels: Er habe das apollinische Orakel falsch übermittelt und Teiresias zu Lügen angestiftet oder mit Geld dafür bestochen, Falsches zu verkünden. Auf der zweiten Stufe sind es Frau und Mann, Iokaste und Ödipus selbst, die als nächste die beiden Hälften der Wahrheit zusammentragen werden. Iokaste findet Ödipus im Streit mit Kreon. Sie versucht, Ödipus zu beruhigen, indem sie ihm sinngemäß sagt: Sehersprüche müssen nicht unbedingt in Erfüllung gehen. Das beste Beispiel dafür sei doch der Orakelspruch, der einst an Laios erging und ihm voraussagte, „durch den Sohn zu sterben, / der aus mir und ihm entstünde“ (V. 713 f.). Aber dann sei Laios mitnichten durch seinen Sohn, sondern durch „fremde Räuber einst an einer Scheide dreier Wagenwege“ (V. 715) umgekommen. Ödipus wird von angstvoller Ahnung gepackt, denn er selbst hat vor Theben „bei einer Scheide dreier Wagenwege“ (V. 730) vor Zeiten einen Mann erschlagen. Auf seine Frage hin stellt er fest, dass der Ort übereinstimmt: in Phokis, wo ein „Scheideweg […] / von Delphi und Daulia her zusammen[trifft]“ (V. 733 f.). Auch der Zeitpunkt stimmt überein: „Kurz bevor du im Besitz der Herrschaft / über dieses Land dich zeigtest“, sagt ihm Iokaste (V. 736 f.). So weiß Ödipus, der sich präzise erinnert, an dieser Stelle nahezu die ganze Wahrheit. Aber er klammert sich an eine letzte, noch bestehende Unsicherheit. Denn bislang gibt es keine Übereinstimmung in der Frage, ob der Mann am Dreiweg von fünf Räubern, wie ein Augenzeuge seinerzeit aussagte, erschlagen wurde oder von „einem Mann, der allein des Weges zog“ (V. 846). Sollte Letzteres der Fall sein, dann, so ist sich Ödipus sicher, „fällt […] diese Tat auf mich“ (V. 847). Der Augenzeuge soll Klarheit schaffen. Zugleich wähnt sich Ödipus noch immer als Sohn des Korinthers Polybos und dessen Frau Merope. Er berichtet Iokaste, dass er aus Korinth vor einem Orakel geflohen sei, welches ihm prophezeite, er würde einst seinen Vater morden und sich mit seiner Mutter vermählen (V. 774 ff.). Die letzten beiden Hälften werden durch die Aussagen zweier Sklaven zusammengefügt. Der erste kommt überraschend als Bote aus Korinth (V. 911–1085) und meldet, dass der betagte Polybos gestorben sei. Iokaste ist augenblicklich erleichtert: „jetzt stirbt der / eines natürlichen Todes und nicht durch ihn“ (V. 948 f.). Ebenso


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Ödipus, der jetzt nur noch Merope fürchtet. Vom Boten nach der Ursache dafür befragt, berichtet Ödipus erneut von jenem Orakel, vor dem er einst aus Korinth floh. Seine Flucht sei umsonst gewesen, antwortet ihm der Bote, denn Polybos sei nicht mit ihm verwandt und auch nicht sein Erzeuger (V. 1016 f.). Er selbst habe, seinerzeit als Viehhirt in den Schluchten des Kithairon, das Kind aus den Händen eines anderen Hirten übernommen, der zu Laios’ Leuten gehörte. Er habe das Kind dann zu Polybos gebracht, der es mit Merope, mit der er kinderlos geblieben war, liebevoll an Kindesstatt aufgezogen habe. An dieser Stelle stürzt Iokaste in den Palast, in dem sie sich umbringen wird. Doch Ödipus klammert sich in diesem Moment noch immer an die Möglichkeit, von „niedrige[r] Geburt“ (V. 1079) zu sein. Er lässt nach dem besagten Hirten suchen, der seit jenen Tagen im Dienste Laios’ seiner Arbeit auf dem Land, der chōra Thebens, nachgeht. Der zweite, sehr alte Hirte (V. 1110–1185) erscheint und sträubt sich zu sprechen. Der Bote aus Korinth erinnert ihn, Ödipus befragt ihn unter Androhung von Folter. Schließlich sagt der Sklave: Das Kind, das er damals dem Hirten im Kithairon gab, sei der Sohn von Iokaste, ihm selbst von ihr übergeben mit dem Auftrag, „schlimme[r] Sprüche“ (V. 1175) wegen das Kind zu vernichten. Er habe jedoch aus „Mitleid“ (V. 1178) diesen Auftrag nicht ausgeführt und das Kind dem Hirten im Kithairon übergeben, damit der es „weg ins fremde Land“ brächte. Doch der habe „es gerettet! Denn bist du der, / von dem er spricht, so wisse, dass unglückselig du geboren bist.“ (V. 1179 f.) Noch während der sehr alte Sklave aus Theben die Übergabe des Kindes aus ihren Händen in die seinigen bezeugt, erhängt sich Iokaste über dem „ehelichen Lager“ (V. 1242), diesem mitwissenden Ding par excellence. Und der Chor fragt sich im Hinblick auf ihr mögliches Mitwissen und diesbezüglich an Ödipus gerichtet: „Wie nur, wie konnten die / Furchen, in die der Vater gesät, dich tragen, / Armer, schweigend so lange?“ (V. 1210 ff.) Der Kreis ist geschlossen. Auf jeder der drei Stufen wird die Wahrheit aus den Fragmenten je unterschiedlicher Hälften zusammengetragen, die ungleich sind und dennoch ineinandergreifen wie die Scherben eines einzigen, zerbrochenen Gefäßes. Was zunächst wie ein Sturz aussieht – aus höchster Höhe göttlichen Lichts und gottgleicher Sehkünste über eine mittlere Ebene, die durch das triviale Paar von Mann und Frau gebildet wird, in die Tiefen der em-


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pirisch-alltäglichen Welt von namenlosen Sklaven – darf hier jedoch kaum als ein solcher Sturz vorgestellt werden. Die komplexe Dramaturgie des sýmbolon verbietet die Annahme einer solchen Vertikale, die aus höchster Höhe in den tiefsten Abgrund führt. Ebenso verläuft die Fährte nicht einlinig, sondern gegenwendig gebrochen. Ihr ringförmiger Verlauf ist vielmehr räumlicher Art und dem Kosmos nachgebildet. Sie endet nicht an einem Abgrund, sondern vollendet sich durch die Angehörigen jener Sklaven, die „im Tagelohn auf Wanderschaft“ (V. 1029) das Vieh hüten. Erst mit ihnen, die sich im Übrigen aneinander erinnern können und sich wiedererkennen, während dies Iokaste gegenüber Ödipus nicht möglich ist, schließt sich ein Ganzes aus Nichtganzem zusammen. „Das Ganze wäre klar heraus! O Licht, zum letzten Mal will ich dich schauen jetzt“ (V. 1183), sagt Ödipus, bevor er in den Palast geht und sich blendet. Despoten-Tyrannen

Ödipus Tyrann handelt vom Zerscherben einer Figur, die sozusagen aus der Antike der Antike datiert und die im Griechenland des Sophokles (und Platon) überfällig wird. Der týrannos bezieht sich, wie Foucault mit Verweis auf die Studien Georges Dumézils38 betont, auf „die große historische Gestalt, die es tatsächlich gegeben hatte, auch wenn sie inzwischen in die Legende eingegangen war: auf den berühmten Assyrerkönig“39. Der despotische, anfangs vergottete Assyrerkönig des sogenannten Alten Orients ist ausgestattet mit einem einzigartig überragenden Machtwissen. Er ist in der Sage zur Ursache der Ausdehnung Assyriens zum ersten Großreich der Weltgeschichte gemacht worden, ebenso wie zur Ursache des ruhmreichen Alters Assyriens, das sich zählte, indem es seine Könige von 1800 bis 722 v. Chr. in einer Liste durchnummerierte. Die altorientalische Despotie gründet in einem sagenhaften höchsten Herrn, der als König die Beziehung zwischen dem höchsten Gott (Assur) und seiner Stadt (Assur) verlängert, aktualisiert oder auch intensiviert. Der Assyrerkönig ist kein Stellvertreter, sondern inkarniert diese Beziehung von Gott und Stadt, die in Assur vorliegt. Ihm gehört ein exklusives Allwissen zu, das er nicht anderswoher bezogen oder von anderen erlernt hat. Sein Wissen ist jedoch – und das eignet diese Figur in besonderer Weise zum tragischen Protagonisten, als der er uns in der ersten Ödipus-Tragödie begegnet – an einen sterblichen Körper gebunden und erlischt mit ihm. Es ist nicht übertragbar, sondern kann nur von Neuem behauptet werden. Die


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einzige Aufzeichnungsmöglichkeit, die für dieses Wissen infrage kommt, ist daher die Liste der Namen von Königen, die es inkarnierten. Es handelt sich um ein kategorial ganz anderes Wissen als jenes höchste Wissen, das in Delphi in Form magisch empfangener Weissagungen des Sonnengottes Apoll eingeholt werden kann oder das aus kosmischen Bezugnahmen hervorgeht, wie sie der blinde Seher praktiziert. Magisches und mantisches Wissen (um Vergangenheit und Zukunft) wird empfangen, aber es ist nicht an den Körper seiner Empfänger gebunden, sondern an Praktiken des Empfangs. Es kann wiederholt, von völlig verschiedenen Figuren erbeten und von ganz unterschiedlichen Boten eingeholt werden. Es lässt sich durch unterschiedliche magische oder blinde, mantische Techniken vernehmen, entziffern und lesen, denn es liegt in einer Außensphäre vor, die nicht vollständig unerreichbar ist. Im Gegenteil lässt sich dieses Außen als eine umfassendere Sphäre des nichtmenschlichen und nicht namhaft zu machenden, konstellativen Wissens, wenn die angewandten Praktiken die richtigen sind, jederzeit kontaktieren. Demgegenüber ist das Wissen des týrannos in ihm verriegelt und auf diese Weise mit der Gegenwart und dem Wohlergehen seiner Stadt auf Gedeih und Verderb verbunden. Die Frage ist nicht, ob sein Wissen dazu geeignet ist, seine Stadt aufzurichten und ihr zur Blüte zu verhelfen. Es gibt kein anderes – und darin ist sein Wissen allmächtig. Es ist nicht teilbar, nicht übertragbar. An den sterblichen Körper des týrannos gebunden, ist es zudem nicht unendlich. Es handelt sich um ein vollständig isoliertes Wissen, denn der Tyrann gibt gleichsam den Signifikanten in Person. Das prädestiniert ihn jedoch auch zu einem vernichtenden Gesichtsverlust, wenn die Sache mit der Stadt schiefgelaufen ist. In der Logik eines herrisch inkarnierten Wissens ist dieser Moment zwingend ein Moment der körperlichen Marter. In Bezug auf diesen Moment halten Deleuze/ Guattari zu Ödipus lakonisch fest: „Er marterte sich, stach sich die Augen aus und ging dann fort.“40 Der Hinweis auf den Assyrerkönig verdeutlicht, welche vergotteten Herreneigenschaften den despótes einst definierten. Merkmale des ausnahmslos Höchsten und des Ältesten gingen in die priestergleichen Herrenqualitäten des despotischen Königs ein. Umstandslos war er als Synonym einer Stadt zu denken, die vormals namensgleich ein Volk und ein Reich bezeichnete.41 Ödipus Tyrann knüpft an diese altorientalische Königsfigur an, versetzt sie jedoch


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in ein genealogisches Setting. Als Überwinder der Sphinx befindet sich Ödipus nach altem Muster im Zenit despotischer Machtfülle. Zugleich findet er sich unversehens in Fragen seiner Herkunft und Abstammung verwickelt vor. Dieses Zugleich, Schnitt und Bindestück in einem, bildet die zentrale Vorgabe des Sophokles, aus der sich die gesamte Dramaturgie des Ödipus als Spiel mit dem ‚Gesetz der Hälften‘ nicht nur ergibt, sondern sich auch in nuce vollständig vorgebildet findet. Anhand seiner genealogischen Verwicklungen scheitert das despotische Monopol des Ödipus buchstäblich an den Umständen, die in einem erweiterten Sinn auch die vorgängigen Außensphären und Umräume erfassen, die in der sophokleischen Tragödie ihren Auftritt haben. Der umstandslose Despot aus älterer Zeit scheitert daran, dass die Aufgaben kleinteiliger werden, dass zukünftig Verwandtschaften im Namen eines Hauses herzustellen sind und dass, damit verbunden, Umstände schlichtweg nicht mehr zu ignorieren sind. Im Hinblick auf dieses Scheitern könnte Ödipus auch als eine Tragödie gelesen werden, in der es um eine Familiarisierung des Tyrannen geht. Das Scheitern des despotischen Monopols anhand der Zudringlichkeiten, die aus genealogischen Verwicklungen erwachsen, grundiert womöglich auch jene, philologisch exzessiv diskutierte Stelle, an der Hölderlin in seinen berühmten Anmerkungen zum Oedipus 42 die entscheidende dramaturgische „Cäsur“ ausmacht. Hölderlin macht geltend, dass Ödipus das von Kreon überbrachte Götterwort („haltet ein strenges und gutes Gericht“) nicht als Staatsmann auffasse, sondern dieses allgemein gefasste göttliche Gebot „argwöhnisch“ in ein besonderes umwende, nämlich den Mörder des Laios zu finden. Ödipus maße sich mit dieser Umwendung an, selbst „priesterlich“ und „zu unendlich“ zu interpretieren. Er verletze damit göttliches Recht, wird also zum nefas versucht. Was sich hier umwendet, muss jedoch nicht als hybride Missachtung der Unterscheidung von priesterlich-religiösen und staatsmännisch-juridischen Registern gedeutet werden, zumal diese keineswegs als längst und eindeutig voneinander geschiedene vorliegen. Vielmehr treten die beiden Register gerade in der Figur des despótes als eng miteinander verwobene auf. Von Ödipus, der auf die Entgegennahme eines Götterwortes selbst „priesterlich“ reagiert, ließe sich daher auch sagen, dass er an dieser Stelle unter dem Eindruck eines alten Musters steht. Etwas von der Allmacht des despótes kommt hier zur Geltung oder wird zumindest rhetorisch auf-


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geboten, um vom Tyrannen Ödipus sogleich in das Schema umgelenkt zu werden, in dem es nur noch um den Mörder des Laios geht. Um Vater und Sohn also, die an dieser Stelle nicht als solche bekannt sind oder benannt werden können. Die „Cäsur“, die Hölderlin feststellt, korrespondiert genau mit dem Zugleich, das als Schnitt und Bindestück die zentrale dramaturgische Vorgabe des Stücks ausmacht, indem Sophokles einen despótes in die Besonderheiten eines ihm zugehörenden genealogischen Settings stellt. Buchstäblich ‚ab jetzt‘ findet sich der Tyrannen-Despot Ödipus in einer vorgängigen genealogischen Konstellation vor. Er ist mit einem Problem der Verwandtschaft von mehreren verwoben. Anhand dieser Verwobenheit zerbricht sein Monopol, gleichzeitig wird seine (unfreiwillige) Familiarisierung bewirkt. Von daher geht es ‚ab jetzt‘ um die Überführung des Despoten-Tyrannen in ein protofamiliäres Schema. In der Politik des Aristoteles wird der despótes als „Herr“ definiert werden, der das Regiment in der Haus- und Wirtschaftseinheit des oĩkos über Sklaven und Freie (Frauen und Kinder) führt – „denn jedes Haus wird von einem Einzigen beherrscht“ 43. Im selben Buch wird der zum häuslichen Vorstand und Verwaltungschef herabgestimmte despótes von der týrannis einer „unumschränkten Alleinherrschaft“ unterschieden, von der Aristoteles sagt, dass es sie bei den „Barbaren“ und „in früher Zeit auch bei den alten Griechen“44 gegeben habe. Damit ist die Trennung zwischen einer öffentlichen, geheimnislosen Tyrannei und einer häuslich verborgenen vollzogen. Mit ihr wird die familiäre týrannis ihren Lauf nehmen und sich sukzessive mit den ganz anderen Registern von Autorität, Geheimnis, Verrat und Geständnis verbünden. „zusammentragend-auseinandertragend“

Die sophokleische Tragödie erinnert den altorientalischen Despoten im Tyrannen Ödipus, handelt aber von ihm als einer Figur, die im Fragment-Bewusstsein der Griechen seiner Zeit überfällig wird. Tyrannisches Wissen ist, wie auch immer paranoid in sich geschlossen, nicht ohne Umgebung und nicht ohne jene multiplen Gefüge, die ihm vorausgehen. Es hat seine Grenze in anderen, a-signifikanten Wissensformen, die in dieser Tragödie durch die Ebene der Götter und durch die der Sklaven bezeichnet wird. Solipsistisches Wissen lässt sich nicht brechen, aber es hat seine Grenze. Es endet an einer anderen „Einsicht“ (V. 1347), die in der Ödipus-Tragödie als eine beliebige Einsicht unter anderen qualifiziert wird. Sie vollzieht sich


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auf der niedersten Stufe der Untersuchung, wenn nach dem Sklaven geschickt wird, um dessen Zeugenaussage einzuholen. Ganzes und Nichtganzes lassen sich erst durch die alltäglichen, empirischen Einsichten jener zusammensetzen, die in der Polis keine Stimme haben. Es sind die banlieus, die Randzonen in der Umgebung, ohne die das Zentrum der Macht kein Zentrum wäre und die gleichzeitig die Kraft haben, dieses Zentrum zu banalisieren. Es ist bemerkenswert, wie Sophokles die Sklaven auf der Ebene des wiedererkennenden Blicks akzentuiert (‚Ja, dieser ist es, dem ich damals das Kind gegeben habe‘, vgl. V. 1157 ff.). Damit vollendet sich „das Ganze“ (V. 1183) durch die eingeschränkte Sicht derjenigen, die mit der Wahrheit umgegangen und praktisch mit ihr verbunden sind. Die namenlose und einseitige Sichtweise der Niedrigsten wird in der juridischen Praxis des sýmbolon nicht abqualifiziert. Anders als das schriftlich fixierte Gesetz, das über Ein- und Ausschließungen befindet, ermittelt die Praxis der Hälften im Feld des „Zusammengeworfenen“ (wörtlich für sýmbolon). Daher kommt Partikeln der Augenzeugenschaft von Sklaven hier die Funktion zu, den Zirkel zu schließen. In diesem Zirkel, der keine geometrische Kreisfigur meint, sondern ein topologisches Verhältnis bezeichnet, korrespondiert die allsehende Sicht des Sonnengottes mit den konkret eingeschränkten, partiellen Sichten der vielen, namenlosen Boten und Sklaven. Die Allsicht der kommunizierenden Götter bedarf der konkret bestätigenden Sehakte im Plural, um das Ganze, wie es im letzten Vers des Ödipus heißt, an das Licht zu bringen. Dieser Vorgang zeitigt die Niederlage jenes Wissens, das sich als inkarniertes und tyrannisch blockiertes nur ungeteilt als solches behaupten kann. In der umfangreichen Analyse, die Sebastian Kirsch dem sophokleischen Ödipus widmet, werden die Gefüge unabsehbarer Pluralität weiterführend präzisiert. Anknüpfend an Foucaults Unterscheidung von drei Ebenen und Wissensformen, unterstreicht Kirsch, dass Foucault das Wissen der Sklaven und Hirten „auch als Wissen der Erde bezeichnet“45, um daraus die prägnante Formel von „Wissen der Götter“ und „Wissen der Erde“ zu generieren. Kirsch fährt fort: „obwohl das Wissen der Götter und das Wissen der Erde in ihrem Charakter absolut geschieden sind, entsprechen sie sich bei genauem Hinsehen auch und hängen zusammen wie die beiden Seiten eines Möbiusbandes […] aus Götter- und Erdwissen.“ Dieses Möbiusband umgibt „die mittlere, protagonistische Ebene und mit ihr auch noch den ‚pestkranken‘ Chor“. Bei den Figuren aus den namenlosen


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Rändern der pólis handele es sich um „Randfiguren“, die „anders als die unaufhörlich redenden und sich aussprechenden Protagonisten der mittleren Ebene, überhaupt erst einmal zum Sprechen und damit übrigens auch zu ihren Auftritten gebracht, wenn nicht sogar gezwungen werden“46 müssen. Apoll wird aufwendig befragt, Teiresias gibt sein Wissen nur auf Strafandrohung preis und dem alten Hirten muss gar erst die Folter angedroht werden.

Auf Seiten der Götter und der Sklaven stößt man „auf Wissensformen, die den Hang zum Unwahrnehmbaren aufweisen und den Innenzirkel der pólis fliehen. Das wiederum ist auch darauf zurückzuführen, dass das Wissen der Ränder und Schwellen offenbar von Anfang an vollständig und ohne Mangel ist: Über Ödipus weiß man an den Rändern bereits alles, obgleich dieses Wissen entlang Zukunft/Vergangenheit (Götter) und Vergangenheit (Sklaven/Erde) auch wieder zwei unterschiedlichen Linien folgt.“ Für beide Wissensformen sei jedoch kennzeichnend, „dass sie nur als dynamische Mannigfaltigkeiten zu erfassen sind“47.

Es geht um kosmische Konstellationen, um Vogelschwärme und um „das Wissen der Erde“, das als „praktisches und darin auch wiederum unpersönliches Wissen erscheint, als know-how“ von unbestimmbar vielen, namenlosen Arbeitskörpern. In ihrer Randständigkeit und ihren niemals vollständig zu erkundenden Aussageweisen gehören diese Wissensformen „einer je anderen nicht-signifikanten Sphäre an, [die] im Gegensatz zum signifikanten Wissen des Königs- bzw. Protagonistenpaares“ steht. Mit diesen Charakterisierungen sind die begrifflichen Voraussetzungen dafür geschaffen, die nicht-signifikanten Ebenen, auf denen sich terrestrische und kosmische Verflochtenheiten in einer Vielzahl von Rand- oder Umweltfiguren äußern, als chorische Ebenen zu definieren:

Für beide Ebenen sei„gleichermaßen charakteristisch, dass sie sich unabsehbar verzweigen, ausbreiten und differenzieren – und eben darin chorisch verfasst sind. Doch das derart definierte chorische Feld hat […] nichts mehr mit dem innerstädtischen […] ‚Pestchor‘ zu tun, der hier dem Tyrannen zugeordnet ist.“

Diesen „Pestchor“ hatte auch Einar Schleef im Visier, wenn er für den Chor am Ort der pólis in generalisierender Weise feststellt: „Der Chor ist krank. Pestkrank. In gewissem Sinn sind das alle Choreinsätze der antiken Tragödie. Deren Autoren behandeln den Chor


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unterschiedlich, aber die unbestimmbare Krankheit verbindet ihre Chöre“48. Auch wenn ihr Einsatz „realistisch einleuchtend“ sein mag (was Schleef vor allem auf Aischylos bezieht), ist die Krankheit „anwesend, duckt sich unter der jeweiligen Handlung“. Ein Chor kann ganz unterschiedliche Symptome ausbilden, aber seine Krankheit wird dadurch nicht feststellbarer. Sie bleibt unbestimmt und ist in keinem Fall zu heilen.49 Sie ist der Tribut an die Trennung aus ehedem kultisch geheiligten Landschaften und Wissensformen, die für den Chor am Ort der pólis nicht wiederzugewinnen oder neuerlich herzustellen sind. Für Schleef kondensiert sich die Chorzugehörigkeit zu einer „Landschaft“ in dem Merkmal, dass der Chor „selbst Landschaft ist. Aus ihr hat sich das Chor-Tier, tief verwundet, aufgemacht, um vor dem Palast zu heulen.“50 In Bezug auf den kranken Chor im Bann von Palast und städtischer Ordnung sei es zwingend, so Kirsch, einen erweiterten Chorbegriff zu entwickeln. Strukturell gesehen bezieht sich dieser Begriff auf das in situ jedweder Ordnung, das heißt auf ihre Situiertheit in unabsehbaren Umgebungen, die selbst vielfältig sind und die Berührungsqualitäten aufweisen: Sie infiltrieren die städtischen, signifikanten Milieus. Und da sich keine Ordnung entlang nur einer Linie verschließen kann, muss sie sich von daher auch infiltrieren lassen. Ihr in situ selbst ist chorisch verfasst. Hier fließen Außenbezüge ein und durcheinander. Sie bestimmen das in situ als ein chorisches Feld mit ineinander verschachtelten Bewegungen und Bezügen, die sich entfalten und einander modulieren. Aus diesen Gründen kommt ein Chor nicht einfach mit einer x-beliebigen singenden und tanzenden menschlichen Gruppe überein, sondern ist begrifflich auf chorische Felder auszudehnen, mit denen sich jedwede signifikante Figuration mehr oder weniger verwickelt darstellt. Dieses Mehr-oder-Weniger bildet auch die Ursache dafür, dass wir sehr verschiedene Chöre kennen. Sie können, wie in Ödipus, aus längst sesshaften Thebanern bestehen, die als Bürger Aufgaben und Funktionen in der Stadt versehen. Bei Aischylos hingegen treffen wir Chöre an, die eher Scharen ähneln: Alte Leute, in der verwaisten Metropole Susa um ihre Königin geschart, oder Mädchenscharen an der Küste von Argos oder flugbegabte Mädchen wie Vogelscharen in den menschenleeren Höhen des Kaukasus. Euripides stellt die Bakchen als einen Chor dar, der alle Arten des Werdens durchläuft, sei es ein Tier-, Frau- oder Molekular-Werden (nächtlings, über die Grenzen der Signifikantensysteme hinausgehend).


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Demgegenüber erscheint der Chor in König Ödipus von allen Außenräumen und deren Zukunftsvergangenheiten abgekoppelt. Damit hat jedoch dieser Chor das in situ seiner Stadt vergessen, ihre Umgebungs- und Außenräume, er hat seine andere Seite und sein anderes Gedächtnis vergessen. Der Chor der alten Thebaner unterliegt nahezu völlig dem Resonanzraum der Stadt des Ödipus und dennoch ist auch dieser Chor nicht vollständig ohne Ahnung oder Begriff seiner Lage. Im zweiten Chorlied (V. 863–910) heißt es, direkt auf Delphi bezogen und in der Form einer verschlossenen Zukunft: „Nicht mehr werde ich zum unantastbaren / Nabel der Erde gehen“ (V. 897 f.). Mit Bezug auf die Bezweiflung des Orakels konstatiert der Chor: „nirgendwo sieht man Apollo verehrt“ (V. 909). Sollten jedoch die Nichtachtung von Orakeln und von Sehersprüchen ungesühnt in Ehre stehen, sieht sich dieser Chor grundlegend angegriffen. Klar und direkt fragt er: „Wenn nämlich solche Taten in Ehre stehen, / wozu soll ich den Kultreigen aufführen?“ (V. 859 f.) Für das Verb, das Bernd Manuwald hier mit „Kultreigen aufführen“ überträgt, steht in den meisten Übersetzungen „tanzen“ und im Griechischen das Verb choreúein für das originär chorische Tun. Kirsch zufolge begreift der Chor mit seiner Frage, dass das städtische, signifikante Milieu „ihn als Chor angreift“. Denn übertragen laute seine Frage „schlicht, wozu der Chor noch Chor sein soll“ 51 Der Wunsch zu sehen

Vor dem Hintergrund dieser Außenbezüge und Umweltsphären, die sich buchstäblich jenseits von Ödipus zutragen, wird die Isolation des Protagonisten deutlich, der als Einzelwesen zwingend mit einer Frage im Gepäck auftritt, die sich als genealogische Frage konkretisiert: Woher komme ich? Im vorletzten Moment, in dem die letzte Hälfte der Scherben noch fehlt und Ödipus für einen Augenblick noch davon ausgehen kann, als ausgesetztes Kind geringer Herkunft in die Hände seiner Stiefeltern gelegt worden zu sein, sagt Ödipus, immer noch als Tyrann, der eine Untersuchung in Sachen seiner Stadt durchführt: „Aber meinen Ursprung, / und sei er auch gering: ich werd ihn sehen wollen.“ (V. 1076 f., Steinmann) Traditionell ist diese Stelle im Sinn menschlicher Hybris gedeutet worden, als ein Wissen-Wollen um jeden Preis, das die solonische Weisung „Nichts zu sehr!“ (meden agan) in den Wind schlägt.52 Wenn wir jedoch diese Deutung außer Acht lassen, weil sie das mög-


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liche Objekt des Wissen-Wollens ins Allgemein-Menschliche einer condition humaine (Einsicht in die Sterblichkeit usw.) verschiebt, spricht der Wunsch des Ödipus das unlösbare Problem des Einzelnen an: In eine Genealogie gestellt, die Verwandtschaften nach Herkunft oder Abstammung zählt, vermag der Einzelne nichts in jenen Mündungsgebieten auszurichten, in denen Querverbindungen für eine unüberschaubare Pluralität differenzierter Linien sorgen. Jede Genealogie verzweigt sich und mündet im Nirgendwo. Seinen eigenen Ursprung sehen zu können, ist dem Einzelnen weniger verboten, als vielmehr strikt unmöglich. Als geborenes Wesen unterliegt er einem namenlosen Gesehen-Werden durch die Vielen, die ihm vorausgehen und die es überdauern – Gefährten aller Art und in der Vielzahl ihrer heterogenen Ursprünge, die sich nicht zu einer Linie fügen. Daher verengt ein Einzelwesen, das sich genealogisch zu situieren sucht, seine Perspektive auf die geschlechtliche Abstammung (Woher) und verknüpft sie mit sexueller Fortpflanzung (Wohin). So glaubt das Einzelwesen, sich selbst fortzusetzen und sich in seinen Nachkommen selbst überdauern zu können. Doch auch dieses, auf eine schlichte Linearität verengte Abstammungsmodell taugt nicht als Orientierungspunkt. Jedes Einzelwesen hat Mengen von Vorfahren, die keine Einheit bilden und ihm kaum eine Lösung in der Frage seiner Herkunft bieten. Noch nicht einmal die Frage nach nur einem einzigen Erzeuger lässt sie sich vom Einzelnen ausgehend lösen. Inmitten der Fragen nach seinem „Ursprung“ bezeichnet sich Ödipus als einen „Sohn des Glücks“ (V. 1080, Steinmann) bzw. des Zufalls (gr. „Týche“). Den eigenen „Ursprung sehen“ (sperm’ idein) ist unmöglich. Es unterliegt ausnahmslos Zeugen, die nicht Ich sind. Die sophokleische Dramaturgie des Ödipus versammelt dazu partielle Augenzeugenschaften und seherisches Wissen. Diese beiden Wissensformen lassen sich auch als Sehen und Hören unterscheiden. Der sehende Weltbezug kennzeichnet das Sklavenwissen, das ermittelt, was mit eigenen Augen sehen wird. Der hörende Weltbezug zeichnet die delphischen Orakel und die Sehersprüche aus, die ein Wissen mitteilen, das sich nur hören lässt. Im vierten Chorlied werden diese beiden Formen des Wissens und der Wahrnehmung darüber hinaus mit zwei Zeitformen enggeführt. Vor langer Zeit ist Ödipus selbst einem Orakel ausgewichen und schlug damit dessen Wahrsagung in den Wind. Jetzt hat ihn jedoch „die alles sehende Zeit“ (V. 1213) „entdeckt“ und „richtet“ (V. 1214) ihn in der konkreten, körperlichen Zeitlichkeit von „Zeugenden und Gezeugten“ (V. 1215).


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Die widersinnige Formulierung, den eigenen Ursprung sehen zu wollen, verdankt sich also einem verworfenen Orakel und der zwanghaften Fixierung auf einen Ursprung, der auf die Zeugung (sperma) verengt wird. Zugespitzt könnten wir auch sagen: Zeugung, ist keine Herkunft und die „alles sehende Zeit“ lässt sich nicht sehen. (Geborenwerden und Geburt werden ausgeklammert.) Die sophokleische Dramaturgie beantwortet den Wunsch des Ödipus mit einer komplexen Vermittlung von jeweils nichtganzen Wissensformen quer durch den gesamten Kosmos von Sternenkonstellationen, Göttersprüchen, Sklaven und Erdwissen. Sie beantwortet ihn genau in diesem Sinn, denn die Gesamtarchitektur sagt ja nicht einfach, Woher und Wohin, sondern antwortet als Architektur und somit als uneinheitliches, die Zeiten und Orte aufschiebendes Gefüge. In diesem Gefüge gibt es die Antwort nur mehrfach gestuft und uneinheitlich, gesplittet zwischen Sehen und Hören. Unmöglich ist sie vom Einzelnen aus in den Blick zu nehmen. In diesem Gefüge spielt das Sehen nur unter Sterblichen. Das vierte Chorlied setzt mit dem Vers ein: „Io! Geschlechter der Sterblichen!“ (V. 1186) Es steht an der Stelle, an der sich Ödipus, kaum ist das „Ganze […] klar heraus“ (V. 1182), in den Palast stürzt. Wenn das Chorlied beendet ist, wird ein Diener berichten, wie Ödipus sich im Palast die Augen ausstach. Ödipus verlässt damit die sichtbare Welt der „Geschlechter der Sterblichen“, die einander sehen und in den Blick nehmen und sich auf diese Weise bestätigen, dass sie leben.53 Das manifeste Sehen bezieht sich auf das konkrete sterbliche Leben, das unter „Zeugenden und Gezeugten“ (V. 1215) spielt. Das unbestimmte infinite Leben übergeht indessen das Sichtbare. Das Wissen der Unsterblichen lässt sich nicht sehen. Es kleidet sich in Wahrsagungen und lässt nur blinde Seher wie Tereisias in die alles sehende Zeit horchen. Seine Blendung macht aus Ödipus keinen Blinden wie Tereisias; sie eröffnet ihm keine Zukunftsvergangenheit. Ödipus bleibt derjenige, der das Orakel der Götter nicht wahrhaben wollte und wendet sich weiterhin von ihnen ab. Aber mit seiner Blendung flieht er auch jene Zone, in der Leben nur unter „Zeugenden und Gezeugten“ spielt. Keine Blendung macht „die Übel“ (V. 1272), die er getan, ungesehen. Doch darum geht es nicht, „sondern im Dunkel sollten künftig die“ seine erloschenen Augen sehen, „die nicht sie hätte sehen dürfen“ (V. 1273 f.). Es geht um eine unbestimmte Facette in der Ordnung des Sichtbaren und der gesichtlichen Ordnung, die unter Lebenden spielt, um eine überbetonte Ausstrahlung des


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Gesichts und seine Auslöschung als ‚Ausweg‘. Zur Überbetonung des Gesichts gehört zentral die Szene des Tyrannen, die in allem der signifizierenden und repräsentierenden Logik der skenē gehorcht. Ihre Logik ist mit einer Macht verschwistert, die ein Gesicht herstellt, eine (sprechende) Stelle, auf die sich die Blicke des Publikums richten. Wenn Ödipus sich blendet, zerstört er damit diese Stelle. Er entzieht sich seinem Gesehenwerden, seiner Öffentlichkeit, und teilt damit im Sinn der ‚antiken Optik ‘ (Simon) nicht mehr die Welt der Lebenden. Die Ordnungen des Sehens: Blinde und vorsehende Kräfte auf Seiten der Götter, Augenzeugen auf Seiten der Sklaven, dazwischen die Szene des Tyrannen, der sein Gesicht verliert. Zu dieser Dreigliederung schreibt Foucault:

„Und wenn Ödipus seine Macht am Ende verliert, so weil die beiden Arten von Wissen direkt zusammengefügt werden, das Wissen der Götter – das des Sehers – und das Wissen der Erde, jener chōra, in die der im Haus des Königs geborene Sklave geflohen war, um nicht zu sehen.“54 Zwischen seherischen Kräften und Augenzeugen wider Willen: Dazwischen spielt der Wunsch des Ödipus, seinen Ursprung zu sehen, als ein vollständig ortloser Wunsch. Das erstaunlichste Faktum bleibt jedoch, dass Ödipus seinen Sturz aus der Macht überlebt, indem er sich blendet. Er überlebt durch eine leichte Verschiebung in den Ordnungen des Sehens, indem er sich von seinem Ge-sicht abwendet. Am Dreiweg

Die sophokleische Architektur des Auseinandertragens und Zusammentragens entbietet ein Modell der Wissensformen, ein Modell des Sehens und ein Modell der Anti-Genealogie, indem ein anfangsund endloses Werden im Widerspruch zur Herkunftsermittlung nach genealogischem Muster steht. In dieser Architektur nimmt die Ebene der Protagonisten eine Mittelstellung ein. Sie bildet auch den mittleren Teil der Untersuchung, die damit als solche insgesamt an einem „Dreiweg“55 spielt. Die beiden Wahrheitsfragmente, die Iokaste und Ödipus der Untersuchung hinzufügen, spielen im vergleichsweise schwachen Modus eines misslingenden Beschwichtigungsversuchs und einer beunruhigenden Erinnerung. Es ist der Modus des falschen Paars, der in dieser Szene vorherrscht, die gleichzeitig


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jenen Ausschnitt bildet, an den die freudianische Deutung mit ihrer Konzentration auf die Inhalte unseres Unbewussten anknüpfte. Alle Merkmale einer doppelbödigen Selbstbeschwichtigung finden sich aber durchweg auch in den Reden des Richters Ödipus. So sagt er vom gesuchten Mörder des Laios: „wär in meinen Häusern / Herdgenosse er, und ich wüsste drum“ (249 f.) / „[wünschte ich] auf mich herab […] was ich auf jenen eben hab herabgeflucht“ (V. 251). Das ist einerseits die Rhetorik des Tyrannen, der die Allmacht auf seiner Seite hat. Doch andererseits wirkt deren Selbstgewissheit durch die Überanstrengung, mit der Ödipus den Fluch beispielhaft auf sich anwendet, auch schon angegriffen. Die Selbstgewissheit beruht nicht mehr auf einem schlichten „Können, alles Können / weit überragend“ (V. 380 f.). In seinem Stasimon, das direkt auf das Mittelstück der Untersuchung im Palast folgt, beklagt der Chor den „unseligen Stolz“ (V. 888), wenn einer „vor Dike furchtlos [ist] und nicht / der Daimonen Sitze [scheut]“ (V. 885 f.). Hier will also einer richten, der das Recht (dikē) nicht fürchtet, sondern zu besitzen wähnt. Einer, der sich als Inhaber seiner Worte und Handlungen wähnt und das, was mit ihnen einhergeht und worin die Dämonen ihren Sitz haben, nicht in Betracht zieht. Einer, der jegliches Mitwissen negiert, jedes Wissen, das mit dem seinigen einhergeht und ihm unzugänglich bleibt, da es ein Wissen von anderen Kräften darstellt. Im Mittelstück der Untersuchung kulminiert damit dieselbe Figur, die in Bezug auf das Wahrheitsspiel der Hälften in der gesamten Tragödie gilt. Wissen ohne Mitwissen ist unmöglich. Es negiert das von den Göttern zugedachte Geschick (moira) und das namenlos zeugende Mitwissen der Erde. Unter dem Druck des negierten Mitwissens wird die Rede des richtenden Ödipus doppeldeutig. Gleichzeitig beansprucht sie wahnhaft ihr Alleinwissen. Daher verzweigt sich seine Rede und sagt ständig, was sie nicht weiß und nicht wissen will. Indem sie sich verspricht, berührt die Rede des Ödipus die im Mitwissen erinnerten Geschicke lebendigen Werdens. Diese Geschicke reichen absolut über die Spezies hinaus, die sich mit Ödipus auf einen inklusiven Gattungsbegriff einstimmt. Die gerichtliche Untersuchung des Ödipus scheitert als Untersuchung, die das Schonda des Lebens in geschlechtlich-genealogischen Bahnen fassen möchte. Sie scheitert darüber hinaus als Untersuchung eines männlichen Protagonisten, der nach dem Samenfaden seines Erzeugers fragt und somit ein genetisches Erbe zum Kriterium von Abstam-


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mungslinien machen will. Die Entstehung des antiken Protagonisten wird von einer Gattungsvergessenheit grundiert. Dieser Umstand wird in Ödipus nicht vom innerdramatischen Chor erinnert, sondern von Sophokles in der absolut bewundernswürdigen Architektur seiner Tragödie verankert. Sie drückt aus, dass sich das Wissen der Götter und das Wissen der Erde im Rücken seines gattungsvergessenen Protagonisten verschränken, der sich selbst als Zentrum seines Hauses und seiner Geschichte definieren möchte. Indem sich Ödipus am Dreiweg auf nur auf einen einzigen Weg kapriziert, auf dem es heißt: Vor oder Zurück, Mann oder Frau, Zeugung oder Geburt, irrt er folgerichtig als Gatte.

Attisch-rotfigurige Darstellung einer Trennung von ‚Stadt und Land‘ um 475 v. Chr.: Athene und Dionysos trennen Theseus und Ariadne. Rücken an Rücken streben Athene und Dionysos in entgegengesetzte Richtungen. Die Stadtgöttin ist an ihrem Helm, ihrer Lanze und ihrem schlangenbesetzten Umhang zu erkennen. Dionysos ist mit weitem Gewand und langen Haaren, die von einer laubverzierten Binde zusammengehalten werden, dargestellt. Sie trennen das Brautpaar Theseus und Ariadne, das mit der monströsen Vorgeschichte der Städte verknüpft ist. Theseus hat auf Kreta mit Hilfe der Minostochter Ariadne den stierköpfigen Minotauros im Zentrum seines Labyrinths getötet – Stätte des Unglücks jener Jungfrauen und Jünglinge, die König Minos alljährlich als Tribut für den Tod seines Sohns Androgeos von den Athenern forderte und dem Monstrum im Labyrinth zuführte. Die Liebenden trennen sich nur widerstrebend. Theseus, hier im Gespräch mit Athene, wird als zukünftiger König Athens die großen Panathenäen zu Ehren Athenes einführen. Dionysos wirbt um die Braut Ariadne, unter derem leichten Gewand sich ihre Beine und ihre Scham abzeichnen. Sie heiraten und Dionysos wird ihren Brautkranz als Sternbild der Nördlichen Krone (Corona Borealis) an das Firnament versetzen. Der Ariadnefaden ist gerissen.



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Topologie des Chors

Ein Chor kennt keine Selbstbehauptung. Er behauptet sich nicht als Wendepunkt des Geschehens wie Protagonisten, die wie Ödipus zum Beispiel sagen: Ich richte die Stadt wieder auf, ich nehme die Untersuchung selbst in die Hand, ich verspreche, dass ich aufs Ganze gehen werde. Dagegen hält die Figur des Chors ein unausgesprochenes Wissen bereit, das sich etwa so übersetzen ließe: Ich gehe mir selbst voraus, das heißt, dass meine Aufmerksamkeit von woanders herkommt und, ebenso, dass meine Antwort von woanders herkommt. Ich beginne nicht selbst, ich habe den Anfang nicht in der Hand. Vielmehr geschieht mir etwas, indem ich in etwas hineingerate. Der Chor bildet einen Ort, der zugleich instabil, vielursprünglich und intergenerationell verfasst ist: verschiedene Alter gleichzeitig, ein offenes Gedächtnis und offen für Kommendes zugleich. Die Offenheit, das Offenstehende kennzeichnen diesen Ort vielleicht am allerbesten. Der Chor-Ort ist zugleich flüchtig und ausgedehnt. Als ausgedehnter Ort kann er zugleich als ein Grund verstanden werden, der sich als vorübergehender auszeichnet und daher nicht die Form des Grundlegenden oder Zugrundeliegenden annehmen kann. Der Chor-Ort unterhält besondere Beziehungen zum Grund im Sinne des Erdbodens, der nicht spricht und der sich jenseits des Sinns im Sinne von Bedeutung ereignet. Dieses Jenseits ist weder abgeschlossen noch unabgeschlossen. Es eröffnet erst die Möglichkeit der Bezugnahme jenseits einer Bedeutung. Es eignet sich daher auch zur Verwerfung jener Rede, die im Namen von (‚Grund und Boden‘ zum Beispiel) agiert und die mit den Formen des Erworbenen, des Errichteten oder auch des Grundlegenden hausieren geht. In der Beziehung von Einzelfigur und Chor-Ort ist es dieser Ort, der jeder Einzelfigur vorausgeht und sie begleitet. Der Protagonist verwirft diesen Ort im Namen seines Egos. Wer mit dem Wort Ego die Szene betritt, nimmt seinen Ausgang beim Selbst. Er rechnet damit, dass jemand da ist, aber er ruft niemanden herbei oder fragt nach ihm, sondern er ruft sich aus. Das Wort Ego fungiert als Ausruf und ist zugleich ein ganzer Satz: Da bin ich! Ich bin es! Xerxes meldet sich auf diese Weise nach verlorener Schlacht am heimatlichen Hof in Susa bei seiner Mutter Atossa zurück.56 In diesem Ego konzentriert sich die gesamte Tragödie, nicht nur diejenige der Perser.


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Dieser Gedanke lag auch der Dramaturgie des Auftritts von Xerxes in der Inszenierung der Perser von Dimiter Gotscheff im Theater von Epidauros 2009 zugrunde. Der Darsteller des Xerxes betritt das Theater mit dem Satz: „Ego!“57 Dabei steht er im Kreismittelpunkt der Orchestra auf dem sogenannten heiligen Stein von Epidauros. Diese Engführung von Positionierung und Aussage definiert, weit über diese konkrete Figur und ihre Szene hinausreichend, das Theater des Protagonisten. Sie definiert, in dieser Inszenierung von Gotscheff sehr unheimlich und direkt, nämlich vor Ort, das griechische Theater als Tragödie des Protagonisten. Der Protagonist spricht, wie dieser Darsteller des Xerxes, allein auf sich gestellt in der staunenswerten Öffentlichkeit dieses Theaters. Aber er muss dazu über den Grund der Orchestra kommen, um diesen sogleich vergessen zu machen, wenn sein erstes Wort fällt. Der Tragödie des isolierten Protagonisten widmet Heiner Müller in seinem Gedicht ÖDIPUSKOMMENTAR die beiden äußerst gedrängten Zeilen: „Und sein Grund ist sein Gipfel: er hat die Zeit überrundet / In den Zirkel genommen, ich und kein Ende, sich selber.“58 Die Verwerfung des Grundes gleicht seiner Verkehrung. Sie gipfelt in der Figur des herausragenden Einzelnen und kreiert dessen „ich und kein Ende“. Beide Lesarten sind hier möglich: die Überheblichkeit, mit der ein Ich die Endlichkeit von sich weist, aber auch seine Isolation, die sich darin ausdrückt, dass es in unendlicher Wiederholung immer nur sich selbst zeugen kann. Hat es einmal sich selbst in den Zirkel genommen, kennt dieses Ich nur die schlechte Unendlichkeit seiner Selbst-Wiederholung. Dabei beschreibt sein Sich-selbst-in-den-Zirkel-Nehmen im besonderen Fall des Ödipus (und insofern der Fall Ödipus lange Zeit als Modell abendländischer Subjektbildung galt, auch allgemein) gleichzeitig die Figur eines inzestuösen Zirkels. In diesem Zirkel hat Ödipus „die Zeit überrundet“. Er hat die übrige Zeit, frühere und kommende Zeiten, in der Gegenwartsbehauptung seines Selbst versiegelt.59 Um dieser Einzelfigur willen entsteht die antike Tragödie und dennoch kann die Einzelfigur nicht isoliert erscheinen. Atossa, Xerxes oder Dareios sind weder für sich genommen noch als familiäres Dreieck tragödienfähig. In der Tragödie, die sich durch sie vollzieht, können sie nur auftreten, indem ihnen ein Grund eingeräumt wird, den sie aus sich heraus nicht haben bzw. über den sie als Einzelne per definitionem nicht verfügen. Auch wenn die Tragödie durch einen Protagonisten eröffnet wird, machen häufig schon die ersten


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Worte deutlich, dass er umgeben ist von den Vielen, die schon da sind und an die er sich richtet: „O Kinder! Kadmos’, des alten, neuer Stamm“ lautet der erste Vers von König Ödipus in der Übertragung von Kurt Steinmann. Es scheint, als könnten Protagonisten nur auftreten, indem sie den Grund, den sie als Einzelne notwendig verwerfen, gleichzeitig mitbringen. Vermutlich muss man die Logik dieses ‚Mit‘ jedoch umkehren. Einzelfiguren können nur auftreten, wenn ihnen von dem sie umfassenden Grund, von dem sie sich abgrenzen, ein Ort eingeräumt wird. Die Möglichkeit ihres Erscheinens ist abhängig von dieser Figur der Einräumung. Dies ist die Beziehung zwischen Einzelfigur und Grund in der antiken Tragödie. Der Grund ist das den Protagonisten Umfassende, das im antiken Theater durch den Chor zum Ausdruck kommt. Der Chor steht für den geteilten Boden, der über die Einzelfigur hinausgeht, und bildet in räumlicher Hinsicht dessen Umgebung. Zumindest wählen die Tragiker diese Perspektive, indem sie den Chor in der Umgebung des Protagonisten situieren und als dessen Umgebung in der Tragödie notdürftig festmachen, indem sie ihn als Gefolge, als Dienerinnen oder Älteste etc. zeichnen. In einem etwas allgemeineren Sinn trifft auf die Figur des Chors jedoch am besten ein Ausdruck zu, von dem sich keine Singularform bilden lässt: die Leute. Der Chor, das sind Leute, die den Protagonisten erwarten und in allem mitgehen werden, bis die Sache vorüber ist. Dennoch ist der Chor nicht zureichend beschrieben, wenn man ihn lediglich als Plural kennzeichnet und damit auf sein Erscheinungsbild im Unterschied zur Einzelfigur abhebt. Der Chor lässt sich nicht als Gruppe beschreiben. Ebenso wenig ist gewonnen, wenn man die zwölf oder 15 oder 24 Choreuten zählt, die ihn bilden. Zur Phänomenologie dieser Figur gehört zumindest, dass sie als Choreuten zugleich die Zwischenräume sind, die sie zueinander einnehmen und als bewegliche Figur untereinander permanent verschieben. Die ausgedehnte Figur des Chors bildet in zeitlicher Hinsicht eine Figur jeglichen Alters. Insofern er ein ausgedehnter Körper ist, ist er Körper im Plural der vielen kommenden und gehenden Körper. Eben das ist der Chor, dem wir in der Tragödie begegnen: Vorübergehend setzt er sich zusammen in der Teilung von Stimmen (Gesang), Teilung von Körpern (Tanz). Darüber hinaus kennzeichnet den Chor, dass er ohne Ursprung und Orientierung ist. Er ist schon da, sobald die Tragödie des großen Einzelnen anzuheben verspricht und wird nicht von seiner Seite weichen. Der Chor ist raumzeitlich


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wesentlich die Figur einer Einräumung. Eine Figur, die dem tragischen Protagonisten eine Stelle einräumt. Eine Figur, die seine Tragödie umgibt, die sie erträgt, solange sie dauert, und ihr einen Ort mitteilt, den sie ohne ihn nicht hätte. Der Ort der Tragödie lässt sich nicht durch die Orte bezeichnen, an denen sie spielt (Susa, Theben oder Athen). Auch nicht durch die Namen der Protagonisten, obgleich diese als Synonyme jener Tragödien fungieren, die sich in ihrem Namen vollziehen (Antigone, Aias oder Philoktet). Ebenso wenig kann die antike Theateranlage als offene Architektur, die alles Mögliche aufnehmen kann, als Ort der Tragödie angenommen werden. Ein Chor hat, bevor er im antiken Theater auftritt, einen langen Weg hinter sich und mehrere Transformationen, über die wir im Detail wenig wissen, auch wenn die chorlyrische Tradition des sechsten und beginnenden fünften Jahrhunderts genau nachgezeichnet worden ist.60 In den Städtischen Dionysien taucht der Chor als Migrant auf und bildet sich in der Zuordnung zum Protagonisten und seiner Bühne in neuer Weise.61 „Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht“62, vermerkt Aristoteles in seiner Poetik lakonisch. Dieser Chor ist der einzige, von dem wir Genaueres wissen. Er zieht in das Theater ein und transformiert es in einen Ort der Mitteilung, den das Theater als solches nicht bildet. Die Theateranlage kann als Raumstelle der Mitteilung gelten, jedoch nicht als ihr Medium oder ihr Ort. Dieser wird erst durch den Chor gewährleistet. Der Chor-Ort ist zugleich ungewöhnlich (er liegt nicht immer vor) und konkret. Er ist offen für jedes mögliche Widerfahrnis, mit dem das tragische Geschehen einsetzt. Der Chor zeigt wesentlich, dass er als Ort „ein Dasein davor oder daneben besitzt, in dessen Atem sich eine Abfolge zunächst rein kontingenter menschlicher Taten abspielen kann“63. Der Chor ist keine Kulisse für die Einzelfigur, sondern „der Ort, durch den etwas eintritt“: ihre Tragödie. Roland Barthes hat seine Anmerkungen auf die Anlage des Amphitheaters bezogen, die ihn jedoch weniger als architektonischer Körper denn ihrer Struktur nach interessiert. Da Barthes von einem Begriff des Ortes ausgeht, der wesentlich eine selbstständige Umgebung der Tragödie bezeichnet, lassen sich seine Formulierungen hier ohne Verlust auf den Chor übertragen. Das griechische Amphitheater ist geeignet, das antike Theater aufzunehmen, und zeugt


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von ihm in allen seinen charakteristischen Strukturmerkmalen. Doch als einem stabilen, immobilen Körper kommen der Theateranlage die Aktiva der Einräumung oder des Umfassenden lediglich in Bezug auf die vielen Tausenden zu, die sich hier als Festspielpublikum (und heute vorzugsweise anlässlich von Opernaufführungen) versammeln. Das Amphitheater entsteht, wie Siegfried Melchinger am Beispiel des Dionysostheaters in Athen akribisch gezeigt hat, an einer Raumstelle, die mit Bedacht gewählt worden ist und sich bewährt hat, die zunächst jedoch ‚nur‘ die Einrichtung einer Tanzplatte kennt. Allmählich wird diese Stelle ausgebaut und um 460 v. Chr. sogar erheblich umgebaut. Um die Cavea zu erweitern, wachsen die Sitzreihen in den Hang. Für die inzwischen für notwendig erachteten Bühnenaufbauten kommt ein Bühnenhaus aus Holz hinzu und vervollständigt das Schema. In perikleischer Zeit, etwa zur Mitte des vierten Jahrhunderts, wird mit der Versteinerung des Bühnenhauses das Schema des Amphitheaters in seiner uns noch heute zugänglichen Gestalt gleichsam zementiert.64 Dennoch kann diese Anlage, entgegen ihrer Wirkung, die sich aus Augenschein und Imagination zusammensetzt, nicht als Ort der Tragödie in Betracht gezogen werden. Es muss etwas hinkommen, um diese Anlage in den Ort der Tragödie zu verwandeln. Die Versammelten jener Zeit waren es genauso wenig, wie es die Touristenströme heute sind. Eine Publikumsversammlung als solche bildet keinen zureichenden Grund für den Auftritt von Protagonisten, die weder für sich genommen noch als solche erscheinen können. Sie bedürfen zunächst eines Ortes, der ihnen weder durch das Amphitheater noch durch die in ihm Versammelten, sondern allein durch den Chor eingeräumt wird. Zu den wesentlichen Merkmalen des Chor-Orts zählt, dass er etwas aufnehmen kann, also offen ist, genauer gesagt physisch offen wie die antike Theateranalage selbst. Diese ist nicht nur draußen und unbedacht, sondern auch in den hinteren und seitlichen Zonen des Bühnenhauses offen und unbestimmt. Tag und Nacht, Vögel, Unwetter und Wind spielen hier ihre Rollen, genauso wie der Palast, die Polis und der Krieg. Sie kommen aus der kosmischen und gesellschaftlichen Umgebung des Theaters, aus seinen zugleich unabsehbaren und konkreten Grenzen. Wesenhaft unbestimmt und zugleich bestimmt ist hier das Bezugsfeld, in dem ich mit bin. Der Chor im antiken Theater steht nicht für das Hereinholen oder


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Heimisch-Machen der Tragödie seiner Protagonisten, sondern vielmehr für die „Abwesenheit einer individuellen Geschichte“, welche Barthes zufolge, „die große und notwendige Nacktheit der Tragödie definiert“65. Der Ort, der die Tragödie umfasst und trägt, existiert aus sich selbst heraus. Er ist mit ihr verbunden und dennoch von ihr getrennt, genauso wie es das Verhältnis von Orchestra und Skene zeigt, die aneinander angrenzen, aber nicht ineinander übergehen. Der Chor-Ort handelt also auch von oder mit einer Grenze, mit einer ganzen Topologie der Diskretion bzw. der Indiskretion. Mit seinen besonderen Merkmalen entspricht der Chor-Ort genau der antiken Auffassung vom tópos als einem Ort, der keine Lage hat und auch keine Lokalität bezeichnet. Im vierten Buch seiner Physik-Vorlesungen diskutiert Aristoteles den Ort, indem er von der Frage ausgeht, was ein Ort sei. Ort (tópos, chōra) bei Aristoteles

Aristoteles unterscheidet den „Ort“ (tópos)66 zunächst von der Form (eidos), der Gestalt (morphē) und dem Stoff (hylē) eines Körpers (sōma) sowie vom Abstand (diastēma), den er zu anderen Körpern einnimmt. Form, Gestalt (als „eine Art Begrenzung“) und Stoff können seiner Auffassung nach nicht „Ort“ sein, denn sie lassen sich nicht von einem Körper ablösen, was hingegen dem Ort möglich ist (209b 22). Der Abstand jedoch ist erfüllter Zwischenraum: Ein (Luft-) Körper, der mit anderen Körpern zwar den Platz (chōra) tauschen kann, der aber, da er Körper ist, ebenfalls nicht „Ort“ sein kann. Es wären dann, was Aristoteles unvorstellbar scheint, zwei Körper an einem Platz und mithin ohne Ort. Der Ort muss also andere Eigenschaften aufweisen als die, die auf Körper zutreffen. Aristoteles zieht daher ein weiteres Kriterium in Betracht, indem er „Ort“ mit einem „Gefäß“ (aggeion) vergleicht und ausführt, dass „Gefäß“ einen „Ort“ meint, der fortbewegt werden kann, aber kein Teil dessen ist, was im Gefäß ist. „Ort“ umfasst den Gegenstand, von dessen Form und Stoff er jedoch unterschieden und insofern auch ablösbar ist (209b 25 ff.). Wesentlich für den Begriff des Gefäßes ist bei Aristoteles, dass „Ort“ etwas mit „Bewegung“ zu tun hat und „den Oben-Unten(-Unterschied) an sich zulässt“ (210a 3 f.). Diese zunächst eigenartig wirkende Bestimmung korrespondiert zum einen mit dem geozentrischen Weltbild der Antike, das den „Welt-Ort“ ebenfalls mit den Merk-


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malen des „Ortes“ beschreibt.67 Zum anderen korrespondiert sie mit der „Öffnung“ des Gefäßes, in das Verschiedenes eintreten kann, verschiedene Körper. Aristoteles diskutiert die unterschiedlichen Bedeutungen des „in“ im Ausdruck „eines in einem Anderen“ (210a 14–24). Dieses „in“ kann beispielsweise „an“ (Finger an einer Hand), „innerhalb“ (Lebewesen innerhalb einer Gattung) oder „weswegen“ (der in einem Ziel begründete Sinn einer Handlung) bedeuten. Die hauptsächliche Bedeutung dieser Facetten läuft für ihn jedoch zusammen in der Formulierung „in einem Gefäß“ (en aggeio) bzw. allgemeiner: „an einem Ort“ (en topō). Anhand der Zusammensetzung „Krug Wein“ diskutiert Aristoteles nun ausführlich die „schwierige Frage“ (210a 25), ob etwas in sich selbst sein kann oder ob es immer des Einen-in-einem-Anderen, also eines Ortes bedarf. Die Topologie des Aristoteles läuft auf die Unveräußerlichkeit des Ortes in folgender Weise hinaus: Nur vom Ganzen, das sich aus Teilen zusammensetzt, lässt sich sagen, dass es in sich selbst sei (210a 25–33). Von einem Teil lässt sich hingegen nur sagen, dass es „vermittelt über ein Anderes“ sei. „Etwas“ kann nicht isoliert auftreten. Für ein Teil gelten die Fragen „was“ und „worin“, die es einem „Anderen“ zuteilen. Dabei tritt die Eigenschaft, Teil zu sein, erst in der Zusammensetzung mit „etwas“ hervor. So sind Krug (amphoreus) und Wein (oinos) „für sich genommen nicht Teile, zusammengenommen aber wohl; wenn sie dann also Teile sind, kann (dies Gebilde) selbst in sich selbst sein“ (210b 2–4). Ein unmittelbarer Bezug, sodass etwas als es selbst in sich sei, ist logisch undenkbar. Es müsste dann der Krug sowohl Gefäß als auch Wein und der Wein sowohl Wein wie auch Krug sein (210b 11–13). Vielmehr gibt es ein „ineinander“, in dem zwei Grenzen eine Rolle spielen. Der Krug begrenzt den Wein, er ist sein Aufnehmendes, sein Umfassendes, seine Umgebung. (Aristoteles stellt nebenbei, nicht im Sinne eines ‚harten‘ Arguments, auch noch die Frage, ob „etwas, dessen Naturbeschaffenheit doch aufnehmend ist, in sich selbst sein kann“, 210b 20.) Aber da der Krug nichts von dem an sich hat, was in ihm ist, hat das von ihm Umfasste selbst auch eine Grenze. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass sowohl der Krug als auch der von ihm umfasste Wein sich voneinander lösen können, also nur zueinander Teile bilden und nicht als solche sind. Das Umfasste, deutlich vom Umfassenden abgesetzt, kann den Ort wechseln, während das Umfassende tendenziell erhalten bleibt – jedoch nur der Ten-


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denz nach, denn es selbst ist auch beweglich und veränderlich. Das Umfassende bildet also nicht seine äußere Grenze, sondern hat seine eigene Grenze. Die „beiden Grenzen“ (211b 11) berühren einander und sind doch deutlich voneinander abgesetzt. Der Ort ist „die Grenze des umfassenden Körpers (insofern sie mit dem Umfassten in Berührung steht)“ (212a 6). Der Ort ist diese Berührung zweier Grenzen. Der Ort ist also nicht die Umgebung, die sich wechselhaft aus allen möglichen Körpern zusammensetzt, sondern das Umgebende, das an der äußersten Grenze des Umfassten einsetzt und insofern mit dem Umfassten zusammenhält, ohne sich mit ihm jedoch zu verbinden oder zu verbünden. Vielmehr teilt es sich dem Umfassten in Form einer Mit-Teilung (die hier geradezu zwingend mit Bindestrich markiert wird) seiner Grenze mit. Werner Hamacher hat dem aristotelischen tópos-Denken unter dem Titel „Amphora“ einen Essay gewidmet, der sich nicht von ungefähr in einem Band zum Tanz Ensemble Modell findet, das die Choreografin Wanda Golonka in Frankfurt am Main entwickelt hat. Hamacher beschreibt die aristotelische Denkfigur des tópos sehr genau und plastisch: „Als Umgebung ist der Ort ein Gefäß, eine Vase, ein Krug, eine Amphore (209b 24; 210a 30; b 10; b 15); aber nicht als Körper kommt hier die Amphore in Betracht, auch nicht einfach als Grenze, sondern als die äußerste Grenze der Innenwand eines Behälters, dessen Umfang mit dem des Enthaltenen gleich ist, der mit ihm verbunden und dennoch von ihm abgelöst ist. So ist jedes Ding und jeder Teil eines Dings in seiner Umgebung, an seinem Ort, als in einer Amphore enthalten. Der Ort ist also an der äußersten Grenze der Dinge gelegen, dort, wo sie die äußerste Grenze der sie umgebenden Dinge berührt – dabei deutet der Ausdruck äußerste oder erste Grenze (peras proton) an, dass jede dieser Grenzen von Aristoteles als in sich differenziert gedacht wird … [Der Ort] muss also die ‚Grenze‘ zwischen ihren beiden Grenzen und somit dasjenige sein, was diese sowohl voneinander scheidet wie miteinander verbindet.“68 Im Unterschied zur „Umgebung“ ist für Aristoteles der Ort das „Umgebende“ eines Körpers und gleichzeitig das von ihm „Ablösbare“ und Abgetrennte, sodass die Differenzierung zweier Grenzen ins Spiel kommt, die als „Doppelgrenze“ das ist, was die Körper und ihr Umgebendes „zueinander verhält und auseinander hält, ihr Verhältnis“.69 Es ist darüber hinaus noch auf ein weiteres Merkmal


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einzugehen, das für die gesamte Physik-Vorlesung des Aristoteles grundlegend und das auch in Bezug auf die Frage des Ortes gültig ist: Die Frage des Ortes stellt sich ihm grundsätzlich in Bezug auf bewegliche, bewegte Körper (208b 11). Von daher erhält die Frage der Ablösbarkeit ihr besonderes Gewicht. Von daher wird aber auch die Frage der Möglichkeit der „Leere“ als ein „Dasein von Ort […], aus dem Körper herausgenommen ist“ (208b 26 f.) von Aristoteles vehement verneint. Die Betonung der Bewegung steht im engen Zusammenhang mit der Frage nach der Lage des Ortes, mit der Frage, ob ein Ort isoliert vorkommen kann, ob er irgendwo liegt, möglicherweise „leer“ ist, mit der Frage also, wo überhaupt ein Ort sein kann. Aristoteles hält dazu fest: Ein Ort ist „irgendwo, nicht allerdings als an einem Ort, sondern (so) wie die Grenze an dem Begrenzten; denn nicht ‚alles Seiende‘ ist an einem Ort, sondern nur der der Bewegung fähige Körper“ (212b 28 f.). Nur der bewegbare Körper, als solcher begrenzt, bedarf also der Mit-Teilung der Grenze durch das Umfassende. So ist zum Beispiel „jeder im Sinne der Fortbewegung oder des Wachsens veränderbare Körper ‚irgendwo‘“ (212b 7 f.). Die Frage nach dem Wo dieses Irgendwo, macht die Betrachtung der Welt (ouranos) als Ort notwendig, denn in der Welt ist alles. Die Welt ist also auch Ort. Jedoch nicht ‚einfach so‘, sondern nur ihr „äußerster Rand, der in Berührung steht mit dem bewegbaren Körper“ (212b 18) ist der WeltOrt. Der Welt-Ort zeichnet sich, streng geozentrisch, durch eine Mitte und den Himmel als „Rand der Kreisbewegung“ aus, wobei die Himmelssphäre jedoch kosmologisch von keinem anderen Körper mehr umfasst wird und daher auch „nicht mehr in einem Anderen“ (212b 22) begrenzt, sondern unbegrenzt ist. Beim Welt-Ort verhält sich nun die „Mitte des Weltganzen“ als „unten“, wohin die schweren Körper streben, während sich der Himmel „oben“ befindet, wohin sich die leichten Körper bewegen (212a 24–30). Die Frage des Ortes in der Physik-Abhandlung des Aristoteles betrifft also ausschließlich Fragen des beweglichen, vitalen Lebens, das wächst und/oder seine Aggregatzustände zu wechseln vermag. Zusammengesetzt aus den vier Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft) sind alle natürlichen Körper – und das sind diejenigen Körper, die Aristoteles in seiner Physik betrachtet – in einer permanent bewegten, beweglichen Verwandlung begriffen, gehen von der Potenzialität in den Akt über und umgekehrt. Die Frage, was demzufolge der Ort eines Körpers sei, ist zuerst eine Frage des Worin. Die Frage nach dem Wo dieses


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Worin führt zur kosmologischen Ordnung des Welt-Ortes, mit dem sich Unterschiede auftun. So ist der Himmelskörper wohl ‚seiend‘, aber ohne etwas, das ihn umfasst, ist er selbst ohne Ort. Das heißt, ohne Mit-Teilung einer Grenze ist der Himmel (am äußersten „Rand der Kreisbewegung“) das ewig Unbewegte und Unbegrenzte,70 während natürliche Körper und Lebewesen durch ihr „Immer-woanders-Sein“ (219b 23) davon grundlegend unterschieden sind. Die „Ortsbewegung“ erfolgt anhand eines Sich-fort-Bewegenden (219b 29). Die Bewegung hingegen wird von der Zeit eingefasst ähnlich wie etwas, das an einem Ort ist, von diesem Ort umfasst wird. In der Zeit bildet „das Jetzt“ die Grenze von Zeit, indem es vergangene und zukünftige Zeit der Möglichkeit nach teilt und verknüpft. Insofern ist das Jetzt als trennendes immer ein anderes, als zusammenknüpfendes jedoch immer dasselbe (222a 14f.). Man könnte also von einer konzentrischen Zeitauffassung sprechen und in Analogie dazu von einer konzentrischen Fassung des Ortes, welche eben mit der Ausschließung der Leere korrespondieren würden, mit der Vorgabe eines geschlossenen Systems ständig werdender, bewegter Wirklichkeiten. Doch diese Sichtweise scheint mit einem naiven, auf Kontinuität fixierten Vorurteil einherzugehen.71 Sie übersieht die aristotelische Obsession für die Doppelgrenzen, die das zeitlich und örtlich Umfassende von vitalen, beweglichen, bewegten Körpern aufweist. Auf diesen Punkt weist auch Hamacher am Beispiel des Orts hin: „Der Ort kommt nämlich ohne die Implikation der Leere nicht aus, solange er als Komplexion zweier Grenzen verstanden wird, die zusammen und dennoch geschieden sein und also einen freien Ort, eine Leere, eine Öffnung lassen müssen.“72 Darüber hinaus korrespondiert diese Leere als Lücke oder Loch in der Grenze mit der überragenden Betonung ständiger Wandlungen und Veränderungen, die sich tendenziell regelmäßig, aber eben nicht vollständig regelmäßig vollziehen, sodass sie der Spur einer Spaltung bedürfen und ihre Kontingenz ermöglichen. Die Öffnung ist das wesentliche Merkmal der Metaphern, die Aristoteles für den Ort einsetzt: Amphore, Gefäß, Vase, Schale, Krug. Es handelt sich um dieselben Hohlmedien, die in der griechischen Antike als Träger für bildhafte Darstellungen bevorzugt wurden (und zwar für alle Bilder, die bewegt werden sollten). Nur als zugleich Umfassendes und Auseinanderhaltendes ist der Ort Mit-Teilung einer Grenze. Dieses Zugleich ist eines der


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Möglichkeit nach, gespalten und offen in seiner Mitte. Das örtliche Hier ist von derselben analogen Spaltung durchzogen wie das zeitliche Jetzt: Als Trennendes und Abgelöstes ist es immer ein anderes. Als Zusammenknüpfendes, Zusammenhaltendes ist es Mit-Teilung der Grenze des hier und jetzt Umfassten. Das heißt jedoch, dass Hier und Jetzt niemals vollständig hier und jetzt sind. Sie sind durchzogen von einer Spaltung, die für sich genommen kein Gesicht hat, keine Materialität annehmen kann, keine Qualität aufweist und keine Bewegung ist. Aristoteles kann die Leere daher nicht zum Gegenstand seiner Theorie machen, aber er räumt ihr in der Architektur seiner Begriffe und in der Wahl seiner tragenden Metaphorik dennoch eine Stelle ein. Dabei zwingt die Voraussetzung eines geschlossenen Universums paradoxerweise zur Annahme einer grundsätzlichen A-Linearität, während Gedanken einer linearen Entwicklung oder gleichmäßigen konzentrischen Bewegung kausallogisch ausgeschlossen werden müssen. Die zentrale Figur der Bezugnahme, des Umfasstwerdens, des Verhältnisses ist eine Aussage der Physik des Aristoteles über natürliche Körper (zu denen er auch die Seele zählt) in einem endlichen Kosmos – und keine Aussage der Metaphysik oder Politik. Die Endlichkeit erzwingt die Verhältnisnahme, während die Fokussierung permanenter Veränderung und Bewegung die Ablösbarkeit dessen erzwingt, was zueinander ins Verhältnis tritt. Es ist daher kein unmittelbarer Bezug denkbar, genauso wenig wie etwas selbst in sich selbst sein kann. Das Insich-selbst-Sein wird nur dem temporären Zusammen-gesetztSein zugesprochen. Es gibt in genauem Sinn daher auch kein Mit-Sein, sondern nur ein Mit-Geteiltes: das Mit zweier voneinander ablösbaren Grenzen, die sich berühren. Öffnung des Mit als Ohne. Kein Zwischenraum und keinem zugehörig. Diese leere Nabe, um die sich Umfassendes und Umfasstes nicht konzentrisch bewegen, sondern ohne Zentrum, tendenziell, unregelmäßig und kontingent – dies gibt Aristoteles mit dieser in sich selbst geschiedenen Grenze als Ort zu denken. Chor-Körper

Die Bühne, die mit dem Protagonisten entsteht, beansprucht sich im Jetzt und Hier. Dieser Zeitort ist nicht gegeben, sondern zuerst nur ein Anspruch. Es ist allererst anzugeben, wie die Bühne überhaupt zu diesem Ort werden kann. Denn „Ort“ ist die Bühne, um mit


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Aristoteles zu sprechen, nicht „einfach so“, sondern nur an ihrem äußersten Rand und in der Berührung mit einem beweglichen, bewegbaren Körper. Um die Bühne als Ort anzugeben, bedarf es also eines in oder an einem anderen. Für den bewegbaren Körper soll hier zunächst der Protagonist gelten, der Auf- und Abtritte kennt, Ortsverschiebungen, weite Reisen, Abkehr und Wiederkehr und dem daher insgesamt eine episodische Form entspricht. Genauso wenig wie eine Episode kann dieser Protagonist etwas als er selbst in sich sein. Er ist Bruchteil eines unanschaulichen Kontinuums, das Aristoteles als etwas „Zusammenhängendes“ beschreibt, dessen Eigenschaft darin besteht, ein „immerfort Auseinandernehmbares“ (231b 16) zu sein. In der körnigen Struktur dieses Kontinuums ist eine Einheit als solche undenkbar. Als einheitlich erscheinen kann ein Bruch-Teil nur im Verhältnis, nur in oder mit einem Zusammenhängenden, am „Rand und in Berührung bei Zusammenhängendem“ (231b 18), das heißt, es muss als Verhältnis erscheinen. Als Verhältnis, in oder mit, am Rand und in Berührung. Erst in oder an einem anderen entsteht der Ort der Bühne. Als dieses andere fungiert der Chor, der in seinem Status als Figur dem Protagonisten als Figur gleichgestellt ist. In diesem Sinn notiert Aristoteles in der Poetik, dass man den Chor „ebenso einbeziehen [muss] wie einen der Schauspieler“73, also wie eine Einzelfigur. Darüber hinaus sind die Strukturmerkmale dieser beiden Figuren völlig verschieden. Chor und Protagonist sollen zunächst als etwas Zusammenhängendes beschrieben werden, also in der Art und Weise, wie sie die Bühne bilden. Da sie jedoch etwas Zusammenhängendes nur als ständig Auseinandertretendes sind, interessiert in einem späteren Schritt vor allem der Chor-Körper. Das Auseinanderlegen dieser Schritte wird dadurch notwendig, dass der Chor in der Zusammensetzung mit dem Protagonisten nicht als Körper akzentuiert erscheint, sondern als die Figur der Einräumung, die Figur des Umfassenden im Verhältnis zum Umfassten, kurz: als der Ort, vergleichbar einem „Gefäß“, in dem der Protagonist als ein anderer sich fasst. In ihrer Zusammensetzung tritt also ihre Eigenschaft, Teil zu sein, hervor. Da jedoch ebenso die Ablösbarkeit beider vorliegt, da beide an sich begrenzt sind und mit dem Begriff der (Doppel-)Grenze der zentralen Definition eines Körpers bei Aristoteles entsprechen, lässt sich der Chor auch als Körper begreifen, der seinen Ort in der Berührung mit einem anderen Um-


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fassenden hat, welches nicht der Protagonist sein kann. Da die Ablösbarkeit für alle bewegbaren, veränderlichen Körper grundlegend ist und die Mit-Teilung ihrer Grenze an oder mit einem anderen immer nur vorrübergehend sich ereignet, trägt sich der Chor im Zusammenhang mit dem Protagonisten auch als Körper ein. Dies geschieht zwar nur sehr latent, bildet jedoch vermutlich die Ursache dafür, warum der Chor derart schnell als Figur unkenntlich wird und schon Euripides ihn nicht mehr konstituierend, sondern (musikalisch) illustrierend verwendet. Gegenüber der episodischen Struktur des Protagonisten zeichnet sich der Chor dadurch aus, dass er schon angefangen hat. Er tritt nicht auf. Er zieht in die Orchestra ein und eröffnet damit das Theater. Mit seinem Auszug wird es beschlossen.74 Prologe, wie etwa der berühmte Wächter-Monolog auf dem Dach des Palastes zu Beginn der Orestie, finden in Gegenwart des Chors statt. Warum lässt sich das aussagen oder behaupten? Die Struktur des teilbaren Zusammenhangs findet sich in der Anlage der antiken Bühne wieder, die zwischen der Orchestra für den Chor und der Skene mit Proskenium für die Protagonisten unterscheidet. In dieser Konstellation zeichnen sich Chor und Orchestra durch eine Lage des ‚davor‘ und ‚daneben‘ aus. Dies gilt sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. In räumlicher Hinsicht liegt die Orchestra in Bezug auf das Bühnenhaus davor oder daneben, in Bezug auf die Sitzreihen der Cavea verhält sich die Orchestra anliegend. Das simple Dazwischen, das vom Publikum her gedacht ist und August Wilhelm Schlegels bekannte Formel vom Chor als dem „idealisierten Zuschauer“ (1846)75 fortschreibt, besitzt hingegen, wenn wir einen modernen Begriff vom Zuschauer unterstellen, eine zu stark zentrierende Einfärbung. Sie appliziert eine moderne Bühnen- und Wahrnehmungsform auf das antike Theater und geht über die verstörende Asymmetrie seiner Bühnenordnung hinweg. In zeitlicher Hinsicht bildet nicht das erste Wort oder ein wie immer imaginierter ‚erster Auftritt‘76 den Beginn des Bühnengeschehens. Vielmehr benötigt das Geschehen (ebenso wie seine Wahrnehmung) einen Anstoß. Es benötigt etwas, das es in Gang setzt. Etwas, das auffällt oder zustößt. Etwas, das Vergegenwärtigung (und Wahrnehmung) allererst ermöglicht. Dieses Davor eines Anstoßes ist im antiken Denken der Konstellation, ihrer mitgeteilten Grenzen und deren Öffnung, derart präsent, dass es auf allen Ebenen vorkommt.


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Der Anfang ist, zumal in zeitlicher Hinsicht, immer schon Antwort. Er reagiert auf etwas, das von woanders herkommt und das davor und zu früh ist, aber schon angefangen hat, schon eine Verwicklung bildet, in die die Figuren, das Geschehen, die Körper, die Wahrnehmenden eingelassen sind, sodass es also mit ihnen schon angefangen hat, bevor es (das Theater, die Tragödie) anfängt. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass der Begriff für ‚Schauspieler‘ im Griechischen hypokrites lautet, das heißt ‚Antwortender‘. Das Davor eines Anstoßes bezeichnet Bernhard Waldenfels als „Widerfahrnis“ und erläutert diese Figur folgendermaßen: „Widerfahrnisse, die […] in die bestehende Ordnung einbrechen, haben zur Folge, dass wir uns selbst voraus sind, dass wir älter und zugleich auch jünger sind als wir selbst.“77 In Bezug auf die Wahrnehmung kann dieses Widerfahrnis eine geringfügige Zeitverschiebung im vertrauten Sehen und Hören sein, eine Unschärfe, die plötzlich und überraschend auftritt (zu früh). In Bezug auf die Körper, die hier als Wahrnehmende begriffen werden, ist es die pathische Berührung: Etwas, das den Körper angeht, hat seine Temperatur verändert. Wahrnehmung, Erinnerung werden geweckt – ganz so, wie der Wächter im Prolog der Orestie die erste Tageshelle begrüßt und dann (‚nach‘ der Parodos des Chors) Klytaimnestra weckt. In Bezug auf das Geschehen bezeichnet Pathos eine sachte Mitleidenschaft, etwas, in das die Figuren schon involviert sind und hineingeraten: die Pest in Theben, der bevorstehende Angriff, die drohende Rückkehr (Agamemnons) usw. Das Ereignis ist schon im Gang, wenn das erste Wort fällt (zu spät). Der Beginn des Bühnengeschehens liegt also, in übertragener Weise gesprochen, notwendig daneben. Das Geschehen setzt sich von seiner Peripherie her in Gang, breitet die Wirkungen des Ereignisses aus, untersucht und erwägt sie, während sich die Protagonisten darin mit unerwartbarem Ausgang verstricken werden, eingespannt in eine Bewegung „zwischen Pathos und Response“78. Der Response kommt jedoch immer und uneinholbar zu spät, wie jede Antwort. Der Chor ist durch diese Figur des Schon-angefangen-Habens in allen seinen Aspekten geprägt. Er ist vom Widerfahrnis schon angesteckt. Er ahnt, erwartet und zittert vor Aufregung wie die jungen Frauen in Sieben gegen Theben. Er weiß, worum es gehen wird. (Niemals muss er ‚zuerst informiert‘ werden.) Er figuriert als Peripherie, durch die sich das Geschehen in Gang setzt. Er ist in jeder Beziehung schon da, bevor der Protagonist das Wort ergreift.


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Sein erstes Chorlied übernimmt die Funktion einer Einführung im Wortsinn. Dabei figuriert der Chor nicht in erster Linie als Chronist, der Unkundigen möglichst präzise und vollständig die Vorgeschichte erläutert. Vielmehr trägt er zusammen, was (von vielen) gesehen und gehört wurde. Er ist wesentlich die Figur eines Hörensagens. Im Unterschied zum Boten stellt er einen unzuverlässigen Zeugen dar, der, wie der Chor der Greise im ersten Chorlied der Orestie (Agamemnon) zum Beispiel sagt: „Das Weitere sah und sage ich nicht“ (V. 248, Staiger). Nicht die Augenzeugenschaft ist seine Funktion, sondern das Kompilieren vieler gehörter, gesehener, gewusster Dinge, die zur erlebten Vergangenheit und in das Umfeld jenes Widerfahrnises gehören, durch das der Chor aufgeschreckt wurde, sich zusammenrottete und jetzt, hier, „in Erwartung“ (V. 262) gespannt ist, den Protagonisten zu sehen. Klytaimnestras Rede setzt unmittelbar darauf ein (V. 264). Die beiden Figurentypen sind damit, auf der Ebene der Typologie, vollständig. Aus ihrem Zusammenhang geht der Ort der Bühne hervor. Miteinander zusammenhängend und dennoch voneinander ablösbar, setzen sie eine Dynamik in Gang, in der ein Chor vor allem für die Struktur einer originären Vorgängigkeit und Nachträglichkeit einsteht, während jedoch das Zu-Früh oder Zu-Spät ebenso zum Motor des gesamten Geschehensgeflechts wird, in dem es sich vervielfältigt. Ebenso wie die damit verbundene Struktur des Erduldens, Erleidens (zu früh) sowie des Agierens und Handelns (zu spät). Diese Struktureigenschaften der Chor-Figur in Betracht ziehend, ist der Chor die Figur im antiken Theater, die schon angefangen hat, bevor das Geschehen einsetzt und die im genaueren Sinn nicht auftritt, weil sie schon da ist. Abweichende Chronologien in den überlieferten Texten spielen nur im Sinn einer künstlerischen Variation mit dieser grundlegenden konstellativen Topologie und bestätigen sie dadurch. Konstellation vs. Anschaulichkeit

Von der Physik zur Kunst als Gegenstand der aristotelischen Poetik: Diese Bereiche liegen in der aristotelischen Diskussion nicht so weit entfernt voneinander … In der Poetik geht es um Mimesis, die ins Deutsche mit dem unscharfen Begriff der „Nachahmung“ (Schleiermacher) oder gar „Nachbildung“ übertragen worden ist.79 Die damit verknüpfte leidige Frage „wovon?“ wird von Platon und Aristoteles unterschiedlich beantwortet. Bei Platon gilt die Mimesis einer ersten


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Wirklichkeit der vollkommenen Ideen, die von der sinnlich wahrnehmbaren Welt verschieden sei. Mimetische Akte sind jedoch von ‚dieser‘ Welt, endlich und materiell. Insofern sie nun Unendliches und Immaterielles nachahmen, handelt es sich zwar um eine produktive, jedoch stets nur annähernde und unvollständige Mimesis. Platons Kritik setzt bei der künstlerischen Mimesis ein, die er in die Nähe der Kopie rückt: Künstlerische Artefakte würden die wahrnehmbare Welt nachahmen. Daher stünde ihrer Mimesis nur ein minderwertiger, sekundärer oder gar tertiärer Rang zu. Aristoteles setzt demgegenüber in seiner Poetik mit einer umfassenden Rehabilitierung der Mimesis ein, indem er sie als ein poetologisches Konzept ausarbeitet. Die Relation von Mimesis und (Ideen-)Wirklichkeit wird in seiner Tragödientheorie ausgespart zugunsten der Zusammensetzung „Nachahmung von Handlungen“. Im sechsten Kapitel seiner Poetik geht Aristoteles denkbar klar darauf ein, worauf sich sein Begriff der Mimesis bezieht: Sie ist „nicht Nachahmung von Menschen“80. „Die Nachahmung von Handlungen ist der Mythos“ und unter Mythos versteht Aristoteles die „Zusammensetzung der Geschehnisse“ (19). Weite Teile seiner Poetik verwendet Aristoteles darauf, unter dem Aspekt der „Wahrscheinlichkeit“ zu erläutern, wie das Verhältnis von künstlerischer Freiheit im Umgang mit dem rhizomatischen Material des Mythos zu gestalten ist. Es gibt die notwendige Freiheit im Umgang mit dem Mythos, durch die sich die Dichtkunst von der Geschichtsschreibung unterscheidet und etwas „Ernsthafteres“ als diese darstellt. Denn die Dichtkunst teilt nicht das „Besondere“ mit, das historisch geschehen ist. Ihr Gegenstand ist vielmehr das „Allgemeine“ (29), das der Möglichkeit und Notwendigkeit nach geschehen könnte: also das potenzielle und daher nicht abgeschlossene oder abschließbare Geschehen. In Bezug auf den Mythos, den Aristoteles als das „Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie“ (23) und als ihr „Ziel“ (21) bezeichnet, gilt darüber hinaus jedoch, dass die tragische Fabel ihm in der „Zusammenfügung von Geschehnissen“ (23) mimetisch treu zu bleiben hat. Was sie mithin nicht verändern darf, ist die Konstellation des überlieferten Mythos. So sei es zum Beispiel unabdingbar, „dass Klytaimnestra von Orest getötet wird und Eriphyle von Alkmeon“ (43). Der Handlungsbegriff bezieht sich damit auf eine Konstellation, auf eine Zusammensetzung oder einen Zusammenhang von Figuren und Geschehnissen, denen tragisches Potenzial innewohnt und die


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als solche geeignet sind, eine tragische Wirkung hervorzurufen. Der Aspekt der Konstellation ist derart maßgeblich, dass ihre tragische Wirkung, wie Aristoteles sagt, „auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande“ kommt (25). Des Weiteren ist sie im Fall einer Aufführung unabhängig davon, ob jemand sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen. Die tragische Wirkung erreicht auch denjenigen, der eine Aufführung des Ödipus zum Beispiel nur hört (43). Im Zentrum seiner Tragödientheorie steht bei Aristoteles ein Begriff der tragischen „Konstellation“ (an dessen Stelle Fuhrmann durchgängig das Wort „Fabel“ verwendet), die den Artefakten überlieferter Mythen zu entnehmen ist. Aristoteles’ Begriff der Mimesis bezieht sich somit weder auf eine ideelle Wirklichkeit noch auf die phänomenale Welt oder empirische Wirklichkeit von Menschen, sondern auf mythisch verbürgte Handlungen, von denen Erzählungen und Berichte vorliegen. Der Wirklichkeitsbezug ist derart komplex gebrochen, dass die plakative Vereinfachung des aristotelischen Konzepts, das seit der Zeit Lessings und Schleiermachers unter dem Kürzel der künstlerischen Mimesis als Nachahmung der Natur (im Sinn einer vermeintlich objektiv vorliegenden äußeren bzw. beobachtbaren Natur) tradiert wird, als mutwillige Entstellung angesehen werden muss.81 In Betracht der hohen Artifizialität seines Mimesis-Konzepts wird jedoch einsichtig, warum für Aristoteles die Kunst der poetischen Nachahmung zur technē zählt. Sie gehört, wie die Rhetorik, zu den Mnemotechniken. Sie ist die Übertragung und Weitergabe von Fragen, die für Aristoteles in der Gefügtheit des Zusammengefügten nisten. Aus ihrer Gefügtheit resultiert ihre Möglichkeit zu jähem Umschlag (peripetie). Für Natur steht bei Aristoteles der Begriff physis. Wie schon die Diskussion seines tópos-Konzepts gezeigt hat, wird Natur/physis bei Aristoteles wesentlich als ein prozesshaftes Geschehen werdender Körper und metamorphotischer Kräfte begriffen. Dinge, die eine physis haben, folgen einem schaffenden, hervorbringenden Prinzip (poiēsis). Dieses Prinzip ist es nun, das die Kunst/technē (also eher die Kunstfertigkeit oder auch der Kunstgebrauch) nachahmt, dem sie nacheifert (mimeitai) bzw. dem gegenüber sie sich ähnlich (homoios) verhält. Mit einem Wort, die technē ähnelt der Natur in ihrer Möglichkeit, etwas hervorzubringen, etwas zur Erscheinung zu bringen (entelecheia), etwas zu verwirklichen (energeia) oder etwas zu produzieren. Natur/physis und Kunst/technē


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stehen also weder in einem Verhältnis des Vergleichs noch in einem abbildenden Verhältnis zueinander. Vielmehr gilt, wie Hans Blumenberg in Bezug auf Aristoteles bündig festhält: „Natur und ‚Kunst‘ sind strukturgleich“82. Aristoteles entwirft in der Poetik ein eher energetisches Konzept. Lediglich dem, was von Kunst/technē analog zu Natur/physis verwirklicht wird, kommen die Qualitäten des Erscheinens und der Anschaulichkeit zu, die Aristoteles jedoch, anders als Platon, nicht gefährlich scheinen. Vielmehr geht er sofort zur Wirkung solcher Anschaulichkeit über und entwickelt sein Konzept der katharsis. Die Anschaulichkeit bleibt zwar die Leitvorstellung der künstlerischen Mimesis (so wird in der Poetik gesagt, der Tragödiendichter solle hinsichtlich seiner sprachlichen Darstellung von Menschen wie die Maler [grapheis] verfahren83 ), erfährt aber keine eigene theoretische Aufmerksamkeit. Diese gilt vielmehr der Wirkung und den kompositorischen Verfahren (technē), die geeignet sind, sie hervorzurufen. Platon lehnt die anschauliche Wirkung der Tragödie ab, die ihm verstandesmindernd und daher verwerflich erscheint. Aristoteles konterkariert Platons Auffassung nicht auf der Ebene der Anschaulichkeit, sondern durch einen Registerwechsel im Sinne seiner psychisch-energetischen Konzeption der Reinigung (katharsis). Nicht die anschauliche, sondern die kathartische Wirkung interessiert Aristoteles. Jene reinigende Wirkung, die mit den Affekten spielt und diese gleichsam entlädt. Diese Wirkung bezieht sich jedoch nicht auf vorliegende, sich innerlich abspielende psychische Vorgänge in therapeutischem Sinn, sondern stellt diese Affekte her, denen sie zur Entladung verhilft. Sie erzeugt sie, sie entstehen mit ihr und sind Wirkungen ihrer richtig verstandenen und eingesetzten technē: Affekte haben ihren Anlass in einer begrenzten „Handlung“ (25) von bestimmter Ausdehnung und Anordnung.84 Eine fortwährend spürbare Anwesenheit des Gedankens an körperlich Wahrnehmende durchzieht die aristotelische Wirkungsdiskussion. Bei Aristoteles bezieht sich die kathartische Wirkung auf Körper, auf deren Erregung und Öffnung, auf deren ‚Reinigung‘ mittels einer Entladung der Affekte, welche jenseits des Ich spielt. Mit einem Wort: auf deren Heilung nicht nur im übertragenen Sinn. Als „Heilung der Organe“85 reflektiert Michel Serres die Wirkung, die er bei seinem Besuch des Theaters in Epidauros empfand. Denken wir an dieser Stelle auch an die Analogien, die Aristoteles zwischen


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Kunst/technē und Natur/physis beobachtet: Sie beziehen sich auf Möglichkeiten zur ausgleichenden Selbstregulierung und seien in ihrer Wirkung mit einem Arzt vergleichbar, der seine Heilkunst auf sich selbst anwendet.86 Kunst/technē und Natur/physis: Beide sind eingebettet in eine Sphäre des Hervorbringens, des Herstellens, des Prozessualen. In der Technik wie in der Natur sind Zwecke und Fehler am Werk, sind Körper und Artefakte geöffnet, lassen sich übertragen, vollziehen Wechsel, Ortsbewegungen und Zeitverschiebungen. Zwar gibt es unterschiedliche Bereiche und Arten des Hervorbringens, aber in der Hervorbringung einer Wirkung verhalten sie sich gleich und erscheinen keinesfalls isoliert voneinander. Beide zeigen und teilen diese Eigenschaft im Übrigen mit den Körpern der Darsteller im antiken Theater. Doch in der Art, wie sie zeigen, unterscheiden sie sich wiederum. Das Zeigende der Tragödie soll hier als Handlung begriffen werden. Die tragische Wirkung soll, Aristoteles zufolge, vom Umfang einer „geschlossenen und ganzen Handlung“ (25) abhängen; diese soll eine „bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis leicht einprägt“ (27), sodass sie also erinnert werden kann und sich der Empfindung einzuprägen vermag. Die Tradition hat sich vollständig auf diesen Abschnitt zur Handlung gestützt und ihn zur vermeintlich aristotelischen ‚Lehre von den drei Einheiten‘ umgeformt. Demgegenüber ist die Handlung als Konstellation, als Zusammensetzung und als Konfiguration, für lange Zeit vergessen worden. In jüngster Zeit hat Marita Tatari indessen die Handlung als das sich als solches ausstellende und ereignende Drama, das Kunstwerk als Handlung, begrifflich neu erarbeitet. Gestützt auf eine eigensinnige Lektüre von Hegels Analyse der antiken Tragödie, geht es Tatari darum,

statt wie üblich die Handlung „auf die Subjektivität der Helden zu beziehen, statt zu analysieren, inwiefern die Helden durch die Handlung zur Einsicht in die Notwendigkeit ihres Untergang kommen und dadurch eine die antike Welt übersteigenden Subjektivitätsform vorwegnehmen […], müsste als Handlung die gesamte Sinnlichkeit dieses Kunstwerks in ihrer Entfaltung gedacht werden“87. Mit anderen Worten: Es sind die Konstellationen und sinnlichen Konfigurationen, welche die Handlung (als Kunstwerk) zur Anschauung


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und Empfindung kommen lassen. Nur insofern die Tragödie um der Einzelfigur willen entstanden ist, hängen ihre Anschaulichkeit und Schaubarkeit in besonderer Weise mit dem Auftritt der Einzelfigur zusammen. Aber nichts und niemand kann isoliert auftreten. Daher hängt an der Konstellation, dem Mit-Erscheinen, alles: Der Erscheinungsraum und die Verhältnisnahmen treiben Ausstellung und Teilnahme, wie Tatari die beiden, ineinander verschlungenen Modi der Entfaltung bezeichnet, immer wieder neu hervor. Auch diese sehr weite Formulierung für die Entfaltung (im Sinnlichen) hat ihre Grundlegung im Chor, der sich ausstellend und teilnehmend zuträgt und anders sich nicht zutragen kann. Ausgezogen aus ehedem geheiligten Landschaften, verschafft er der Tragödie keinen Boden, sondern geht zur Tragödie (als Handlung) über. Noch einmal mit den Worten Tataris: „er formt eine Bühne“88. Schon-da

Das Schon-da des Chors bezieht sich auf die dauernde Gegenwart anderer, nicht aktueller Gegenwarten, auf vergangene ebenso wie auf zukünftige. Demgegenüber behauptet sich die Einzelfigur in der aktuellen Gegenwart als eine Erscheinung, wie sie so noch nie dagewesen ist, ist allerdings unfähig, als solche oder allein zu kommen. Sie kann nur am eingeräumten Ort auftreten, getragen und berührt von einem mit erscheinenden Schon-da, das sich wiederum von ihr berührt zeigt. Der Chor bildet für den Protagonisten dieses Schon-da. Er figuriert einen Bezug zur dauernden Gegenwärtigkeit anderer Zeitstufen und zu anderen Gegenwarten, womit sowohl die Gegenwarten anderer als auch andere, nichtmenschliche Gegenwarten angesprochen sind. Dauernde Gegenwarten sind dem Kompositionsprinzip des Chors zugänglich, ohne dass dies extra ausgesagt oder beschworen werden müsste. Sie gehen in einen Chor ein, der zeitlich oder räumlich Auseinanderliegendes zusammenträgt – und zwar temporär, das heißt immer wieder vergehend und daher auch immer wieder von neuem. Der Chor schuldet der chronologischen Zeit nichts. Niemals vermag er auf sich selbst zurückzukommen. Damit konterkariert diese eigenartige Zeitlichkeit des Chors vollständig die der Protagonisten. Diese sind von Beginn ihres ersten Auftritts an mit einer begrenzten Ablaufzeit verknüpft, die ‚ihre‘ Gegenwart ist, in der sie mit ihren Geschicken hadern und ihre Anliegen mehr oder weniger glücklich zu lösen suchen.


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Die beiden unterschiedlichen Zeitlichkeiten, die hier im Spiel sind, schließen einander aus und hängen doch miteinander zusammen. Sie entsprechen der Struktur des antiken Theaters, das mit der Konstellation von Zweien anhebt, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Chor und Protagonist sind einander asymmetrisch verbunden. Dabei drückt sich die nicht-aktuelle Zeitlichkeit des Chors im antiken Theater auf ganz verschiedenen Ebenen aus. Das chorische Schon-da kommt nicht nur innerdramatisch zum Ausdruck, sondern wird auch institutionell, in der Vorbereitung und Durchführung der Großen Dionysien, systematisch berücksichtigt. In Anlehnung an Bernhard Zimmermanns Unterscheidung von außerund innerdramatischen Ebenen, spielt die Vorgängigkeit des Chors eine Rolle für die Chorverwendung in folgenden Aspekten: Erstens in der organisatorischen und institutionellen Vorbereitung der jährlichen Großen Dionysien: Dichter, die sich um eine Teilnahme an den dramatischen Wettkämpfen (agṓ n) „bewarben, ‚verlangten einen Chor für sich‘. Der Beamte gab ihnen einen Chor und damit das Aufführungsrecht“89. Zweitens in der Feststruktur und dem Ablauf der Großen Dionysien: Noch vor dem Beginn der dramatischen Wettkämpfe ziehen Chöre in unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung in das Theater ein und eröffnen die Spiele mit Dithyramben-Aufführungen.90 Drittens in Bezug auf die Herausbildung der dramatischen Gattungen aus chorlyrischen Traditionen: Das attische Drama entsteht aus „dionysischen chorlyrischen Formen, nämlich die Tragödie aus dem Dithyrambos und die Komödie aus den Phallos-Liedern“91. Viertens in Bezug auf ein Bewusstsein über die Vorgängigkeit der Chorlyrik, sodass die Tragödie etwa, wie Zimmermann festhält, im fünften Jahrhundert als bloße „Sonderform chorlyrischer Dichtung“92 angesehen wurde. Fünftens formbildend für antike Tragödien, die mit einer Parodos eröffnen und einem Exodus schließen bzw. mit dieser Struktur spielerisch umgehen (so beginnt Antigone etwa mit einem Zwiegespräch beider Schwestern im Morgengrauen, noch vor der Parodos). Sechstens innerdramatisch, indem Chöre in ihren Stasima über den aktuellen Anlass des Stücks hinausgehen, ihn relativieren oder reflektieren. Siebtens innerdramatisch, indem Chöre „Zugang zum Bereich der Erinnerung haben“93 und als Gedächtnisträger fungieren. Achtens schließlich in der Praxis, die Choreuten aus den Städtebewohnern der pólis zu generieren, also aus denen, die vor Ort schon da sind. Diese acht Punkte erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Aber sie verdeutli-


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chen die historisch und formensemantisch nachzuvollziehenden Merkmale einer Struktur des Schon-da, die den Chor als jenes unpersönliche, gleichwohl lebendige Wesen auszeichnen, als das er im fünften Jahrhundert in der Orchestra erscheint. Die verschiedenen aktuellen und nicht-aktuellen Zeitlichkeiten von Protagonisten und Chor sollen im Folgenden noch etwas genauer gefasst werden. Deleuze, auf den ich mich zu Beginn dieses Abschnitts implizit schon bezogen habe, unterscheidet in Logik des Sinns zwei Lesarten von Zeit, die er den von ihm bewunderten stoischen Konzeptionen zur Physik und zur Logik entnimmt. Nicht von ungefähr lassen sich Deleuze’ Charakterisierungen dieser beiden Lesarten mit jenen verknüpfen, die hier im Verhältnis von Protagonist und Chor im Spiel sind. Welche zwei Zeiten also? Der stoischen Auffassung von der Physik wird eine Zeit zugeordnet, die mit dem Namen Chronos gekennzeichnet wird: Sie ist auf eine stets begrenzte Gegenwart fokussiert und kehrt, genauso wie das morgendliche Ankleiden, unendlich oft wieder. Der stoischen Konzeption der Logik wird hingegen eine Zeitlichkeit zugerechnet, die mit dem Namen Äon belegt wird: Sie kann niemals wiederkehrend auf sich selbst zurückkommen und ist wie das Werden ohne Anfang und Ende vorzustellen als eine „reine Gerade, deren beide äußersten Enden sich unaufhörlich in das Vergangene (und) in das Zukünftige entfernen“94. Die Gebiete der stoischen Physik und Logik eröffnen also

„zwei Lesarten der Zeit […], jede vollständig und die andere ausschließend: einerseits die stets begrenzte Gegenwart, die die Aktion der Körper als Ursachen bemisst, sowie den Zustand ihrer Mischungen in der Tiefe (Chronos); andererseits die im wesentlichen unbegrenzte Vergangenheit und Zukunft, die die unkörperlichen Ereignisse als Wirkungen auf der Oberfläche sammelt (Äon).“95

Das, was in der ersten Zeit „Gegenwart“ heißt, stellt sich in der äonischen Zeit als eine unaufhörliche Berührung von unbegrenzter Vergangenheit und Zukunft dar. Da sich Vergangenheit und Zukunft auf ihren in die Länge gezogenen Zeitpfeilen unendlich oft berühren, kann man auch sagen, dass sie sich als soeben Vergangenes und sogleich Zukünftiges unendlich oft teilen. So vermögen sie kraft ihrer Berührung „jede noch so kleine Gegenwart bis ins Unendliche [zu] unterteilen und diese auf ihrer leeren Linie in die Länge ziehen“96, das heißt zu dehnen. Dieser niemals aktuellen leeren Form


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der Zeit entspricht der Infinitiv von Verben. „Gehen“ heißt es in der Infinitivform, die keine physischen, materiellen Abhängigkeiten indiziert und alle anderen Zeitstufen virtuell mit sich führt. Ganz anders verhält es sich mit dem Präsens, das von einem Ich an einem Jetzt-Punkt aktualisiert und zu seiner Gegenwartsbehauptung wird. Das protagonistische „ich gehe“ trennt sich noch im Moment des Sagens von allen anderen Gegenwarten der Vergangenheit und Zukunft. Die aktuelle Gegenwart unterscheidet sich vom Vorher und Nachher, die unerreichbar werden. Beide Formen der Zeit sind vollständig, betont Deleuze, und beide schließen einander aus. Sie bilden zwei Pole, die im Wechsel oder auch in inniger Berührung miteinander die Bildung neuer Formen modellieren. Das Spiel zwischen den beiden Polen ermöglicht das Auftauchen niederer oder gedehnter Gewebe. Für die neue Form steht hier die Tragödie, in der sich das aktualisierte Präsens eines Ich, das Entscheidungen trifft, ständig mit einem unentschiedenen, chorischen Infinitiv abwechselt und berührt. Zudem ziehen wir für die Emergenz niederer oder gedehnter, umweltlicher Gefüge einen erweiterten Chorbegriff in Betracht. Neben ausgewiesenen Chortexten, verdienen die ‚chorischen Sphären‘ im Stück besondere Beachtung (die Sklaven, die Götter im Ödipus; das Erdbeben am Ende des Prometheus-Fragments; die Rinderherden, denen Die Spürhunde hinterher sind etc.). In der Tragödie begleitet ein Chor den Protagonisten. Dessen Gegenwartsbehauptung gerät sukzessive in einen Kontakt mit dem Schon-da vielfacher, anderer Gegenwarten. Vor allem den chorischen Standliedern kommt die Funktion zu, Horizontdehnungen zu bewirken. Hier beugt sich ein Chor am weitesten in die Zeit Äons hinüber. Sobald sich Vergangenes und Zukünftiges berühren, gehen aber auch die Dinge innerdramatisch nicht mehr ihren gewohnten Gang: Eine Entscheidung wird aufgeschoben, Bedenken und Zweifel treten auf, eine personale Erinnerung stellt sich ein. Das Zögern, das Wolfram Ette als Kritik der Tragödie gefasst hat, breitet sich aus.97 Ein Chor als Gedächtnisträger sammelt gleichsam dieses Zögern in sich, lädt es mit Erinnerungen auf und ist geeignet, eine Erinnerung zu wecken. Nicht nur aus Gründen, die den Aufführungskonventionen der Städtischen Dionysien geschuldet sind, spielen die eröffnenden Passagen antiker Dramen so häufig am frühen Morgen, in der Stunde des Erwachens und des Hervorkommens.


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Gedächtnisträger

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Als Gedächtnisträger eröffnet der Chor eine immense Raumzeitlichkeit. Diese kann zunächst eine unüberschaubare, unmöglich vollständig zu nennende oder zu ergreifende Vielheit gleichzeitiger Gegenwarten umfassen, wie dies am reinsten im Eingangslied des Perser-Chors von Aischylos zu beobachten ist. Der Chor der jungen Mädchen und Frauen in Sieben gegen Theben bildet hingegen ein gemischtes Phänomen. Dieser Chor bündelt gleichzeitige Gegenwarten, eine Vielheit heftiger Affekte und Intensitäten. Die jungen Thebanerinnen sind ungestüm in ihrer Furcht. Sie malen sich ihre eroberte, entehrte und entleerte Stadt in Horrorbildern aus und sie kreischen vor Angst, sodass Eteokles sie barsch zurechtweist. Doch dann ändert sich die Temperatur des Chors und er versucht, Eteokles von seinem Entschluss abzubringen, gegen Polyneikes anzutreten: Denn „töten Männer gleichen Blutes sich, / so löscht kein Alter diesen Makel aus.“ (V. 681 f.) Der Chor rät zu Vernunft und Mäßigung und spricht den Herrscher mit „Kind“ (téknon) an (V. 686). Aus dem Chor verängstigter junger Mädchen und Frauen wird ein Chor, der Zugang zum Gedächtnis besitzt. Im zweiten Stasimon geht die Furcht vor dem Brudermord in die Historie der Labdakiden über (V. 720–791). Der besondere Fall des Ödipus wird auf eine allgemeinere Ebene gehoben, in deren Horizont die schwarzen Erinnyen auftauchen, die schrillen Rächerinnen jeder Schändung und Entehrung der Mütter (V. 753 f.). Die Männergründung der Stadt Theben verdankt sich immer noch des Kadmos’ „Männer Saat, die Ares schonte“ (V. 412). Doch jetzt, da „der arge Ares“ (V. 944) die Stadt fest im Griff hat, tauchen die Erinnyen als „Schatten des Ödipus“ (V. 976) auf. Die große Chorklage, die an das dritte Stasimon anschließt, gilt den beiden Söhnen des brüderlich zeugenden Ödipus und beschwört die Rache der Erinnyen herauf. So kann das chorische Gedächtnis die Funktion eines Archivs, eines Speichers oder sogar einer Liste annehmen. In jedem Fall bezieht sich die vom Chor eröffnete Raumzeitlichkeit auf eine Vielheit vergangener Gegenwarten, die andauern und – wie die Chorklage im Anschluss an das dritte Stasimon in Sieben gegen Theben – übergehen in die aktuelle Gegenwart des Stücks. Der Chor verwandelt sich (klagend) in einen Kollektor von Affekten und Emotionen und berührt im Modus der Beschwörung Zukünftiges. In Bezug auf unterschiedlich weit in die Vergangenheit gestaffelte Zeiten nähert


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sich das Chorgedächtnis der kritischen Funktion eines vergleichenden Mythologen an. Da sein Gedächtnis sprunghaft ist, ähnelt es kaum dem eines Erzählers oder eines Historiografen. Niemals nimmt es die Form einer personalen Erinnerung an. Ein Chor erinnert sich vielursprünglich (wie die Mythologie). Er rafft die stets losen, heterogenen Enden einer Handlung zusammen, ohne dass diese eine verlässliche Summe ergäben. In allen seinen Modi und Funktionen ist ein Chorgedächtnis deutlich basiert in der Schrift als jener technē, die es hervorbringt: der Sprache und Kunst des Dichters (poiēsis). Bei Sophokles, der den Chor hauptsächlich in der Funktion eines sedimentierten Gedächtnisses verwendet, tritt die Erinnerung stets zum gegebenen Zeitpunkt auf und stets, um diesen Zeitpunkt zu dehnen. So bringt der Chor in Antigone zum Beispiel zunächst die Begebenheiten und die Bedeutung der Schlacht um Theben (Gestern) in Erinnerung, dann die Inbesitznahme sämtlicher Kulturtechniken, Erfindungen und Entwicklungen durch den Menschen, was diesem jedoch hinsichtlich seiner Sterblichkeit nichts nützt (sehr weit zurückliegendes Gestern), dann die Genealogie des Hauses Ödipus (mittleres Gestern) usw. Das Gedächtnis des Chors schichtet verschiedene, vormalige Gegenwarten. Es stützt sich auf das Modell der Zusammenstellung, der Konstellation oder Konfiguration, das sich nicht nur auf das Verhältnis der einzelnen Chorlieder untereinander bezieht, sondern auch auf die Binnengliederung der Lieder im Einzelnen. Anstatt erinnerte Ereignisse und Zusammenhänge in einen Ablauf zu fügen, ähnelt das Ergebnis ihrer Kombination eher einer Schichtung unterschiedlicher vergangener Gegenwarten, die das Jetzt der Tragödie tangieren.98 Aber niemals bilden sie die Ursachenvergangenheit eines bestimmten Jetzt. Es ist vermutlich nicht übertrieben, hier von einer Darstellung der konfigurierenden Tätigkeit auch des Dichters zu sprechen, der in der Überlieferung nach geeigneten Fällen Ausschau hält, um sie im Formenschema der Tragödie als wahrscheinliche und allgemeingültige Fälle zu komponieren. Dabei betrifft seine Tätigkeit eigentlich eine Re-Konfiguration, denn als konfigurierte liegen die betreffenden Fälle schon in den mythisch verbürgten Plots vor. Dabei meint die Vorsilbe ‚Re-‘ im vorliegenden Zusammenhang nicht die wiederholte, nochmalige Konfiguration, sondern eine, um die Möglichkeit der tragischen Wirkung verstärkte und intensivierte Konfiguration. Deren Herstellung macht, Aristoteles zufolge, das Kerngeschäft der Dichter aus.99


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Der Chor als archivierendes oder sedimentiertes Gedächtnis oder beides in einem: Am klarsten wird diese doppelte Funktion im Chor der Perser, der in seinem großen Eröffnungslied alle Helden Persiens aufzählt, die mit Xerxes in die Schlacht zogen. Dabei nennt er nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Länder und Herkünfte, ihre besonderen Qualitäten als Könige oder Krieger, ihre berühmtesten Taten, ihre Ausrüstungen, ihre Mitstreiter, ihre Wagen und Waffen. Es sind die Ausgezogenen, die in Susa und ganz Persien Nicht-mehr-Vorhandenen und Fehlenden. Ihre unanschauliche Gegenwart verhält sich zum Ort Susa, der mit und durch dieses Eingangslied allererst angespielt wird wie eine große raumzeitliche Verzweigung. Die Aufführung dieses Gedächtnisses schwankt zwischen den Formen Eben-Noch und Schon-nicht-Mehr. Eben-noch sind die Genannten mit uns in Persien gewesen. Sie gehören also im Sinn eines ‚vergehenden Jetzt‘ noch zur Aktualität dieser Gegenwart in Persien, in Susa. Ihre Abwesenheit bezeichnet jedoch ebenso ein Schon-nicht-Mehr, das auch in das Nicht-Mehr ihrer radikalen Abwesenheit münden kann: als nicht mehr Lebende, dauerhaft Abwesende, Tote. In diesem Fall würde die Aufführung dieses Gedächtnisses die Funktion einer Repräsentation übernehmen, die jedoch weniger einem Staatsakt gliche denn einer Akte, einem Speicher, einem Friedhof, einem Zeugnis, einer Schrift. Wie beginnen? (Die Perser)

Die Aufführung dieses Gedächtnisses durch den Chor hat zunächst keinen anderen Anlass als den, dass mit ihr die von Aischylos verfasste Tragödie eröffnet wird. Die innerdramatisch gefügten Zeitlichkeiten liegen jedoch anders. Veranlasst wird diese Aufführung des Chors durch eine Vorahnung Atossas in einem Traum, den sie zum Zeitpunkt des Chorliedes schon geträumt hat und den sie im Anschluss an den Chor ausführlich darstellen wird. Das heißt, Atossa wird auftreten, um eine perfekte Erinnerung darzustellen, indem sie ihren Traum sprachlich wiederholt. Diese Wiedererinnerung eröffnet die Zeitlichkeit der Einzelfigur am Ort des Chors. Noch im selben Moment werden sich jedoch die verschiedenen Zeitlichkeiten eines Chorgedächtnisses und einer Protagonistin, die sich erinnert, voneinander trennen. Atossa ist aus ihrer unanschaulichen, nächtlichen Gegenwart hervorgetreten. Sie hat sich als Einzelfigur disponiert und als solche beginnt sie nun, sich in einen Ablauf einzutragen. Denn Atossas böse Vorahnungen verlangen


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nach einem Ende der Ungewissheit, sei dieses nun gut oder schlecht. Dem Auftritt Atossas geht jedoch ihr Traum als eine andere, nächtliche Gegenwart voraus, die sich unmöglich in der Form des Präsens nennen oder sagen lässt und das dennoch durch die Wiedererinnerung Atossas mit dem aktuellen Jetzt im Moment ihres Auftritts zusammentritt. Atossa verschiebt ihren nächtlichen Traum in die Rede. Wenn sie zu sprechen beginnt, geschieht das nicht im Präsens (‚ich fürchte‘ oder ‚ich ahne‘), sondern indem sie in der Vergangenheitsform von sich sagt: ‚Ich habe geträumt‘. Die Gegenwart von Atossa ist also schon am Anfang ein großes, zusammengesetztes, heterogenes Jetzt. Es umfasst aktuelle und nichtaktuelle Bezüge, Anschauliches und Nichtanschauliches, Bestimmtes und Unbestimmtes. Damit hat sich das Jetzt jedoch in eine Zone von unbestimmter Ausdehnung verwandelt und diese kann nicht nur zeitlich verrechnet werden, sondern muss zwingend raumzeitlich gefasst werden. In dieser Zone setzt das Stück mit der chorischen Aufführung eines Gedächtnisses ein und insofern kann man sagen, dass dessen Aufführung durch etwas ausgelöst wird, zu der auch die geträumte Vorahnung Atossas zählt. Im Hinblick auf diesen Auslöser handelt es sich um eine nachträgliche Aufführung des Chorgedächtnisses, obwohl die Chronologie des Stücks dem zu widersprechen scheint. Aber wir haben es hier nicht mit einem Ablauf zu tun und das Voroder Nachgestellte entspricht keinem zeitlichen Vorher oder Nachher. Eine derartige Ablaufzeit käme nur für die Einzelfigur infrage, die im Zeitraum ihrer Geschichte, also in einem perspektivisch dimensionierten oder zumindest so vorgestellten Raum agiert, den sie durchläuft. Eine solche Figur wird jedoch erst von einer völlig chorvergessenen Tradition etabliert werden. Was das antike Drama angeht, bewegen wir uns auf der Ebene einer Topologie, in der die Raumzeit nicht eine, sondern immer mehr als eine ist. Komponiert werden Protagonisten und Chöre, Figuren und Orte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihre Konfiguration öffnet den Ort ihrer Aufführung (im Text oder in einem Theater). Das ‚Kon‘ ihrer Figuration ließe sich auch als ein passives, nicht aktuelles Schonda auffassen, wie es zum einen auf der Ebene der dichterischen poiēsis und der Schrift vorliegt, zum anderen jedoch auch auf der Ebene des Stücks selbst: Etwas ist schon da, etwas hat schon gedauert, das Heer der Perser ist gegangen, ein Traum hat sich geträumt und eine unruhige Vorahnung hat sich breitgemacht. Etwas ist


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schon längst konstelliert – bevor die Bewegung des Stücks mit einer Parodos einsetzt, die der innerdramatischen Einräumung dient, sodass ein Protagonist herauskommen und anfangen kann. Mit dem Auftritt der Einzelfigur wird die Bewegung des Stücks von der ablaufenden Zeit erfasst. Zum einen als ein Stück mit Anfang und Ende, zum anderen innerdramatisch geheftet an die Einzelfigur, die eintretend damit beginnt, ihrem Ende entgegenzugehen. Die ablaufende Zeit trennt mit ihrem Jetzt des Anfangs vergangene und zukünftige Gegenwarten und hält sie auseinander, während sich ihr Jetzt im innerdramatischen Verlauf permanent in ein anderes verwandelt. Das ist möglich, weil das Jetzt des Anfangs ebenso die Stelle eines Kontakts mit der Zeitlichkeit vorgängiger und kommender Gegenwarten bildet. Die beiden Zeitlichkeiten lassen sich nicht vermitteln, aber ihr Kontakt vermag die Zeit der Tragödie zu modifizieren: Worte fallen „tödlichfaktisch“100, wie Hölderlin sagt. Figuren werden hervorgerufen, Wirkungen treten ein oder gehen auf, am Ort der Tragödie wird sich etwas für immer ereignen. Nicht das performative Jetzt bildet das Ereignis der Tragödie, sondern die Möglichkeit der Berührung zweier Zeiten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Jetzt der ablaufenden Zeit berührt sich mit der chorischen Dichte dauernder, vergangener und kommender Gegenwarten. Diese Berührung stiftet Präsenz. Lebendige Gegenwart entsteht in einer Bewegung der Vergegenwärtigung, indem etwas oder jemand gegenwärtig wird.

„In Wahrheit gehört die Gegenwart nicht zu den Zeitbegriffen“, schreibt Peter Sloterdijk in seiner Kritik der politischen Kinetik, in der er die antike Poiesis als eine der wenigen Alternativen zum permanenten Beschleunigungsbedarf des Westens würdigt. Die „Bewegungs- oder Dramenkategorie“ Gegenwart bezeichne eine Struktur, „durch die uns das Anwesende als etwas aufgeht, das in den Begegnungsraum eintritt. Präsenz ist Bewegung im Sinne eines Ankunfts-, Hervorbringungs- und Eintrittsdramas. Präsenzerfahrung gehört zu den Auszeichnungen der menschlichen Existenz, weil Menschen die Ankunfts- und Eintrittswesen par excellence sind – prädisponiert zum Erwachen, Herauskommen, Hervorbringen und Anfangen.“101 Das Schon-da des Chors, der das Erwachen und Anfangen der Protagonisten erwartet, korrespondiert mit einer Anwesenheit, die immer schon angefangen hat und die immer schon ihre Zukunft be-


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rührt haben wird. Mit dieser Spannung, diesem Kraftfeld, muss eine jegliche Disposition und ein jedes Anfangen in Kontakt treten, wenn es hervorkommen und Präsenz werden will. Die Perser führen dies beispielhaft vor. Der Chor und Atossa fangen an und figurieren sich, indem sie jeweils – und diese Bewegung ist außerordentlich – aus der Zeit dauernder Gegenwarten heraustreten. Der Chor breitet ein Gedächtnis aus, von dem man zögert zu sagen, dass es seines wäre (eben noch). Atossa stellt ihre personale Erinnerung eines nächtlichen Traums dar (schon nicht mehr). Dieses Vergegenwärtigen gleichzeitiger und vergangener Gegenwarten steigert sich mit dem Botenbericht, der die katastrophale Niederlage der Perser schildert (gestern und vorgestern). Sie mündet darin, dass im zweiten Epeisodion der längst verstorbene Dareios für eine Beratung der Lebenden aus dem Totenreich zurückgeholt wird (weit zurückliegendes Gestern). Die Gegenwart des Jetzt tritt nicht als Bruch mit der dauernden Gegenwart auf, sondern aktualisiert sich in ständiger Berührung mit ihr. Das gesamte Stück über vollzieht dieserart die Bewegung einer gigantischen Öffnung des Jetzt: Atossas böser Traum, Nachricht vom Untergang der Perser, Totenbeschwörung und Rat des Dareios. Zu Beginn des letzten Teils, wenn Dareios wieder ins Totenreich zurückgekehrt ist, erreicht diese Öffnung ihre größtmögliche Dehnung. In diese weit aufgerissene Gegenwart tritt nun Xerxes ein: plötzlich, die Kleider zerfetzt, bejammernswert seine Gestalt, den Mund geöffnet zum Schrei: „Io“ (V. 908). Es ist die Frage, wie das Sprechen eines Protagonisten überhaupt anheben kann. Wie hebt es in dieser ältesten, uns überlieferten Tragödie Die Perser an? Und noch einmal: wie bei Atossa als ihrer ersten Protagonistin, die sich als Einzelfigur aktualisiert? Wodurch wird ihr Hervortreten überhaupt möglich? An dieser Stelle spielt die Zeitstruktur des Traums von Atossa eine wichtige Rolle, die hier unter dem Aspekt einer ‚immanent erlebten Zeitlichkeit‘ einen Moment lang genauer betrachtet werden soll. Edmund Husserl hat die Fähigkeit des Bewusstseins, neben aktuellen Wahrnehmungen auch solche der unmittelbar oder auch nur mittelbar vorangegangenen Gegenwart festzuhalten, fokussiert und für diese Fähigkeit den Begriff der „Retention“ geprägt. In seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff des inneren Zeitbewusstseins geht Jacques Derrida bei Husserl in Sonderheit der Frage nach, wie sich der Übergang von der passiven Retention zur Erinnerung oder


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aktiven Wiedererinnerung eines Subjekts vollzieht. Übertragen auf die hier diskutierte Eröffnung der Perser, wäre dies die Frage nach dem Traum Atossas als einem Ereignis in der Zeitlichkeit des immanent Erlebten. Der Traum gilt Derrida schlechthin als Beispiel für „die nicht-empirische Beziehung zwischen mir und mir, zwischen meiner aktuellen Gegenwart und anderen Gegenwarten als solchen, das heißt als anderen und als Gegenwarten (als vergangene Gegenwarten)“102. Derrida führt den Gedanken weiter, indem er von einer Vielheit von Ursprüngen ausgeht, von einer Vielheit von Erstformulierungen, wenn man so will, die jenseits der Positionierung eines Ich spielen und „nicht-empirische Beziehungen“ mit ihm eingehen. Derrida spricht vom „Zirkulieren“ dieser Ursprünge und davon, dass „dank dieses Zirkulierens absoluter Ursprünge durch absolut andere Augenblicke und Akte hindurch die selbe Sache gedacht werden“ kann. Eine Sache erscheint als die selbe in der Selbstformulierung eines Ich jedoch immer nur nachträglich – als ein Nachtrag, der aus einer Beziehung zu zirkulierenden Ursprüngen gewonnen wird. Ein Nachtrag aus einer Beziehung zu Vielheiten, wie sie zum Beispiel den komplexen Traum von Atossa bevölkern. Ihr Traum versammelt kollektive mythologische Bilder, ruft kollektive Dramaturgien auf und zitiert kollektive Erbschaften. Er nährt sich ganz und gar aus unpersönlichen Traditionen. Die Frage, wie aus Beziehungen zur Vielheit diejenige wird, die sich im Traum niederschlägt, ist eine Frage der Retention. Husserl bestimmt sie als ein Auseinandertreten des Ich in seinem konkreten Hier und Jetzt in ein anderes Jetzt und, darin fundiert, in ein anderes Hier: „Die Gegenwart tritt weder als Bruch mit einer Vergangenheit, noch als deren Wirkung auf, sondern als Retention einer vergangenen Gegenwart, das heißt als Retention der Retention usw.“103. Dieser Übergang kann nur immanent erlebt werden. Er wird als eine unbestimmte, „prä-objektive und prä-exakte Zeitlichkeit“104 erlebt. Diese Zeitlichkeit gilt Derrida als die Quelle jeglicher Erscheinung von Zeit. Insofern bildet Atossas Traum den Anstoß dafür, dass etwas hervorkommen und anfangen kann, was dann in der komplexen Dramaturgie dieses Beginns der Perser geborgen wird und Form gewinnt. Dafür ist jedoch noch eine winzige Unterscheidung zwischen Trauminhalt und Traumursache zu machen. Denn was ihre Traumerzählung aufruft und versammelt, gehört der Einzelfigur Atossa ganz bestimmt nicht zu und bildet auch nicht ihre eigene


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Erfahrung, noch nicht einmal ihr eigenes Bewusstsein. Aber dass sie ihn träumt, gehört ihr zu und ermöglicht den Übergang in die Zeit einer Tragödie, in die sie eintreten wird. Ihre beunruhigenden Vorahnungen sind nicht irgendwelche, sondern die einer greisen Königin, die um ihren Sohn an der Spitze des persischen Eroberungsfeldzugs gegen Griechenland bangt. In dieser Zone der Beunruhigung artikuliert der Chor das Gedächtnis einer Vielheit (die Namen aller Helden Persiens) und nur insofern tritt der Chor auf. Der Chor benötigt einen Anlass, um zu erscheinen, einen Zeit- und Treffpunkt. Genau genommen, kann ein Chor, verbündet mit der passiven Präsenz und mit dem Schonda, nicht auftreten, aber er kann sich aus einem Anlass, den er nicht in sich selbst findet, zusammenrotten und zusammentragen, was er hier und da mitbekommen hat. Dieser Anlass liegt in der Zone der Beunruhigung vor und so hat sie Aischylos auch gestaltet: Ein Chor zieht sich zusammen. Er kommt vor allen anderen, aber das ist nicht sein Beginn. Der liegt davor und wiederum davor. Im Anheben vielleicht der Sprache, die sich unter Mehreren selbst vorausgeht. Dabei gibt es einen unübersehbaren Tribut, den die Rede des Chors und namentlich diese des Perser-Chors an ihren Ort der Tragödie entrichtet. Diese Tragödie wird wie jede Geschichte ihrer Ablaufzeit folgen. Die chorische Aufzählung der Helden, die gegen Griechenland gezogen sind, mit all ihren Details, entsteht aus der Zone beunruhigender Vorahnung und ist gebunden an sie. Sie hat etwas Manisches, diese Aufzählung, in der jede Flexion des Verbs „sein“ fehlt und die lediglich durch das konjugierende „und“ skandiert und gestützt wird. Gerade in ihrer Manie arbeitet sie vom ersten Vers an gegen ihr eigenes Enden. Es handelt sich um ein Sprechen, das sich vor der schwarzen Wand des Todes wähnt und diese hinauszuschieben sucht. So lange diesem Chor noch etwas einfällt, solange er noch mit einem weiteren ‚und‘ aufzuwarten oder eine weitere Faltung aufzuschlagen weiß, so lange wird das geahnte, befürchtete Ende nicht eintreten. In diesem So-lange-Noch arbeitet schon die Ablaufzeit der Tragödie. Der Chor stemmt sich gegen diese Zeit, die nicht seine ist. Und indem er sich gegen sie stemmt, dehnt er ihren Ablauf und spannt in der Dehnung einen Ort auf, den es ohne ihn nicht gäbe. Der Chor trägt ein gemeinsames Wissen zusammen und enthüllt ein immenses Gedächtnis, das er aktualisiert und insofern notwendig fehlbar erinnert. Er muss irgendwann ab-


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brechen, er kann nicht alle nennen und sicherlich hat er auch schon einige vergessen. Seine Kraft zur Aufspannung des Orts und seine Fehlbarkeit bilden im Wortsinn die umfassende Möglichkeit für den Auftritt der Protagonistin. Atossas Rede setzt sich in die Welt, indem sie die kollektiven Materialien ihres Traums erinnernd ausbreitet. Und während sie dies tut, vermittelt sich auch die Ursache seines Geträumtwerdens, mit der die Figur der Atossa in diesem Moment entsteht. Es ist die Figur einer Mutter, die durch ihren Sohn lebt. Protagonisten durchschreiten ihre Tragödie in der unumkehrbaren Zeit des Ablaufs. Nach der vernichtenden Niederlage des riesigen Perserheeres kehrt Xerxes, der als einer der ganz wenigen überlebt hat, nach Susa zurück. Wie sollen sie den Jahrtausendverlierer empfangen? Die Ablaufzeit von Protagonisten wird Xerxes in dieser Ausnahmetragödie nicht strikt todwärts führen. Der Rat des Dareios und seine ausgleichende Geste der Zurückhaltung stehen hier im Zentrum. Sie bewirkt, dass die in Susa Zurückgebliebenen sich nicht vom Zorn auf Xerxes bestimmen lassen und nicht nach Vergeltung für den Tod ihrer Angehörigen rufen. Vielmehr stimmen sie in die Klage ein, die den im Wortsinn versöhnten und gleichzeitig radikal offenen Schluss dieser Tragödie bildet. Sie endet mit einem kommós, mit einer exzessiven, permanent anschwellenden und ins Offene mündenden Klage, die Xerxes im Wechsel mit dem Chor anstimmt. Übermütig und auf technische Listen vertrauend, war Xerxes ausgezogen, war mit seinem Heer aufs Meer gegangen, hatte den Hellespont überbrückt, hatte das Meer gefesselt und nicht anerkannt, was für Menschen unverfügbar bleibt und allein eine Sache göttlicher Hütung war. Nun beginnt Xerxes die Klage und der Chor stimmt in sie ein. Diese Klage gilt nicht nur dem Niedergang der Perser, der ihnen von Griechen beigebracht worden ist. Sie beklagt vielmehr ein exemplarisches Geschehen, in dem „ein Daimon [auf] der Perser Geschlecht“ trat (V. 911, Witzmann/Müller). Dieses Geschehen spielt unter Gattungsmenschen, ebenso sind die Kräfte der Natur im Spiel. Bei Aischylos, schreibt Jan Kott, „ist der Kosmos noch nicht erstarrt, er ist noch unfertig, die Kräfte der Natur sind die Nachfahren der ersten Götter und nehmen an den Kämpfen teil“105. Die Klage des Perserchors gilt daher nicht den Toten einer bestimmten Bevölkerung. Sie wird in einem Moment angestimmt, in dem menschliche Existenz sich überhebt, sich inklusiv als Gattung zu begreifen und gegen die Kräfte des Außen zu verriegeln


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sucht. Sie gilt einem unverfügbaren Leben, das unendlich über die Menschenwelt hinausgeht und für ihre Einrichtungen unerreichbar bleibt. Sie gilt insofern einem exemplarischen Geschehen, als sie daran erinnert, dass dieses Leben niemals für bezwingbar gehalten werden kann. Die unabschließbare Klage dieses Chors bildet ein Zeichen des Gedächtnisses dieser Zusammenhänge. Sie bildet ihr Denkmal.106

Schlusschor im Theater von Epidaurus 2009. Die Perser von Aischylos. Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme: Mark Lammert



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Der Chor, der aus der aktuellen Zeit heraustritt und auf der Seite von Äon mit weit zurückreichenden Erinnerungskünsten betraut wird, ist der Chor der stásima. Die Standlieder, deren innere Strophengliederung äußerst variabel gehandhabt werden konnte, sind selbstständige Dichtungen, die zwischen den Epeisodien für den Horizont der Tragödie sorgen. Der Terminus Horizont (von gr. horidzein, begrenzen) wird hier zunächst verwendet, um für die Standlieder eine Reihe anderer Funktionen auszuschließen: Sie bilden keinen Kommentar der jeweiligen Auftritte, genauso wenig wie deren Perspektivierung. Sie bedeuten, interpretieren oder konterkarieren das Geschehen nicht und sie sind mit der mutmaßlichen Auffassung des Dichters nicht enger verbunden als die anderen Teile der tragischen Komposition auch oder diese insgesamt. Das auffällige Merkmal der Eigenständigkeit der Stasima ist immer wieder unterschiedlich gedeutet worden. Aber noch vor aller Deutung ist festzuhalten, dass der Chor den großen anderen „Körper des Theaters“107 bildet und dass er sich als solcher in der Tragödie auf zwei völlig verschiedene Weisen präsentiert. Zum einen erscheint er vielstimmig verwickelt in die Epeisodien der Protagonisten, mit denen er zum Teil heftige Wortwechsel austrägt, zum anderen trägt er die Stasima als eigenständige Dichtungen zwischen den Auftritten der Protagonisten vor. Auf den ersten Blick haben diese beiden Erscheinungsweisen des Chors wenig miteinander zu tun. Zu unterschiedlich scheinen die Form des geschlossenen Liedvortrags und der innerepisodische Auftritt von Leuten, die sich vom Geschehen widersprüchlich affizieren lassen. Ziehen wir jedoch die topologischen Eigenschaften der Chorfigur in Betracht, wird deutlich, dass sich die beiden Erscheinungsweisen des Chors nicht widersprechen, sondern vielmehr genau den beiden Modi der Konfiguration entsprechen, die das Handwerk der Tragödie, ihre technē, insgesamt ausmachen: „zusammentragend-auseinandertragend“. Wenn wir konstatieren, dass der Chor die Tragödie formensemantisch trägt, müssen wir auch konstatieren, dass dieses Tragen nur vollständig sein kann, wenn es zwischen den beiden Modi seines Tragens wechselt und beide Modi gleichermaßen nährt. Denn genauso wie tópos bei Aristoteles das zugleich Umfassende und Auseinanderhaltende ist und den Ort nur in der Form einer Mit-Teilung der Grenzen des Umfassten bildet, kann sich auch der Chor als tra-


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gende Struktur nur zusammen-auseinandertragend verhalten. Es ist wie beim Möbiusband: Noch nicht einmal ein ‚und‘ passt zwischen die beiden ineinander verschlungenen Enden. Für die Standlieder hat sich das Schlagwort vom Chor als „Sprachrohr des Dichters“ durchgesetzt, das ebenso auf Schlegel zurückgeht wie die Formel vom Chor als „idealisierter Zuschauer“. Mit kühnem Schwung hat August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur 1846 notiert, dass der Chor „den personifizierten Gedanken über die dargestellte Handlung“ zur Darstellung bringe und somit innerdramatisch die „Teilnahme des Dichters als des Sprechers der gesamten Menschheit“108 verkörpere. Die einprägsame Kurzformel vom Chor als „Sprachrohr des Dichters“109 geht jedoch zurück auf eine Ursprungsund Urform-versessene Studie des Altphilologen Walther Kranz aus dem Jahr 1933, die das Übrige zur inflationären Verbreitung dieses Gemeinplatzes beigetragen hat. Entkleiden wir ihn jedoch und lassen wir die Metaphysik des Dichters beiseite, mit der Schlegel und Kranz ihn ausgestattet haben, so können wir ihm zumindest den Punkt entnehmen, dass zwischen den Stasima und der Tätigkeit des Dichters (poiēsis) sowie seiner Kunst (technē) eine enge Beziehung vorliegt. Die Gedächtnisfunktionen der chorischen Stasima sind basiert in der Schrift und ihrer Ordnung, in der aufgeschrieben wird, was gesungen und geklagt werden soll. Sie gehen auf Zeichen zurück und auf deren Ordnung, die selbst nicht spricht, auf die stumme Ordnung der grámmata.110 Das grámma als Schriftwerk und dessen Ordnung spielt auf einer anderen Ebene als die Schrift selbst. Als grámma kann hier dasjenige gelten, was Zeichen zu einer Schrift zusammentreten lässt. Das grámma kann somit als die konstitutive, selbst schweigende Voraussetzung der Schrift, aber auch der Stimme gelten, die verlautbart und darüber hinaus als selbstständiges Gestaltungsmittel zwischen Laut und Bedeutung spielt. Laut und Bedeutung können als Zeichen der Affekte im Gemüt derer auftreten, die hören, während das grámma indes unvernehmbar bleibt. Doch die Tätigkeit des Dichters ist nicht darauf beschränkt zu schreiben, was andere singen und klagen sollen. Die selbst schweigende Voraussetzung der Stimme gilt auch für den Schreibenden. Sie umfasst ihn. In dieser unaussprechlichen Umfassung, die eine dynamische Ordnung ist, schiebt sich die Stimme des Dichters, die sein Schreiben ist, ins Unvordenkliche hinein. Damit sind hier we-


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niger die letzten großen Geheimnisse ‚der Menschheit‘ gemeint als vielmehr eine genuine und sozusagen alltägliche Eigenart der Schrift. In der Schrift vermag sich unvermittelt nebeneinander reihen, was unberechenbar und widersprüchlich erscheint. Im Medium der Schrift sind „Zusammen-Ergreifungen“ möglich, wie es im schon zitierten Heraklit-Fragment heißt.111 „Ganzes und Nichtganzes“ reihen sich „zusammenstimmend-auseinanderstimmend“. Wir werden auf mediale Eigenschaften der Schrift ausführlicher im Jelinek-Kapitel zurückkommen.112 An dieser Stelle ist es nur wichtig, die Kunst des Dichters als eine sich mit der stummen Ordnung der grámma auseinandersetzende und verzweigende technē zu skizzieren. Schreiben ermöglicht, sich ins äußerste Denk- und Sagbare vorzuschieben und diese Bewegung als Verlaufs- und Darstellungsform, die das Schreiben mit dem Denken teilt, in der Schrift aufzubewahren und zu archivieren. Die Stasima sind in besonderer Weise mit diesen medialen Möglichkeiten der Schrift verbunden und verdanken sich ihnen, indem sie diese vortragen. Es gibt eine Performanz der Sprache auf der Ebene der Schrift. Erst im Vortrag, zu dem auch das Lautlesen am Küchentisch gehört, können Erfahrungen einer auf der Schriftebene verborgenen Zusammengehörigkeit entstehen, die im Heraklit-Fragment als „innige Berührungen“ bezeichnet werden. Der Chor im Binnenraum und an den Rändern der Tragödie

Das Verhältnis der Stasima zu den jeweiligen Epeisodien ist als eine weiträumige Bezugnahme vorzustellen, die mit einem Registerwechsel einhergeht. In bestimmter Hinsicht gleicht ihr Verhältnis jenem, das Maurice Halbwachs für das kollektive und individuelle Gedächtnis beschrieben hat. Wenn für den Beginn der Perser gezeigt werden konnte, dass die Aufführung eines kollektiven Gedächtnisses zwar vom Traum einer Einzelfigur angestoßen wird, aber in der szenischen Anordnung zuerst auftritt, bevor sich eine Erinnerung (die Halbwachs stets als „individuelles Gedächtnis“ bezeichnet), wiederum unter Rückgriff auf kollektives Material, zu formulieren vermag – dann gleicht diese Anordnung in ihrer auffälligen Asymmetrie genau derjenigen, die Halbwachs für das kulturelle Gedächtnis im Allgemeinen herausgearbeitet hat und die ihn zu seiner zentralen These führt: Das „kollektive Gedächtnis [ist] die einzige Grundlage für die Möglichkeit des sogenannten individuellen Gedächtnisses“113.


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Die Weite des Bezugs, die Stasima an den Rändern der Tragödie des Protagonisten herstellen, kann von ganz unterschiedlichem Umfang sein. Die Bezeichnung dieser Ränder als Horizont schließt Spezifika dieses Begriffs mit ein, die sich ertragreich auch auf Strukturmerkmale des Chors beziehen lassen. Ein Horizont beschreibt die Grenze eines Gesichtskreises und sein Angrenzendes, das in der Diskussion des Welt-Ortes bei Aristoteles zum Beispiel auch als in sich Unbegrenztes begriffen wird, als ein selbst unabsehbares Umfassendes. Wird die Grenze eines Gesichtskreises indessen als partieller Horizont begriffen, dann ist damit besagt, dass die Gestalt des Horizonts von seinen spezifischen örtlichen Bedingungen abhängig ist und je nachdem in unterschiedlicher Ferne oder auch Nähe erscheinen kann. Die beiden Aspekte des Horizonts, sein Angrenzendes als Unbegrenztes und seine partielle, bewegliche Gliederung, liegen nicht streng getrennt voneinander vor, sondern gehen ineinander über und können sich vermischen. So thematisieren die Chorlieder in der Antigone (Parodos, drei Stasima und Kommos) zum Beispiel nacheinander: 1. Erinnerung an die Schlacht um Theben und den Sieg der Thebaner (gestern); 2. Reflexion über den Menschen als erfindendes, sterbliches Wesen (sehr weit zurückgehend und ins Unvordenkliche ausgreifend); 3. Lobgesang auf die Macht des Eros (weithin geltende Überzeugung); 4. Aufzählung mythologisch verbürgter Fälle lebendiger Einmauerung (weit zurückgreifendes, literarisches Gedächtnis); 5. Klage (Gegenwart). Insgesamt wird hier durch die Chorlieder ein spezifischer Horizont aufgespannt. Seine Beschreibung setzt mit einem partiellen Horizont (Schlacht um Theben) ein, mit dessen unterschiedlichen Fern- und Nahbedingungen, mit dessen Ausblicken und verstellten Sichten. Dieser Horizont weitet sich im Verlauf der Standlieder ins Universelle und ins Allgemein-Gesellschaftliche und ins AllgemeinGelehrte, um sich dann im konkreten und spezifischen Horizont im Theater dieser Tragödie Antigone zu vollenden. Dieser Horizont ist zusätzlich in sich vielfältig gebrochen und beweglich (Strophen, Gegenstrophen, wechselnde Rhythmen, spezifische Bewegungsformen wie etwa die ‚Zoom-Bewegung‘114 in der Parodos). Er gleicht daher auf keinen Fall einer Linie, sondern bildet eine Zone, in der sich der Gesichtskreis begrenzt. Seine Spezifik besagt darüber hinaus, dass der Horizont für jede Tragödie ein anderer ist und in je anderer Weise gebildet wird. (Es ist diese Regel, mit der Euripides bricht, wenn er Chorlieder für verschiedene Tragödien mehrfach verwen-


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det. Das heißt, dass zuerst diese Horizontfunktion des Chors nicht mehr gesehen wird.) Der vom Horizont der Chorlieder insgesamt aufgespannte Raum, bezeichnet den Raum der Tragödie, in dem die zwei oder drei Geschehenslinien, geheftet an die jeweiligen Protagonisten, sich entwickeln, überschneiden, einander in den Weg geraten oder sperren. In den Epeisodien steht der Chor im Binnenraum der Tragödie, der er als der andere Körper des Theaters so nahesteht wie kein anderer. Dennoch macht der Chor innerhalb des epeisodischen Raums keine Entwicklung durch. Er kann seine Meinung ändern – wie das zum Beispiel der Chor der Okeaniden im Prometheus-Fragment des Aischylos tut, der Prometheus zunächst als Frevler ablehnt, sich dann jedoch von ihm überzeugen lässt und ihm unverbrüchlich beisteht – aber die Meinungsänderung ist einem vielköpfigen Chor sowieso inhärent und gewissermaßen jederzeit möglich. Er braucht sich dafür nicht extra, wie ein Einzelwesen, zu entwickeln. Zwischen den Geschehenslinien der Protagonisten, zwischen ihren Positionen, Behauptungen, Entscheidungen und inmitten ihrer Ablaufzeit und deren Undurchschaubarkeit muss ein Chor zwingend in jene Vielstimmigkeit und Vielgliedrigkeit auseinandertreten, aus der er gemacht ist. Anstelle einer Entwicklung verwickelt er sich also. Ein Chor nimmt Anteil an diesem oder jenem, stärker oder schwächer, in jedem Fall schwankend und widersprüchlich. Er kann sich nicht selbst zusammennehmen und dafür gibt es im binnendramatischen Raum der Tragödie auch keinerlei Anlass. Unter den zahllosen Formen seiner Verwicklungen erscheinen mir drei besonders auffällig. Sie sollen hier kurz skizziert werden: Erstens äußern sich chorische Verwicklungen in der Form des affektiven Mitgehens. Da ein Chor durchgehend an der Handlung partizipiert, ohne dass sich die Tragödie durch ihn vollzieht, besteht seine außerordentlichste Fähigkeit darin, in einer „Zusammenfügung der Geschehnisse“115 mitzugehen. Ein Chor geht mit. Und zwar sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinn. Er bildet einen niemals ausweichenden Resonanzboden für die Affekte und ist ihr zuverlässiger Verstärker, vollends unverzichtbar für jede Klage. Es sind somit nicht zuerst die Zuschauer, bei denen die Affekte zünden sollen, oder zumindest wird ihnen die Last der affektiven Erschütterung nicht allein aufgebürdet. Der Chor übernimmt und die Zuschauer erhalten einen Spielraum, in dem ihre Rührung im Einzelfall mehr oder weniger oder gar nicht eintreten kann. Eine


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Rührung entsteht weder gratis, noch kann sie erzwungen werden. An dieser Scharnierstelle kommt es dem Chor zu, den Ort der Rührung, der Affekte und der Übertragungen zu bilden und dies zum Ausdruck zu bringen. Damit erhält das Emotionale in der Tragödie eine eigene Ausdrucksebene, die weder den Protagonisten noch den Zuschauern überlassen wird. Der Chor ist nicht Adressat von Emotionen, sondern ihr Ort: die gesicherte Stelle ihres Ausdrucks und ihres Kommentars.116 In dieser Struktur bekundet sich ein, nicht nur in meinen Augen, hinreißender homöopathischer Geist, eine Art Sorge, die alle anderen schont. Zweitens äußert sich die Verwicklung des Chors als spürendes Mitempfinden. Der Chor spürt viel eher, als dass er irgendetwas weiß, und dies ist eine weitere, wesentliche Facette seines Ausdrucks. Dazu gehören alle Formen gespannter, atmosphärischer Wahrnehmung: ahnen, erwarten, befürchten, verzagen, zögern, zaudern, wittern, fühlen, wähnen, berührt sein. In den Übertragungen von Emil Staiger (der die Empfindungsebene vermutlich über Gebühr liebt) sagt der Chor zum Beispiel: Mich „rührt zu Tränen deine Rede“ (Totenspende, V. 181) oder: „Es erbebt mir das liebe Herz, da diese Klagen ich höre. Die Hoffnung schwindet, und Dunkel umfängt das Eingeweide bei solchem Wort“ (Totenspende, 410) oder: „Ratlos bin ich, des Sinnes beraubt […] / ich fürchte das Prasseln des Regens von Blut“ (Agamemnon, V. 1530; V. 1533). Drittens verwickelt sich ein Chor in das epeisodische Sprachgeschehen in der für ihn spezifischen Weise des Mitredens. Diese Äußerungsschicht ist mit den ersten beiden eng verbunden, da sich ja auch das Mitgehen und Mitempfinden nicht als solche zeigen, sondern nur anhand und in enger Verknüpfung mit sprachlichen Einwürfen und Partikeln. Darüber hinaus bildet der Chor jedoch seine eigene Form des Mitredens aus. Er schiebt sich mit meist uneigentlichen Kommentaren von nur wenigen Versen dazwischen. Er kündigt vieles an, aber ansonsten fragt er. Er fragt noch einmal, vergewissert sich, wiederholt, bittet, belustigt sich, spottet, gibt gute Ratschläge, verzagt und irrt. Häufig gibt er seinem Nichtwissen bzw. seinem Nicht-weiter-Wissen Ausdruck und sagt zum Beispiel: „Schmach, der Schmach begegnet sie hier, schwer zu entscheiden.“ (Agamemnon, 1560 f.) Seiner Vielstimmigkeit gemäß widerspricht er sich, nimmt Meinungen zurück und neigt zur schnellen Wechselrede der Stichomythie, in der ein Wort nicht aufhört, das andere zu geben.


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In den genannten Äußerungsschichten tritt die Teilbarkeit der Chorfigur hervor. Sich zusammenziehen kann der Chor nur in der Klage und an den äußersten Rändern der Tragödie, indem er sich von der ablaufenden Zeit ausnimmt und in der Berührung mit einer äonischen Zeitlichkeit jenen Horizont artikuliert, den ihm die Dichtung der Chorlieder in den Mund legt.117 Innerhalb der Epeisodien tritt ein Chor auseinander und wird zu jener teilbaren und geteilten Konfiguration, die sich auffaltet und ausdehnt, ohne zu zerfallen. Innerhalb der Epeisodien bildet sie ein infinites Hörensagen ab: „Was denn gibt’s? Was geschah? Was hörtest du heut?“ (Agamemnon, V. 85) Inmitten von ‚Charakteren‘ erscheint die chorische Konfiguration notwendig charakterlos, aber nicht ohne charakteristischen Einsatz. Sie hat ihren Einsatz im Mitgehen, im Mitempfinden, im Mitreden, im Mitteilen eines Mit, das als solches ohne sprachlichen Ausdruck bleibt. (Kein Mit im Sinn eines Ganzen, das in der Tragödie, in der „Ganzes und Nichtganzes“ sich zusammensetzen, schlichtweg unvorstellbar ist.) Es handelt sich um die Mitteilung eines gleichsam solitären Mit, konkret und unpersönlich zugleich. Es verdankt sich einem bloßen Nebeneinander, einer unbedingten Pluralität. Es gibt sich, indem ein Bezug weitergegeben und ein Besitz aufgegeben wird. Ein Bezug, der auf nichts berechnet ist, sondern die reine Möglichkeit zu einer Bezugnahme bildet, die sich selbst nicht sagen lässt. Sie tritt inmitten einer extremen Einsamkeit auf, wie sie namentlich die Protagonisten umgibt und grundiert.118 Eine Einsamkeit, die sich auf ihrer Bahn entfaltet und die sich im Zeichen des modernen Individualismus immer noch weiter ausbreitet. An den äußersten Rändern des Chors

In seiner Ablösbarkeit von der Einzelfigur ist der Chor nicht mehr das Umfassende, sondern selbst ein Körper und als solcher mit der Frage verbunden, an welches Umfassende er mit seiner äußersten Grenze rührt, was also sein Ort sei. Die Frage lässt sich insofern nur abstrakt verfolgen, als der Chor am Ort der Tragödie der einzige ist, von dem wir Genaueres wissen. Aber anhand seiner topologischen Eigenschaften und Strukturmerkmale lassen sich dennoch Tendenzen ausmachen. Zunächst ist unabweisbar, dass ein Chor, der einer dramatischen Komposition ihren Ort und ein Mit einräumt, selbst auch einen Rand, eine Grenze hat. Nicht nur eine, die den Protagonisten zugewandt ist, sondern ebenso eine, von der er sich aufmacht, um auf dem Schauplatz der Tragödie zu erscheinen. An seinem abge-


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wandten Rand hat der Chor eine Mündung in das Unanschauliche und Unaussprechliche. Ebenso ist die Frage seiner äußersten Grenze selbst schwierig: Aischylos hat den Anteil des Chors verringert, heißt es. Aber aus welchem Teil ist diese Verringerung hervorgegangen und welche Stufen der Verringerung gingen dieser voraus? Die beiden Gesichter des Chors, zum einen im Binnenraum der Tragödie und zum anderen an seinen der Polis abgewandten Rändern, bezeichnet Kirsch als Vektoren, entlang derer sich der Chor ganz unterschiedlich verhält. Der Chor am Ort der Tragödie kommuniziert mit den Logos von Gesetz und Polis; er agiert choro-logisch. Der Chor an seinen äußersten, der Polis abgewandten Rändern wirkt indessen choro-nomisch im Sinne eines Nomos, der mit den ungeschriebenen Gesetzen nomadischer Verteilung einhergeht.119 In einer ebenfalls bei Kirsch in diesem Zusammenhang angeführten Stelle von Deleuze/Guattari heißt es dazu: „Der Nomos ist die Konsistenz einer unscharfen Menge; in diesem Sinn richtet er sich wie ein Hinterland, wie ein Berghang oder der nicht klar definierte Raum um eine Stadt gegen das Gesetz oder die Polis“120. Entsprechend lässt sich vom Chor sagen, dass er im „Hinterland“ der Polis die „Konsistenz einer unscharfen Menge“ annimmt und eine Ambiguität gewinnt, die sich gegen das Gesetz richtet und aus der Stadt mit ihrem Theater und ihrer Tragödie hinausführt. In der Polis reguliert die Göttin Artemis, die unter dem Vielen, für das sie steht, auch als Herrin der Ränder gilt, die Erfahrung der Grenze. Sie führt „von der äußersten Peripherie ins Zentrum, von der Differenz zur Ähnlichkeit“121, wie Jean-Pierre Vernant von der Artemis sagt. Aber am Rand der Ränder, von denen aus Artemis noch in den griechischen Gesellschaftskörper zurückleiten kann, berührt sich dieser Rand mit einer Heterogenität, die nicht mehr ins Zentrum zurückgeführt werden kann und die sich keiner Alternative mehr beugt, wie etwa der Alternative von Städten und unbewohnten Landstrichen (chōra). Am Rand seiner äußersten Peripherie wird das Enden selbst problematisch. Die Erinnerung an die choro-nomische Dimension des Chors zeigt sich durchweg fragmentarisch: Für seine disparaten Herkünfte werden die Dionysos-Kulte und die ländlichen Dionysien geltend gemacht, aber auch die Artemiskulte, sofern wir an Alkmans Chorlyrik für die adoleszenten Mädchen und jungen Frauen denken. Die ewig jungfräuliche Artemis und der tausendnamige, stets wiederkehrende Dionysos galten den Griechen als extrem facettenreiche Gottheiten, die aus der Fremde kamen,


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aus den Antipoden Griechenlands. Vernant beschreibt, wie diese Gottheiten zuerst als das Andere Griechenlands gegolten hatten und in den ihnen gewidmeten Kulten über Jahrhunderte hinweg allmählich griechisch wurden. Sie wurden integriert und erhalten schließlich einen Platz, an dem ihre wilde Fremdheit in Funktionen verkehrt wird, die es der Polis ermöglichen, „zusammen mit dem Anderen ihr Selbes“122 zu formulieren. Das Griechisch-Werden gilt also ebenso für die Selbstformulierung der Polis, die sich nur im Verhältnis zur Andersheit des Verschiedenen (to héteron) als „Selbes“ fassen kann. Dies gelingt in dem Maß, in dem „die Griechen aus der Göttin der Ränder eine Integrations- und Assimilationskraft machten“ und „Dionysos, der im griechischen Pantheon die Figur des Anderen verkörperte, mitten hineinstellten in das gesellschaftliche Dispositiv, mitten auf die Bühne“. Diese Bewegung der Assimilation inmitten von Verschiedenem wird durch Euripides vervollständigt und damit vorerst abgeschlossen. Der jüngste unter den drei großen, griechischen Tragikern kann als derjenige gelten, der wie ein Historiker oder Theoretiker den erinnerbaren kultischen, dionysischen bzw. vorolympischen Wurzeln der Tragödie nachgeht und aus diesen die zentralen Gegenstände seiner Tragödien gewinnt. So wird die Einführung des Dionysos-Kults in Theben zum Gegenstand in Die Bakchen, der Auftritt Apollons als Händler mit dem stellvertretenden Tod wird zum Thema der Alkestis (das im Agon an der Stelle der Komödie aufgeführt wurde). Die Barbarin und Zauberin Medea aus Kleinasien wird in Medea mit der Tagespolitik der griechischen Polis und den Karrieren ihrer freien Männer konfrontiert und rächt sich verheerend an Jason. Ein Zeus-Sohn und Halbgott hat seinen Auftritt in Herakles, die Tochter der Thetys, die den Alten des Meeres zugerechnet wird, den ihrigen in Elektra. Die Kyklopen als gottgleiche, einäugige Söhne von Uranos und Gaia geben das Satyrspiel Der Kyklop. Damit überträgt Euripides die Thematisierung der Ränder den Protagonisten, sie werden an ihnen gezeigt und dargestellt. Die Chöre erscheinen als zusätzliche Begleitung namentlich ausgezeichneter protagonistischer Grenzgänger, aber der Chor bildet nicht mehr selbst das Gedächtnis einer Grenze. Die Bakchen zeigen ihn als ein lärmendes Kultgefolge, das sich auf spektakuläre Weise ekstatischen Rhythmen hingibt. In der letzten, fast zeitgleich mit den Bakchen entstandenen Tragödie des Euripides, Iphigenie in Aulis (406 v. Chr.), wird der Chor aus jungen Frauen gebildet, die aus Chalkis zusammenge-


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laufen sind, um das Heer des Agamemnon zu besichtigen. Sie beschreiben genau und ausführlich (V. 164–302), was sie aktuell vor Augen haben, und wirken damit wie Städtereisende. Der Chor als zusätzlicher Begleiter erinnert, wie auch in Ion von Euripides, an Touristen.123 Das Sehen rückt an die Stelle, die vormals dem Erinnerungsvermögen des Chors zukam. Entsprechend reicht das Gedächtnis dieses Chors nur noch bis gestern (bis zur Hochzeit der Eltern des Achilleus, dem sich Iphigenie versprochen hat, drittes Stasimon). Ansonsten gebietet Agamemnon dem Chor Stillschweigen über seinen Plan der Opferung Iphigenies – und der Chor hält sich daran. Der Chor ist im symbolischen Raum des Protagonisten und in dessen Gegenwartsbehauptung angekommen. In dieser Zeit, die nicht seine ist, fehlen ihm die Worte.124 Er hört auf, sich zu teilen, ein Mit zu teilen. In der Ablaufzeit und unter dem Gebot des Protagonisten stehend, verstummt er und verschwindet auf seinem langen Weg in die Theaterkulisse (wo ihn schließlich Richard Wagner aufstöbert und als „die zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters“125 verspotten wird). Dieses zügige, fast widerspruchlos erscheinende Schwinden des Chors weist jedoch auf eine bedeutende Eigenart des Chors hin, die zu seinen am meisten verkannten Merkmalen gehört und die bis heute zu den langlebigsten Missverständnissen führt, die den Chor immer wieder mit einem Kollektiv oder einer Gemeinschaft gleichgesetzt haben: Ein Chor hat keinen gemeinsamen Nenner und kein gemeinsames Projekt. Selbst in solchen Tragödien wie Ödipus, die ihn in seiner choro-logisch verkümmerten Version zeigen, bleibt der Chor durch ein infinites Hörensagen und ein vielstimmiges Auseinandertreten gekennzeichnet. Darin wirkt sich, auch am Ort der Tragödie, seine choro-nomische, seine wilde Seite aus. Er kann sich nicht selbst zusammenschließen und verfügt daher auch über keinen irgendwie gearteten Selbsterhaltungstrieb. Ein Chor bezeichnet keine fest gefügte Gruppe, keine Versammlung, keine Gemeinschaft. Ein Chor steht vielmehr auf der Seite einer unbedingten Pluralität. Er entfaltet sein Gemeinsames nur, indem er Raum spendet, sich mit-teilt und ausdehnt. Daher ist der Chor ein Phänomen der Verteilung, ein Verteilungsmodus und kommt vielmehr mit einer Sphäre überein, die in einer anderen Sprache den Namen res extensa erhielt. Diese Sphäre lässt sich, wie anhand der Dramaturgie der Ödipus-Tragödie deutlich wurde, keinesfalls ‚menschlich‘ begrenzen.


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Der Chor hütet wesentlich Erfahrungen von Exteriorität und Gedächtnisse, die dem unpersönlichen Leben von Gattungswesen gelten. Auch in seiner assimilierten Variante hält der Chor einen Außenbezug aufrecht, der die ein- und ausschließende Logik des Protagonisten vielfältig schneidet und konterkariert. Auf diese Weise bildet der Chor ein Widerlager zur Gründung der Polis und allen von der Gründung infizierten Prozessen. Der Herausbildung stammbaumförmiger Genealogien steht der Chor mit seiner Erfahrung eines vorübergehenden Zusammenhalts auf Zeit entgegen. Anders als die Körper der Genealogie, die mit einer Idee von Herkunft und mit dem Phantasma ihrer tendenziell unendlichen Fortsetzung in der Zukunft verknüpft wurden (woher, wohin), ist der Körper des Chors jeweils temporär begrenzt und jeweils (immer wieder, von neuem) ein anderer. Der Chor ist eine AntiGenealogie, ohne die Kraft zur Opposition aufzubringen. Er teilt sich derart mit, dass er den Protagonisten des genealogischen Projekts Raum gewährt und ihnen einen Ort zu ihrer Artikulation verleiht. Das bedeutet umgekehrt jedoch auch, dass Protagonisten am Ort des Chors niemals zu ihren eigenen Bedingungen auftreten. Als lebendiges Wesen kommt der Chor darum vollständig mit einer ausgedehnten Sache überein. Im Begriff der Sache (res) deutet sich an, dass es hier um Körper geht, die jedoch nicht einfach vorliegen, sondern als sich ausdehnende und werdende Körper zu denken sind. Das ist, mit anderen Worten, der Chor in seiner choro-nomischen Dimension und als Außenbezüglichkeit. Er ist nicht in seinen Grenzen zu bestimmen und auch nicht als Grenze, sondern als Grenzendes, das die Grenzen einfaltend und ausfaltend vervielfältigt und auf diese Weise ins Spiel bringt. Als einen solchen Körper möchte ich den Chor im Folgenden näher beschreiben. Teilbare Körper

Chor-Körper zeichnen sich wesentlich durch ihre Unbehaustheit aus. Ein Chor wohnt nicht. Sein Körper ist zu instabil, um wohnen zu können. Er ist draußen ohne Drinnen. Er zerfällt und bildet sich von Neuem. Mit sich selbst unauflösbar uneinig bringt er nicht genügend Einigkeit auf, um irgendwo einkehren zu können, noch nicht einmal temporär. Er kann sich nicht positionieren. Der Körper des Chors ist grundlegend Disposition und Komposition gleichzeitig und in einem.


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Als in sich geöffneter Körper, beweglich, vorübergehend, ist der Chor unmöglich zu lokalisieren. Er scheint ohne fixen Ort. Gleichwohl vermag er Orte einzuräumen, er vermag in sich zusammenzutreten und Gegenwarten zu verräumlichen. Das Offenständige dieser Figur zeichnet den Chor, fast könnte man sagen, als originäres Mit aus, als ein Ko-, auf dessen anderer Seite sich jedoch keine ontologischen Gewissheiten einstellen wollen: Keine Präsenz, kein Sein, keine Essenz. Fernab eines unvorstellbaren Anfangs erscheint der Chor als eine Figur des Anfangens, die wie keine andere Figur die Signatur des Teilens selbst austrägt. Als ein Trennen und Verbinden, als ein In-sich-zusammen-Auseinandertreten. Ihr einräumender Ort bildet einen Spielraum, in dem die Gegenwart aufhört, eine zu sein, und sich unendlich oft zu teilen beginnt. Wir können diesen gleichsam verschwenderischen Vorgängen das Festliche ablauschen, wenn wir bezüglich des Chors das Spielerische betonen. Das Spielerische soll hier, im Unterschied zum Spiel als anthropologisch begriffener „Wiege der Kultur“ (Huizinga) und im Unterschied zur humanistisch gedeuteten „Versöhnung der menschlichen Vermögen“ (Schiller), einen Moment lang extrapoliert werden. Es geht im Zusammenhang mit dem Chor weder um Spiele von Menschen noch um vermeintliche Selbstaussöhnung, sondern vielmehr um das, was am Spiel, mit der technē verwandt, spielt. Dieses Spielerische zeigt sich im Spielcharakter jedes Anfänglichen, denn jedem Anfang geht ein Anfängliches voraus, eine richtungslose Verwebung mit dem, was zwischen Zeit und Raum, zwischen Sagbarkeit und Sichtbarkeit, zwischen Schriftlichkeit und Körperlichkeit schon immer im Spiel ist und sie potenziell verkettet. Etwas Verschiebendes, Flüchtiges, eine differenzielle Verweisung, ein Hin und Her. Wenn wir die Teilbarkeit des Chor-Körpers betonen, dann ist dieses Merkmal nicht einfach gleichzusetzen mit Mitteilbarkeit. Dieser Begriff lässt sich zwar unter dem Aspekt des Mit und der Mittelbarkeit extrem dehnen, doch haftet ihm eine Nähe zur gesprochenen Mitteilung an, die es nicht sinnvoll erscheinen lässt, ihn allzu eng mit dem Chor zu verknüpfen. Der Chor hat nichts zu sagen, die Tragödien führen das in extenso vor. Der Chor ist kein Mittel zu einer Mitteilung und er transportiert keine Botschaften. Noch nicht einmal die Standlieder taugen zu Botschaften, zumindest nicht zu verständlichen. In der vielfachen Gabelung von Stimmen, Gesten und Haltungen exponiert sich Teilbarkeit als solche.


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In einer Passage seines Fatzer-Fragments hat Brecht diese Möglichkeit eines Chors gestaltet, der sich verdoppelt oder gabelt und dessen ‚Sendung‘ ohne bestimmten Inhalt oder Adressaten geeignet ist, Zuschauer unvermittelt anzusprechen und sie mühelos an einem unbestimmten Chor teilnehmen zu lassen – mögen sich diese Zuschauer, egal wann, auch erst hundert Jahre später einstellen:

„Zwei Chöre: Aber als alles geschehen war, war da / Unordnung. Und ein Zimmer / Welches völlig zerstört war, und darinnen / Vier tote Männer und / Ein Name! Und eine Tür, auf der stand / Unverständliches. […] Und aufgebaut haben wir es, damit / Ihr entscheiden sollt / Durch das Sprechen der Wörter und / Das Anhören der Chöre / Was eigentlich los war, denn / Wir waren uneinig.“126

Eine singuläre Sendung, die niemanden instrumentalisiert und die nicht auf ihre Verwirklichung drängt, sondern die unendlich ankommt. Mitten in der Kontingenz derer, die ‚etwas‘ affiziert und die in das Spiel einer Bezugnahme eintreten. Ein Chor führt nichts auf, sondern zelebriert etwas, das nicht die Festigkeit eines Objekts oder eines Selbstbezugs annehmen kann. Insofern erscheint auch die Formulierung, dass der Chor sich aufführt oder zelebriert, irreführend. Das Verb, mit dem der Chor in König Ödipus sein Auftreten selbst bezeichnet, lautet tautologisch: „choreúein“ (V. 860). Die Übertragung sagt: „den Kultreigen aufführen“. Der Begriff „Kultreigen“ durchkreuzt jedoch das Verb „aufführen“. Während Aufführungen mit Zuschauern rechnen, kennen Kulthandlungen nur Beteiligte. Kulthandlungen werden nicht aufgeführt, sondern ausgeübt und kommen mit ihrem Vollzug selbst vollständig überein. An diese Register will hier das Verb zelebrieren anschließen. Offenkundig zelebriert der Chor etwas, das den vielen, kommenden und gehenden Körpern ein vorübergehendes Zusammenstimmen und eine lokale Ausdehnung zu einem Chor-Ort ermöglicht. Offenkundig wird dabei die Möglichkeit ursprungsloser Überlagerungen in einem Geflecht von Bezugnahmen. Zelebriert wird die Möglichkeit eines sich selbst Hervorbringenden und Berührenden auf Zeit. Diesseits oder jenseits von Beziehungen, die sich zwischen Subjekten oder Individuen ereignen, zelebriert der Chor etwas, das sich als die Lebendigkeit des Lebens kennzeichnen ließe. Was am Leben das Lebendige ist, bildet genau das, was von keiner Gemeinschaft eingenommen werden kann und was darüber hinaus kein anthropologisch zu vereinnahmendes Merkmal ist. Viel-


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mehr teilen alle Lebewesen dieses Merkmal auch mit technischen Wesen und mit anderen natürlichen, kosmischen Kräften.127 Was der Chor teilt, ist schon da als viele Teile, genauer gesagt, als Teile außerhalb von Teilen (partes extra partes). Nur aus diesem Grund eignet sich ‚etwas‘ zu einer Aufteilung von Stimmen und von Körpern, in der das Geteilte sich vervielfältigt, ohne zu verschmelzen. Daher kann die Figur des Chors nur fortfahren, sich zu teilen, oder damit aufhören und zerfallen. „Wenn die Körper nicht im Raum sind, sondern der Raum in den Körpern, dann ist er Aufspannung, Spannung des Ortes“, schreibt Jean-Luc Nancy in Corpus.128 Sich aufspannen, Ausdehnung entstehen lassen oder den Raum zusammenziehen und in seine unausgedehnte Potenzialität entschwinden lassen. Der Chor separiert sich nicht. Er tritt nicht ein in die Geschichte vermeintlicher menschlicher Unabhängigkeit, sondern er zerfällt, um sich als ein anderer, an einer anderen Stelle von Neuem zu bilden. Das macht das Außerordentliche dieser Figur aus, ihre Einzigartigkeit an den Rändern menschlicher Separation und an den Rändern von Gründungen und Interventionen, die am nur noch menschlichen Milieu des Anthropos arbeiten. In diesem Separationsgeschehen, das von der Tradition zu einer transhistorischen Bedingung des Menschen sine qua non überhöht worden ist, bildet der Chor etwas schlichtweg Nicht-Integrierbares. Ursächlich hierfür ist, dass er mit der äonischen Zeitlichkeit anfangsloser Misch- und Werdensprozesse verbunden bleibt. Die Flüchtigkeit seiner Konfiguration besagt, dass er zwar eine Verabredung und eine Stätte (Tanzplatz) hat, aber keine Vertretung kennt. Ohne gemeinsamen Nenner lässt er sich weder repräsentieren noch symbolisieren. In der Orchestra erscheint er als ein janusköpfiges Wesen, das zwischen innerszenischen Verwicklungen sowie Horizont- und Außenbezügen changiert. Ein Wechselbalg, dessen Unbeständigkeit jedoch auch besagt, dass dieses Außen keine Gegebenheit darstellt und von daher für die binären Binnenraum-Gliederungen definitiv unverfügbar bleiben muss.129 Der choro-nomische Vektor des Chors ließe sich in seiner Reichweite erheblich weiter ausdifferenzieren. An dieser Stelle sollen einige Stichpunkte genügen: Ein Chor ereignet sich am Rand der Feste, der politischen Rituale und des Theaters, ohne diesen institutionalisierten Formen zuzugehören, ohne mit ihnen zu verschmelzen. Seine Fremdheit und Flüchtigkeit sind außerordentlich. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert sehen wir ihn in seiner


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Blüte bei den Tragikern nur für den vergleichsweise kurzen Zeitraum von gut sechzig Jahren, die vom ältesten erhaltenen Stück des Aischylos (Die Perser; 472 v. Chr.) bis zum jüngsten Stück des Euripides (Iphigenie in Aulis; 406 v. Chr.) vergehen. Der Chor bildet sich lokal, punktuell, nur für kurze Zeit (für die Dauer eines Festes). In diesen Fällen hat der Chor einen Anlass, aber der Anlass genügt nicht, um einen Chor hervorzurufen. Nicht jedes Festspiel führt auch zu einem Chor. Und wo er sich bildet, bleibt er nicht-integrierbar in dem Maße, in dem der Anlass ihn als akzidentiell begreift (wie bei Euripides zu sehen ist). Der Anlass wird dann versuchen, sich seiner wie einer unnötigen Komplikation zu entledigen. Der Chor kann sich mit dem Weg für die Dauer einer Fahrt verbünden. Dann nimmt er die Formen der Prozession oder der Meute an. In diesen Formen bezeichnet er jedoch den Weg selbst, er ist dieser Weg, diese Straße.130 Darüber hinaus ist jeder hinzutretende Zweck religiöser oder politischer Art ein austauschbarer, wechselhafter Zusatz und kein genuines Merkmal des Chors. Der Chor-Körper erstarrt zwangsläufig in dem Maße, in dem ein religiös oder politisch Bedeutendes den Chor-Weg okkupiert und versucht, diesen Weg in die Bahnung religiöser oder politischer Zwecke umzulenken. Die bewegliche, umherziehende Chor-Meute gehört den Wegen, den Pfaden, der Fahrt zu. Sie ist am stärksten mit dem ‚Tier- und Kind-Werden‘ (Deleuze) des Chors verbunden. Noch vor ihrer Konkretion als Jagd- oder Hetzmeute von Erwachsenen bietet sich die Meute den Desperados unter den Heranwachsenden an. Chor-Meuten, die sich bei den Pfadfindern Wölflinge nennen oder streunende Kinder und Jugendliche oder Fortgelaufene und Unbehauste, unwillentlich oder auf eigenen Wunsch. Als Chor-Meute hat Einar Schleef die Anhänger von Take That auf dem Berliner Gendarmenmarkt beschrieben: Vor dem Hotel ihrer Idole scharen sie sich zusammen, lassen Musik laufen, beweinen das Ausscheiden eines Bandmitglieds und das drohende Auseinanderbrechen der Band; Erwachsene „glotzen auf die heulende Masse, den ‚Dreck‘, wie sie die Anhänger bezeichnen“131. Eine Chor-Meute hat am ehesten Ähnlichkeit mit Geflüchteten und Schutzsuchenden, die aufgebrochen sind und deren Aufbruch erzwungen wurde: reine Teilung der Erschöpfungen und der Wege.


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Zum Begriff Droge

Schleef hat den Begriff Droge als dritten Term den Namen der beiden bedeutendsten Protagonisten deutscher Dramen- und Operngeschichte zugesellt. Droge steht hier für Chor. In der Kombination mit Faust und Parsifal geht es Schleef um die deutsche Variante der Chorvergessenheit. Er zeichnet folgendes Bild: Goethe und Wagner haben versucht, an die Errungenschaften Shakespeares anzuknüpfen, aber keine Neubelebung des Chors erwogen. Zu „tief im antiken Gips“132 der deutschen Klassik steckend, die ein abendländisches, helles, heroisches und „athletisches“ (Winckelmann) Griechenlandbild pflegte, scheint eine Erneuerung des Chors obsolet und gestrig und wird bewusst ausgeschlagen. Wenn sich aber der Chor bei Goethe und Wagner aus diesen Gründen „nicht ergibt“, wo finden wir ihn dann? Schleef stellt dem hehren „Zwillingspaar“ Faust und Parsifal die „stammelnde, stotternde, vertierte Masse“ in Gerhart Hauptmanns Die Weber (1892) gegenüber. Schleef ist der Auffassung, dass diese Masse das „Ergebnis“ von Faust und Parsifal ist: „ihr Operationsfeld, ihr Ausschuss, ihr Unschlitt“133. Damit zeichnet Schleef das Verhältnis von Protagonisten und Chor, ausgehend von der deutschen Klassik, als das einer wechselseitigen Verschließung. Aber auch in dieser wirkt noch die unverbrüchliche Abhängigkeit der zwei Körper des Theaters voneinander nach. Während Faust und Parsifal in ausgewählten Szenarien ihre Drogen (Wein, Gralsblut) genießen und dabei zu schier überlebensgroßen Protagonisten heranwachsen, verhärtet sich der Chor bei Hauptmann im Zusammenschluss nach innen. Er rottet sich zusammen, erscheint elend, krank und „vertiert“ in seinem Umgang mit dem Drogenkonsum (Branntwein, Schnaps), aber auch berauscht und bereit zum Aufstand und zur Revolte. Das Doppelgesicht der Droge spielt einerseits zwischen Exzentrizität und wechselseitiger Öffnung, andererseits zwischen Abhängigkeit und Suchteinsamkeit. Die Droge teilt sich in beflügelnde, individualisierende und in schäbige, zerstörende Aspekte. Wir finden ihre Aspekte zwischen den Protagonisten Faust und Parsifal und dem Weber-Chor verteilt, vermischt und zugleich auseinandergerissen. Die Droge teilt sich in einer verheerende Weise auf, wenn die Zerreißspannung zwischen den beiden Körpern des Theaters, zwischen Protagonist und Chor, zu stark wird. Diesen Punkt sieht Schleef in der deutschen Klassik erreicht, hält ihn jedoch auf keinen Fall für endgültig.


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Erscheinen die Merkmale von Chorbildungen nicht zu speziell und zu vielfältig, um sie unter den Begriff der Droge zu subsumieren? Schleef erweitert den Begriff der Droge und löst ihn aus seiner einseitigen Verklammerung mit dem Rausch oder der eklatanten Drogeneinnahme (die gleichwohl an erster Stelle gemeint bleiben). Am Beispiel von Faust zählt Schleef unter die Drogen in einem abstrakteren und erweiterten Sinn auch die „Sterbedroge“ (Studierzimmer), die „Adorationsdroge“ (Osterspaziergang, Auerbachs Keller), die „Potenzdroge“ und die „Jugenddroge“ (Hexenküche) oder die „Naturdroge“ (Wald und Höhle) auf. Mit diesen Begriffen werden libidinöse Energien angesprochen, die zwischen psychischen und triebhaften Ereignissen pendeln, sofern diese nicht auf ein physisches oder gar genitales Verhalten verkürzt, sondern als Lust und Energie begriffen werden, die alles besetzen kann. Dieser erweiterte Drogenbegriff mit seinen libidinösen, energetischen Dimensionen erinnert an ältere Traditionen der Physiologie der Lüste. In Die Sorge um sich stellt Foucault sie als den ersten Gegenstand jener Pneumatischen Ärzteschulen dar, die er dort anführt. Ein ausführliches Portrait widmet er den Auffassungen des griechischen Arztes Galen, der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert in Rom wirkte. Die ganzheitliche Heilkunde Galens galt Körpersäften, Temperaturen, Seelenbewegungen, Nervenerregungen, Kontraktionen oder Schwellungen von Muskeln, Organen etc. Er nahm zwischen ihnen ein Spiel komplexer und konstanter Wechselbeziehungen an, da die Wirkkräfte im Körper „wie in einem Chore“ (Galen) verbunden seien.134 Der Gesamthaushalt, der die Einheit des Körper gewährleistet, wurde im pneũma angenommen: als Geist, Hauch und Lebensatem, die in den Gehirnkammern und ihren Kanälen lokalisiert wurden. Galen entwickelte ein pharmako-therapeutisches System, das ältere Systeme variierte und das für sehr lange Zeit, bis zu Paracelsus im 16. Jahrhundert, seine Gültigkeit bewahrte. Hier, bei Galen und seinem heilkundlichen Begriff des Pharmakons von gr. phármakon für Gift, Droge, Heilmittel oder Arznei, erkennen wir den Begriff der Droge wieder, den wir mit dem Chor in Beziehung setzen können. Pharmaka werden gebraucht, um die angemessene Mischung der Körpersäfte günstig zu beeinflussen, um den Lebensatem, wie er es braucht, fließen zu lassen und um das Bündel der Beziehungen, die die Elemente in einem Körper unterhalten, zu schmieren. Sie ähneln den aphrodísia in dem Punkt, dass sie, wie alles im Bereich


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der Lüste, von einer tiefen Zweiwertigkeit durchzogen werden. Die Frage, die Galen diskutierte, ist bis auf den heutigen Tag dieselbe geblieben: „Sind sie gut, sind sie schlecht?“ (148) Für Galen sind die Lüste geschlechtlicher Körper keine „bloße Zusatzprämie“ (143), sondern machen den Kern eines demiurgischen Werks aus: Sie werden eingespannt in eine ganze „Kosmologie der Fortpflanzung“ (147), der eine Negativität der Lust (in ihren pathologischen Formen) korrespondiert. In den ausufernden Analysen, die Galens Ärzteschule der phármakon-Therapeutik widmet, erkennen wir die zentralen Koordinaten wieder, die auch für die Chor-Bildung von Bedeutung sind. Galen platziert die pharmazeutischen Künste in großer Nähe zur geschlechtlichen Zeugung und Fortsetzung und situiert diese wiederum inmitten der Beziehungen zwischen Unsterblichkeit und Vergänglichkeit. (Da Menschen vergänglich sind, haben sie nur über ihre Reproduktion Anteil an einer Art gemeinsamer Unsterblichkeit, die sich in Abfolgen organisiert.) Gehen wir innerhalb derselben Koordinaten auf den Chor zu, dann zielen die phármakonKünste auf etwas anstelle von sexueller Reproduktion und anstelle von Abfolgen. Die Droge bewirkt einen unter der Haut und auf Zeit geteilten, gemeinsamen Körper: den Chor-Körper. Die dosierte Droge stimuliert Lüste, die sich nicht-intentional über die einzelnen ausbreiten und stiftet auf diese Weise eine temporäre Verwandtschaft der einzelnen, ganz verschiedenen und einander unähnlichen Körper. Das Gemeinsame eines Chors kommt weder mit irgendwelchen festlichen Eskapaden überein noch mit einem geteilten Anlass. Schleef hält apodiktisch fest: „Drogeneinnahme und Chor-Bildung gehören zusammen, bedingen einander.“135 Der Chor ist in seinen unbestrittenen stimmlichen und rhythmischen Teilungen (Gesang, Tanz) immer ein uneiniger Körper. Als Heilmittel lindert die Droge die Verschlossenheit der Körper gegeneinander. Droge bedeutet eine Zusammenhangsform, die anstelle sexueller Reproduktion und Abfolgen durch Ansteckung zustande kommt.136 Als Heilmittel fördert das Pharmakon eine Anziehungsbewegung, die sich ausbreitet, und löst die Körper in ihrer Nachbarschaft zueinander. Das Pharmakon als Gift hingegen leitet in den zerstörerischen Genuss über und bewirkt im Extremfall eine Verschweißung der Elemente, die ihres Lebensatems beraubt werden. In jedem Fall handelt es sich um Verknüpfungen, die „wie in einem Chore“ (Galen) unterhalb signifikanter Sichtbarkeiten oder


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Sagbarkeiten spielen, die aber deswegen nicht ohne Ausdruck bleiben und nicht ohne Lust. Denn „dass die Lust etwas Gutes sei“, war für Galen eine dóxa.137 Dass die Lust möglicher Zügellosigkeit wegen zu meiden sei, sah seine medizinische Ethik nicht vor. Resonanzräume, Netze, Vielstimmigkeit

Im Folgenden geht es um den Versuch einer Beschreibung des drogierten Chor-Körpers: Unter der Haut geteilte Körper geben das Bild keines Körpers heraus und unterlaufen auch das Bild vieler Körper, die sich hier oder da aufhalten. Chor-Körper weben raumzeitliche Netze, in denen alle beteiligten Kräfte sich auf einer Ebene befinden und sich modulieren. Ihre aufgespannten Netze nehmen jeweils singuläre Dynamiken an, die sich aneinander sättigen und wechselweise variieren. Die Netze bilden die Haut ihrer Chor-Körper. Sie lassen sich aber auch selbst als Körper beschreiben aus dem einfachen Grund, weil Körper niemals vollständig erfasst werden. Der ‚ganze Körper‘ ist das Produkt einer Trägheit unserer Fantasie, die am Bild klebt. Es gibt ihn nicht. Im Chor-Körper gehen einzelne Äußerungen, Impulse und Affekte mit anderen ebensolchen Äußerungen eigenständige, bewegliche Verhältnisse ein. Sie verflechten sich zu einer heterogenen Ausdrucksmenge und sind nur als verflochtene vorhanden. Die Gemengelage dieser Ausdrücke spielt außen und verhält sich gegenüber den punktuellen Impulsen und Affekten exzentrisch. Punktuelle Äußerungen emanzipieren sich und werden im Kontakt untereinander tendenziell selbstständig. Sie können nicht mehr zurückverfolgt oder Einzelnen zugerechnet werden, die sie verursachen. Ihre expressiven Eigenschaften bestehen aus stimmlichen Färbungen, Tönen, Juchzern, Schreien, aktiven oder passiven Rhythmen, Gesängen, Atmosphären, Veränderungen der Distanzen. Diese expressiven Eigenschaften sind weit davon entfernt, sich selbst zu vereinheitlichen oder zu harmonisieren. Vielmehr haben sie die Tendenz zu einer in sich selbst variierenden Eigenbewegung. Als Ausdrucksmaterialien gehen sie untereinander interne Beziehungen ein. Der Einzelne wird zum Teil dieses Ausdrucksgeschehens, befindet sich zu diesem aber nicht mehr im Verhältnis einer Ausdrucksursache. So wird der Einzelne „überrascht und überwältigt. Sein Lachen, all seine Äußerungen stoßen ihm zu wie Geschehnisse von außen“138.


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Die Autonomie dieses Äußerungsgeflechts, das überraschend und überwältigend erfahren werden kann, wirkt wie eine Droge und entwickelt seine eigene Attraktion. Es fördert die Äußerung von Impulsen in der Art, dass der Abstand zwischen Impuls und Äußerung gegen Null tendiert. Da Impulse dem inneren Milieu von Körpern zugehören, bedarf es in der Regel einer Vorbereitung, wenn sie sich in einer individuellen Äußerung mit einem Ausdruck verbinden sollen. In den Schauspielschulen, die sich dem Verhältnis von Impuls und Ausdruck widmen, handelt es sich dabei üblicherweise um innere, mentale Motivationen oder um antrainierte physiologische Vorbereitungen, die als geringfügige Verzögerung dem Ausdruck vorangehen.139 In der chorischen Äußerung tritt ein Ausdruck jedoch nicht gesondert auf. Vielmehr tritt er als ein nicht genau lokalisierbarer und variabler Zusatz zu einer bestehenden Ausdrucksmenge hinzu. Er färbt, verstärkt, punktiert, akzentuiert, indem er sich in ein gleichzeitiges Netz heterogener Äußerungen einlässt. Dabei hat dieses Netz die Kraft, eine Äußerung zu stimulieren, nicht jedoch, sie zu erzwingen. Die jeweilige Äußerung ist von diesem Netz nicht einseitig abhängig, sondern geht seine Abhängigkeit allererst ein, tut dies jedoch auf leichtere und auch erleichternde Weise. Denn das beziehungsgesättigte Äußerungsgeflecht weist eine gewisse Strukturähnlichkeit mit dem inneren Milieu der Impulse auf. Es stimuliert, überlagert, bewegt, motiviert sie zur punktuellen Äußerung, die nicht unter den Bedingungen eines individualisierten Ausdrucks steht. Das chorische Äußerungsgeflecht zeichnet sich durch eine magnetische Unruhe aus, durch ein Pulsieren, bei dem sowohl an den Herzschlag als auch an das französische Wort für die streunende, nicht zielgerichtete Triebregung, den l‘émoi pulsionnel, zu denken ist. Vielleicht lässt sich diese Autonomie des chorischen Äußerungsgeflechts am besten als ein temporär geteiltes Außer-sich-Sein bezeichnen. Aristoteles beschreibt diese Form im achten Buch seiner Politik als Wirkung, die von Klängen ausgehen, die den Leuten unter die Haut fahren und sie aus sich herausgehen lassen. Aristoteles diskutiert an dieser Stelle die Extreme eines bacchantischen Außersich-Seins als Wirkung von begeisternden, „enthusiastischen Liedern“140, die in der phrygischen Tonart stehen und besonders „orgiastisch“ (388) wirken, wenn sie von Flöten begleitet würden. Die Macht der Musik wird von Aristoteles wie von anderen antiken Autoren darin gesehen, dass sie innere Bewegungen auszulösen ver-


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mag. Das gelte zwar für jede Musik, doch in den enthusiastischen Liedern komme den Klängen eine besondere, gesteigerte Wirkung zu, indem sie nämlich auf „Körper unter dem Einfluss der Affekte“ (380) treffen würden. Dennoch seien diese Lieder, mit einem ausdrücklichen Verweis auf seine Poetik, insbesondere um der „Reinigung“ (386) willen wertvoll. Aristoteles unterscheidet im Publikum von Wettkämpfen zwischen dem „freien und gebildeten Besucher“ und dem „Niedriggemeinen, der sich aus niedrigen Handwerkern, Lohnarbeitern und sonstigen Leuten dieses Schlages rekrutiert“ (387). Durch die von den enthusiastischen Liedern ausgelöste „innere Bewegung sind auch gewisse Menschen zu fesseln“ (387), also solche wie die letztgenannten „Niedriggemeinen“. „Der Affekt nämlich“, schreibt Aristoteles, „der bei einigen Seelen mächtig eintritt, dieser Affekt ist ja in allen Seelen vorhanden, der Unterschied ergibt sich durch das Mehr und durch das Weniger, wie etwa Mitleid und Furcht und weiterhin noch Begeisterung.“ (387) Dieses Mehr oder Weniger – die einen, die schon für Affektlagen der Tragödie anfällig seien, die anderen, die sich erst unter dem massiven Einfluss begeisternder Lieder berührt zeigen – macht jedoch in Bezug auf die Katharsis nicht den geringsten Unterschied: „ganz dasselbe machen die mit […] und in allen entwickelt sich eine gewisse Reinigung, und sie fühlen eine angenehme Erleichterung“ (387). Das sich in bacchantischem Zustand entfaltende Außer-sichSein kennt keinen besonderen Zugang und keinen Ausschluss. Es scheint mir jedoch nicht unwesentlich, dass dieser exzentrische Zustand sehr viele unterschiedliche Intensitätsgrade und Ausdehnungen aufweisen kann. Er kann die Form tagelanger dionysischer Exzesse annehmen oder, um im Bereich der Musikkultur zu bleiben, die Form nächtelanger Techno-Beben. Er kennt die impulsive, rauschhafte Ausschreitung, den „orgiastischen Taumel“ (388). In diesen Formen ist der Chor zuerst Resonanzkörper von Klangereignissen und infolgedessen Aufspannung ihrer Resonanz, ihres Ortes, der selbst die Eigenschaften des Musikalischen annimmt. Schließlich kann es sich aber auch um die fabelhafte Musik von Stimmen handeln, die von Musikinstrumenten und ihrem instrumentalen Gebrauch unabhängig werden. Das stimmlich-sprachliche Ineinander-Gleiten weist extrem hohe Berührungsqualitäten und Intensitäten auf: die Polyphonie im Parlando, das seine Asynchronien nicht bereinigen kann, die permanent variierenden Färbungen der Stimmen und ihr zirkulierender Atem. Und schließlich gibt es


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zwischen dem stampfenden, berauschten Resonanzkörper des Chors und den Texturen seiner Vielstimmigkeit auch noch unendlich viele Übergänge und Überlagerungen. Der chorische Resonanzraum oder die chorische Vielstimmigkeit laufen über Körper, über ihre nicht komprimierbaren Volumina und ihre flüchtigen, variablen extensiven Verbindungen. Man kann nicht sagen, dass Körper und Stimmen zwei Ebenen bilden, die sich ergänzend zueinander verhalten und sich im jeweils anderen wieder rückbinden. Das spezifische Außer-sich-Sein tanzender Körper oder der exzentrischen Vielstimmigkeit sind Bewegungen, die sich in vorübergehenden Sequenzen selbst fassen. Diese sind unterschiedlich im Grad ihrer Intensitäten und ihrer Leidenschaften. Kein Koordinatensystem drängt auf Stabilisierung, Vereinheitlichung oder Unterordnung. Diese Intensitäten werden lediglich geladen, akkumuliert und wieder entladen. Da es sich jedoch um Leidenschaften handelt und nicht um Paketpost, ist dieser Vorgang sehr viel erregender, als es diese dürre Beschreibung anzeigt. Diesseits von Stabilisierung, Organisation, Entwicklung und Plan und ebenso diesseits eines eindeutigen, saugenden oder verzehrenden Verlangens handelt der Chor-Körper, um es mit einem glücklichen Begriff von Lacan zu sagen, mit einer ganzen „Topologie der Lust“141. Das Verschiebende, Relationale und Zwischenräumliche der Topologie ernst nehmend, ist die Lust hier nicht anders denn als in zahllose Partikel zerstreut denkbar. Als Partikel, die unverbunden und versprengt, diesseits eines strengen sexuellen Begehrens in einer Zone transkategorialer Nachbarschaften pulsieren. Ein Kraftfeld

Der Streifzug durch die antiken Konstellationen hat zahlreiche Merkmale und Besonderheiten des Chors im Detail aufgespürt, die im Theaterfeld immer wieder in veränderter Form auftauchen. Sie lassen sich drei Hauptthemen unterordnen: Erstens. Alle Merkmale des Chors gehen aus dem Faktum hervor, dass der Chor im fünften Jahrhundert der Stadtgründungen von woanders herkommt. Aus einer anderen, nicht restlos erschließbaren Zeit ragt er über eine Schwelle in die neue hinein. Er geht aber nicht einfach in die Städte ein und verliert sich, sondern nimmt inmitten der Polis und ihrer Festkultur Platz. Dieses staunenswerte Faktum spricht für das Gewicht der Erbschaften und Transporte des Chors. Sie erfahren in den jungen Poleis hohe Anerkennung und Aufmerk-


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samkeit, ebenso in den Werken der Tragiker. Aus vormals geheiligten Landschaften in die Polis: Der Chor ist keine Erfindung des Theaters. Er läuft dem Theater auch nicht zu, sondern umgekehrt: Dem Theater gelingt die Herausbildung des Protagonisten nur mit dem Chor. Der Chor als die Figur einer vielursprünglichem, einst kultisch-festlichen Versammlung beginnt. Die chorische Konstellation ist schon da und fragt nach den Protagonisten, die als Antwortende (hypokrites) hervortreten. Damit ist eine Struktur beschrieben: Die Konstellation als solche ist vorgängig, ihr obliegt die Kraft zur Konstellierung, die den Protagonisten einfasst, ihm eine Fassung und einen Ort (tópos) verleiht. Asymmetrisch zueinander gefügt, bilden Protagonist und Chor eine Doppelstruktur: die zwei Körper des europäischen Theaters. Dabei haben sich die Traditionen der Repräsentation auf den Protagonisten fokussiert, der ihnen als der erste Körper des Theaters galt, an dem sie Fragen des Menschen aufwarfen und abhandelten. Doch Theater lebt von seinem anderen Körper (wie die Geschlechter vom anderen Geschlecht, Beauvoir). Nur der vermeintlich zweite Körper ist fähig, sich immer wieder neu mit dem Außen der Repräsentation und einer unabsehbaren Pluralität ins Verhältnis zu setzen. Er bildet eine Art Vitalitätsreserve, mit der es sich so verhält wie in der antiken Konstellation, in der mit dem Chor das Außen „in den endlichen Rahmen der Polis einzieht und ihre Einheit als Frage öffnet“142. Alle Merkmale des Chors kommen aus dieser antiken Konstellation als dem Mal einer geschichtlichen Verschiebung. Ein Chor ist schon da. Er beginnt jede Geschichte. Er wird für die Teilnahme eines Dichters am dramatischen Wettkampf (agṓ n) und für die Aufführung vorausgesetzt. Entsprechend gehorchen Chor und Protagonist, die einander asymmetrisch verbunden sind, unterschiedlichen Zeitlichkeiten. Während die Zeit des Protagonisten die Gegenwart ist, in die er eintritt, um auf sein Ende zuzulaufen (Ablaufzeit des Chronos), eröffnet der Chor unendliche Begegnungen von Vergangenheit und Zukunft (in der Zeit des Äons). Der Chor der Standlieder ist ein anderer als der Chor in den Epeisodien. In den Standliedern artikuliert der Chor den in Weite und Tiefe ganz unterschiedlich gestaffelten Horizont der jeweiligen Tragödie. Die Standlieder werden dem Chor von der Dichtung in den Mund gelegt. Sie dehnen sich zeitlich weit zurück und vor und berühren ein älteres Erdwissen, das ein Leben aller von der Erde getragenen Wesen betrifft. Trotz solcher Erinnerungsinhalte ist auch der Chor der Standlieder kein


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Kollektiv und, mit einem Wort von Nietzsche, „keine Masse, nur ein ungeheures, mit übernatürlicher Lunge begabtes Einzelwesen“, das von „mehreren Personen“ gegeben wird.143 In den Epeisodien sehen wir den Chor als Leute, die mitgehen, mitempfinden, mitreden. Sie zeigen uns den Chor als ein Phänomen, das sich mit-teilt, ausdehnt, verteilt und verläuft. In diesen Merkmalen lebt ein nomadischer Untergrund nach, der sich jeder unifizierenden Maske widersetzt (auch derjenigen des großen Einzelnen). Insgesamt betrachtet, bildet der Chor die unmögliche Figur, die ständig zerfällt (wenn Stück und Anlass vorüber sind) und sich (für das nächste Stück, den Anlass) ständig anders neu zusammensetzt. Aus diesen Grund lässt sich ein Chor nicht repräsentieren oder symbolisieren. Er hat keinen gemeinsamen Nenner, kein Rückgrat. Er kann sich gegen seine Indienstnahmen und Institutionalisierungen nicht wehren, nur dass er dabei seine Klangfarbe und seine Temperatur vollständig verliert und unkenntlich wird. Zweitens. Die Herausbildung von Chor und Protagonist ist auf das Engste verflochten mit einer Problematik der Genealogie, die sich von einem männlichen Ursprung her zählt. Genealogie und Protagonist verbünden sich im Bann der Poleis: Die Städtegründung zielt auf ein unsterbliches Werk, was aber im vergänglichen Material, in dem sie arbeitet, nicht möglich ist. Städtegründer benötigen daher ein Verfahren (téchne), diese grundlegende Schwierigkeit zu überwinden. Das Problem von Kadmos: Das Werk der Gründung einer Stadt würde verlorengehen, wenn Städtegründer nicht Wege fänden, der Stadt über den Tod ihrer ersten Bürger hinaus Bestand zu geben. Wenn es darum geht, das Werk der Gründung abzusichern, kommt die geschlechtliche Fortpflanzung ins Spiel: Vermehrung durch Filiation. Städtegründung und genealogischer Imperativ gehen Hand in Hand. Sie kanalisieren die Aneignung von Sterben und Leben in der Aufforderung, Nachkommen zu zeugen. Aus der bloßen sexuellen Reproduktion sollen Linien und Abfolgen werden. Es gibt nur einen Ausgang und der geht nach vorne und rein in die Geschichte, die mit Ursprungsbehauptungen hausieren geht. Die Zeugung als männliches Projekt bildet sich in den agrarischen Kulturen der Sesshaftigkeit heraus. Seit der Neolithischen Revolution (zwischen 12000 und 8000 v. Chr., je nach Weltregion) setzen sich agrarische neben nomadischen Kulturen immer stärker durch und verdrängen die letzteren (chóra, das Weideland, das der Wirtschaft in umgrenzten Landbesitzen unterliegt). In diesen nicht


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zu datierenden Verschiebungen werden sehr alte und verbreitete Vorstellungen von einer uterinen Herkunft des Lebens durch die Entdeckung der Fruchtbarkeit des männlichen Samens abgelöst. Das Gewicht verlagert sich allmählich von der Geburtlichkeit auf die Zeugung.144 Zeugung wird durchgängig mit vegetativen und agrarischen Metaphern belegt: pflanzen (phyteúo), säen, Samen ausstreuen, in die Furche pflanzen etc. Hinzu kommt das Wachstumsschema des Baumes, das zum überragenden Modell für die Genealogie wird und mit ihrer hierarchischen Struktur verschmilzt: Stammbäume gründen, Abstammungslinien herstellen, Wurzeln suchen, Verzweigungen zurückverfolgen bis zu jenem Samenkorn (sperma), nach dem zum Beispiel Ödipus fragt. Unschwer lässt sich der Tribut an die Agrarlogistik erkennen. Zeugung als Männersache wird zur entscheidenden Eintrittskarte für den Mann in die Geschichte, die ihren Zuschnitt als Erzählung ablegt und ab jetzt gemacht wird. Demgegenüber gemahnt der Chor an vormalige Bezüge, vermischte und transhumane Herkünfte zuhauf. Dionysos und Artemis, denen Chöre in archaischer Zeit ihre Tänze gewidmet haben, stehen völlig außerhalb aller agrarlogistischen Bezüge. Das Werden und Vergehen des Dionysos meint ein beliebiges Leben; es konterkariert die Wachstumslogik von Produktion und Vermehrung auf das Schärfste. Ebenso der Chor. Aus dem Gefolge des Dionysos, der stets nur (wieder)kommt, erbt der Chor seine Begabung für das Kommende und ist empfänglich für das Herauskommen und Anfangen, an dem er teilhat. Ohne die Einheit eines Vorfahren ist ein Chor mit der Geburtlichkeit von Lebewesen liiert und sympathisiert zutiefst mit den schon geborenen Wesen. Die chorische Öffnung für das Kommende konterkariert die Logik männlicher Zeugung, die nicht das vorhandene, sondern neues Leben will und im Abkömmling die Zukunft wähnt. Mit dem Chor lässt sich denken, dass sich der inklusive Gattungsbegriff mit seiner Zuspitzung auf die ödipale Formel einer Abstammung von Vater und Mutter als Spezies-trouble herausstellen wird. Der Chor als sedimentiertes Gedächtnis zeigt, was in diesen gewaltigen Umbrüchen an der Schwelle zum fünften Jahrhundert der Erinnerung noch zugänglich war und dass diese Umbrüche von einem Wissen begleitet wurden, gegen das sich die dominante Linie der Entwicklung europäischer Souveränität nie vollständig hat abriegeln können. Die Kosten für die Innenraumbildungen der Städte,


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ihre Außenvergessenheit, für Genealogie, Filiation und die Gattungsvergessenheit von Protagonisten haben sich nicht nur immer wieder gemeldet, sondern sind heute zu einer in jeder Hinsicht explosiven Summe angewachsen. „Man vergisst immer, dass die griechische Demokratie“, so Jean-Luc Godard in einem Gespräch 2011, „im gleichen Moment erfunden wurde wie die Tragödie.“145 Drittens. Der Chor exponiert den Körper als soziales Medium. Darunter ist ein Körper zu verstehen, der alles sein kann, was er berührt und von dem er berührt wird. Ein vollständig isolierter Einzelkörper ist nicht denkbar. Der Chor exponiert Körper, die sich austauschen und abhängig sind von umweltlichen Gefügen, menschlichen und nicht-menschlichen. Chor-Körper sind Ausstellung und Teilnahme in einem, um diese beiden zentralen Begriffe Tataris wiederaufzunehmen. Der einzelne Körper lässt sich nur im Bild (der Tafelmalerei) isolieren. Seine Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit stellen jedoch nicht imaginäre, sondern soziale Modalitäten dar. Sie treten nur unter mehreren Personen, in der Ansammlung von Körpern und in ihrer Versammlung hervor.146 Lebendige Körper sind bedürftige und in ihrer Wechselseitigkeit abhängige Körper. Ihre Abhängigkeit ist das Markenzeichen ihrer Soziabilität, die als absolute Fähigkeit und Notwendigkeit in einem gelten muss. Die Kontakte soziabler Körper durchzieht alle Register des Gesellschaftlichen und Lebendigen: Soziable Körper gehen Beziehungen ein, tauschen sich aus, ahmen einander nach, verwunden einander, stecken einander an, infizieren einander, töten einander, werden zum Wirtstier für Viren und Bakterien und töten andere Kreaturen. Keines dieser Register ist vom anderen zu trennen. Bei Kleist tritt mit der absoluten Notwendigkeit das Tödliche der Soziabilität in den Vordergrund: Die Tatsache, dass Beziehungen – nicht abstrakt, sondern konkret und in ihrer Allgemeinheit – tödlich sind. Die Bezeichnungen des Chor-Körpers als Zone von Nachbarschaften, Netzen, Milieus oder Geflechten usw. sind alle zutreffend. Chor-Körper stehen im Offenen, das weder in der Zeit (als Zukunft) noch im Raum (als Kolonisation) vor ihnen liegt. Chor-Körper sind ohne koordinierte Orientierung (das unterscheidet sie vom Kollektiv). Das Offenstehende von Chor-Körpern hängt an der einfachen Tatsache, dass es unmöglich ist, Leben ohne einen permanenten Flow von Austausch oder Wiederholung zu erhalten, der sich außerlogisch vollzieht und der nicht regiert werden kann. Im Flow tritt die absolute Fähigkeit der Soziabilität als vieldimensionierte Teil-


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Aischylos Sophokles / Antike Konstellationen

nahme in den Vordergrund. Sie stellt sich als solche aus und beginnt sogleich, sich in ihrem Durcheinander-Hindurch zu modulieren. Es ist ihrer bloßen Pluralität geschuldet, dass soziable Körper chorisch verfasst sind (als socius, der mitgeht) und Chor-Körper bilden, die als solche jeweils situiert sind, sodass jederzeit andere Umgebungen und raumzeitliche Netze emergieren (erweiterter Chorbegriff). Chor-Körper bilden Kraftfelder aus, die von der Dichte ihrer Teile und Temperaturen abhängen, aber auch von der relativen Stärke anderer wirkender Felder. (Die Physik kennt elektrische, magnetische und gravitative Felder oder Kombinationen davon.) Jedes Kraftfeld kennt stärkere oder schwächere ‚Lösungen‘ dieser Faktoren, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit affizieren. Sie kommunizieren ohne äußere Einwirkung, indem sie über durchlässige Grenzen hinweg Bewegungsflüsse bilden. Ihre Dynamik ähnelt nicht von ungefähr jenen „Strahlungen“, die der Soziologe Gabriel Tarde unter die Gesetze der Nachahmung zählt, mit denen dichtere Konzentrationen auf geringeren wirken und einen „Nachahmungsfluss“ in Gang setzen, der nach Ausgleich strebt.147 Die mikro-mimetischen Prozesse im Chor-Körper sind ähnlich vorzustellen: Flüsse, Impulse und Affekte, ausgelöst durch unterschiedliche Konzentrationen und zufällige Eigenbewegungen der Teilchen. Diese Transporte machen das Kraftfeld eines Chors aus und entsprechen dem Begriff der Droge, mit dem Schleef die Beziehungsweise des Chors bezeichnet. Jede Droge löst. Sie unterläuft Fixierungen, Normierungen, öffentliche politische Muster und spielt dennoch nicht einfach jenseits davon. Die osmotischen Prozesse von Chor-Körpern wären daher als transpolitische zu bezeichnen, die in sich selbst bedingt sind. Sie lösen sich auf, wenn die Dichte der Teile geringer wird, die Temperaturen unter einen kritischen Punkt sinken und die Transportprozesse stocken. Das Feld der mikro-mimetischen Prozesse zerfällt an irgendeinem Punkt zwischen übermäßiger und ausbleibender Verbindung. Es kann sein, heißt es bei Tarde ebenda, dass der Nachahmungsfluss seine Ufer hat.


Bernd und Hilla Becher, Transformator, Bous, Saarland, D 1970



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II Kleist

Abfall der Könige, Fürsten

und Väter

Mit Kleist geht es um die Schwelle 1800. Das ist ein gewaltiger Zeitsprung. Aber das fünfte vorchristliche Jahrhundert und die Moderne sind auch miteinander verklammert. Was sich in den griechischen Poleis begründete und durch mehrere Epochen- und Weltwechsel hindurch zur Traditionslinie europäischer Souveränität verdichtete, erscheint nun als zu Ende gegangene Epoche der Könige. Die Fragen der Zusammengehörigkeit von Gattungswesen reißen mit aller Wucht auf. Die besondere Lücke, die der Teufel lässt, klafft um 1800 in der patriarchal, römisch-christlich konnotierten Achse einer Genealogie, die sich vom Vater auf den Sohn zählen wollte. Doch anders als ihr Dogma behauptet, führt diese Achse zu keinen Abfolgen. Das römische Prinzip der Filiation scheint von Grund auf gestört. Väter, Fürsten und Könige entfallen um 1800 nicht einfach, aber sie fallen ab. Sie lassen nach und verstricken sich dabei in verheerende oder martialische Abwehrkämpfe. Im Moment ihrer Erschöpfung und damit einhergehender äußerster Verwahrlosung der Jüngeren (Söhne) entwirft Kleist sein größeres Theater, das vom Chor ausgeht. Hier hat ein unbestimmtes Volk jeglichen Alters und Geschlechts seinen Auftritt. Es erinnert und zitiert die Orchestra aus der antiken Konstellation und spielt auf ihrem Grund. Ich zeichne Kleists größeres Theater am Beispiel des Guiskard-Fragments nach und folge den Spuren, die es im Prinz von Homburg zeitigt.


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Kleist / Abfall der Könige, Fürsten und Väter

Um 1800

„Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr“, heißt es bei Hölderlin im Empedokles. Hölderlin sieht eine neue, zukünftige Zeit aufziehen, die Zeit der Vielen. „Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte“, schreibt er 1793 an seinen Bruder und sehnt herbei, was sich vielleicht als „kommende Demokratie“ (Derrida) denken lässt. Jörn Etzold unterstreicht diese Aspekte in seiner Studie zum Empedokles, in der er Hölderlins dritten Entwurf unter den Begriffen „Abschied und Chor der Zukunft“148 charakterisiert. Unter den dramatis personae verzeichnet Hölderlins Entwurf an letzter Position einen „Chor der Agrigentiner“ und notiert auf dem folgenden Blatt das Fragment eines Gesangs, das mit den Worten „Neue Welt“ überschrieben ist. Etzold zufolge steht dieser Gesang dramaturgisch an der Stelle der Parodos, jenem Lied, mit dem der antike Chor das Theater eröffnet. Es handele sich mithin um einen „ersten Einzug des Chores in das Theater Hölderlins“149. Dann bricht jedoch an dieser Stelle der dritte Entwurf und damit das gesamte Projekt des Trauerspiels ab. Without, mit ohne Chor könnte man sagen, wenn man die letzte Notiz zu diesem Projekt bedenkt, die sich auf der Rückseite des Blattes mit dem Fragment „Neue Welt“ findet. Hölderlin notiert: „+ Chor. Zukunft“. Vor diesem Hintergrund vertritt Etzold in seiner Studie die These, dass Hölderlins späte Hymnen als Chorgesänge zu begreifen sind und portraitiert sie auf folgende Weise: „Die Gesänge sind für einen künftigen Chor der Vielen geschrieben, der in der ‚Gegend‘, in die das Geschehen des Trauerspiels Empedokles wanderte, einen nur ephemeren Auftritt finden konnte.“150 Die Zeit der Könige ist in postrevolutionären Zeiten dahin. Das ist das eine. Der König wurde geköpft und nun, nachdem das Volk im „Heiligtum der Volksvertretung“ (Robespierre) immer weniger Vertretung gefunden hatte, war auch das Gemeinwesen in einer Krise. In existenzielle Kämpfe für das Überleben im Einzelnen verstrickt, bringt das Volk weder die Einheit noch die Kraft auf, eine neue Vertretungsform zu konstituieren. So wird dies auch die Zeit für einen neuen Retter, der nicht wie die absolutistischen Herrscher aus dynastischen Kämpfen und Erbfolgen hervorgeht, sondern der sich auf Verwaltungen und militärische Strukturen stützt, die ihm als alleinigem Herrscher zuarbeiten. Mit anderen Worten, es ist die Stunde für einen charismatischen Helden, der sich selbst die Krone aufsetzt und die Züge Napoleon Bonapartes trägt.


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Das andere ist, dass mit der Zeit der Könige auch die Epoche einer göttlich verbürgten Souveränität vorbei ist. In einer Zeit ‚nach Gott‘ ist es auch mit den Gesalbten Gottes vorbei. Es geht daher nicht nur um Souveräne, deren Abschöpfung sich immer unverhohlener als Zugriff auf Güter, Dienste, Arbeit und Blut vollzogen hatte und die sich immer schwerer damit getan hatten, Untertanen von ihrer Zusammengehörigkeit zu überzeugen. Es geht nicht nur darum, dass sich in ihren Staatsgebilden ‚nach Gott‘ allmählich das Gesicht einer Souveränität herausschälte, in der Untertanen sich nicht mehr gespiegelt, sondern eine Welt in tödlicher Auflösung und eine unbekannte Zukunft heraufziehen sahen. Die Fraktur ‚nach Gott‘ berührt in vollem Umfang auch sämtliche Fragen der Genealogie. Betroffen sind nicht nur die Fragen patrimonialer Dynastien, die im Namen väterlicher Souveräne Abfolgen und Nachfolgen ordneten und auch nicht nur die Fragen der göttlichen Verbürgung ihrer Legitimität, der Legitimität „geweihter Könige“, wie es bei Kantorowicz heißt. Sehr viel weitergehend betrifft diese Fraktur eine Frage der Gattung, die im christlich-römischen Geltungsbereich mit dem Prinzip der Zusammengehörigkeit aller Menschen in einer geschaffenen Gattung beantwortet worden war. In einer Zeit nach Gott verliert dieses Prinzip jedoch seinen Signifikanten und damit seine Gültigkeit als umklammerndes Prinzip. Am Ende dieser langen Periode des christlich-römischen Monotheismus bricht daher der gesamte trouble auf, mit dem sich der inklusive Gattungsbegriff in vorchristlicher Zeit einst durchgesetzt hatte. Die Klammer ist weg und alle Bezüge sind erschüttert. Das Prinzip der Zusammengehörigkeit aller in einer Gattung offen – und erfährt in der Deklaration der Menschenrechte eine niemals zu ihrem Ende kommende, fragile Lösung. Ebenso sind die Fragen von Genealogie und Filiation offen, mit denen die Leitidee einer Wiederholung des Menschen durch je zwei Menschen dereinst konkretisiert und einer vorläufigen Lösung zugeführt worden waren. In den Suchbewegungen, die um 1800 an Fahrt aufnehmen, häufen sich Untersuchungen und Theorien, die von der Erziehung zum Menschengeschlecht (Lessing) handeln, vom Staat, von Gemeinwesen, von der Geselligkeit oder der Menschenbildung. Die Akzente werden verschieden gesetzt. Ganz grob lassen sich jedoch zwei Tendenzen unterscheiden, die auf eine unterschiedliche Tiefenstruktur der Fraktur um 1800 reagieren. Die erste Tendenz widmet sich den


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Thematiken der Zusammengehörigkeit in einem Gemeinsamen und reagiert damit darauf, dass die Zeit der Könige vorbei ist. Sie nimmt also eine nach-dynastische oder postrevolutionäre Epoche in den Blick und verbindet diese mit Hoffnungen auf das Kommune und kommende demokratische Entwicklungen. Eine zweite Tendenz widmet sich Thematiken der Nicht-Zusammengehörigkeit. Sie nimmt die Bodenlosigkeit jeder nur-menschlichen Vereinbarung in den Blick und misstraut insgesamt einer fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung. Was für die erste Tendenz die Rechtlosigkeit im Politischen ist, begreift die zweite Tendenz als Grundlosigkeit, die bei Nietzsche ihre programmatische Formulierung findet: „Gott ist tot“. Die zweite Tendenz ist mit dem Trouble auf der Ebene der Gattungsfrage verknüpft und greift oft weit zurück, vorzugweise auf das archaische oder klassische vorchristliche Griechenland. Beide Tendenzen können sich auch überschneiden oder vermischt auftreten, sodass es wenig sinnvoll erscheint, sie vorab scharf voneinander trennen zu wollen. Für beide Tendenzen indessen, die sich aus der Fraktur um 1800 speisen, spielt das Theater eine herausragende Rolle. Wie das Publikum gemeinsam wird

Für Suchbewegungen der ersten Tendenz steht das Theater Modell für eine bestimmte Form von Gemeinschaft und Zusammenhang ein, der theoretisch als „nationaler“ (Lessing) oder als „ästhetischer“ (Schiller) Zusammenhang gedeutet werden kann. Ich möchte hier zunächst kurz diese erste Tendenz beschreiben und einen Bogen skizzieren, der sich um 1800 aufspannt und in dessen Fragehorizont wir in gewisser Weise immer noch stehen. Dieser Bogen geht in jeglicher Hinsicht von der um 1800 konstatierten Not der Zusammengehörigkeit aller aus. Er spannt sich über die Hoffnungen, die sich auf das Theater richten und weit darüber hinaus, über das intensive Nachleben der republikanischen Feste bei Rousseau bis hin zur performativen Versammlung und reicht schließlich bis zu den Demokratiebewegungen unserer Tage, die keinen gemeinsamen Nenner haben und sich der Logik der Repräsentation entziehen. Verfassungen, Korporationen und politische Institutionen scheinen nicht geeignet, das Gemeinsame einer Gemeinschaft herzustellen. Hingegen erscheint das Theater des „emanzipierten Zuschauers“, wie es von Jacques Rancière charakterisiert wird, „als eine Form der


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ästhetischen Verfassung – der sinnlichen Verfassung – der Gemeinschaft“151. Idealtypisch und gewissermaßen im Geist derer, die um 1800 ihre besonderen Hoffnungen auf das Theater setzten, beschreibt Rancière das im Theater versammelte Publikum als eine Zusammenhangsform, die nicht-institutionell funktioniert und eine gemeinsame res publica der Vielen „vorformt“. Denn das Gemeinsame bedeutet, „einen Ort und eine Zeit zu besetzen, als Körper in Aktion und nicht als einfacher Gesetzesapparat, eine Gesamtheit von Wahrnehmungen, Gesten und Haltungen, die den Gesetzen und den politischen Institutionen vorausgeht und sie vorformt“. Hervorgehoben werden damit die versammelten Körper, die einander mit ihren verschiedenen Wahrnehmungen, Gesten und Haltungen affizieren und dieserart eine „Gesamtheit“ herstellen, die niemandem gehört und in deren Namen niemand sprechen kann. Dezidiert spielen diese versammelten Körper vor dem Gesetz und damit vor der Repräsentation durch eine Institution, die sie jedoch zugleich „vorformen“. Was Rancière damit vorstellt, ist nichts anderes als eine ästhetische Revolution. Isabell Lorey spitzt diese Rancièresche Vorstellung zu und fordert, sie konsequenterweise vom Theater zu lösen. Die bei Rancière noch in einem Theater versammelten Körper werden von Lorey in einem stark erweiterten Sinn als eine „Mannigfaltigkeit aufeinander bezogener Singularitäten“152 definiert, die in der Lage seien, ein „anderes“ Gemeinsames nicht nur vorzuformen, sondern es zu praktizieren.

„[Die] Ermächtigung [der derart Versammelten, UH] entfaltet sich weniger, indem sie sich aufführen und erneut eine Bühne schaffen, indem sie theatral oder für die Inszenierung funktional partizipieren, sondern indem sie am wechselseitigen Austausch mit anderen Beliebigen teilnehmen und davon affiziert werden. Wenn das Publikum in dieser Weise die Bühne besetzt, setzt es sie aus, es bricht mit der theatralen Inszenierung. So entstehen potenziell neue Räume des Gemeinsamen, in denen ein anderes Zusammenleben nicht nur verhandelt und erfunden, sondern an Ort und Stelle bereits praktiziert werden kann. Dieses Praktizieren verstehe ich als eine präsentisch-performative Macht.“153

Es geht an dieser Stelle nicht darum, die aufgeführten Positionen im Einzelnen zu diskutieren, sondern nur um die Skizze eines Bogens, der mit der Fraktur „um 1800“ einsetzt und die Bahn verfolgt,


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wie das Publikum gemeinsam wird. Ihr Bogen führt aus der Unscheinbarkeit abgebrochener Versuche (Hölderlin) über die ausgesetzte Bühne der republikanischen Versammlung (von der Rousseau träumte), hin zur „performativen Versammlung“ (Butler) und schließlich zu einer neuerlichen „Ermächtigung“ und zu einem Begriff von „Macht“ (Lorey), der m. E. notwendig unklar bleiben muss. In der Beschreibung dieses Bogens wird eine Dynamik deutlich, die darauf insistiert, sich vom Theater zu lösen. Wir präzisieren an dieser Stelle jedoch, von einem Theater, wie wir es kannten: von einem Theater, das am souveränen Auftritt des Protagonisten orientiert ist und seinen Begriff des Schauspielers von daher bezieht. Im skizzierten Bogen vom Publikum, das gemeinsam wird, arbeitet jedoch auch ein Chor, der aus dem beengten Rahmen eines durch und durch familiarisierten Innenraumtheaters heraustritt und sich in einer Werdenszone der Teilnahme ausbreitet. Vom Chor im Theater, wie wir es kannten

Das Theater, wie wir es kannten, hat in zahllosen Varianten die These vom Chor als minderwertigem Mitspieler vertreten oder die Vorstellung einer Überhöhung gepflegt, indem der Chor als sinnlich mächtige Masse im Bühnenraum eingesetzt wurde. Auf diese Weise hat es den Chor zu niedrig oder zu hoch gehandelt und ihn unkenntlich werden lassen, während die namentlich ausgezeichneten Protagonisten in der Mitte des Theaters platziert und ihre Erscheinungen mit Bedeutung, Macht, Potenz, Mannbarkeit und Gegenwart ausgestattet wurden.154 Zu niedrig: Die These vom Chor als einem minderwertigen Mitspieler geht auf die bekannte Anmerkung von Aristoteles zurück, dass der Chor ‚wie ein Schauspieler‘155 aufzufassen sei. Um 1800 wird ein Begriff vom Schauspieler unterstellt, der am Protagonisten orientiert ist und mit den Imperativen von Position, Ausdruck, Entscheidung und Handlung einhergeht. Die Handlung wird als aktives Tun von Protagonisten definiert, so wie das antike Theater als Dispositiv der Aneignung von Handlungskompetenzen durch den Menschen begriffen wird. Die von Prometheus als GottvaterRebell und Kulturschöpfer begeisterte Epoche um 1800 hat dies geradezu als ihr Modell erachtet. Dichter und Denker imaginieren sich als prometheische Helden, wie jene wollen sie in die geschichtliche Zeit eingehen, in ihr fortschreiten und wie jene sich fortsetzen, gründen, schöpfen und zeugen. Ihr Modell verehrt die


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Tat, das Werk, die Arbeit, den Fortschritt. Es feiert „die Glorie der Aktivität“, wie sie Nietzsche in Prometheus erkennt.156 Griechenlandverehrer um 1800 sehen den Protagonisten, der in sein vita activa startet, direkt aus der antiken Szene hervorgehen. Er erscheint ihnen geradezu als Prototyp des Menschen, der die Natur zähmt und die Götterwillkür endet. Die umfassendere Dimension eines passivischen Gehandelt-Werdens ist unkenntlich oder aufgegeben worden. Kein Gedanke daran, dass im antiken Drama vielursprüngliche Ereignisse (pragma) handeln und nicht der Mensch (anthrōpos).157 Gemessen an einem Schauspieler-Protagonisten, muss der Chor als unqualifizierter und unfähiger Akteur gelten. Er ist als wankelmütiger Mitspieler mit vermindertem Weltanteil beschrieben worden, als gebrochener, unsympathischer, unsicherer Mitspieler, als tatenloser Zuschauer, als ratloser, verwirrter, hilflos schwankender und irrender Geselle. Man hat seine intellektuellen Fähigkeiten bezweifelt und sein Jubeln, seine Angst, sein Zittern und Zagen, sein Klagen und Schreien für unangemessene, übertriebene Affekte oder schlicht für einen Mangel an Selbstbeherrschung gehalten. Seine insgesamt gebrochene und widersprüchliche Beteiligung am tragischen Geschehen ließ den Chor derart unter das Niveau der Helden sinken, dass er dafür auch verachtet wurde. Seine Passagen fielen radikalen Strichfassungen zum Opfer. Gerne ließ man seinen Text durch einen Einzelschauspieler sprechen, der häufig in die Rolle eines Dieners gesteckt wurde und neben den Protagonisten zum Idioten der Familie verkam. Zu hoch: Wo der Chor als Überhöhung der Figur des Einzelnen geschätzt wurde, wo brüderlichen Konkurrenten um die Macht jeweils ein großer Chor an die Seite gestellt wurde (Die Braut von Messina, 1803), wo Ödipus mit siebzigköpfigen Gefolge auftrat (Oedipus Rex, Teatro Vicenza, 1584) oder der Chor nach katastrophal ungelöster Haupthandlung die abschließende Szene in einen Triumph der Oper ummünzen soll (Idomeneo, 1781), wo die bloße Anzahl und die große sinnliche Masse seiner Figur geschätzt wurden, handelte es sich stets um die Absicht, mit der Masse einen Raum zu beherrschen und die Bühne in die Machtfülle ihrer Repräsentationsleistung zu überführen. Denn die Bühne erscheint in diesen Versionen als ein randständiger Ort, dessen Armut in seiner bedingungslosen Sichtbarkeit beschlossen liegt. Die Einzelfigur scheint an ihm verloren und stets in Gefahr, ihrer eigenen Marginalität zu erliegen.


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Daher wurde für die Darstellung von bedeutenden Personen oder Zusammenhängen stets auf den Chor als dekorative Masse zurückgegriffen. Die Masse als Erscheinungsweise einer Summe, die sich der fokussierenden Vereinzelung widersetzt, soll die Bühne mit überwältigender Erhabenheit ausstatten. Aus dieser Geschichte resultiert die zähe Vorstellung vom Chor als einem monolithischen Block. Wie ein aus Vielen zusammengesetzter Riese bewegt er sich nur mühsam und verharrt daher meist unbeweglich an den Rändern oder im Hintergrund der Bühne. Der Chorblock in seiner debilen, starren Größe wird entlang seines Umrisses als Einheit wahrgenommen, die aus einer Bildwirkung des optisch erschlossenen Innenraums des Theaters resultiert. Im übertragenen Sinn hat sie dazu geführt, dem Chor all jene Fundamentalismen zuzuteilen, die ihn für angebliche Traditionshüter attraktiv und für Antikonformisten unannehmbar machen: Allmacht, Allgegenwart, Souveränität, Identität. Der Chor soll den ‚Geist‘ eines Volkes oder einer Nation repräsentieren. Er soll eine Versammlung von treuen Gefährten darstellen, von Genossen oder Gläubigen, alle tendenziell bereit, mit einer Stimme loszubrüllen. Das wäre dann die faschistische Variante. Die auf den Chor projizierte Vorstellung von Einheit und Identität resultiert aus der vergleichsweise kurzen Geschichte des modernen Theaters. Sie ist derart mächtig, dass die Widersprüche und Paradoxien dieser Vorstellung kaum reflektiert wurden. Sie beginnen mit der einfachen Frage, wie denn ein solcher Monolith überhaupt auf die Bühne gelangt, denn jeder Auf- oder Abtritt müsste ihn als vielgestaltig auseinandertretende Figur zeigen. Eine Einheit kann schlichtweg weder auf- noch abtreten. Häufig wird der Chor durch die Lichtregie verborgen, bevor er ‚auf einmal‘ erscheint. Regelrecht bizarr ist der Einfall zu nennen, den Chor von der Unterbühne aus wie auf einem Tablett nach oben zu fahren. Fragen, woher der Chor kommt und wo er im Theater seinen Ort hat, führen sehr schnell über ihren vermeintlich theaterpraktischen Zuschnitt hinaus und rühren an eine von der visuellen Kultur der Neuzeit überlagerte Topologie des Theaters.158 Denn unter dem Theater, wie wir es kannten, liegt ein Theater, das wir nicht kennen.


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Ein Theater, das wir nicht kennen

Wenn wir nicht den Weg verfolgen, wie das Publikum gemeinsam wird, und wenn wir das moderne Dispositiv des Theaters nicht auf sich beruhen lassen, dann sind wir bei den Suchbewegungen angelangt, die ich als zweite Tendenz charakterisiert habe, die aus der Fraktur um 1800 hervorgeht. Bei einem Theater, das wir nicht kennen, handelte es sich demnach um ein Theater der Nicht-Zusammengehörigkeit, der Bodenlosigkeit und des Misstrauens in nur-menschliche Vereinbarungen und eine geschichtlich fortschreitende Zeit. Mit anderen Worten: Ein Theater, das wir nicht kennen, geht vom Chor aus. Ein solches Theater favorisiert nicht das Gemeinsame und nicht das Kollektiv, denn der Chor bildet eine Form fortwährender Teilung. Er bildet eine immer nur kommende Form, die sich zerstreut und endet, wenn Affekte und Mitteilungen einander nicht mehr berühren. Vom Chor auszugehen, heißt: in eine ereignishafte Zeitlichkeit einzutreten, die etwas ganz Anderes meint als jenen Jetzt-Punkt, an dem sich eine Gemeinschaft feiert oder sich der Auftritt eines Helden mit überwältigender Präsenz vollzieht. Vom Chor auszugehen, heißt: in eine Gegenwart einzutreten, die sich als intensive und infinite Werdenszone ausbreitet. Als eine sich ausdehnende Sache umfasst diese Zone die anderen Zeiten, kommende wie vergangene, die einander – sich wie ein Chor unendlich teilend – berühren. In allen Punkten widersetzt sich ein Theater, das von den Strukturmerkmalen der Chorfigur durchzogen wird, der Einheit, der Zusammengehörigkeit, der Vergewisserung eines gemeinsamen Bodens und solchen Schauspieler-Protagonisten, die dem Kult des großen Schauspielers anhängen. Es entzieht sich der Repräsentation und ihren Logiken, die im Dienst einer Staatlichkeit stehen, einer Polis oder einer Politik der Innenbildungen. Erweitern wir also den Chorbegriff und lösen ihn davon, eine Gruppe von Darstellern zu bezeichnen. Ein Chor bezeichnet, seinem unbestimmten Artikel zufolge, ‚mehrere Personen‘ oder Mehreres, aber keine explizite Gruppe oder ein Kollektiv. Ziehen wir in einem nächsten Schritt diesen unbestimmten Chorbegriff zu Rate, um dem Gemeinplatz, dass es sich beim Theater um eine ephemere Kunst handele, auf die Sprünge zu helfen. Für ein Theater, das vom Chor ausgeht, kann die vielbeschworene Flüchtigkeit des Theaters nicht auf der Ebene einer triadisch geordneten Zeitlichkeit angenommen werden, die mit niemals wiederkehrenden Augenblicken rechnet, die für immer verlorenen


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Stunden nachhängt und die daher stets alle ihre Hoffnungen auf eine Zukunft setzt, die nicht heute ist, sondern morgen kommen soll. Diese Zeitlichkeit eines unumkehrbaren Verlaufs ist nicht nur eng mit einem isoliert begriffenen Protagonisten verbunden, der sozusagen von Geburt an seinem Tod entgegengeht, sondern sie bestimmt auch die Vorstellung eines geschichtlichen Ablaufs und kommt mit dem Fortschrittsbegriff von Geschichte insgesamt überein. In diesen Ablauf gebettet, gilt das Jetzt als unwiederholbar und schon im Moment seines Auftauchens für unwiederbringlich verloren. Es gleicht jenem theatralischen Moment, mit dem Helden (Schauspieler) sich in Szene setzen, die alle Erwartungen zu erfüllen versprechen. Eingespannt zwischen einer wie auch immer überwundenen Vergangenheit und zukünftigen Versprechen, gerät dieses Jetzt zu einem Punkt ohne räumliche Ausdehnung. Im Gegenteil zu jenem Augenblick, der sich aus einer Berührung von Vergangenheit und Zukunft herauslöst und zu schweben scheint, bildet dieses Jetzt den Moment einer leeren Gegenwart. Nachträglich und nicht ohne, dass ihr ein melancholisches „Verweile doch!“ angeheftet worden ist, lässt sie sich auf einem Zeitstrahl anordnen, der die verschiedenen Tempi unerbittlich voneinander trennt und auf Abstand hält. Für ein Theater, das vom Chor ausgeht, können wir kein punktförmiges Hier und Jetzt annehmen. An seiner Stelle ist von einer Raumzeit auszugehen, die notwendiger Weise nicht eine ist. In ihren Auftritt spielt eine nicht überwundene Vergangenheit hinein, mit ihrem Auftritt ist ein Zukünftiges schon im Werden begriffen. Überhaupt ist der Auftritt wie eine vielschichte Zone vorzustellen, in der sich verschiedene Gegenwarten von Beteiligten verzweigen und ausdehnen, unter ihnen vormalige und künftige Gegenwarten unterschiedlicher Dichte und Reichweite. Statt auf ein Ende zuzugehen oder diesem Ende entgegenzufiebern, weil man von ihm die Lösung eines geschürzten Knotens erwartet, verwickeln sich Gegenwarten im transitorischen Raum von Theater zu einer res extensa. Unter der Bedingung, dass nicht das Ende, sondern das Anfangen fokussiert wird, gleicht die Gegenwart der flächigen, ausgedehnten Zone eines unbestimmten Werdens, in der sich alles verzweigt und sich mehr Mitspieler einstellen, als wir es uns haben träumen lassen. Ein Theater, das von seinen Auftrittsbewegungen her aufgefasst wird, wird – implizit oder explizit – vom Chor aus definiert. Es eignet sich in allen seinen Zügen besonders für eine Kunst des Anfangens, der Ankunft und des Zur-Welt-Kommens.


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Der Auftritt als Zone einer nicht komprimierbaren res extensa ist auch der Gegenstand einer eigenen Auftrittswissenschaft, die geeignet ist, die besondere Flüchtigkeit des Theaters aus seinem Zeitkorsett der Ablaufzeit zu lösen und „Theater als transitorischen Raum“159 zu begreifen. Unter dieser Voraussetzung fragen Juliane Vogel und Bettine Menke nach „Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden“. Sie stellen heraus, dass die Bühne im transitorischen Raum von Theater allererst in der Berührung mit denjenigen entsteht, die von woanders her aufgebrochen sind, um zu erscheinen. Die Bühne entsteht mit den Auftrittsbewegungen von Fliehenden im konkreten sowie im übertragenen Sinn. Jeglichem Auftritt in einem Erscheinungsraum sind Aufbrüche vorausgegangen. Oftmals erzwungene Aufbrüche, die aus existenzieller Ortlosigkeit, Vertreibung, Verfolgung oder erlittener Gewalt resultieren und die ihr Pathos mit auf die Bühne tragen. Juliane Vogel macht darin „den Pathoskern allen In-Erscheinung-Tretens“ aus.160 Theater, das von seinen Auftrittsbewegungen her gesehen und begriffen wird, ist kein Behälter für Versammlungen. Es bildet sich vielmehr als transitorische Zone, als Übergang, als Frist und als bloßer Aufschub. Es bildet die Stelle eines vielfältigen Zauderns und Zögerns noch vor jeder Entscheidung und deren Unhaltbarkeit. Vom Chor aus begriffen, ist Theater darüber hinaus immer ein Ankunftsraum von Vielen. Denn wie der Protagonist, kann auch ein Singuläres nie alleine oder unabhängig erscheinen. Vieles liegt schon uneigentlich versammelt in einer „Gegend“ (Etzold) vor, in der ein Auftritt sich vollzieht, der stets „aus dem Grund“ (Vogel) erfolgt, und zwar in jeglicher, mit dieser sprachlichen Wendung verknüpfbaren und denkbaren Hinsicht. Das Singuläre ist stets Ankunft zu Vielen. Wie der Chor ist dieses Theater zu instabil, um sich selbst zu behaupten, zu flüchtig, um die Umrisse einer wiedererkennbaren Figur anzunehmen, und zu fremd, um in die Geschichte von Protagonisten einzutreten. Wie der Chor ist dieses Theater eher mit dem liiert, was jeder Genealogie und jeder Gemeinschaft als deren eigener unmöglicher Zusammenhang inhärent ist. Es ist spezialisiert auf Auftrittszonen, die aus vielfachen, mannigfaltigen Ko-Akteuren gewebt sind, zu denen Temperaturen und Licht ebenso zählen wie Dinge oder Wesen aller Art. Es ist auf Sphären spezialisiert und mit räumlichen Begriffen zu beschreiben, die keine Entweder-oderStrukturen kennen. An deren Stelle gibt es nur Zonen der größeren oder geringeren Annäherung oder Entfernung.


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Chor mit Kleist

Wie kaum ein anderer hat Kleist für ein Theater, das wir nicht kennen, gebrannt. Er hat uns von diesem Theater ein Bild mitgeteilt, das in einer verallgemeinerten und zugleich radikalisierten Weise das griechische Amphitheater erinnert. Wenn wir Kleist als einen Autor begreifen, der aus der Zeit um 1800 am weitesten in unsere Gegenwart hineinreicht, so hängt das auch mit diesem Bild zusammen. Jäh und vollständig taucht es zum ersten Mal in einem Brief von Kleist aus dem Oktober 1800 auf, in dem er seiner Braut den Anblick der Stadt Würzburg schildert: Er habe die Stadt zuerst „von dem Berg aus“161 erblickt und gefunden, dass die Stadt „von dieser Seite am Schönsten sei“. Kleist notiert, dass er sie von dort „in der Abenddämmerung, nicht ohne inniges Vergnügen“ gesehen habe. Dann legt er über den Anblick der Stadt Würzburg das Bild einer unbestimmten Erinnerung. Fast zehn Monate später wird er dieses Bild einer Erinnerung, im Brief an eine andere Adressatin, noch einmal über die Stadt Mainz legen.162 Im Brief aus dem Oktober 1800 heißt es:

„In der Tiefe, sagte ich, liegt die Stadt, wie in der Mitte eines Amphiteaters. Die Terrassen der umschließenden Berge dienten statt der Logen, Wesen aller Art blickten als Zuschauer voll Freude herab u. sangen u. sprachen Beifall, oben in der Loge des Himmels stand Gott. Und aus dem Gewölbe des großen Schauspielhauses sank der Kronleuchter der Sonne herab, u. versteckte sich hinter der Erde – denn es sollte ein Nachtstück aufgeführt werden. Ein blauer Schleier umhüllte die ganze Gegend, und es war, als wäre der azurne Himmel selbst her-nieder gesunken auf die Erde. Die Häuser in der Tiefe lagen in dunklen Massen da, wie das Gehäuse einer Schnecke, hoch empor in die Nachtluft ragten die Spitzen der Thürme, wie die Fühlhörner eines Insects, u. das Klingeln der Glocken klang wie der heisere Ruf des Heimchens – und hinten starb die Sonne, aber hochrot glühend vor Entzücken, wie ein Held, und das blasse Zodiakal-licht umschimmerte sie, wie eine Glorie das Haupt eines Heiligen – –“

Kleist beschreibt eine Stadt, die sich aufführt. Sie liegt unter dem Blick des Himmels auf dem Grund eines Amphitheaters. Die Stadt bildet den von diesem Theater eingeschlossenen, künstlichen Grund. Sie wirkt durch ihre Einschließung irgendwie stigmatisiert, aber noch nicht getrennt von der Landschaft, die ihr von allen Seiten zu-


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sieht. Die Stadt füllt die Orchestra aus, die Terrassen der umgebenden Berge bilden die Reihen der aufsteigenden Cavea. Das Theater ist voller Zuschauer. Wesen aller Art füllen die Cavea, blicken, singen und sprechen Beifall. Gespielt wird im Licht des griechischen Theaters: im Tageslicht mit seinen permanenten Helligkeitsmutationen und drastischen Farbwechseln, zu denen es vor allem im Sonnenuntergang oder -aufgang fähig ist. Aufgeführt wird der Übergang vom Tag zur Nacht. Der Protagonist in diesem Stück ist das Licht, personifiziert in der Sonne. Er wird begleitet von der Stadt am Ort des Chors. Das Stück hebt an, indem der azurne Himmel die ganze Gegend in einen blauen Schleier hüllt. Die Stadt geht aus ihrer blassen Flächigkeit in die Plastizität der blauen Stunde über. Sie nimmt Schatten auf und wechselt jäh ihren Charakter. Sie bildet Haufen, dunkle Massen, ragt, fühlt, klingt oder ruft. Sie begleitet den gewöhnlichen Tod der Sonne, die ihn an diesem Abend, vor Entzücken hochrot glühend, heldenhaft gibt. Das Stück endet in der nicht endenden Umgebung dieses Theaters jedoch nicht, ohne noch einen weiteren Übergang bzw. einen zweiten Schluss zu geben, in dem ein noch einmal ganz anderes Licht und andere Farben auftreten. Nach dem Untergang der Sonne erscheint das Zodiakallicht am Himmel. Es ist aus interplanetarem Staub gemacht bzw. aus dem, was diese Staubpartikel nächst der Erde vom restlichen Licht der Sonne reflektieren. Es ist ein irisierendes, mannigfaltiges Licht, ein unendlich zusammengesetzter Schein. Die Nacht, die den Bezug zum Licht löscht, ist nicht mehr Gegenstand der Aufführung. Es handelt sich um ein Theater, das sich vor aller Augen, vor aller Welt vollzieht. In Kleists Beschreibung kommt es ohne Menschen aus. Seinen unwiderstehlichen Schwung bezieht dieses größere Theater Kleists aus seiner unbegrenzten Umgebung. Hier lädt es sich mit reiner Intensität auf. Von hier aus pulsiert es in den Stücken und Erzählungen Kleists und taucht in ihnen als ein Aufblitzen reiner Äußerlichkeit au milieu auf. 163 Kleist steht hier für das Nadelöhr der Moderne, das uns zur Differenzierung zwingt zwischen einem Theater, wie wir es kannten, und einem Theater, das wir nicht kennen. Dabei liegt das Letztere nicht verborgen, unsagbar oder vergessen unter dem ersten, und das Erstere ist nicht einfach das falsche, das zur Stütze einer staatlichen Ordnung und ihren Dispositiven gehört. Vielmehr wird hier eine Unterscheidung angestrebt wie jene, die Foucault zwischen Erkenntniskritik einerseits und kritischer Gegenwartsontologie an-


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dererseits einzieht: Erstere ist als Kritik mit den stehenden Einrichtungen einer Gesellschaft verknüpft, mit ihren Gerichtssälen, Universitäten, Theatern. Letztere hingegen ist mit einer „zusammengetragenen, koordinierten, angewandten Erkenntnis“ verbunden, die erstere Erkenntniskritik ‚wie ein Sternenhimmel‘ überwölbt, aber als solche „nicht ganz zur Ordnung der Erkenntnis gehört“164. Damit möchte ich verdeutlichen, dass bei Kleist nicht einfach auf ein ehedem größeres Theater rekurriert. Ein Theater, das wir nicht kennen, ist keiner historischen Methode zugänglich und es ergibt sich aus keiner noch so kritischen Erkenntnis oder gründlichen Analyse des Bestands. Ein Theater, das wir nicht kennen, will den Fehler weder abschaffen noch überwinden, sondern setzt ihn vielmehr voraus als eine Sache, mit der wir zu tun haben und in die wir hineingeraten sind. Es stellt nichts in Aussicht, sondern stellt das Nicht-Akzeptierbare an den Anfang seiner Arbeit. Von der Seite her, so wie Kleist die Stadt Würzburg erblickt, oder aus dem Abseits, wie Jelinek sagt, wird das Dispositiv des Theaters nicht rundheraus abgelehnt, sondern bezweifelt, in dieser Weise schon alles gewesen zu sein. Für ein Theater, das wir nicht kennen, entstehen Stücke, die stets in der Haltung von Schutzflehenden vor die Instanzen der Repräsentationssysteme getragen werden – so wie Kleist sich mit dem ersten Stück seiner Penthesilea an Goethe wendet und dies mit einer Geste verbindet, die par excellence diejenige des Fliehenden ist, der um seine Aufnahme bittet,: „Es ist auf den ‚Knien meines Herzens‘ daß ich damit vor Ihnen erscheine“165.


Les lumières um 1800 als Darstellung der aufgehenden Sonne in Gestalt eines griechischen Amphitheaters von Jean-Jacques Lequeu. Im dunklen Sockel notiert er: Le soleil étoilé fixé, destinet à éclairer le monde (Die Sonne, bestirnt und fixiert, dazu bestimmt, die Welt aufzuklären/zu erhellen). Um den Kreismittelpunkt der hellen Orchestra läuft die Schrift: Le centre de notre tourbillon (Das Zentrum unserer Unruhe). Die Cavea ist mit stilisierten Wolkendarstellungen bedeckt und wird von einem Zodiakus umrahmt, dessen Douze Maisons célestes (Zwölf himmlische Häuser) links unten namentlich aufgeführt werden. (Vitruv zufolge lag der Zodiakus den Binnengliederungen des antiken Amphitheaters zugrunde, Zehn Bücher über Architektur, hg. von Curt Fensterbusch, Fünftes Buch). Der Grundriss eines Amphitheaters und die Ansicht einer Sonne im Aufgang über einem Horizont (L‘ Horizon) aus Bergketten sind miteinander verschmolzen. Die Sonne steht im Zenit und wirft zugleich einen Schatten von der Seite. Ausgestattet ist die gesamte Erscheinung mit elf bzw. zwölf Strahlen (Rayons), die der Gloriole antiker Helios-Darstellungen entliehen sind.


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Das Guiskard-Fragment

Im Doppelheft April/Mai 1808 wird das Guiskard-Fragment in der von Kleist und Adam Müller herausgegebenen Zeitschrift Phoebus. Ein Journal für die Kunst veröffentlicht. Kleists Kämpfe um dieses Stück, über die er sich brieflich mitteilte und Wielands enthusiastischer Bericht über den Vortrag, den ihm Kleist 1803 aus dem Guiskard machte, haben Vermutungen über „die unausführbare Tragödie“ (Bernhard Greiner)166, aber auch überschwängliche Begeisterung über die „vollendete Unvollständigkeit“ (Thomas Mann)167 dieses Fragments ohne Ende hervorgebracht. Der Abbruch eines Fragments, der ohne Übergang in eine arktische Zone leitet, in der jede Orientierung aussetzt, wird als Zumutung wahrgenommen. Das denkende, lesende Ich fühlt sich zur Gegenwehr aufgerufen und versucht zu ergänzen, zu urteilen oder illusionär zu schließen, was im Abbruch des Fragments mit der Kraft des Zufalls aufklafft in das, was sein kann oder auch nicht sein kann. Daher werden wir, wenn wir es an dieser Stelle mit Roland Reuß halten, der Karl August Böttigers Rezension aus dem Juni 1808 zitiert: „Über das Ganze läßt sich aus dem kein Urtheil fällen, was hier vor uns liegt“168. Was vor uns liegt, besteht aus einem Bild („Scene“) und 524 Versen. Dazu kommen die Untergliederung in zehn Auftritte sowie Sprecherangaben, Szenenanweisungen und drei Fußnoten zu den historischen Umständen Robert Guiskards. Nach dem Titel: Fragment aus dem Trauerspiel: Robert Guiskard, Herzog der Normänner 169 steht das Personenverzeichnis und zeigt, dass der Titel wörtlich zu nehmen ist. Dem Herzog mitsamt namentlich ausgewiesener Kleinfamilie stehen ein Ausschuss von Kriegern und das Volk der Normannen im Plural gegenüber. Diese Gliederung von Protagonisten und Chor wiederholt sich in der Szenenanweisung. Die „Scene“ als Bild und als Setting

„Cypressen vor einem Hügel, auf welchem das Zelt Guiskard’s steht, im Lager der Normänner vor Constantinopel. Es brennen auf dem Vorplatz einige Feuer, welche von Zeit zu Zeit mit Weihrauch, und andern starkduftenden Kräutern, genährt werden. Im Hintergrund die Flotte.“170


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Im Lager der Normänner, ein Hügel, darauf das Zelt: Die dreigliedrige Szenenbeschreibung enthält eine tópos-Ordnung für das einaktige Fragment, auf die sich alle Szenenanweisungen im Text beziehen: Die Stimmen des Volks erheben sich stets aus dem Lager, die Mitglieder der Guiskard-Familie treten grundsätzlich aus dem Zelt auf und wieder dorthin ab. Der Hügel bildet den Bereich zwischen diesen beiden Orten, die Zone der Dialoge, der Augenzeugen und der Auseinandersetzungen. Hier heißt es: „Schaut! Horcht!“ (V. 35) Lager, Hügel und Zelt zitieren deutlich die Dreigliedrigkeit der antiken Bühnenkonstellation mit Orchestra, Proskenium und Bühnenhaus. Das altgriechische Wort skené bedeutet „die Hütte“, „das Zelt“. Die Auseinandersetzungen finden ‚vor dem Palast‘, also vor dem Zelt auf dem Hügel statt, der hier als Proskenium dient. Figuren, die diesen Hügel halb hinauf (wie der Knabe, V. 398) oder halb herab (wie Abälard, V. 338) steigen, geben damit auch so etwas wie eine wortwörtliche Umsetzung der Auf- und Abtritte, die Figuren auf einer modernen Bühne vorgeschrieben werden (und die in der frühen Druckfassung dieses Textes als fast übergroß gesetzte Zwischentitel ausgestellt werden). Diese dreigliedrige Bühnenanlage der „Scene“ ist eingebettet in eine Landschaft. Auch hierin folgt sie dem antiken Muster, das die Einrichtung der Cavea unterhalb einer Hügelkante vorsah, von der aus sich im Regelfall der Blick auf das Meer öffnete. „Im Hintergrund“ liegt hier die Flotte der Normänner „vor Constantinopel“, womit das dem Meer im antiken Muster gegenüberliegende Element der Stadt genannt ist. Bleiben noch die Feuer auf dem Vorplatz mit ihrem Weihrauch, ihren Kräuterdüften, die ebenso ein Zitat der antiken Theateranlage bilden, die einen Opferstein (Thymele) in der Orchestra kannte, deren Rauch- und Duftopfer mit den Göttern kommunizierten. Mit „Constantinopel“, der erobert werden soll, ist das Formzitat der antiken Theateranlage zwar vollständig, aber zugleich auch gebrochen und transformiert. Denn Kleists „Scene“ gehört nicht zur staatlichen Bühne einer Polis, sondern bildet die quasi temporäre Bühne eines Theaters im Krieg, der stattfindet, weil die nomadisierenden Krieger der Normänner ihr Territorium als zukünftiges allererst suchen. Es handelt sich also um ein Theater, das keinem Staatswesen zugehört, sondern das zwischen Aufbruch (aus Sizilien) und Versprechen des Lehnsherrn im Krieg steht. Das ist der Einsatz, mit dem Kleist die Frage nach der antiken Konstellation um 1800 neu aufwirft: die Staatenlosigkeit, die Bodenlosigkeit, der Krieg. Daraus


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resultieren auch die Besonderheiten des chorischen Schon-da, das bei Kleist im ersten Wort seiner Szenenbeschreibung auftritt. „Cypressen“ sind im Mittelmeerraum die Totenbäume. Schon-da ist der Tod, der als Pest im Lager der Normänner wütet. Alle sind schon angesteckt und die Parodos des Volks sagt es auch sofort (V. 10). Die szenische Gegenwart ist damit bestimmt als ein Warten, das den Entwicklungen ihres Schon-da gilt. Entsprechend erscheinen die von Kleist relativ genau beschriebenen Gerüche dieser „Scene“ ansteckend wie eine richtungslose Mitteilung, die das Theater in eine Mitteilung vor aller Äußerung verwandelt. Dieses Setting entrollt ein „Katastrophenbild“171. Juliane Vogel setzt es mit einem Gemälde in Beziehung, das der französische Staat im Jahr der Kaiserkrönung Napoleons in Auftrag gegeben und mittels Propaganda stark verbreitet hat. Europaweit wurde das Gemälde von Antoine-Jean Gros General Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa (1804) als beispielloses Muster der „Bildgattung des großen Mannes“ diskutiert. Es stellt Napoleon im Kreis hässlich gekrümmter, hockender, kniender pestkranker Gestalten dar. Aus ihnen hat sich ein fast entblößter Mann erhoben und steht vor Napoleon, der im Augenblick des Bildes seine Hand auf eine Pestbeule des Kranken legt. Juliane Vogel fasst diese Geste als die Darstellung einer „Wiederbelebung“ von Entkräfteten auf, mit der die Heilkraft vormals geweihter Könige zitiert wird.172 Dazu betont Vogel die auffällige Behandlung der Vertikale im Kontrast zu den in der Horizontalen lagernden Gestalten, die eine Wiedergewinnung der heroischen Vertikale in der Bildmitte bewirke. Die Vertikalisierung wird zusätzlich durch die Säulen betont, die hinter dem Szenario aufragen und hochgeschürzte Ausblicke auf eine Stadtmauer, ein paar Türme dahinter und einen dramatisch gefärbten Himmel bieten. Die charismatische Geste im Bildzentrum kennzeichnet Napoleon als „großen Mann“ und heilsgeschichtlich dimensionierten Erretter, der die Mystik des geweihten Königs beerbt. Erwarten die Pestkranken in Kleists „Scene“ das Erscheinen ihres Feldherrn, der sich als seines „Volkes Abgott“ (V. 269) bezeichnet, auf ähnliche Weise? Vogel weist auf eine Stelle hin, in der Guiskard auf die Bitte hin, sich vorzusehen, direkt auf die Legende des Propagandabildes von Antoine-Jean Gros anzuspielen scheint, wenn er antwortete: „Kein Leichtsinn ist’s, wenn ich Berührung nicht / Der Kranken scheue, und kein Ohngefähr, / Wenn’s ungestraft geschieht.“ (V. 477 ff.) Darüber hinaus würde Kleists Fragment den „großen


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Mann“ jedoch auseinandernehmen. Vor allem der spektakuläre Auftritt Guiskards demontiere den „großen Mann“, indem alles auf seine Entkräftung, Entzauberung und Verkleinerung durch Ridikülisierung ziele. Vogel zufolge verweigert das Fragment durch die „Abwesenheit eines starken Gegenspielers auf Augenhöhe“ die „Gattung der Tragödie“ und ihren „tragischen Verlauf“ 173, an dessen Stelle bei Kleist die Isolation des Protagonisten und das Fragment tritt. „Statt eines Gegners auf Augenhöhe findet der ‚große Mann‘ des napoleonischen Typus nichts als Leere vor. Indem das Fragment abbricht, wird dem ‚großen Mann‘ das tragische Format verweigert und die weitere Handlungsfähigkeit aberkannt. Die wenigen Szenen, die ihm bleiben, schildern stattdessen den Verlust seiner Glaubwürdigkeit und das Schwinden einer fiktiven Größe.“ Aber in diesem Fragment wird ein tragischer Verlauf nicht nur als Tragödie von Protagonist und Antagonist, sondern überhaupt als Verlauf verweigert. Im Setting der „Scene“ tritt uns das ganze Fragment vollständig entgegen, sodass es schon von daher keinen Verlauf nehmen, sondern nur entrollen kann, was schon da ist. Gehen wir davon aus, dass jedes Bild auch ein Setting ist. Selbst wenn ein Bild die heterogenen Orte, aus denen es sich zusammensetzt, in der Einheit seiner Bildwirkung zu verschmelzen sucht, bleibt von den Bedingungen seines Arrangements etwas Topologisches über. Kleists „Scene“ als Setting macht sie als Topos-Ordnung für das Fragment lesbar. Als dessen Bühnenanordnung im wortwörtlichen Sinn einer Anordnung oder eines Arrangements all seiner Elemente, die nur entborgen werden, aber nicht hinzukommen können. Kleists „Scene“ entwirft ein Theater, das nur unter Beteiligten spielt. Deutlich wird das im anfänglichen Auftritt eines Volks, dessen Verbleib vom Chor widersprüchlich diskutiert wird, das aber gar nicht daran denkt ‚abzugehen‘, sondern dableibt. Die „Scene“ entwirft damit auch ein Theater ohne Zuschauer oder zumindest eine Bühne, die alle versammelt und der kein eigener Zuschauersaal mehr entspricht. Die „Scene“ ordnet an, arrangiert, zitiert und entwirft. Aber sie spielt auch, indem sie sich entfaltet. Im Heerlager Guiskards wütet die Pest wie im Theben von Ödipus Tyrann. Volk und Krieger geben den pestkranken Chor, der aus einer Ansteckung hervorgeht, die, wie jede Infektion, aus unwillkürlichen Austauschprozessen von Körpern und Umgebungen resultiert, aus deren wechselseitiger Unabschließbarkeit. Das verunmöglicht einen tragischen Verlauf und die Tragödie wird zum


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Trauerspiel. Aber der Grund der Tragödie scheint mit der Pest als Gegenspieler doch berührt und ist darüber hinaus sogar derselbe wie im Ödipus. Auch im Guiskard-Fragment kann sie als Tragödie von Gattungsmenschen begriffen werden, die sich umgebungsvergessen und inklusiv als solche bestimmen und fortsetzen wollen. Die Epidemie tritt als der Gegner dieser Art von Menschenverwandtschaft auf. Ein solcher Gegner agiert niemals auf Augenhöhe. Damit geht es auch der Gattung der Tragödie an den Kragen. Die Historie des Robert Guiskard

Über die Historie Guiskards war Kleist durch eine Biografie von Karl Wilhelm Ferdinand von Funck unterrichtet, die 1797 in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erschien. In der Brandenburger Kleist-Ausgabe von Reuß/Staengle wurde sie als „die wohl wichtigste Informationsquelle“174 Kleists erneut abgedruckt. Funcks Biografie erzählt die Geschichte Robert Guiskards als fantasievoll ausgeschmückten historischen Roman, der mitunter das Schauerromantische streift. Im Zentrum steht ein genealogisches Problem nach römischem Zuschnitt: das Drama der überzähligen Söhne. Robert wird um 1015 als sechster Sohn des Tankred de Hauteville in der Normandie geboren, in das die Normänner aus Norwegen und Dänemark um 800 eingewandert sind. Robert und sein jüngerer Bruder Roger sind Söhne aus einer zweiten Ehe Tankreds und somit Halbbrüder der fünf Söhne Tankreds aus erster Ehe. Der gesamte väterliche Besitz geht 1035 an den ältesten Sohn Gottfried. Die überzähligen Söhne gehen nach Süditalien, wohin Robert ihnen zehn Jahre später, im Jahr 1045, folgt. Der zweitälteste Halbbruder, Wilhelm Eisenarm, ist inzwischen Anführer der apulischen Normannen mit ihrer Zentrale in Melfi geworden. Er stirbt 1046, woraufhin der Drittälteste, Drogo, nachrückt. Da Robert von seinen Halbbrüdern kein Lehen erhält, verdingt er sich zeitweise als Söldner. Als Bandit gelingt es ihm, eine sechzig Mann starke Bande aufzubauen, die jedoch keine Pferde besitzt. Mit ihr gewinnt er 1048 Scribla, eine hölzerne Burg in Nordkalabrien, und erhält die Zusage seiner Halbbrüder, das dazu gehörige Land behalten zu können. 1050 heiratet er, gegen den Widerstand von Drogo, eine gewisse Alberada von Bonauberge, die Tante des normannischen Anführers Girard von Bonauberge, der Robert als Mitgift für die Tante zweihundert Krieger überlässt. 1051 stirbt Drogo durch eine Verschwörung. Der viertälteste Hauteville-Bruder Humfred rückt nach.


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Es beginnt ein schwieriges Verhältnis mit Papst Leo IX., der die Normannen als Ungläubige verfolgt und die Interessen Westroms gegen das byzantinische Reich verteidigt, während sich erste Interessen der Normänner in Bezug auf Konstantinopel manifestieren. Es kommt zur Schlacht bei Civitate, bei der Robert zwei Bischofsstädte gewinnt und dadurch in Konkurrenz zu Humfred gerät. 1057 kommt Roberts jüngerer Bruder Roger nach, um mit ihm zu kooperieren. Im selben Jahr stirbt Humfred, der einen zweijährigen Sohn, Abälard, hinterlässt. (Irgendwo in der Erzählung ist der fünftälteste Sohn aus erster Ehe verloren gegangen …) Jetzt entsteht die genealogische Konstellation, die Kleist in seinem Fragment aufgreift: Abälards Mutter ist bereit, die Rechte von Humfreds Sohn bis zu dessen Volljährigkeit zu vertreten. Die Normannen entscheiden sich jedoch nicht für den letzten Sprössling aus der Reihe der erstgeborenen Söhne, sondern für den ersten der zweitgeborenen, für Robert, aufgrund seiner einschlägigen kriegerischen Erfolge. Der Beiname Guiskard ist im Übrigen die altfranzösische Übertragung für das altgermanische „Wiß-hart“, das bis heute als „Fischart“ und als Synonym für „Schlauberger“ im Süddeutschen bekannt ist. Im Guiskard-Fragment vermerkt Kleist in einer Fußnote: „Guiskard heißt Schlaukopf“ (Fn. zu V. 248). 1059 wandelt sich unter dem Reformpapst Nikolaus II. die Politik Roms, die nun das Bündnis mit den Normannen sucht, welche per Synode nicht länger als Ungläubige gelten. Aus der Hand des Papstes erhält der überzählige Sohn Robert im Alter von etwa 45 Jahren erstmals Namen und Stand: Er wird als sein Lehnsmann zum Herzog von Apulien und Kalabrien erklärt und kämpft fortan unter päpstlichem Banner um Sizilien, das ab 1072 dazukommt. Die weiterreichenden, militärisch-wirtschaftlichen Interessen des Papstes richten sich indessen auf die Vereinigung von West- und Ostrom. 1074 arrangiert Robert die Verbindung seiner Tochter Helena mit Konstantin, Sohn des oströmischen Kaisers Michael VII. Helena wird dadurch zur Kaiserin von Griechenland. Im Auftrag des Papstes zieht Robert 1081 gegen den byzantinischen Kaiser Alexios. Für den Fall einer gelingenden Einnahme Konstantinopels hatte der Weltvater dem nunmehr siebzigjährigen Robert eine Grabstätte in Jerusalem versprochen. Roberts Kriegszüge werden durch Begleichung militärischer Lehnspflichten und die Notwendigkeit, Aufstände in Süditalien niederzuschlagen, jedoch immer wieder unterbrochen. Erst 1084 zieht er erneut gegen Osten, um eine drohende Absetzung der inzwischen verwitweten Helena zu


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verhindern und Byzanz zu erobern. Im Juli 1085 hat er die Küste Griechenlands im Ägäischen Meer erreicht. Während der Vorbereitung eines letzten Schlags gegen die Verschwörer im „neuen Rom“ sterben Robert und sein Heer durch „eine tödliche Seuche“ (I.2, S. 97). Funcks Historie fokussiert das Drama der überzähligen Söhne und buchstabiert es am Beispiel von Guiskard aus. In auffälliger Weise erscheint es mit dem römisch-christlichen Modell einer Generationenfolge liiert, das die Filiation einer Ordnung unterstellt, in der die Möglichkeit zur Nachfolge einseitig vom Vaterrecht her zu eröffnen ist. Aufgrund der eklatanten Asymmetrie von Vater und Sohn ist die Nachfolge hier nicht nur von immenser Fragilität gekennzeichnet, sondern scheitert in praxi an Vätern, die nicht weichen wollen. Die Regeln der römischen successio, kanonisch tradiert, bilden abendländische Übereinkünfte, von denen sich die westliche Welt in Sachen Filiation und Generationenabfolge für lange Zeit leiten ließ. Sie büßen ihre Geltung erst allmählich und auch nur insofern ein, als Geschichte nicht mehr in dem Maße als Souveränitätsgeschichte geschrieben wird, die sich in Sachen Glanz, Größe und Glorie des Gesetzes auf Rom bezieht. In der Historie des Robert Guiskard sind alle wesentlichen Eckpunkte der Problematik von vaterrechtlichen Nachfolgeregelungen versammelt: ein Erbe, ein um die Größe der Vorfahren zentriertes Gesetz, selektive und verhinderte Nachfolge, überflüssige Söhne en gros, Rom, ein Papst als Übervater und schließlich Robert, der sich Stand und Namen zu gewinnen wusste und nun mit der Eroberung eines größeren Roms beauftragt wird, das er nicht gewinnen kann. Zum Zeitpunkt, als Funcks Historie in den Horen veröffentlicht wird, steht das römisch inaugurierte Modell einer Genealogie, die sich vom Vater auf den Sohn zählen wollte, längst zur Disposition. Man könnte die Risse aufzählen, die ihm seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durch die Kriege von Unterworfenen gegen ihre Herren sowie die Erzählungen einer Gegenhistorie beigebracht worden sind, aber darum geht es hier nicht. Das Modell einer Souveränität, die sich auf tausend Wegen immer noch mit der Größe Rom verbunden hatte, gilt im Namen der Französischen Revolution für besiegelt. Die Parole der Revolution forderte Freiheit anstelle von Souveränität, dann Gleichheit anstelle von Geburtsrechten und Ständeorganisation. Die Brüderlichkeit besagt indessen, dass unter allen Menschen, die Brüder werden, keine Väter mehr sind.


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Ob sich die Demontage im Guiskard-Fragment auf die Gestalt des ‚großen Mannes‘ napoleonischer Machart bezieht oder auf eine väterliche Instanz, die in Zeiten allgemeiner Brüderlichkeit als Larve identifiziert wird, die von einem ewigen Sohn gegeben wird – es scheint hier um zwei Seiten derselben Medaille zu gehen. In jedem Fall handelt es sich um „das Schwinden einer fiktiven Größe“175, wie Juliane Vogel schreibt. Ihre daran anschließende Frage gilt in mehrdeutigem Sinn dem „Grund, der die Figur zurückfordert“176. Kleists Räume

Der Bezug auf historische Figuren und Ereignisse macht eine Anmerkung zu Kleists Räumen notwendig, in denen projektive Verhältnisse von Vergangenheit und Gegenwart keinen Platz haben. An deren Stelle tritt die pure Dynamik von Verhältnisnahmen, die von mit- oder niederreißender Kraft sein kann. Kleists Räume liegen nicht als Räume mit bestimmten Einrichtungen vor, sondern entstehen mit der Dynamik der Figuren und der Konstellationen, die sie eingehen, durchqueren und transformieren. Weder bringen Figuren ‚ihren Raum‘ mit, noch kennen sie die räumlichen Bedingungen, unter denen sie auftreten und die erst nachträglich, mit ihnen und durch ihre unterschiedlichen Wege und Konstellationen, beschrieben sein werden. Kleists Räume mögen konkrete Bezeichnungen tragen, aber wesentlich für alle Bauernstuben, Schlosssäle oder Gerichtsstuben ist, dass es sich nicht um Einrichtungen, sondern um Übergangsräume handelt. Übergangsräume verhalten sich wie Schwellen, Flure oder Korridore. Sie schließen nichts ab, ebenso wenig kann etwas in ihnen zu Ende gebracht werden. Übergangsräume sind Verhältnisnahmen, aktuell und virtuell zugleich. In diesen Räumen ist den Figuren eine immense Offenheit zu eigen, die sie in allen Verstrickungen begleitet, die sie untereinander eingehen. Entsprechend gleichen Kleists Figuren keinen innerlich organisierten Subjekten. Vielmehr verdichten sich in ihnen Affekt- und Wahrnehmungsvermögen, die auf nichts mehr verweisen, was ihnen räumlich, zeitlich oder innerlich vorausginge. Kleist-Figuren sind, wie Deleuze/Guattari unterstreichen, in „ein Milieu der reinen Äußerlichkeit“177 versetzt, das immer außerhalb ihrer selbst ist. Daher rühren ihre enorme Geschwindigkeit, ihre Umbrüche, Entladungen, Überstürzungen. Kleist-Figuren werden von der Gewalt des Affekts mitgerissen und von Eindrücken überwältigt, die zu stark für ein einzelnes Ich sind, sodass sie sich auf der Stelle entsubjektivieren, selbst auf die Gefahr hin, daran zu sterben.


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Diese Offenheit vermag Betrachtende, Lesende unvermittelt zu tangieren. Gerade weil Kleist sich nicht an Personen adressiert, nicht an ein Publikum (was Goethe ihm vorgeworfen hat), schwindet die beobachtende Distanz. Augenblicklich stellt sich eine Berührung ein. Es handelt sich bei Kleists Übergangsräumen um Schwellen einer Zwischenräumlichkeit, die sich polyvalent öffnet und in Kontakt mit etwaig Lesenden/Zuschauenden zu treten vermag. Das Darstellungsgeschehen entfaltet sich über die Verhältnisse von Körpern, Positionierungen, Blicken, Worten, Pausen, Abbrüchen, Leerstellen. Es entfaltet sich über Konstellationen, die auf der Ebene der Figuren spielen und gleichzeitig die Wahrnehmung der Lesenden oder Betrachtenden involvieren. (Das ist ihr Spiel.) Übergangsräume nehmen ganz unterschiedliche Zeiten in sich auf. Vergangene Gegenwarten überschneiden sich mit je aktuellen und bilden deren variables Vorher, aber nicht deren Geschichte. Ebenso können sie in das Nachher einer noch nicht festgestellten Gegenwart hineinreichen und punktuell zur koexistenten Gegenwart verdichten. Beispielhaft kommt diese Bewegung in einer Rede von Heiner Müller zum Ausdruck, die er aus Anlass der Entgegennahme des Kleist-Preises 1990 unter dem Titel Deutschland ortlos hielt. Das Preußen des Heinrich von Kleist, heißt es darin, sei angesiedelt

„auf dem Riss zwischen West- und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht, blitzhaft sichtbar, wenn nach dem Verlust einer bindenden Religion oder Ideologie die alten Stammesfeuer neu gezündet werden. Einem Riss, in dem zum Beispiel Polen immer wieder verschwunden ist.“178

Dieser Riss habe das Preußen Kleists in eine „Erdbebenzone“ verwandelt und den Westen und Osten Europas in einem Kalten Krieg getrennt: „Für den Rheinländer Adenauer war die Elbe ein asiatischer Grenzfluss.“ Zum Jahr 1989 heißt es:

„Eine Zeitmauer ist gefallen, und wir alle stehen sozusagen über Nacht in einen Raum mit unbekannten Dimensionen, etwa in der Lage eines Blinden, der auf einer verkehrsreichen Kreuzung die Entdeckung macht, dass sein Leithund nicht mehr sieht, […] jedenfalls in einer kleistischen Situation“.


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Zwei Nachfolger

Zwischen der Pest, die durch das Lager geht, und Robert Guiskard, der sich im Zelt verbirgt, findet im Fragment das Drama der Söhne statt, die um die Nachfolge Guiskards konkurrieren. Zwei Prinzen mit asymmetrischen Rechten: Robert, der gleichnamige Sohn Guiskards und Abälard, der Sohn des vierten Hauteville-Sohnes aus erster Ehe, der zwei Jahre alt war, als sich Guiskard an die Spitze der Normannen setzte. Mit Robert Jr. würde eine von Robert Guiskard eröffnete, gleichsam neue dynastische Linie beginnen: „Des Herrschers Sohn, durch Gottes Gunst, bin ich“ (V. 273), sagt der Junior. Mit Abälard würde die alte Linie der erstgeborenen Brüder fortgesetzt werden, die „mit mehr Recht“ (V. 278) und „gekrönt vom Erbgesetz“ (V. 281), wie Abälard sagt, ihn seit dreißig Jahren als legitimen Thronerben anerkennen.179 Die beiden Prinzen treten, „mit einander sprechend“, aus dem Zelt vor „[d]ie Vorigen“ (I.2, 18): das Volk, die Krieger und einen Greis als Chorführer. Das Thema der beiden ist die Mathematik der Erbfolge, die Väter und Söhne wie Ursachen und Wirkungen verrechnet. Die beiden Prinzen tun dies auf eine jeweils signifikant defizitäre Weise. Ihr Versuch, aus Vater-Sohn-Folgen Schlüsse für sich selbst abzuleiten, erinnert an die beiden Söhne des Ödipus, die einen Bruder zum Vater hatten. Hier sind es zwei Väter, die Brüder waren. Robert Jr. folgert mechanisch, er befiehlt und weist an. Der Greis bittet für die Normannen, Robert Jr. herrscht ihn an: „Lernen mußt du’s doch / Noch, was gehorchen sei, und daß ich es / Dich lehren kann, das höre gleich. […] Und wenn ich jetzt befehle, dass du gehst, / So thust du’s, hoff’ ich, nach der eignen Lehre, / Thust’s augenblicklich, lautlos, thust es gleich!“ (V. 212–220) Das sind Feldherrenworte, die den demütig Flehenden nicht hören, sondern dem Greis das Gehorchen auferlegen: ohne Widerspruch, „augenblicklich“ und „lautlos“. Eine Rede, die sich monokausal und einsilbig auf einen einzigen Satz stützt: „Des Herrschers Sohn bin ich“. Aus dieser Ursache soll für den Junior alles folgen. Sie ist sein einziger Anspruch. Sobald er ihn ausgesprochen hat, wendet er sich „ab ins Zelt“. Abälard hingegen folgert diskursiv, mit werbender sprachlicher Geste, die jedoch seine Machtgier nur notdürftig bemäntelt. In seiner ersten Replik, in der er dem Junior Fehler aufzeigt, formuliert Abälard seine eigene, mit kaltem Verstand operierende Strategie.


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Die „Normannskrone“ ließe sich durch (Erb-)Recht erwerben, vielmehr müsse der Anwärter auf die Krone die Normänner für sich gewinnen: „Durch Liebe, hör’ es, musst du sie erwerben, / Das Recht giebt sie dir nicht, die Liebe kann’s! / Allein von Guiskard ruht kein Funk’ auf dir / Und diesen Namen [Schlaukopf] mindstens erbst du nicht; / Denn in der Stunde, da es eben gilt, / Schlägst du sie [die Normänner] schnöd’ ins Angesicht, die jetzt / dich auf des Ruhmes Gipfel heben könnten.“ (V. 245–251)

Als Ratschlag an Robert Jr. getarnt, zeigt Abälards Rede einen mit Zweck und Mitteln scharf kalkulierenden, kalten Verstand. Er hält dem Junior strategische Dummheit und eine mangelhafte Vaternachfolge vor, um ihm zu sagen: ‚So wirst du die Krone nie erreichen. Du hast einen beinharten Konkurrenten, der es besser weiß, und das bin ich.‘ Abälard zufolge, ist Guiskard im Besitz eines Herrschaftswissens, das der Junior nicht beherrscht, wohl aber er selbst, Abälard. Anstelle der Befehlsstrategie des Juniors entwickelt der zielstrebig kalkulierende Abälard eine andere Taktik, die das flehende Volk womöglich noch schärfer diffamiert. Es ginge gar nicht um das Erhören, sagt Abälard, noch nicht einmal um das Zuhören, sondern einfach nur darum zu hören: „Zu hören, was der Flehende begehrt, / Ist leicht. Erhörung nicht, das Hören ist’s“ (V. 255 f.). Abälard wendet sich dem Lager zu. Er ist gewillt, über die Parteinahme des Volkes die Nachfolge für sich zu entscheiden. Trickreich und „mit Worten wedelnd“, wie es bei Kleist heißt, entwirft Abälard das Bild vom pestkranken Guiskard, der seine Mission nicht mehr erfüllen kann, während sein Sohn dazu unfähig sei. Als der Junior überraschend das Erscheinen Guiskards ankündigt, wird Abälard von „fliegender Blässe“ (neunter Auftritt) ergriffen. Marionettentheater

Guiskard im Zelt ist in der Topologie des Fragments anwesend als einer, der weder erscheint noch spricht und dessen Fehlen zum Anlass szenischer Projektionen wird, die so unterschiedlich ausfallen wie die Beteiligten, die hier das Wort ergreifen. Ihre Reden erschaffen den Souverän aus ambivalenten Wünschen, Forderungen, Gerüchten, unsicheren Beobachtungen, Vermutungen, Antizipationen und zirkulieren dabei um eine Leere, in der niemand Platz hat oder


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nehmen kann. Mit unheimlicher Ambivalenz entsteht eingangs das Bild einer inversen Überhöhung Guiskards. Das Volk nennt ihnen einen „Felsen“ (V. 4), der sich verschließt. Guiskard ist der schlechthin „Unerbittliche“, der „nicht hört“ (V. 50). Der „Jammer dieses ganzes Volks“ soll ihm „in die Ohren“ donnern, „was seine Pflicht sei“, nämlich die Rückführung des Volks aus den Schrecken des „gräulerfüllten Lagerplatzes“ (V. 8 f.). Während die „Sippschaft“ (V. 151) Guiskards auf dem Hügel die Politik der Schönfärberei und der Konventionen betreibt, umstehen die Normannen das Zelt ihres schweigenden Heerführers. Wie ein Maschinist seine Puppe versuchen sie, die in ihrer Hülle verborgene Figur zum Erscheinen zu bewegen, und weichen nicht von der Stelle. Neun Auftritte lang warten sie und setzen alle Hebel in Bewegung. Wenn es um Guiskard geht, kommen Marionetten ins Spiel, dinghafte Wesen ohne Schwerkraft. Ein Normanne beschreibt das „eingemummte Ding“ (V. 156), das er nachts beim Zelt beobachtete, genauer als einen „Nagelstift“ (V. 161), an dem „Mantel, Stiefel[ ], Pickelhaube / Hieng“ (V. 160). Er habe diesem Ding schließlich, „schon von Ahndungen beklemmt […] das Angesicht / In’s Mondlicht“ (V. 162 f.) gedreht. „Und nun erkenn’ ich – wen?“, fragt er wie ein geübter Puppenspieler. Es sei Jeronimus, der Leibarzt Guiskards gewesen. Sein Publikum hält Ausrufe des Entsetzens zurück und erschauert. An einer anderen Stelle wird Guiskard als puppengleiches Ding geschildert, das allein durch seine Stiefel, seine Handschuhe und sein Hemd die Kraft hat, das Unmögliche zu vollbringen – und in Byzanz einzurücken (vgl. die Rede, mit der Abalard seinen Konkurrenten schmäht, V. 382 ff.). Schließlich öffnet sich das Zelt. Es erfolgt Guiskards requisitenstarke Aufrüstung zum ‚großen Mann‘ (Vogel) und seine Auratisierung mit den Mitteln des Theaterplunders. Der Greis fragt einen Knaben, ob er Guiskard schon sehen würde. Der Knabe daraufhin: Wohl, Vater, seh’ ich ihn! Frei in des Zeltes Mitte seh’ ich ihn! Der hohen Brust legt er den Panzer um! Dem breiten Schulternpaar das Gnadenkettlein! Dem weitgewölbten Haupt drückt er, mit Kraft, Den mächtig-wankend-hohen Helmbusch auf! Jetzt seht, o seht doch her! – Da ist er selbst! (V. 399–406)


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Der folgende Auftritt Guiskards ist reines Schmierentheater. Er führt sich vor, führt sich auf: „Ob ich wie Einer ausseh’, der die Pest hat?“ (V. 438) Er streckt sich, zeigt seine Glieder und verweist auf seine tadellose Stimme – ein „Geläut der Glocken“ (V. 442). Sekundiert vom Greis nimmt diese Selbstvorführung Guiskards fast achtzig Zeilen des Fragments in Anspruch, bevor es endlich heißt: „Zur Sache jetzt!“ (V. 486) Eben in diesem Moment kann sich Guiskard nicht mehr halten und beginnt zu wanken. Die Kaiserin zieht eine „große Heerpauke“ herbei und schiebt sie hinter Guiskard, der sich „sanft“ darauf niederlässt. Der Tod im Marionettentheater ist eine Groteske. Dennoch vermag sich der komische Tod, der nach dem fallenden Herrscher auf der Heerpauke greift, im Theater Kleists mit dem Tod, der „auferstehungslos“ (V. 505) im Lager wütet, zu berühren. Sie berühren sich als Übertreibung oder Untertreibung in einem Theater, in dem die Zusammenhänge nicht mehr durch Instanzen verbürgt werden und nicht mehr durch Figuren hergestellt werden können und in dem, wie Reuß sagt, insgesamt die „Krankheit mitteilungsloser Sprache“ (I.2, S. 8) grassiert. An die Stelle von Instanzen, Figuren und Mitteilungen tritt ein „Grund, der die Figur zurückfordert“ (Vogel) in Erscheinung. Eine „Erdbebenzone“ (Müller), ein aufgewühltes Feld voller Geheimhaltungen, voller Leerstellen, voller sprunghafter Dinge. Ein Feld, das jeder Entfaltung eines protagonistischen Agenten entgegenwirkt und den zentralen Protagonisten verbirgt, der noch im Moment seines Auftritts fällt. Keine Zentralperspektive, kein Tafelbild, kein Guiskard und nichts von dem, wofür ein ‚großer Mann‘ hier noch stehen könnte. Stattdessen gehen namenlose Aktivitäten Beziehungen ein. Sie spielen unter Attributen, die wie von Geisterhand animiert erscheinen: Dinge, Requisiten und Ausstattungen werden selbstständig. Sie setzen sich in Bewegung und führen sich auf, als wäre niemand sonst da. Und es ist auch niemand da, kein Halt. Nur eine Ohnmacht, die irgendjemandem (es ist Guiskard) als Sprung über eine Leerstelle dient. Auch der Tod erscheint nur als ein Effekt, nur als eine böse, momentane Verdichtung innerhalb von Geflechten, in denen Bakterien und Viren ihren nächsten Wirt suchen. Pest ist eine Metapher für das unmögliche Gemeinsame, verkittet durch Ansteckung und zirkulierende Gifte. Im aufgewühlten Feld eines Grundes, der sich nicht länger in der vermeintlichen Tiefe von Figuren verbirgt, sondern der sich veräußerlicht und frei auf Oberflächen


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spielt, bilden einerseits Animationen und andererseits Ansteckungen die beiden wesentlichen Sphären a-signifikanter Verknüpfungen. Wiederbelebungen wie von Geisterhand bringen Partikel in den unwahrscheinlichsten Kombinationen zur Erscheinung, während zirkulierende Gifte Partikel herauslösen und ausfallen lassen. Animation und Ansteckung spielen auch in dem großen Bild eine Rolle, mit dem sich der Greis ein letztes Mal an Guiskard richtet. Das Bild des Greises beschwört den magischen Zusammenhang von Volk und König. Es kann ja stimmen, dass du nicht krank bist, sagt er sinngemäß, aber „dein Volk ist, deiner Lenden Mark, / Vergiftet, keiner Thaten fähig mehr“ (V. 501 f.). An dieser Stelle reichen sich der groteske Tod (des Souveräns) und der auferstehungslose Tod (aller) in Kleists Theater die Hand. Das Mark der Lenden, Sitz der Vitalität eines jeden ‚großen Mannes‘, ist sein Volk. Es hat alle Register gezogen, um Guiskard als jenen fetischisierten Teil der Volkund-König-Maschine wiederzubeleben, die sie gemeinsam bilden: eine Maschine, die sich im Krieg befindet, kurz vor der Schlacht, auf die alles ankommen soll. In diesem Moment tritt der arbiträre Charakter des marionettengleichen Dings am Platz des Königs in Erscheinung. Der mühsam Hervorgerufene, Belebte, Adorierte ist nichts als eine „Helmbusch“, den man auch alleine vorschicken könnte. Es geht nichts mehr, sagt der Greis zu Guiskard, dein Volk ist vergiftet, zu keiner Tat mehr fähig. Misslingende Invokation

In der Figur Guiskard überschneiden sich die Positionen von Vater, Fürst und König, in denen sich jeweils unterschiedliche Pluralitäten bündeln. Zwei Nachfolger spitzen sich auf die Position des Vaters. Der Fürst befehligt als Heerführer eine Vielzahl normannische Krieger, die von einem zwölfköpfigen „Kriegerausschuss“ vertreten werden: von einem Militärchor, der innerszenisch zu seinem Anführer hält, von dessen militärischem Können und Wissen er abhängig ist. Die Position als König geht nicht aus der Guiskard-Historie hervor, sondern wird von Kleist durch ein Volk jeden Alters und Geschlechts evoziert. Mit diesem unbestimmten Volk ist eine Mannigfaltigkeit bezeichnet, die sich von der Menge der Krieger deutlich unterscheidet. Während letztere in den Zustand einer Formation übergeht, die sich repräsentieren lässt, meint die Formel der Mannigfaltigkeit eine unanschauliche Vielheit, in der jegliche Alter und Geschlechter vorhanden sind, alle. Der undarstellbare Chor einer Chorsphäre, in


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der sich Vergangenheiten und Zukünftiges ständig berühren und mischen (alle Alter) und in der die Geschlechter ihre binäre Gliederung überwuchern (alle Geschlechter). In der Formel Kleists lässt sich diese Chorsphäre nur grammatisch auf eine Einheit zurückführen, wobei Volk jedoch im Verwirrspiel der Genitivkonstruktion als Subjekt oder Objekt aufgefasst werden kann. Im objektiven Sinn würde die Formel alle Völker aus allen Zeiten und allen Geschlechtern meinen, im subjektiven Sinn alle Alter und Geschlechter in einem unbestimmten Volk als einer Menge mit unscharfen Rändern. Wie auch immer: Kleists Formel evoziert eine undarstellbare Mannigfaltigkeit – alle. Es kann nur hier und da einer oder eine heraustreten und ihr zufälliger Sprecher sein, wie hier der Greis, der einen Knaben an der Hand hält. Guiskard gegenüber beschwört der Greis eine immer noch heilsgeschichtliche Dimension des Zusammenhangs von König und Volk herauf, die sich jedoch nicht mehr restaurieren lässt. Das ist die „Sache“, um die es gehen soll, als der Greis sich an Guiskard mit den Worten wendet: „Du weißt’s, o Herr!“ (V. 484) Guiskard beginnt zu wanken. Zwei Gedankenstriche führen die Rede des Alten in diesem „entscheidenden Moment, da schon – –“ (V. 486) ins Nichts. Warum tituliert der Greis Guiskard nicht direkt? Warum misslingt die Invokation? Warum setzt sich ein Du weißt‘s davor? Die auffällige Dramaturgie dieses Redeeinsatzes, zumal sie identisch wiederholt wird (V. 490), signalisiert eine Leerstelle, die offenbar das Misslingen der Invokation bewirkt. Ausgespart erscheint ein Referenzpunkt für die Anrufung des Herrn. Es fehlt die bezeichnende Funktion, die den Herrn zu jener Gegebenheit machte, die sich direkt anreden ließe. Zwischen den beiden Du weißt’s vollzieht sich der Sturz Guiskards, und er fällt gründlich. Die Ballung der Positionen von Vater, Fürst und König überhöht Guiskard zu einer Figur, die gleichzeitig in vaterrechtlichen, kriegerischen und souveränitätsgeschichtlichen Mustern ankert. Die Muster verstärken sich gegenseitig und spielen alle auf einer Achse, die in der Souveränitätsgeschichte mit Vertikalität, Hierarchie, Autorität und divinatorischem Glanz ausgestattet worden ist. Wenn Guiskard zu Boden sinkt, stürzt er dreifach aus der Vertikalen: als Rechtsfall, als Kriegsfall und als Sündenfall.180 Kleist zeigt aber keinen jähen Sturz. Vielmehr zeichnet er mit Versfragmenten einen Vorgang, bei dem das Bild einer brechenden Säule entsteht, die in Zeitlupe fällt: „Willst du – ? / Begehrst du – ? / Fehlt dir? / Gott im Himmel! / Was ist? / Was hast


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du? / Guiskard! Sprich ein Wort!“ (V. 487 ff.) Es handelt sich nicht um einen spektakulären Sturz. Er geschieht nicht aus höchster Höhe und führt auch nicht in den tiefsten Abgrund, zumal ihn Tochter Helena ausgerechnet mit einer großen Heerpauke abfedert. Der Sturz vollendet sich dadurch nicht wirklich, genauso wie es die Achse, auf der er sich vermeintlich vollzieht und die er mit sich niederreißt, nicht wirklich gibt. Die Szene geht unauffällig in eine allgemeine Ermattung und Erschöpfung über. „Du weißt’s, o Herr!“ (V. 490), setzt der Greis erneut an, während Guiskard und Helena wortlos im Zelt verschwinden. Hier fällt kein mächtiges Ding. Vielmehr treten im Bild der brechenden Säule das Arbiträre und Zusammengestückelte einer Macht zutage, die keinen Grund hat, die keine Einheit bildet, die in keine Totalität eingeht und die nicht angerufen werden kann. An die Stelle des Herrn tritt eine mit Fäden und Drähten bewegte Figur auf, an die Stelle seiner Macht deren bloße Kontingenz. Im Guiskard-Fragment steht die Pest für diese Kontingenz ein. Der Greis zeichnet ein genau komponiertes Bild dieser indifferenten Macht, die nicht unterscheidet und grundlos trifft. Die Pest kennt keine Geschichte und verheert alle zwischenmenschlichen Bande. Sie richtet sich „gegen Gott und Menschen“ (V. 511). Sie löst das Band der Brüderlichkeit zwischen „dem Freund, dem Bruder“ (V. 513). Sie wütet gegen Stammbäume und familiäre Genealogien von „Vater, Mutter, Kindern“. Zuletzt wird „die Braut selbst“ (V. 515) genannt, mit der im sozialen Gewebe nahezu alles anfängt. Gruppen, familiäre Bande, historische Bedingungen, Ideen und Hoffnungen verschwinden gemeinsam in den Geflechten einer Ansteckung, die nicht auswählt und nicht unterscheidet. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf die Leerstelle einer bezeichnenden Funktion zu verweisen: Sie kann als Niederlage einer väterlichen Referenz gedeutet werden, die am Ende ihrer Geschichte morsch geworden ist und abreißt wie ein alter Faden – das wäre die Variante, die immer noch im Bann einer römisch geordneten Genealogie stünde, die deren Abbruch für unverzeihlich hält und entsprechend beklagt. Sie kann aber auch als Kluft und als Aufklaffen in einem Gemeinsamen begriffen werden, wie es zu den Erfindungen der klassischen griechischen Polis zählt. Mit der Metapher der Pest wechselt das Guiskard-Fragment in dieses Register und thematisiert eine Grundlosigkeit, die jegliches Zusammengehören betrifft. Aus der Entstehungszeit der Polis resultiert indessen auch ein Chor, der an


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eine a-signifikante Relationalität erinnert, von der sich die ödipalen Verstrickungen und ihr genealogisches Motiv bereits abgewandt haben. Ähnlichkeiten zwischen Guiskard und Ödipus sind vielfach bemerkt worden. Hier sei nur kurz auf die Stelle des Vaters hingewiesen, die in beiden Geschichten eine Rolle spielt. Im sophokleischen Ödipus berichtet Jokaste von einem Orakel, welches Laios einst prophezeite, dass über ihn „das Schicksal kommen werde, durch den Sohn / zu sterben, der aus mir und ihm entstünde“ (V. 713 f.) 181. Die Struktur dieser Formulierung lässt offen, ob damit das Gesetz einer Abfolge benannt ist, der zufolge sich Vätern in ihren Söhnen die eigene Endlichkeit vor Augen stellt und sie daher durch oder in diesen sterben, oder ob sich darin eine Gewalttat des Sohnes gegen den Vater ankündigt. Diese Unentscheidbarkeit in der Prophezeiung (die später entfällt, V. 793) hat mit der Abfolge von Vater und Sohn im Kern zu tun. Der Vater muss den Sohn vorangehen lassen und dafür zurücktreten. Verstellt er ihm indessen den Weg, wird er vom Sohn aus mit Gewalt verdrängt. Genau dies geschieht am Dreiweg in Phokis (V. 715–717). Laios, der fürchtet, „dass er von dem Sohn stürbe“ (V. 723), ist für die mögliche Doppeldeutigkeit des Orakels unempfänglich. Er lässt die Fußgelenke des Säuglings binden und befiehlt, ihn ins „unzugängliche Gebirge“ (V. 719) zu werfen. Die Geste dieses Vaters ist gründlich. Mit dem Sohn wirft er auch den Vater weg. Ein Gründungsfehler, der sich für Ödipus als eine absolute Aussparung darstellt, sodass für ihn die Stelle des Vaters und dann auch die des Königs unausführbar werden. Wie im Bild von Adolph Menzel Die Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generäle vor der Schlacht von Leuthen (1864/65) deutlich wird, heißt dies aber nicht, dass die unausführbare Stelle ohne Umgebung ist. Chor – Umgebung

Wie im Fall des von Menzel ausgesparten Königs ist an seiner Stelle nicht einfach nichts. Es gibt da die grundierte Leinwand, zusätzlich von einigen Kreidespuren bedeckt, von unausgeführten und unausführbaren Skizzen und den Spuren einer Hand, die zu Menzel gehörte. Etwas, das sich als Fleck, als Kreidespur oder in einer offenen Parenthese indefiniert, gibt etwas anderem Raum. Es handelt sich nicht nur um Gesten eines Scheiterns, sondern auch um solche der Einräumung. Wird dem König der Anspruch auf die Hauptrolle


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entzogen, tritt die Komposition mit ihren vielfachen und vielfältigen Mitspielern hervor. In gleicher Weise lässt der als Schmierentheater gescheiterte und durch eine Schwäche abgebrochene Auftritt Guiskards den Hintergrund hervortreten und erlaubt, die Aufmerksamkeit auf jenes größere Theater zu richten, dessen Topologie Kleist in der Szenenanweisung mit leichter Hand skizziert. Dieses größere Theater gehört im Guiskard-Fragment dem Lager mit einem pestkranken Chor. Der Ausschuss von zwölf Kriegern (V. 43) wird von einem unbestimmten Volk jeden Alters und Geschlechts begleitet. Bei Kleist wird dieses Volk nicht einfach zu einem Publikum, sondern zu einer größeren, unausführbaren Chormasse, der gleichwohl die erste Rede gehört. Sie wird die gesamte Zeit über dableiben in diesem Theater, das keinen Extra-Raum für die Zuschauer vorsieht. Ob dieses Volk bleibt, wird im zweiten Auftritt diskutiert: Der Greis will es nicht auf der Szene. Was sollen Frauen und Kinder hier, fragt er (V. 41 f.). Ein Anderer, Ein Dritter, Ein Normann usw. diskutieren und entscheiden: Der Greis soll „die Stimme führen“ (V. 48) und Guiskard den „Jammer dieses ganzen Volks“ (V. 51) in die Ohren donnern. Die Chormasse bleibt also als Schallverstärker der Stimme ihres Sprechers, mithin in derselben medialen Funktion wie die stufenförmig aufsteigende Cavea der antiken Theateranlage. Im Eingangslied wird die Pest als „Scheusal“ (V. 28) beschrieben, das deutlich an die Sphinx erinnert, die zur Zeit des Sophokles als geflügelter Löwe und zum ersten Mal, abweichend von der ägyptischen Tradition, mit dem Kopf einer Frau dargestellt wurde. Dieses „Scheusal“ wird zum Emblem eines Fluchs: Wenn Guiskard nicht umkehrte, würde Konstantinopel ihm zum „prächt’gen Leichenstein“ (V. 30). Auf diesem Stein würde sich „statt des Seegens unserer Kinder“ (V. 31) deren Fluch niederlassen. Der Kinder Fluch, als „Missgestalt“ (V. 32) auf dem Grabstein thronend, würde Verwünschungen gegen Guiskard als den „Verderber ihrer Väter“ (V. 34) ausstoßen. Mit „hörnern Klauen“ (V. 35) würde diese „Missgestalt“ die Erde des Grabs umdrehen und den Leichnam des Feldherrn in seiner Rüstung („das silberne Gebein“, V. 36) hervorwühlen. Der Chor entwirft das Bild des Fluchs in der Form eines Orakels. Kinder werden Guiskard als denjenigen verfluchen, der ihre Väter vernichtet haben wird. Ihr Fluch wird ihn im Grab nicht ruhen lassen. Als Volk ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel spricht der Chor von „unseren Kindern“.


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Kleist zeichnet die Pest als jene Sphinx, die einst den Weg des Ödipus in die Stadt Theben säumte. Wird ihr Geheimnis im Umkreis der genealogischen Problematik situiert, sagt das auch etwas über den aus, der ihr Geheimnis durchdringt und die Antwort weiß. Sie lautet: der Mensch in seiner unbegrenzten männlichen Form, das heißt im Singular. In der Konstellation von Sphinx und Ödipus verschwistert sich der Mensch mit dem neuen Stadtstaat, besteigt Thron und Königin (die vor ihm in Theben da war), zeugt neues menschliches Leben und will seinen Eintrag in die Sukzession. Er will das spérma sehen, den „Stamm“ (Schadewaldt), den „Ursprung“ (Steinmann), den „Samen“ (Hölderlin), der ihn ‚gepflanzt‘ hat. Die ganze Terminologie der agro-pastoralen Ordnung geht auf die Seite des Mannes über, während die chtonischen und ozeanischen Kräfte mit ihren Göttern in die Sphäre von Gaia/Themis verbannt werden. Dorthin rettet sich auch die Sphinx, nachdem sie die Antwort des Ödipus gehört hat. Um sich als Ursache zu behaupten, muss sich die männliche Zeugung gegen die weibliche Linie verschließen, muss ihr Frau-Werden bestreiten, muss ihre Abstammung gegen die Epidemie verteidigen und ihre Vererbung gegen die Ansteckung. Mit einem Wort, sie muss sich gegen eine unabsehbare Pluralität auf molekularer Ebene ebenso panzern, wie gegen die Sphäre der transhumanen Symbiosen, für die im selben Zug das Wort cháos eingesetzt wird, das für gewöhnlich mit „Abgrund“ übertragen wird. In diesem Moment, der sich hinzieht, tritt die Pest auf. Die Pest ist damit ausgewiesen als Zitat einer bestimmten Konstellation. Im Guiskard-Fragment erscheint sie als ausgebreiteter Saum, der alles erfasst. Wie ein Untergrund, der zur Oberfläche aufsteigt, wirkt die Seuche als gründliche Verheerung sozialer-familialer Ordnung. Andersherum ließe sich jedoch auch sagen: Die Seuche macht mit ihrem Prinzip der Ansteckung da keinen Unterschied, wo eine Ordnung unterscheidet, die sich auf die Binarität der Geschlechter und die Produktion durch Filiation stützt und die von da ausgehend das gesamte soziale Feld rastert und hierarchisiert (Frauen – Männer, Junge – Alte, familiärer Stand, sozialer Status usw.). Soziale Ordnungen liegen jeweils nur als bestimmte vor (und andere sind denkbar). Jene Ordnung, die der Greis im Guiskard-Fragment nennt (V. 511–515), bildet das Resultat einseitiger Unterscheidungen, die Vermengungen mit heterogenen Umgebungen abwehren und sich gegen einen ‚Abgrund‘ schlechthin unbestimmter Lebewesen zu profilieren suchen. Doch umgekehrt


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verriegeln sich diese Umgebungen ihrerseits nicht. Heterogene Populationen schalten sich ein, wuchern in den umgebungsvergessenen sozialen Ordnungen autoritärer oder despotischer Provenienz und überziehen sie mit den Wirkungen ihres Vergessens. Jedwede Herkunft reicht unabsehbar über irgendeine paternale Referenz hinaus, deren Behauptung Ödipus auch deshalb so viel Pein verursacht, weil sie einen künstlichen Ausschnitt aus einer Mannigfaltigkeit von Werdenskräften darstellt. Eine mögliche Kommunikation mit ihrem unanschaulichen Gewimmel verschließt sich im Protagonisten, hinterlässt jedoch umgekehrt Spuren in den Chorsphären. So auch bei Kleist. Die Chormenge Volk jeden Alters und Geschlechts wird eingangs als ein Meer „in unruhiger Bewegung“ gezeichnet. Sie gleicht einem Flow, die mit ihrer „Heereswog’“ (V. 5) das Zelt „umsonst umschäumt“ (V. 6) und den Hügel, der in dieser Szene im engeren Sinn für die ‚Bühne um 1800‘ steht, als Friedhof antizipiert. Es gibt vier weitere Chor-Szenen (genauso viele wie im Fall der beiden Prinzen), in denen sich dieser Flow innerszenisch als vielstimmige Figur des Reden-Hörens fortsetzt. Eine Stimme (aus dem Volk), Eine Andere, Eine Dritte, Eine Vierte, Eine Fünfte, Ein Knabe usw. praktizieren ein gleichsam beflügeltes, beiläufiges Sprechen, das aus Wiederholungen, Echos, Dissonanzen, abgebrochener Rede, Ausrufen und Affekten besteht. Es dreht sich in diesen chorischen Partien um die sprachliche Abbildung der metonymischen Figur des Reden-Hörens. Kein Erhören oder Gehorchen, wie es die beiden konkurrierenden Prinzen im Fragment diskutieren. Aber auch kein Horchen auf Indizien und Zeichen, sondern ein Reden-Hören, das zwischen Laut und Bedeutung spielt. Es erscheint, wie Abälard sagt, als bloßes Geräusch der Sprache, „dem Geräusch des Tages“ vergleichbar, „das keiner hört, weil’s stets sich hören lässt“ (V. 225 f.). Abälards „Geräusch des Tages“ beschreibt eine Figur des modernen Reden-Hörens, die heute, technologiegestützt, als permanentes, haltloses Sich-Aussprechen kursiert und mit einer sich vertiefenden Krise des Zuhörens einhergeht. Es bedarf einer Technik, die unbedingt zu den Theatertechniken gehört, um solches Reden-Hören auf ein anderes, implizites Verstehen hin zu öffnen. (In diesem Sinn setzt vor allem Jelinek heute das größere Theater Kleists fort.) Es bedarf einer „Öffnung des Zuhörens auf alle Formen der Polysemie“, wie Roland Barthes ein „Zuhören“ beschreibt, das durch „das Implizite, das Indirekte, das Zusätzliche, das Hinausgezögerte“182 hindurch ver-


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sucht, auf etwas anderes zu hören. Ein solches Zuhören geht mit einem anderen Verstehen einher. Es ist nicht darauf aus, Ganzheiten und Figuren herzustellen, sondern versteht sich umgekehrt, von einer notwendig unanschaulichen Totalität her, als Teil. Es handelt sich um ein teilweises Verstehen, das sich in wechselseitiger Hervorrufung als ein anderes versteht und das sich im Reden-Hören denkt. Für diese Szenen eines einander ansteckenden Reden-Hörens entwirft Kleist im Guiskard-Fragment als ein Theater, das nur unter Beteiligten spielt. Es wird deswegen jedoch keineswegs zum „unsichtbaren Theater“183, wie dies Goethe für seine ins Anschauliche verliebte Zeit mit geradezu vernichtender Wirkung für das Kleist’sche Theater befand. Nur eine Auffassung, die sich an der Macht des Signifikanten und am Gesicht orientiert, kann meinen, dass die res extensa auditiver und vokaler Formen sich zwingend unsichtbar vollzieht. Aber diese ausgedehnte Sache trägt sich räumlich, situiert und körperlich zu. Körper teilen sich im Reden-Hören mit und mischen sich präsignifikant ein. Sie färben das Reden nicht weniger als das Hören. Reden-Hören durchquert das Feld des Sichtbaren, löst sich jedoch nicht vollständig von ihm ab. Es unterschreitet den sehenden Weltbezug nur als die erste, maßgebliche Bezugsgröße. Dafür öffnet es sich transkategorialen Zusammenhängen. Die Beweglichkeit des Zuhörens übersteigt das schlichte Ping-Pong personifizierter Rede und schließt etwas in sein Feld ein, das es auftauchen lässt. Zuhören, dieser „anscheinend bescheidene Begriff“184, ist letztlich nicht nur wie ein Theater strukturiert, vielmehr taugt er zur Konzeption eines rückhaltlos öffentlichen Theaters, in dem sich Reden und Hören aufführen wie zwei Sprachen, die miteinander ringen. Werner Hamacher nennt sie „die zwei Sprachen der Philologie“. Wörtlich genommen wären sie zwei Arten einer Liebe zur Sprache, die sich in Hamachers Beschreibung aufführen wie ein Chor. Sie „sprechen mit einander. Aber die zweite kann nur wiederholen, was die erste sagt; die erste nur überholen, was von jener gesagt wird. So sprechen sie einander, sprechen sich auseinander und sprechen ihr Auseinander.“185

Adolph Menzel, Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generäle (1864/5), Ausschnitt



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Kleist / Abfall der Könige, Fürsten und Väter

Der Prinz in der Orchestra

Alle anhand des Guiskard-Fragment angesprochenen Aspekte finden sich auch im Prinz Friedrich von Homburg wieder: Ein Krieg, eine fragliche Beziehung zum Namen, zur Referenz, eine VaterSohn-Konstellation, die Frage des Nachfolgens und dessen Verhinderung oder auch höhnische Reduktion auf einen Scherz. Die Karten werden jedoch, in einer zugleich gedrängteren und weitergefassten Perspektive, anders gemischt. Nicht ein verborgener Feldherr bestimmt das Szenario, sondern ein Kurfürst, der gleichsam in der Fülle seiner Macht steht und sogleich eingreift. Auch da, wo er, wie in der ersten Szene, nicht versteht bzw. gerade da, wo er nicht versteht. Auf diese Weise wird der Kurfürst von Beginn an zum Gegenspieler des Prinzen, der ihn „Mein Fürst! Mein Vater!“ nennt. Zwischen ihnen spielen Hören und Fehlen in den institutionellen Registern, die es hierarchisch zuweisen und ordnen: Das Hören gilt darin als eine einseitig passive und schweigende Haltung. Sie kommt stets Rangniederen zu, deren schweigendes, fehlerhaftes Hören immer wieder als mangelndes Zuhören und fehlender Gehorsam geahndet wird. Demgegenüber bleibt Ranghöheren das Aktivum des Wortes in Gestalt von Befehl, Belehrung oder Anweisung vorbehalten. Hören und Fehlen

Das semantische Feld von Hören und Fehlen bestimmt das Handlungsgeschehen. Es geht um eine Verfehlung des Prinzen, der den Befehlen des Kurfürsten nicht gehorcht, der ihnen, als sie ausgeteilt wurden, nicht zuhörte und der seine Einheit beordert, dem obersten Befehlshaber des Heeres zuwider, früher als befohlen in die Schlacht einzugreifen. Für seinen fehlenden Gehorsam wird er zum Tod verurteilt, was im Stück dazu führt, dass die anderen Figuren auf unterschiedliche Weise eine Rücknahme des Urteils zu erwirken versuchen – denn das Vergehen des Prinzen erscheint ihnen zu geringfügig, als dass es den Tod ‚verdient‘ hätte. Schuld und Strafe scheinen einander nicht zu entsprechen. Die institutionell gehegten Orte von Sprechen-Hören setzen Subjekte zueinander in eine asymmetrische Beziehung. Jede Unregelmäßigkeit, die zwischen ihnen aufgrund dieser Anordnung unvermeidlich ist, lässt sich in den Registern von Schuld und Strafe


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ausdrücken und als Fehlbarkeit ahnden. Darin wirken Erbschaften aus einer religiösen Ordnung des Zuhörens nach, die jedoch neuzeitlichen Transformationen unterliegen: Signifikante Bruchlinien trennen ein Zuhören, das sich (auf protestantischem Weg) immer stärker verinnerlicht und individualisiert, von einem Fehlen, das gleichwohl öffentlich oder kollektiv geahndet wird. Genau entlang dieser Bruchlinie scheinen Hören und Fehlen in Kleists Stück situiert. Das mangelnde Zuhören des Prinzen erscheint individuell motiviert und soll als Fehlbarkeit zugleich nach geltendem Kriegsgesetz und von Staates wegen bestraft werden. Doch der Zustand des Prinzen, der zu Beginn als ‚halb wachend, halb schlafend‘ bezeichnet wird und der ihn, bei Licht besehen, über weite Teile des Stücks nicht verlässt, verlangt es, den Pol einer bloß individuellen Motivation infrage zu stellen. Grundiert wird das zentrale Handlungsgeschehen um den Prinzen durch eine erste Szene, die in ihrer Ambiguität nicht nur als solche rätselhaft ist, sondern darüber hinaus das gesamte Geschehen im Stück infiziert. Ausdrücklich wird das Setting dieser ersten Szene in den letzten beiden Auftritten des Stücks wiederholt. Dennoch sind beide Szenen weit davon entfernt, ein Vor- oder Nachspiel, eine Einführung oder einen Abschluss, also einen Rahmen zu bilden. Vielmehr verhalten sie sich vollkommen asymmetrisch zueinander. Die letzte Szene wirkt randlos, während die erste Szene in das Stück hinein wuchert und zu Wirkungen führt, welche wiederum zu Wirkungen in allen Handlungen und Argumentationen der Figuren führen und im szenischen Sinn deren Grund bilden. Die merkwürdige Oberflächen-Symmetrie, die sich dramaturgisch und inhaltlich nicht einlöst, spiegelt sich auch in der komplizierten Wirkungsgeschichte und in den meisten HomburgKommentaren, die davon ausgehen, dass die Bedeutung des Stücks davon abhängt, wie die erste und letzte Szene interpretiert werden. Die Auffassung, dieses Drama sei „vaterländisch und groß“ (Tieck) oder unter dem Aspekt der letzten Szene konfiguriert „wie ein Märchen“ (ebenfalls Tieck)186 und die damit zusammenhängenden Unsicherheiten über das Genre, hat Jan Mieszkowski zum Anlass genommen, in gedrängter Form die Aporien jener Lektüren nachzuzeichnen, die sich in eine intentionale Struktur des Stücks verstricken.187 Wird das Stück


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„als eine komplizierte Serie von Versuchen des Prinzen (und allen anderen) angesehen, mit den Verwicklungen, die sich aus seinem ungewöhnlichen Verhalten im Eröffnungsakt ergeben haben, zurechtzukommen, trennt der Schluss des Stückes den Anfang und das Ende vom Rest des Dramas“188.

Stützt sich die Interpretation jedoch auf den Schlussakt, erzwingt dies eine Umdeutung der vorangegangenen Akte: Der Kurfürst erscheint dann wie ein „Erzieher, der zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, den Prinzen hinzurichten, sondern ihn lediglich durch ein Bildungsritual führt. Praktischerweise wird damit die seltsame Trance des Prinzen für die Interpretation irrelevant.“ Mieszkowski, der diese Schlingerbewegungen akribisch nachzeichnet, gestattet sich zwischendurch den bezeichnenden Stoßseufzer: „Wozu das ganze Theater?“189 Das Spiel fraglicher Adressierungen

Es handelt sich bei diesem Stück zunächst um ein Theater, das sich ausstellt und das seine Aporien mit dem Selbstbewusstsein eines Theaters schürt, das sich keinem Genre unterstellt, sondern sich lakonisch „Ein Schauspiel“190 nennt. Dabei gleicht seine Selbstreflexivität nicht derjenigen, mit der ein Theater seine Mittel vorführt, Rollen als solche ausweist, mit einem Spiel-im-Spiel die Paradoxien der Fiktion auskostet oder sich an das Publikum direkt adressiert. Viel eher geht Kleists Schauspiel auf das Ganze eines noch nicht festgestellten Theaters. Es beginnt mit dem Versuch, eine Beziehung zwischen der Titelfigur und dem Gesetz zu entwerfen. Die Schwierigkeit, sie herzustellen, geht von beiden Seiten aus. Auf der einen Seite ist das Gesetz, das im Stück den Namen „die zehn märkischen Gebote“ (V. 487) 191 trägt, selbst nicht eindeutig. Es schwankt zwischen einer tyrannischen Inkorporation (durch den Kurfürsten) und seiner Handhabung, Auslegung und Anwendung. Zieht man zusätzlich seine Historizität in Betracht – zumal in einem kriegführenden Preußen, das nicht nur seine Grenzen, sondern auch seine geschichtliche Konsolidierung als Staat allererst sucht –, dann wird die Fragilität dieses Gesetzes, das bestenfalls dabei ist, eines zu werden, im ganzen Umfang deutlich. Auf der anderen Seite sind wir in der Titelfigur auf radikale Weise mit einem solitären und zweideutig changierenden Subjekt konfrontiert. Dessen Versuche, sich zu adressieren, fallen notwendigerweise vage und


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missverständlich aus. Oder sie schlagen in einen Akt heroischer Identifikation mit dem Gesetz um, der nicht weniger Rätsel aufgibt als das Changieren zuvor. Subjekt und Gesetz stellen sich somit beide im Entwurfsstadium vor und entbieten die Versuche, zueinander in Beziehung zu treten, als Schauspiel. Ihre Versuche folgen dem Prinzip von trial-and-error. Kein Herrensignifikant organisiert hier den Eintritt in eine Beziehung. Kleists Schauspiel stellt sich daher als ein Spiel fraglicher Adressierungen dar und darüber hinaus als die unmögliche Sache einer Adressierung als solcher. Die im Stück dargestellte unwägbare, permanent irrende Adressierung reflektiert sich im Faktum, dass Kleist seinem Stück eine Widmung voranstellte, es also als solches adressierte. Damit korrespondiert der ungewöhnliche Umstand, dass es die Titelfigur auf der Ebene ihres Namens zwei Mal gibt. Im Stück heißt der Prinz Arthur, als Stück heißt er Friedrich. Zwischen der Widmung und dem Beginn des Stücks steht das Personenregister, das die einzige Stelle bildet, an der die Titelfigur mit ihrem Doppelnamen genannt wird: Prinz Friedrich Arthur von Homburg. Mit anderen Worten: Prinz Arthur im Stück weiß nichts davon, dass er in einem Stück auftritt, dessen Titel ihn unter dem Namen Friedrich anführt. Dieses auffällige Spiel der zweifachen Benennung verweist unmissverständlich darauf, dass Kleists Stück nicht nur die Darstellung von etwas ist – Versuch einer Selbstadressierung und Herstellung einer Beziehung –, sondern sich selbst als ein solches Ereignis der Bezugnahme gibt. Es ist auch dieses Schauspiel, das sich ereignet.192 Mit dem Namen Friedrich zitiert Kleist eine Tradition des preußischen Hofs, dessen Herrscher ohne Ausnahme Friedrich unter ihren Vornamen führen. Das etymologische Feld dieses Namens ist damit in ganz unterschiedlicher Weise zum einen für eine preußische, dynastische Tradition und zum anderen für die Kleist’sche Widmung in Betracht zu ziehen.193 Kleist widmet ein Exemplar seines Stücks handschriftlich: „Ihrer Königlichen Hoheit / der Prinzessin / Amalie Marie Anne / Gemahlin des Prinzen Wilhelm von Preußen / Bruder Sr. Majestät des Königs / geborne Prinzessin von Hessen-Homburg.“ Adressiert wird damit eine Prinzessin am genealogischen Faltpunkt zwischen väterlicher Linie (Hessen-Homburg) und Ehemann, der als Bruder des Großen Kurfürsten eine bedeutungsstiftende Allianz bietet. Die Darstellung der Homburg-Episode und Siegesfeier nach der Schlacht von Fehr-


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bellin (1675) folgt den von Friedrich dem Großen verfassten und 1751 erschienenen Mémoires pour servir à l’histoire de la maison de Brandenbourg, die vom Feldprediger K. H. Krause in dessen ‚vaterländisches Lesebuch‘ aufgenommen wurden. Im Jahr 1811 trennen die in der Widmung Genannten vier Generationen kurfürstlicher und königlicher preußischer Herrscher vom aktuellen Friedrich Wilhelm III. In Form dynastisch gehüteter Genealogien gehören sie jedoch zu den aktuellen Topografien Preußens um 1810/11. Dies wird nicht zuletzt an den Reaktionen auf dieses Stück deutlich: Prinzessin Wilhelmine erlässt ein Aufführungsverbot gegen das Stück, weil sie durch die Todesfurchtszene die Ehre ihrer Familie, der Hessen-Homburgs, verletzt sieht. Die Kritik von Seiten des Hofs verhindert darüber hinaus den Druck des Stücks. Die Adressierte(n) reagieren als Festung. Die Geste der Adressierung erlaubt es indes, die Wirklichkeit abstrakter Prinzipien hervortreten zu lassen und zugleich das, was durch sie verborgen wird: Preußen ist eine Fiktion und zutiefst ortlos. Es ist gerade nicht „frei, auf mütterlichem Grund“ (V. 1760), wie es der Prinz wünscht, und kein Kurfürst, der das Gesetz die „Mutter meiner Krone“ (V. 1568) nennt, vermag diesen Umstand zu mildern.194 „zerstreut“

Woher rührt die Fähigkeit der ersten Szene, als ein Zustand des Prinzen im Stück zu wuchern, der als zerstreut bezeichnet wird? Den Handschuh habe der Prinz „zerstreut“ (V. 1677) an sich genommen. Bei der Parole habe man ihn „in solchem Grad abwesend ganz“ (V. 1703) gesehen wie noch nie. „Hätt’ ich, mit dieses jungen Träumers Zustand, / zweideutig nicht gescherzt, so […] wär’ er nicht zerstreut“ (V. 1709 f.), formuliert der Kurfürst ironisch, um sich kurz darauf über die „delphsche Weisheit“ (V. 1720) seiner Offiziere zu mokieren und das Gespräch mit ihnen abzubrechen. Die Kennzeichnung zerstreut geht hier mit dem Eindruck eines schrägen Verhaltens des Prinzen einher und seiner Zerrissenheit in Situationen, die eine gesammelte Aufmerksamkeit verlangen. Stets scheint er gleichzeitig einem anderen Zustand zugehörig und einem anderen Feld als jenem, das ihn aktuell umgibt. Im Sichtfeld der anderen ist er vorhanden, jedoch ohne Selbstpräsenz. Im Feld der Aussagen scheint er nur unzureichend oder gar nicht verankert. Mit Ausnahme der Unterredung zwischen dem Kurfürsten und dem Prinzen (V, 7) scheint der Prinz, von Abwesenheiten durchzogen, nicht hier zu sein. Wie ein Pfeil, der sein Ziel sucht,


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scheint er dort zu sein, wo er nicht ist. Warum verhält sich der Prinz zerstreut? Wie lässt sich sein Zustand genauer kennzeichnen und worin besteht er überhaupt? Eine erste Verwunderung muss dem Umstand gelten, dass die Fragen, die sich für uns von der ersten Szene her in Bezug auf das Stück stellen, identisch mit denjenigen der Figuren sind, die in dieser Szene auftreten. Dabei handelt es sich immerhin um den halben kurfürstlichen Hofstaat und einen Großteil des namentlich aufgeführten dramatischen Personals. Durch Hohenzollern aufgeschreckt, versammeln sich diese Figuren nächtlings im Garten. Sie beobachten den Prinzen, widersprechen sich, stellen ihn auf die Probe und gewinnen Eindrücke, die jedoch danach, so scheint es, von allen Beteiligten sofort wieder vergessen werden. Auch in dieser Hinsicht verfahren die meisten Kleist-Kommentare eigenartiger Weise ähnlich wie die Figuren im Stück. Sie halten üblicherweise fest, dass diese Szene den nachtwandelnden Prinzen zeige, der vor der Schlacht von seinem Sieg träumt und sich den Kranz seines zukünftigen Ruhms windet. Damit folgen sie jedoch einer innerszenischen Interpretation, nämlich der von Hohenzollern, und ‚vergessen‘, dass ihre Darstellung nur die Sicht einer Figurenperspektive auf diese Szene referiert, aber nicht die Szene als solche. Die Deutung, die Hohenzollern dem Kurfürsten zum Verständnis der Szene anbietet, stellt sich als ein erheblicher Eingriff dar. Um sie vorzutragen, greift sich Hohenzollern eigens die Fackel eines Pagen und beleuchtet damit selbst den Prinzen wie ein Forschungsobjekt. An den Kurfürsten gewendet, bietet er seine Interpretation dar: „Als ein Nachtwandler, schau, auf jener Bank, / Wohin, im Schlaf, wie du nie glauben wolltest, / Der Mondschein ihn gelockt, beschäftiget, / Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich, / Den prächt’gen Kranz des Ruhmes einzuwinden.“ (V. 24–28) Vor allem die schwierige Behauptung Hohenzollerns, dass der Prinz „sich träumend, seiner eigenen Nachwelt gleich“ befände, eröffnet ein weites, spekulatives Feld, das die Zeitlichkeit des Prinzen betrifft. Diese kann als antizipierendes, träumendes Bewusstsein (wie seine eigene Nachwelt) oder auch als genealogische Anmaßung gedeutet werden. In diesem Fall beanspruchte der träumende Prinz etwas, das nicht ihm, sondern nur einer Nachwelt zukommt: das Nachrühmen. Ohne dieses Moment zu bemerken, entscheiden sich Hohenzollern und Kurfürst zunächst für die Variante der Anmaßung, indem sie sich auf das Motiv eines hybrid begehrten Ruhms kon-


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zentrieren. Wenig später wird dies vom Kurfürsten willkürlich auf einen genealogischen Angriff zugespitzt, der ihm selbst gilt. Die Deutungen der Hofgesellschaft, vor allem Hohenzollerns und des Kurfürsten, beziehen sich auf ein stummes Bild. Im Schlossgarten sitzt der Prinz „mit bloßem Haupt und offner Brust, halb wachend, halb schlafend, unter einer Eiche und windet sich einen Kranz“, als er von Hohenzollern aufgestöbert wird. Mehr ist vom Bild nicht gesagt. Alles andere sind Deutungen Hohenzollerns, der das Bild auf die bevorstehende Schlacht und den Nachruhm bezieht. Der Kurfürst folgt ihm darin als brachialer Hermeneut, der mit der Situation ein weitergehendes, eigenes Vorurteil verknüpft und den Prinzen diesbezüglich auf die Probe stellt. Zunächst lässt er sich von der Trance des Prinzen überzeugen (und lässt damit die Möglichkeit aus, ihn beim Namen in die Gegenwart zurückzurufen). In einer Pantomime nimmt er den Kranz aus den Händen des Prinzen, schlingt seine kurfürstliche Halskette darum und übergibt dieses Gebinde der Nichte Natalie. In diesem Moment reagiert er Prinz erstmals („steht lebhaft auf“ ), während der Kurfürst mit Natalie, die „den Kranz erhebt“, zurückweicht und der Prinz „ihr“ mit ausgestreckten Armen folgt. Dann spricht der Prinz, während Kurfürst, Hohenzollern und die Übrigen entsetzt, als wohnten sie einer Geistererscheinung bei, seine Worte kommentieren und zurückweichen. Der Prinz erkennt ‚die Seinen‘. Er ruft sie beim Namen und nennt sie in ihrer Beziehung zu ihm. Zehn Ausrufezeichen und ein Fragezeichen skandieren seine Verse: „Natalie! Mein Mädchen! Meine Braut!“ (V. 65) / „Friedrich! Mein Fürst! Mein Vater!“ (V. 67) / „O meine Mutter!“ (V. 69). Und schließlich, „nach dem Kranz greifend“ und „den Handschuh erhaschend“: „O! Liebste! Was entweichst du mir? Natalie!“ (V. 70) Als die „rückwärts ausweichende“ Hofgesellschaft die Rampe des Schlosses erreicht hat, heißt es: „Alle ab; die Thür fliegt rasselnd vor dem Prinzen zu.“ Die Einlassungen Hohenzollerns, die Übergriffe des Kurfürsten und die Wahrnehmungen des Prinzen beschreiben völlig verschiedene Szenarien, die aus der Differenz ihrer szenischen Ausgangslagen resultieren. Der Prinz ist schon da, während Hohenzollern, der ihn entdeckt hat, der Kurfürst und alle anderen hinzukommen. Sie sind Zuschauer und Beobachter eines stummen Schauspiels, das nicht für ihre Augen hergerichtet wurde und das nicht die Form einer Aussage besitzt. Sie deuten ein Bild. Hohenzollern und Kur-


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fürst versuchen beide, die Bedeutung dieses Bildes in den Registern von Zweck und Mitteln zu justieren. Dabei wittern sie im Entzug jeglicher Aussage einen Widerstand, der sie zu ihren Vorurteilen anregt. Ihre Interpretationen divergieren: Während Hohenzollern einen hybrid begehrten Nachruhm eher im allgemeinen Sinne annimmt, unterstellt der Kurfürst „zweideutig“ (V. 1709) einen Angriff auf seine eigene, väterliche und kurfürstliche Position und inszeniert daraufhin die Probe. Die Deutungen von Hohenzollern und Kurfürst verfahren äußerst indiskret. Ihnen gegenüber gehört der in seine Pantomime vertiefte Prinz zur Topos-Ordnung eines sehr diskreten Szenarios, das dennoch, wie sich zeigen soll, dieses Stück grundiert. Zu diesem Szenario ist eingangs vermerkt: „Scene: Fehrbellin. Ein Garten im alt-französischen Styl. Im Hintergrunde ein Schloß, von welchem eine Rampe herabführt. – Es ist Nacht.“ Die Dreigliederung der szenischen Orte – Garten, Rampe, Schloss – zitiert, wie schon im Guiskard-Fragment, die antike Gliederung der Bühnenorte. Die Orchestra des Chors grenzt an den Steg als Auftrittsort der Protagonisten (Proskenium), die aus dem Bühnenhaus (Skene) hervorkommen oder dahin abgehen – in ihren „Palast“, wie Schleef sagt. Die Orchestra ist dem Palast vorgelagert, wie hier der Garten dem Schloss. Nun ist dieser Garten aber nicht der Ort eines Chors, sondern der des titelgebenden Protagonisten. Gehen damit in der „Scene: Fehrbellin“ Züge des Chorischen auf den Protagonisten über? Die ToposOrdnung der attischen Szene vor dem Palast insistiert in der von Kleist entworfenen Szene. Sie bestimmt mit der Macht von Gedächtnissen, die Topoi eignet, dass eine Figur, die von diesem Ort ausgeht und ihm zugehört, immer in Beziehung zu einem Außen steht, gegen das sich die herrschende Ordnung verschlossen hat. Insofern steht eine Figur an diesem Ort einer chorischen Erscheinungsweise nahe. Die Szene im Garten handelt von der mangelnden Zugehörigkeit des Prinzen zum Palast. Sie drückt sich im Ort der Rampe aus, die ihm als eine Zone der Verheißung, des Entzugs und der Trennung erscheint. Der Prinz wird sie weder in der ersten noch in der abschließenden Szene betreten. Sie ist der Ort seiner unmöglichen Zugehörigkeit, während die Gesellschaft, die ihn im nächtlichen Garten aufsucht, beleuchtet, beobachtet und kommentiert, vor ihm, „die Ramp’ ersteigend“ (V. 180) zurückweicht. Gegenüber Hohenzollern erinnert sich der Prinz an seinen Versuch, den „Theuren“ zu folgen:


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Die Rampe dehnt sich, da ich sie betrete, Endlos, bis an das Thor des Himmels aus, Ich greife rechts, ich greife links umher, Der Theuren Einen ängstlich zu erhaschen. Umsonst! Des Schlosses Thor geht plötzlich auf; Ein Blitz der aus dem Innern zuckt, verschlingt sie, Das Thor fügt rasselnd wieder sich zusammen (V. 181–187).

Der Ort des Prinzen ist vor dem Palast. Hier sitzt er zu Beginn, hier wird ihm in der letzten Szene die Augenbinde des zum Tode Verurteilten abgenommen, bevor er in Ohnmacht fällt. Es handelt sich um einen Ort mit schwierigen Sichtverhältnissen. Wer hier sehen will, muss Licht mitbringen oder, wie in der Schlussszene, das Schloss selbst erleuchten. In jedem Fall handelt es sich um einen Ort der Artikulation, die unterhalb der Relation des wechselseitigen Sehens spielt. Ausdrücklich bedauert Hohenzollern: „Schade, ewig, Schade, / Daß hier kein Spiegel in der Nähe ist!“ (V. 59 f.) Das Verbindungsstück zwischen den beiden Szenarien von Hohenzollern und Kurfürst auf der einen und dem Prinzen auf der anderen Seite bildet der Kranz, der zwei Mal vorkommt: einmal als Kranz, den der Prinz sich windet, ein anderes Mal als der vom Kurfürsten inszenierte Kranz. An letzteren erinnert sich der Prinz im Gespräch mit Hohenzollern lebhaft, während das anfängliche Szenario des Bindens, das unter sehr vielen Augenzeugen stattgefunden hat, seiner Erinnerung nicht zugänglich ist. Es stellt sich für den Prinzen, der sich nicht selbst in den Blick nehmen kann, als ein bloßes Tun ohne Geistesgegenwärtigkeit dar. Von allem erinnert der Prinz nur das Bild, wie „der Kurfürst, mit der Stirn des Zevs,“ (V. 158) dicht vor ihm „einen Kranz von Lorbeern in der Hand“ (V. 159) hielt. Zudem erinnert er sich an „die – dritte“ (V. 146), die „gleich einem Genius des Ruhms“ (V. 172) vor ihm den Kranz hob, „an dem die Kette schwankte, / Als ob sie einen Helden krönen wollte“ (V. 173 f.) und von der ihm weder Name noch Gesicht, sondern nur der eine Handschuh blieb, den er, als er erwachte, bei sich fand. Der Handschuh ist ein Indiz, das den Prinzen daran hindert, den nächtlichen Vorfall als bloßen Traum beilegen zu können. Er steckt ihn ein und trägt ihn bei sich. Er ist die Körperspur, in der sich sein nächtliches Verlangen materialisiert, ein „Stück des Traums, das ihm verkörpert ward“ (V. 1669), wie Hohenzollern sagt. Der Hand-


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schuh ist als Ding mit jenem Bild verbunden, das der Kurfürst aufwendig inszeniert, indem er sich dafür eigens seiner kurfürstlichen Halskette entledigt. Aber es gibt auch jenes andere Bild, das nicht von ihm inszeniert wurde und auf das er sich gleichwohl stützt. Es betrifft das anfängliche Schon-da des Prinzen, der sich einen Kranz windet. Nach etlichen fehlgehenden Vermutungen löst sich für den Prinzen in der fünften Szene, in der Natalie dringend ihren Handschuh sucht, endlich die Frage, wer „die – dritte“ war: „Jene – die ich meine!“ (V. 148) Aber die Suche des Prinzen führt in ihrem Schatten stets eine andere Suche mit, die sich nicht sagen lässt und die mit dem Szenario verbunden ist, an das er sich nicht erinnert. Zwischen dem Szenario eines unbestimmten Verlangens und dessen Konkretisierung in Natalie klafft eine Lücke, die sie gleichzeitig trennt und verbindet. In der Rede des Prinzen öffnet sie sich entlang des auffälligen Gedankenstrichs in der Funktion einer Ellipse, also einer Redeauslassung. „Jene – die ich meine! / Ein Stummgeborner würd‘ sie nennen können!“ (V. 148 f.) Stumme Requisiten wie der Handschuh gehören zur szenischen Topologie. Requisiten reflektieren raumzeitliche Konstellationen und verkörpern diese. Sie sind beweglich, rätselhaft, gleichermaßen flüchtig und insistierend. Häufig verbinden sie bei Kleist, wie auch im Fall der Perücke im Zerbrochnen Krug, die Nachtseite des Geschehens mit dem Tag. Sie sind verschwistert mit den Körpern der Figuren, wandern zwischen den Beteiligten hin und her und bahnen eine Konkretisierung an, die gleichzeitig ersehnt und abgelehnt wird. „Wo?“

Das diskrete nächtliche Szenario begleitet den Prinzen in nahezu allen Situationen und an allen Orten, an denen ihn das Stück uns zeigt. Der nächtliche Ort wirkt im Zustand des Prinzen als situative Gestimmtheit, während der aktuelle szenische Ort den taghellen, benennbaren, funktionalen Räumen zugehört. Der nächtliche und der taghelle Ort gleiten ineinander, ohne dass einer die Oberhand behielte. Diese Gleitbewegung wird im Stück mit dem Wort Zerstreutheit bezeichnet und bewirkt eine tiefe Orientierungslosigkeit des Prinzen, der sich nicht lokalisieren kann. Die Beziehung zwischen Figur und Ort scheint gestört, fast inexistent und handelt dem Prinzen extreme Probleme ein mit dem „Wo?“ (etwas war, er sich befindet usw.)


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„Wie kommst du hier zur Nacht auf diesen Platz?“ (V. 93), fragt ihn Hohenzollern, nachdem er ihn beim Namen „Arthur!“ (V. 87) gerufen hat und der Prinz, wie von einer Kugel getroffen, zu Boden stürzt. „Je, Lieber!“ (V. 94), lautet die Antwort des Prinzen. Hohenzollern spielt in dieser Szene (I, 4) die diabolische Rolle eines verwirrenden Inquisitors und verschärft die Zerstreutheit des Prinzen mit seinen Fragen: Wo sind Helm und Rüstung? Wo der Schemel? Zur Rechten? Bis der Prinz schließlich seine völlige Orientierungslosigkeit eingesteht: „Bei meinem Eid! / Ich weiß nicht, liebster Heinrich, wo ich bin.“ (V. 111 f.) Die Wo-Frage gilt einem Ort, der sich erst feststellen lässt, wenn ein anderer auf die Frage mit ‚Hier‘ geantwortet hat. Bleibt jedoch die dialogische Antwort völlig aus, wird auch der eigene Ort unsicher. Dann gleiten Räume und Ordnungen wie im Fall des Prinzen ineinander, sodass sein Ort nicht ganz hier, aber auch nicht dort, sondern irgendwo ist. Die Zerstreutheit ergreift den Prinzen und teilt ihn. Der taghell vermessene Raum des staatlichen Geschehens mit seinen Regeln, Verboten, Verordnungen setzt ihm zu. Im Raum der militärischen Disziplin fehlt ihm etwas: „Zerstreut – geteilt; ich weiß nicht, was mir fehlte, / Diktieren in die Feder macht mich irr. –“ (V. 420 f.) In der Vorbereitung zur Schlacht werden zwei völlig verschiedene Szenen parallel geführt. Die Damen sind in Reisekleidern und bereit zur Abreise an einen sicheren Ort: Kurfürstin, Natalie und Hofdamen lassen sich „zur Seite nieder“ (I, 5). Im Zentrum der Szene ist die Generalität versammelt und wartet auf die Austeilung der Order. Im Verlauf des Diktats kommt es zu einer Überlappung beider Szenarien, ausgelöst durch die Wo-Frage: „Wo ist der Prinz von Homburg?“ (V. 271). Der Prinz, mit „Stift und Tafel in der Hand, fixiert die Damen“ (vor V. 248) und überhört die Frage. Durch Hohenzollern aufgeschreckt, „fährt [er] zusammmen“ (vor V. 273) und antwortet: „Hier!“ (V. 273) Diese verwirrende Parallelität der Szenen wird den gesamten zweiten Akt hindurch beibehalten, denn das vorgesehene Schloss „Kalkhuhn“ (V. 235) wird von den Damen nicht erreicht. Sie lassen sich stattdessen im Dorf „Hackelwitz“ (V. 281) nieder, unmittelbar in der Nähe der bei Hackelberge geführten Schlacht. In dieser Parallelanordnung setzt sich die diabolische Strategie fort, die Hohenzollern in der vorangegangenen Szene einführte. Sie treibt die Zerstreutheit des Prinzen systematisch auf die Spitze und steigert sie in eine aussichtslose Zweiteilung. Das „Wo?“


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skandiert diese Szenen, ebenso wie die Richtungsunterschiede rechts und links, die mit der Spiegelrelation in Verbindung stehen. Wo ist der Handschuh? Der rechte oder der linke? (Es ist der linke.) Der Prinz fehlt auf dem Schlachtfeld: Wo ist er? Der Hennings auf unserm rechten Flügel? Gestern auf des Heeres Linken. Die Schwedenboten fliegen rechts und links. Wo? Auf dem rechten Hügel! Den linken wollen sie verstärken. Den rechten Flügel bedecken! Brüder, schaut! Horcht! Bis der Prinz endlich eigenmächtig und vielfach gewarnt den Angriff befiehlt: „Ich nehm’s auf meine Kappe. Folgt mir, Brüder!“ (V. 498) Die Übernähe der beiden Parallelwelten von kriegführenden Militärs sowie Kurfürstin und Natalie verstärkt die Orientierungsproblematik des Prinzen. Die Systematik, mit der sich sein ‚Ungehorsam‘ auf diese Weise vorbereitet, übersteigt jedoch die Figur und lässt sich nicht mehr aus ihrer oder der Perspektive anderer Figuren erklären. Das macht an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung zur Dramaturgie notwendig, denn sie erscheint bei Kleist in einer anderen, ungewohnten Gangart. Die Dramaturgie ist nicht mehr in erster Linie ein Handlungsgerüst oder die Konzeption von Abläufen und turning points, sondern transformiert sich in ein Transportmittel, in ein Fahrzeug. Grundlegend spielt sie auf der Ebene der Konstellation von Figuren: Was sonst eine Konzeption oder ein Gerüst bewirken, ist hier zurückgenommen in Figuren, die keine andere Verbindung untereinander haben als die Sprache des Autors, der „die Figuren aus sich herausschickt“195 , wie Schleef formuliert. Diese Sprache des Autors steht an der Stelle einer Innerlichkeit der Figuren und stellt ihre Verbindung in einem „zusammenhängenden Sprachkörper“ her. Isolierte Figuren hungern nach einer ‚Auffüllung‘ mit Gründen, Innerlichkeit und Substanz. Die Sprache des Autors hingegen bewirkt ihren Zusammenhang, den sie folglich nicht ‚selbst‘ hervorbringen müssen. Wie im Fall der chorischen Standlieder, stiftet die Sprache der Dichtung Beziehungen zum Außen (eines Stücks). Sie ‚begründet‘ Figuren auf einer Ebene der Äußerlichkeit, auf der sie Fahrt aufnehmen, während sie sich in ihren Konstellationen und in ihrer asymmetrischen Wirkung aufeinander unbekannt bleiben. Ihre Wege durch die kleistischen, von Affekten durchlöcherten, dramatischen Gefüge resultieren nicht aus irgendeiner dramaturgischen Konzeption, sondern sind in solitärer Weise mit der Sprache des Autors verknüpft, gehen aus ihr hervor und verschieben sich mit ihr. Figuren und Sprache sind


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durch ihre Rhythmen, ihre Schnelligkeiten, Langsamkeiten und auch ihre Verschwiegenheiten miteinander verknüpft. Ihre enge Verknüpfung ist jedoch die einer innigen Fernbeziehung, nichts Intimes. Stets ist ein sehr großes Ensemble von Figuren tangiert, tendenziell alle. Der damit vorliegende Bezug der Figuren zum Außen ermöglicht und verursacht die blitzartigen Überstürzungen, die Lücken und die extremen Geschwindigkeiten von Transformationen, die sich in den folgenden Szenen abspielen. Wenn wir an dieser Stelle den „zusammenhängenden Sprachkörper“ als Grund der Figuren betonen, gehen wir von einem Ensemble aus und stellen nicht die in sich widersinnige Frage nach einem Grund für die Ortlosigkeit des Prinzen. Durch die eigenartige Engführung beider Parallelwelten von Damen und Militärs bleibt der nächtliche Traumort aus der ersten Szene präsent. Von diesem Ort ausgehend, versucht der Prinz nun dem vom Kurfürsten inszenierten Traum zu entsprechen. Zunächst erkennt er den Handschuh, mit einiger Verzögerung auch Natalie, woraufhin die blitzartige Verlobung mit ihr in der Bauernstube stattfindet (während der Kurfürst irrtümlich für tot gilt). Die Akte seines Gewärtigens verweisen darauf, dass der Prinz ‚nachträglich‘ agiert. Er antwortet dem Kurfürsten. Erst in der Nähe der Schlacht erkennt er Natalie als seine Braut. Aber auch schon im nächtlichen Garten hatte der Prinz nur durch das Anderswoher der kurfürstlichen Deutung seine Braut in Natalie erkannt. Das bleibt der kritische, nicht aufhebbare Punkt. Die Stelle seines Verlangens wurde ihm förmlich implantiert. Der Prinz ist dadurch niemals völlig an seinem Platz (des nächtlichen stummen Bildes) oder am rechten Platz (des Kurfürsten), da diese beiden Plätze divergieren.196 Der Prinz bleibt, trotz Wiedererkennung Nataliens, trotz Blitzverlobung und trotz blitzschnell gewonnener Schlacht, fehl an seinem Platz. Seine Ortlosigkeit und Einsamkeit sind derart grundlegend, dass der (inzwischen inhaftierte) Prinz mit einer nahezu grotesk anmutenden Schnelligkeit in der Lage ist, sich von Natalie loszusagen: „Nataliens […] / Begehr’ ich gar nicht mehr, in meinem Busen / Ist alle Zärtlichkeit für sie verlöscht. / Frei ist sie, wie das Reh auf Haiden, wieder“ (V. 1023–1026) usw. Des Prinzen Rede steigert sich zur „Karikatur eines Abschieds“197, in der eine zweifache, immer noch aus der Szene im nächtlichen Garten resultierende Fernwirkung mitspielt. Der Prinz und Natalie sind füreinander durch eine Asymmetrie hervorgerufen wurden, in


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der sich nichts entsprechen möchte. Es gibt eine Stelle in der Mitte des Stücks (III, 5), an der sich beide sehr fremd zueinander verhalten. Es geht es um ihre Trennung und der Riss platzt auf. Noch in der Welt der Konkretion begriffen, fragt der Prinz, besorgt an Natalie gewandt: „Ja, was erschwing’ ich, Ärmster, das Dich tröste?“ (V. 1044) Von einem Vers zum anderen schwenkt seine Rede plötzlich um. Unvermittelt ist der Prinz nun am Ort seines unbestimmten Sehnens. Von diesem Ort aus ergeht eine abstrakte, schroffe Ablehnung an die Welt der Konkretion, an die von Geschlechterdualismen und vom Nachfolgeschemata geformte Welt. Was sich in den Worten des Prinzen ausspricht und ausschließlich in Imperative kleidet, ist das nackte Schema, in dem sich Geschlechter und Generationenfolge realisieren sollen. Geh an den Main, rat ich, ins Stift der Jungfrauen, […] such’ in den Bergen Dir einen Knaben, blondgelockt wie ich, Kauf’ ihn mit Gold und Silber Dir, drück ihn An Deine Brust und lehr’ ihn: Mutter! stammeln, Und wenn er größer wird, so unterweis’ ihn, Wie man den Sterbenden die Augen schließt. – Das ist das ganze Glück, das vor Dir liegt! (V. 1045–1052)

Das ist keine Rede, die an eine konkrete Figur ergeht, und sie wird von Natalie auch nicht so aufgefasst. Es handelt sich um ortlose Rede, die sich nicht näher beschreiben lässt: eine absolute Anordnung und absolute Verweigerung in einem. Die Anordnung ergeht sich in Imperativen, die Verweigerung füllt ihre Schablonen mit höhnischen Bildern. Über alle mögliche Kennzeichnung hinaus ist der Ort dieser Rede nur absolut singulär einzunehmen. Natalie, die derlei Unbedingtheit nicht kennt, fährt in ihrer gewohnten Beziehungssprache fort, als seien diese Worte des Prinzen gar nicht gefallen. Sie will mit dem Kurfürsten sprechen und will „Ein rettend Wort für Dich beim Oheim wagen: / Vielleicht gelingt es mir, sein Herz zu rühren, / Und Dich von allem Kummer zu befrein!“ (V. 1059– 1061) Der wahnsinnige Abstand, aus dem wiederum Natalies Rede den Prinzen erreicht, wird anhand seiner notierten Reaktion deutlich, die nach einer „Pause.“ erfolgt. Der Prinz „faltet, in ihrem Anschauen verloren, die Hände.“ „O Gott, hört’ ich auch recht? Du für mich sprechen?“ (V. 1064)


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Vom angewiesenen Platz

Die für den Prinzen unlösbare Frage „Wo? (ich bin)“ korrespondiert im Stück mit den Auseinandersetzungen um den Platz in der Schlachtorder. „Vom Platz nicht, der ihm angewiesen, weichen –“ (V. 297) lautet der zentrale Befehl, der diktiert, mitgeschrieben, wiederholt und abgefragt wird, bis auch der Prinz ihn niederschreibt, um dann in der Schlacht „zwei Augenblicke früher, als befohlen“ (V. 849) gegen ihn zu verstoßen. Im Zusammenhang der „Scene: Schlachtfeld bei Fehrbellin“ (II, 1 und 2) bezeichnet der Platz nicht nur den innerhalb einer Schlachtorder angewiesenen Standort, sondern auch den Platz in einer Genealogie, die vom Kurfürsten am Schluss der ersten Szene als Generationenkrieg angekündigt wird. Hohenzollern treibt zur Eile und nennt die kurfürstliche Inszenierung des Traumbildes ausdrücklich beim Namen: „Hier rasch herein, mein Fürst! / Auf daß das ganze Bild ihm wieder schwinde!“ (V. 72 f.) Übergangs- und kommentarlos beschließen daraufhin die martialischen Worte des Kurfürsten die Szene: „In’s Nichts mir dir zurück, Herr Prinz von Homburg, / In’s Nichts, in’s Nichts! In dem Gefild der Schlacht, / Sehn wir, wenn’s Dir gefällig ist, uns wieder! / Im Traum erringt man solche Dinge nicht! / (Alle ab; die Thür fliegt rasselnd vor dem Prinzen zu. Pause.)“ (V. 74–77) Der Kurfürst weiß, dass er mit des Prinzen Zustand „zweideutig“ (V. 1709) gespielt hat. Sein gemeiner Scherz beruht auf einer Unterstellung, die seit Laios als Vaterkomplex schlechthin gelten kann: im Nachkommen den Anwärter auf den eigenen Platz zu wähnen. Der Prinz hat keinen Platz. Das kleine Stückchen altfranzösisch gezähmter Wildnis vor dem Palast ist nur der Ort einer vieldeutigen Geste, die selbst sprachlos bleibt. Die Inszenierung des Kurfürsten spricht ihn an. Er steigt in das Spiel ein, indem er die kurfürstlichen Herrscher „Vater“ und „Mutter“ nennt. Diese Bezeichnungen schließen ihn als Sohn ein. Ausdrücklich heißt es in der kleinen Pantomime, die dem Gerangel um den inszenierten Kranz gilt, dass der Prinz nicht nach dem Kranz mit kurfürstlicher Halskette, sondern nach Natalie greift. Von daher verbleibt ihm von dieser Szene auch nicht etwa ein Zweig des Kranzes, sondern Natalies Handschuh, der linke überdies. Natalie wäre das Verbindungsstück, um im staatlichen Gefüge einen Platz zu gewinnen, der ihm vom Vater her verschlossen bleibt. Der Platz in der Schlachtorder hingegen ist der


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Platz, den man Subalternen und Gehorchenden anweist. Von diesem Platz unter keinen Umständen weichen zu dürfen, bedeutet einen Generationenkrieg. Vom Vater aus werden Kriegsgesetz und Generationenfolge miteinander verwoben. Die kurfürstliche Verdammung trägt unverkennbar theatralische Züge. Sie wirkt in ihrer Härte unverhältnismäßig und in ihrer Rhetorik aufgesetzt. Das dreimalige „Ins Nichts!“ verneint das Verlangen nach Vater, Mutter, Braut und prophezeit dem Prinzen eine absolute Nichtung. Was sich auf der einen Seite als Traum von Zugehörigkeit formuliert, wird von der anderen Seite als Angriff gedeutet, der in den kurfürstlichen Worten als ein absoluter Angriff, von einem absoluten Gegner vorgetragen, erscheint. Wer an den Patz des väterlichen Souveräns will, gehört vernichtet. Die Härte, mit der diese Worte von der Auslöschung handeln, ist die Härte eines nur mit Unbeugsamkeit zu verteidigenden Schemas. Dabei handelt es sich, wie Kleists zahlreiche Verweise auf die römische Antike in diesem Stück verdeutlichen, um das römische Schema der Abfolge von Vater und Sohn. Das römische Modell spitzt die Sukzessionsproblematik von Sohn und Vater zu, indem es die Stelle des Vaters mit der Maxime höchster Autorität verknüpft. Basierend auf der römischen Institution des pater familias, der in Bezug auf seine, nicht durch Blutsbande verbundene familia mit dem Recht über Leben und Tod ausgestattet war, zentriert sich das gesamte Modell der Filiation in der Struktur eines Vaters, der väterlich werden muss, um Nachkommen zuzulassen und ihnen Nachfolge zu ermöglichen, da die Nachfolge in diesem Modell nicht vom Sohn aus eröffnet werden kann. Die Fallstricke dieser genealogischen Ordnung liegen offen zutage. Spezifisch römisch ist die Zentrierung und Zuspitzung auf einen Punkt absoluter Überlegenheit und Machtfülle. „An die Stelle der Größe trat Autorität – etwas, wofür es im Griechischen noch nicht einmal ein Wort gibt“, wie Hannah Arendt festhält.198 Autorität legitimiert ihren Inhaber und verlangt einseitig dessen Anerkennung. Denn Dasein verdankt sich in diesem Modell seinen Gründern, Erzeugern. Produktion durch Filiation wird damit einseitig abhängig von einem Vater und dessen Auffassung vom Prinzip der Nachfolge. Die Tatsache, dass dieser Vater nur einen Platz in einem Modell einnimmt, das über mehr als einen Platz verhandelt, dass das Gesetz dieser genealogischen Ordnung aber nur von einem einzigen Referenzpunkt aus angerufen und gesichert werden kann, hat im Römi-


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schen Recht zu Nachbesserungen geführt. Sie erbrachten die Feststellung eigener Rechte von Nachkommen und deren juridische Fixierung. Aber das Nachfolgerecht erhält dadurch im Modell der Filiation keine eigene, systematische Stelle. Es bleibt abhängig von der Einsicht eines Vaters, der sich selbst zugunsten seines Sohns zurücknehmen muss bzw. schärfer formuliert, der sich zugunsten seines Sohns selbst als Sohn aufgeben muss. Es ist noch einmal an die Szene am Dreiweg vor Theben zu erinnern, in der es um eine Vorfahrt geht. Ödipus erzwingt sie gegen Laios, der sich als der Ranghöhere weigert, beiseite zu gehen. Der Dreiweg wird dadurch zum schlichten Entweder-Oder, zu einer hierarchisch gehüteten Binarität, die ohne alle Abzweigungen ist und nur noch auf einer Linie spielt: vor oder zurück. Die römische Tradition systematisiert diesen Konflikt, indem sie die Position des Vaters auf einzigartige Weise autorisiert. Die Sukzession gestaltet sich dadurch umso fragiler und gelingt auch nie ‚wirklich‘.199 In gewisser Weise lässt sich das römische Schema nur in der Art des Kurfürsten, also theatralisch behaupten. Das Schema selbst wird in den Reden des Prinzen, aber auch des Kurfürsten immer wieder zitiert und variiert und erst gegen Schluss von der Sohnesinitiative mit ihrer Bittschrift abgelöst. Das Schema, das im Kern auf einem Tausch von Leben und Tod basiert, erscheint bei Kleist eingebettet in eine Geschichte gewaltbereiter, vergotteter Souveräne, orientalischer Despoten und tyrannischer Väter. Dabei wird vom Prinzen zunächst das Thema der Zugehörigkeit betont: Den abwesenden, vermeintlich toten Kurfürsten nennt er „Vater“ (V. 611), der „diesen Bund“ (V. 610) mit Natalie schauen und segnen soll. Als Bräutigam und Sieger der Schlacht von Fehrbellin spricht er die Kurfürstin im Wagen auf dem Weg nach Berlin an: „O Mutter!“ (V. 710) und wähnt sich, indem er sie um ihren Arm bittet, schon kurz vor dem Ziel: „O Cäsar Divus! / Die Leiter setz ich an, an deinen Stern!“ (V. 713 f.) Seine unmittelbar darauf erfolgende Gefangensetzung kommt einer Zurückweisung gleich, die ihn seinen Zustand im nächtlichen Garten zitieren lässt: „Träum ich? Wach ich? Leb ich? Bin ich bei Sinnen?“ (V. 765) Im Kreis der Offiziere, Korporale und Reuter (II, 10) sowie in Gegenwart des Kurfürsten quittiert er seine Entwaffnung mit einem Rekurs auf die römische Antike und spricht den Kurfürsten als Vetter Friedrich an: „Mein Vetter Friedrich will den Brutus spielen, / Und sieht, mit Kreid auf Leinwand verzeichnet, / sich schon auf


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dem curulschen Stuhle sitzen: / Die schwed’schen Fahnen in dem Vordergrund, / Und auf dem Tisch die märkschen Kriegsartikel.“ (V. 777–781) Brutus, der seine beiden, an der Verschwörung gegen die Römische Republik beteiligten Söhne ermorden ließ, ist das eine. Das Bild des geraubten Ruhms ist das andere: „Und wenn er mir, in diesem Augenblick, / Wie die Antike starr entgegenkömmt, / Thut er mir leid, und ich muß ihn bedauern!“ (V. 786–788) Der Prinz, der gerade noch drei schwedische Fahnen zum Zeichen seines Siegs vor dem Kurfürsten niedergelegt hatte, weiß sich in seiner Hochachtung untadelig. Er glaubt an ein Lehrstück, das sicher mit einer Begnadigung endet. Worauf sich seine Überzeugung stütze, wird er von Hohenzollern gefragt. „Auf mein Gefühl von ihm!“ (V. 868) antwortet der Prinz, der an die Anerkennung seiner Ergebenheit glaubt: „Mir war der Schatten seines Hauptes heilig.“ (V. 915) Die kurfürstliche Unterzeichnung des Todesurteils nennt er eine Tat, die einen so grausamen assyrischen Despoten wie „Sardanapel ziert, und die gesammte / Altrömische Tyrannenreihe“ (V. 904 f.). Der Vergleich mit dem orientalischen Despoten „Dey von Algier“ (V. 902) wird vom Kurfürsten aufgenommen, der sich gegenüber Kottwitz nicht wie der „Dey von Tunis“ (V. 1412) gebärden will, ebenso wie er in der Unterredung mit Natalie nicht als „ein Tyrann“ (V. 1112) erscheinen will – kurz bevor diese auf des Kurfürsten Art der „Bindung, kalt und öd‘“ (V. 1139) zu sprechen kommt. Der ausnahmslose Bezug zum Gesetz und zu einer Macht, die sich auf das Schwert stützt, ist Nataliens Argumentation zufolge nicht gleichzusetzen mit einem „Vaterland“ (V. 1122), das den Generationen im Plural gehört: „Das wird sich ausbaun herrlich, in der Zukunft, / Erweitern unter Enkels Hand, verschönern“ (V. 1135 f.) und des „Oheims Herbst […] überleben“ (V. 1140 f.). Natalie ist es auch, die den Onkel mahnt, nicht „unmenschlich“ (V. 1110) zu handeln, sondern Milde anzuwenden (V. 1111). Mit Nataliens Bitte wird ein Feld eröffnet, das die starre Entgegensetzung von Vater und Sohn erweitert. Nicht nur die sich letztlich von Rom herleitende Frage steht zur Debatte, sondern auch, ob der Kurfürst Milde walten lässt, was einem barocken Souverän jederzeit möglich ist. Ist sein demonstrativer Bezug auf das Gesetz frei von Willkür und Eigennutz? Beansprucht er eine in ihm selbst gründende, omnipotente Autorität, die ein Gesetz ohne Gnade zur eindimensionalen Rache verkümmern ließe?


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Gesetz und Gnade

Ebenso hauchdünn wie die Verfehlung des Prinzen sind auch die Verfehlungen des Kurfürsten gezeichnet. Sie gründen in einer bezeichnenden Krümmung barocker Staatslehre und Gesetzlichkeit, die neben der Rechtssetzung und gerichtlichen Rechtsprechung auch die Möglichkeit des Souveräns kennt, über Handhabung und Durchführung des Rechtsspruchs selbst zu entscheiden. In Bezug auf die rechtmäßige Regel ist das Gesetz eindeutig: „Das Kriegsrecht mußte auf den Tod erkennen“ (V. 870). In Bezug auf seine Anwendung kommt jedoch ein Moment der freien Handhabung ins Spiel. Es ist dem Kurfürsten möglich, „wie das Urtheil frei ihm stellt“ (V. 883), anders zu entscheiden. Jedes Urteil muss unterschrieben werden. Das Zwiefache von Gesetz und Handhabung verursacht das eigentümliche Schwanken des Kurfürsten und lässt ihn wie einen Spieler erscheinen. Unablässig erfindet er Wenn-dann-Folgen, um seine Entscheidung, die er über drei Akte lang offenlässt, in diese oder jene Richtung zu lenken: „Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Cassier’ ich die Artikel: er ist frei! –“ (V. 1185 f.) Nicht anders als der Prinz versucht der Kurfürst, in der Position, eine Entscheidung treffen zu müssen, eine Beziehung zwischen sich und dem Gesetz zu entwerfen. Einerseits gibt das Gesetz diese Beziehung als solche nicht her, andererseits kann es jedoch auch nicht von allein regieren. In der Moderne tritt die Inkonsistenz des Gesetzes als Instanz ins Bewusstsein, seine Papier- und Buchstabengestalt und damit seine Auslegbarkeit. Was damit an Gewicht und Bedeutung fraglich wird, soll mit einer besonderen Theatralität seiner Behauptung ausgeglichen werden. Das Begriffspaar Gesetz und Gnade ist einem Text von Ivan Nagel entliehen, der im Prinz von Homburg zwei Traditionslinien am Werk sieht. Die eine, eher auf den Pol des Kurfürsten bezogene Traditionslinie kennzeichnet er mit dem Gegensatz Gesetz und Gnade: Dieser „scheinbar archaischere Gegensatz sammelte sich ganz erst im französischen Barock (gebunden an Absolutismus, Souveränität)“200. Die andere Traditionslinie, die sich stark auf die Figur des Prinzen bezieht, belegt Nagel mit dem Begriffspaar Individuation und Selbstopfer, das sich als das „täuschend modernere schon in der athenischen Antike (entbunden von Demokratie, Emanzipation)“ gebildet habe. Den Theaterdonner, mit dem der Kurfürst sich umgibt, aber auch die Sache seiner Entscheidungsnot, sieht Nagel


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demnach in der Souveränitätsgeschichte, zuletzt französischer Machart, fundiert. Im Begriffspaar von Selbstwerdung und Selbstopfer hingegen scheinen Referenzen auf, die sich möglicherweise auf Ödipus beziehen, aber vielleicht noch mehr für eine Sohnesgeneration einstehen, die in Peter Steins legendärer Homburg-Inszenierung von 1972 auch ihre Rebellion gegen das väterliche Über-Ich wiedererkannt hatte.201 Doch zurück zu Kleist. In einer Rede von Kottwitz wird die ganze Ambivalenz eines Gesetzes aufgerollt, das nicht mehr nach Tyrannenart inkarniert, sondern von einem modernen, kriegführenden Souverän gehandhabt werden muss. Um des Prinzen Sieg in Schutz zu nehmen, ist Kottwitz zum Kurfürsten gekommen, doch dieser wehrt ihn ab: Nicht den Sieg, der „ein Kind des Zufalls“ ist, sondern „das Gesetz will ich“ (V. 1566 f.). Der Kurfürst will die unbedingte Sprache des Gesetzes, die kein Gesicht hat. Kottwitz deutet die Aporien des höchsten Gesetzes hingegen kriegerisch. Herr, das Gesetz, das höchste, oberste, Das wirken soll, in Deiner Feldherrn Brust, Das ist der Buchstab Deines Willens nicht; Das ist das Vaterland, das ist die Krone, Das bist Du selber, dessen Haupt sie trägt. […] Die Regel, die [den Feind] schlägt, das ist die höchste! (V. 1570–1578)

Nicht die Schlachtorder als der vom Feldherrn diktierte ‚Buchstab seines Willens‘ zählt am höchsten, sondern allein der Sieg fürs Vaterland, egal, wie er zustande kommt. Kottwitz zufolge trägt das höchste Gesetz die Namen „Vaterland“ und „Krone“. Im nächsten Vers wird es im Sinn einer Reihung zusätzlich auf den Souverän „selber“ und auf „dessen Haupt“ bezogen. Zur doppelten Körperschaft des Souveräns, die hier anklingt, kommt die Funktion des kriegführenden Feldherrn. Diese will der Kurfürst, so scheint es, auf die Ebene der Repräsentation und des gekrönten Hauptes ausdehnen. Will er den Krieg verallgemeinern, wenn er darauf beharrt, dass das Gesetz „die Mutter meiner Krone“ (V. 1568) sei? Kottwitz jedenfalls zieht ein weiteres kriegerisches Register heran: Ein Heer, sagt er, muss glühen. Es sei kein Werkzeug wie ein Schwert, das „tot in deinem goldnen Gürtel ruht“ (V. 1581). „Da die Empfindung einzig retten kann“ (V. 1587), entscheide sich das kriegerische Herz „frei“


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und „unabhängig“ (V. 1592) für seinen Souverän, an dem es gleichwohl ‚glühend hängt‘ (V. 1579). Der Kurfürst reagiert ratlos. Er würde mit Kottwitz „nicht fertig“ (V. 1610) und „der spitzfünd’ge Lehrbegriff der Freiheit“ (V. 1619) behage ihm nicht. Er verlangt nach einem Sachwalter, der „meine Sache führt!“ (V. 1614 f.), und lässt nach dem Prinzen rufen, was die Offiziere in ungläubiges Staunen versetzt: „Wen holt –? Wen ruft –?“ „Ihn selber!“ „Nein unmöglich!“ Der Bezug zum Gesetz wird gesucht, aber er lässt sich nicht herstellen. Wenn seine Handhabung letztlich von Entscheidungen im Einzelfall abhängt, würde es niemals ganz frei von Schwäche und Willkür sein können. Den Zufall möchte der Kurfürst jedoch als das vom Gesetz Unterschiedene brandmarken, er möchte das Nicht-Gesetzliche mit Hilfe des Gesetzes ausschließen. Nun scheint es zwar nicht völlig unmöglich, das Gesetz von seinem Gegenteil zu unterscheiden. Doch was das Gesetz als das von ihm unterschiedene Singuläre notwendig ausschließt, ist derart zufällig, dass es niemals vor dem Gesetz erscheinen kann. Es handelte sich um eine absolute Überhöhung des Gesetzes über ein gesellschaftliches Mittel hinaus. In der Rede des Kurfürsten nimmt es die phantasmatischen Ausmaße einer Siegesmaschine an. Weil das, was es regeln soll, das Gewimmel und Gedränge der Schlacht nicht auf Papis Stimme hört, wünscht er die Autokratie des Gesetzes. Die unmögliche Figur, die sich in seiner Unterredung mit Natalie (IV, 1) abzeichnet und die sein Schlingern zwischen Gesetz und Gnade ausmacht, besagt: Das Zermalmte soll sich aufrichten, das Fassungslose soll sich fassen. Und wenn es sich aufgerichtet und gefasst hat, sollen „Kriegszucht und Gehorsam“ (V. 1617) herrschen. Unkalkulierbar schwankt der Kurfürst zwischen Wenn und Dann, bis er schließlich „halb entkleidet“ (V, 1) vor der „Rebellion“ (V. 1428) seiner Offiziere zugunsten des Prinzen steht. „Nun gut!“ antwortet der Kurfürst: „So ist mein Herz in ihrer Mitte.“ (V. 1442) Das Drama des Kurfürsten, der als Agent eines Gesetzes ohne Vermittlung auftritt, ist hier am Nullpunkt. Sein Schema lässt sich nur mit äußerster Härte behaupten. Oder es lässt sich nicht behaupten, dann wird es einfach weggeworfen. Genauso überraschend und übergangslos wie diese Geste, mit der der Kurfürst sein „Herz“ in die Mitte seiner rebellierenden Offiziere wirft.


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Versöhnung

Der alte Kottwitz wird im Stück als Gegenentwurf einer vermittelnden Vaterfigur gezeigt. Was der Kurfürst nur für „ein Wort“ (V. 1513) hält, mit dem er vernichten oder aufrichten kann, bildet in der Szene (V, 5) um Kottwitz eine vielköpfige Versammlung. Sie berät die von Kottwitz vorbereitete „Bittschrift, die allerhöchste Gnad erflehend, / Für unsern Führer, peinlich angeklagt, / Den General, Prinz Friedrich Hessen-Homburg.“ (V. 1514 ff.) Es geht um eine Vermittlung, die aus einer Hundertschaft von Offizieren hervorgeht. Als Sohnesinitiative richtet sie sich an den patrem patriae. Ihre Bittschrift will die Anerkennung eines Sohnes durch einen Vater ‚in seinem Herbst‘ (wie es in der Unterredung Natalies mit dem Kurfürsten heißt). Er soll den Sieger von Fehrbellin, wie Kottwitz ihm auseinanderlegt (V. 1529–1536), einen rechtmäßigen Sieger nennen und ihn nicht länger um seinen „Ruhm“202 betrügen. Die Offiziere richten sich nicht mit einem Gnadengesuch an den Kurfürsten, sondern mit einer Bitte, deren genauen Wortlaut wir nicht kennen, denn der Kurfürst liest sie stumm, gefolgt von der Notiz „Lange Pause“. Die Bittschrift nimmt des „Prinzen That in Schutz“ (V. 1524), merkt der Kurfürst als erstes an. Sie ist daher weniger ein Bittruf als eine Fürsprache und eine dialogische Bitte um Anerkennung. Da sie sich an einen ‚Vater‘ richtet, ist sie zugleich auch eine genealogische Bitte um Versöhnung. Aufgrund der unaufhebbaren Asymmetrie von Vätern und Söhnen ergeht eine derartige Bitte stets vom Sohn aus. Sie erbittet die Anerkennung durch den Vater und bittet um ihr Gehörtwerden. Die genannte Asymmetrie bewirkt weiter, dass die Bitte stets von Söhnen im Plural ausgeht und sich an einen väterlich gebietenden Singular richtet. Diese genealogische Bitte steht in ihrer Reinform unmittelbar vor der ersten Erklärung des Prinzen an den Kurfürsten (in V, 7). „Mehrere Offiziere (vordringend ). / Mein Herr und Kurfürst! Mein Gebieter! Hör uns!“ (V. 1748) Kottwitz, der die Sohnesinitiative anregt und ihr Wortführer wird, tritt zum ersten Mal in der Szene der Schlacht bei Fehrbellin auf. Ist der erste Akt der Ortlosigkeit des Prinzen und der Positionierung des Kurfürsten gewidmet, so beginnt der zweite Akt wie Plan B mit Kottwitz als einer alternativen Vaterfigur, die in Form einer denkwürdigen szenischen Parenthese eingeführt wird. Die Szene dehnt sich, bevor sie beginnt, ins szenische Off aus und schließt dieses einen Moment lang ein. Ihr Anfang wird hier im Zusammenhang zitiert:


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Erster Auftritt

Obrist Kottwitz, Graf Hohenzollern, Rittmeister von der Golz und andere Offiziere, an der Spitze der Reuterei (treten auf). Obrist Kottwitz (außerhalb der Scene). Halt hier die Reiterei, und abgesessen! Hohenzollern und Golz (treten auf ). Halt! – Halt! Obrist Kottwitz. Wer hilft vom Pferde mir, ihr Freunde? Hohenzollern und Golz. Hier, Alter, hier! (Sie treten wieder zurück.) Obrist Kottwitz (außerhalb). Habt Dank! – Ouf! Daß die Pest mich! – Ein edler Sohn, für euren Dienst, jedwedem, Der euch, wenn ihr zerfallt, ein Gleiches thut! (er tritt auf; Hohenzollern, Golz und Andere, hinter ihm.) Ja auf dem Roß fühl’ ich voll Jugend mich; Doch sitz ich ab, da hebt ein Strauß sich an, Als ob sich Leib und Seele kämpfend trennten! (er sieht sich um.) Wo ist des Prinzen, unsers Führers, Durchlaucht. Hohenzollern. Der Prinz kehrt gleich zu Dir zurück! Obrist Kottwitz. Wo ist er?

Diese Miniatur eines anderen Vater-Sohn-Verhältnisses bildet in extremer Verdichtung und Präzision den Rand einer Szene, die ihr Off wie ein größeres oder vergessenes Theater berührt. In dieser Berührung wird die Szene porös. Im Schatten des größeren Theaters außerhalb entsteht im Auf- und wieder Zurücktreten eine Übergangszone. An dieser Schwelle öffnet sich die Szene in einen Hörraum, dessen Echo auf der Bühne erscheint. Die Bühne ist zuerst Ort derer, die antworten. Was sie sagen, erhält seinen Anstoß von woanders her. Kottwitz wird zuerst nur gehört, Hohenzollern und Golz bilden auf der Szene sein doppeltes Echo. Sie stehen zueinander in einem Verhältnis von Alter und Jugend, um das es in diesen wenigen Zeilen geht. Der Alte in der Funktion des Vaters im Singular, die Jüngeren am Platz des Sohnes im Plural. Sie rufen einander „Halt!“ zu, um sich zu treffen. Ihr dreifaches Rufen schließt aus,


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dass es sich um eine einfache Konfrontation handelt und dass sie entlang einer simplen Linie verläuft. Vielmehr zeigt die Parenthese zwischen den beiden brüderlichen „Halt!“-Rufen an, dass es hier um die Miniatur einer gemeinsamen Raumbildung geht, die von vornherein Zwischenräumlichkeit einschließt. Der dialogische Raum wird durch den Alten eröffnet, der sich an die Jüngeren mit der Bitte um Hilfe wendet. Die Jüngeren bestätigen, dass sie ihn gehört haben, dass sie seine Bitte verstanden haben, dass sie ihm helfen werden – beide. In ihrer irreduziblen Replik „Hier, Alter, hier!“ ist ihre zweifache Bereitschaft zu hören. Sie gilt sowohl im Fall des einen wie auch im Fall des anderen, also in jedem Fall. Sie wissen sich als Jüngere angesprochen, indem sie ihn als „Alten“ titulieren. Ihr jeweiliges „Hier“-Sagen erfüllt das dialogische Minimum, das zugleich ein Maximum ist, indem es den Bittenden gleichsam mit einer carte blanche des Hier-Sagens bestätigt: Hier bin ich. Genau an dieser Stelle eines Hier-Sagens, das größer und umfassender ist, als der Zuschnitt einer Figur, die unter dem Namen Hohenzollern oder Golz eine Rolle im Drama um den Prinzen von Homburg spielt, treten die beiden aus der Szene zurück ins Außerhalb. Es ist der Raum der Bitte des Alten und der Raum eines Dienstes, den man abweisen kann, was diese beiden jedoch nicht tun. Der Alte dankt ihnen, die hier, in diesem Fall, für ihn da waren. Er verbindet seinen Dank mit der aufschlussreichen Formulierung einer Regel, die als Grundregel einer Genealogie gelten kann, die anstelle von bestimmten Abstammungslinien eher indefinite Gattungsmenschen im Blick hat: Ein Sohn [ist], wer euch, wenn ihr alt seid, [das] Gleiche tut! Eine Genealogie von Gattungswesen verhält sich gleichgültig gegenüber der sexuellen Reproduktion. Sie setzt Ältere und Jüngere zueinander in ein Verhältnis der gegenseitigen Hilfe, die jedoch nicht reziprok erbeten oder gewährt werden kann. Die Logik ihrer Gegenseitigkeit suspendiert das konfrontative ‚Wie du mir, so ich dir‘. Sie rechnet vielmehr mit dem Plural der Generationen, mit Älteren und Jüngeren, die jeweils ihre Plätze finden und dabei Querverbindungen eingehen, die es ihnen erleichtern, Plätze einzunehmen und zu verlassen, die mit dem Quantum ihres Lebensalters zu tun haben und demnach Umgang mit der je eigenen Sterblichkeit darstellen und einüben. Ein Sohn ist nicht per Abstammung oder Geburt, sondern erweist sich durch sein bestimmtes Tun als solcher. Die beiden Verse, die Kottwitz spricht, heben zu einer Definition an, die durch das fehlende Verb sein jedoch gerade nicht in


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eine ontologische Aussage überführt wird. An deren Stelle steht eine grammatische Konstruktion, die mit ihrem Dativ die Zugehörigkeit betont: „Ein edler Sohn, […] Der euch“. Vorausgegangen ist eine Bitte des Alters. Ein Sohn entsteht in dieser Bezugnahme, zwischen einer Bitte und der Einwilligung, ihr zu entsprechen. Seine Einwilligung wiederum ist nichts, das ihn ständig oder gratis auszeichnet, sondern gebunden an eine Bitte des Gegenübers, an dessen äußerstes Alter: „Der euch, wenn ihr zerfallt“. Nachdem dieser Grundsatz formuliert ist, erscheint Kottwitz auf der Szene und gibt eine weitere, bildstarke Erläuterung für seine Bitte: Auf dem Pferd, so Kottwitz, „fühl’ ich voll Jugend mich“ (V. 371 f.), doch abgesessen, scheint es ihm, als kämpften Leib und Seele derart, als wollten sie sich trennen. Nicht von ungefähr geht es hier um den Vorgang, von einem Pferd abzusitzen, vom Pferd, das als archetypisches Attribut des jungen Kriegers gilt und darüber hinaus mit dem jungen, potenten Mann in einem so hohen Maß verschwistert ist, dass es auch stellvertretend für dessen sexuelle Attraktion überhaupt einsteht. Insofern ist die Bitte des Alten keine x-beliebige. Vom Pferd absitzen heißt in dieser äußerst präzisen Miniatur des Generationentauschs, nicht mehr der junge Mann zu sein, diesen Platz mithin zu räumen und den Boden des Alters einzunehmen, auf dem man zu Fuß geht und der Körper nicht mehr will. Der Alte/Vater zieht sich zurück, er wechselt den Platz. In Bezug darauf ist Kottwitz’ Bitte in rudimentärer Form die einzige Bitte, die vom Alter an die Jungen, vom Vater an die Söhne ergehen kann. (Jede andere Bitte würde lediglich okkasionelle Dienste betreffen.) Er spricht sie an dieser Kippstelle als „Freunde“ an: Ununterscheidbar gehen darin brüderliche Freundschaft als noch geteilte Sohnschaft sowie eine mögliche intergenerationelle Freundschaft zusammen, insofern der Alte/Vater seine eigenen Ansprüche als Sohn aufgibt. In Bezug auf diesen Platzwechsel lauten die ersten beiden Worte des Alten „Halt hier“, die von den beiden Söhnen, jeweils verdoppelt, in zwei eigenen Versen wiederholt und bestätigt werden. Alter und Vater werden, nicht weniger der Sohn. In der Asymmetrie der Alter geben Söhne nichts zurück, sondern immer nur ein in der Wiederholung Differierendes voraus. Ihr Geben ist keine Kopie. Dass es in dieser Miniatur um eine Alternative zum starren Schema des Kurfürsten geht, zeigt zuletzt vor allem der kryptische Stoßseufzer, den Kottwitz, immer noch „außerhalb“ der Szene, hervorbringt: Nach einer seltsamen Lautnotierung, die einem erleich-


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terten Ausatmen nach getaner, schwerer Arbeit nahekommt, taucht zwischen zwei starken Ausrufungszeichen ein Satzrest auf, der auf die Pest anspielt: „Ouf! Daß die Pest mich!“ Es ist in diesem Zusammenhang die Pest, die im Guiskard-Fragment eine Rolle spielt und die den Versuch des Ödipus begleitet, ‚seinen eigenen Anfang‘ sehen zu wollen. Die Pest steht hier zum einen für die regellose Ansteckung, die in den genannten Beispielen die Versuche säumt, Sukzessionsfolgen zu bilden. Wo Stammbäume im Namen eines Vaters begründet oder fortgesetzt werden sollen (und darin unendlich scheitern), tritt sie als nichtende Gewalt auf. Die Pest erscheint daher zum anderen als Signum einer mannigfaltigen Gewalt von Tod und Leben, die ihrer sozialen Hegung widerstrebt. Sie erscheint als Figur dessen, was nicht gewusst werden kann und was sich infolge dessen als Überschuss eines Nichtregulierbaren in allen Versuchen auswirkt, die Fortsetzung von menschlichem Leben im Namen von Protagonisten zu regeln. Die Pest ist eine Anti-Genealogie. In der Absolutheit ihrer Wirkung unterhält sie eine Beziehung zum verstummten Allgemeinen der Gattung im Plural und auf einer Ebene, die in den Metamorphosen des Ovid mythologisch mit Ameisen verknüpft erscheint.203 Als Metapher für das, was im Versuch genealogischer Ordnung nicht gewusst werden kann, geht sie in der Tragödie des Ödipus eine Verbindung mit der Thematik des unbedingten Wissenwollens ein. Das größere Theater im Prinz von Homburg

Neben den namentlich gekennzeichneten Figuren nennt das Personenverzeichnis zusätzlich: „Offiziere, Korporale und Reuter. Hofkavaliere. Hofdamen. Pagen. Heiducken. Bedienten. Volk jeden Alters und Geschlechts.“ Wesentlich ist, dass bei Kleist die Auftritte häufig nur um der neu Eintretenden willen unterschieden werden, während „Die Vorigen“ stets bleiben. So verzeichnen zum Beispiel die sechs Auftritte in der Szene Zimmer in einem Dorf (II, 3-8) nur die jeweilig Hinzukommenden. Am Ende des achten Auftritts befinden sich in dieser Stube fünf namentlich genannte Personen (Die Kurfürstin, Natalie, Prinz von Homburg, Rittmeister von Mörner, Graf Georg von Sparren), sechs nicht namentlich genannte Personen (ein Hofkavalier, ein Bauer und seine Frau, zwei Reuter, ein Wachtmeister) und eine nicht näher präzisierte Anzahl von mehreren Hofdamen. Nach demselben Prinzip findet sich im Saal des Schlosses im fünften Akt (V, 1–9) für die von Kottwitz angezettelte


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Sohnesinitiative die größte Ansammlung von Personen in einem Innenraum zusammen, die das Stück aufweist. Neben 14 namentlich genannten Figuren, weitere 15 nicht namentlich genannte Individuen, häufig im Plural, sodass von dreißig oder mehr Personen ausgegangen werden muss: Der Kurfürst, Graf Truchß, Graf Hohenzollern, Rittmeister von der Golz, Pagen mit Lichtern, zwei Bediente, Feldmarschall Dörfling, zwei Heiducken, Obrist Kottwitz, Obrist Hennings, Graf von Sparren, Graf Reuß, Rittmeister Stranz, andere Obristen und Offiziere, ein Offizier, Prinz von Homburg (nur im siebten und achten Auftritt), ein Offizier mit Wache, Natalie, Kurfürstin, Hofdamen. Der Ort des Gefängnisses konterkariert dieses Prinzip des Hinzukommens, das bei Kleist so weit wie irgend möglich Anwendung findet. Szenisch wird damit eine grundlegend chorische Verfasstheit der Orte und Situationen behauptet.204 Eine nicht zu überbietende Steigerung erfährt dieses Prinzip eines Theaters, das nur unter Beteiligten spielt, am Ende des zweiten Aktes in der Szene, die den Sieg bei Fehrbellin im Berliner Lustgarten und der Schlosskirche feiert. Die Topografie der Szene wiederholt die antike Dreigliederung der szenischen Orte aus der ersten (und letzten) Szene im Prinz von Homburg. Es ist die Szene vor dem Palast: ein offener Platz, hier der „Lustgarten“, steht für die Orchestra – Schloss und Schlosskirche für den Palast bzw. die Skene – die Treppe für das Proskenium. „Scene: Berlin, Lustgarten vor dem alten Schloß. Im Hintergrund die Schloßkirche, mit einer Treppe. Glockenklang; die Kirche ist stark erleuchtet“. Im neunten und zehnten Auftritt versammeln sich hier vier namentlich genannte Figuren, dazu Gruppen von unterschiedlichem Hofpersonal und dazu die Menge der Vielen, die hier wiederum als unbestimmtes Volk jeden Alters und Geschlechts auftreten: „Der Kurfürst, Feldmarschall Dörfling, Obrist Hennings, Graf Truchß, und mehrere andere Obristen und Offiziere treten auf. Ihm gegenüber zeigen sich einige Offiziere mit Depeschen. – In der Kirche sowohl als auf dem Platz Volk jeden Alters und Geschlechts.“ Bevor sich der Kurfürst zur Siegesfeier in die Kirche begibt, stößt „zu den Vorigen“ noch ein wahres Meer aus schwedischen Fahnen, deren Träger akribisch genannt werden. Fünf namentlich Genannte tragen acht Fahren. Hinzu kommen Gruppen im Plural mit weiteren Fahnen: „Der Prinz von Homburg, drei schwedsche Fahnen in der Hand, Obrist Kottwitz, mit deren zwei, Graf Hohenzollern, Rittmeister Golz, Graf Reuß, jeder mit einer Fahne, mehrere andere


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Offiziere, Korporale und Reuter, mit Fahnen, Pauken und Standarten, treten auf.“ Wenn der Kurfürst, Fahnen und Gefolge über die Treppe „[a]b in die Kirche“ gehen, ist der Prinz schon fort „und geht ab“ ins Gefängnis. Wiederum bildet die „Treppe“ die heikle Zone des Übergangs von außen nach innen. Sie steht in der Topografie dieser Szene an derselben Stelle wie die „Rampe“ in der ersten und letzten Szene des Stücks. Sie ist für den Prinzen vor dem Palast nicht zu überschreiten. Das größere Theater, das Kleist im Guiskard-Fragment als ein Theater ohne Zuschauer entwirft, insofern es coram publico auf der Szene spielt, hat hier seinen Ort inmitten des Schauspiels. Es entfaltet sich in dem Moment, in dem der siegreiche Prinz mitsamt seiner blitzverlobten Braut und einer „Mutter“ (V. 710) sicher ist, von der Souveränität angenommen zu werden: „O Cäsar Divus! / Die Leiter setz’ ich an, an deinen Stern!“ (V. 714) Der Prinz fährt der „Scene: Berlin“ entgegen, die so lange, bis der Kurfürst ihn zurückstößt und verhaften lässt (V. 750), seine Szene ist. Eine Szene gelingender Zugehörigkeit. Sie spielt als Versammlung in denkbar größter Öffentlichkeit unter freiem Himmel. Der ‚göttliche Cäsar‘ wird angerufen. Das Geläut der Schlosskirche erklingt festlich und rahmt weihevoll diese Szene, die alles in allem ein vollkommenes Echo der römischchristlichen Theologie darstellt, wie sie von der monarchischen Souveränität als einer modernen politischen Theologie abgelöst und wiederbelebt wurde. Die aus Anlass des Siegs bei Fehrbellin zusammengeströmte Menge sammelt sich „auf dem Platz“. Sie ist keine um die Achse paternaler Souveränität zentrierte Masse und sie erscheint nicht geschlossen. Sie ist nicht ausgerichtet, sondern bloße Ansammlung. Sie hat keine Fassung. Eine zufällige Gesamtheit, reine Mannigfaltigkeit oder Gewimmel, in der staunenswerten Öffentlichkeit dieser Szene. Als eine solche, in der Äußerlichkeit vorliegende und mit ihr übereinkommende Menge steht sie im Zusammenhang mit der Figur des Prinzen, die im Außen bleibt. Volk jeden Alters und Geschlechts ist der Chor, der dieser Figur auf das Genaueste korrespondiert. Wo sich der Prinz Geschlecht und Alter anzueignen sucht, wo er sich sammelt oder zusammennimmt, ist er mit der Sprache eines Schemas konfrontiert, die ihn augenblicklich „fassungslos“ (V. 1171) macht. Das ist sein Molekular-Werden, seine Ahnung von unermesslichen Verzweigtheiten, die sich in keinem Schädel ordnen lassen.


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Der Prinz in der Orchestra

Das größere Theater Kleists lagert an der Peripherie des Stücks und bildet seinen Rand. Ebenso geht es durch die Mitte hindurch und von der Mitte aus. Es wird von Kleist stets durch eine Variante der antiken Dreigliederung der Bühnenorte markiert. Der szenischen Logik dieser Topologie zufolge ist der Prinz in der Orchestra situiert. Als Außenseiter dringt er in das Theater der Staatlichkeit über eine Grenze ein, die als Grenze der Tageshelligkeit, der Gesellschaftlichkeit, der bevorzugten Bündnisse, der Ehe, der Familie, der Gesetzlichkeit usw. bezeichnet werden kann. Es geht um eine multiple, sich ständig verändernde und vervielfältigende Grenze, nicht um eine einmalige oder lineare. Seine Allianz mit dem Chor-Ort macht es unmöglich, die Figur des Prinzen im Widerspruch von Individuum und Gesellschaft zu situieren. Genau genommen unterminiert diese Allianz den Begriff der Figur, der als solcher Einheit und Identität suggeriert. An deren Stelle erscheinen hier Zustände, situative Gestimmtheiten, die offenen Ringen gleichen und an zahllosen, ineinander verschachtelten Bewegungen zwischen Himmel und Erde teilhaben. Halb wachend, halb schlafend ist der Name eines Zustands, der nicht auf eine teilbare Struktur zurückgeführt werden kann. Die Zerstreutheit des Prinzen kommt daher, aber auch seine Fähigkeit, eine Blume zu lieben und zu spüren, wie sie „lieblich duftet“ (V. 1840). Die fortwährende Allianz des Prinzen mit der Orchestra wirkt als irreduzible Vielheit unter der Maske des Individuums. Zerstreut in eine Vielheit, die schlicht das Mehrfache ist, kann sich diese singuläre Figur nicht zu einem großen Einzelnen zusammenzuschließen. Diese Figur ist zwischen den Dörfern in Böotien oder in Preußen, zwischen den Metropolen Rom oder Berlin, zwischen dem attischen Theater und dem Theater um 1800. Das ist ihre Randständigkeit, dass sie keinen einfachen Rand hat. Diese Figur beugt sich vom Rand einer primordialen Heterogenität in eine Gegenwart Preußens hinüber, das in seiner Zerrissenheit, seiner Schroffheit, seiner Verhöhnung von Außenseitern, seiner Angst vor Schwäche und Todesfurcht kaum stabiler wirkt als der, der hier um seine Aufnahme ersucht. Die erste und letzte Szene rahmen „Ein Schauspiel“. Zwischen ihnen und allen anderen Szenen liegt ein Statuswechsel vor, der leger Off und On genannt werden könnte. Genauer wäre jedoch


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zwischen einer einräumenden und einer raumbehauptenden szenischen Anlage zu unterscheiden, zwischen einer latenten Umgebung und einer aktuellen szenischen Behauptung, zwischen Setting und Bild, zwischen Nacht und Tag, zwischen szenischer Peripherie und szenischer Einrichtung. Der Anfang des zweiten Aktes, der „außerhalb“ beginnt, ist hierfür unser zuverlässigster Wegweiser. Dieses Außerhalb ist der unsichtbare Umstand der eingerichteten Szene. Doch dieser Umstand trägt keine einfache, sozusagen stabile Signatur. Er ist nicht einfach die Orchestra des antiken Theaters und das Schauspiel des Prinzen liegt keineswegs eingebettet in einem größeren Amphitheater wie in eine Raumschale. Vielmehr zitiert Kleist die antike Konstellation, die als solche nur gebrochen vorliegen kann: die Orchestra etwa als „Garten im alt-französischen Styl“. Die erste Szene des träumenden Prinzen und die letzte Szene der kriegerischen Söhne Brandenburgs spielen ausdrücklich im selben szenischen Setting und im selben Garten, aber sie unterscheiden sich ums Ganze. Zu ihrem Unterschied möchte ich hier eine These anbieten, die sich auf die Orchestra als Chor-Ort bezieht: Eingangs begegnen wir dem Prinzen als Objekt eines zweideutigen Scherzes der kurfürstlichen Gesellschaft. Ausgangs sehen wir ihn in der martialischen Staffel militanter Verteidiger von Preußens zukünftiger Größe, in die er sich einreiht. Der letzte Vers gehört ihnen, wir hören sie förmlich brüllen: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ Es scheint, als würde diese letzte Szene besagen, dass die Orchestra sich unter den Bedingungen Preußens in eine Arena der Revanche verwandelt. Von der Topologie des Stücks her handelt es sich um dieselbe Orchestra, in der sich die Söhne Preußens am Ort des Chors nun zur militärisch gehorsamen Riege formieren und auf diese Weise die formierte Masse kommender Zeiten vorbilden. Dennoch gehört diese Szene nicht zu den aktuellen szenischen Behauptungen jenes Stücks, das sich „Ein Schauspiel“ nennt. Sie bildet eher einen Theaterkommentar zur Möglichkeit der Orchestra, die sich als solche, wie auch der Chor selbst, nicht gegen ‚Umnutzungen‘ wehrt oder wehren kann. Der Prinz jedenfalls erreicht die kurfürstlich-preußische Version der Orchestra nur über eine Ohnmacht. Anhand des epischen Theaters hat Benjamin darauf hingewiesen, dass Brechts Theater einem „Umstand“ Rechnung trägt, der sich leichter vom Begriff der Bühne (als vom Begriff des Dramas) her definieren lasse und „den man zu wenig beachtet hat. Er kann


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als die Verschüttung der Orchestra bezeichnet werden. Der Abgrund, der die Spieler vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen scheidet, der Abgrund, dessen Schweigen im Schauspiel die Erhabenheit, dessen Klingen in der Oper den Rausch steigert, dieser Abgrund, der unter allen Elementen der Bühne die Spuren ihres sakralen Ursprungs am unverwischbarsten trägt“205. Mit Blick auf die Bühnenkante des Podiums tituliert Benjamin die im Innenraumtheater verschüttete Orchestra als ‚Abgrund‘. Formensemantisch ist die Orchestra jedoch nicht einfach darin verschwunden, vielmehr wirkt sie als Intensität oder Resonanz auch im Theater der Spartentrennung nach. Kleist überträgt diesen Abgrund der verschütteten Orchestra in die erste und die letzte Szene seines Stücks. Auf diese Weise wird sie nicht als Abgrund, getrennt durch einen harten Schnitt, vorgestellt, sondern als Peripherie, als Umstand oder Rand, über den die Bühne des aktuellen Geschehens erreicht wird. Die Figur des Prinzen, die aus der Peripherie des Theaters kommt, hat in der Orchestra ihren Ort, an dem sie uns erscheint und an dem sie unseren Augen wieder entzogen wird – und zwar genau in dieser Formulierung. Sie hat diesen Ort nicht als den ihren, sondern sie kommt und geht über diesen Ort. Man könnte sagen, dass der Prinz jenes Schauspiel, das seinen Namen trägt, über diesen Ort betritt und wieder verlässt: über diesen Garten in der ersten und letzten Szene und damit über die Stelle der Orchestra, die er weder in der ersten noch in der letzten Szene verlässt. Denn das Schloss ist für ihn nicht vorgesehen und die Rampe vor dem Portal ist für ihn unüberwindlich. Inmitten des Stücks entspricht diesem unmöglichen Ort des Prinzen ein Volk jeden Alters und Geschlechts in der „Scene: Berlin“. Es korrespondiert mit dem Prinzen als derjenigen Figur, die es nicht vermag, sich zu schließen. Das Chor-Werden der Einzelfigur

Die Dramaturgie des Prinzen zeigt uns am eindrücklichsten, wie weit Kleist die Chor-Frage treibt: Die Orchestra bildet die äußersten Grenzen dieses Stücks und zugleich ist die Orchestra diesseits der Grenzen, inmitten des Stücks. Es geht also um einen Chor-Ort, den die äußersten Grenzen und die Mitte gemeinsam bilden. Es geht um jene „Gleichzeitigkeit von Mitte und Extrem“, die von László F. Földényi als „Mittelstraße“ bezeichnet worden ist. Földényi definiert die Mittelstraße als „Kraftlinie“, zugleich „in der Welt und


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außerhalb von ihr“ zu sein, entlang derer Kleists Figuren, sozusagen von Komma zu Komma springend, stürzend oder gleitend ihre „unmögliche Einheit“ ausführen.206 So wie man einen Hund ausführt, auf einer nichtexistierenden Linie mäandernd, nach außen und immer in Beziehung zum Außen. Földényi spricht von Kleists Figuren. Aber mit dem Chor-Ort, der als Peripherie und Mitte zugleich vorliegt, verhält es sich nicht anders. Denn die Figuren Kleists, die sich (wie der Prinz) nicht zu schließen vermögen, hängen mit dem Chor-Ort zusammen. Sie sind von diesem Ort, von seiner ursprungslosen, vorausliegenden und rhizomatischen Struktur durchzogen. Zerstreut und ortlos sind sie stets mit mehr oder weniger als nur mit sich selbst und anderen konfrontiert. Des Weiteren sind sie mit dem Chor-Ort innig liiert, sodass ihr Innerstes sich offenstehend verhält und sich im Außen und als Außen artikuliert. Affiziert, beweglich, gereizt und reizbar stürzen sie eher durch ein Stück, als dass sie gehen, oder sie häufen sich als Hinzukommende an. In allem agieren sie weniger gesichtlich denn als Stürzende oder Stockende. Diese Liaison mit dem Chor-Ort, der die Protagonisten, ihre Gegenspieler und letztlich alle Figuren bei Kleist grundiert, bewirkt das Chor-Werden der Einzelfigur. Ähnlich weitgehend verhält es sich mit der genealogischen Problematik, die Kleist über die Nachfolgeproblematik im engeren Sinn ihrer römischen Formulierung radikal hinausführt. Die Nachfolge im Guiskard-Fragment zeigt die Seite der Sohnschaft zerstritten und die Seite des Vaters angegriffen von einer Seuche, die alle erfasst hat. Bei Kleist vibriert die genealogische Problematik in ihrer Beziehung zu einem Welt-Mit: Sphären, Natur und Umwelten entbieten ein mannigfaltiges, von keiner genealogischen Ordnung zu bändigendes Leben, das leben will. (Das wäre die ‚Lehre‘ des Pestbakteriums.) Die genealogische Problematik wird zu Gattungswesen in Beziehung gesetzt. Mit den unbegrenzten Umgebungen solcher Wesen korrespondiert ein Chor-Denken, das sich mit dem Äußersten herumschlägt und das daher von einem unausführbaren Chor ausgeht: Volk jeden Alters und Geschlechts tritt im Guiskard als Begleitung des Theaterchors (von zwölf Kriegern) auf und bleibt, nach kurzer Diskussion, die ganze Zeit auf der Szene. Im Homburg tritt es in der „Scene: Berlin“ als Resonanzkörper eines Prinzen auf, der aus siegesgewisser Hochstimmung jäh ins Gefängnis gestoßen wird. Extreme Stürze, die sich derart im Äußersten, vor aller Augen abspielen, haben ihr einzig denkbares Pendant inmitten eines Netzes.


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Dieses Netz wird, gleich einem unermesslichen Chor, von einer unanschaulichen Gesamtheit gebildet. (Jede jähe Wendung quert die Orchestra so, wie Wind übers Land geht.) Auch Kleists Hader mit den Schatten Roms – das Modell der Filiation im Homburg, die gescheiterte Eroberung Ostroms durch Westrom im Guiskard – geht weit über die tagesaktuellen Konturen hinaus (obwohl diese im „H. Röm. Reich“, im Frankreich Bonapartes etc. weit mehr als Schatten sind). Normative Ansprüche und hegemoniale Gewalten, die im Universalismus Roms ankern, sind über juridische Bande der civitas universa längst in die Grundausstattung ‚des Westens‘ eingegangen, der als ‚Träger universeller Werte‘ expandiert und mortifiziert, wo er auftritt. Diesem totalisierenden Universalismus stellt Kleist ein „rebellisches Universelles“207 entgegen, das jegliche Totalität aufschnürt, das jeden erreichten Horizont in einer nicht auf die Welt reduzierbaren Bewegung hinausschiebt, das der Entfaltung eines Gemeinsamen seinen trans-humanistischen Zug verleiht und es aufruft, sich nicht zu vollenden, damit das Teilen des Gemeinsamen offenbleibt. Bei Kleist reißt die Kommunikation mit dem Universellen nicht ab. Etwas rebellisches Universelles fasst Kleist in die Notiz Volk jeden Alters und Geschlechts. Ohne Plural und ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel, wird mit dem Wort Volk hier keine durch Geschichte, Kultur und Sprache imaginär verbundene ‚Gemeinschaft‘ notiert, sondern eine beliebige Pluralität, etwas Volk, könnte man sagen. Reine Soziabilität, die keine Utopie ist und die aus keiner geschichtlichen Vorzeit heraufbeschworen wird, sondern die vielmehr schon da ist, unbegrenzt, virtuell und vollkommen gegenwärtig in einem. Vollkommen gegenwärtig: Im Zuge seiner Reflexion zum Begriff der Gegenwart (praesens) führt Földényi ein Horaz-Zitat an, in dem es um eine numinose Anwesenheit (praesentia) geht, die mit dem Chor liiert ist. Während sich das Augenmerk normalerweise auf die Götter richtet, fokussieren wir in diesem Vers des Horaz den Chor und fragen danach, wie und was er hier fühlt. Der Vers lautet: „Beistand fordert der Chor (Poscit opem chorus) und fühlt die Anwesenheit der Allmacht (et praesentia numina sentit).“208 Anwesenheit (praesentia) ist auch mit ‚gnadenreicher Nähe‘ übertragen worden, Allmacht (numina) wird häufig mit ‚Götter‘ übersetzt, was die Sache jedoch zu stark in den Antikengips kippt. Horaz handelt von der Dichtkunst, hier von der Chorlyrik in kultischen Kontexten (Alkaios von Lesbos und Sapho sind die Bezugspunkte). Den Beistand, auf


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den der Chor dringt, fühlt er in der Wirkung göttlicher Wesen, in der Wirkung eines „gestaltlosen Göttlichen“ (wie Rudolf Otto numen definiert), überhaupt in einem Wirken eines Heiligen. Nicht personifizierte Gottheiten, sondern Wirkungen erzeugen eine Anwesenheit, die der Chor fühlt, sinnlich spürt, also körperlich wahrnimmt. Keine andere Welt der Götter, furchteinflößend und groß, sondern Nahbeziehungen, heilige Nähe und Physiodynamik. Horaz beschreibt an dieser Stelle (V. 132–138) Gesänge junger Mädchen und Knaben, die Beistand erflehen, schmeicheln, Gefahr vertreiben, besänftigen, kurzum, die eine leicht anmutende Bewegung des Ausgleichs ausführen, ohne dass sich irgendwo die Anordnung eines Ganzen erkennen ließe. Gesänge, die der Dichter formt (poeta figurat, V. 126) und das Singen der Gesänge als ein bodenloses Geschehen bilden eine universelle, nicht auf die bekannte Welt zu reduzierende Gegenwärtigkeit (praesentia), die sich darüber hinaus nicht lesen und nicht verstehen lässt. Der dramaturgische Einsatz der lakonischen Notiz Volk jeden Alters und Geschlechts legt nahe, dass sie auf diese vollkommene, bodenlose Gegenwärtigkeit (ringsherum) anspielt: Dass die Notiz Kleist mit ihren mageren fünf Worten sich derart zurückzieht, um auf die Diesheit einer Nähe des Heiligen anzuspielen, die sich nicht an Ausnahmezustände des Erhabenen knüpft, sondern die vom Alltag unermesslicher Minderheiten in ihrer Summe berührt wird. Von einer Summe, die niemand sehen kann und die keinem gehört. Sie bildet die Peripherie ihrer Kämpfe, ihrer Arbeiten, ihrer Wege und Fluchtlinien über die Dörfer, in den Stadtrandgebieten der Metropolen. Minderheiten sind nicht unterlegen, sondern bestreiten den Standard – mit Beckett lässt sich das im Folgenden genauer, wie unter einem Brennglas, sehen. Minderheiten sind verbündet mit einer Sorge um das Universelle, in der jene Ausgleichsbewegung aus chorlyrischen Zeiten immer noch nachbebt, die nicht auf sozialen, sondern auf kosmischen Ausgleich abhebt. Gegen jedwede, von den Schemata der Geschlechter und der Nachfolge geformte Integrität, zielt Kleists Notiz im Scheitelpunkt des Homburg auf etwas Virtuelles und zugleich Praktisches: ein Gemeinsames, das sich nicht integrieren lässt, weil es sich auf das Äußerste richtet.


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Kleist / Abfall der Könige, Fürsten und Väter

Am 13. Dezember 2001 wurde vor der National Gallery in Washington Frank Stellas Skulptur Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel eingeweiht. Trotz ihres Umfangs (9,40 x 11,90 x 10,40 Meter) und ihres Gewichts von nahezu neun Tonnen wirkt die Skulptur transparent und leicht und scheint über dem Boden zu schweben. Nur an sieben Stellen berühren verankerte Stahlseile und diagonal emporragende Stahlgerüste den Grund, die Konturen eines polygonalen Raumes bestimmend, innerhalb dessen ein rötliches sowie weiße und graue Einzelelemente in der Schwebe gehalten werden. Jede dieser einzelnen Formen scheint aus zunächst planen Oberflächen entwickelt, die durch Einschnitte, Krümmungen und Biegungen so gestaltet sind, dass sie mit ihrer konvexen wie mit der konkaven Seite den Raum mit zunehmender Differenzierung und Komplexität bestimmen. Die Skulptur als Ganzes enthält durch Material, Form und Farbe klar voneinander abgehobene Elemente, die – nicht durchgängig miteinander verbunden, sondern nur an Stellen strategischer Artikulation im Raum suspendiert gleich den Gliedmaßen eines Körpers – die Möglichkeit von Bewegungen einzelner Teile sowie des Ensembles anzudeuten scheinen. Führt man den Vergleich weiter, so übernehmen die Stützund Aufhängungselemente der Stahlseile und Gerüste die Funktion eines Skeletts, das die gerundeten, plastischen Elemente aus Glasfaser, Kohlefaser und Aluminium stützt und trägt, während diese spiralförmig aus dem eckig definierten Raum hervortreten.


Frank Stella, Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel, 2001



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III Beckett

Kein dramatisches Vakuum

ohne Chor

Mit Beckett geht es um die Zeit nach 1945, wobei ich mich nur auf das, insbesondere von den Deutschen der Nachkriegszeit zwangsumarmte Stück Warten auf Godot stütze. Wladimir und Estragon bilden die Minimalversion eines Chors (mehr als einer) und werden als Chorfiguren gelesen, die sich von der erschöpften Figur des Protagonisten, der Arbeit und des Dienstes ums Ganze unterscheiden. Sie stehen am Beginn einer endlosen Serie anderer, nicht-familiärer, nicht-genealogischer Beziehungsweisen, die abermals als Chor zu beschreiben sind: Neither. Die Chiffre ‚nach 45‘ tritt dabei in Kontakt mit unserer Gegenwart. Zudem erben wir von Beckett her das Thema des Minoritären.


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Beckett / Kein dramatisches Vakuum ohne Chor

Spiele mit Zuschauern

Am 5. Januar 1953 hat En attendant Godot in der Regie von Roger Blin Premiere im Pariser Théâtre de Babylone. Die mit sehr unterschiedlichen Reaktionen aufgenommene Aufführung erlangt durch eine Besprechung von Jean Anouilh in der Revue Arts besondere Aufmerksamkeit, die zu 153 weiteren Aufführungen führt und dem kleinen Théâtre de Babylone einen internationalen Erfolg beschert. In der BRD wird die Übersetzung im Suhrkamp Verlag durch Elmar Tophoven vorbereitet. Die deutsche Premiere findet am 8. September 1953 im Schloßpark-Theater unter dem Produktionstitel Wir warten auf Godot in der Regie von Karl-Heinz Stroux statt. Beckett wohnt der Premiere bei und ist überrascht über die enthusiastische Aufnahme beim Publikum, fand er doch, dass das Stück „schlecht gespielt und vor allem schlecht inszeniert“209 war. Die Presse zu dieser Aufführung gebiert zwei Marker, die auf Jahre hinweg in allen Rezensionen wiederkehren sollen: Es drehe sich hier um ein Stück ‚ohne Handlung‘, und es ginge um zwei als ‚Landstreicher verkleidete Existenzialisten‘. In der Spielzeit 1953/54 wird Godot noch von 15 weiteren Theatern aufgeführt und sollte sich in den Folgejahren zum Gegenstand einer wahren Beckett-Mania entwickeln. „Die Deutschen“, so wird 1954 die London Times zitiert, „überschätzen die philosophischen Ingredienzien dieser Clownsstudie. Godot mit seinen hoffnungslosen Hoffnungen und bedeutungslosen Bedeutungen ist genau das, worauf die Deutschen eine Antwort erwarten“210. Godot in der BRD und Westberlin

Die überragenden Erfolge, die Samuel Becketts Drama Warten auf Godot in der Bundesrepublik und Westberlin in den 1950er und 1960er Jahren feiert, sind auf einzigartige Weise mit der Signatur einer epochalen Verdrängung der Nazi-Verbrechen im Deutschland der Nachkriegszeit verknüpft. In einem Nachkriegsdeutschland, das zur Arbeit am Wiederaufbau übergegangen war, wird Godot mit einer Erschütterung aufgenommen, die sich in schier unendlich vielen Kommentaren kundtut. Entsprechend avanciert „Wartest Du auf Godot?“ rasch zu einem populären Bonmot.211 Godot wird als mustergültige Parabel vom sinnlosen Menschen in einer absurden, sinnlosen Welt gehandelt. Mit ihren grauen Gestalten im fahlen Licht geraten die Inszenierungen der 1950er und 1960er Jahre zum „Aus-


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druck eines spröden Nachkriegsminimalismus“ par excellence, der schon im Moment seiner Entstehung „zur fixen Konvention erstarrt“212 war. Diese Erstarrung beruht auf einer gespenstischen Affirmation. Von diesem Stück will man sich erschüttern lassen, während man die millionenfache Ermordung derer, die das HitlerRegime als undeutsch gebrandmarkt hatte, mit Schweigen zu übergehen trachtet. Als vermeintlich Unbeteiligte „trug die Erde sie weiter, diese zahllosen Jubler, die sich von der Beutegier hatten verführen lassen, die da bereit gewesen waren, den anderen ihren Platz wegzunehmen“213, wie Alexander Mitscherlich schreibt. In einer Ausweichbewegung fokussiert sich die deutsche Nachkriegsöffentlichkeit lieber auf das Kapitel des Kriegs mit seinen Entbehrungen, Schrecken und Verlusten. Moralisten wie Wolfgang Borchert (Draußen vor der Tür) gefallen sich darin, jeglichen metaphysischen Grund zu verwerfen. Gut antifundamentalistisch lassen sich Einsichten in die Grundlosigkeit menschlicher Existenz durchaus steigern: Aus der Abwesenheit eines letzten Grundes wird die Abwesenheit aller Gründe und aus der Kontingenzerfahrung, gut nihilistisch, die vollständige Sinnlosigkeit. Doch ein solches Bad in der Sinnlosigkeit, das die Jüngeren und, bis auf wenige Ausnahmen, auch große Teile der Intellektuellen- und Theatermilieus zelebrieren, lässt den verworfenen Grund als solchen unangetastet. Ein modisch überhöhter Existenzialismus ist fähig, sich wahlweise mit fantastischen Postulaten von endloser Freiheit oder unbegrenzten Möglichkeiten zu paaren. Unterdessen bekämpft die Mehrheit jener Generationen, die ihren Anteil am Einverständnis mit dem Nationalsozialismus nicht wahrhaben will, ihren uneingestandenen Albtraum mit der Arbeit am Wiederaufbau.214 Ein triviales öffentliches Bewusstsein gedenkt, mit dem in Friedenszeiten Erreichten auch, „zu unserer teuren Metaphysik zurückkehren“ zu können, wie es Pierre Temkine formuliert.215 Nachkriegsexistenzialismus und Wiederaufbau bilden zusammen einen Zug, der in diesem Fall einen anderen verdeckt. Es macht etwas, nichts zu sagen. In der fortgesetzten Auslassung der Konfrontation nistet eine bleierne Wortlosigkeit und breitet sich aus. In den ersten Dekaden der Nachkriegszeit bewirkt sie eine Versteinerung gesellschaftlicher Verhältnisse und deren „bleierne Zeit“216. Eine derartige Erstarrung legt sich auch über das Stück Godot, das für die längste Zeit nicht aus den Fängen seiner quasi-metaphysischen, existenzialistischen Interpretationen zu lösen ist. Dabei fehlt


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es nicht an Einwänden von Gewicht. So versieht Günther Anders seinen Essay zu Godot 1954 mit einer Vorbemerkung zum metaphysischen Geraune jener „negativen Aufklärer“, die „in jedem Stück bedeutender Literatur Religion zu entdecken“ meinen, und hofft, derlei „schiefen Interpretationen rechtzeitig einen Riegel vorschieben“217 zu können. Ende der 1950er Jahre nimmt Theodor W. Adorno seine Auseinandersetzungen mit Beckett auf, die insgesamt Einspruch „gegen den Trug der Frage nach dem Sinn“218 erheben. Susan Sontag streitet in den frühen 1960er Jahren gegen jegliche, ein jedes Kunstwerk mortifizierende Interpretation.219 Dennoch fabuliert der Theaterkritiker Georg Hensel 1981 so, als sei seit der ersten GodotPremieren nichts geschehen: „Der fünfundsiebzig Jahre alte Beckett hat seine unfrohe Botschaft abermals verkündet.“220 1981 setzt Hensel noch eins drauf, indem er Beckett zum runden Geburtstag unter der Überschrift „Heiland der Heillosen“221 gratuliert. Doch nicht die Geschichte der Leser, Zuschauer und Hörer Becketts ist heillos, sondern die Geschichte seiner Interpretationen, die von einer schlechthinnigen Heillosigkeit in Deutschland ihren Ausgang nahm. Genau auf diesen Zusammenhang weist Heiner Müller in einem Gespräch hin:

„Zuerst ist Beckett in Deutschland rezipiert worden, jedenfalls wesentlich. Und da ist er mystifiziert worden. Erst seitdem er selbst in Deutschland inszeniert hat, weiß man, dass seine Stücke Clownsspiele sind. Wenn man sich die Ausgangssituation von Warten auf Godot überlegt: da gehen zwei Leute auf die Bühne, die sich nichts zu sagen haben. Da unten sitzen aber Leute, die dafür bezahlt haben, dass sie etwas hören. Ich finde, das ist sehr radikal und provozierend. Wenn man ein Stück von Beckett wirklich intensiv ansieht, dann kann man eigentlich nur noch den Schluss ziehen, dass man am nächsten Tag in die Kommunistische Partei eintreten muss. Das ist ein sehr produktives Stück.“222 In den 1950er und 1960er Jahren trifft Godot in der BRD und Westberlin auf ein gesellschaftliches Klima, in dem sich eine Reihe von Faktoren akkumulieren: Zunächst die personelle Kontinuität von Aktivisten und Mitläufern des Nationalsozialismus in allen gesellschaftlich relevanten Positionen. Dazu kommt eine ideologische Kontinuität, die auf Reizwörter des Nationalsozialismus verzichtet, aber an die ideologischen Bestände der Weimarer Republik unverdrossen anknüpft. Befördert wird dies durch einen aggressiven An-


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tikommunismus, der im sprichwörtlichen „Geh doch nach drüben!“ alltäglich gelebt wird. Die Zeitdiagnostik liegt im Zeichen eines gefühlten Existenzialismus darnieder: Man lebt nicht nach 1945, sondern in einer allgemein gottverlassenen Welt. Der Gegenwartsbezug erschöpft sich im Wiederaufbau und in der Konsolidierung von Lebensverhältnissen, die fließend in eine Gesellschaft übergehen, für die der Wohlstand das einzig Erstrebenswerte darstellt. Zudem beruht die demonstrative Bereitschaft zum Konsum auf einer Verkehrung des Opferdiskurses. Die „bösen Jahre“223 werden ins Schicksalhafte überhöht und mit einer Selbststilisierung als Opfer verknüpft. Restaurationsgewinnler stellen sich als Opfer Hitlers und des Kriegs dar, die sich nun endlich ‚auch etwas gönnen dürfen‘. Aus der Verkettung dieser Faktoren entsteht neuerlich die fatale Erbschaft dieser Zeit. Diese Erbschaft etabliert sich wesentlich über die Einhegung des Nationalsozialismus auf Systemdaten und über die Weiterwirkung von mental-weltanschaulichen Beständen, mit denen vor 1933 die Entwurzelung des Individuums in der Moderne beklagt und das Heil in einer Versöhnung mit den Kräften des Beständigen und Bestehenden gesucht worden war. Der Begriff des Völkischen wird nach 1945 nicht mehr verwendet. Aber die in diesem Begriff ehedem kulminierende Gemengelage wirkt weiterhin als quasiinstinktiver Antrieb, um einer nicht begriffenen Realität in der Gegenwart zu entfliehen und für pure Meinung zu halten, was die Nazidoktrin an unentrinnbaren Fakten geschaffen hatte. In ihrem Report from Germany konstatiert Hannah Arendt 1950 als den erschreckendsten Aspekt deutscher Flucht aus der Nachkriegsrealität die Angewohnheit, Fakten als pure Meinungen zu behandeln. Fakten würden mit einer nihilistischen Relativität belegt und könnten, wie Meinungen, heute richtig und morgen falsch sein. Darüber hinaus seien die Meinungen in ihrer Irrelevanz als solche erkennbar, die vor 1933 geformt wurden. Die Leute redeten und verhielten sich oberflächlich so, als sei seit 1932 absolut nichts geschehen. Die wenigen nach 1945 publizierten Bücher von Gewicht seien vor zwanzig oder 25 Jahren verfasst worden. Vor allem die jüngeren Generationen der Zwanzig- bis Dreißigjährigen erscheinen Arendt wie „versteinert, unartikuliert und unfähig zu tragfähigen Gedanken“.224 Hans Magnus Enzensberger sieht die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft durch einen ‚Antifaschismus‘ geprägt, der sich mit einem ‚Hang zu höherer Kultur’ ausstattet


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und damit begnügt, einen besseren Geschmack als die Nazis zu haben.225 Gleichzeitig wächst in den 1950er und 1960er Jahren das Ideal einer unpolitischen Machbarkeit und Objektivität heran, das den Glauben nährt, in naher Zukunft den Krebs zu besiegen oder den Mond besiedeln zu können. Godot war in dieser Versteinerung von Jahrhundertgewicht vollkommen verloren. Doch andersherum kommunizierte das Stück auch mit dieser Versteinerung. Wie kein anderes zog es etwas darin Versiegeltes in Form einer geradezu zwanghaften Umarmung auf sich. Godot handelte nicht ‚von‘, sondern ‚mit‘ dem, was die Leute, die nichts gewusst haben wollen, im tiefsten Gestrüpp deutscher Innerlichkeit versenken wollten. Godot handelte mit ihrem Nichtwissen, das nur eine andere (latente) Art des Wissens darstellt. Vier spielen zwei

Die Wahrnehmung von Godot wird durch die Ebene von Wladimir und Estragon geprägt. Schon Günther Anders, der für Pozzo und Lucky erstmals die Hegelsche Herr-Knecht-Thematik geltend macht, widmet diesem Paar kaum ein Siebtel seines Essays, Wladimir und Estragon hingegen den ganzen Rest. Bei den meisten anderen Autoren schlägt das Pendel der Aufmerksamkeiten in ähnlicher Richtung aus. Die schier unendlichen Kommentare sowie das sprichwörtliche Nachleben des Stücktitels beziehen sich ohnehin nur auf diese beiden, die da zuerst auf der Bühne sind und warten: ‚da gehen zwei Leute auf die Bühne‘ … Wer sind die beiden? Alle Vorschläge ergehen im unbestimmten Plural: Vaganten, Penner, Landstreicher, Verlorene, Fremde, Kreaturen, Selbstmordkandidaten. Aus „dem Weltplan (das heißt dem Schema der bürgerlichen Gesellschaft) herausgefallene Wesen“226, mutmaßt Anders. Pierre Temkine liest Godot als „Stück über zwei Juden auf der Flucht“227 und bindet es in seiner ‚historischen Relektüre‘ an konkrete geschichtliche Topografien. Die Bezeichnung von Wladimir und Estragon als Vaganten hingegen bezieht sich auf eine artistische Sphäre. Als Clowns wiederum geben die beiden Figuren ein vermeintlich bekanntes und definierbares, wechselspielendes Duo ab. In ihrer Vieldeutigkeit und Unbestimmbarkeit wirken sie wie eine offene Frage. Sie wird entschieden konterkariert durch Pozzo und Lucky, die ihrerseits als allzu Bekannte auftreten. Die Szene von Pozzo und Lucky markiert einen „Einbruch“, wie schon Anders an-


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merkte. Eine dramaturgische Anmerkung Heiner Müllers verdeutlicht drastisch, aus welchem Abstand dieser Einbruch sich nährt.

„Beckett ist eher der Pillenknick in der Dramatik. Das ist wirklich das Problem mit Beckett. Die Pozzo-Lucky-Szene in Godot zum Beispiel, der Herr und der Knecht, das ist in nuce der ganze Brecht. Und Brecht hat sich abgearbeitet, jahrzehntelang, um aus dieser Szene acht bis zwölf Stücke zu machen. Das ist das beängstigende Problem mit Beckett.“228

Pozzo mag sich als Grundbesitzer der Gegend vorstellen, aber in der Godot-Welt von Wladimir und Estragon bilden er und Lucky einen Fremdkörper, wie er fremder kaum sein könnte. Während das Duo der beiden, die zuerst da sind, aufgrund einer gezielten Unterbestimmung rätselhaft bleibt, tritt das Paar Pozzo und Lucky geradezu überbestimmt auf und birst vor Gemeinplätzen. Sie bilden ein nach allen Regeln der Dialektik gefügtes Paar und erklären sich auch sofort als ein solches. Sie zelebrieren das Dilemma ihrer wechselseitigen Anerkennung, sie parodieren ihre Abhängigkeit voneinander, sie führen genussvoll die Inversion ihrer Positionen als Herr und Knecht vor. Sie schauspielern und deklamieren. Sie imitieren die Gestik eines großen Diktators oder die Diskurse machthöriger Pseudowissenschaftler. Sie wissen, dass sie Vorbilder haben. Ihre geschwollenen oder delirierenden Reden sind voller politischer Anspielungen. Sie persiflieren das Drama der Selbstverwirklichung des modernen Subjekts, seine Aufrüstung und Selbstenthemmung im Namen von Identität. Sie zelebrieren den Niedergang der Geschichtsteleologie und es scheint, als betrachteten sie aus diesem Grund das Niedersinken der Nacht in einem Abendland. Sie lassen in Bezug auf das Band von Despotismus und Barbarei nichts aus und wissen offenkundig alles über Herr und Knecht in Zeiten von Faschismus und Monopolkapitalismus: „Jedem das Seine“ (38) zitiert Pozzo den Spruch, der über dem Tor zum sogenannten Konzentrationslager Buchenwald stand, der aber auch das offene Betriebsgeheimnis des Paars von Herr und Knecht benennt: „Bedenken Sie, daß ich in seiner Haut stecken könnte und er in meiner.“ (38) Die Pozzo-Lucky-Szene wirkt wie hineingeschnitten in die Godot-Welt dieser beiden Leute, die zuerst da sind. Gibt es außerhalb dieses Schnitts überhaupt eine Beziehung zwischen diesen beiden Ebenen? Die Frage ist offen, obwohl es auf einer abstrakten und diskreten Ebene Beziehungen gibt, etwa wenn Pozzo als Exemplar


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des Herrenmenschen ins Allgemeine ausgreift und erklärt, dass er nicht über ein spezielles Wesen gebiete, sondern über ein Exemplar der Knecht-Gattung, die so zahlreich sei, dass an dieser Stelle nie ein Mangel entstehe. „Als ob ich Mangel an Knechten hätte“ (37), sagt Pozzo, „Das Beste wär, sie einfach zu töten.“ (38) Darauf antwortet eine wortwörtliche Replik von Estragon im zweiten Akt: „Das Beste wäre, mich einfach zu töten, wie den anderen.“ W: „Welchen anderen? Pause. Welchen anderen?“ Estragon antwortet mit einer markanten Verschiebung vom Singular in den Plural einer (Knecht-) Gattung: „Wie Millionen andere.“ (75) Die damit angedeutete Parallele der Figuren von Lucky und Estragon drückt sich in einer affektiven, sprachlosen Nähe aus, die sich das ganze Stück über in Tritten, Bissen und Prügeln entlädt. Eine entsprechende, andere Parallele lässt sich für Wladimir und Lucky feststellen. Wladimir findet Lucky „nicht übel“ (30) und hat Mitleid mit seiner Lage. Er empört sich „laut aufschreiend“ (32) über dessen unmenschliche Behandlung und nimmt gegen Pozzo, ebenfalls das ganze Stück über, einen Kampf auf, dessen modale Qualitäten mit den Worten angezeigt werden: „entschlossen und stammelnd“ (32). Wenn Lucky als der bedingungslose Knecht auftritt, der seinen Platz im Schema des Herrn absolut verteidigt und wenn Estragon und Wladimir mit ihm (konkurrierend oder für ihn kämpfend) verbunden sind, so kommen sie gewissermaßen ‚nach‘ Lucky: „Sie haben ihn sozusagen abgelöst“ (39), sagt Pozzo zu Estragon. Diese Ablösung in Sachen Dienerschaft beim Wort nehmend, können Wladimir und Estragon als Diener ohne Herrn gelten. Sie bilden damit genau – zumal sie zweifellos auch Komödianten sind – die Inversion einer Figur, die den Titel der berühmtesten Komödie Goldonis abgibt. Sie sind nicht Diener zweier Herren, sondern zwei Diener ohne Herrn. Gemessen an dem überdeterminierten Paar Pozzo und Lucky, das sich als Einheit aus Zweien geriert, die einander entgegengesetzt sind und nicht voneinander lassen können, kommt für Wladimir und Estragon am ehesten der Begriff des Duals in Frage, der kein Ganzes mit Teilen, sondern ein Zwitterwesen von unbestimmter Paarigkeit bezeichnet. Die grammatische Form des Duals (gr. ampho, lat. ambro), wie sie noch in ‚beide‘, ‚wir beide‘ oder ‚die beiden‘ vorliegt, ist in den modernen westlichen Sprachen weitgehend verloren gegangen. Gestalttheoretisch bildet der Dual die Grundlage


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für eine spätere Differenzierung in homogene, separate Zahlen und das reihentheoretische Zahlensystem. Der Dual bezeichnet also unter anderem auch den Beginn einer Serie, die sich nicht in getrennte Elemente separieren lässt und auch nicht als ein Ganzes mit internen Unterteilungen beschrieben werden kann.229 Bei einem Zerfall des Duals kommt die Zahl Zwei zustande. Bei dem Zerfall einer Serie hören Zahlen auf, sich zählen zu können. Es bleiben dann einfach nur Passanten über, beliebig vorbeilaufende Nummern. Das Paar also als Einheit aus Zweien und der Dual als Beginn einer Serie: Was sagt die Unterschiedlichkeit dieser beiden Zweierkonstellationen darüber hinaus aus? Welche Räume werden mit ihnen verbunden? Räume in Godot

Texte, die in die Sichtbarkeit und Hörbarkeit hervortreten, involvieren Körper und Räume, die keine Gegebenheiten sind. Mit dieser Ausgangslage sind räumliche Entwürfe im Theater befasst, die den Verwicklungen von Körpern und Räumen, ihrer Verräumlichung, Raum geben müssen. Doch wie beginnen? Lässt sich aus Namen und Orten, die in Godot genannt werden und die hier zur französischen Résistance gehören, ein Raum generieren? Temkine, der Godot einer strengen Rehistorisierung unterzieht und so den „Riegel“ metaphysischer Sinnfabrikation „knacken“ will, ist dieser Meinung. Doch seine Lektüre verbleibt damit im Bereich der bloßen Interpretation eines immer schon aufgetretenen Textes, der in diesem Fall von Temkine mit einer Fabel von schier unerträglicher Geschlossenheit umgeben und auf diese Weise erledigt wird.230 Gehen wir zu anderen Räumen über. Üblicherweise wird die Ortsangabe zu Beginn mit einem szenischen Raum gleichgesetzt, in dem etwas auftritt. In diesem Fall scheint mit der berühmten Notiz Landstraße klar, dass Godot einen Außenraum entwirft. Diese Annahme wird jedoch sofort brüchig, wenn wir die ausführlich notierten Bewegungen in diesem ‚Außenraum‘ betrachten, die unmissverständlich in einem Innenraumtheater spielen: Die Landstraße wird in plakativer Weise durch Kulissen begrenzt. Wenn Estragon in derselben Szene einmal bis „zum Rand des Abhangs“ (89) geht und kurz darauf in derselben Richtung gegen den Prospekt im Hintergrund läuft und hinfällt – „Idiot, da ist kein Ausgang!“ (89) –, dann ist damit die Annahme der Repräsentation eines Außenraums in einem Theaterinnenraum versperrt. Wird dieses Amalgam von Ortsangaben und Innenraumtheater ohne Aus-


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gang jedoch ernstgenommen, ist nur der Schluss möglich, dass in Godot keine Raumdarstellung vorliegt, das heißt, keine Darstellung von einem Raum, der auf einen anderen verweist. Demnach bildet die dreistellige Angabe „Landstraße. Ein Baum. Abend.“ keine Anweisung zur Einrichtung einer Bühne. Als Topos bezeichnet Landstraße zunächst nur eine flache Ausdehnung, die dazu bestimmt und geeignet ist, Verkehr, der kommt und geht, aufzunehmen. In seiner horizontalen Ausdehnung hat der Topos Landstraße kein bildhaftes Äquivalent auf der Bühne, sondern kommt mit der res extensa der Bühne vollständig überein. Das unterscheidet ihn vom Begriff „Plateau“, der sich im zweiten Akt durch eine wortspielende Verschiebung in ein Synonym für den kulissenbewehrten Guckkasten („Präsentierteller“, 89) eines Innenraumtheaters verwandeln lässt.231 Hinsichtlich ihrer topischen Eigenschaften hadert die Landstraße als Begriff für die Bühne vor allem mit einem möglichen Bild der Bühne und geht hierin deutlich weiter als der Begriff „Plateau“. Die nächste Angabe Ein Baum führt nun mit diesem, in unserer Vorstellung stets aufragenden Ding des Baums eine Vertikale ein, welche in neuzeitlichen Zusammenhängen seit je zum Sehen da ist. Doch die Frage des Sehens und die des Bildes sind zweierlei. Zunächst einmal ist dieser Baum in Godot kein Mitspieler: Er ist zu klein, zu schwach, zu dünn, zu kurz, um sich daran aufzuhängen oder sich hinter ihm zu verstecken. Er markiert lediglich einen sichtbaren Punkt in der Fläche, eine Stelle, an der man sich verabreden kann: „Alles fließt“, sagt Estragon. Daraufhin Wladimir: „Schau dir den Baum mal an“232. Dennoch hängt sich an diesem Baum die Frage des Bildes der Bühne auf, die für lange Zeit derartig eng mit der von Alberto Giacometti 1961 für die Godot-Inszenierung von Roger Blin im Théâtre Odéon hergestellten Minimalversion eines Baums verschmolzen war, dass sie sich als Frage überhaupt nicht mehr zu stellen schien. Es folgt die dritte Angabe Abend, die wiederum völlig unabhängig davon ist, ob es eine bildoder zeichenhafte Wiederholung dieser Angabe („Mond“) auf der Bühne gibt oder nicht. Liest man die Auftrittsangabe nun als dreistellige Struktur, so ergeben sich: eine Stelle für den Begriff der Bühne als Spielfläche in ihrer horizontalen Ausdehnung, eine zweite Stelle für die Vertikale des Sehens und eine dritte Stelle, die eine dehnbare Zeitangabe liefert. Diese kann immanent oder explizit mitspielen: als Zeit, die im Theater szenisch angespielt wird, oder als Zeit des Theaters, die


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mehrdeutig ist. Insgesamt gibt diese Auftrittsangabe jedoch weder ein räumliches Äquivalent heraus noch ein ‚Bild‘ der Bühne. Wenn man von dem Kurzschluss absieht, die Darstellung eines Baums dafür zu halten, ist die Frage des Bildes sogar vollständig offen. Sie wird, bei genauerem Hinsehen, durch die Angabe Ein Baum darüber hinaus obsolet. Im Gegensatz zu den Angaben Landstraße und Abend gibt es im Fall von Ein Baum den unbestimmten Artikel, der sich in der Giacometti-Version dieses Baums in dem winzigen Blatt, das ihm angefügt ist, noch einmal wiederholt: ein Blatt. Der Theaterwissenschaftler und Regisseur Jean Jourdheuil berichtet, dass Beckett im März 1961 Giacometti gebeten habe, „das Bühnenbild für Godot zu gestalten, und Giacometti soll sofort angenommen haben. Es hätten mehrere Arbeitssitzungen in seinem Atelier stattgefunden.“233 Ein Foto von 1961 zeigt Beckett, Giacometti, Roger Blin und Jean-Marie Serreau, den Leiter des Théâtre de Babylone, bei einer Besprechung im Odéon. Ist es möglich, dass Giacometti nur den Baum, also eine Skulptur gemacht hat und sich nicht mit der Frage des Theaterraums befasst hat? „Man weiß es nicht“, resümiert Jourdheuil. Zur szenischen Auffassung Roger Blins merkt Jourdheuil an, dass ihm alles Figurative und Dekorative zuwider war. Die Inszenierung sollte das Stück nicht verdecken, das Bühnenbild sollte sich nicht einmischen: „Blin wollte die radikale, die nicht-realistische Fremdheit dieser Werke zeigen; er wollte, dass man dem Text Gehör schenkt.“234 Was ist also mit diesem Baum, von dem Blin offensichtlich nicht wollte, dass er sich einmischt, während Giacometti, der bei einem Durchlauf zugegen gewesen sei, „nach dem ersten Akt gegangen [sei] mit dem Kommentar, er könne den Baum nicht ertragen“235. Halten wir uns an diesen Bastard in der vierten Person Singular: Ein Baum. Eingedenk dessen, dass Beckett ausdrücklich Giacometti gefragt hat, und eingedenk der zum Teil winzigen, schwindenden Figuren Giacomettis, verwandelt sich die ‚Bild‘-Frage eher in eine Frage des Sehens. Auf die „Alles fließt“-Paraphrase von Estragon insistiert Wladimir nachdrücklich darauf, den Baum anzuschauen: „Den Baum, hab ich gesagt, schau dir den Baum an!“ Estragon schaut den Baum an. E: „Stand der gestern nicht da?“236 Offenbar bildet der Baum selbst ein fließendes Objekt. Kein Blickfang, eher ein Etwas, das leicht zu übersehen ist, das sich zurückzieht oder zurückweicht. Vielleicht handelt es sich auch um ein verlassenes Ob-


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jekt oder um ein Objekt an einem verlassenen Ufer. Berührt wird die Sphäre eines unterschwelligen, nicht wiedererkennenden Sehens: „Mal sehen.“ (78) Nehmen wir das Indiz des unbestimmten Artikels hinzu und konstatieren, dass das Ein stets etwas Beliebiges und zugleich Singuläres anzeigt. Ein Baum ist so wenig spezifiziert, dass es im Stück dazu zahlreiche Mutmaßungen gibt: Es handele sich fast um einen Strauch, nein, doch eher um einen Baum, eine Trauerweide vielleicht usw. „Das Ein ist stets das Indiz einer Mannigfaltigkeit“, wie Gilles Deleuze schreibt, „ein Ereignis, eine Singularität, ein Leben“237. Zweifellos handelt es sich auch bei diesem Baum um ein unbestimmtes Leben. Er hat ein Blatt, im zweiten Akt „einige Blätter“ (68). Kurz darauf schaut Wladimir den Baum an: gestern „noch schwarz und kahl wie ein Skelett“, heute „ist er voller Blätter“ (79). Eine quasi-naturalistische Interpretation dieser Angabe wird durch Wladimir und Estragon selbst ausgeschlossen. Frühling? W: „Aber in einer einzigen Nacht?“ E: „Wieder so ein Alptraum von dir.“238 Ein Baum kann als das beliebige Exemplar einer Gattung gelten, das von einem Leben der Spezies durchlaufen wird. Ein Exemplar lässt sich nicht als solches herauslösen. (Die Serie zerfällt.) Ein Baum lässt sich nicht identifizieren, sondern erscheint als dieses und jenes, das sich nicht festmachen lässt. Damit verbunden sind die Schwierigkeiten, ihn überhaupt anzusehen. W: „Ah! Der Baum!“ E: „Der Baum?“ W: „Erinnerst du dich nicht?“ E: „Ich bin müde.“ W: „Schau ihn dir an.“ Estragon schaut den Baum an. E: „Ich sehe nichts.“ (79) Mal sehen heißt das Spiel, das Wladimir und Estragon hier spielen. Es richtete sich auf das Dasein und das Nichts gleichzeitig. Das beiläufige „Mal“ schiebt sich an die Stelle von Daseinsfeststellungen. Es hantiert nicht mit dem „ist“ und seiner Ausschlusslogik und es kommt zu keinem Ende. E: „Es fehlt ja nicht an leerem Raum.“ (79) Der unbestimmte Artikel ein, der den Baum hier so schlichtweg unfasslich werden lässt, korrespondiert in auffälliger Weise mit dem Moment Luckys, der im Stück eine Rede hat. Auch in Luckys Rede berühren sich das Einzige (ihres Auftritts) und das Mannig-

Warten auf Godot 1961, Regie: Roger Blin, Bühnenbild: Alberto Giacometti



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faltige, das sich in seiner Rede auch in ihren schier berstenden, punktionslosen Konjunktionen ausdrückt. Der unbestimmte Artikel ein kann als Ausweis und Unterpfand einer Sphäre der chorischen Verflechtungen gelten. Ihnen entspricht in der Godot-Welt ein beiläufiges Sehen, dessen Verankerung in der Gegenwart minimal ist und in keinem Fall ein Bild ergibt. Und der Raum? Offensichtlich gilt hier weiterhin ein Wort Giacomettis: „Der Raum existiert nicht, man muss ihn erschaffen, aber er existiert nicht, nein!“239 Verräumlichen

Doch wie einen Raum erschaffen für Godot? In der Regel versuchte man sich an die Figuren zu halten in der Annahme, dass sie den Raum herausgeben würden, ähnlich wie bei Shakespeare die Marktfrau den Markt herausgibt oder der Totengräber den Friedhof. Doch dieses Verfahren hilft in Bezug auf Godot nicht weiter. Gleichgültig, ob man sich Wladimir und Estragon als Arbeitslose, Landstreicher oder Fremde vorstellte – sie ließen sich einfach nicht sozialisieren und wollten partout kein Milieu und kein Genre herausgeben. „Wladimir hat nie die Hände in den Hosentaschen“, gibt Horst Bollmann eine entsprechende Korrektur Becketts bei den Proben zur GodotAufführung 1975 in Berlin wieder.240 Ohne Milieu- oder Endzeitfärbung blieb für die Figuren von Wladimir und Estragon stets nur die artistische Konnotation von Clowns oder Schauspielern übrig.241 Doch diese szenische Definition führt auch nur wieder zur Straße zurück. Hinzu kommen die Schwierigkeiten mit dem Auftritt von Pozzo und Lucky, der mit einem ganz anderen Begriff von Szene und Bild verknüpft ist und den Begriff der Bühne in der Godot-Welt verunklart. Heiner Müllers Beobachtung zufolge bilden Pozzo und Lucky eine „Szene“. Sie kommen aus einem mit Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung amalgamierten sozialen Raum, den Müller mit dem Namen Brecht anzeigt. Durch einen szenischen Cut werden sie in den unmarkierten Raum versetzt, für den die Auftrittsangabe zu Beginn des Stücks steht. Der szenische Cut weist auf einen Vorgang der Montage hin, mit der zwei unterschiedliche Figurentypen aneinandergeheftet werden, die sich einander und im Hinblick auf ihren Status fremd sind. Fast so fremd, als würde es sich um eine Erstbegegnung handeln. Pozzo: „Vorsicht! Er ist bissig. Estragon und Wladimir schauen ihn an. Fremden gegenüber.“ (25)


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Die Tatsache, dass dieser Cut in seiner Drastik so selten hervorgehoben wird, hängt mit der Art und Weise zusammen, wie Pozzo und Lucky szenisch eingeführt werden. Sie bildet die größte Schwierigkeit, sich einer Verräumlichung von Godot zu nähern. Becketts szenische Lösung scheint zu suggerieren, dass die Pozzo-Lucky-Szene vermeintlich im gleichen Raum wie die Szenen von Wladimir und Estragon spielt. Sie scheint zu suggerieren, dass Pozzo und Lucky einfach am Ort von Wladimir und Estragon vorbeikommen. Doch das tun sie nicht. Die Räume beider Figurationen sind füreinander unzugänglich und ein einheitlicher szenischer Raum wird für Godot definitiv nicht entworfen. Um dies zu verdeutlichen, müsste man die anfängliche Bühnenanweisung in den Satz übertragen: Dieses Stück spielt auf keiner Straße bei irgendeinem Baum und wird von keinem Mond beschienen. Becketts szenische Einführung der Pozzo-Lucky-Szene beruht auf der Entscheidung, sie strikt als Bild aufzufassen. Im Unterschied zur Bühne von Wladimir und Estragon, die mit ihrer Situation übereinkommt und mit der Art und Weise, wie sie ihrer Situation einwohnen, geht es mit Pozzo und Lucky nun um ein szenisches Bild.242 Ganz im Sinn der Bildlogik werden die Redetexte von Wladimir und Estragon plötzlich durch lange, kursiv gesetzte Passagen unterbrochen, die Bilder oder Pantomimen beschreiben. Der Auftritt von Pozzo und Lucky vollzieht sich im Bühnenausschnitt, der durch die Kulissen rechts und links begrenzt wird. Ihr Auftritt ist somit überdeutlich auch als Ausschnitt markiert. Der Strick um den Hals von Lucky „muss so lang sein, dass Lucky bis auf die Mitte der Bühne gehen kann, ehe Pozzo aus den Kulissen tritt. […] Pozzo erscheint. Sie überqueren die Bühne. Lucky geht an Wladimir und Estragon vorbei und verlässt die Bühne. Pozzo bleibt stehen. […] Pozzo zieht am Strick. Zurück! Lucky tritt rückwärts gehend auf. Halt! Lucky bleibt stehen.“ Der Auftritt im Bild der Bühne mit ihren scharf begrenzten Rändern macht auf Wladimir und Estragon den Eindruck, als würde sich hier plötzlich ein Film abspielen. Ihre Beobachtungen nehmen sich wie Bildbetrachtungen aus. E: „Was hat er?“ W: „Er sieht müde aus.“ (29) „Sie setzen ihre Inspektion fort und verharren bei der Betrachtung des Gesichts.“ (30) Wladimir und Estragon sind Zuschauer. Pozzo erklärt ihnen, was sie sehen: „Meine Herren, ich werd es Ihnen sagen.“ (37) Pozzo wechselt in den Modus der Darbietung. Er führt sich als Knallcharge auf, er führt Lucky vor. Wladimir wähnt


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sich „wie im Theater“ oder „Varieté“, Estragon beharrt auf „Zirkus“ (42). P: „Wie fanden Sie mich? Estragon und Wladimir schauen ihn verständnislos an.“ (47) Am Ende dieser Szene wiederholt sich exakt dasselbe Spiel mit der Bildbühne, die nicht als Rahmen, sondern als Ausschnitt akzentuiert wird. Ausschnitt bedeutet, dass sich das Bild, in diesem Fall ein audiovisuelles Bild, virtuell über seine rechte und linke Seite hinaus fortsetzt, die Ansicht also entlang dieser Kanten ab- oder ausgeschnitten wurde. Pozzo und Lucky, die von rechts aufgetreten sind, müssen nach links abtreten. Pozzo geht zuerst auf die „rechte Kulisse zu“. W: „Sie gehen in die falsche Richtung.“ P: „Ich muss einen Anlauf nehmen.“ (59) „Sie gehen. Wladimir folgt ihnen bis an das Ende der Bühne, er schaut ihnen nach.“ (109 f.) Im Ausschnitt sind Pozzo und Lucky Bildobjekte, die sich zwischen rechtem und linkem Bildrand aufführen. Für Wladimir und Estragon gibt es hinter den Kulissen die Wirklichkeit eines Theatergebäudes. Wladimir, der mal austreten muss, „geht auf die Kulisse zu.“ E: „Am Ende des Ganges links.“ W: „Halt mir den Platz frei. Ab.“ (42) Für Pozzo und Lucky gibt es kein Bühnen-Off. Sie tauchen auf und verschwinden und führen dazwischen eine Art Film in Echtzeit auf, vor Wladimir und Estragon als ihrem Publikum. Die Pozzo-Lucky-Szene gleicht einer Phantasmagorie, die ohne Rauch und Nebel auskommt, und Wladimir und Estragon können, wie Günther Anders schreibt, „während der Begegnung eine gewisse Scheu niemals überwinden“243. Die Pozzo-Lucky-Szene lässt sich kaum als Spiel-im-Spiel oder Theater-im-Theater deuten, weil sie nicht durch eine Spiel- oder Theaterverabredung eingeführt wird. Sie taucht in einem exakt begrenzten Sichtfeld auf, das einem Screen gleicht. Das Paar von Pozzo und Lucky stellt eine extrem komprimierte und zugleich derangierte Figur dar, die durch die Einrichtungen einer Bildbühne auftritt. Sie könnte ein Zitat sein. Nur an einer Stelle mischen sich die Bühnen beider Duos und ihre unterschiedlich fiktiven Welten: In der Mitte des zweiten Aktes sind alle vier zu Boden gegangen. Sie bilden ein „Menschenknäuel “ (101), aus dem sie sich nur mit äußerster Mühe wieder in ihre vertikalen und horizontalen Achsen zurückbewegen. Estragon, der dazu von Wladimir ermuntert wird, nutzt die Gelegenheit, um den am Boden liegenden Lucky „hemmungslos“ (107) zu treten. Das sind die beiden Berührungspunkte dieser in ganz verschiedene Richtungen strebenden Achsen und Bühnen sowie der Preis, wenn sie sich mischen: Knäuel oder Dresche.


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Chor-Ort: Land

Die Straße, die „allen gehört“ (27), führt nicht von A nach B. Sie ist ohne Ende und ohne Anfang. Aber als Landstraße ist sie nicht ohne Umgebung, sondern quert ein Land. Ebenso wenig ist sie ohne Horizont, auch wenn dieser unbestimmt bleibt. Ein weiterer Ort, durch den das Wetter zieht und die Temperaturen. Es wird Abend und Morgen. Ein offenstehender Ort wie eine Lichtung: Hier kann alles Mögliche eintreten. Dem ersten Anschein nach handelt es sich um einen unmarkierten, beliebigen Raum im Nirgendwo. Doch dieser sich in der Horizontalen dehnende Ort verdankt sich keinem Mangel an Festlegungen. Er gehört lediglich zu einer anderen Bühne als die uns bekannte Bildbühne. Dieser weit geöffnete Ort entspricht der antiken Orchestra, der Bühne des Chors. Unter diesem Aspekt lassen sich seine topischen Eigenschaften konkretisieren, denn sie gehen mit einem anderen Figurentypus einher und sind mit anderen, nicht-protagonistischen Logiken verknüpft, mit anderen Beziehungsweisen und anderen Formen des Aufenthalts. Die Kritik an einem vermeintlich an Unterbestimmung leidenden Ort läuft ins Leere, wenn wir die Register wechseln und ihn als chorischen Ort, als Bühne des Chors wahrnehmen. Dieser Registerwechsel stellt keinen neuen, zusätzlichen Versuch dar, die Figuren festzulegen, sondern bezieht sich auf den Figurentypus, dem sie zugehören. Er widerspricht nicht bisherigen Versuchen, die Figuren zu bestimmen, die wir hier antreffen, sondern nimmt im Gegenteil alle diese Versuche auf und bestätigt sie. Er rahmt sie lediglich anders und begreift die Leute, die wir hier antreffen, als Abkömmlinge eines vielfachen und vielfältigen Chors: Clowns, Vagabunden, Penner, Landstreicher, Geflüchtete, Verfolgte, Fremde, Reisende, Staatenlose gleich welcher Art. Unter dem Aspekt des Chors handelt es sich zunächst und vor allem um Unbehauste. Die sozialen, politischen oder historischen Hintergründe, denen das Unbehauste häufig nur als schnell zu behebender Ausnahmezustand erscheint, interessieren hier nicht. Stattdessen sind der Status und die Bewegungsformen von Unbehausten wahrzunehmen, deren erstes Merkmal darin besteht, dass sie nicht wohnen. In keinem Haus, in keiner Stadt, in keinem Staat, noch nicht einmal in einem Land. Sie halten sich vorübergehend auf, unter keiner oder unter wechselnder Adresse. Sie sind unstet und grundlegend mit den Bewegungsformen von Kommen und Gehen verbunden. Sie


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nehmen flüchtigen Aufenthalt. Sie sind mit der Straße verschwistert und mit ihren Mikromilieus der Gräben, Unterstände, Keller, Ställe, Hütten. Sie sind mit minimalen Formen von Arbeit, sozialen Praktiken und Ritualen verknüpft und mit den mikropolitischen Formen der Gabe, der Gastfreundschaft, des Gewährens und Nehmens. Sie sind Genies semistabiler Provisorien und diskreter Zusammenhänge. Sie sind unüberschaubar viele. Im Echoraum der Geschichte, des Sozialen und des Politischen sind sie nicht ohne Berührung mit diesen Bereichen, aber doch meilenweit entfernt von deren sozialen und politischen Kollektiven mit ihren universalen und hegemonialen Gesten. Im Echoraum einer groß geschriebenen Geschichte ist es Unbehausten nicht um partikulare Interessen zu tun (obwohl die Übergänge zur Interessenartikulation mit ihren öffentlich vorgetragenen Protesten, Demonstrationen etc. fließend sein können), sondern um viel weniger, das zugleich mehr ist. Unbehausten geht es um ein beliebiges und zugleich nicht austauschbares Leben, um jenes Leben, das Gekenterte retten, wenn sie am Ufer aus dem Wasser gezogen werden. Unbehauste kommen stets von den Rändern oder aus der Peripherie sozialer Ordnungen, Institutionen und Gesetze. Sie können ihre Inklusion anstreben, können sie aufschieben (unfreiwillig oder freiwillig) oder sie, etwa in der Verachtung für alles Sesshafte, verweigern.244 Unterschiede dieserart sind jedoch nachrangig gegenüber dem Faktum, dass Unbehauste ihrem Status nach niemals zur Mehrheit gehören. Aus dem „Universum“ (16) der Unbehausten kommend, finden sich Wladimir und Estragon hier, an diesem offenstehenden Ort vor, der durch sie zu einer Bühne wird. Wie jeder Chor sind sie schon da.245 Estragon versucht, seinen Schuh auszuziehen, Wladimir „nähert sich“. Keine Erwähnung irgendeiner Kulisse. Godot setzt mit einem unbestimmten, wiederholten Scheitern ein: „Estragon gibt es wieder auf. Nichts zu machen.“ Wladimirs erste Repliken zeigen ihn in Gedanken an ein ebenfalls wiederholtes Scheitern: „Ich sagte mir: Wladimir, sei vernünftig, du hast noch nicht alles versucht. Und ich nahm den Kampf wieder auf.“ So stellen sie erst die Ränder, die Peripherie her, aus der sie kommen. Wladimir bringt das Motiv der Rückkehr zur Sprache und drückt seine Freude darüber aus, Estragon wiederzusehen. Wladimir: „Ich dachte, du wärst weg für immer.“ Ganz wie antike Helden nach langer Fahrt zu Hause wieder ankommen und emphatisch empfangen werden, fragt Wladimir: „Wie sollen wir dies Wiedersehen feiern?“ Auf engstem Raum wird


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die chorische Figur der Wiederholung bzw. des wiederholten Scheiterns eingeführt und als Inversion des nostos, der Heimkehr des tragischen Helden, ausgewiesen. Da das Unstete, Unbehauste und das grundlose Soziale auf seine Seite zählen, kehrt der Chor jedoch nicht heim, sondern kehrt wieder. Demgegenüber wird bis zum Einsatz der Pozzo-Lucky-Szene das strahlende Bild eines Protagonisten entworfen, zu dessen Merkmalen Sesshaftigkeit, gesellschaftliche Kontur und sozialer Grund zählen. Der Protagonist ist mit dem Standard verknüpft, mit dem Bild des städtisch gebildeten, kräftigen, erwachsenen und etablierten Mannes. Wladimir und Estragon bieten in allem das gegenteilige Bild: Sie sind arm, alt und schäbig, die Stadt liegt seit langem hinter ihnen. Estragon hat einen schmerzenden Fuß und humpelt, Wladimir lässt (nach einer eindeutigen Erleichterung) seinen Hosenstall offenstehen, zwei abgewrackte Männer. Der Protagonist steht für den Standard der Mehrheit. Die beiden, denen wir in Godot als Chor begegnen, stehen für die Minderheit. Auf ihrer Bühne ist der Protagonist abwesend. Die Minderheit hingegen umfasst, wie wir wissen, die gesamte Welt.246 Die Figur des Protagonisten wird plastisch durch alles, was Wladimir und Estragon auf Godot projizieren. Sie haben ihn um eine Auskunft „gebeten“, doch eher habe es sich um eine „vage Bitte“ gehandelt, auf die hin er nichts versprochen habe. Godot besitzt ein Pferd, er wohnt. Er hat Familie, Freunde, Agenten, Korrespondenten, Register, Bankkonto, Rechte (19 f.). „C’est normal“247, kommentiert Estragon diese Status-Liste eines Besitzers und Sesshaften. Bei Godot übernachtet man „im Warmen, im Trocknen, mit vollem Bauch, auf Stroh“ (21 f.). Durch eine sich über zweieinhalb Seiten des Textes erstreckende Verwechslung der Personen und Namen Godot/Pozzo gehen Merkmale der Figur des Protagonisten auf Pozzo über, der sich als Herrenmensch, als Grundbesitzer und als Exemplar der mehrheitsfähigen Menschengattung von „Göttlicher Abstammung!“ (26) vorstellt. Das Spiel der Verwechslung wiederholt sich im zweiten Akt (94 f.). Es weist Pozzo als einen Protagonisten aus, in dem sich schon die Brüchigkeit des großen Einzelnen, des metaphysisch chiffrierten Self-made-man anzeigt. Zum mehrheitsfähigen Standard gehört er trotzdem. Wladimir und Estragon stehen auf der niemals mehrheitsfähigen Seite unzählig Vieler, was Heiner Müller ins Bild fasst, wenn er sagt, da könne man ‚eigentlich nur noch den Schluss ziehen, am nächsten


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Tag in die Kommunistische Partei einzutreten‘. Ohne Wohnung, abgerissen, schlecht zu Fuß, zwei alte Kerle, die vergesslich geworden sind („Was sagte ich noch …“, 11, 36, 45, 78) und sich nur noch lückenhaft erinnern. Einmal geboren, ließe sich dies „bereuen“ (10), aber ansonsten sind sie da und machen weiter. Günther Anders deutet die Passivität eines „Menschen, der bleibt, weil er nun einmal da ist“248, phänomenologisch und zeitdiagnostisch: Er sei repräsentativ für ein Leben ‚nach der Geschichte‘249, für das ‚durchschnittliche Leben‘ von Arbeitslosen und Massenmenschen etwa, die Anders als Beispiele anführt. Fragen wir jedoch nach dem Theater, dann steht dieses Leben, das nun einmal ‚da‘ ist, nicht beispielhaft für ein anderes Leben, es spricht keine Sprache der Repräsentation. Vielmehr bildet das Schon-da das erste und wichtigste Merkmal der Figur des Chors. Nehmen wir Wladimir und Estragon als Chor wahr, so gleichen sie exakt jenem antiken Chor in der Orchestra, der den Protagonisten erwartet, bereit, ihm einen Ort einzuräumen, den er als Einzelfigur nicht selbst aus sich heraus erzeugen kann. Nun bleibt dieser Protagonist im Fall von Godot jedoch aus und die Situation des Wartens wird angehalten. Auf der Stelle dehnt sich die Situation zu einem anfangs- und endlosen Raum. Dass sich diese Dehnung herstellt oder auch ergibt, hat vor allem damit zu tun, dass dieses anfängliche Schon-da des Chors einer Topo-Logik zugehört und nicht der Logik einer gerichteten Zeit gehorcht. Der wartende Chor bezeichnet vor allem einen empfänglichen Ort, seine Erwartung ist nicht in die Zukunft gespannt, er wartet nicht auf ein besseres Morgen. Erwartend bildet der vielstimmige Chor schlichtweg eine Situation, die sich ausdehnt, bereit, etwas aufzunehmen, sodass etwas eintreten kann, das sich im antiken Theater an die Figur eines Protagonisten heftet. Dieser Chor-Ort der Orchestra bildet in Godot nun der Raum der Unbehausten, mit einem unbestimmten Horizont, in unabsehbarer Umgebung. Mit diesem Raum sind Wladimir und Estragon verschwistert, von hier aus kommen sie, erkunden die Kulissenbühne, blicken von der Rampe aus ins Publikum und kommentieren: „Dieser Sumpf!“ (15) Nicht nur an dieser Stelle beugen sich Wladimir und Estragon sozusagen aus der Orchestra über die Rampe eines Innenraumtheaters. Auch ihre Gesten, die dem Himmel, dem Horizont, der Erde oder der Ferne gelten, sind dem größeren Theater entliehen, dem sie zugehören und dessen Raum im Kompositum Landstraße durch


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das Wort Land angezeigt wird. Im Innenraumtheater, das sie nur ironisch oder verächtlich kommentieren, sind sie irgendwie am falschen Ort. E: „Komm, wir gehen!“ (13) Aber sie können es auch deshalb nicht, weil sie Figuren aus der Orchestra am Ort der Tragödie sind, noch bevor diese einsetzt. Wird das Theater in diesem Moment angehalten, dann ist diesem noch bevor nichts über die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit des Erwarteten zu entnehmen. Es gibt keinerlei Indizien. Aus diesem Grund warten Wladimir und Estragon und verwickeln sich in ihr Warten, indem sie anfangen, jede noch so kleine Gegenwart bis schier ins Unendliche zu unterteilen. Unterschiedlich bedürftig, mutig oder verzweifelt lösen sich ihre Einfälle aus den Leerstellen des Wartens (Pause). Nur ein Und, das zwischen dem einen und dem anderen, zwischen einem Vorhergehenden und einem Nachfolgenden vermittelt. Das Und als eine, wie Blanchot sagt, „neutrale Aussage, die nur sich selber ausspricht“250, bildet die für sie einzige treibende Kraft. Eingedenk dessen, dass es sich nicht um einen Fluch handelt (nicht aufhören zu können) und auch nicht um eine Qual (sie haben sich zu Komplizen und spielen) und ebenso wenig um ein zähneknirschendes Standhalten (es dreht sich nicht um Hoffnung), ist mit dieser schwachen Kraft des treibenden Und die reine Gewärtigung minimaler Bewegungen verknüpft. Aus diesen Merkmalen setzt sich in der Godot-Welt von Wladimir und Estragon ein Theater des Chors zusammen. Es tritt mitten in den 1950er Jahren mit einer solchen Fremdheit auf die Bühnen, dass es dem Theaterkritiker und damaligen Leiter des National Theatre London, Kenneth Tynan, so erschien, als käme es geradewegs vom Mars:

„Nach allen bekannten Kriterien ist Warten auf Godot ein dramatisches Vakuum. Es hat keinen Plot, keinen Höhepunkt, keine Lösung, keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende, es wirft freimütig alles über Bord, was wir als Theater kennen, es kommt einfach so an, ohne Gepäck, ohne Ausweis, ohne etwas anzumelden und geht dennoch durch, so als wäre es ein Pilger vom Mars.“251


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Chor-Ort: Straße

Die andere Hälfte des Kompositums Landstraße ist verschwistert mit dem Theater der fahrenden Leute, mit dem Stegreifspiel der Komödianten und mit ihren nomadischen Bühnen. Die Straße bezeichnet das Außen in westlichen Gesellschaften, die sich in der Renaissance über ihre Urbanität zu formieren beginnen. Jene Stadt, die nicht länger einem himmlischen Jerusalem nacheifert, sondern Irdische im Diesseits beherbergt, wird zum Nabel gesellschaftlicher Neuformationen. Diese Stadt ist, das klingt auf den ersten Blick trivial, eine gebaute Stadt. Sie entwickelt sich in engem Zusammenhang mit der in der Renaissance erschlossenen visuellen Kultur, die unser Sehen als ersten Sinn unter unseren sinnlichen Vermögen adressiert. Gehen wir von diesen für das Auge gebauten Städten als Movens der kommenden Entwicklung aus, so ist es sehr auffällig, dass diese Städte als ihr Außen nicht das Land definieren, sondern die Straße, also das von ihnen geschaffene, artifizielle Außen. Diese Straße geht mit Verkehr, Handel und Mobilität als solcher einher. Im Fall der Renaissancestädte umfasst das Wissen der Straße den Geldverkehr mit allen seinen Verwandlungen im Waren- und Zeichenaustausch. Die Straße spielt ihre Rolle als (para-)militärische Trasse für oder gegen den Aufstand oder als Fernstraße im Zeitalter der europäischen Expansion. Es ist nicht möglich, die Straße auf einen Nenner zu bringen. Sicher ist nur, dass sie sich nicht bewohnen lässt und dass sie zur Inneneinrichtung einer Welt zählt, die sich allmählich zum „Weltinnenraum des Kapitals“252 schließt. Die Straße ist das Medium dieser Entwicklung. Alle Merkmale der Straße korrespondieren in überragender Weise mit dem schriftlosen Stegreifspiel der komischen Figur, für die der Harlekin par excellence steht: Sein Spiel hat nichts außer oder über sich. Es thematisiert das Spiel als solches, das heißt, es spielt mit der Bodenlosigkeit des Spiels selbst. In Bezug auf die Städte der Renaissance, die sich als Speicher von Macht und Prosperität abzusichern versuchen, fügt das Spiel der Komödianten, die invasionsgleich in die Städte einfallen, diesen das Wissen hinzu, dass ihre Inneneinrichtungen auf bodenlosem Terrain spielen. Der Harlekin trägt das Stegreifspiel der komischen Figur. Er ist keine Einzelfigur, sondern ein Typus und bezeichnendes Prinzip eigenständiger Spiel- und Beziehungsweisen der Commedia. Harlekin ist der Name eines ganzen Theaters. Nikolaus Müller-Schöll beschreibt


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das Auftauchen des Harlekins aus den komischen, närrischen Volkskulturen Oberitaliens, folgendermaßen:

„[Die] frühesten Bild- und Wortzeugnisse von ihm sind um das Jahr 1570 herum datiert. Ein armer Schlucker, ein Knecht aus Bergamo, der seine Armut verbirgt, immer hungrig und durstig, immer aufs Kopulieren aus, regsam, lustig, ausgelassen, geistreich, schlagfertig, im Vorfeld von Gut und Böse, doch mit zuweilen infernalisch anmutenden Zügen, im Übrigen vor allem elastisch und anpassungsförmig, ausgestattet mit einer unerschöpflichen ‚Lust der Verwandlung‘, weshalb Alewyn ihn als ‚Inbegriff des absoluten und universalen Schauspielers‘ bezeichnet, ein Chamäleon, ein Mann der Metamorphosen, der nicht von ungefähr im italienischen Theater häufig von Akrobaten gespielt wurde. Prägnant ließe sich der Typus mit einem alten Spontispruch beschreiben: zu allem fähig und für nichts zu gebrauchen.“253

Um 1800 geraten die eigenständigen Spiel- und Beziehungsweisen der komischen Figur und des Chors verstärkt in den Blick. In seiner Vorschule der Ästhetik (1804) schreibt Jean Paul zum Harlekin:

„Er ist der Chor der Komödie. Wie in der Tragödie der Chor den Zuschauer antizipierte und vorausspielte und wie er mit lyrischer Erhebung über den Personen schwebte, ohne eine zu sein: So soll der Harlekin, ohne selber einen Charakter zu haben, gleichsam der Repräsentant der komischen Stimmung sein und ohne Leidenschaft und Interesse alles bloß spielen, als der wahre Gott des Lachens, der personifizierte Humor.“254

Die Charakterisierung des Harlekins als Chor der Komödie verdeutlicht schlagartig die tiefe Verwandtschaft beider Figuren. Sie teilen nicht die vita activa von ‚Personen‘, obwohl sie Anteil nehmen. Sie sind ‚bloße Spieler‘, die unter ihre immensen Erbschaften auch einen ‚Gott des Lachens‘ zählen. Sie verhalten sich nicht in einer fortschreitenden Zeit von Interessen und Leidenschaften, sie begleiten oder bezeugen diese eher wie Zuschauer. Sie ragen aus der Peripherie in die jeweiligen Gründungs-, Abgrenzungs- und Eroberungsbewegungen hinein, aus denen eine Epoche ihre neuen Binnengliederungen gewinnen will. Sie erinnern ein Außen, das zwar verändert, aber dennoch in transformierter Weise gleichzeitig und weiterhin vorliegt. Aus diesem Grund variieren die Figuren Chor und Harlekin in den jeweiligen Umbruchszeiten ein ‚Mit‘, an dem


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das Gewicht der Welt hängt. Durch ihre Eigenschaft, im Horizont des Theaters weiterhin herum zu spuken, halten diese Figuren das Theater davon ab, sich zu schließen. Was die komische Figur, die Commedia, Harlekins, Clowns usw. eint, beruht nicht auf Ähnlichkeiten, Regeln, Konventionen oder Codes des Komödiantischen, sondern begründet sich im Prinzip der Straße. Die Straße vereint sie in einer Art und Weise, die nicht in einer ‚Geschichte‘ zu fassen ist und so, dass auch diese Figuren nicht in eine Geschichte gefasst sind. Sie sind getrennt und unterschiedlich. Sie können im Einzelnen burlesk und narrativ auftreten, sie können akrobatisch, illustrativ oder auch als vollkommenes Klischee auftreten. Doch alle diese Besonderheiten verschwinden zugunsten eines gemeinsamen Faktums der Figuren, das mit ihrer herkunftslosen Herkunft korrespondiert, sodass sie, die sich keiner Gründung verdanken, immer nur in Modulationen vorliegen. In der Serie ihrer zahlreichen Metamorphosen und unterschiedlichen Typen sind sie als Komödianten kenntlich, die den Chor der Straße bilden. Zweifellos variieren die Spiele von Estragon und Wladimir den Kummer des leibverhafteten, immer hungrigen, immer verprügelten Rotclowns und die Traurigkeit des klugen, von der Unfreundlichkeit der Welt enttäuschten Weißclowns. Als Clowns hängen sie zusammen, aber sie sind nicht von derselben Art. E: „Wir waren nicht für denselben Weg gemacht.“ W: „ohne böse zu werden: Das ist sicher.“ E: „Nein, nichts ist sicher.“ W: „Wir können noch auseinandergehen, wenn du meinst, dass es besser wäre.“ E: „Jetzt lohnt es sich nicht mehr. Schweigen.“ (66 f.) Die clownesken Merkmale ihres Spiels erscheinen marginal. Sie werden derart an der untersten Grenze einer Spieleinfärbung gehalten, dass sie kaum wahrzunehmen sind. Und dennoch wäre kein Spiel von Wladimir und Estragon denkbar ohne die Minimalstütze, die sie in jenem System des Clownesken besitzen, das auf den Harlekin als Chor zurückgeht. Diese Referenzen funktionieren hier jedoch nicht im Sinn eines Systems, das feste Strukturen und Codes in der Art eines Handwerkskastens bietet, auf den sich ‚zurückgreifen‘ ließe. Eine solche mechanische Vorstellung verbietet sich im Fall der genannten Straßenkünste völlig. In Bezug auf Wladimir und Estragon haben die Erbschaften der Straße zusätzlich eine andere Funktion. Als Figuren bietet ihnen die Straße eine Öffnung in eine Vielzahl von unpersönlichen Figurationen. Sie teilen mit dieser Vielzahl ‚die Straße‘ als ein gemeinsames Faktum, das wie ein un-


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willkürliches Gedächtnis eintritt oder dazwischentritt und ihre Spielbewegungen moduliert. Wladimir und Estragon agieren in gewisser Weise nicht ‚selbst‘ und denken sich nicht ‚selbst‘ aus, was zwischen ihnen spielt. Vielmehr verkoppelt sich Vergangenes einer Figuren- und Typenpluralität mit ihrer begrenzten Godot-Welt. Aus dieser Koppelung lassen sich eine Vielzahl nicht kodierter und nicht kodifizierbarer Spiele generieren, die zu Spielen von Wladimir und Estragon werden. Das Vergangene des Chors der Komödianten hat sich hier angekoppelt, ohne dass man dazu die geringste Geschichte erzählen könnte. Das Wissen der komischen Maske wurde über lange Zeit hinweg schriftlos, von Spieler zu Spieler, tradiert.255 Es ist reine Straßenkunst, der die Straße als Aufführungsort dient, nicht etwa aus Verlegenheit oder aus Mangel an anderen Gelegenheiten, sondern weil sie dem Spiel der komischen Maske als einzige adäquat ist. Die Straße als artifizielle Einrichtung für den Verkehr im Allgemeinen zeugt von der Commedia als einer Verkehrskunst im Besonderen und in jedem ihrer Züge. M. Gogo

Die sehr allgemeine Charakterisierung von Wladimir und Estragon als Weiß- und Rotclown lässt sich in Bezug auf Estragon auf eine überraschende Weise konkretisieren, wenn wir eine Spur aufnehmen, die ihn mit einem populären Typus verbindet, der sich im 19. Jahrhundert auf einem französischen Sonderweg in die Moderne einstellt. Monsieur Gogo256 ist zunächst eine Figur aus der Komödie Robert Macaire, die Ende der 1830er Jahre in Frankreich weite Verbreitung findet. Über verschiedene Vermittler und Verteiler löst sich diese Figur jedoch aus ihrem marginalen literarischen Milieu und wird im Verlauf des Jahrhunderts sprichwörtlich. Um 1900 bezeichnet ein Gogo in der populären Sprache eine leichtgläubige Person, die sich gerne irreführen lässt und daher den Gelackmeierten oder Dummen in einer Farce oder im Alltag abgibt. Seine Stationen lassen sich wie folgt nachzeichnen. Der Typus Gogo hängt eng mit der Entwicklung des Finanzkapitals in Frankreich während der zweiten industriellen Revolution zusammen, in der ein starker kommerzieller Geist das französische Kleinbürgertum erfasste.257 Sparen und Investieren verbreitete sich als Mentalität namentlich unter den kleinen Leuten. Kleine und mittlere Geschäftsleute aller Art wittern überall Gewinnmöglichkeiten, nehmen Kredite auf, kaufen Börsenpapiere, wetten auf die


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Freiheit des Geldverkehrs, les affaires, wie die Geschäfte einfach hießen und hoffen auf Rendite. Das führte in den 1880er Jahren dazu, dass der sogenannte flüssige Reichtum, der Geldverkehr und der Vorrat an verzinslichen Wertpapieren, in Frankreich mehr gestreut bzw. demokratisiert waren als in irgendeinem anderen Land der Welt. Diese Entwicklung wurde als französischer Sonderweg der industriellen Modernisierung bezeichnet, dem sich nach 1900 der Aufstieg der Banque de France zur Weltbank Nummer Eins verdankte. Aus der Peripherie dieser Entwicklung kommt die Figur des Monsieur Gogo, der 1834 seinen ersten Auftritt als Kleinaktionär auf einer Aktionärsversammlung in der Komödie Robert Macaire 258 hat. Ihr Titelheld ist der intrigante Spekulant Macaire, eine perfekte Verkörperung des skrupellosen Emporkömmlings im Finanzboom der vorausliegenden Jahre. Macaire will ein neues Unternehmen gründen, ausgerechnet ein profitables Versicherungsunternehmen gegen Diebstahl, legt aber keine Abrechnungen vor. M. Gogo: „Ich verlange, dass auf der Stelle die Dividende aus dem Gewinn ausgezahlt werde.“ Macaire: „Ach, mein Herr, das verstehen Sie unter Geschäften?“259 Die höhnische Replik reicht den anderen Aktionären aus, um M. Gogo aus ihrer Versammlung zu werfen, während sie selbst in Macaires neues Geschäft einsteigen, das erwartungsgemäß pleite macht. Die Komödie feiert stürmische Erfolge und findet große Verbreitung, sodass es bald Nachahmer gibt: Das Vaudeville Monsieur Gogo à la Bourse von M. Bayard hat 1838 im Pariser Théâtre des Varietées Premiere. Eine weitere Verbreitung und Konturierung erlangt der Typus des M. Gogo durch die Serie, die der zu diesem Zeitpunkt schon berühmte Honoré Daumier ab 1838 in satirischen Tageszeitungen veröffentlicht: Eine Serie von fünf Lithografien unter dem Titel Mésaventures et désappointements de M. Gogo 260 zeigt Gogo als einen zerknirschten, aber unbeirrbaren Teilnehmer der Aktienmärkte, der nicht davon ablässt, dubiosen Geschäftsideen zu vertrauen, obwohl Direktoren wie Macaire schon den Großteil seiner Aktionärseinlagen in den Sand gesetzt haben. Eine Lithografie Daumiers zeigt M. Gogo mit Macaire, der ihn gerade davon überzeugt hat, für nur ein Drittel des Gewinns alle weiteren Verluste hinzunehmen. 1840 findet Gogo in den Typenkatalogen von Honoré de Balzac Beachtung, der sich mehrfach auf die Komödie Robert Macaire bezieht.261 1859 hat ein weiteres Vaudeville Monsieur Gogo


Honoré Daumier, M. Gogo, 1838. Monsieur Gogo et les nouvellistes de la Bourse


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Premiere.262 Gogo wird schlechthin zum Synonym für die Figur des Düpierten, der in den Wassern eines weltweiten Finanzmarkts ein bisschen mitschwimmen will, der von der Doppelzüngigkeit bis zur bloßen Gemeinheit alle Facetten der Waffen des Kredits kennengelernt hat, der betrogen und übers Ohr gehauen wird und der trotzdem nicht aufhört zu glauben, dass es beim nächsten Mal klappen könnte. Weil das Spiel zwischen Betrügern und Betrogenen nicht aufhört und Gogo unbeirrbar an der Möglichkeit eines Gewinnteils festhält, ist Gogo ein Typus, der sich ungeheuer vermehrt und ausbreitet. Gogo hat sich im frühen 19. Jahrhundert, aus Frankreich kommend, auf die Straße der Clowns eingefädelt und spielt mit. Die eigene Farbe, die ein Gogo mitbringt, hängt mit den bodenlosen Verkehrskünsten der Straße in ihren abstraktesten und allgemeinsten Zügen zusammen. Die Freiheit des Verkehrs, die ihn motiviert, ist der Kapitalverkehr und der auszuschüttende Betrag, der irgendwo abfallen muss, wo es einen Einsatz gibt. Aufgrund der Besonderheit seines Spielfelds ist ein Gogo stets mit Vielen und großen Mengen verknüpft, mit den jeweiligen Spielerbanden von Börsengewinnlern und -verlierern, mit Kursnachrichten und hohen Summen. Gogos und Macaires bilden zwei alte Zweige derselben Familie, aber viel mehr als ein Macaire, der sich zur Seite des Terrorismus der Börsenspieler hinwendet, neigt ein stets gelackmeierter Gogo zur Seite von Clowns herüber, nimmt fast schon Züge eines zerknirschten dummen August an. Unverkennbar sind einige Züge diese Figur auch im clownesken Typus von Estragon wiederzufinden. Eine Facette, die zur Roulette-Logik eines Gogo passt, ist die Devise: alles oder nichts, Hauptgewinn oder Strick. Estragon ist dem Strick näher als Wladimir. E: „Komm, wir hängen uns sofort auf.“ (18) Die Gogo-Logik dirigiert auch Estragons Überlegungen zur Reihenfolge des Sich-Aufknüpfens: „Didi schwer“/„Gogo leicht“ (19). Hinzu kommt das auffällige Merkmal, dass Estragon Geld „wittert“ (34). Das können „Almosen“ (34) sein, „ein paar Mark“ (47), ein „paar Groschen tun’s auch“ (35), entsprechende Wiederholungen gibt es im zweiten Akt. Estragon wird jede Nacht übel zugerichtet, eine Bande, eine vielleicht wechselnde Meute. „Es waren zehn.“ (71, 72) Wladimir versucht, den Grund dafür zu erfahren, es gibt keinen. Estragon wiederholt nur: „Ich habe nichts gemacht.“ (71, 72). Sucht man nicht nach naturalisierenden Erklärungen (die der Text ausschließt), dann gehört diese Prügel einfach zur Umgebung dieser


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Figur, die auch hierin die Züge eines Gogo trägt, der immerzu Schläge einsteckt, aber nie austeilt. Die Schuhe, Gräten, Rüben, Tritte und Bisse gehören zum Rotclown. Aber die Servilität, mit der Estragon dem reichen Besitzer Pozzo „spielend“ (44) begegnet, gehört unverkennbar zu einem Gogo. Auffallend ist ebenso, dass es immer Estragon ist, der die großen Zahlen nennt. Und dann ist da natürlich dieser Name. Es ist kaum möglich, in Frankreich beim Stöbern durch die Literatur, die sich mit dem Vaudeville, der Comédie, dem Varieté, dem Zirkus oder der Karikatur eines Daumier befasst, nicht auf den Namen Gogo zu stoßen. Selbst ein Lexikon zur Zirkussprache aus dem Jahr 2003 verzeichnet noch den ‚Monsieur Gogo‘.263 Gogo wäre dann im Fall von Godot nicht der Spitzname von Estragon, der zuerst bekanntlich Lévy heißen sollte. Vielmehr wäre Estragon eine Umkleidung des Namens Gogo, der die perfekte Schaukel einer wechselspielenden Zwei mit den Spitznamen Didi und Gogo erlaubt. Die Straße der Clowns spielt in Godot mit. Ihre Künste sind Mitspieler im Spiel von Zweien, die als Chor erkennbar sind. Im Folgenden möchte ich die Merkmale dieser Spiele genauer untersuchen und dabei den Vorteil nutzen, dass hier nur zwei Leute den Chor geben, der Chor also wie unter einem Brennglas komprimiert und gleichzeitig vergrößert vorliegt. Spiele mit Zuschauern

Die Spiele von Wladimir und Estragon heißen: einander verlassen, einander wiederfinden, streiten, erinnern, vergessen, fragen, widersprechen, helfen, umarmen usw. Nicht-sprachliche oder sprachliche Aktionen und Reaktionen: In purer Rückbezüglichkeit gibt eine Replik die andere, springt her und hin, vor oder zurück. Darunter oder dahinter ist nichts als die leere Zeit. Der Sinn wird gleichgültig. Jedoch nicht, weil der Sinn einerlei wäre oder es auf ihn nicht ankäme (das Gegenteil ist der Fall: es gibt keine einzige unorganisierte, referenzfreie Replik), sondern weil hier jeder Anfang, jede Pause, jede Abwesenheit, jeder wiederholte Anfang und jede Wiederholung im Leeren schwebt. Der Sinn wird nicht aus der Tiefe einer Sprachlosigkeit geborgen, er wird nicht eigens hervorgebracht. Er ist vielmehr da, gültig und ‚wahr‘ und läuft jederzeit mit, als Mit-Sinn. Er gilt für alles gleich, was in der bodenlosen, porösen Struktur dieser Spiele auftauchen kann. Der gleichgültige


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Sinn ist nicht weniger Sinn, sondern vervielfältigter, ausgestreuter Sinn: mehr Sinn. Sogar das Sinnlose ist nicht ohne Sinn, sondern ist with-out Sinn. In Godot heißt es, als Estragon, der eine gelbe Rübe suchen will, sich nicht rührt: „Nun wird es wirklich sinnlos.“ / E: „Noch nicht genug.“ (83) Die Spiele von Wladimir und Estragon verwenden Sprache und bestehen aus Sprache, sind aber keine Sprachspiele. Ihre Spiele stellen bewegliche sprachliche Oberflächen her: Auf diesen werden Worte und Namen wie sprachliche Atome platziert und syntaktischen Funktionen anverwandelt, also eingefärbt, zusammen- und auseinandergesetzt. Sehr häufig wird das schließende Band des Satzes durch die Aussetzung eines Verbs zerschnitten, sodass die Rückführung der Bedeutung auf die Bezeichnung unterbrochen wird und sich nur im Rückgang auf den Spielverlauf ergibt. Sobald sich das Band des Satzes über einem Bezeichneten zu schließen anschickt, schmälert diese drohende Schließung das Spiel des Aufschubs. In diesen Momenten unterbrechen sich Wladimir und Estragon oft durch ein tautologisches Moment: „Eben.“ (frz. „Voilà.“) Diese Partikel halten die Rückführung der Bedeutung auf die Bezeichnung auf. Sie widerstreben der Schließung. Nur wenn es gar nicht mehr anders weitergeht, ergeben sich die Spieler einem „Schweigen“, mit dem ihre Spiele jeweils enden, denn sie sind aus Sprache gemacht (und insofern ist die Sprache selbst ihr einziges Ereignis). Für das Verhältnis zwischen Spielverlauf und dem Spiel selbst soll im Folgenden ein Abschnitt im Zusammenhang zitiert werden. Versuchen wir, ein Spiel von Wladimir und Estragon zu bezeichnen, so stellt sich im Horizont dieser Spiele stets ein Verb im Infinitiv ein. Der Modus des Infinitivs signalisiert, dass Verben nur ungenügend begriffen sind, wenn sie für die Repräsentation einer Aktion gehalten werden. Im Unterschied zu konjugierten Verben und ihren konkreten Zeitlichkeiten, verdeutlichen Infinitive eine andere, weiterreichende Modalität von Verben. Abgeleitet von lat. infinitus, was wörtlich mit „unbegrenzt“ oder „unbestimmt“ zu übertragen ist, signalisieren Infinitive die Zugehörigkeit von Verben zur Dimension des Ereignisses. Das Spiel, um das es im Folgenden geht, lässt sich mit den Infinitiven ‚fragen‘, ‚denken‘ bezeichnen. Die Oberflächen, die Wladimir und Estragon hier sprachlich entrollen, enthalten Namen für das Schlimmste: „all die Leichen“, „die Gebeine“. Das Wort „Ein Massengrab“ – „Un charnier“ – wird doppelt genannt und von Elmar Topho-


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ven 1953 mit dem ungleich banaleren Wort „Ein Beinhaus“ übersetzt.264 Es taucht als sprachliches Atom im Pingpong-Spiel von Wladimir und Estragon auf, die von einem einfachen Wir in ein allgemeineres, inklusives Wir (frz. on) übergehen. Das Spiel öffnet sich dadurch in besonderem Maße zum Zuschauer hin und wird als dargestelltes Spiel betont. Gleichzeitig liegt es jedoch in seiner sprachlichen Struktur und seinen Spielern fest, ist also als Spielwelt gerahmt: „War gar nicht so schlecht als kleiner Galopp“ (78), kommentiert Estragon nach einem Schweigen ihr soeben abgelaufenes Spiel. Ihr Spiel aber ist das Ganze aus Spielern und Zuschauern, die nicht mitspielen, sondern für die und vor denen das Spiel spielt. Solche Zuschauer gehen auf das Spiel selbst zu und hören einem infiniten Ereignis zu, das sich von den Spielenden ablöst. Sie vernehmen die Sätze, die sich auf der Ebene der sprachlichen Oberflächen nicht schließen und hören etwas im Pingpong des Spiels von Wladimir und Estragon, das anwesend ist, aber nicht ausdrücklich gesagt wird. Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir:

Estragon. Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon:

Denken ist nicht das Schlimmste. Gewiss, gewiss, aber das ist doch schon etwas. Wieso ist das schon etwas? Das ist es, wir wollen uns Fragen stellen! Was willst du damit sagen: das ist doch schon etwas? Das ist doch schon etwas weniger. Eben. Also? Wie wär’s, wenn wir uns freuten? Es ist eben schrecklich, gedacht zu haben. Ist es uns überhaupt je passiert? Woher kommen all die Leichen? Die Gebeine. Eben. Eben. Wir haben doch wohl ein wenig gedacht. Ganz am Anfang. Ein Beinhaus, ein Beinhaus. Man braucht nur nicht hinzuschauen. Es zieht den Blick an. Eben. Der kann nicht umhin. Wie bitte?


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Wladimir: Der kann nicht umhin. Estragon: Man sollte sich entschlossen der Natur zuwenden. Wladimir: Wir haben’s versucht. Estragon: Ach ja. Wladimir: Oh, es ist gewiss nicht das Schlimmste. Estragon: Was denn? Wladimir: Gedacht zu haben. Estragon: Klar. Wladimir: Aber wir hätten darauf verzichten können. Estragon: Was willst Du? Wladimir: Eben. Schweigen. (S. 77 f.)

Das Spiel lässt sich nicht anhand einer einfachen Bewegung beschreiben, auch nicht als einfache Wechselseitigkeit, sondern nur anhand von Bewegungen des Hin und Her, des Vor und Zurück, die insgesamt den Zirkel eines Satzes darstellen, der nicht ausgesprochen wird. Dem Zirkel dieses Satzes entsprechen die folgenden Verben in ihrer infinitiven Form: denken, fragen, schauen, abwenden, verzichten bzw. nicht verzichten („Was willst du?“). Was sich im Bogen dieser Infinitive abzeichnet, lässt sich wiederum in Sätzen darstellen, die in jedem Fall anders und von jedem Zuschauer und Hörer anders gebildet werden. Für mich wären vielleicht folgende Sätze möglich: ‚Denken heißt fragen. Stellen wir uns angesichts des Schlimmsten Fragen. Wir haben uns nicht abwenden können. Obwohl es möglich gewesen wäre, haben wir nicht darauf verzichten können zu denken (das heißt zu fragen).‘ Die Wortklasse der Verben pendelt zwischen ihrem infiniten Modus und einer Gegenwartszeit. Diese Gegenwart kann heute, gestern oder irgendwann spielen. Sie ist nicht gleichbedeutend mit dem Präsens, sondern einfach eine im Spielverlauf konkretisierte Gegenwart. Demgegenüber kann der Infinitiv ohne jede weitere Festlegung alles Mögliche sein. In einer idealen Wendung umfasst er auch die Zuschauer eines Spiels. Die Gegenwartsform hingegen verlangt die Festlegung auf ein Subjekt und für gewöhnlich verlangt sie auch, durch etwas an der Stelle des Objekts vervollständigt zu werden. Üblicherweise verlangt der Satz ‚XY denkt‘ nach einer Vervollständigung im Sinne von ‚XY denkt an etwas‘ oder ‚über etwas nach‘. Nicht von ungefähr diskutieren Wladimir und Estragon bei ihrem Einstieg in das Spiel darüber, was „etwas“ oder „etwas weni-


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ger“ wäre, und nehmen dafür aber die bezeichnende Inversion vor, dass das Verb im Infinitiv an die Stelle des Subjekts rückt: „Denken ist etwas“. Ihr Spiel selbst gehört einem unbestimmten Infinitiv an, ohne Person, ohne Gegenwart, ohne Stimmenvielfalt. Es repräsentiert kein Ereignis, sondern drückt ein Ereignis aus, das die Unterscheidung von Spielenden und Zuschauenden unterminiert. Damit wird deutlich, dass der Spielraum der Spielbewegungen hier nicht einfach mit einer Bühne übereinkommt. Offensichtlich bezeichnet das erste Wort im deutschen Titel Warten kein Substantiv, das von einem Verb abgeleitet wurde, sondern die infinite Form des Verbs. Die Verwendung des Gerundiums im Französischen und Englischen lässt dies noch deutlicher hervortreten (En attendant / Waiting). Was sich hier sprachlich ereignet, ist bereit und fähig, sich zu verzweigen und mit allem zu vermischen, was es ermöglicht. Das heißt, in jedweden Lektüren und Aufführungen wird mit jedem Spielzug etwas in der Doppelrichtung von Vergangenheit und Zukunft in Gang gesetzt, das insistiert und das sich hier, an dieser Stelle und in Bezug auf das soeben zitierte Spiel, mit einem Infinitiv kennzeichnen ließe, der zugleich ein Imperativ wäre: denken, fragen. Das Vergehen der Zeit

Im Suhrkamp-Band mit der Übersetzung Elmar Tophovens, den Beckett 1975 zu seiner Inszenierung von Godot am Berliner SchillerTheater benutzte, ersetzt er die Formulierung „Zum Zeitvertreib“ (12) durch „Dann vergeht die Zeit“ und notiert auf derselben Seite die identischen Wiederholungen im Stück: „Dann vergeht die Zeit“ (12, 83, 102) „So ist die Zeit vergangen“ (59, 110) und „Wie die Zeit vergeht“ (92). Jegliche reflexive Wendung oder Andeutung einer Zweck-Mittel-Relation wird sorgfältig vermieden. Wladimir und Estragon spielen, während eine Zeit vergeht, die unsere ist. Das ist kein Zeitvertreib – einerseits. Andererseits gibt es aber auch die Langeweile und willkommene Ablenkungen. W: „Nein, widersprich mir nicht, wir langweilen uns zu Tode, das ist unbestreitbar. Gut. Es ergibt sich eine Ablenkung, und was machen wir? Wir lassen sie ungenützt. Los, an die Arbeit. Er geht auf Pozzo zu, bleibt stehen.“ (98) Langeweile und Ablenkung: Offenkundig sind zwei verschiedene Zeiten im Spiel. Die Ablenkungen gelten stets für eine begrenzte Zeit, deren Spanne sich aus der Aktion der Körper ergibt: Pozzo aufheben, einen


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Schuh anziehen, etwas essen, fallen, aufstehen, gehen. Die Ablenkungen bringen variable Gegenwarten von unterschiedlicher Ausdehnung hervor, sie gehen von einem Zeitvertreib zum nächsten über. Sie vertreiben die Zeit, denn insgesamt gehören sie, zyklisch und wiederkehrend, einer unendlichen Zeit an. Physische Bedürftigkeiten kehren genauso wieder wie die Fußtritte, Fragen und Zweifel. Müde werden, weil es Abend wird, oder warten darauf, dass es Nacht wird. Die Bewegung der Körper und ihre Verflochtenheiten in der Tiefe geben hier das Maß ab. Lauter „Tätigkeiten“, die, wie Wladimir konkretisiert, „auf den ersten Blick vernünftig erscheinen können, an die wir uns aber gewöhnt haben“ (97). Das heißt, sie sind nicht als solche vernünftig, sie sind nicht als solche notwendig oder unausweichlich, sondern scheinen dies nur, weil wir uns in Wirklichkeit an sie gewöhnt haben. Wir sind mit ihnen verabredet oder genauer noch: „Wir sind da, wie verabredet“ (ebd.). Unsere Gegenwart beruht auf Verabredungen. Dieses Wort zielt genau auf das instituierte Leben in seiner physisch und zyklisch bedürftigen Gegenwart, auf das Erlernte, das sprachlich Geregelte und die Vereinbarung, mit der es sich in unendlicher Wiederholung zuträgt. Aber die Art, in der es sich zuträgt, gleicht hier (wie auch im sogenannten wirklichen Leben) keinem zeitlichen Fluss, sondern einem stockenden, stotternden, immer wieder pausierenden Motor, der keineswegs ewig hält und jederzeit zu verenden droht. Auch das ist die Zeit, die vertrieben werden muss: der Motorschaden, das Ausfallen des Motors oder sein Ende. Die andere Zeit, die hier im Spiel ist, wird von Günther Anders als „Zeitbrei“ bezeichnet, weil sie nicht ordentlich nach Vorher und Nachher unterscheidet, sondern alles ineinander gleiten lässt, sodass einfach „nichts verrät, dass etwas geschehen war“265. Diese andere Zeit ist nicht unendlich wie die Wiederholung, sondern unbegrenzt, weil sie sich nicht mit der Aktualität von Geschehnissen in der physischen Welt vermengt. Sie hält sich auf Abstand und will zum Beispiel vom linken Fuß genauso wenig wissen wie vom rechten. Stattdessen sammelt sie unkörperliche Ereignisse als Wirkungen, die wiederum zu Wirkungen führen. Ihr ‚Gegenstand‘ ist nicht die Frage danach, was wir uns als nächste Ablenkung erfinden, sondern dass wir überhaupt etwas finden und das Staunen darüber, dass uns dies eins ums andere Mal gelingt. Ein Staunen, das sich exakt in der Verwunderung darüber ausdrückt, „wie die Zeit vergeht“ (92). Diese andere Zeit, die Beckett so sorgfältig als vorüber-


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gehende Zeit notiert, vergeht im unbestimmten Modus, „dann“ oder „so“, ohne besonderen Grund, ohne Rückbezug auf Subjekte und ohne Verwicklung mit irgendwelchen Körpern. Für die beiden unterschiedlichen Zeiten, die hier im Spiel sind, möchte ich noch einmal auf die Unterscheidung von Deleuze zurückkommen, die ich schon im Abschnitt zum Schon-da des Chors verwendet habe. Sie scheint mir aber im hiesigen Abschnitt erneut aufschlussreich, sodass ich diese Unterscheidung noch einmal kurz in Erinnerung rufen möchte: In seiner Auseinandersetzung mit der stoischen Topologie macht Deleuze zwei Lesarten der Zeit aus, die beide für sich genommen vollständig sind. Während die eine Zeit (Chronos) unendlich oft auf die stets begrenzte Gegenwart fokussiert ist, kann die andere Zeit nicht als unendlich gelten, weil sie niemals wiederkehrend auf sich selbst zurückkommt. Diese andere Zeit (Äon) ist unbegrenzt wie eine „reine Gerade, deren beide äußersten Enden sich unaufhörlich in das Vergangene [und] in das Zukünftige entfernen“266. Das, was in der ersten Zeit der Geschehnisse ‚Gegenwart‘ heißt, stellt sich in dieser anderen Zeit als eine unaufhörliche Berührung von unbegrenzter Vergangenheit und Zukunft dar. Da sich diese beiden, auf ihren Zeitpfeilen in die Länge gezogenen Zeitformen als soeben Vergangenes und sogleich Zukünftiges unendlich oft berühren, kann man auch sagen, dass diese vergehende Zeit unendlich teilbar ist, insofern Vergangenheit und Zukunft „jede noch so kleine Gegenwart bis ins Unendliche unterteilen und diese auf ihrer leeren Linie in die Länge ziehen“. Dies macht die leere Form der Zeit aus, die keine physischen, materiellen Abhängigkeiten kennt. Ihre ‚Gegenwart‘ gleicht einem mathematischen Punkt oder einem idealen Gedankenwesen zwischen ‚gerade noch‘ und ‚schon nicht mehr‘. Das Präsens ist für sie eine unmögliche Zeit. Diese vergehende, niemals aktuelle Zeit wird von Deleuze und von Günther Anders als „die Zeit selbst“267 bezeichnet. Die leere Zeit gleicht dem idealen Spieler, für den Deleuze ein sehr schönes Bild erfindet: Der ideale Spieler spielt.268 Er geht mit einem Einwurf ins Spiel, von dem er nicht zu trennen ist, sodass er identisch mit dem Spiel selbst ist, mit dem Einwurf, von dem sich alle anderen Würfe qualitativ unterscheiden. Das ideale Spiel wird mindestens auf zwei Tischen gespielt, genauer gesagt: am Scharnier der beiden Tische. Dort zieht der ideale Spieler eine gerade, halbierende Linie durch die Spiele in einzelnen, die sogleich als das erscheinen, was sie in den Worten Wladimirs sind: eine Ablenkung.


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Entlang dieser Linie verteilt der ideale Spieler die den beiden Tischen entsprechenden Einzelheiten. Es werden zwei Serien unterscheidbar, die verschieden sind wie Himmel oder Erde, wie Sätze oder Dinge, wie ausdrücken oder einverleiben, wie reden oder essen, wie Weißclown oder Rotclown. Die leere Zeit spielt exakt auf der Grenze zwischen den beiden Serien, trennt und verknüpft sie. Der Witz ist jedoch nun, dass die leere Zeit in Berührung mit den beiden Serien auch in diesen zirkuliert, sich unablässig in dem einen oder dem anderen reflektiert und dabei verzweigt. Das Vergehen der leeren Zeit ist von der Art, dass sie alles aufnimmt und in allem zirkuliert, aber dennoch niemals auszufüllen ist. Die leere Zeit grundiert die Spiele der Ablenkungen und durchwandert ihre begrenzten Gegenwarten. In der folgenden kleinen Szene wandert die leere Zeit durch das Spiel, das sie nicht trennt, sondern wie ein Scharnier zusammenhält. Sie ist zuerst auf der Seite von Wladimir, der inmitten der leeren Zeit zur Ablenkung einen nochmaligen Versuch „mit den Schuhen“ vorschlägt. Estragon, der ganz bei seinen malträtierten Füßen und deren „Entspannung“ ist, zögert. Dann ist sie bei Estragon, der sich inmitten der leeren Zeit über die Tatsache freut, dass sie spielen („existieren“). Indessen ist Wladimir ungeduldig und ganz bei den Schuhen, von denen er einen aufhebt. Beide variieren ständig die Zwei, die sie jeder jeweils zweifach anzeigen: zwei Schuhe, zwei Füße, zwei Spieler, „Ja, ja“. So schlagen sie sich entlang der abstrakten halbierenden Linie der leeren Zeit als „Zauberer“ durch ihr Spiel. Eigentlich versuchen sie nur „nochmal“, Estragon die Schuhe anzuziehen, und „dann vergeht die Zeit“. Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir:

Willst du es nicht nochmal versuchen? Ich habe alles versucht. Ich meine mit den Schuhen. Meinst du? Dann vergeht die Zeit. Estragon zögert. Es ist bestimmt eine Ablenkung. Estragon: Eine Entspannung. Wladimir: Eine Zerstreuung. Estragon: Eine Entspannung. Wladimir: Versuch’s. Estragon: Hilfst du mir? Wladimir: Natürlich.


Estragon:

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Wir schlagen uns doch ganz gut durch, nicht wahr, Didi, wir zwei? Wladimir: Ja, ja. Komm, zuerst versuchen wir es mit dem linken. Estragon: Wir finden doch immer was, um uns einzureden, dass wir existieren, nicht wahr, Didi? Wladimir: ungeduldig: Ja, ja. Wir sind Zauberer. Aber wir sollten uns nicht von unserem Entschluss abbringen lassen. Er hebt einen Schuh auf. Komm, gib deinen Fuß. (S. 83) Gespielt werden

Die dargelegten Unterschiede in den Spiel- und Zeitformen korrespondieren miteinander: Im Horizont der Spiele gibt es einen Infinitiv, der sich nicht schließen lässt, der alle möglichen Ereignisse ‚sammelt‘ und der publikumsoffen ist. Ihm entspricht die leere Zeit, die unendlich teilbar ist, aber niemals auf sich selbst zurückkommt. Anfügen ließe sich hier: genauso wie das unbegrenzte, nicht feststellbare Publikum von Godot. Hingegen hantieren die Spiele gegenwärtig stets mit konkreten Körpern, Objekten und Aktionen und tun dies in unendlicher Wiederholung. Ihre Zeit ist das Präsens eines konkreten Publikums, während das Präsens für die leere, infinite Zeit wiederum ein Ding der Unmöglichkeit ist. Bald gilt das eine, bald hingegen das andere. Beide Lesarten oder Konzeptionen schließen sich wechselseitig aus, beide sind gleichzeitig notwendig. Sind die beiden Modi hinreichend unterschieden, muss ein weiteres Augenmerk der Art ihres Zusammenhangs gelten. Was lässt sich über das Scharnier oder die Naht sagen, die das Ganze eines Spiels zusammenhalten? Und was über das Und zwischen dem Hin und Her? Und nicht nur das Ganze eines Spiels, sondern auch das Ganze vieler, sich ablösender, sich folgender, sich vorausgehender Spiele wie hier in Godot. Mag innerhalb eines Spiels durchaus der Wettkampfmodus ‚Nicht du, sondern ich‘ zum Zuge kommen (der die Kommunikation des Paars Pozzo–Lucky vollständig trägt), so werden die Spiele als einander ablösende offensichtlich durch die Konjunktion Und verbunden. Durch eine Konjunktion, die nicht die Summe vieler Glieder bezeichnet, sondern ihr Und, das verschieden ist von der Summe oder den Elementen. Durch ein Und als Grenze, als Lücke und Bindestück zwischen zwei Spielen, zwischen Schwei-


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gen und Sprechen, zwischen Worten und Tönen, zwischen Frage und Antwort. Welcher Art ist der Zusammenhang dieses Und? Dieses Und ist in besonderer Weise mit einem Begriff des Spiels liiert, den Hans-Georg Gadamer für die Erfahrung von Kunst insgesamt geltend macht. Gadamer geht vom Primat des Spiels gegenüber den Spielenden aus: Für das Spiel sind die Ausführung, das Bewusstsein oder die Erfahrung der Spielenden nicht ausschlaggebend. Spieler sind nicht die Subjekte des Spiels, denn das Spiel trägt sich auch ohne Subjekte zu, die sich spielend verhalten, etwa im Spiel der Farben oder im Spiel der Wellen. Gerade dort, betont Gadamer, wo keine Subjektivität dazwischentritt, zeige sich, dass „der ursprünglichste Sinn von Spielen der mediale Sinn“269 sei. Der Primat des Spiels gegenüber den Spielenden besage demnach, dass es durch diese lediglich zur Darstellung gelangt. Im Spiel, das gespielt wird, sei offenbar das Spiel selbst das Subjekt. Von da aus gelangt Gadamer zur Angabe eines ersten allgemeinen Zugs, „wie sich das Wesen des Spiels im spielenden Verhalten reflektiert. Alles Spielen ist ein Gespielt-werden.“270 Gespielt-Werden ist Spielen ohne Zweck und Absicht. Es ist eng mit dem medialen Sinn von Spiel verbunden und geht ganz in einer Spielbewegung auf, die wesentlich ein Hin und Her variiert und die insofern, genau genommen, niemals ein solitäres Spiel für sich alleine sein kann. Selbst das Ballspiel oder die mit einem Wollknäuel spielende Katze, die Gadamer als Beispiele anführt, beruhen auf einer „freien Allbeweglichkeit“ von Ball oder Knäuel, die jeden Zug des Spielenden mit einem unvorhersehbaren Gegenzug entgegnen. Die Spielbewegung des Hin und Her hat kein Ziel, an dem sie endet. Sie hat keinen Nährboden, von dem sie abhängig ist, sie erneuert sich mit jeder Ausführung, egal, wer oder was sie ausführt. Sie ist keine Betätigung, die etwa auf die Aktivierung der Spieler drängt, sie geht nicht in Funktionen auf: „Das Spiel ist wirklich darauf beschränkt, sich darzustellen.“ Diese Selbstdarstellung gilt für Gadamer auch da, wo es sich um Wettkampfspiele handelt oder um Lösungen von Aufgaben, wo Spielen vor allem Etwas-Spielen ist, mit abgegrenzten Spielfeldern und besonders gefordertem Spielerverhalten, das eingehalten werden muss. Die im Spielfeld erworbenen Siege oder Niederlagen, die Erfüllung oder Lösung von Aufgaben weisen, Gadamer zufolge, in keine Zweckzusammenhänge hinaus. Selbst die heute überbordende Kommerzialisierung von Spielen, im Sport etwa oder in Show-Geschäften aller Art, bringen


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den Spielcharakter, der mit der Selbstdarstellung des Spiels verbunden ist, nicht völlig zum Erliegen, obwohl die Grenze zum reinen Schaukampf mit professionellen, bezahlten Spielern durchaus fließend ist und sich das Kalkül auch punktuell über das Spiel zu stellen vermag. Eine „totale Wendung“ macht Gadamer für das Spiel aus, wenn sich die Spielwelt mit den Zuschauern schließt, für die und vor denen das Spiel spielt. Nicht die Indiskretion einer wie auch immer fehlenden vierten Wand hat Gadamer im Sinn, sondern die diskrete Schließung einer Spielwelt durch Zuschauer (oder Leser). Das Spiel selbst ist das Ganze aus Spielern und Zuschauern. Es ist nicht so, dass die Zuschauenden in eine vorexistente Spielwelt eindringen würden, vielmehr schließt sich in und mit ihnen die Spielwelt überhaupt erst zu einer ganzen Welt. Denn das Spiel gelangt für sie und vor ihnen und nicht für die Spieler zur Darstellung. Im Fall des idealen Spiels gelangen die Zuschauer an die Stelle der Spieler, von denen sich das Spiel ablöst. Es geht nicht mehr um das Handwerk eines darstellenden Tuns, sondern um die Erscheinung eines Gespielten, das sich auf dem Kunstboden des Kunstwerks als etwas auf sich selbst Beruhendes von den Spielern ablöst und seine Wirklichkeit in den Zuschauern erlangt. Die Zuschauer bilden hier das Außen. Sie stehen an der Stelle des Außen im Spiel, das selbst im Wesentlichen Veräußerung oder Auswendig-Werden ist.271 Dank der Zuschauer, vor denen sich das Spiel entfaltet, vermag das Spiel, seine eigene Wirklichkeit zu werden. Diese ist, der Verweis erübrigt sich fast, ohne Vergleich mit anderen, sogenannten äußeren Wirklichkeiten. Das Präfix „re“ des Wortes Repräsentation bezieht sich eben nicht auf das Nochmalige einer Wiederholung, sondern auf eine Intensivierung, eine leichte Verstärkung und Hervorhebung, welche die Präsentation als Darstellung und in der Darstellung erfährt und dadurch als etwas in sich kenntlich wird. „Voilà“, heißt es in En attendant Godot stets, wenn diese Grenze des Sagbaren gestreift wird, „eben“ oder „genau“. Alle Zuschreibungsurteile, wie sie mit dem Verb sein einhergehen, entfallen. Gespielt-Werden bezieht sich auf eine Vollständigkeit, die es im Außen der Zuschauenden erreicht. Gespielt werden wir durch das Spiel, durch sein unpersönliches Hin und Her, durch seine verzweigten Zufälle, dadurch, dass das Spiel im Gespielt-Werden seine größte Ausdehnung erfährt, die in uns Platz nimmt und die in uns ihr präindividuelles Feld aufschlägt. Das geschieht natürlich nicht


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automatisch, sondern durchaus in Abhängigkeit von subjektiven Haltungen, Einsichten oder auch Leistungen. Aber es geschieht der Möglichkeit entsprechend. Wo sich das Gespielt-Werden einstellt, trifft es nicht mehr auf Subjekte. Diese haben ihre Subjekthaftigkeit an das Spiel abgegeben und damit im besten Sinn verloren. Gespielt-Werden bezeichnet einen Zustand des Spiels, in dem es vielstimmig und mannigfaltig wird. Spielen im Zustand des Spiels korrespondiert mit dem Und als einer Relation, die alle anderen Relationen mit sich führt. Dieses Und ist weder das der Spieler noch das der Zuschauer, es ist deren geteilte Grenze, ihr Mitgeteiltes selbst. Im Gespielt-Werden wird jedes Spiel chorisch. Tanz und Musik führt Gadamer als erste Beispiele für ein Gespielt-Werden an. Dieselben Bereiche werden auch in einer erstaunlichen Würdigung der tänzerischen Mimesis durch Lukian aus Samosata eine Rolle spielen, auf die wir im Zusammenhang mit Jelinek zurückkommen werden.


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Guy Debord, „Ne travaillez jamais“ (Arbeit? Niemals!), 1953 malte Debord diese Parole an eine Wand in der Rue de Seine von Paris.

„Ne travaillez jamais!“

Als Beziehungsweise bilden Herr und Knecht die Form eines unauflöslich, hierarchisch ineinander verschränkten Paares. Ihre wechselseitige Definition verhindert jede Möglichkeit einer Separation. Ihre Abhängigkeit ist der Art, dass sie die Pole ihrer partiellen Identität als Herr oder Knecht zwar untereinander tauschen können, aber sie können sich nicht auftrennen. Eine Auflösung ihrer Beziehung ginge mit dem vollständigen Verlust ihrer Identität einher. Wie im Fall der Selbstentthronung von Richard II. wäre das aus der Machtbeziehung gefallene Wesen nicht etwa der so genannte, sprichwörtliche nackte Mensch, sondern sehr viel weniger: ein undefinierbarer Rest, der nicht mehr als Körper oder als Bild kenntlich zu machen wäre. Dieser Rest bildet nur noch ein unfassliches Gewebe aus Affekten und somatischen Regungen, die höchstens noch zum Rohstoff gesellschaftlicher Bande taugen. Doch zunächst erscheint das Paar von Herr und Knecht im Scheitelpunkt der Moderne und bildet eine totalitäre Beziehung aus. Worauf beruht der Totalitarismus, der ihrer Beziehungsform innewohnt? Moderne Gesellschaften ‚nach der Souveränität‘ fördern und bewirtschaften die Individualität von Einzelnen, die zahllosen Disziplinierungen unterzogen werden. Aber die Erbschaften einer in den


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Souveränitätsgefügen ehemals geheiligten Hierarchie enden damit nicht einfach. Sie wirken in den Reglementierungsversuchen der Disziplinen fort und stützen ihre fragilen Normgerüste. Besonders eng vermählen sich Elemente der ehemals im politischen, ewigen Körper des Königs geborgenen Hierarchie mit dem Paar von Herr und Knecht, das darüber hinaus aus agrarweltlichen Zusammenhängen selbst immense vormoderne Erbschaften aufweist. Was dieses Paar nun in den Rang einer Art Trennfuge zwischen souveränen und modernen Regimen erhebt, ist seine Umdeutung von einer agrarökonomischen Kategorie zu einer Beziehungsform. An erster Stelle steht hierfür Hegels Explikation dieser Beziehungsform als Quelle von Selbstbewusstsein und Identität des modernen Subjekts. Mit dieser Beziehungsform vermählen sich aber auch andere Elemente politischer Hierarchien in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Ihre Fähigkeit, sich im 17. und 18. Jahrhundert mit sehr unterschiedlichen Bereichen und Diskursen zu amalgamieren, macht aus der Beziehungsform von Herr und Knecht schließlich eine Art Passepartout für alle möglichen Dichotomien. Wie kaum etwas anderes scheint sie geeignet, den Standard hervorzubringen und zu stabilisieren. Ihre Verschmelzung mit dem sozio-ökonomischen Komplex etwa stützt das Paar Kapitalist und Arbeiter und darüber hinaus die Beziehungsform des ökonomischen Kalküls oder des „ökonomischen Menschen“272. Ihre Verschmelzung mit autoritären, administrativen oder militaristischen Diskursfeldern stabilisiert die Figuren von Meistern, Erziehern, Polizeidirektoren, Feldherren, Staatenlenkern etc. und deren jeweilige Komplementärfiguren. Ihre Verschwisterung mit genealogischen, familiären Registern, mit psychologischen Diskursen und Geschlechterzuschreibungen festigt soziale Rollen unter der Ägide des Mannes, des Vaters oder des Über-Ich. Es lassen sich weitere soziokulturelle, technologische und ökologische Diskursfelder hinzuzählen, in denen die Beziehungsform von Herr und Knecht ihre Wirkung entfaltet, Plätze und Macht verteilt. Schließlich kann um 1800 nur darum eine solch epochale Dispersion der Macht einsetzen, weil sie der Hierarchie in der Beziehungsform von Herr und Knecht immanent ist und diese Form selbst beweglich ist und sich ausstreut. Die Ausbreitung dieser Form, die tausenderlei Gesichter annimmt, führt in der Moderne schließlich zu einem ‚neuen Totalitarismus‘, für den Oliver Marchart drei grundlegende Merkmale ausmacht: Da wären erstens das Faktum, dass ‚der Mitmensch‘ in die Moderne nur


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als animal laborans eingeht; zweitens der Umstand, dass die Moderne eine Totalisierung des sozialen Verkehrs hervorbringt, der als solcher nicht mehr durch Referenzen auf andere öffentliche oder andere politische Ziele bestimmt wird; drittens ist diese ‚neue‘ Totalisierung von einem ‚klassischen Totalitarismus‘ dadurch unterschieden, dass sie kein Regime mehr nur im Namen eines Grundes behauptet, sondern einer multiplen Geschichte von Unterworfenen und Geknechteten zur Ausbreitung verhilft.273 Der ‚neue Totalitarismus‘ löst sich somit tendenziell aus souveränen und disziplinären Einhegungen und nimmt selbst ein vielfältiges Gesicht an, indem sich zuletzt alle mit allen konkurrierend vergleichen. Der Knecht auf dem Königsweg

In der Rezeption wird das Paar Pozzo und Lucky zuverlässig vom Hinweis auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik begleitet. Viele Kommentatoren hadern jedoch mit dieser Engführung oder lehnen sie ab. So hält etwa François Rastier in Bezug auf die Hegelsche Denkfigur jüngst fest, dass er „wirklich der Letzte [ist], der diesen Vergleich für sinnvoll hält“274. Anders, der diese Bezugnahme selbst prominent eingeführt hat, warnt davor, Pozzo und Lucky mit Hegel zu dechiffrieren. Das Paar bilde in Godot vielmehr selbst eine Dechiffrierung: Beckett entkleide die „philosophische Formel“ Herr und Knecht ihrer distinguierten Abstraktion, um sie „in ihrer ganzen Nacktheit anzuprangern“275. Andere Autoren wehren sich gegen die Annahme einer einfachen Ästhetisierung der Hegelschen HerrKnecht-Dialektik und machen Differenzen in Bezug auf die Durchführung des dialektischen Gangs geltend. Vor allem jedoch würde der Bezug auf Hegels Denkfigur bei Beckett durch eine Parodie gebrochen, die sie extrem übertreibt, verzerrt und verspottet, sodass die Bezugnahme im Ganzen fraglich werde. In diese Einwände gehen Auffassungen von Texten, Zitationen, literarische Bezugnahmen und Überschreibungen ein, die hier nicht eigens thematisiert werden können. Das Wichtigste scheint mir jedoch in Folgendem zu liegen: Becketts Parodie bezieht sich nicht auf Hegels Herr und Knecht als dem klassischen Modell zur Formierung von Selbstbewusstsein unter den Bedingungen einer Ungleichheit, die sich am Ding der Arbeit bemisst. Becketts Parodie ist gerade deswegen eine in extremis, weil sie sich auf die totalitäre Entgrenzung dieses Modells bezieht. Je nach Hegel-Lektüre mag man darin immer noch die klassische Formierung von Herr und


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Knecht erkennen oder auch nicht, was in Bezug auf Beckett jedoch nebenrangig erscheint. Das Paar Pozzo und Lucky markiert einen Einbruch in die Ebene von Estragon und Wladimir. Ihre Ebene wird „aufs empfindlichste gestört“, wie Günther Anders festhält, der diesem Einbruch einen „intrigierenden Eindruck“ attestiert: eine störende, befremdliche und in gewissem Sinn sogar schädigende Wirkung, die sowohl die Zuschauer erfasse als auch Estragon und Wladimir. Offenbar handelt es sich um eine Figuration, die dem Duo von Wladimir und Estragon mit größtmöglicher Schroffheit entgegensteht. Das Paar Pozzo und Lucky ist nicht von der Straße und kommt auch nicht aus der Geschichte, die man als Motor der Zeit und als ständig voranschreitende wähnte, sondern es ist Geschichte. Es tritt auf als Geschichte, die sich seit jeher in den Figurationen von Protagonisten gebündelt gab. Wenn wir Heiner Müllers Hinweis ernstnehmen, dass die Pozzo-und-Lucky-Szene den ‚ganzen Brecht in nuce‘ enthalte, dann bilden Pozzo und Lucky ein gewaltig moduliertes Zitat, das mit Deformationsprozessen kombiniert wird. Sie zeichnen dieses Paar, das eben noch in Herr Puntila und sein Knecht Matti abendfüllend ein ganzes Theater bestritt, in seiner Hinfälligkeit. Mehr noch: in seiner Überfälligkeit, die sich in Godot in seinem überfallartigen Einbruch und seinem überfälligen Verschwinden zeigen. Das protagonistische Paar Herr und Knecht definiert sich entlang einer Vertikalachse der Macht, die mit allen Registern von Befehl und Gehorsam liiert ist. Mit dem ganzen Gefälle, das zwischen sklavischer Angst, Arbeit, Bewährung, Gehorsam, bissigem Selbstgefühl und Aufstand sowie herrischer Durchsetzung, Zwang, Gewalt, Aufsicht, Verteidigung und Mehrgenuss spielt. Pozzo und Lucky absolvieren alle diese Facetten im Schnelldurchlauf. Sie verhaspeln sich nicht, sie sind genau. Entlang dieser Vertikalachse sind Protagonisten aufgebrochen, um ihre Herrschaft im Kampf auf Leben und Tod zu erzwingen, sind Knechte gegen Herren aufgestanden und Söhne gegen ihre Väter. Diese Vertikalachse organisiert in Godot jedoch nichts mehr: Kein soziales Leben, keinen Verkehr, keinen Befreiungskampf, keine Geschichte, die sich an die Fersen der Macht heftet. Die Vertikalachse scheint für immer von gestern. Estragon hat sie schon vergessen. E: „Und du sagt, dass es alles gestern war“ // W: „Na, klar.“ (73 f.) // E: „Das war alles gestern?“ (80) // W: „Wir könnten Pozzo und Lucky spielen.“ E: „Kenn ich nicht.“ (88). Wladimir imitiert den Tanz von Lucky: „Er macht Verrenkungen auf der Stelle. Estragon läuft weg. Ich kann es nicht. Er


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hebt den Blick auf, sieht, daß Estragon nicht mehr da ist und stößt einen herzzerreißenden Schrei aus.“ (88) Wladimir gelingt die Imitation nicht und Estragon kann sie nicht wiedererkennen. Das trennt die beiden, da sie kein Paar sind, augenblicklich und auf herzzerreißende Weise. Das Paar Pozzo und Lucky erscheint im zweiten Akt zur Hälfte blind, zur Hälfte stumm. Wie alle untrennbaren Doppelgeschöpfe bilden sie einen nahezu bewegungsunfähigen „Haufen“ (94). Wohl im Reflex auf die Zwei, die sie früher einmal waren, fleht Pozzo doppelt: „Erbarmen! Erbarmen!“ (100) Sie sind nicht mehr zu erkennen, sie erkennen nichts mehr. Es bleibt ein unkenntlicher Rest und die Überführung dieses gestern vielleicht noch eloquenten, heute nur noch unsäglichen Paares in sein Verschwinden. W: „Es ist also Lucky?“ P: „Ich verstehe nicht.“ W: „Und Sie sind Pozzo?“ P: „Natürlich bin ich Pozzo.“ W: „Dieselben wie gestern?“ P: „Wie gestern?“ W: „Wir haben uns gestern getroffen. Schweigen.“ (108) Mit einer letzten Replik, die den Protagonisten abgelauscht ist, die sie einmal waren – „Los, voran!“ (109) –, ziehen Pozzo und Lucky aus einem Stück, das sie besucht haben, um daraus zu verschwinden. Ihre Gangart im zweiten Akt ist ein permanentes Stürzen, Fallen, Zusammenbrechen, Stolpern, Stoßen, Kriechen. In Anbetracht ihres Endes führt sich das Paar von Herr und Knecht in Godot als pure Ideologie auf, die sich etwa folgendermaßen in Worte fassen lässt: Herrschaft und Gewalt schlagen notwendigerweise Wunden. Aber gänzlich ohne Wunden würde sich keine einzige menschliche Natur voran bewegen, sondern bloß ihren Neigungen folgen und damit in ganz verschiedene Elemente auseinanderstreben. Derart stünden jedoch nicht nur alle erdenklichen Formen der Höherentwicklung, sondern auch der soziale Zusammenhalt als solcher auf dem Spiel. Um 1800 erscheint das Paar von Herr und Knecht noch lebhaft in die Restbestände christlicher (protestantischer) Moral gekleidet und überall, wo es auftritt, gilt die Arbeit als der Königsweg, sein Leben zu meistern. Arbeit, zumal wenn sie anstrengend ist, richtet sich gegen den untätigen Stillstand, der nichts hervorbringt, was sich zählen und erzählen ließe, also den Tod bedeutet. Und so stürzen sich also Herr und Knecht in die Arbeit, buchstäblich den Tod aufzuhalten. Dabei genießt der Herr seine Arbeit auf andere Weise, als der Knecht es tut, aber beide arbeiten wie die Teufel. Die Arbeit ist einfach die beste Art, sein Leben zu genießen. Das Befehlen ist Arbeit gegen die Abstumpfung. Die Anstachelung


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zur Arbeit selbst ist Arbeit gegen bloß tierische Neigungen. Der Weg zum Besseren bedarf der Anstrengung, über den gegenwärtigen Zustand hinauszugehen. Und wo diese Arbeit wehtut und sie vor allem für das Arbeitstier und gelehrigen Knecht schmerzhaft ist, lässt sie diesen im Schmerz doch immer nur das Leben fühlen.276 Diese Ideologie der Arbeit tritt als ultimativer Spielverderber auf. Arbeiten

Bekanntlich lässt sich Hegels dialektische Verwicklung von Herr und Knecht nicht zusammenfassen, ohne sie dabei zu entstellen. Die genau und streng durchgeführten Schritte der wechselseitigen Anerkennung und Verkettung, die sich an keinem Punkt kürzen lassen, führen Hegel am Ende zur berühmten Konsequenz, dass „die Wahrheit des selbständigen Bewusstseins […] das knechtische Bewusstsein“ sei.277 Diese Verkehrung zeigt an, dass die Herrschaft das Gegenteil dessen ist, was sie sein will: Sie ist unselbstständig und muss als kommandierende Gewalt im Reich der Nützlichkeit handeln. Die Knechtschaft als Herrschaft hingegen wird ihr knechtisches Bewusstsein zurückdrängen und zur „wahren Selbständigkeit sich umkehren“. In Hegels Philosophie der Arbeit erklimmt der Knecht den Gipfel des Universellen. Nur für sein „in sich zurückgedrängtes Bewusstsein“ gilt, dass es durch Arbeit zu sich selbst kommt. „Die Arbeit […] bildet.“278 Das ist die Apotheose der Arbeit: Der Knecht, der emanzipierte Sklave, der Arbeiter werden zum Inbegriff des Hegelschen Menschen, der sich Sinn, Ernst und Wahrheit selbst verleiht und darüber hinaus der Welt. Weil er arbeitet und den Genuss aufschiebt, investiert er in Erkenntnisse und Sinn, von denen nichts endgültig durch den Tod verlorengeht. So vermag das Individuum, das die Bahn seines Werdens durchlaufen hat, sich im absoluten Wissen letztlich selbst anzuschauen. Im knechtischen Universum amortisiert sich das Wissen irgendwie. Es wird aufgehoben, während der Tod die Bedeutung einer „abstrakten Negation“279 annimmt. Das ist die Stelle, an der Georges Bataille Einspruch gegen Hegel erhebt, mit dem er sich ein Leben lang auseinandersetzt. Bataille besteht auf dem Begriff Souveränität, die sich durch ihr Verhältnis zum Tod, der ihr als das radikale Nicht-Wissen gilt, vollkommen von allen anderen Formen von Herrschaft unterscheide. Der souveräne Einsatz wird als ein Akt der Freiheit markiert. Souverän ist, wer sich freiwillig in einer äußersten Erfahrung des Nicht-Wissens verausgabt.280 Diese Verausgabung führt nicht zwangsläufig zu


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Erkenntnissen. Viel eher entzieht sie sich dem Horizont des Wissens. In jedem Fall leitet sie nicht in die dialektische Verkettung zurück. Doch in Hegels System „sind Poesie, Lachen und Ekstase nichts“, seufzt Bataille, „Hegel entledigt sich ihrer mit Eile: er kennt nur das Endziel des Wissens. Seine ungeheure Müdigkeit hängt meines Erachtens mit dem Greuel vor dem blinden Fleck zusammen.“281 Der blinde Fleck besteht Bataille zufolge darin, sich einer Evidenz des Sinns absolut zu unterwerfen. Wer jedoch unbedingt darauf beharrt, dass es Sinn gibt, muss die unwiederbringliche Verausgabung fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Dabei stünde es, wie Bataille befindet, diesem blinden Fleck gut an, mit einem infernalischen, rückhaltlosen Lachen quittiert zu werden. Aber die „Philosophie“, die „eine Arbeit ist“, kann nicht lachen und weiß auch nichts über das Lachen zu sagen, obgleich sie, so Bataille, „als Erstes vom Lachen hätte handeln sollen“282. Wenn es in der Pozzo-Lucky-Szene um Arbeit geht, dann meint Arbeit hier nicht die soziale Aktivität ökonomischer Menschen, die sich im Kapitalismus produktiv verstricken, herstellen und produzieren, sondern jene Arbeit, die in der Welt selbst ihren ersten Gegenstand hat. Die Arbeit also als zentrale Bestimmung eines Subjekts, das sich durch Arbeit selbst verwirklicht, das sich als Subjekt des Entwurfs und der Selbsterhaltung zurichtet und sich als Subjekt solcher Zurichtung und Erkenntnis der Welt aufprägt. Aus diesem knechtischen Universum der Arbeit kommt das perfekte Paar Pozzo und Lucky, das die Welt des bürgerlichen Individuums durchschritten hat und nun in Godot strandet. Es ist 150 Jahre alt und bekommt kein ganzes Stück mehr, sondern nur noch eine Szene in einer Welt, die diesem Paar nicht mehr gehört. P: „Die Straße gehört allen.“ / W: „Das haben wir uns auch gesagt.“ / P: „Es ist eine Schande, aber es ist so.“ / E: „Man kann es nicht ändern.“ (27) Lucky macht den Eindruck, als sei er genau jenem Punkt entsprungen, den Bataille als Hegels blinden Fleck beschreibt: Der Punkt, an dem sich das „System“ lächerlich macht, weil es den Sinn und das Wissen über den Tod hinaus verabsolutiert. Bei Hegel bleibt ein mündiges (souveränes) Lachen darüber jedoch absolut aus, weil es im System deplatziert wäre.283 Lucky ist ein solches, vom Lachen abgeschnittenes und getrenntes Wesen aus der knechtischen Welt der Arbeit. Er bildet ihr Zentrum und ihren Gipfel, auf den Pozzos Wort von der gottgleichen Gattung angewendet werden muss. Lucky ist, wie Bataille vom Hegelschen Menschen sagt, Lebewesen und Gott in einem.


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In Lucky vollendet und erschöpft sich der Entwurf des Subjekts, das durch Arbeit seine Möglichkeiten ausschöpfen und sich selbst verwirklichen soll. „Aber nur der Erschöpfte kann das Mögliche erschöpfen …“284 Zweifellos ist Lucky erschöpft. Er hat auf eigene Bedürfnisse und Vorlieben verzichtet, er hat keine eigenen Interessen, er ist genau. Er befolgt jedes Kommando, er lässt alle Utensilien fallen und hebt alle wieder auf, so als hätte er ihr Inventar verinnerlicht. Er weint, aber er vergisst nichts. Er gleicht den Kombinierern, in denen Deleuze die großen, interesselosen und skrupulösen Erschöpften Becketts ausmacht. Der Kombinierende arbeitet an der Erschöpfung der Möglichkeiten sans phrase. Es ist seine einzige Arbeit, die keine abstrakte Arbeit ist. Sie ist erlernte, gelehrte, körperliche, ermüdende, schmerzende, verbrauchende, vergreisende Arbeit. Lucky ist über die Müdigkeit hinaus. Keine Misshandlung, kein Verfall und kein körperliches Versagen können ihn mehr davon abhalten, seine Arbeit fortzusetzen. Nur als dienendes Bewusstsein ist er bei sich. Er fürchtet sich vor dem Draußen (dem Salvator-Markt für Sklaven, bei dessen Erwähnung Lucky weint, 38). Lucky verstummt, aber er hört aufs Kommando, er stürzt und kriecht, aber er trägt das Gepäck. Er erschöpft die möglichen Erniedrigungen, die möglichen Dienste, die möglichen Befehle, die möglichen Arbeiten: Es sind immer dieselben (ebenso wie sich Himmelsrichtungen auch nicht vermehren), während die Schwäche zunimmt und das Ich zerfällt. „Die Arbeit hingegen ist […] aufgehaltenes Verschwinden“285. Im knechtischen Universum ist das Wissen auf Seiten des Knechts und auch die Kunst der gelehrigen Körper, für die der Tanz par excellence steht, ist auf der Seite des Knechts. Auf Seiten des Herrn hingegen gibt es nur den Kampf um Anerkennung und den Mehrgenuss, der fragwürdig bleibt, weil er von der Qualität des Dargebotenen abhängt, die Pozzo in unserem Fall „Leiden“ (53) verursacht. Es handelt sich bei Pozzo um jene originäre „Misere des Hegelschen Herrn“, die mit dem Satz umschrieben worden ist, „er könne nur im Kampf sterben oder im Genuss verblöden“286. Für den Erschöpften „zählt allein, in welcher Reihenfolge er tun muss, was er zu tun hat“ 287. Die Reihenfolge kann geklärt werden: erst tanzen, dann denken („Es ist übrigens die natürliche Reihenfolge“, 49). Der gelehrige Körper oder der gelehrige Kopf führen sich vor. Es handelt sich um eine veritable Abendunterhaltung, denn die Sonne ist „vor einer Stunde“ (46) untergegangen und auf die


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Dämmerung folgt nun, was im ‚Westen‘ zum Standard zählt: eine Abendunterhaltung, eine „Übung“ (49) im Gesellschaftstanz oder ein „monotoner Vortrag“ (52). Das sind Mehrheitskünste in dem Sinn, dass sie normierten und standardisierten Mustern folgen, die erfüllt werden müssen. Sie gehören den Einrichtungen einer Mehrheit an, die ihren Idolen ergeben ist, sodass die Mehrheit nie irgendjemand, sondern ein leerer Standard ist. Lucky hat die Fülle der Gesellschaftstänze hinter sich: „Früher tanzte er die Farandole, die Almée, den Branle, den Guige, den Fandango und sogar den Hornpipe. Er sprang dabei.“ (49) Die erschöpfte Serie wird zum „Netztanz“ (49), dem leeren Muster von Gesellschaftlichkeit in einem beliebigen Tanz. Auf ähnliche Weise nähert sich der Wortschwall Luckys dem leeren Muster von Wissenschaftlichkeit in einem beliebigen Vortrag an. Lucky als Chor

Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Luckys nach dem Kommando „Denke!“ einsetzende Rede nicht außerhalb jeder Semantik organisiert ist.288 Weiterführend sind in dieser Hinsicht die Unterstreichungen und Notizen Becketts im erwähnten Handexemplar zu seiner Berliner Godot-Inszenierung von 1975. In der Rede Luckys unterstreicht Beckett die fingierten Namen von Wissenschaftlern, die als Stütze des Dargelegten dienen, sowie die Wiederholungen. Am Rand notiert er die Anzahl der Wiederholungen, die wortwörtlich identisch sein müssen, sonst leert sich der Standard nicht oder, wie Deleuze sagen würde, sonst lässt sich das Mögliche nicht erschöpfen. Es braucht dazu unbedingt die erschöpfenden Serien. So gehören zum leeren Stil von Wissenschaftlichkeit die Phrasen „aber greifen wir nicht vor“ oder „ich wiederhole“, die drei bzw. acht Mal wiederholt werden. Beckett unterstreicht die Namen und notiert am Rand die Zählung. Poincon und Wattmann, notiert als P-W, zwei Mal. Dann Testu und Conard, notiert als T-C, vier Mal. Poincon und Wattmnn als P-W zwei Mal. Fartov und Belcher, als FB einmal. Steinweg und Petermann als S-P zwei Mal. Im Schlussteil Conard, notiert als C, sechs Mal. Klaus Herm erinnert sich, wie Beckett versuchte, ihm die Angst vor diesem Monolog zu nehmen, und sagte: „Der Monolog ist ganz einfach, er hat drei Teile. Im ersten Teil geht es um die Gleichgültigkeit des Himmels, im zweiten um das Kleinerwerden des Menschen, und im dritten um die Versteinerung.“289


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Zum ersten Bild gehören Becketts Unterstreichungen von „die Hölle an den Himmel drängen“ und „zu Wasser zu Lande und in der Luft“, das zwei Mal erscheint. Zum zweiten Bild gehören die Unterstreichungen von „wird deutlich dass der Mensch“, „abzumagern“, „kleiner zu werden“, „abzumagern einzulaufen“ und „noch schlimmer“, das vier Mal gezählt wird. Zum dritten Bild gehören schließlich die sich steigernden Wiederholungen. Unterstrichen wird „die Luft und die Erde“, das drei Mal gezählt wird, „gut für die Steine“, das ebenfalls drei Mal erscheint, „leider leider“, das fünf Mal gezählt wird. Allein fünf Mal erscheint in diesem Teil „ich wiederhole“ und sechs Mal die Wiederholung von „Conard“. Nicht unterstrichen werden das notierte Stottern der Sprache wie „anthropopopometrische[n] Akakakakademie“ oder auffällige Begriffe wie „Folterkammer“. Sie gehören nicht dem komponierten Helldunkel der Rede Luckys an, sondern laufen implizit mit. Sie sind gesagt, damit das Nichtgesagte mitlaufen kann. Becketts Unterstreichungen betonen die Reihen, die Serien, die Wiederholungen, den Exzess an Form, die zerstört wird, sobald sie sich zu füllen beginnt. Die Form ist nicht leer, sondern Form der leeren Zeit als der einzigen Zeit, in der etwas mitlaufen kann, weil der Sinn ‚egal‘, das heißt gleich-gültig wird. Die Kompositionsform des mitlaufenden Sinns ist entscheidend für den Aufführungs- oder Ausstellungscharakter dieses Textes, da ein solcher Text gehört werden muss. Er muss als ein sich aufführender Text gehört werden, unabhängig davon, ob Schauspieler ihn sprechen. Lange Zeit galt Luckys Monolog einem Publikum, das auf die Absurdität menschlicher Existenz im Allgemeinen abonniert war, als pures sprachliches Delirium, als sinnloses Gefasel. Überhört wurde die Zeitdiagnose, die sich in diesem Monolog verdichtet, der unter formalen Aspekten dem Stasimon einer griechischen Tragödie gleicht. Hören wir den Dialog, den Godot in der BRD und Westberlin inmitten des 20. Jahrhunderts mit paradigmatischem Gewicht aufnimmt. Hören wir in Luckys Monolog nicht den Hader mit irgendeiner positiven oder negativen Theologie heraus, sondern ganz einfach, wie es heißt, die „göttliche Apathie“ und „Aphasie“ angesichts derer, denen in Deutschland das Leben zur Hölle gemacht wurde, sodass sich „die Hölle an den Himmel drängte“, also nur noch Hölle war und „Folterkammer“. Hören wir die Passagen darüber, wie im Land von „Rhein, Ruhr, Main“ usw. der Mensch „endlich kurz“ im Begriff ist „abzumagern“, „kleiner zu werden“,


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„einzulaufen“, dass von „hundert Gramm pro Nase“ die Rede ist und von „Lebendgewicht ohne Schuhe“. Hören wir, wie häufig die Rede von hier an „man weiß nicht warum“ sagt (neun Mal). Und wie sie dann überleitet, indem sie „ich wiederhole“ sagt (acht Mal) und „was noch schlimmer“ ist (vier Mal) und was „daraus hervorgeht“ (vier Mal): die Versteinerung, die bleierne Zeit und dass in der „großen Kälte“ die Luft und die Erde und alles „gut für die Steine“ ist (drei Mal). Realisieren wir, dass das westdeutsche Publikum dieser Dekaden ein Stück wahrnahm, das im Nirgendwo spielt, wo es eine in metaphysischer Einsamkeit auf ihre Erlösung wartende Menschheit vermutete. Das lässt den Umfang des Desasters, mit dem Godot seinen Dialog aufnahm, erahnen. Ideologie der Arbeit

Becketts Technik des Erschöpfens steht im genauesten und denkbar schärfsten Gegensatz zur Ideologie der Arbeit und deren Gebrauch im Nationalsozialismus. Werner Hamacher eröffnet seine eindringliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Arbeit in der faschistischen Ideologie und der Arbeit als faschistischer Institution mit der folgenden Einlassung:

„Unter allem, was auf den Nationalsozialismus hingearbeitet, sich ihm empfohlen, angedient und ihn begünstigt hat, unter allem, was ihn zu dem gemacht hat, was er war und was ihn diesseits des Grauens überlebt, könnte das Normalste und deshalb Unauffälligste und am leichtesten Vergessene auch das Wirkungsmächtigste sein. Es könnte etwas sein, das nicht vorab und nicht unter allen Umständen als ‚faschistisch‘ und noch weniger als unmenschlich gilt, was eine sehr lange, und, wie manche meinen, ehrwürdige, mythologische, theologische und philosophische Vorgeschichte hat und in dieser Geschichte, insbesondere ihrem jüngsten Abschnitt, als Wesensbestimmung des Menschen überhaupt begriffen wurde. Es könnte, dies Banale, Selbstverständliche und noch heute weithin als wesentliches Humanum Geachtete, die Arbeit sein.“290

Die Ideologie der Arbeit setzt an ihrem Begriff vom Tod an. Ganz im Gegensatz zu dem, worauf Bataille mit der äußersten Erfahrung des Todes und dessen Nicht-Wissen beharrte, wird der Tod im faschistischen Komplex familiarisiert. Er wird zu einem gewöhnlichen Jedermann, mit dem man es aufnehmen kann. Arbeit ist daher zu-


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erst Arbeit gegen das Vergehen, gegen den Tod oder Arbeit am Tod. Eine Art Anti-Tod, ein Mittel zur Abwehr der Endlichkeit und das Phantasma der Unsterblichkeit in einem. Damit Arbeit dazu herhalten kann, muss sie mindestens, so Hamacher, zwei und zwar einander ausschließenden Anforderungen genügen: „sie muss zum einen die denkbar nächste Affinität zu eben jenem Tod unterhalten, den sie abzuwehren bestimmt ist, und muss zum anderen den Anspruch erheben, mächtiger als dieser Tod, über hin hinaus und selber unsterblich, unzerstörbar, unendlich zu sein“291.

Im Nationalsozialismus wird Arbeit total, weil sie ihren Gegenstand in einem Feld definiert, das schlicht inexistent und nur auf gespenstische Weise als mythologisches Schema zu behaupten ist: Es ist die Selbstaneignung des ‚deutschen Volkes‘ und dessen Selbsterzeugung. Arbeit ist der Weg, der von der Gesellschaft aus erniedrigten und beleidigten Deutschen zur deutschen Volksgemeinschaft führen soll. Das Volk soll sich durch Arbeit zu sich selbst erheben. Vom toten Volk (Gesellschaft) zum lebendigen „Sein und Leben des Volkes“ (Hitler). Was diese national-christologische Formel der Arbeit will und beschwört, ist restlose Arbeit. Nur Arbeit ohne Rest ist allmächtig und vollkommen. Selbstredend übernimmt die restlose Arbeit auch die Arbeit des Jenseits. Sie überlässt keinem Gott auch nur ein Quäntchen dieses Allheilmittels auf dem Weg zur Selbstapotheose, wie Hitler auf seiner Kampfansage gleich zum 1. Mai 1933 klarstellt: „wir gehören nicht zu denen, die sich bequem auf das Jenseits verlassen. Es wird uns nichts geschenkt. […] Wir bitten nicht den Allmächtigen: ‚Herr mach uns frei!‘ Wir wollen tätig sein, arbeiten“292. Wir selbst machen uns frei, durch unsere eigene Arbeit. Einige Jahre später steht über dem Eingang zum sogenannten Konzentrationslager Dachau der Satz, der aus Hitlers Mairede hätte stammen können: „Arbeit macht frei“. Hamacher kommentiert: „Arbeit als die Form der Selbstaneignung des ‚Seins und Lebens‘ eines Volkes ist zugleich die Form seiner Befreiung von allem, was es nicht selbst ist, was ihm nicht eigen und was als das Uneigene, Fremde zugleich das Minderwertige, Erniedrigte, Unfreie und Tote ist.“293 Restlose Arbeit, die sich nur auf sich selbst verlässt und die im System der Selbstproduktion ein Selbst instituiert, das nicht mehr auf anderes bezogen wird, sodass die Arbeit an etwas entfällt, übernimmt auch die andere, unberührbare Arbeit des Jenseits. Da jedoch der Tod als Eigenheit eines absolut end-


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lichen Lebens nicht angeeignet werden kann, wird aus einer Arbeit des Todes in den Lagern der Terror der Arbeit des Tötens und des Mordens und des restlosen Zu-Tode-Bringens, nicht des Todes, sondern der Toten, der Hundertausenden und Millionen Toten. „Arbeit macht frei“ ist kein grotesker oder zynischer Slogan, sagt Hamacher, „sondern der Name von Dachau und des nationalsozialistischen Deutschland. Er täuscht nicht über die Realität von Arbeit, sondern spricht ihre Wahrheit aus: das System der Befreiung durch Arbeit und damit das System der Selbstproduktion […] ist das System von Dachau.“294 Hamacher verfasst seine Auseinandersetzung mit der Ideologie der Arbeit Mitte der 1990er Jahre, indem er Reflexionen und Fragen von Adorno aus den frühen 1960er Jahren aufnimmt, die das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie betreffen. Hamacher hält sie in Bezug auf den Zusammenhang von Demokratie und Arbeit für unvermindert aktuell. Arbeit bedeutet hier immer beides: einerseits die Bedeutung, die ihr zugestanden wird, indem Arbeit nach wie vor als ‚wesentliches Humanum‘ erachtet wird, andererseits die politische Praxis, die in der langen Nachkriegszeit in Namen der Arbeit betrieben wird und die sich als hastiger Wiederaufbau, als städtebauliche Verwüstung und als Wiederherstellung alter unternehmerischer Strukturen in allen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen niederschlägt und diese formt. Zu diesen beiden Feldern tritt in den 1960er Jahren ein drittes mächtiges Feld hinzu, das als „Aufarbeitung der Vergangenheit“ wiederum den Titel der Arbeit vor sich herträgt. Adorno fragt: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ Er nimmt eine systemische Kontinuität zwischen Faschismus und einer bestimmten Praxis der Demokratie in den Blick, denn „Aufarbeitung“ betreibe immer auch die Abwehr und die Verleugnung der Vergangenheit. Dadurch, dass sie im Namen einer Arbeit an der Geschichte die Fortsetzung will, stempele sie das, was hinter ihr liegt, zu einem historisch überwundenen Phänomen, das dem Geschichtsgrau angehöre. „Der Nationalsozialismus lebt nach und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so ungeheuerlich war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“295


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An diese beunruhigende Beobachtung Adornos knüpft Hamacher eine Vielzahl von Fragen: Inwiefern lebt die faschistische Ideologie der Arbeit nach? Inwiefern lebt die mit ihr verknüpfte, schiere Positivität des Lebens in den Köpfen der Menschen und in ihren Verhältnissen nach? Inwiefern lebt sie in ihren Begriffen nach, im Stellenwert der Arbeit, aber auch in der Erfahrung als Arbeit, zu der das ganze Arsenal einer therapeutisch aufgedonnerten „Durcharbeitung der Vergangenheit“296 zählt, das ab den 1960er Jahren zu ihrer sogenannten Bewältigung aufgeboten und für unverzichtbar gehalten wurde? Inwiefern klebt die Idee der Durcharbeitung noch immer am Ideal der Überwindung und der möglichen Selbstbefreiung durch Arbeit? Inwiefern bilden die kapitalistischen Verhältnisse, ihre Politiken der Produktion, der Ausbeutung und der Selbstausbeutungspolitik, der Verelendung und Selbstverelendung nicht weiterhin die Geschichte dieser der Arbeit? Inwiefern sind wir am Ende dieser Geschichte, aber keinesfalls nach dem Ende dieser Geschichte? Doch wie arbeiten, wenn das Auf-, Aus- oder Durcharbeiten und das Arbeiten als Übertragung zwar Möglichkeiten einer anderen Arbeit andeuten, sich aber doch auf nichts anderes als wiederum ‚Arbeit‘ beziehen? Was ist nicht Werk (ergon), was ist das Anergon? Was ist Nicht-Arbeiten, das nicht als Muße (Erholung) oder Arbeitslosigkeit (Mangel) wieder auf Arbeit zurückführt? Was unterbricht die Selbstproduktion, die Automorphose? Und was den Morphismus, die Formung und Genese der Form? Alles wird darauf ankommen, auf diese Dimension, schreibt Hamacher: „Man wird so arbeiten müssen, dass die Arbeit des Faschismus, der Faschismus der Arbeit davon nicht leben und darin nicht weiterarbeiten kann.“297 Auf seiner Suche nach einer anderen Arbeit, die nicht Geschichte und nicht Werk wird, durchstreift Hamacher psychoanalytische Konzeptionen zur Übertragungsarbeit und stößt in der Studie Freuds Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten auf ein sprechendes Beispiel. Es zeigt, dass das Schema der Selbstproduktion und Formierung nur verlassen werden kann, wenn der Arbeitsvorgang zugunsten der Situation zurücktritt und das Situierte einer Arbeit, ihr In situ selbst hervortritt. Es entstehen auf diese Weise sozusagen Räume, die keiner dialogischen Dyade mehr gehorchen. Hier ist das Beispiel in Kürze: Freud schreibt, dass er oft in Fällen zu Rate gezogen worden sei, in denen ein Arzt darüber klagte, dass die Kur nicht weiterginge. Der Arzt sei zwar zur Benennung des Wider-


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stands, der überwunden werden soll, gelangt und habe „dem Kranken seinen Widerstand vorgestellt“298, doch es habe sich daraufhin nichts geändert, eher sei der Widerstand noch erstarkt und die Kur drohte zu scheitern. Freud berichtet nun, dass die trübe Erwartung einer scheiternden Kur sich „immer als irrig“ erwiesen habe. In allen diesen Fällen habe der Arzt lediglich vergessen, dass die bloße Benennung des Widerstands diesen noch nicht auflöse: „Man muss dem Kranken die Zeit lassen, sich in den ihm unbekannten Widerstand zu vertiefen […]. Der Arzt hat dabei nichts anderes zu tun, als zuzuwarten und einen Ablauf zuzulassen, der nicht vermieden, auch nicht immer beschleunigt werden kann.“299 Die Arbeit stockt also. Die Dyade von Arzt und Patient gibt ihre reflexive, ihre einander permanent fragende, antwortende und spiegelnde Arbeit verloren. Die beiden sind kein Paar mehr. Der Analytiker sucht Hilfe beim Analytiker, und die Situation tritt hervor. Und da, sagt nun Freud, gehe es nur darum, einen Ablauf zuzulassen. Zulassen, Zeitlassen und Zuwarten, das Unzugängliche und Unvermeidliche zulassen. Die diskursive Interaktion und die Arbeit sind in dieser Situation nicht nur unterbrochen, sie sind aufgegeben, weg und fort. Eine Fortsetzung ist völlig ungewiss und kein Ablauf hängt mehr von einer Arbeit ab. Nur das Warten, das Schweigen und das Zulassen. Das Andere eines unzählbaren und chronometrisch nicht fixierbaren Anderen zulassen. Dieses Andere des unzählbaren Anderen steht notwendig im Plural. Warten ist nicht Zeitverzug, sondern gelassene Zeit, das Lassen der Zeit. Im Horizont eines unzugänglichen Polylogs heißt Warten wesentlich Zulassen. An dieser Stelle scheint es unumgänglich, auf Wladimir und Estragon zurückzukommen, auf diese beiden wohl prominentesten Experten des Wartens in der dramatischen Literatur. Sie teilen ihre Expertise mit der Figur des Chors, weil sie mehr als einer sind und kein Paar. Beziehungsweise Chor

Wladimir und Estragon sind die aufeinander eingespielten Clowns. Was sie indessen als Chorfiguren kennzeichnet, ist die Situation des Wartens, an der für sich genommen nichts spezifisch Clowneskes ist. Man kann sogar noch weitergehen und sagen: Überall, wo gewartet wird, tritt das In-situ-Prinzip der Situation hervor und mit ihr auch ein Chor. Das gilt für Onkel Wanja, Der Kirschgarten oder Drei Schwestern von Tschechow genauso wie für die Hiketiden des Aischylos. In Godot können wir wie unterm Brennglas beobachten,


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wie das Warten die Beziehungsweise Chor hervorbringt, indem nämlich die Wartenden damit beginnen, dieser Situation einzuwohnen. Einer Situation einwohnen bedeutet notwendig etwas ganz anderes als das Wohnen. Einwohnen bedeutet, wie sie in dieser Situation des Wartens als Unbehauste und ohne ein Dach überm Kopf ‚häuslich‘ werden. In dieser Situation – und Godot besteht aus nichts anderem als aus dieser Situation, die sich zwischen Wladimir und Estragon aufspannt und ausdehnt – werden die beiden einander Gefährten. Sie partizipieren an dieser Situation, die sie zugleich füreinander aufrechterhalten und aushalten. Sie tun dies aus dem einfachen Grund, weil sie zu zweit sind. „Es ist zuviel für einen allein“ (8), sagt Wladimir. Sie tun dies, jeder auf seine eigene Weise. Wenn sie Wir sagen, ist damit kein Gruppenobjekt bezeichnet, sondern nur ein einfacher Plural, der mehr als Eins meint. Der Plural bezeichnet eine Mehrzahl, die mit zweien beginnt, welche nicht eins sind, also uneins. So auch Wladimir und Estragon: keinerlei Homogenisierung, keinerlei Arbeit an einem Wir, sondern Teilhabe, Aufspannung des Ortes und seine singuläre Ausdehnung, die unverwechselbar ist, weil sie von diesen beiden getragen wird. In jedem anderen Fall und zu jedem anderen Zeitpunkt sähe diese Aufspannung des Ortes anders aus: so stark ist der Chor abhängig von denen, die ihn bilden und die in ihm einander zur Situation und zur Umgebung werden. Ein Chor beginnt mit diesem „zuviel für einen allein“. Er bildet eine Explikation dieses „zuviel“, von dem nicht gesagt werden kann, worin es besteht oder ob es überhaupt etwas ist. Dieses „zuviel“ entspricht genau dem Auftauchen eines unbekannten Widerstands im Beispiel von der stockenden Kur, die Freud mit einem Ratschlag aus seiner Praxis versieht: Man muss diesem Widerstand Zeit geben. Genau genommen ist es nicht der Widerstand selbst, sondern die Begegnung mit ihm, in der er sich, sofern man ihm Zeit lässt, vertieft. Man muss ihm also Zeit einräumen, die im vorliegenden Fall die Zeit des Stücks Godot ist. Die Tatsache, dass hier die Begleitung in ihrer Kraft zur Situierung und zur Einbettung in einer Situation so deutlich hervortritt, hängt damit zusammen, dass die beiden, die hier den Chor abgeben, nicht arbeiten. Sie tun damit das, was für jeden Chor zutrifft und was ihn ums Ganze von jeder Gemeinschaft, von jedem Kollektiv, von jedem Paar und von jeder gerichteten und konzentrierten Gruppe unterscheidet: Sie arbeiten nicht. Sie stellen nichts her, sie produzieren nichts, sie vertreten nichts, sie repräsentieren nichts.


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Es gibt Gefühle zwischen ihnen und Affekte, die zwischen ihnen zirkulieren, aber es gibt noch nicht einmal den Anflug einer Beziehungsarbeit. Sie nehmen sich gegenseitig hin, sie vereinheitlichen sich nicht. Da es im Fall von Godot nur zwei sind, die den Chor abgeben und wir sie, einschließlich der ganzen Spekulationen, die sie ausgelöst haben, relativ gut kennen, lässt sich auch genauer sagen, was die Feststellung, dass sie nicht arbeiten, bedeutet und womit sie zusammenhängt. Die beiden haben keine Herkunft. Sie sind geboren worden, aber nirgendwo werden Mutter oder Vater erwähnt. Das ist umso erstaunlicher, als die beiden sich schon lange kennen. Sie teilen Erinnerungen an die Schule, an den Bezirk, in dem sie wohnten, an die Stadt Paris, in der sie jung waren, aber es gibt keine Familie, keine Eltern und keine Geschwister, noch nicht mal einen Onkel. Da sie alt sind, kann ebenso sicher gesagt werden, dass sie keine Nachkommen haben, keine Kinder. Ohne Herkunft und ohne Fortsetzung aber entfällt das gesamte Projekt, das aus der Verwandtschaft erwächst, die im Zeitraum der griechischen Polis und ihres Theaters eine neue, nicht nur anthropozentrische, sondern auch phallozentrische Definition erfährt. Am Protagonisten orientiert, wird Verwandtschaft immer enger mit der Lebensfrist von Einzelnen amalgamiert. Dieser Frist stemmen sich stammbaumförmige, familiäre Genealogien entgegen, mit deren Aufrichtung, Gründung und Fortsetzung wir die antiken Protagonisten nicht ohne ihre zahlreichen Irrtümer und Umwege befasst sehen. Wo Filiation der eigenen Endlichkeit entgegenarbeiten soll, wird Verwandtschaft zu einem der wohl mächtigsten Projekte der Selbsthervorbringung und Selbstaneignung umgedeutet. Die gesamte dramatische Literatur, nicht nur die der Antike, kündet vom Hader mit missratener Verwandtschaft. Denn Verwandtschaft liegt nicht einfach vor und geht auch nicht aus der Tatsache hervor, geboren worden zu sein. Wie im Fall von Wladimir und Estragon ersichtlich wird, ist es möglich, gezeugt und in der Zeit existenzieller Bedürftigkeit erhalten worden zu sein, ohne seine Erzeuger zu kennen, geschweige denn, was noch mal auf einem ganz anderen Blatt steht, Mutter oder Vater. Die Feststellung der eigenen Herkunft kann einem aufwendigen, mitunter gefährlichen Akt werden. Wo Herkunft identifiziert und personalisiert wird, entsteht allererst die eigene Form einer Kollektivbildung, für die wir uns an den lateinischen Namen Familie gewöhnt haben.300


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Wie dieser Name von lat. famulus für Diener bzw. familia für die Gesamtheit der Dienerschaft mit Genauigkeit zum Ausdruck bringt, ist die Beziehungsweise Familie und der sie hervorbringende und mit ihr verknüpfte Beziehungstypus der familiären Bindung eine Beziehung des Dienstes. Die Familie dient einer bindenden Herkunftsbezeichnung, so wie die Einzelnen im Dienst einer Familie stehen. Alle Arbeiten zur Hervorbringung und Aufrechterhaltung einer Familie besitzen die Form des Dienens. Sie stellen familiäre Bindung her, die nicht nur irgendeine Form von Nähe (erst um 1800 umgedeutet in Liebe), sondern wesentlich Bindung im Namen der Familie bedeutet. Der Name, das Haus, die in ihm angesammelten Verdienste und Reichtümer – alle Eigentumstitel machen aus der Einheit der Familie eine Institution, in der wirtschaftliche Aspekte und genealogische Positionen immer enger miteinander verschränkt werden. Schließlich greift diese Institution selbst noch dann oder gerade dort, wo überhaupt kein äußerlicher Besitz vorliegt, nämlich in der Rede von den eigenen Kindern oder schlimmer noch: in der Erhebung von Anspruch und Recht auf eigene Kinder.301 Wo Zugehörigkeit durch eine familiäre Herkunft definiert wird, liegt ein besonderer Druck auf der Produktion von Nachkommen. Die familiär definierte Verwandtschaft verlangt in erster Linie (und im wesentlichen Unterschied zu anzestralen Gesellschaften) die Fortsetzung in einem Leben, das noch nicht ‚da ist‘. Sie verlangt die Fortpflanzung der Herkunft, die Gliederung entlang von Stammlinien, deren Phantasma sich indessen anhand der Frage der Zählung verwandtschaftlicher Grade, die über drei oder vier hinausgehen, klar vor Augen stellt. Zweimal fragt Estragon: „Wir sind doch nicht gebunden?“ W: „Gebunden?“ E: „Ge-bun-den.“ W: „Wie gebunden?“ Die erste Frage gilt ihnen, die zweite bezieht sich auf Godot („deinen guten Mann“). Wladimirs Antwort ist ebenfalls zweiteilig, zunächst: „Nie im Leben! Pause.“ Dann folgt der Zweite, auf Godot bezogene Teil der Antwort: „Noch – nicht. Er betont ‚noch‘.“ (23) Ohne Herkunft und Nachkommen und ohne ein Paar zu sein, sind sie „nie im Leben“ gebunden. Sie sind aber auch nicht außerhalb jeglicher Bindung, ohne alle Netze oder ohne doppelten Boden, quasi als Gratis-Gabe des Seins einfach ‚da‘. Vielmehr sind sie schon da und wie jeder Chor in einer unbestimmten Spannung auf etwas bezogen, das ‚noch‘ kommt. Waiting for. Zwischen Schon-da und ‚Noch-nicht‘ ist ihre Situation aufgespannt und dehnt sich kraft der Resonanzen aus, die sie als „Weggefährten“ (17) füreinander aufbringen. Jede auch noch so geringfügige


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Unterbrechung der Resonanz wird sofort als brutal erfahren. W: „Gogo … Stille. Gogo … Stille. GOGO!“ E: „Ich schlief. Vorwurfsvoll. Warum lässt du mich nie schlafen?“ W: „Ich fühlte mich einsam.“ (16). Die Zeit des Äons, aufgespannt zwischen Schon-da und Nochnicht, lässt sich durch nichts familiarisieren. Sie vergeht. Sie ist unbewohnbar und verlangt daher ein anderes Raumbild des Wohnens: wir bauen nicht im Raum, sondern wohnen ihm vorübergehend ein. In dieser Art haben sich Wladimir und Estragon in ihrem Resonanzraum eingenistet. Hier, in ihrem Nest, schaukeln sie hin und her wie in einem kleinen Schiff auf einem unbegrenzten Meer. Das ist vielleicht das treffendste Bild für ihre Situation und darüber hinaus dafür, was es heißt, einer Situation einzuwohnen. Als Horst Bollmann in den Proben für die Berliner Inszenierung 1975 fragte, was es denn heißt, wenn im Text Pause steht, verwendete Beckett das folgende Bild: „Stellt euch vor, ihr seid auf einem Schiff, das Schiff hat ein Leck, und ihr merkt, wie es langsam voll Wasser läuft und tiefer sinkt. Erst wenn ihr redet oder sonst wie handelt, fangen die Pumpen wieder an zu arbeiten, und das Schiff hebt sich wieder.“302 Die Resonanzen, mit denen Wladimir und Estragon ihrer Situation einwohnen, sind nicht identisch mit ihren Spielen, die in bestimmtem Sinn jeweils Anfang und Ende haben und mit den Körpern verwoben sind. Ihr Resonanzraum hingegen webt sich aus zahllosen, kleinen und unscheinbaren Repliken, die austauschbar sind und nicht erinnert werden können. Sie gehören vollständig der Situation zu: W: „Vielleicht.“ E: „Und so weiter.“ W: Das heißt …“ (14) W und E gleichzeitig: „Hast du …“ W: „Oh, Verzeihung!“ E: „Sprich nur!“ W: „Aber nein!“ E: „Aber ja!“ W: „Ich bin dir ins Wort gefallen.“ E: „Im Gegenteil.“ (91) Diese Repliken sind nicht leer, sondern machen das Häusliche im Unbehausten aus. Sie machen das Nistende aus und seine Zärtlichkeit, die seine Wahrheit ist. „Wladimir zärtlich: Ich trage dich. Pause. Wenn’s sein muss.“ (39) Eine Figur, die nicht arbeitet

Da ein Chor zunächst schlicht das Mehrfache ist, gehören zu ihm die Bewegungsformen des Zusammenkommens und Auseinandergehens. Kommen und Gehen, wie ein anderes Stück von Beckett heißt. Ein Chor formiert sich, indem er sich dem Formiert-Werden durch das Hin und Her seines Mehrfachen hingibt – seinem Gespielt-Werden. Diese Formwerdungen sind vorübergehend und ohne Wiedererkennungswert, obwohl sie für die Beteiligten nicht


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ohne Erinnerungswert bleiben. Daher ist ein Chor zwar nicht völlig ohne jeden Selbstbezug zu denken, aber dieser verbleibt selbstbezüglich und steht nicht für Etwas. Aus all diesen Merkmalen wird ersichtlich, dass ein Chor offenbar ‚nicht arbeitet‘, dass er damit aber auch als Figur nicht zu fassen ist. Denn der Begriff der Figur ist anhand des Protagonisten modelliert worden und mit ihm verwoben: Mit ihm als Repräsentant (von etwas), mit seiner Gesichtlichkeit (Gesicht und Erscheinung der ganzen Gestalt), mit seiner Arbeit (an sich selbst und seinem Werk). In Godot sind Wladimir und Estragon die Protagonisten + ein Chor, der aus Zweien gebildet wird. Weder machen sie den Chor zum Protagonisten, noch sind sie bloß paradoxe Figuren. Vielmehr bilden sie einen Chiasmus, der das Modell der Figur sprengt und deren Merkmale in Modi transformiert: Dem Repräsentanten widerspricht die Andersheit, der Gesichtlichkeit widerspricht die Pluralität, der Arbeit widerspricht ein vorbegriffliches Vermögen. Diese drei Modi seien im Folgenden kurz näher skizziert. Andersheit. In seiner Studie zu den Figuren des Anderen in der griechischen Antike hält Jean-Pierre Vernant fest, dass Andersheit zwar ein sehr weiter und ungenauer Begriff sei, er ihn aber trotzdem nicht für obsolet halte, da ihn die Griechen verwendet haben: Bei Platon wird das Andere oder das Verschiedene (to héteron) der Kategorie des Selben entgegenstellt. Diese Gegenüberstellung verlange jedoch, von der Andersheit nicht allgemein und pauschal zu handeln, sondern sie jeweils zu konkretisieren und zu definieren, in Bezug worauf sie anders (verschieden) sei. Für das Selbe kommen bei Vernant in Frage: der Anthropos, der Mann, der Grieche, die Polis (und wir fügen hier an: der Protagonist). In Platons Parmenides steht das Andere (das Verschiedene) sowohl zum Einen als auch zum Sein im Gegensatz.303 Mit Blick auf die Andersheit der Gottheiten Dionysos und Artemis, aus deren Gefolge sich in chorlyrischer Zeit Chöre lösten, um auf dem Schauplatz der Polis zu erscheinen (vgl. S. 93 ff.), bildet Andersheit sicherlich auch einen Modus des Chors. Ein Chor verhält sich anders, doch in Bezug worauf? In Bezug auf die Arbeit, das Werk (érgon), sucht Hamacher nach einer Figuration, „die nicht setzt, sondern aussetzt, die kein Etwas ist und anders ‚ist‘ als Sein“304. In dieser Formulierung wird die gesuchte ‚Figur‘ in der Spannung von Setzung und Aussetzung situiert. Damit erscheint sie jedoch als schon situierte, denn wenn nach einer Aussetzung gefragt wird, erscheint die Ebene der Setzung un-


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willkürlich als eine ‚Gegebenheit‘. Auch wenn die davon ausgehende Suchbewegung darauf zielt, diese als ‚keine Gegebenheit‘ erkennbar werden zu lassen, so fragt sie doch stets von der Setzung aus nach der Aus-Setzung, vom Werk aus nach dem Nicht-Werk (anérgon) und von der Gründung nach dem Ab-Grund. Sie fragt danach, was in eine Setzung immer schon unverträglich involviert ist. Doch der Chor ist nicht nur ein involviertes Element, das da ist, um eine Setzung zu ermöglichen und deren bald darauf eintretende Herrschaft wieder und wieder zu derangieren. Es hieße, die Andersheit des Chors zu verfehlen, wenn er derart eng mit der Setzung (und ihrer Aussetzung) liiert würde. Die Andersheit des Chors ist mit einer Außensphäre verbunden, gegen die sich eine Gründung verschließt. Sie spielt daher vor und gleichzeitig und außerhalb dieser Gründung. Das heißt, sie ist auf die Gründung (das Selbe, das Eine) und ihr Außen (das Verschiedene, das ‚Sein‘) gleichzeitig bezogen. Daher kann die Andersheit des Chors nicht die Festigkeit einer Figur annehmen. Sie steht aber auch nicht in Opposition zu ihr und besitzt nicht die Kraft zu ihrer Negation, sondern ist ihr socius. Pluralität. Für diesen Modus des Chors sei an den Begriff der Figuration erinnert, mit dem sich Norbert Elias einst gegen die Pluralitäts-vergessene Soziologie der 1970er Jahre wandte. Seinerzeit stand die soziologische Routine völlig unter dem Eindruck der Repressionshypothese. Sie ging von einem isolierten Individuum aus und platzierte ihm gegenüber eine Gesellschaft, die als System oder Ganzheit begriffen wurde. Gegen den Irrtum, das Individuum und die Gesellschaft für zwei verschiedene und dazu noch antagonistische Entitäten zu halten, entwickelte Elias die Prozess-Soziologie und den Begriff der Figuration. Damit wird das Geflecht der Angewiesenheiten von Menschen aufeinander bezeichnet, Geflechte wechselseitiger Abhängigkeiten, die Menschen aneinanderbinden. Damit werden anstelle des sich nach ‚sozialer Unabhängigkeit‘ sehnenden ‚Individuums‘ die voneinander abhängigen, bedürftigen, aufeinander angewiesenen Einzelnen im Plural fokussiert. Etablierte und Außenseiter305 modulieren einander in einer Figuration, die durch sie gebildet wird. Damit ist aber auch gesagt, dass Pluralität nicht einfach vorliegt. Vielmehr entsteht sie prozesshaft in einer Figuration und ihren vielfältigen Einwirkungen auf sich selbst. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Chor, der als Außenseiter auftaucht und mit den Protagonisten als den Etablierten eine Figuration im Sinne Elias’ bildet. Dem Chor


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Beckett / Kein dramatisches Vakuum ohne Chor

kommt dabei die entscheidende strukturbildende Kraft der (Kon)Figuration deshalb zu, weil er schon als Figuration (von Verschiedenen) auftaucht: Nur teilbare Körper können ihre Teilbarkeit (ihr Mit) teilen und mitteilen. Vorbegriffliche Vermögen. In diesem Modus der Potenzialität stellt sich ein Chor den Aspekten von Arbeit und Werk entgegen. In Bezug auf die potenziellen Vermögen des Chors lässt sich an die Bezeichnung „Begriffsperson“306 denken, mit der Deleuze und Guattari eigentümlich kristalline Namen in den Denkbewegungen der Philosophie kennzeichnen. Sicherlich tritt ein Chor weniger personifiziert auf als die Begriffsperson Zarathustra bei Nietzsche und weniger grundlegend als die Begriffsperson des Richters in der Philosophie Kants. Aber da Begriffspersonen (wie Namen) wandern können, gehört der Chor durchaus in diese Reihe – und wandelt sich wie Dionysos, der zunächst eine mythische Personifizierung ist, dann eine Begriffsperson bei Nietzsche und zum dritten eine ästhetische Figur in den Bakchen. In Begriffspersonen lassen sich vorbegriffliche Denkbewegungen konzentrieren und wieder lösen, um in unterschiedlichen Zusammenhängen vorübergehend Gestalt anzunehmen und Aussagen zu figurieren. Auf ähnliche Weise gehört auch der Chor einer prä-signifikanten Ebene zu, aus der er sich löst, um in der Kunst des Dramatikers vorübergehend eine je unterschiedliche Gestalt anzunehmen. „Der Dichter sah gewissermaßen vom Chor aus nach den Bühnenpersonen, und mit ihm das athenische Publikum“307, schreibt Nietzsche. Mit dieser Blickrichtung ist genau die Begriffsperson bezeichnet, von der aus sich das Theater entwirft und entworfen wird, denn die Frage nach dem Chor kann nicht gestellt werden, ohne dass sich der Begriff von Theater mitbewegt. Aber die Rede von der ‚Figur, die nicht arbeitet‘, spielt im vorliegenden Zusammenhang noch sehr viel weitergehend auf die Produktion mit großem P an. Deren Gegenstand ist das Gattungsleben, dessen Pro-duktion als pures Vorwärts- oder Weiterführen, ebenso die Welt selbst ist (was aber auf dasselbe herauskommt). Totale Produktion geht mit dem Ideal der Produktion von Subjektivität und ihrer Logik der Selbsthervorbringung und Selbstaneignung einher.308 Bezogen auf diese Produktion begreifen wir den Chor als eine ‚Figur, die nicht arbeitet‘. Und zwar nicht nur im Fall von Wladimir und Estragon. Ein Chor arbeitet nicht nur deshalb nicht, weil er am Rand steht und sich aus Leuten bildet, die mitgehen, weil sie sonst


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nichts zu tun haben oder weil er, wie Arbeitslose, keine Arbeit hat. Der Chor arbeitet nicht nur deshalb nicht, weil er ein Problem mit der Familie hat oder mit der Selbstproduktion oder weil er Umstände halber keine Familie hat. Vielmehr ist der Chor die ‚Figur, die nicht arbeitet‘, weil sie außerhalb einer Produktion steht, die, anthropozentrisch und genealogisch wachsend, die gegenständliche Welt selbst bearbeitet. Demgegenüber bildet sich der nicht-arbeitende Chor durch eine Kunst der Verhältnisnahme. Aus diesem Grund bringt er kein Werk und kein Produkt hervor. Gegenüber genealogischen und familiären Registern der Bindung und Filiation bietet er eine alternative Weise der Zugehörigkeit. Seine wie eine Musik vorübergehenden Koexistenzialgefüge haben in einem sehr weitgehenden Sinn nichts mit sexueller Reproduktion und auch nichts mit den Geschlechtern zu tun, sobald diese als Zwei gezählt werden. Chorische Beziehungsweisen sind solche der Konjunktionen und der Verteilung und nicht der Kollektive. Das spezifisch Chorische ist wirklich als eine Kunst im Sinne eine téchne zu beschreiben, als eine Koexistenzialtechnologie, die sich in einem Chor ausbildet, wenn er sein Feld austariert, wenn sich seine heterogenen Komponenten im Widerhall zu organisieren beginnen (und nicht mehr im Unendlichen verlieren), wenn er Chor wird. Das Gewicht der Welt

Protagonisten antiker Dramen dienten immer wieder als Beispiel für den Menschen. Herkules begeisterte die Akademien der Renaissance, die sich mit ihren olympischen Anstrengungen in seinen Werken und Taten gespiegelt sah. Die Modernen erklärten den Einzeltäter Prometheus, als Götterrebell und Menschenfreund gedeutet, zum Bild des Menschen schlechthin. Ödipus wurde durch Freud zum Namensgeber eines Konflikts, den jedes männliche Kleinkind durchläuft usw. Im knechtischen Universum der vergötterten Arbeit ist es der Knecht, der wie Atlas die Welt trägt. P: „Alle drei schauen Lucky an. Atlas. Japetos’ Sohn!“ (37) Doch Herr und Knecht waren gestern. Als Knechte ohne Herrn stehen Wladimir und Estragon am Nullpunkt jeglicher Investitur in ein Bild oder in einen Satz vom Menschen. An die Stelle einer Fundamentalontologie tritt hier nun eine Hin und Her spielende Zwei, die als lebendige, stets pulsierende Verknüpfung von Körpern und Sprache erscheint. Es geht nicht mehr um das Ganze: Nicht um die symbolische Ordnung der Sprache auf der einen Seite und die sogenannte bloße Physis animalischer, phy-


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Beckett / Kein dramatisches Vakuum ohne Chor

siologischer oder biologischer Art auf der anderen Seite. Vielmehr tritt eine Verknüpfbarkeit in Erscheinung, die sich an ein Mehrfaches, nicht ‚menschlich‘ zu Begrenzendes bindet. Einander tragen bezeichnet keine Interaktion von Subjekten, sondern ein zwischen ihnen spielendes mannigfaltiges Hin und Her, ein unfassliches Gewebe von semiotischer und somatischer Lebhaftigkeit. Dabei entfaltet das sich auf sich selbst beziehende Spiel einen Rhythmus, eine verbindend-unverbundene Gliederung, die seinen Zusammenhalt formt, sodass etwas zu sich zurückkehren kann, sich nicht im Unendlichen verläuft, sondern in das nicht feststellbare Gleichgewicht des Spiels eingeht, das sich damit jedoch nicht schließt. Es ist das alte Lied vom „Rhythmus als Konfiguration“309. An diesem bodenlosen Lied hängt neuerlich, nachdem der Glaube an den Menschen als Subjekt der Geschichte abgewirtschaftet hat, das Gewicht der Welt. Ästhetisch lässt es die Frage der Wahrnehmung und wie etwas überhaupt wahrnehmbar gemacht werden kann, selbst hervortreten. Wenn Affektionen und Regungen sich verweben (Hin und Her), ist etwas im Spiel, das mehr als ein Körper, aber auch nicht schon gleich Sprache ist. Der Moment, in dem Worte etwa anheben und sich hörbar machen. Der Moment, in dem eine Bewegung aufbricht und sich weniger zu sehen, als zu empfinden gibt. Es ist vorzüglich der Moment der Stimme als Schaltstelle eines Raumwerdens, indem wir (als Zuschauende, Lesende) auf Empfang gestimmt werden. Um zu empfangen, was sich zu hören gibt, aber nicht wie die Stimmen von Lebenden. Die mimetischen Register sind überschritten. Dieses Ichlose Gewebe kommt an einer Stelle in Godot zur Sprache, an der deutlich wird, wo es herkommt. Es ist der Widerschein einer unsäglichen Vernichtung. Wladimir und Estragon wollen sich „ganz ruhig unterhalten“ (75), ohne sich zu ereifern („sans nous exalter“). „Einstweilen“ (En attendant) 310, setzt Estragon ein, „da wir doch nicht schweigen können“. Unterhalten wir uns also, um „nicht denken zu müssen“, um „nicht hören zu müssen“, um was nicht hören zu müssen? Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon: Schweigen. Wladimir:

All die toten Stimmen. Die rauschen wie Flügel. Wie Blätter. Wie Sand. Wie Blätter.

Sie sprechen alle gleichzeitig.


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Estragon: Jede für sich. Schweigen. Wladimir: Sie flüstern vielmehr. Estragon: Sie murmeln. Wladimir: Sie rauschen. Estragon: Sie murmeln. Schweigen. Wladimir: Was sagen sie? Estragon: Sie sprechen über ihr Leben. Wladimir: Es genügt ihnen nicht, gelebt zu haben. Estragon: Sie müssen darüber sprechen. Wladimir: Es genügt ihnen nicht, tot zu sein. Estragon: Das genügt nicht. Schweigen. Wladimir: Es ist wie das Rauschen von Federn. Estragon: Von Blättern. Wladimir: Von Asche. Estragon: Von Blättern. Lange Pause. (75 f.)

Die Masse der toten Stimmen („wie Millionen andere“) ist ein nicht nur unausführbarer, sondern ein sich immer grenzereignender Chor. ‚Der Dichter sah gewissermaßen von diesem Chor aus nach den Bühnenpersonen‘, die sich in Godot auch deswegen als ein auf das Äußerste reduzierter Chor darstellen, weil sie nur in dieser Art für das Äußerste empfänglich sind. Wladimir und Estragon sind nicht durch Sprengung der Protagonistenform entstanden, nicht durch einen Bruch mit Konventionen, sondern durch einen Bezug zum Eingedenken, der sich in ihrer Form erhält. Durch eine doppelte Verneinung hindurch (nicht denken, nicht hören) gibt ihr Duo einer Parenthese Raum, in der sie sich vom Selbst und vom Anderen sehr weit (für immer) zurückziehen. Da entrollen sie ein Epitaph für die Toten der Shoah, unterbrochen von einem viermaligen Schweigen, das seine Strophen gliedert, die von niemandem gesprochen werden können und doch nicht nicht gesprochen werden. Beckett wird versuchen, dieses stetige Hin und Her, das ohne Progression und Bestimmtheit spielt, immer stärker zu abstrahieren. Wie kann sich das weder durch die Abwesenheit eines noch in der Schwebe halten? 311 Wie lässt sich eine unbestimmte Bewegung entfalten, die sich nicht auf ein Pendeln zwischen zwei Polen reduzieren lässt?


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Beckett / Kein dramatisches Vakuum ohne Chor

Beckett geht den Weg einer radikalen Reduktion. Jelinek bezeichnet diese Reduktion, „etwas wegzunehmen, indem man erschafft“312, als einen Vorgang der „Souveränität“, in dem sich Komprimiertes von Nicht-Komprimierten reinigend scheidet. Paradoxerweise gründe diese Souveränität bei Beckett jedoch nicht in einer Stellung, sondern darin, dass sich ‚nichts‘ mehr stellen kann.

„Er, dieser Dichter, schneidet die Dinge, ohne Anfang und Ende, aus etwas heraus, das wir nicht kennen können, obwohl er es selbst bestimmt […]. Wo fängt es an? Wie geht es weiter? Es geht weiter. Aber sonst steht nichts fest. Solche Fragen […] stellt Beckett nicht, und er stellt sich ihnen nicht. Er stellt sich nichts und niemandem. Denn wo die Wegnahme von Millionen Menschen möglich war, kann sich nichts mehr stellen. Es wäre vorher schon verschwunden, und da ist nichts mehr festzuhalten, höchstens Fetzen sind es, die von verlorenen menschlichen Bewegungen sprechen könnten, wenn sie wollten.“

Erschaffen durch Reduktion kennzeichnet Jelinek zufolge einen „sehr männlichen Autor“, der es darauf anlegt, mit dem Nicht-Komprimierten irgendwie millimetergenau fertig zu werden. ‚Rudimente von kurzen Bewegungen, dann kein Laut‘. Solche Souveränität „hat die Frau nicht und bekommt sie auch nicht“, verbunden wie sie ist mit dem ganzen Rest, mit dem Nicht-Komprimierten, das zurückbleibt, aber auch nicht dargeboten wird. Nur „dieses Komprimieren ist dafür ohne Ende, obwohl nach erfolgtem Vorgang des Zusammendrückens doch etwas hätte übrigbleiben müssen. Es verschwindet ja nichts.“ Jelinek fragt vom Chor aus. Sie erneuert die Frage nach dem Chor vom Nicht-Komprimierbaren aus, von der Autorin aus.

Mark Lammert: Raum für Warten auf Godot am Deutschen Theater Berlin 2014




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IV Jelinek

Abfall von der Rolle Frau und von allem

Mit Jelinek geht es um das Verwerfen der Rolle Frau, mit dem die relativ junge Epoche der Rollen überhaupt zu Ende geht. Jelineks Schreiben öffnet sich für Räume ohne Vordergrund, in denen jedwedes einzelne und lokal beschränkte Ereignis mit einer Vielzahl von technischen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Implikationen und deren Wechselwirkungen in Beziehung tritt. An die Stelle von Rollen treten wandernde Figurenamen, die als Verkehrsknotenpunkte von Außenbezügen fungieren (Moderne Frauen). Jelinek radikalisiert das Chor-Werden der Einzelfigur in extremis (Sportstück). Ihre Dichtung entfaltet sich als ein schier endloses chorisch-monologisches Sprechen. Es schmiegt sich einer Wirklichkeit an, um diese bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein zu demaskieren und der Lüge zu überführen. Das Sprechen der Wahrheit (parrhesia) ist stets ein riskantes Spiel nach beiden Seiten hin, der Sprecherin und der Wahrheit. Jelinek vollzieht dieses Spiel inmitten des öffentlichen Lügengeschreis, im Schreiben gegen die verheerende Zwei der Geschlechter und allen daraus folgenden Dichotomien (SCHNEE WEISS).


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Jelinek / Abfall von der Rolle Frau und von allem

Die Rolle verwerfen

In seiner Rede über Elfriede Jelinek zum Büchner-Preis 1998 erinnert Ivan Nagel an ein Vorkommnis bei den Salzburger Festspielen im Sommer 1998.313 Als Leiter der Festspiele hatte er Jelinek eingeladen, als „Dichterin zu Gast“ das Literaturprogramm der Salzburger Festspiele zu bestimmen, den Gesamtentwurf wie jeden einzelnen Text. Zudem stand die Erstaufführung ihres Theatertextes er nichts als er (zu, mit Robert Walser) auf dem Programm. An der Fassade des Festspielhauses hingen vier Meter hohe Bildnisse der Verfasser aller aufzuführenden Opern und Theaterstücke, darunter Portraits von Verdi, Mozart, Büchner und Jelinek. Mit einem Leserbrief in den Salzburger Nachrichten eröffnete der Salzburger Erzbischof Dr. Andreas Laun das Feuer: Er meide das Festspielhaus, denn dort würde ihn „das überlebensgroße Bild von Frau Jelinek an ihre Klosetts auf der Bühne des Burgtheaters erinnern und daran, wie unflätig sie sich über Christen äußert und wie sie über Salzburg schimpft (statt abreist!).“ Die Debatte tobte zehn Tage lang, eines Sonntagmorgens war das Jelinek-Portrait abgerissen. Die Festspielleitung beschloss, dass es der Sturm gewesen sei („der sonst nirgends in der Stadt Schaden angerichtet hatte“, fügt Nagel in Klammern hinzu). Bühnenarbeiter wurden angewiesen, die Restfetzen und damit die Spuren, die eine Anzeige ermöglicht hätten, zu beseitigen. Wenn es also der Sturm war, der unter 13 Bildern, die an derselben Fassade hingen, nur das Bild der Jelinek abriss, dann – so folgert Nagel – war in jener Nacht in Salzburg offenbar ein Wunder geschehen. Die höchste Stelle hatte sich eingeschaltet und mit ihrer Einmischung offenbart, „welche universale Breite von Verdammung Elfriede Jelinek hatte und verdiente: von der Boulevard-Schlammpresse bis zum Himmel“314. Weshalb solcher Hass kirchlicher Potentate, fragt Nagel. Weshalb solche Shitstorms, die bislang noch jedes öffentliche Ereignis im Leben Jelineks begleiteten, ob es sich nun um Premieren, Preisverleihungen oder runde Geburtstage handelte? Weshalb solche Wut, dass sie als Kunst- und Kulturschänderin angeprangert und manchenorts zum Ziel wöchentlicher Hetztiraden der größten Billigblätter wird? Dazu unzählige Drohbriefe, die so lange schon und immer noch in ihrem Postfach landen, woher dieser Hass? In seiner Rede lobt Ivan Nagel Jelineks Werk als ein „Werk des Befremdens“, das mit dem Befremdlichsten umgehe: „Es gibt Mann und Frau; den Menschen gibt es nicht.“315


Die Rolle verwerfen 271

Die Rolle als das letzte Hemd

Nagel weist auf den Zusammenhang von Menschenbild und Zweigeschlechtlichkeit hin. Dieser Hinweis soll in seiner Reichweite skizziert werden, denn er erlaubt, einen Bogen zurück zu jenen Überlegungen zu spannen, die hier eingangs mit Aischylos und Sophokles formuliert wurden. Mit der Verwerfung der Rolle Frau bewegen wir uns am stärksten auf jenen Gattungs-trouble zu, der in den Stadtgesellschaften der griechischen Antike zugunsten eines inklusiven Gattungsbegriffs entschieden wurde. Die Geschlechterdifferenz erfuhr in der Doppelgliederung von pólis und oikos eine nachhaltige Institutionalisierung, während die kaum einzuordnenden, heterogenen und vielgeschlechtlichen Chorkörper allmählich einer Verdrängung anheimfielen und wiederum vordringen, wenn die verheerende Zwei der Geschlechter aufgekündigt wird. In Jelineks „Werk des Befremdens“ scheinen diese Zusammenhänge sukzessive auf. Neuzeitlich gesehen, ist der Zusammenhang von Menschenbild und Zweigeschlechtlichkeit mit der Lüge vom Menschen im Singular verknüpft, die sich in Europa namentlich in der Renaissance festigte. Das „Ein-Geschlecht-Modell“316, das noch bis in das 16. Jahrhundert hinein von der Zugehörigkeit aller zu einem geschaffenen Geschlecht ausging, unterliegt einem neuartigen, binären Modell der Geschlechter, das trennt in Mann oder Frau. Ebenso unterliegt der weltoffene, unabgeschlossene Körper, wie ihn noch Paracelsus dachte, dem neuen Begriff eines entlang seiner sichtbaren Konturen begrenzten und eingeschlossenen Körpers. Vor diesem Hintergrund können sich Humanisten und Aufklärer im 18. Jahrhundert auf eine gefestigte Dichotomie der Geschlechterrollen in der gesellschaftlichen Praxis stützen und arbeiten an der Innenausstattung einer Epoche der Rollen, die sich der Menschenbildnerei verschreibt. Im Namen des Menschen verfährt die zweipolige Alternative einer männlichen oder weiblichen Rollenzuweisung und Rollenannahme selbst alternativlos. Die Ahndungen von Regelverstößen, die das Schema unter- oder überbieten, erfolgen gnadenlos. Sie tun es deswegen, weil die Rolle das letzte Hemd ist, das für die binäre Ordnung der Geschlechter in strenger Entgegensetzung, Hierarchie und Arbeitsteilung zur Verfügung steht.317 Wie jedes letzte Hemd lässt es sich daher entsprechend leicht abstreifen. Leicht heißt hier jedoch nicht einfach.


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Jelinek / Abfall von der Rolle Frau und von allem

Da es den Menschen nur solange gibt, wie die Rollenzuschreibungen funktionieren und in tagtäglichen Routinen praktisch hingenommen und ausgefüllt werden, ist das Ende des Menschen absehbar. Angesichts dieser Verknüpfung setzt Ivan Nagel seine Überlegungen zu der verlogenen und seit Ibsens Nora schon unzählige Male quittierten Rede von dem Menschen mit folgenden Anmerkungen fort: „Das Ende des Menschen ist nicht der Triumph der Frau – sondern ihr Sturz ins Ungewisse. Jelineks Romane, Theaterstücke führen es beweiskräftig vor: Wird die Rolle der Frau abgeworfen, verworfen, dann ist die Frau erst einmal nichts. Kein erwachtes Wesen, keine neue Wahrheit, nur eine ausgelöschte, vakuumgewordene Rolle.“318 Die ausgelöschte Rolle ist unfähig, Ich zu sagen. Anders als Autorinnen, die ein weibliches Ich zu installieren suchten und dafür weibliche Blicke, Perspektiven und Ästhetiken zu erfinden trachteten, geht Jelinek davon aus, dass die Instanz der Autorschaft nichts mehr autorisiert. „Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg.“319 Die ausgelöschte Rolle ist kein Ich, keine Autorin, kein Mantel, kein Weg. Sie ist weggeworfen und weil sie das letzte Hemd war, ist da jetzt einfach nichts, kein Mensch. Nur solange sie ihre Rolle ausfüllte, uns sei es wie im Fall des Textes Über Tiere eine pornografische, ließe sich von ihr „als Mensch“ sprechen: „Aber sie ist als Mensch in Ordnung. Als Mensch. Sie ist offen denkend. Ist sie offen denkend? Sie ist offen. Sie denkt. Sie ist offen denkend. Ja. Sie ist offen denkend genug für Golden Shower“.320 Wird die Rolle Frau weggeworfen, mag sich aus dem Rest noch eine „Herrin“321 ableiten, doch auch als solche besteht sie nur aus Beschädigungen, Zurichtungen und Zumutungen. Erst vom Punkt der durchgestrichenen Rolle aus wird die Rolle in ihrem verheerenden Umfang wahrnehmbar. Denn die ausgelöschte Rolle wirkt als ein Vakuum, das von Wirkungen zu Wirkungen führt. Jelinek geht ihnen nach und führt sie vor, als Schreibende und in ihrem Werk. Kl. Geschichte des Rollenbegriffs

Was heißt es, die Rolle Frau wegzuwerfen? Um den Komplex anzudeuten, der durch eine konsequente Verwerfung der Rolle Frau tangiert wird, sei hier kurz von der Historie des Rollenbegriffs die Rede, der in der Neuzeit und Moderne zwischen Personenkonzepten, Theater und Gesellschaft eine seltsame Karriere durchläuft und schließlich in die Epoche der Rollen mündet. Rolle, lat. persona,


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engl. part, person, role, frz. personnage, rôle: Es ist bemerkenswert, dass der Begriff der Rolle zunächst in Kanzleien auftritt, wo er im 15. Jahrhundert Urkunden, Verzeichnisse, Schriftrollen jeglicher Art bezeichnet. Etwa zweihundert Jahre später zieht der Begriff in das Theater ein und bezeichnet im Wortbarock die Papierrollen mit den Texten für die Darsteller, die sie im Sprechen während der Aufführung entrollten. Erst im 19. Jahrhundert bezeichnet Rolle im übertragenen Sinn die Figur in einem Bühnenstück. Erst von da an übernehmen Schauspieler eine Rolle und spielen die damit gekennzeichnete, darzustellende Figur. Der Begriff Rolle verdrängte den älteren Begriff Persona, der zunächst die den ganzen Kopf bedeckende Maske des Schauspielers bezeichnet. In der Renaissance löst sich die Persona aus ihrer Verklammerung mit der antiken Theatermaske und wird zum Synonym für das moderne Individuum im Sinne einer Persönlichkeit, der individuelle Eigenschaften zugewiesen werden: als Person wurde sie juristisch fixiert und als rechtsfähiges Einzelwesen bestimmt. Im Theater hingegen wird die Persona auf vielfach gebrochenen Wegen und gleichsam widerstrebend allmählich vergessen, bis an ihrer Stelle schließlich die Rolle installiert wird. Sie gilt dem modernen Bewusstsein in solch selbstverständlicher Weise zur Theatermetapher sui generis, dass man meint, die Rolle gehöre zu den Essentials des Theaters seit jeher. Das Gegenteil ist der Fall. Die Rolle hat die antike Maske, die in der Persona nachlebte, auf dem Weg der Naturalisierung nur vollständig verdrängt. Für die antike Maske ist zunächst ausschlaggebend, dass die antike Tragödie in allen Punkten, wie Aristoteles verdeutlicht, in einem Verhältnis der Nachträglichkeit zur mythischen Überlieferung steht. Daher geht es im antiken Theater nicht um den Anschein einer Verlebendigung, sondern um die Vergegenwärtigung eines tragischen Konflikts, der mit überlieferten Namen verknüpft und durch diese bezeichnet wird. Ödipus, Philoktet, Medea usw. sind keine Rollen, sondern Chiffren tragischer Konstellationen. Die durch Melodik und Rhythmik in ihrer Wirkung gesteigerte Sprache dient nicht der wechselseitigen Aussprache, sondern ist wesentlich eine Veröffentlichung von Sprache im Beisein anderer und gleichzeitig unabhängig von ihnen. Schauspieler leihen sich die Sprache, mit der Dichter eine (mythologisch) vorausliegende Konstellation kunstvoll nachbilden. Sie leihen ihre Körper einer Maske, die gleich einer Spielmarke eine namentlich hervorgehobene, besondere Po-


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Jelinek / Abfall von der Rolle Frau und von allem

sition im Spiel markiert. Bis in das mittelalterliche Theater hinein haben Theatertexte wesentlich die Funktion von konstellativen Texten. Sie sind Choreografien vergleichbar, die auf einen außerordentlichen Zustand abheben, in dem ein außergesetzliches Lachen oder eine Öffnung statthaben können: ein Offenwerden für etwas, das sich nicht sagen lässt. Dieses Offenwerden für etwas gilt bis hin zu den Visionen, die das Fegefeuer im mittelalterlichen Hinrichtungstheater oder das himmlische Paradies in den Osterspielen imaginieren. Die neue komische Maske entsteht mit der Gleichsetzung von irdischer und sichtbar gegebener Welt, die in der Renaissance eine entschiedene Hingabe an das alltäglich Sichtbare bewirkt. Die Komödien von Ariost, Bibbiena, Machiavelli oder Aretino entdecken im Schema der zwei Geschlechter das Potenzial für das Spiel der Wechselrede, der ungleichzeitigen Blicke, Verkennungen und Täuschungen. Figuren, als Typen aufgefasst, werden einander auf diese Weise zum sozialen Umfeld und bilden ihre eigene Welt, die von der Komödie als reines Reflexionsgefüge erfasst wird. Soziale Typen scheinen vom Komödienmechanismus wie aufs Rad geflochten, das wie eine ganze Welt im Kleinen rotiert. Die neue Komödie arbeitet an der Innenausstattung der Welt, in deren Zentrum die Aufmerksamkeit für das Schema der Geschlechter steht. Dabei wird die Geschlechtlichkeit eines Typs nicht durch die Körperlichkeit des Schauspielers mimetisch hervorgebracht, sondern durch das austauschbare Kostüm bezeichnet. Das Kostüm wird als Form begriffen, innerhalb derer ein Schauspieler stereotyp oder improvisierend agiert. Ihre höchste artifizielle Verdichtung erreicht die komische Maske in der Commedia dell’arte, die sich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts auf allen europäischen Bühnen durchsetzt. Die disparaten Herkünfte, die in der komischen Maske zusammenfließen, parodieren die soziale Welt als verkehrte Welt. In der Commedia dell’arte streift das Komische alles ihm äußerlich Soziale ab und wird autonom. Es gibt hier keine sozial differenzierende oder kennzeichnende Kleidung, sondern das Kostüm. Kein Spiegelbild von mir im anderen, sondern das Prinzip der Verkehrung. Kein Wechselspiel von Blicken, sondern den auf sich selbst gestellten autonomen Blick. Keine sozialen Figuren, sondern die Maske. In polemischer Wendung gegen die Äußerlichkeit bloß kostümierter Deklamation arbeiten Theaterreformer ab Mitte des 18. Jahrhunderts an einem Modell der Rolle, das auf die Darstellung in-


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nerlich organisierter Individuen abzielt. Unter Maßgabe der Naturalisierung des Geschlechts werden Rollen geschlechterkonform besetzt: Schauspielerinnen und Schauspieler geben fiktive Figuren, die mit einem ‚natürlichen Geschlecht‘ ausgestattet sind. Sie sollen diese Figuren individuell, wahrhaftig und emotional in einer Weise mit Leben erfüllen, die für Zuschauer unmittelbar verständlich ist und sie menschlich rührt. Geschlechterrollen und Menschengeschlecht werden eng miteinander verschränkt. Das Menschengeschlecht, dessen Erschaffung vormals dem Gott oblag, wird zu einer Aufgabe der „Erziehung“322, die nun, gleichsam autofiktiv, Menschen obliegt (die es nur als Mann oder Frau gibt). Die Rolle wird von Beginn an auch als eine Struktur begriffen, die in der Lage ist, die Grundzüge mimetischen Handelns in modernen Gesellschaften allgemein anzugeben. Diese Auffassung stützt sich wesentlich auf Diderots Schrift Paradox des Schauspielers (1773), in der Diderot die empfindende ‚menschliche Natur‘ zum zentralen Anliegen und Gegenstand der Rolle erhebt. Diese Natur müsse in ihrer jeweiligen ‚exemplarischen Allgemeinheit‘, wie Diderots exakte Umschreibung für den Begriff der Individualität lautet, von Schauspielern durch das Studium von Modellen und genaue Analyse ermittelt werden. Schauspieler seien also kühle Beobachter, die mit Erfahrung, Geschmack und Urteilsvermögen eine exemplarische menschliche Kunstfigur (modèle idéale) erschaffen, die sie als Künstler auf der Bühne so präsentieren, dass die Wirkung einer Rührung bei den Betrachtern entsteht. Auf diese Wirkungsdimension legt Diderot das größte Gewicht, indem er festhält, dass es keinesfalls um Gefühle ginge, die Schauspieler überwältigen und ihr Spiel zunichtemachen, sondern um gespielte Empfindungen, die Schauspieler darstellen, während sie ihre Wirkung innerhalb der Szene und gegenüber den Zuschauern stets im Auge behalten und kontrollieren. Diese innere Distanz, die Schauspieler gegenüber den von ihnen in größtmöglicher Geschlossenheit dargestellten Figuren wahren sollen, führt Diderot zu seiner berühmten Formulierung: Il est double. Diese doppelte Verfasstheit des Schauspielers ist späterhin als Modell für die Differenz von ‚Schein und Sein‘ in der Gesellschaft überhaupt aufgefasst worden. Die Wirkungstheorien Diderots und Lessings bahnen eine Praxis der sozialen Rolle an (die erst in der Soziologie zu ihrem Begriff kommt). Sie gehen davon aus, dass öffentliches Leben von den Rollengestaltungen der Schauspieler lernt. Die vom Theater hervorge-


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brachten „Muster“ (Lessing) wirken auf ihre Betrachter und stiften diese zu einer re-produktiven Nachahmung an. Betrachter produzieren demnach mit anderen Mitteln noch einmal, was sich in den Rollen sinnlich-konkret und bildhaft zeigt. So jedenfalls spekuliert die moderne Ästhetik der Rezeption in der Kultur- und Bildungsrevolution um 1800, die den Rezipienten mit Einbildungskraft, Einfallsreichtum und Interpretationsmöglichkeiten ausstattet: Moderne Leser, Betrachter oder Zuschauer „verstehen“ auf eine neue, „viel innigere, nämlich geistige Art“323. Sie akkommodieren sich ihren Vorbildern nicht maskenhaft, sondern ganz, das heißt individuell. Gleichzeitig binden sie sich jedoch gerade dadurch umso ‚inniger‘ an die genuine ‚Menschenschöpfung‘ durch den originalen Künstler, der für sich genommen niemals zu wiederholen, sondern nur zu bewundern und zu vergöttern ist. Nehmen wir die Frage von Vorhin wieder auf: Was heißt es nun, die Rolle wegzuwerfen? Wegwerf-Szenarien

Wird die Rolle weggeworfen, dann wuchern im Hohlkörper der ausgelöschten Rolle die Umrisse dessen, was sie einst erfolgreich zu verschlucken trachtete. Aber sie hat es nicht verschluckt, es fehlen ihr dafür ja sämtliche Organe. Es ist nur in ihr verschränkt, vernäht und verschaltet worden, was durch sie unkenntlich werden sollte. Im Moment der verworfenen Rolle, in ihrem Vakuum, trennt sich das in ihr Vernähte zwangsläufig wieder auf. Es taucht wieder auf. Niemals in ‚alter Größe‘, sondern versehrt und verzerrt. Immer sind die Stückchen zu klein, zu hässlich, zu verrückt, zu flüchtig, zu extravagant, weder Haben noch Sein. Dennoch erkennen wir sie in den Theaterstücken von Jelinek wieder, die nicht nur hochbewusst, sondern auch vollkommen aussichtlos mit ihnen spielt (es ist ja nichts anderes da). Es handelt sich um Partikel der komischen Maske, die Jelinek wieder und wieder zusammenfegt, grotesk verkehrt und neu aufmischt, Stück für Stück, bevor sie mit ihren rollenlosen Theatertexten noch einen anderen, reicher orchestrierten Weg einschlägt, der immer entschiedener die Reste antiker Masken zu ihren Trittbrettfahrern und Schrittmachern zählt. Wenn Jelineks frühe Theatertexte eine Rollenaufteilung suggerierten, dann um klar zu stellen, wem hier die Luft zum Atmen genommen werden sollte. Der Angriff erfolgt breitseitig und kujoniert mit den Geschlechter-Zwangs-Rollen zugleich den Popanz des


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Menschlichen. Stücke wie Burgtheater (1985), Krankheit oder Moderne Frauen (1987) und Raststätte oder Sie machens alle (1994) verkünden ihren komisch maskierten Angriff auf die Rolle als Posse, als Komödie oder auch als Passepartout Wie ein Stück. Im Fall von Krankheit komplettiert der Verlag unfreiwillig komisch: 2D / 2H. Zwei Damen, zwei Herren, das reicht. Das ist reichlich spaltbares Holz, denn wir sind nach dem Menschen: „Wir sind nicht unter Brüdern und Schwestern, schminken Sie sich da ab.“324 Wenn wir den Ausgangspunkt der weggeworfenen Rolle ernst nehmen, dann handelt es sich in Jelineks frühen Stücken um viel mehr als nur um eine Dekonstruktion personaler Darstellung. Ginge es nur darum, den hierarchisch-dualistischen Denk- und Wertungsmustern ihren Weg in die Einheit einer Figur und ihrer Darstellung zu versperren, brauchte es diesen Aufstand gesammelten Zorns nicht, der von weiter herkommt. Von der weggeworfenen Rolle ausgehen, heißt vom Vakuum der Rolle, von ihrer genuinen Leere auszugehen. Das ist der Ausgangspunkt, der an andere Szenarien abgeworfener Rollen erinnert, vor allem an die paradigmatische Szene einer Selbstentlassung, die den Gegenstand von Shakespeares Richard II. bildet, oder an das Szenario der sich in einen Schatten verwandelnden Eurydike. Anhand dieser Beispiele lässt sich die Problematik der Rolle über die Vorstellung einer bloßen Normerfüllung oder -verweigerung hinausführen, denn häufig wird die Rolle als etwas nur Supplementäres wahrgenommen, als etwas, das sich wahlweise annehmen oder brechen ließe. Aber sie sitzt tiefer auf als gedacht. Im Fall von Richard II. geht es um den politischen Körper des Königs, der verworfen wird. Der Fall Eurydikes scheint noch rätselhafter, da es sich um eine Entkörperlichung handelt, sozusagen um ein ganzkörperliches Schatten-werden. Die Rolle ist mit der Dimension einer körperlichen Materialisierung verknüpft, und beide sind Darstellungsprobleme, wenn auch auf unterschiedlicher Ebene. Zunächst zum Fall Richards. Sein Vetter Bolingbroke beansprucht mit militärischer Übermacht die Stelle des Königs, und Richard will für ihn diese Stelle räumen. Es hat kein Kampf stattgefunden, niemand ist ermordet worden. Es handelt sich um eine zeremonielle Abgabe. Nach und nach legt Richard die Insignien seiner Königswürde beiseite und nimmt sich zuletzt selbst die Krone ab. Was ist dieser abgesetzte und seiner öffentlichen Würde entkleidete Körper nun? Shakespeares Szenario zeigt, dass der politische Körper


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kein Mantel ist, unter dem der König in einem eigenen, intimen Leib zu Vorschein käme. Es gibt hier keinen Körper, der für sich alleine stehen könnte, denn der sterbliche, natürliche Körper ist nur in der Zweieinheit mit dem juridisch-politischen Körpers des Königs als solcher bezeichnet. Eine Auftrennung dieser aus guten Gründen dogmatisch gehüteten Einheit der beiden Körper des Königs zieht zwingend eine Zerstörung des Platzes des Königs nach sich. Der Fall des Königs zeigt, dass der natürliche Körper kein ganzer Körper ist, der sich extrahieren ließe. An seiner Stelle erscheint nur ein Rest, der er ist. Der abgesetzte Richard ist damit konfrontiert, dass ihn der Tod und etwas erwartet, das „zugleich mehr und weniger als der Tod“325 ist, wie Kantorowicz formuliert. Der Vorgang stößt auf die Rätsel der Inkorporation. Wie kann etwas überhaupt aus dem Nichtähnlichen in die Zone einer Ähnlichkeit übergehen? Richards Blick fällt auf jene „öde Erde, die als Kleister und Hülle für unsere Knochen dient“ (III.2,152 f.)326. Denn „nichts außer dem Tod und dem kleinen Abbild (dieser) öden Erde, können wir unser eigen nennen" (ebd.). In drei großen Monologen fällt Richard über drei Stufen, die in umgekehrter Reihenfolge den Stufen seiner zeremoniellen Einsetzung als König entsprechen: Vom geweihten Königskörper über den ewigen Namen des Königs (das Gesetz) in die Reste „abgesetzter Körper“ (III.2,150) samt „Gräbern, Würmern“ (III.2,145). Richard begegnet auf der dritten Ebene diesem „nichts außer dem Tod und“ einem Rest. Dieser Rest ist vielfältig und nicht einfach tot, sondern dynamische Materie, die in Verbindung mit Vitalprozessen aller Art zu denken ist. Einst hielt Richard seinen geweihten Königskörper für unverletzlich. Nun treibt ihn diese Begegnung mit dem Rest in die Hellsicht. Der ewige, politische Körper des Königs ist bloß scheinhaft, eingebildet und hohl. Für diese Hohlform erfindet Shakespeare großartige Bilder (III.2,160-165): Richard spricht davon, dass „in der hohlen Krone, die die sterblichen Schläfen eines Königs umgibt,“ ein Gegenhof herrscht. Hier haben Narr und Posse, Tod und Mätzchen das Sagen. Ein Narr erlaubt dem König „einen Atemzug“ lang, „einen kleinen Auftritt, den König zu spielen“. Die Hohlform der Krone taucht in ihrer Übergabe an Bolingbroke erneut auf, wenn Richard sagt: "Hier, Vetter, ergreift die Krone. Hier, Vetter, auf dieser Seite meine Hand und auf jener Seite deine. Nun ist diese goldene Krone wie ein tiefer Brunnen, der zwei Eimer enthält, die einander füllen, der leerere immer in der Luft tanzend, der andere


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unten, ungesehen und voll Wasser. Jener Eimer unten und voll Tränen bin ich, meinen Kummer trinkend, während ihr hoch nach oben steigt." (IV.1,181-189). Zwei Eimer in einem hohlen Brunnen. Sie füllen einander, während sie auf- oder absteigen. Der leerere, Bolingbroke, steigt auf und übernimmt die Krone. Es folgen im vierten Akt die unter Rollenträgern üblichen "jämmerlichen Schauspiele" (IV.1, 323): Lügen, Beteuerungen, Schwüre, Verdacht und Verrat. Die Szene spielt im Oberhaus, in Westminster Hall. Von der vakuumgewordenen Rolle aus, erscheinen Rolleninhaber stets als „leerere“ Gewinner. Ihnen gegenüber sinken die, die „Kummer trinken“, auf der Verliererbahn ungesehen nach unten. Am Ende der Bahn stellt sich Hellsicht ein, die im Wechselspiel der binären Pole die Regiehandschrift des Narren erkennt. Mit diesem Schritt über die Dichotomien hinaus, wird ein anderes Sprechen möglich: Das Wahrsprechen, die parrhesía. Mit ihrer Ausnahmekraft wird die Krone, die es erlaubt „einen kleinen Auftritt, den König zu spielen“, als Hohlform erkannt. Ähnlich verhält es sich, wenn die Rolle Frau weggeworfen wird. Bei Jelinek stellen sich die beiden einander füllenden Eimer mit den Rollennamen Mann und Frau vor. Da die vakuumgewordene Rolle Frau ihr Wechselspiel nicht mehr erlaubt, stehen die beiden alsbald im Adam- und Evakostüm da, und dann wird auch dieses verworfen. Ihre Häutung kommt jedoch, anders als gedacht, keiner Hinrichtung gleich, sondern bewirkt eine Transition. Gehäutete begegnen dem Tod und etwas. In Schatten (Eurydike sagt) hat Jelinek diesem ‚etwas‘ ein eigenes Stück gewidmet, das an ein anderes berühmtes Wegwerf-Szenario anknüpft. Die Nymphe Eurydike entzieht sich als Jungvermählte körperlich, während ihr Mann, der berühmte Sänger, sie als ‚seinen‘ Schatten zurückhaben will. Die mythologischen Erzählungen sind realistisch genug, für ihr Entschwinden keinen besonderen Grund anzugeben. Ein einfacher Schlangenbiss tut das seine, und Eurydike übertritt die Schwelle ins Schattenreich. Der Übergang vollzieht sich beiläufig, nicht als Sturz in ein klaffendes schwarzes Loch, sondern als morphologische Auflösung der Konturen. Eurydike sagt: „ich werde glauben, mich gehäutet zu haben, und auf einmal werde ich selbst meine abgeworfene Haut sein. Schatten.“327 In Schatten flehen bilder- und körperlose Schatten darum: „Nur nicht den Körper ranlassen, nur mich nicht in den Körper reinlassen“ (17). Schatten wie Eurydike sagen – „es fließt, auf ein weißes Blatt Papier, ich rinne


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aus“ (3) – und werden zum Schreiben. D.i. kein Vorschlag, alles, unter anderem auch „materielle Körper“328 in Wörter zu verwandeln, sondern umgekehrt zeigen ein vielfältiges Sagen, Fließen, Rinnen, Werden eine Performativität an, die jeden sprachlichen Monismus entmachtet. Schatten sind ohne Ort und Geschichte, ohne Chronologie. Sie können nicht bei sich bleiben und vervielfältigen sich in steter Bewegung. Bei Jelinek werden sie zum Teppich: „Wir sind ein Schattenteppich, der nie gereinigt werden muß, denn keiner tritt sich auf uns die Füße ab. Wir sind einfach da. […] hier blutet niemand […] auf unseren Teppich, der wir sind, nicht den wir haben, der wir sind und bleiben“ (15). Nachdem „meine gefestigte Existenz“ (3) sich entzogen hat, gelingt in der Berührung mit einer äonischen Dynamik ein eigentümliches Bleiben, das allerdings von einer Bedingung abhängt: „Wir sind nicht.“ (16) Es geht nicht um Ikonoklasmus, sondern um eine Lösung aus dem repräsentationalistischen Glauben an die Gestalt (morphē), die einen Körper abgrenzt und beendet. Es geht um die Ent-Festigung dieser Gestalt und ihre Überführung in die kontinuierliche Variation, in ein Patchwork („Teppich“) von Über- und Untertreibungen. Wenn ein Körper unbeteiligt und inert wird, wird seine Hülle sinnlos. Er häutet sich. Er wird Schatten und dehnt sich zu einer Zone, in der Oppositionen unwirksam werden und Relationen sich von ihren vorausgesetzten Relata lösen. Sie beginnen zu fließen, zu rinnen wie das Sagen der Eurydike. Im Sagen und Schreiben (und Denken, fügt Hannah Arendt hinzu) sind wir alterslos. Im Fall von Eurydike ergibt sich dieser Übergang durch den Biss einer Schlange, dem Profi für Häutungen schlechthin. Jung und uralt zugleich, ist die Schlange verbündet mit der Erde, mit dem Wahrsprechen und der Zirkulation der Gifte. „Es tut weh, da rinnt, glaube ich, ein Gift […]. Jetzt ist die Frage: Werde ich jetzt Schatten, oder bleibe ich, wie ich bin, und gebe vielmehr den Schatten her? Nein, ich ergebe den Schatten, ich ergebe ein Stück Schatten, und ich ergebe mich den Schatten.“ (4) Die Metamorphose macht im „Übergang von Ichweiß zu Ichweißnicht“ (6) aus dem Ich ein „knisterndes Etwas, dessen Uhr stehengeblieben ist“ (4) und leitet es auf eine nicht feststellbare Ebene unzähliger Übergänge. Die Darstellung wechselt von einer Ebene der Nachrichten (aus dem Patriarchat) auf die Ebene von Botinnen, die, dem Beispiel antiker Boten folgend, mit ihrer Botschaft selbst übereinkommen. Das heißt, dass sie als Boten in einer Botschaft aufgehen, die nicht ihre ist und die sie, sofern die Geschichte


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gut erzählt wird, stets sterbend überbringen, und dass sie außerhalb ihrer Spur der Übertragung nichts sind. Gestaltwerdungen (wie Botschaften) vollziehen sich immer konflikthaft und niemals vollständig. Stets erscheinen sie in Konfigurationen mit Schatten, diesen flüchtigen Mit-Erscheinenden schlechthin. Mit ihnen treten die Nicht-Gegebenheit des Raums und der Körper hervor und werden zu Fragen. In ihrem poetologischen Text Sinn egal. Körper zwecklos (1997) hat Jelinek dieses Hervortreten der Nicht-Gegebenheit als „Herausforderung“ für Schauspieler beschrieben, die „aufgehängt […] im Schacht einer anderen Dimension, die nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater ist, uns etwas bestellen sollen, eine Nachricht die Anfänger, eine Botschaft die Fortgeschrittenen.“ Diese „andere Dimension“ entzieht sich der Einfältigkeit einer intuitiven Evidenz. Sie ist „nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater“, sondern beides: Wahrheit und Schein in ihre gegenseitige Denunziation verbissen, bis alles scheint und eine Wahrheit miterscheint, die sich anders nicht einstellt. Es gibt keine ‚dahinterliegende‘ Wahrheit. Jelinek setzt die Bewegung fort, die Kunst aus den Dichotomien zu lösen, die aus jahrhundertelang errichteten Systemen resultieren. Diese Bewegung gewinnt bei Jelinek tumultartig an Fahrt, weil sie bei einem Kernstück der Dichotomien ansetzt: der Zweigeschlechtlichkeit, die von ihrem heterosexualisierten Sinn verlassen wird. Vollständig ausgeprägt findet sich diese Bewegung schon in Krankheit oder Moderne Frauen (1987). Verlassene Rollen, verlassene Anblicke

Rollen und Anblicke werden verlassen, indem man sie obsessiv behauptet und übertreibt oder mit widersprüchlichen Anweisungen füttert. In Krankheit werden Anblicke durch die pure Vielzahl einander widersprechender Referenzen verunmöglicht. Übergangsund Mischwesen wie „Emily“ und „Carmilla“ lassen sich sagen, aber nicht zeigen. Namentlich werden sie gefüttert aus der Literatur: mit Emily Bronte die eine, Carmilla als Titelfigur einer Vampirgeschichte von Le Fanu die andere. Ihre ‚Rollen‘ werden wie folgt ausgewiesen: die eine als Schriftstellerin und Krankenschwester, die andere als vielfache Mutter, die eine als Vampir, der zubeißt im Moment als die andere bei der Geburt ihres sechsten Kindes stirbt, die eine als lesbisch, die andere als „österr.“ usw. Ähnlich widersprüchlich verhält es sich mit dem vorgeschriebenen szenischen Ort, der „links“ eine Praxis der Zahn- und zugleich Frauenheilkunde vor-


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stellt, welche „rechts“ in eine wilde Heidelandschaft mit Felsbrocken übergeht. Übertriebene Anblicke sprengen das Bild und werden durch treuherzig daherkommende Handreichungen der Autorin noch verschärft: „Auf kleinen Bühnen kann die Landschaft durch ein Kinderplantschbecken dargestellt werden.“329 Die Bildsprengung gilt in Krankheit nicht nur dem Bild der Bühne, sondern resultiert in einem strengen Sinn aus der verlassenen Rolle Frau. Die Frau als Anblick ist der blinde Fleck, über den sich die moderne, bildhafte Sichtbarkeit der Szene einst einrichten ließ.330 Er bildet den unaussprechlichen, unvorstellbaren und daher von der visuellen Kultur in der Renaissance realisierten Ausgangsund Knotenpunkt für die modernen Konventionen sowohl der Bühne als auch der zwei Geschlechter, die sich weder spiegelbildlich, noch symmetrisch zueinander verhalten. Gehen wir von diesem blinden Fleck aus, der das Kompositum ‚die Frau als Anblick‘ und die modernen Visualisierungsstrategien zugleich grundiert, so ergibt sich, dass diese Strategien der Bildgewinnung zwingend nur von einer Frau aufgegeben werden können, die ihre Rolle wegwirft. Wird die Rolle Mann aufgekündigt, bleibt er immer noch Standard, der sich einen „Fensterplatz ergattert. Stadtmitte!“ (71) Der Mann müsste schon dem Standard entsagen, wollte er gründlicher verfahren. Die Rolle Frau wegwerfen heißt indessen zwangsläufig, die Frau als Anblick aufzukündigen, sich aus dem Wechselspiel von Blick und Anblick zu entfernen und mit der Schwärze des Grundes sowie der hier unvermeidlich herrschenden Blindheit in Berührung zu kommen. Der Blick selbst wird hier täuschend. Er beschert weder Wissen noch wirkliche Blindheit, nur die Berührung mit der Unmöglichkeit der eigenen Lage. Am Punkt der weggeworfenen Rolle Frau heißt es in Krankheit: „Carmilla: Ganz tot möchte ich persönlich nicht sein. Ich möchte, daß man meinen Spuren noch lang im Tiefschnee folgen kann. Ich möchte sichtbar sein. Wie ein gelbes Pißloch mitten auf einer Abfahrtpiste. Ich möchte sehr tief in den gefrorenen Boden hineinreichen.“ (70 f.) Nehmen wir die Konventionen der Bühne und der beiden Geschlechter von diesem blinden Fleck aus wahr, der hier die Farbe eines gelben Pisslochs im Schnee angenommen hat, dann können wir zumindest festhalten, dass sich die zu ihrer einseitigen Sichtbarkeit gezwungene moderne Bühne nicht länger als Bildbühne verteidigen kann. Sie kann nicht länger behaupten, dass das Bild den Raum der Bühne macht. (Das Umgekehrte ist der Fall.) Und sofern


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Darstellungen von Geschlechter- und Rollenfiktionen abhängig sind, wird von diesem blinden Fleck aus nicht nur das asymmetrisch zusammengeschusterte Geschlechterverhältnis entgleisen, sondern auch das Verhältnis, das die Bühne und alle ihre Nachfolger wie Film, Funk, Fernsehen etc. zur Darstellbarkeit überhaupt unterhalten. „Wo war das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat?“

Mit dem Thema des Vampirs wechseln wir in Krankheit auf eine Ebene, die ‚tiefer in den gefrorenen Boden‘ der Geschlechter hineinreicht. Es geht um die Frage: „Wo, meinst du, Heidkliff, war das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat?“ Und um die Replik: „Die Klinik ist geboren. Und das Geschlecht ist dann auch irgendwann einmal geboren.“ (53) Mit der Anspielung auf den Titel der Schrift Foucaults Die Geburt der Klinik verweist die Replik auf das ausgehende 18. Jahrhundert. Das ist der Zeitraum, den Foucault in den Blick nimmt und zugleich der Zeitraum der modernen Definition und Indienstnahme der zwei Geschlechter. Jelinek entdeckt diese Parallelen: Aussagen, die Foucault auf die moderne Definition von Krankheit bezieht, lassen sich präzise auch auf die Neudefinition des Geschlechts in diesem Zeitraum anwenden. Im Titel Krankheit oder Moderne Frauen ist das oder absolut wörtlich zu nehmen. Es zielt auf eine Reihe analoger Befunde zu den modernen Begriffen von Krankheit und Geschlecht bzw. der zwei Geschlechter Mann und Frau. Foucault notiert: „Der Abgrund unter der Krankheit welcher die Krankheit selber war, kommt nun ans Licht der Sprache“331. Die gedankliche Bewegung und sprachliche Gestalt des Satzes beibehaltend, lautet es für den modernen Begriff der Geschlechter entsprechend: ‚Der Abgrund unter den zwei Geschlechtern, welcher das Geschlecht selber war, kommt nun ans Licht der Sprache‘. In beiden Fällen lässt sich der Satz mit einer Parenthese fortsetzen wie bei Foucault: „jenes Licht, das eben damals Die 120 Tage, Juliette und die Desastros de la guerra grell erleuchtet.“ Die Bewegung dieses Satzes trägt die Analytik, die Jelinek ihrem Stück zugrunde legt. Es geht um „das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat“, um seinen Ort, bevor es im 18. Jahrhundert zu einem ersten Gegenstand der medizinischen, pädagogischen, literarischen usw. Diskurse gerät. Für dieses ‚bevor‘ müssen wir vor allem zwei Register in Betracht ziehen, in denen das Geschlecht jeweils in völlig anderen Bezugsrahmen erschien und gedacht wurde. Zum einen das Register ‚Natur‘: Bevor die Sozialisierung zweier Geschlechter und ihre früh-


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bürgerliche Vergesellschaftung als Mann und Frau im 16. Jahrhundert einsetzt, wurde das Geschlecht im Bezugsrahmen einer Natur gedacht, die das Geschlecht, mikro- und makrokosmisch verknüpfend, bald hier und bald da anbrachte, sodass das Geschlecht nur auf Umwegen und vor einem sich ständig verschiebenden Hintergrund zu fassen war. Es tauchte also als vieldeutige Chimäre auf, gegen die der Kampf um Eindeutigkeit nicht zu gewinnen war. Zum anderen das Register ‚Religion‘: Parallel zur Sozialisierung der Geschlechter mit ihren immer feineren Verästelungen in bürgerlichen Kontexten erhält sich noch geraume Zeit die Annahme der Zugehörigkeit zu einer geschaffenen Gattung. Im Bezugsrahmen der Theologie gilt, dass das Geschlecht der einen oder der anderen Art unterschiedslos verliehen wird wie ein Leben. Das Geschlecht gilt als Geschick, das von der Kirche mit dem Auftrag der Zeugung von Nachkommen verknüpft wird. Der große Einschnitt ereignet sich um 1800. Einhergehend mit dem neuen ärztlichen Blick, der die Körper seziert und den Tod aus der Unsichtbarkeit des Übels in die Sichtbarkeit der Krankheit befördert, öffnet sich auch die Sprache einem neuen Bereich. Fortan heftet sie ihre Aussagen strikt an das, was sich sichtbar zeigt und unterscheiden lässt. Was Foucault für die Krankheit feststellt, gilt auch für das Geschlecht und für dieses vielleicht vor allem: Die Einsetzung einer konstanten und angeblich objektiv fundierten Relation zwischen dem Aussagbaren und dem Sichtbaren identifiziert die einzelnen Körper in ihrer sichtbaren und gegen ihre Umgebung verschlossenen Kontur. Was in der Renaissance das Tafelbild und die Komödie geleistet haben, verschärft sich auf der Aussageebene um 1800 zur definitiven Festlegung und sprachlichen Codierung. Ab jetzt muss über den Sex gesprochen werden. Dabei stehen sich diskursive und materielle Praktiken nicht als beschreibende und erduldende gegenüber, sondern sind ineinander verschränkt. Sie materialisieren sich in dynamischen Phänomenen. Nicht in etwaigen ‚natürlich verkörperten Tatsachen‘, sondern in der fortlaufenden Überarbeitung und (Re-)Konfiguration von Körpern. In diesem Sinn spricht Foucault von einer ‚Verkörperung‘, die er mit epistemischen Praktiken verschränkt darstellt. Foucault schreibt: „Nur weil der Tod in die medizinische Erfahrung epistemologisch integriert worden ist, konnte sich die Krankheit von ihrem Status als Gegen-Natur befreien und sich im lebenden Körper der Individuen verkörpern“.332 Wiederum parallel dazu


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könnten wir hinzufügen, dass aus demselben Grund sich auch das Geschlecht von seinem Status als Chimäre mit kirchlich gedeutetem Auftrag befreien konnte, um sich im lebenden Körper der Individuen zu verkörpern, das heißt dynamisch zu materialisieren. „Wo war das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat?“ Was zuvor als Gegen-Natur, als göttliche Natur, als Totenreich, als ewiges Leben oder als Chimäre des Geschlechts galt, wird nun über die Einreihung des Todes unter die Gegenstände des Wissens vom Menschen, inkorporiert. Nicht das Nahliegende, sondern das Äußerste gilt es zu inkorporieren, das heißt, das weibliche oder männliche Geschlecht überhaupt zu lokalisieren und an sich selbst, restlos und im Detail, zur Darstellung zu bringen. Ab jetzt geht es nur noch um die Differenz, aber in materiell-diskursiven Praktiken, die restlos verfahren und vor lang gehüteten Trennungen wie die von Natur und Kultur nicht Halt machen. Um noch einmal einen Satz von Foucault zu paraphrasieren: ‚Im Bezugsrahmen des Todes wahrgenommen, sollen Krankheit und Geschlecht fürderhin erschöpfend lesbar werden und sich restlos der sezierenden Arbeit von Sprache und Blick öffnen.‘333 Ineinandergefügt erscheinen Tod und Verkörperung im „Licht der Sprache“, in einer Sprache also, die mit dem Blick amalgamiert ist. Foucaults Hinweise gelten Francisco de Goya und Marquis de Sade. Goyas Zyklus von 82 Aquatinta-Radierungen Die Schrecken des Krieges (1810-1814) handelt von den Leiden der Körper, die ihnen durch die Grausamkeit der Soldaten im Spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleons Besatzung widerfuhren. Die 120 Tage von Sodom (1785) handelt von vermeintlichen Libertins, die gemeinsam mit ihren Komplizinnen ein System mörderischer Sexualisierung errichten. Sie legen das neue Regelbuch der Menschenrechte als Selbstermächtigung aus und erteilen sich selbst jedes Recht zu jeglicher Übertretung. Da es sich um eine Nouvel Ordre Public handelt, muss die Gewalt ausgestellt werden. Es muss ‚vor den Augen der Welt‘ gelitten werden, damit sich auf Seiten der Schurken ein Genuss einstellt, der sich – wie der gleichnamige Spielfilm von Pier Paolo Pasolini (1975) zeigt – im Befehl zu einem gespenstischen, hohlen Lachen entlädt. Die epistemologische Neuorganisation von Krankheit und Geschlecht um 1800 macht Körper als tödlich versehrte und tödlich sexualisierte sichtbar. Ebenfalls ab 1800 entwickelt sich im Theater ein personaler Darstellungsstil und die Rolle beginnt, im übertragenen Sinn die Figur


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in einem Bühnenstück zu bezeichnen. Im Zuge dieser Entwicklung wird ‚Verkörperung‘ von der Ideologie des Schauspiels als Menschenschöpfung deklariert, um sich derart den Nimbus des Genius selbst anzumaßen. Unter dem Jubel des Schauspielernachwuchses heißt es zur ‚Verkörperung‘ in Burgtheater: „Mir derfen eine Rolle verkerpern! Mir derfen Menschenbildner sein!“334 Jede Idolatrie lässt sich kleinbürgerlich noch steigern: Je mehr sie das Theater zur Weihestätte von Gottbegnadeten stilisiert, umso ‚inniger’ stellen die ihre ‚hehre Kunst‘ in den Dienst ganzer Reiche und ihrer ganz Mächtigen.335 Diese Verehrung vergötterter Bilder begleitet das Gebot zur Aneignung eines Geschlechts, das sich im Doppelnamen von Geschlecht und Krankheit verallgemeinert und auf alle Individuen bezieht, wie die „Massenwesen“336 ab jetzt treffend heißen. Die Idolatrie bezieht sich auf Darstellung, das verallgemeinerte Gebot hingegen auf die Materialisierung eines Geschlechts, das alle, vermeintlich unteilbaren Individuen als dasselbe teilen oder besser gesagt, praktizieren. In Krankheit oder Moderne Frauen heißt es: „Wir sind total unterschiedliche Individuen. Wir sind total dasselbe. Wir sprechen nicht mit Unterschieden. […] Wir sind moderne Personen. Wir sind ungleich, aber ohnegleichen. Wir sind dasselbe. […] Wir sind unseresgleichen.“ (25) Die individuelle und sichtbare Aneignung eines von zwei Geschlechtern und ihre Praktiken aktualisieren amorphe, chimärische und heterogene Komponenten, die vormals die Peripherie unterschiedlicher Bezugsrahmen des Geschlechts ausmachten. Diese Komponenten unterlaufen nicht erst schlussendlich, sondern von Beginn an ontologische Unterscheidungen von Leben und Tod, Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Natur und Kultur und stellen sie infrage. Im Vorgang der Aneignung eines Geschlechts brechen Materialien des Äußersten Körper, die keine Behälter sind, von innen auf. Blicke, die sich auf sie richten, sind wie Projektionen eines ‚Inneren‘ organisiert und machen die Anblicke, die sich ihnen bieten, erst sichtbar. Darüber stürzen Körper (Figuren) in entsetzliche Verwicklungen. Blicke und Anblicke spalten die Körper in Fragmente. Mitunter lassen sie vom Zwang zur Darstellung des Geschlechts nur den motorischen Zwang übrig. Splitter erscheinen auf Bildflächen, füttern Splatterfilme und lassen den Film hinter sich. Andere Splitter fräsen sich in die Sprache und lassen ihre diskursiven Milieus hinter sich. Die splitternden Materialien verhalten sich distributiv, sie streuen sich aus und überschwemmen die modernen


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Erfindungen von Rolle und Figur, die unter ihnen zusammenbrechen (das war nicht schwer). Das Stück Krankheit oder Moderne Frauen führt diesen Zusammenbruch vor und erhebt ihn im analytischen Sinn zu seinem zentralen Gegenstand. Die moderne Reorganisation der Geschlechter entkleidet sukzessive nicht nur die zwei Geschlechter, sondern auch das „Menschengeschlecht“337, das in ihrem Namen aufgehen sollte in Mann und Frau. Es ist indessen nicht in ihnen verschwunden, sondern ganz anders aufgegangen, als gedacht. Das Geschlecht hat sich zwischen den beiden Geschlechtern, die es doch einhegen sollten, nur um so ungestümer vorgedrängelt. Im 20. Jahrhundert machen gouvernementale Regierungspraktiken und öffentliche Verwaltungen das Leben von ‚Massenwesen‘ zu ihrem ersten Anknüpfungspunkt, während die disziplinäre Überwachung des in seiner Sichtbarkeit konturierten Einzelkörpers nachlässt – zumindest in ihrem paradigmatischen Gewicht für die Gesamtheit normierender oder regulierender Regimes. Dabei geht es um Fokusverlagerungen, nicht um Ablösungen. Mikropolitisch arbeitet die Disziplinierung sexualisierter Körperwesen einer regierungstechnischen Erfassung von Gattungsmenschen entgegen, was vor allem mit dem Mechanismus ihrer Ausbreitung zusammenhängt. In der Welt des Sichtbaren, im grellen Licht der öffentlichen Sprache, der Blicke und Anblicke, können Krankheit und Geschlecht nicht damit aufhören, sich auszustreuen und auszubreiten. In Krankheit heißt es: „Die Welt des Sichtbaren ist wie ein Verwaltungsgebäude, in dem man die Duschen nicht abstellen kann: Etwas stimmt nicht, aber es ist einem egal!“ (36) Nicht nur historisch und systematisch sind die Geburt des klinischen Blicks und die Disziplinierung sexualisierter Körper einander inhärent. Schon das Nachwort zur Geburt der Klinik impliziert diese Engführung von Krankheit und Geschlecht, die Foucault in Sexualität und Wahrheit (1977) explizit macht. Krankheit oder Moderne Frauen schreitet diese Bezugnahmen aus. Unter der Ägide der Krankheit verlässt das Geschlecht das Spiegelkabinett der zwei Geschlechter, die sich in ihrer Asymmetrie noch nie ineinander gespiegelt haben (nicht einmal die Komödie hat das behauptet). Dichotomien338 versagen, wenn es um Prozesse geht, die nur vermischte Beteiligungen kennen. Im Stück Krankheit geht es um solche Prozesse. Zitiert wird das Schema der Spiegelrelationen und Dichotomien, um es als Schema unter der Ägide des Vampirs auszuhebeln. Der Spiegel entfällt nicht, er zeigt nur kein Bild. Auch mit


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der Verkehrung ins Gegenteil wird nicht gespart, sie entgleist nur mit schöner Regelmäßigkeit ins Weder-noch. Das Stück Krankheit besagt, dass die Struktur krank ist, mit der das Menschengeschlecht in der Sichtbarkeit zweier Geschlechter abgestellt werden sollte. Aber es lässt sich dort genauso wenig abstellen wie jene zitierten maroden Duschen im Verwaltungsgebäude, die man auch nicht abstellen kann. Das Geschlecht dringt als Thema der schieren Pluralität, die sich als solche nicht zu bezeichnen weiß, immer wieder hervor. Gattungs-trouble

Die Gattungsthematik wird in Krankheit mit „Carmilla“ verknüpft, die keine Rolle, keine Figur, sondern ein Name ist, der noch nicht einmal zum Stück gehört, sondern von woanders herkommt (natürlich auch nicht von Le Fanu). Daher die Frage an „Carmilla“: „Was für eine Gattung Mensch bist du überhaupt?“ (15) Carmilla ist ein Sammelname, unter dem hier die Wüste weiblicher Abhängigkeiten und Unterordnungen im Dienst der Reproduktion subsumiert werden: die Gattin, die vielfache Mutter, die junge Mutter, die bei der Geburt ihres Kindes sterbende Mutter, die Hausfrau, die Österreicherin, die Schöpferin leibeigener Kinder, die Arbeiterin am sexuierten Stammbaum, die Gebärende mit ihrem ‚Glück der Menschendarstellung im Kleinkind‘ (20), die Krankheit als modernes Sein. Carmilla als Ehefrau gebiert im Dienst des Ehemannes und Erzeugers. Sie ist das gynäkomorphe Gefäß, das seiner Zensur untersteht. Sie ist der studierte, öffentliche Unterleib auf dem Gynäkologenstuhl. Ihr Anteil am Erzeugnis ist die Sorge. „Carmilla spricht mühsam: Ich hoffe, du hast dir gestattet, diesem Kind ein menschliches Bild zu geben? Ich meine nur. Damit man es später, wo gewünscht, als Mensch erkennen kann. Damit man es nicht ausradiert oder mit Gas totmacht.“ (17) Carmilla wird angesteckt von der „Krankenschwester“ und lesbischem Vampir Emily und erwacht als Vampir „Carmilla“, die mit allem bricht, was unter diesen Namen bislang subsumiert worden ist. Die Ansteckung bezeichnet einen Typus der Vermehrung, die nicht auf sexueller Reproduktion beruht. Carmilla bricht mit der Arbeit am Stammbaum und der Genealogie im Namen des Herren und Übervaters: „Vater, es wird vollbracht sein.“ (65) Die Vampire Carmilla und Emily leben im Doppelsarg, trinken das Blut der Kinder aus. Emily als Kindsmörderin und Carmilla als die mörderische


Modernes Hospital um 1800. Modell für einen Bettensaal in Form eines Panoptikums, vom Architekten Achille Galant erfunden und am 5. Juni 1792 der Nationalversammlung präsentiert. (Model de Lits Inventé par Galant Architecte a Presenté à L’Assemblée Nationale le 5 Juin 1792.) Im Zentrum ist das Wort „recipiant“ notiert, das zwischen Behälter (récipient) und Empfänger (récipiendaire) changiert. Das Modell zielt auf die Einzelbewirtschaftung der Betten sowie die Trennung von Kranken, die einander nicht sehen. Der „recipiant“ ist von ringförmig angelegten Nischen („Lieux à Sangloise“) umgeben, in deren Bezeichnung das Wort für Schluchzen (sanglot) mitspielt: Die fast aufdringlich häufig notierte „Passage“ wird von einer Verwaltung der Tränen begleitet.


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Mutter („Medea“, 54). Sie werden zum „Säugetier“ (51), das selber saugend sich ernährt. Vampire, die sich nicht fortpflanzen, sondern anstecken, gehören den speziesübergreifenden Zwitterwesen zu. Es lohnt sich, bei diesem Bild ein wenig innezuhalten. Es geht hier nicht um eine kämpferische Rücknahme der mütterlichen Produktion oder um die emanzipatorische Geste einer Mutter, die lieber saugt, als zu säugen und sich aussaugen zu lassen. Viel eher handelt es sich hier um eine Involution, mit der in der Medizin die natürliche Rückbildung eines Organs bezeichnet wird, das nur begrenzte Zeit aktiv ist, wie zum Beispiel die Gebärmutter nach der Entbindung. Der Entwicklungstypus der Involution ist nicht zerstörerisch oder regressiv, sondern aufbauend, er gehört einer Ordnung des Werdens zu. Jelineks Bilder in Krankheit sind völlig verschieden etwa von denen, die Heiner Müller am Ende der Hamletmaschine für Ophelia verwendet: „Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie mit meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.“339 Das sind die Worte des Aufstands, der versucht, das Schema der zwei Geschlechter zu vergiften und das Schema selbst umzukehren, ohne es jedoch antasten zu können. Das Ophelia-Modell wehrt sich gegen die Reproduktion, aber in ihren verzweifelten Verbalradikalismus sind die Regression und die Selbstauslöschung schon eingeschlossen. In diesem Sinn führt Heiner Müller das Bild auch zu Ende: „Männer ab. Ophelia bleibt auf der Bühne, reglos in der weißen Verpackung.“ Die Bilder in Krankheit hingegen entfernen sich vom Schema der zwei Geschlechter. Das Vampir-Modell präferiert die Ansteckung anstelle von Abstammung und Filiation. Anstelle des schlichten Dualismus der Geschlechter, berührt es die heterogene Vielgeschlechtlichkeit und die Ungeschlechtlichkeit der Gattung in einem. „Auf einmal ist ihnen das Geschlecht nicht mehr tödlich und ernsthaft! Sie betrachten es nicht mehr als Körperhygiene. Es bricht aus ihnen hervor. Ein Springbrunnen. Plötzlich ist ihnen das Geschlecht nur eine Gefälligkeit unter vielen.“ (51) „Der Vampir ist geistig Kind“ (56) heißt es. Emily und Carmilla gehen vor die „Fruchtbarkeit“ (55) zurück. Wieder drängt sich eine Unterscheidung zwischen bloßer Regression und Werden dazwischen: „Ihr werdet wieder Jungfrauen.


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Ihr werdet rückläufig. […] Wo ist euer schönes Geschlecht?“ (55) Sie verkörpern es nicht mehr. Sie gehen einer Art des Werdens nach, die nicht zurückführt. Von Vampiren behaupten Deleuze/Guattari in einer fiktiven historischen Notiz, dass sie um 1730 in aller Munde waren.340 Also etwa zu jener Zeit, in der sich die Definitionen des klinischen Blicks darauf vorbereiten, die Körper in ihrer Sichtbarkeit zu erfassen, Krankheitsbilder festzustellen und Geschlechteridentitäten feinmaschiger zu normieren, werden Vampire zu geflügelten Wesen und sammeln, was sich zwischen Mann und Frau sonst noch an nicht feststellbaren Geschöpfen tummelt. Als Zwitterwesen korrespondieren sie mit älteren Schwellenwesen. Krankheit weist auf subkutane Korrespondenzen mit weit zurückliegenden Schwellenzeiten hin, indem auf die griechische Tragödie, auf die Kultanhängerinnen des Dionysos und deren Unwahrnehmbar-Werden angespielt werden. Emily und Carmilla nehmen die Züge einer „Mänade“ (61) an. „Carmilla: Wir verbergen scharfes Heidentum. Wir sind leidenschaftlich. Wir leiden nicht. Furchtlos haben wir Mitleid, müssen uns verstecken. Wir sind machtlos.“ (61) Im letzten Bild verschmelzen Emily/Carmilla zu einem monströsen, unbeweglichen „Doppelgeschöpf“ (72), das von zwei Jägern, die sich gestern noch als ihre Männer vorstellten, abgeschossen wird. Im Doppelgeschöpf, das als „Landschaftsauswuchs“ (74) erscheint, geht die Thematik sexueller Identität und Reproduktion zu Ende. Das Doppelgeschöpf ist ein Tier oder ein monströser Säugling. Es spricht nicht, es trinkt, isst und verdaut. Das Thema der zwei Geschlechter wechselt in das Thema einer amorphen, anonymen Vitalität nicht des Lebens, sondern des Lebendigen. Mehr geht nicht, das Stück muss ein Ende haben. Es handelt sich indes um ein Ende wie im Fall der Parabel, deren Enden ihrerseits kein Ende haben. Eben noch hat eine „Frauenstimme vom Band“ das Stück im Stakkato für uns zusammengefasst: „Das Bild muß ins Innere. Die Frau muß ab. Trennen Sie den Körper vom Land. Der Vollzug tagt.“ (69) Das heißt, es hat uns erwischt und wir sind mittendrin. Jelineks Stück rührt an den Gattungs-trouble aus archaischer Zeit und berührt die offenen Fragen der sozialen Reproduktion, die in der Antike mit der Leitidee einer Wiederholung des Menschen durch je zwei Menschen einer hochproblematischen Lösung zugeführt wurden: „Trennen Sie den Körper vom Land.“ Körper haben sich im symbolischen Milieu der Polis und im Rahmen ihrer genealogisch


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gehüteten Fortsetzung vom Land getrennt. Sie haben sich damit auch von jenem ungeschlechtlichen Gattungskörper getrennt, der den sexuierten, genealogisch orientierten Körpern als Werdensgrund vorangeht. Die differenziellen Bewegungen dieses Werdensgrundes gehen den codierten Körpern voraus und übersteigen sie. Das ist eine andere Formulierung dafür, dass die in den Polis-Kanälen organisierten Körper in die ereignishaften Bewegungen jenes Werdensgrundes eingefaltet bleiben. Auch wenn diese Bewegungen unwahrnehmbar werden, auch wenn sie sich jenseits der Sichtbarkeiten zutragen, auch wenn sie sich auf das Somatische verlegen, bleiben Körper mit den sich ereignenden, amorphen Werdenskräften verwoben, während die sexuelle Reproduktion dem oikos zugeschlagen wird, der Ökonomie eines Hauses und seiner Produktion. Unlösbare Asymmetrien wie diese erlauben es nicht, dass eine Trennung des Körpers vom Land jemals abzuschließen ist. Die Trennung wird angeordnet. Das Bild muss ins Innere, dahin, wo es die Blicke projiziert haben. Die Frau geht ab. Eine derartige Trennung wird vollzogen, indem der „Vollzug tagt“. In Krankheit oder Moderne Frauen entwickelt Jelinek einen Gestus, der geeignet ist, die Einrichtungen der geometrischen Optik der Widerspiegelung mit ihren Bühnen, Rollen, Figuren, Entitäten, Geschlechtern, Repräsentationen, Reflexionen etc. wirklich einstürzen zu lassen. Und zwar deshalb, weil ihr Gestus darin besteht, etwas zu lassen, zu verlassen, zu verwerfen, wegzuwerfen, zu entfernen und sich zu entfernen und dies alles zu vollziehen. Es geht nicht mehr um die Produktion mit großem P und den Aufstand dagegen. Es geht nicht mehr um den Bruch, die Überwindung, den Anti-Diskurs und die Anti-Produktion, sondern um das Verlassen des Musters. Sich entfernen und den Menschen dort zurücklassen, wo er hingehört: ins Bild. Von der Behauptung übergehen in eine Tätigkeit, die enthauptet.


Wolfsmenschen mit Brüsten auf etruskischen Vasen etwa um 600 v. Chr.


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Im Abseits. Theater schreiben

Wie entdeckt Jelinek den Chor? Wie entstehen Jelineks chorischmonologische Suaden mit ihren fluiden, wechselhaft gegeneinander und ineinander übergehenden Sprecherinstanzen? Mit ihren abrupten Wechseln zwischen Ich und Wir, ihren unvermittelt dazwischenfahrenden Anreden: hören Sie! Woher dieses unverwechselbare Glissando ihrer Sprache? Ich glaube, es ist die weggeworfene Rolle Frau, aus der alle weiteren Schritte hervorgingen. Weder logisch noch folgerichtig, sondern durch ein Ereignis, das sich rhizomatisch ausbreitet und alle Fragen in mikrologischer Manier erfasst. Dieser schon zu Beginn unerbittlich geschürzte Knoten hat weiterhin mit einem Merkmal dieses Werks zu tun, welches in der inflationären Rede von den Textflächen immer wieder unterzugehen scheint: Nämlich, dass dieses Werk von der Frage des sprechenden Körpers aus insistiert. Dieser Körper ist als geschlechtlich zwanghaft identifizierter Körper, als Rollenkörper und als vermeintlich natürliches, unentgeltliches Beiwerk irgendeines Erscheinens verworfen, aber als Frage des sprechenden Körpers ist er nicht erledigt. Als Körper auf einer Bühne, aber auch als Gegenstand einer niederen Mimesis und eines alltäglichen Wissens sind (Chor)Körper nicht verworfen. Leisten Intertexte wirklich die ganze Arbeit?

In vielen Kommentaren scheint es so, als würden Jelineks Textflächen derart ausufern, weil es die Wirklichkeit in den social media news, Nachrichten und Liveticker selbst tut. Als „eine ‚Moralistin‘ der schlechten Wirklichkeit“341 fährt Jelinek den medialen Blasen mit der Absicht einer Entlarvung kontaminierter Reden dazwischen – und perpetuiert sie damit in gewisser Weise. Aber ist in dieser Erklärung nicht auch eine gewisse Abwehr zu spüren? Wehrt ihr Rationalismus nicht in gewisser Weise die Mimikry ab, mit der sich sprachliche Verfahren Jelineks an „schlechte Eltern“342 anschmiegen? Neigt sie nicht dazu, Jelineks sprachmimetische Entstellungen für bloße Obsession zu halten? Oder für eine bloße Metapher der dichterischen Arbeit mit der Sprache selbst, sodass ein Vampir stets für den strukturellen Vampirismus einer sich entziehenden Sprache einsteht? Anstelle eines Pandämoniums der Pornografie wie in Lust (1989) werden dessen sprachliche Wirkungen als Intertexte analysiert und führen dieserart auf die bekannte Einsicht zurück, dass


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„der Inter-Text die Unmöglichkeit außerhalb des unendlichen Textes zu leben [ist] – ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist“343. Aber leisten Intertexte wirklich die ganze Arbeit? In Lust heißt es: „hören Sie! Die Sprache selbst will jetzt sprechen gehen!“344 Aber gibt dieser Ausruf schon die ganze „Spielregel des Textes“345 ab? Woher diese Suche nach einem Haken, an dem sich die strömende, vielleicht unerträgliche Rede der Texte irgendwie festmachen lässt? Lektüren wie die hier zitierte von Stephanie Kratz legen nahe, dass es immer wieder um den Skandal der weggeworfenen Rolle geht, um den Skandal, dass Jelineks Figuren nicht sprechen. Das Verhältnis zwischen Figur und sprechenden Körpern wird so aufgefasst, als ginge es Jelinek um eine „Austreibung der Sprache der Lebenden“346. Damit wird Jelinek die Absicht eines Programms unterstellt, das „Programm einer permanenten Defiguration“347 etwa. Zum anderen wird Intertextualität selbst zum Programm überhöht, indem die sich multiplizierende Aktivität von Texten im Verhältnis zu anderen Texten eine Vervielfachung der Bezüge zur Folge hat, denen mit akribischer Verweissuche nachzugehen ist. In jedem Fall bleiben jedoch die Körper (wie Hunde vorm Fleischerladen) draußen. Die Frage des sprechenden Körpers entfällt genauso wie die Frage nach einem Theater, das nicht mit seinem Betrieb übereinkommt oder die Frage nach dem Ort der Autorin. Wenn es um „Texttheater und Theaterlektüren bei Jelinek“ geht, sind die zwecklosen Körper an der Garderobe abgegeben worden, aber der Sinn ist nicht egal, sondern tritt als Rationalismus-, Patriarchats- und Repräsentationskritik auf und erklärt diese Kritik wie selbstverständlich auch zur Generalaufgabe von Theater (das nicht danach gefragt wurde). Hingegen Jelinek: „Die Macht will sich selbst auf Personen aufteilen. Sie will nicht, daß ein Autor das tut. Dagegen kann sie sich aber nicht wehren. Jetzt spreche ich.“348 Bei Jelinek heißt es nicht, wie im Fall einer auratischen Sprachauffassung: „Die Sprache spricht“349. Jelinek sagt vielmehr, dass sie „die Sprache sich selbst im Schreiben und im Sprechen entlarven lassen“350 möchte. Im Schreiben, im Sprechen (und im Lesen) sind aber die Körper wieder dabei, jedoch nicht als Bild oder als Entität. Schreibend, sprechend oder lesend geöffnete Körper insistieren als Frage des Ortes, den sie aufspannen. Und mit dieser Frage nach dem Ort verschieben sich repräsentationslogische Fragestellungen in den Bereich der Topologien, an dem wir nicht Figuren antreffen, sondern Orte und


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Namen. Mit Orten und Namen entsteht auch die eröffnende Figuration des Theaters: der Ort des Chors als ein vielstimmig geöffneter Sprachort. Er bewirkt, dass sich das Einzelwesen in seiner Fassung als Relationsbündel entpuppt. Einzelne mögen Namen tragen wie Nora, Andi, Elfie Elektra, Jackie, Ulrike Maria Stuart etc., aber den Grund für ihre Namen haben sie ausschließlich als Produkte einer unabsehbaren Verwobenheit mit abstrakten Verhältnissen jeglicher Art, die das Einzelwesen ursächlich, vorgängig und sehr viel weniger speziell als gedacht durchziehen. Namen gleichen Verkehrsknotenpunkten von Außenbezügen, die sich in den Vordergrund, an den vakuumgewordenen Ort des Protagonisten drängen. Hier platzt dann der Knoten oder er kann geöffnet werden: als Wimmelbild oder als Sprachort eines schier endlosen chorisch-monologischen Sprechens. Über Namen (Topologie)

Für das Verhältnis von Name und zugeschriebener Rede ist der Dialog über den Dialog 351 von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe aufschlussreich. In Bezug auf jedweden klassischen dramatischen Text betont Nancy, dass der Name „gewissermaßen außerhalb des Textes selbst“ stehe und einen „Quasi-Text“ bilde, der „von aller Syntax entbunden ist“. Der Name bezeichne eher einen „Ort (des Aussagens)“ als eine Figur im figürlichen Sinn. Zudem gelte für einen Namen im dramatischen Text, dass er stets zu mehreren Namen gehöre, zu einer ganzen Topologie von Orten des Aussagens. In ihrem, ihnen inhärentem Zusammenhang bilden die Namen „eine Topologie derer, die präsent sind, während der eigentliche Text die Präsentierung dieser Präsenten übernimmt“. Nancy spricht von Präsenten/Anwesenden, die nicht einfach anwesend sind, sondern an der Stelle dieses Seins gerade nicht sind, während der eigentliche, also der zur Aussprache bestimmte Text, die Funktion übernimmt, diejenigen, die am Ort des Aussagens nicht sind, zu disponieren. Der Name bezeichnet mithin einen Ort des Aussagens, aber erst seine Öffnung im Aussprechen ermöglicht die Mitteilung der Stimmen (partage des voix). Aufgrund dieser anfänglichen Teilung wird die Theaterfigur jedoch nie voll. Oder wie Nancy hinzufügt, „vom Faktum dieser anfänglichen Teilung bleibt bis zum Schluss etwas Topologisches zurück, das den Theaterfiguren anhängt.“ Das heißt, sie bleiben in der Ordnung einer Anwesenheit äußerlich. Niemals können sie zu Figuren werden, die sich präsentieren.


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Noch einmal gut zehn Jahre früher als dieser Dialog über den Dialog 352 nimmt Jelinek ihre Auseinandersetzung mit dem Status der Theaterfigur auf und eröffnet ihr erstes Stück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hat oder Stützen der Gesellschaft mit „Nora“, die als Theatername auftritt und damit bestätigt, dass der Name außerhalb des Textes steht, also wandern kann. Als Name ist „Nora“ weiterhin Teil einer Topologie, denn es ist nicht möglich, von einem Ort im Singular auszugehen. Als Ort einer Disposition und durch dessen Logik strukturiert, führt „Nora“ andere Topoi mit sich, andere Theaternamen und schon gehandelte Bezüge (das Puppenheim, das Geld oder das Subjekt-Objekt-Verhältnis von Mann und Frau). Jede Rede, die im Stück von Jelinek durch die vier Buchstaben „Nora“ angeführt wird, kommt aus einem Woanders, das aber auch nicht einfach mit dem Namen Ibsen übereinkommt. „Nora“ ist weder Original noch Zitat, sondern ein Name, der aufgrund seiner Autonomie auch die heftigen Auseinandersetzungen anführte, die zur Zeit Ibsens im Namen von „Nora“ über die weibliche Emanzipation geführt wurden. Jelinek knüpft hier in doppelter Weise an: zum einen nimmt sie „Nora“ mitsamt ihrer Topologie als wandernden Theaternamen ernst, zum anderen entreißt sie der Diskursmaschine „Nora“ den Emanzipationsdiskurs. Auch für „Nora“ gilt bei Jelinek: „Ich führe Personen auf die Bühne, die die Macht wie einen ausgezogenen Fetzen hinter sich herschleppen, und wenn der Fetzen bis ins Kleinste noch weiter zerfetzt ist, zerfetzt sich die Macht irgendwann selbst.“353 Die Aussagen, die „Nora“ im Stück Jelineks zugeordnet werden, zerfetzen sie als Theaterfigur und als Diskursmacht. Ein anderes Beispiel für die Produktivität solcher ‚Quasi-Texte‘ der Namen ist das Stück Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit. Die Genre-Bezeichnung signalisiert, dass die Arbeit der Autorin auch einer Handarbeit gleicht, hier einer Häkelarbeit, bei der mit der Häkelnadel Stab um Stab die Lettern aufgenommen werden und ein Stück ergeben, in dem jeder Mann „Stab“ heißt. Der Titel ruft eine schier unglaubliche Vieldeutigkeit auf. Das Stück behandelt den Meuchelmord an vier Roma im Burgenland, die bei ihrem Versuch, ein Schild („Roma, zurück nach Indien!“) zu entfernen, durch eine Sprengladung, die am Ende des Steckens im Boden befestigt war, in die Luft gebombt wurden. Stangl ist Franz Stangl, der Name des KZ-Kommandanten von Treblinka, verantwortlich für den Tod von nahezu einer Million Juden. Ein Journalist, der in Wirklichkeit ausgerechnet Richard Nimmerrichter heißt, hetzte als Kronen-


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Kolumnist alias Staberl jahrzehntelang triebtäterhaft gegen alles, was ihm nach Opposition roch. Stecken und Stab sind dem Psalm Davids Der Herr ist mein Hirte entliehen, dessen Trostversprechen den falschen Leuten seit jeher zu ihrer sonntäglichen Selbstberuhigung dienten und dienen. Jelineks Text schlägt vor, dass die Schauspieler während der Aufführung ständig häkeln, sich aneinander festhäkeln oder wieder auseinanderhäkeln. Die Häkeldecke bezeichnet Jelinek in einem Interview als „äußerste Parodie“ für einen „Boden […], der natürlich jederzeit aufzutrennen und zu zerreißen ist. Denn diese Decke über unserer Geschichte wird immer wieder aufreißen […] unsere Geschichte, auch die deutsche, wird uns weiterverfolgen. Je öfter sie für beendet erklärt wird, je öfter wird sie uns verfolgen.“354 Die elastische Komposition dieses Stücks ist außerordentlich. Sie versammelt die Verbrechen in den KZ-Krematorien und ein tagesaktuelles Verbrechen als mörderische Handarbeit sowie die Boulevard-Medien als Häkelarbeit an einer Decke wie ein Teppich, wie ein Boden, der nichts hält. Jelinek komponiert diese Handarbeiten mimetisch und kontrapunktisch zugleich. Ihre Sprachpraxis beschreibt sie als „dieses in fremden Zungen reden, so wie der Heilige Geist als Zunge über den Köpfen der Gläubigen schwebt“ (ebd.). Deutlich tritt die Plastizität unendlich faltbarer und gefalteter Außenbezüge in den Vordergrund. Jede Oberfläche löst sich, wenn sie topologisch gewendet wird, aus der ermüdenden Konkurrenz der Dimensionen. Sie wird zu einem porösen Schwellenraum, der Tiefeneffekte jeglicher Art in seinen Vordergrund aufsaugt. Aus der Tiefe der Oberfläche sprechen „fremde Zungen“ uns an. Dabei macht es einen Unterschied ums Ganze, ob wir alle denselben Bedingungen unterliegen, die wir natürlich jederzeit kritisieren können, oder ob wir angesprochen werden. Disponierte Körper

Wird die Rolle Frau verworfen, muss die Theaterrolle folgen. Ein Ensemble lässt sich schlecht nur halb in die Tonne treten. Die Theaterrolle gehört zur Epoche der Rollen. Sie kann daher nicht nur teilweise entfernt oder bloß anders verteilt werden. Wird die Rolle jedoch als Topologie entdeckt und als Netzwerk entfernt, bleiben keine ‚Personen‘ auf der Bühne über, sondern disponierte Körper. Körper sind, sobald sie auf einer Bühne erscheinen, schon einer Anordnung gefolgt, die im szenischen Dispositiv vorliegt.355 Schauspieler in diesem Dispositiv – und woanders können sie nicht auf-


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treten – sind per se körperlos. Das leuchtet für den Film ein, der ihren Körpern die Lichthaut abzieht, gilt jedoch auch für die Bühne, die ihre Körper augenblicklich mit einer bestimmten Abwesenheit durchzieht, sodass ein Körper auf der Bühne nie weiß, wohin mit sich. Disponierte Körper gehen aus einer anfänglichen Teilung hervor, die sich in der Zeitlichkeit der Bühne nicht verbraucht oder verringert, sondern vervielfältigt. Das Spielen, Sprechen spannt die Körper auf, verwickelt sie in ein verzweigtes Anderswo und faltet die vermeintliche Anwesenheit dieser Körper in sich ein. Zeitverschiebungen im Spielen, im Sprechen implizieren Ortsverschiebungen. Keine Geste, kein gesprochenes Wort kommt je zurück. Sie sind fort und lassen dadurch die Körper, wie im Tanz, in verschiedene Zustände auseinandertreten. Nur die Vorstellung, der Körper sei im Raum, lässt ihn für uns zum Bild gefrieren. Doch das szenische Dispositiv ist kein Raum, sondern Bedingung einer Disposition. Schauspieler in diesem Dispositiv gleichen, ganz so wie es der medizinische Begriff der Disposition besagt, einem anfälligen Körper. Ein Dispositiv ist nicht bewohnbar, sondern überträgt sich als unbestimmte Spannung, die den Raum in den Körpern und ihre Aufspannung als Ort bewirkt. In ihrer Poetologie der Bühne spricht Jelinek schon sehr früh dieses szenische Dispositiv an, wenn sie in Ich möchte seicht sein356 ein Theater zurückpfeift, das nur „Darsteller von Darstellern“ kennt und stattdessen vorschlägt: „Wir machen vielleicht einen Film aus ihnen […] Aber einen Film als Theater, nicht ein Film als Film!“ Damit wird nicht nur eine fällige Medienkonkurrenz unterlaufen. Im Topos ‚Film als Theater‘ wird auch die Körperlosigkeit und die spezifische Abwesenheit disponierter Körper vollständig erfasst, ihre Anfälligkeit und Aufspannung für etwas, ohne „sich selbst zu bedeuten“ (ebd.). Sinn egal. Körper zwecklos setzt diese Poetologie der Zwecklosigkeit disponierter Körper fort und insistiert: „Sie dürfen aber auch nicht sie selber sein wollen. Das Allerschlimmste ist, wenn sie was sie da werden sollen mit dem in Übereinstimmung zu bringen suchen, was sie bereits sind.“ Mit Unbedingtheit hält dieser Text fest: „Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.“ Das Sprache-Sein und die Bedingung des Auftretens werden in diesem Satz zu einer einzigen Bewegung verbunden. Obwohl das Sprache-Sein in diesem Satz eine Folge oder Relation abwehrt, handelt es sich bei den Substantiven „Schauspieler“ und „Sprechen“ doch um eine Konjunktion, die hier durch eine Zuschreibung (SIND),


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durch einen harten Schnitt, der einem Urteil gleicht, signalisiert wird. Die Zusammensetzung selbst deutet auf die Extension hin, in der disponierte Körper im Sprechen weder dieselben noch bei sich bleiben. Diese Ausdehnung affiziert andere, die sich ihrerseits exponieren – Körper, Punkte, Zonen, Stimmen, Stoffe, Intensitäten. Das Ineinander- und Auseinanderfallen all dieser Verschiedenheiten setzt sich fort. Dabei wird jedes einzelne Teilchen immer mehr von sich selbst verschieden und die Teilchen untereinander werden niemals ein Ganzes. Der Versuch, die Entstehung einer szenischen Assemblage zu beschreiben – Körper, die ohne darstellerische Aufgabe zum Transport einer Figur sich zwecklos einstellen, mithin nicht sich stellen, sondern einstellen und Eingang nehmen, indem sie sich exponieren, unversehens unter anderen und unter anderem – verwandelt sich unweigerlich in eine Beschreibung des Chorischen. Nur die szenische Assemblage des Chors entspricht diesen zwecklosen Körpern, die das „Sprechen SIND“. Chorkörper SIND sprechende Körper, aufgehängt „im Schacht einer anderen Dimension, die nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater ist“. Begreifen wir hier den „Schacht einer anderen Dimension“ als den Außenbezug, den der Chor inmitten von Gründungs- und Selbstbehauptungslogiken aufrechterhält, weil er von woanders kommt, dann haftet dem Chor von daher etwas an, das „nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater ist“. Es begleitet ihn etwas, das wie eine Erinnerung an die Werdenskräfte eines energetischen, formlosen Kosmos wirkt und daher Wirkungen zeitigt, wie sie Deleuze und Guattari für das moderne Zeitalter des Kosmischen ausmachen.357 Wie das Auffangen von Kräften, dem sich etwa das Sichtbarmachen Paul Klees verschrieben hat oder wie die Landschaften Cézannes, die von magnetischen und thermischen Kräften durchzogen werden, verhält es sich auch mit einer chorischen Assemblage, die sich aus somatisch-affektiven Kontaktnahmen zusammensetzt, die ein Chor weder selbst verursacht hat, noch zu rahmen weiß – obwohl die Aktivität des Chorischen nicht ohne Wissen ist. Mit dem Sprachort des Chorischen und mit seinem Wissen steht Jelineks Schreiben in engstem Kontakt, auf diese läuft es zu, mit diesen verläuft es sich und vervielfältigt sich unablässig.


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Inversionen

Bildoberflächen lassen sich topologisch wenden, das Möbiusband hat es vorgemacht. Doch wie lassen sich topologische Verfahren der Inversion in die Domäne von Figuren und Körpern übertragen, zumal Körper von Lebewesen sich ja nicht ohne Weiteres umstülpen, falten oder möbial verknoten lassen? Wie Wolfram Pichler am Beispiel des bildenden Künstlers Dieter Roth zeigt, der sich mit der Figur unter dem Diktat ihrer Sichtbarkeit befasst hat, lässt sich die Zwischenräumlichkeit als eine eigene Gestalt und als eine eigene Subjektivitätsform auffassen.358 Subjektivierung spielt sich nicht in einem Subjekt ab, sondern im instabilen, sich in unendlicher Selbstdifferenzierung entfaltenden Zwischen-Mehreren. Subjektivierung ist offen zur Alterität hin. Unter zwischenräumlichem Aspekt werden die partizipierenden Figuren oder Körper Teil der Entfaltung einer Subjektivierung, die ihnen nicht zugehört. Mehr noch: Partizipierende wären dann ohne ‚eigene‘ Subjektivität und von ihren Umwelten derart durchdrungen und „so vollkommen nach außen gekehrt, dass zwischen Innen- und Außenraum eine reversible Beziehung besteht“359. Ihre unendliche Verwobenheit mit einem vorgängigen, nicht-metrischen Außen entfaltet „unmögliche Möglichkeiten“360. Wie beim Möbiusband verwehrt die komplette „Auswendigkeit dieser Figur“ die Schließung jedweder Figur, übertreibt sie ins Drunter und Drüber. Aber nicht als Utopie, sondern als Notwehr. Wie lässt sich Topologie inkorporieren? Ein solches Unterfangen gleicht dem Versuch, im eigenen Körper umzukehren. Sie demoliert ihn notwendig und lässt ihn hinter sich – um zu sprechen. Die Frage insistiert vom Visuellen her lässt sich auch nur vom Visuellen her mit der notwendigen Radikalität stellen. Einer Trägheit unserer Fantasie zufolge sind wir ständig bereit, auch nur die geringsten Hinweise für die Vorstellung von Körperbildern zu verwenden. Innerhalb dieser Phantasmagorie gilt es umzukehren, bis sich der Hintergrund an die Stelle einer Figur im Vordergrund schiebt und diese ersetzt. Wir könnten aber auch sagen: bis sich die Zwischenräumlichkeit und das Feld der chorischen Bezugnahmen an den vakuumgewordenen Ort des Protagonisten schieben. Dabei lassen sie diesen Ort aufplatzen, sie vervielfältigen ihn. Wie, das ist egal, ob als Wimmelbild oder als sprachliche Gebilde ohne Anfang und Ende oder beides in einem. Immer entstehen Räume ohne Vordergrund, flachen Räume, die sich jetzt erst recht als


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Räume verhalten, die sich ausstreuen und zu allen Transformationen fähig sind, welche biegsame und mit einem Außen innig verwobene Räume auszeichnen. In ihrem Text Es ist Sprechen und aus, der 2013 als Grußbotschaft an das Wiener Burgtheater ging, das seinen 125. Geburtstag feierte, illustriert Jelinek die Unmöglichkeit, die inkorporierten Topologien ihrer Texte in bildhaft geschlossene Figuren stopfen zu wollen. Sie brechen aus ihnen hervor wie ein Chor. Jelinek sagt von ihren Texten:

„Man hat sie oft mühevoll in eine Figur gezwängt, eingenäht in ein Raubtier, wie die sechs minus einem Geisslein (das dann eine größere Rolle übernehmen darf als seine Geschwister), die auf einmal, völlig überraschend, Steine waren und sogar einen Wolf täuschen konnten, bis der den Abgang in die Versenkung gemacht hat. Oder all die Krieger (einer von ihnen wird schon im Vorhinein von Odysseus erstickt, damit er seinen Text nicht mehr bringen kann), die, hineingezwängt in das Trojanische Pferd, hinter dieser rasch, in nur drei Tagen, zusammengeschusterten Kulisse auf ihren Auftritt warten: Gleich werden sie, mitsamt ihren Kollegen im Chor, aber nicht als Chorknaben, über die Stadt herfallen! Doch diese, jede Hülle platzt auf (als wäre das Chaos nicht schon groß genug oder als wäre es nicht klein genug!) und gibt etwas frei, das im Augenblick des Sprechens aber schon wieder verschwunden ist.“361

Räume ohne Vordergrund bilden keine bloß virtuellen, luftigen Gebilde. Vielmehr lassen sie die Bildhülle aufplatzen und werden zum Interface und zur Phasengrenze zwischen zwei vermeintlich inkompatiblen Ebenen: Sprach-Flächen und Chor-Körper berühren einander. Mit ihren permanenten Ein- und Ausfaltungen berühren sich Sprachwissen und das alltägliche Wissen beliebiger Körper: gewichtig wie Steine, vielzählig wie Geißlein, namenlos wie die Krieger vor Troja. Getötet, vergiftet, drogiert, von Organauflösungen überschwemmt wie im Fall des toten Leistungssportlers Andi. Für ihre minutiösen Sondierungen auf schier endlosen Sprachflächen lässt Jelinek das Wissen der Sprache zu Wort kommen und dramatisiert dieses Wissen immer wieder in Berührung mit den Ereignissen beliebiger Körper. Bis ich am Boden aufschlage, sagt Jelinek.362 Die unwahrscheinliche Begegnung von Sprach-Flächen und Chor-Körpern ereignet sich nicht von selbst. Sie bedarf einer ebenso unwahrscheinlichen Arbeit, die zwingend von einem dritten Ort ausgeht, den Jelinek als „Abseits“ beschreibt.


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Die Autorin als Sprachort

In ihrer Nobelpreis-Rede Im Abseits positioniert Jelinek ihr Schreiben zwischen zwei Räumen, denen gegenüber sie ihr Schreiben als Nachschrift, als Nachsagen, als Abfall charakterisiert. Diese beiden Räume sind zum einen das unaufhörliche, ununterbrochene Murmeln der Sprache in den Medien, zum anderen der poetische Raum als ein ungeordneter, chaotisch quellender Raum aus Sprache. Dazwischen ist die Dichterin mit ihrer Sprache unterwegs im Abseits, auf einem schmalen Pfad, kaum zu sehen, der Weg des Schreibens, eine verwischte Spur, man ist gar nicht da. Die Sprache wird als ein eigenartiger Hund beschrieben, der gerne zu den anderen auf dem Hauptweg überläuft, zu denen, die mitten im Leben stehen wie man sagt. Diese Leute reden in einem fort. Es ist immer nur ein Reden, sagt Jelinek, kein Sprechen. Jelinek befindet: „Diese Sprache mag mich nicht, sie ist ungehorsam. Sie läuft wie ein Hund neben diesen Leuten her. Sie wird sich überfressen an der Wirklichkeit auf diesem Hauptweg.“ Da die Dichterin ihr Abseits niemals verlässt, vollzieht sich der Kontakt mit ihrer Sprache über das Hören-Sagen. Die Sprache schreit ihr ins Ohr. „Ich soll einfach sagen, was sie mir vorsagt.“363 Im Nachsagen ändert sich der Status des Sagens: „Das Sagen meiner Sprache, da sie sich von mir getrennt hat, ist sofort ein Aussprechen geworden.“ Keine Aussprache mit jemandem, eher ein prüfendes Aussprechen, das „jederzeit und immer noch verbessert werden kann“. Dieses Aussprechen ist adressierte, zeitoffene Rede, die auf nichts berechnet ist und mit nichts rechnen kann. Jelinek beschreibt dieses Aussprechen als einen isolierenden Akt. Sie begrüßt ihren treulosen Gefährten mit den Worten: „Ich dachte, du wolltest nicht mehr zu mir zurück. Ich erkenne dich ja gar nicht wieder.“ Dann kommt das Nachsagen, das zum Aussprechen wird. „Der Rückstoß dieser Sprache“, sagt Jelinek, „treibt mich immer weiter ins Abseits hinein“, während der Hund Sprache sich „dort drüben“ kraulen und liebkosen lässt. Auch wenn ihre Sprache „derzeit nicht zu Hause ist“, hört sie die Sprache: „Sie sagt umso mehr, je ferner sie mir ist. Das Nachgesagte ist jetzt das eigentliche Sagen. Man soll der eigenen Sprache nicht zu nahetreten. Sie verspricht mir alles, wenn ich ihr bloß nicht nahekomme. Dabei ist es meine. Wie finden Sie das?“ Der Raum der Talkshows, der Fernsehmoderatorinnen, der Nachrichtensprecherinnen, der offiziellen politischen Diskurse, der Internetforen, der Sender, die dauernd etwas senden, sagen, meinen


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und labern und nicht gehört werden, aber Jelinek hört sie. Es ist ihre Sprache, die dort schreit, „damit sie fortbleiben kann.“ Jelinek spricht ihr nach und dabei durchläuft die Sprache ein Korrekturband, das Jelinek ebenso wenig gehört wie ihre Sprache. Im Korrekturmodus gehört ihre Sprache einem anderen unpersönlichen Raum zu, der noch viel größer ist als der Laberraum des Jetzt („das liebe Jetzt, das ich nicht leiden kann“, Es ist Sprechen und aus). Dem poetischen Raum gehört nicht nur die eigene Sprache zu, sondern alle Sprachen, alles Geschriebene aller Toten, die je etwas dazu gelegt haben in diese Dunkelkammer aus Sprache. Ein topologisches Geflecht, das aus ständig bewegten und veränderlichen, räumlichen Beziehungen in der Sprache besteht, noch bevor diese in die Bildung bestimmter, konkreter Worte eingeht. Der poetische Raum tritt in jeder sprachlichen Suchbewegung unvermeidlich auf und wird aktiv, weil er zur Gänze aus chaotischen Gemengen, Gemischen und Konvulsionen in der Sprache besteht. Er öffnet Wörter, Rhythmen, Satzbewegungen in blitzhaften Bezugnahmen zueinander. Immer schafft er dabei Raum und streut sich aus – und zieht dabei Schreibende, die sich ihm darbieten, hinter sich her, reißt sie mit. Es geht um eine Bewegung des Auswendigwerdens von Sprache, und die Dichterin selbst wird zum Ort dieser Bewegung. Sie wird zum Sprachort. Ihr Sprechen öffnet diesen Ort und gewinnt ihm rückhaltlose Darbietungen ab. Jelinek gibt (uns) eine außergewöhnliche Beschreibung dieses poetischen Raums:

„Es klafft auf, das Chaos, und spuckt etwas aus, aber Menschen sind es nie. Es ist Sprechen und aus. Es dauert seine Zeit, die davor meine Lebenszeit war. Ich weiß schon: meist zu lang! Aber bitte bedenken Sie: Das Sprechen ist vielleicht dieses Chaos, aus dem ich mit meiner Charon-Stange, mit der ich das Totenfloß voranstake (denn Sprechen ist für mich: dem Tod für eine Weile entkommen oder wenigstens ein paar dorthin mitnehmen), ein paar Fetzen Sprechen herausfische, hervorstoße, Fetzen, die immer Teil eines in größten Teilen unsichtbaren, ungeordneten Ganzen sind, das nie ein Ganzes wird, denn das Ganze würde Ordnung ja voraussetzen. Es ist nie alles, es ist nicht einmal etwas. Ich hätte auch ganz andre Fetzen, andre Sätze, andre Worte nehmen können. Ich hätte immer etwas anderes nehmen können, und da sind so viele, die mich schon inständig darum gebeten haben: Bitte wenigstens einmal etwas anderes, alles, nur nicht das! Nicht schon wieder! Aber es geht nicht.


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Ich habe nicht die Kontrolle, ich habe vielleicht die Herrschaft über ein endloses Sprechen, das im Vergleich zum Chaos aber gar nichts ist, nur ein kurzes Räuspern vielleicht, aber ich habe keine Kontrolle. Es geht mit mir durch, wie man so sagt. Oft weiß ich selbst nicht, was ich da gesagt habe. Ich weiß nur, ich hätte es nicht mit anderen Worten sagen können.“ (Es ist Sprechen und aus.)

Die äoni sche Zeit des Chaos kennt keinen Anfang, kein Ende, keine Verneinung. Nicht jenes Chaos, das Apokalyptiker als ‚gähnenden Abgrund‘ schmähen oder das im alltagsprachlichen Verständnis für ‚Unordnung‘ gehalten wird, steht hier Pate, sondern eine größere Vorstellung vom Chaos, wie er im Atomismus epikuräischer Prägung vorliegt. Eine Sphäre, in der vergängliche Zusammenballungen von Atomen unzählig viele Welten hervorbringen, eine Sphäre, in der das Ähnliche vom Unähnlichen noch nicht geschieden ist oder besser gesagt, sich unendlich scheidet. Gleichgültig nimmt sie alles in ihre Ausdehnung auf und bleibt meist unwahrnehmbar. Meistens, das heißt nicht immer. Im Kontrollverlust, wenn das Bewusstsein nicht die erste Geige spielt und nachgibt, klafft das Unbewusste der Sprache auf und spukt Wörter aus, Wortbewegungen, Satzbewegungen, das Sprechen. Es dauert „seine Zeit“, schreibt Jelinek und sagt damit, dass es nicht die sogenannte eigene Zeit ist. Im Kontakt mit dem Chaos tauscht sich Lebenszeit gegen poetisches Sprechen, das somit, während die Dichterin das „Totenfloß“ voranstakt, dem Tod für eine kleine Weile entkommt. Aus dem „Nachsagen“ einer hündischen, durch Sender, Medien und Foren zugerichteten Sprache wird das „Nachgesagte“. Im „Aussprechen“ handelt die Autorin als Sprachort. In Berührung mit dem poetischen Raum korrigiert ihr Aussprechen die öffentlichen Diskurse. Ihr Sprech-Handeln unterzieht sie einer Prüfung, die bis auf den Buchstaben geht. Ursachenketten werden geöffnet und einer gründlichen Umschrift zugeführt. Jelineks Akte des Widerspruchs sind zahllos. Sie machen die Gewalt dieser unsäglichen Diskurse kenntlich und deren Kriegsgeschrei. Kenntlich gemacht und wahrgesprochen, hört es für einen Moment auf, uns zu schaden. Jelineks Sprech-Handeln verlässt den Bereich der Meinung, der Diskurskritik, der Diskurse überhaupt. Es gehört den Registern der Praxis an. Es ist eine Handlung, ein Akt, eine Gabe, die auf nichts berechnet ist, und daher – unendlich offenstehend – in der Lage ist, uns zu involvieren. Und dann SIND wir im Theater, egal ob wir gerade leibhaftig in einem sitzen oder nicht.


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Schmiegsamkeit (niedere Mimesis)

„Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, die Anschmiegsamkeit an die Wirklichkeit? Man möchte sich ja gern anschmiegen, aber was passiert da mit mir?“ (Im Abseits) In seiner Einführung zur Mimesis verfolgt Friedrich Balke Konzepte der ‚Schmiegsamkeit‘ bzw. der sich anschmiegenden Wiederholung, genannt Mimesis, von ihren Anfängen in der griechischen und auch römischen Antike an, quer durch die europäische Geschichte bis zur Ausweitung der mimetischen Zone in den Medienkulturen der Gegenwart. Vermutlich lässt sich der Begriff der Nachahmung niemals ganz von seinem üblen Leumund ablösen, der ihm seit seiner Passage durch das lateinische imitatio anhängt. Aber gerade deswegen ist eine Spaltung zwischen niederer und wertvoller Mimesis interessant, die Balke bei Platon hervorhebt und die ich für die chorischen Verfahren Jelineks in Betracht ziehen möchte. In dieser Spaltung reflektiert sich in auffälliger Weise die notwendig unvollständig bleibende Wende vom Kultus zur Gründung von Stadtstaaten. Aus dieser Wende trägt der Chor seine unaufhebbare Janusköpfigkeit davon, mit der er in der Polis als eine Figur der minderen Mimesis erscheint. Platon listet Beispiele der von ihm geschmähten Mimesis auf, die genau die Vermögen einer chorischen Mimesis abbilden, denn mimos bezeichne, wie Hermann Koller sagt, „den Akteur oder die Maske des dionysischen Kultdramas“364. Mit Platon wird mimesis zum Gegenstand der Philosophie. Im dritten Buch der Politeia legt Platon dar, dass nur eine maßvolle Mimesis, die sich am unvergänglichen Sein der Ideen und ewigen Vorbilder orientiere, der guten Ordnung im Staat zuträglich sei. Eine übermäßige „exzessive Mimesis“365 und distanzlose, tänzerische Verwandlungen verwirft Platon, weil sie sich auf niedere Lebenskräfte beziehen. Zu diesen Kräften zählt Platon alles, was sich affizierend ereignet und nicht die Festigkeit von nachzuahmenden Objekten, Ereignissen oder Figuren annimmt. Die Liste von Beispielen, die Platon mit Mimesis-Verbot belegt, nennt zuerst die Nachahmung von Subalternen: von Knechten, Mägden, Wahnsinnigen oder Schurken, die ‚Schändliches‘ im Schilde führen. Dann die Nachahmung von Frauen durch ‚tüchtige Männer‘, sodann die nicht-sprachlichen Nachahmungen von Wettererscheinungen, von technischen Geräuschen oder von tierischen Stimmen. Balke betont, dass Platons Mimesis-Bann derart erschöpfend ausfällt, weil Platon – im Unterschied zu Aristoteles, der die Mimesis dramenpoetisch einhegt – die Macht der Mimesis


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„kennt“ und entsprechend ihre „Fähigkeit zur grenzenlosen Darstellung des Minderen, Unwürdigen oder Infamen“ (38) fürchte. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert wird die niedere Mimesis zum Gegenstand einer großen Apologie. Lukian aus Samosata wendet sich der griechischen Antike mimetisch generierend zu, teilt aber im Abstand von einigen hundert Jahren nicht mehr deren ursprünglich aktuelle Querelen. Seine Lobrede der Tanzkunst ist nach Art eines platonischen Dialogs verfasst, verkehrt aber in ihrer Argumentation die gesamte Position Platons in ihr Gegenteil. In Lukians Dialog werden zunächst die Einwände gegen die exzessive Mimesis vorgetragen, die an Platon anknüpfen, ihn zuspitzen, indem Bezüge zum pangeschlechtlichen Exzess und zu den Baccantinnen betont werden. Tanz erscheint in Gänze als eine „heillose und weibische Sache“ (50), heißt es im Dialog aus dem Mund des philosophiestudierten Kritikers Kraton, der die geschlechterverwirrende Verwandlung eines Manns in eine Mänade als Schreckbild zeichnet. Lykinos hält dagegen, „dass es sich bei der Tanzkunst um einen Gegenstand des Wissens und des praktischen Nutzens handelt“ (51). Er bezieht sich auf die Pythagoreer, die dem Tanz eine ausgleichende Dimension im Sinn kosmischer Ordnung zuschrieben, denn tänzerische Mimesis ahme in einer somatisch-affektiven Kontaktnahme zuerst den Tanz der Sterne nach. Ist der kosmischausgleichende Tanz von ‚praktischem Nutzen‘, so ist das ‚Wissen‘ auf Seiten von Tänzern, die Lykinos zufolge über ein „allumfassendes Gedächtnis“ verfügen müssen. Das gesamte kulturelle Wissen „von der Entstehung des Weltalls bis zu Kleopatra herab“366 müsse dem Tänzer geläufig sein. Tanzkunst wird als Gedächtnisspeicher begriffen. Mit ‚Sternentanz‘ und ‚Gedächtnis‘ sind Fernbeziehungen bezeichnet, die weit in die Höhe oder weit zurück reichen, würden wir heute sagen. Aber antike Fernbeziehungen gehorchen keinem Zeitstrahl, der in spekulative Höhen oder graue Vorvergangenheiten leitet. Stattdessen folgen sie Oberflächentopologien mit ihrem ausgebreiteten Wissen, das mantisch oder hörend aufgegriffen wird, sedimentiert nicht in einem Kopf, sondern in einer Konfiguration. (Obwohl wir wohl auch dem einzelnen Zuhörer im antiken Theater, wie Loraux schreibt, ein Gedächtnis zutrauen müssen, „wie wir es uns nicht mehr vorzustellen vermögen“367.) Wissen und Gedächtnis werden daher in der Antike solchen Künsten (technē) übertragen, die wie die Seher somatisch und affektiv eine Vielheit namenloser


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Spuren kontaktieren oder die sich vielgliedrig und polysemisch zu erinnern vermögen wie ein Chor. Im Chor wird die tänzerische Mimesis als chorische Mimesis lesbar. Diese Mimesis gilt stets den fernen Hintergründen, in denen Konstellationen situativ zusammentreten wie eine Stellung der Sterne (die etymologisch auch Pate für den Begriff der Konstellation steht). Es ist gleichsam die situierte Konstellation, für die der Tanz Modell steht. Modell für eine niedere Mimesis, die sich zu einer exzessiven Pantomimesis auszudehnen vermag, zu einer alles nachahmenden Kunst. Nicht, weil sie die Kunst eines allumfassenden Gedächtnisses oder Wissens wäre, sondern weil sie ihrer Struktur nach fähig ist, gleichgültig und unterschiedslos alles nachzuahmen, gilt Tanzkunst als ein schmiegsamer Wissens- und Gedächtnisspeicher. Pantomimesis ist nicht von Haus aus stumm. Als alles nachahmende Kunst ereignet sie sich auch inmitten von Sprache und Schreiben: als Schmiegekunst. Sie vermag „sehr geschickte Tänzer“, wie Lukian sagt, gleich einem ‚Proteus zu verwandeln‘ (53) und bewirkte im Übermaß auch schon, dass ein Tänzer „gänzlich über alle Grenzen der schönen Nachahmung hinausschweifte“ (54) und kaum oder nur beschämt wieder zurückfand. Im Gegensatz zur Maßnahme an ewigen Ideen wie im Fall der wertvollen Mimesis, hat niedere Mimesis kein Maß. Sie ist unwiderstehlich und daher dem Nichtigen im mikro- wie im makroskopischen Zustand gewachsen. Weil sie kein Maß hat, ist sie existenziell im Sinn einer Praxis. Pantomimetische Praxis

Für moderne Gesellschaften ist eine verallgemeinerte Generalisierung der niederen Mimesis kennzeichnend. Gabriel Tarde, der nicht zuletzt durch die ihm von Deleuze/Guattari erwiesene ‚Hommage‘368 dem Vergessen entrissen wurde, geht davon aus, dass ein soziales Gefüge niemals aus ökonomischen oder juristischen Beziehungen allein hervorzugehen vermag. Tarde weitet den Begriff der Nachahmung auf alle sozialen, kulturellen Felder aus und bestimmt Gesellschaft als eine „Gruppe von Menschen, die untereinander viele durch Nachahmung […] hervorgebrachte Ähnlichkeiten aufweisen“369. Dabei interessieren Tarde Akte der Mimesis vor allem auf einer suggestiven, mikro-sozialen Ebene, als stimulierte und stimulierende Erzeugungspraktiken in einem chaosmotischen Feld.370 Tarde erhebt nicht nur Einspruch gegen die Illusion, die


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vermeintlich autonome Individuen zu Urhebern ihrer Ideen erklärt. Er zielt viel weitergehend auf einen unbewussten, gleichsam träumerischen und somnambulen Zustand ab, in dem Nachahmungsstrahlen ihre Wirkungen tun. Tarde schreibt: „Der soziale wie der hypnotische Zustand sind nur eine Art Traum, ein gelenkter Traum und ein Traum aus Handlungen. Die Illusion des Somnambulen wie des sozialen Menschen ist es, Ideen, die er ausschließlich suggeriert bekommt, für spontan zu halten.“ (98) Tardes Theorie der affektiven sozialen Kräfte erfasst diese Kräfte im Bild der Strömung, in der Überzeugungen, Leidenschaften und Begehren fließen. Nichts scheint Tarde weniger zutreffend als „dieser scharfe Bruch zwischen dem Willentlichen und dem Unwillkürlichen, dem Bewussten und dem Unbewussten“ (9). Die Nachahmung erfolgt in modernen Gesellschaften auf dem Hauptweg der Modernisierung, das heißt. auf dem „breiten Fluss ihrer industriellen Produktion und Konsumtion“, die dazu bestimmt sind, die „Nachahmung in außerordentlich großen Maßstab aufrechtzuerhalten und weiter zu entfalten“ (242). Die zahllosen Nachahmungsakte selbst vollziehen sich, Tarde zufolge, unterhalb der Ebene eines Begriffs dessen, was nachgeahmt wird. Sie ergießen sich als „Wasserfall der Nachahmung“ (238) über Kultur- und Ländergrenzen hinweg. Ihr Einflussbereich ähnelt dem einer Mode, die hier im erweiterten Sinn ebenfalls Pate steht. Zu dieser Verbreitungsdynamik und Ausweitung der niederen Mimesis zu einer mimetischen Kooperation zwischen allen gesellschaftlichen Akteuren, kommen im Industriezeitalter die Maschinen und im 20. Jahrhundert die Technologien und technisch fabrizierten Objekte, die ihren bloßen Objektstatus hinter sich lassen. Die Eigenaktivitäten beteiligter Objekte und Personen plus beteiligter Kontexte, Regeln und Daten gehen einander mimetisch an und bilden Ströme. In ihrer extremen Inkonsistenz und Ausgedehntheit sind sie nicht zu fassen und bilden eine Wirklichkeit, von der wir nicht mehr sagen können, dass sie uns ‚umgibt‘. Vielmehr beginnen wir, uns als ein Gebärdenspiel dieser Wirklichkeit selbst zu begreifen. Dies ist der erreichte Punkt in einem Heute, von dem aus Jelinek fragt:

„Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen, wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn davonreißt, immer ins Abseits. Von dort sieht er einerseits besser, andererseits kann er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Nur was er aus dem Außen hineinsagt, kann auf-


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genommen werden, und zwar weil er Zweideutigkeiten sagt. Und da sind auch schon zwei Passende, zwei Richtige, die mahnen, daß nichts passiert, zwei, die es in unterschiedlicher Richtung ausdeuten, ausgreifen bis auf den unzureichenden Grund“. (Im Abseits)

Lässt sich die Wirklichkeit nicht mehr kennen und nimmt diese einen Weg, vielmehr einen Fluss, dem nichts und niemand gewachsen ist – was bleibt übrig? Jelineks Rede mündet in eine Wahrheit ohne Erkenntnis, die das Versagen der Sprache betrifft: „Ich bin ihr zu Handen, aber dafür ist sie mir abhandengekommen. Ich aber bleibe. Was aber bleibt, stiften nicht die Dichter. Was bleibt, ist fort. Der Höhenflug ist gestrichen.“ (Im Abseits) Das ist die Ausgangslage für eine unvergleichlich exzessive Mimesis, mit der Jelineks Schreiben sich ‚an die Wirklichkeit anschmiegt‘ und damit notwendigerweise selbst pantomimetisch verfährt. Wenn die Dichterin der Sprache zuhanden ist, während ihr die Sprache abhandengekommen ist, handelt es sich nicht mehr um das Verhältnis von Akteur und Rolle oder von Subjekt und Objekt, sondern um ein Verhältnis, wie es – unter Ägide der Sprache, nicht der Autorin – zwischen einer Serie und ihren Elementen besteht. Exzessive Mimesis führt in die einzelnen Elemente (Objekte, Fälle, Themen oder auch Folgen) marginal begründete Momente der Unähnlichkeit ein und lässt die aufgegriffenen Fälle um diese Momente herum ‚schwanken‘, sodass diese Fälle (Objekte, Elemente etc.) ihr sogenanntes bekanntes Aussehen einbüßen und ihre Erscheinung durch eine Vielfalt von koexistenten „Zweideutigkeiten“, die sofort in unterschiedliche Richtungen ausgreifen, von innen her gesprengt wird. Die Inversion beschreibt eine Praxis, der auch die sprachlichen Verfahren Jelineks verpflichtet sind, wenn sie Materialisierungen aufs Korn nimmt, die sich nicht mehr dem Abstand von Original und Abbild verdanken, sondern mimetischen Verflechtungen ohne Original. Der Begriff Materialisierung verweist hier, anders als es der umgangssprachliche Gebrauch des Wortes nahelegt, auf Oberflächen ohne transzendentalen Ort. „Der Höhenflug ist gestrichen.“ Materialisierungen ereignen sich unterhalb der Spiegelrelation. Sie verhalten sich abstandslos und wahllos, niemals unmittelbar, sondern stets vermittelt und unkenntlich zusammenhängend. Intraaktiv wie Gas, das sich ausströmt. Pantomimetische Praxis zeichnet sich durch Besonderheiten aus, die ihr eine semistabile Kontur verleihen. Folgende Punkte möchte ich hier mit Blick auf Jelinek hervorheben: (1) Pantomime-


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tische Praxis widmet sich allem, was vom Kunstschönen ausgeschlossen wird, weil es sich ordinär oder gemein anstellt. (2) Sie widmet sich Oberflächentopologien, unkenntlichen Zusammenhängen und Verkettungen, die vergeblich in das Alltäglichste und Abstrakteste zugleich ausgreifen. (3) Pantomimetische Praxis nimmt die Position der Autorin von dieser Vergeblichkeit nicht aus. Jelinek: „Ich versuche, der Ungerechtigkeit meiner Zeit in meinen Stücken gerecht zu werden, und dann ist es wurst.“371 (4) Die Biegsamkeit einer sich tendenziell an alles anschmiegenden mimetischen Praxis ist geeignet, sich an Phänomene äußerster Flüchtigkeit zu wenden, denen sie wider jede Vernunft ein wenig Bleibe abgewinnt, sodass wir Fälle, Themen oder auch Folgen unterscheiden, die sich mit Widerhaken, die ihnen von der Autorin beigebracht wurden, an uns kletten. (5) Schließlich stellt pantomimetische Praxis die Frage nach der Wirklichkeit und fragt, was heute geschieht. Was ist dieses heute, in dem ‚wir‘ uns befinden? Was bildet den Ort, von dem aus ich schreibe – zufällig und singulär zugehörend diesem einen beliebigen Wir? Chor-Felder: Boden, Körper, Sport

Einar Schleef ist in seinem Bestreben, den Chor wieder in das Sprechtheater einzuführen, auf die Topologie des Theaters gestoßen und auf die antike Konstellation, die unterhalb der optischen Einrichtungen des Theaters fortwirkt. Jelinek hat diese Topologie durch die Verwerfung der Rolle Frau entdeckt, mit der alle Theaterrollen, Spiegelrelationen, Körperbilder und Interaktionen ebenfalls verworfen werden mussten. Vor die Rolle zurückzugehen heißt, auf die Ebene von Namen, Orten und Materialisierungen zu gehen, die unterhalb moderner Rollenzwänge fortwirkt. Auf die Ebene situierter Körper, die einen Namen erhalten, der hier aber kein Eigenname ist, sondern einen Ort bezeichnet (Sprachort). Auf die Ebene der Orchestra, der Pluralität und der Vielen, von denen es heißt, dass sie namenlos sind, weil sie nicht auf dem Kampfplatz der Gründung um den Zugang zum Palast oder um dessen Verteidigung ringen. Auf die Ebene schließlich, wo es um Wahrheit ohne Erkenntnis geht, um ein Wahrsprechen, das im antiken Bezugsrahmen keine (mentale) Evidenzerfahrung meint, sondern vollständig mit einer verbalen, also öffentlichen Tätigkeit übereinkommt.372 In diesem antiken Bezugsrahmen handelnd, heißt es bei Jelinek vom Theater: Es ist Sprechen und aus.


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Der Begriff der Ebene bezeichnet eine beliebige Ausdehnung, die auf das Feld des Chors führt. Auf diesem Feld teilen sich Personen wie von selbst. Die biegsamen Oberflächen der Texte Jelineks und die restlose Dissoziierung von Personen, die in populäre Sprachfetzen aus Film, Funk und Fernsehen auseinanderfallen, kommen von daher. Es brauchte keine besondere Anstrengung dazu, nur einen winzigen Knick, wie ihn Stefanie Carp als „Knick in Jelineks Schreiben“ ausgemacht hat: „Irgendwann ist in den Theaterstücken von Elfriede Jelinek das ‚Wir‘ aufgetaucht und etwas später explizit der Chor. Natürlich war jede Person aller ihrer Stücke eine Trägerin sich kreuzender Sprachen und Einzelkörper eines Chors. Aber etwa mit dem Text Wolken.Heim (dort etwa gibt es diesen Knick) wird als ‚Wir‘ gesprochen; hier als ‚Wir‘ einer öffentlichen Innerlichkeit.“373

Ein Wir nach der Art des antiken Chors ist ein uneinheitliches, durcheinandersprechendes, zufälliges, unbehaustes und instabiles ‚wir‘. Es nimmt Anteil. Bei Jelinek zieht es sich das mediatisierte Wir von Fernsehzuschauern genauso an, wie das volkstümliche Wir von Märchen und Volksliedern, das populistische Wir von Rechtsradikalen, das terroristische Wir von Islamisten oder das Wir der Tourismusindustrie. Es kann als Wir der Sieger oder Skikanonen auftauchen oder als das Wir der Opfer. Und in all diesen Wir-Formen, dazwischen, drunter oder drüber, taucht es als ein ‚wir‘ auf, das ohne Majuskel auskommt und das uns ‚heute‘ meint, über das wir nicht hinweggehen können und dem wir in jeder Beziehung unterliegen. Jelineks Weg auf das Feld des Chors entwickelt gleichzeitig die Frage nach der Gegenwart in jenem Sinn, in dem Foucault sie zu einer Frage nach der „Ontologie der Gegenwart“ ausdehnt: „Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Was ist dieses ‚Jetzt‘, in dem wir uns befinden und das der Ort, der Punkt ist, von dem aus ich schreibe?“374 Jelineks doppelte Fragebewegung nach dem antiken Chor und der Gegenwart heute, geht in ihren Texten und Stücken mit dem Vordringen einer Frage nach dem Boden einher. Die in Wolken.Heim (1990) geplünderten Sprachen von Hegel, Fichte, Hölderlin, Heidegger und der RAF firmieren als ein „Gedächtnis des Bodens“375, mit dem ‚wir‘ es, damals im neu vereinten Deutschland mit neuerlich aufkeimender Heimatlust, zu tun hatten und weiterhin zu tun bekommen werden. In Die Kinder der Toten (1995) wird der Boden ganz


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und gar durchlässig: Verfolgte, Täter, Ermordete, Tote mischen sich unter die Weiterlebenden, die Gewaltmenschen, die Einheimischen und die Touristen in Bergregionen. So auch In den Alpen (2002). Wenn das Thema des Bodens in Jelineks Texten vordringt, wird er, wie Juliane Vogel anmerkt, „nicht mehr als ein stabiler, massiver Untergrund gedacht […], sondern als eine Tausendfältigkeit von Schichten, Stoffen und Hüllen, aus deren Bewegungen Überlappungen und Stülpungen eine groteske und transitorische Population hervorgeht“376. Dieser Boden taugt weder zur letzten Ruhestätte, noch weist er überhaupt irgendeine Haltbarkeit auf. Im Gegenteil: Er spuckt alles aus und verhält sich als bloßer Übergang. Die Kinder der Toten sind weder Nachlebende, noch steigen sie als Geister der Vergangenheit aus irgendwelchen Tiefen einer vermeintlich abgelegten Historie empor. Vielmehr kommen sie, so noch einmal Vogel, „aus der Tiefe der Oberfläche, deren Variante, Entwicklung und Modulation sie sind“377. Diese Oberflächen-Tiefen-Struktur entspricht dem Begriff der Faltung, mit dem sich Deleuze gegen die Ideologie des Subjekts wandte, die davon ausging, dass ein Inneres hinter einer Fassade gegen außen abgeschirmt würde. Die Metapher der Falte besagt, dass das Äußere das gewendete Innere bildet und umgekehrt: bloße Relationalität, die unter vielen (Kindern, Toten) tausendfältig kursiert. Zu rechnen ist hier nicht mit Subjekten im Einzelnen, sondern mit der Subjektivierung von Gefügen. Sie in dieser Art zu adressieren, bedeutet Beziehungsgeflechte zu exponieren, die sich nicht zu einem Ganzen fügen, sondern die das Gefügte hervortreten lassen. Ein transitorischer Boden und chorische Beziehungsgeflechte gehen wechselseitig auseinander hervor. Ein Sportstück (1998) verlangt explizit den antiken Chor und bestimmt den modernen Boden als ein Feld nach der Shoa: „nachdem wir den Zerfall unserer eigenen Menschenmasse erleben mußten, nach einer rigiden Abmagerungskur, in der wir alles aufs Spiel gesetzt hatten“, dürfen „wir jetzt erneut spielen […], aber auf einem anderen, glücklicherweise ganz neu hergerichteten Feld“378. Dieses Feld verpflichtet Körper zum Leben-nichts-als-dem-Leben: „Wir wollen nichts mehr als den Körper! […] Dort wird uns gezeigt, was eine Harke ist, damit wir das Feld immer wieder aufs neue berechnen können.“ (29) Jelineks Stück begreift den Sport als „Hieroglyphe“ (88) der Gegenwart und macht mit diesem Begriff, der in Bezug auf die altägyptische Bilderschrift die Bedeutungen ‚heiliges Schnitzwerk, heilige Schriftbilder‘ umfasst, den Sport als eine Schwellen-


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figur lesbar, in der ältestes Wissen in heutigen Massenphänomenen mitläuft. Sport bewegt sich seit jeher zwischen einer Sphäre der quasi-militärischen Ertüchtigung und einer Sphäre des Spiels. Somit kennt der Sport einerseits Körperschaften, die sich auf den ‚Körpermenschen‘ der Disziplinarregimes stützen, aus dem sich Kollektive, Mannschaften, Sportverbände, Institutionen formen lassen und Sportler als Verbraucher der Sportindustrie hervorgebracht werden. Andererseits kennt Sport plurale Körper, die beim Kämpfen, Spielen, Tanzen als berührbare, affizierbare Medien (Spielkörper) eines vorübergehenden Plural-Werdens entstehen. Als solche Körper erinnern sie den ‚Gattungsmenschen‘ mit seinem leiblichen Umraum, eingefaltet in das Außen einer primären Umweltlichkeit. Als solche werden plurale Körper heute auf einem „ganz neu hergerichteten Feld“ zum Anknüpfungspunkt gouvernementaler Regierungstechniken, die „das Feld immer wieder aufs neue berechnen“, wie es bei Jelinek heißt. Wollte man dies zur Darstellung bringen, bräuchte es mehr als einen Chor. Schleefs legendäre Uraufführung von Ein Sportstück (Januar 1998, Burgtheater Wien) hatte genau dieses Wissen vom Chor zum Zentrum: Ein Chor ist stets mehr als ein Chor. Er kann zwar vorübergehend in die Form eines Kollektivs schlüpfen, aber er verhält sich nicht kollektiv, sondern distributiv. Sobald er zusammengetreten ist, beginnt ein Chor damit, sich zu vervielfältigen. Seine Vielstimmigkeit und Vielgestaltigkeit sind außerordentlich. Der weithin ausstrahlende Erfolg dieser Inszenierung ist immer Schleef zugeschrieben worden, doch der Regisseur Schleef ist eben auch als extrem genauer Leser vorgegangen. Dass die Inszenierung von Ein Sportstück der transitorischen Figur des Chors gewidmet ist, gibt ein Text vor, der Körper, Sport und Boden nach Art eines Chors zusammenzählt. Als ein Kraftfeld, das sich ausfaltet, schlägt es im Sportstück Facette für Facette um, blättert sich mühelos auf und zeigt, dass es sich schier unendlich ausfalten kann: in eine schlagende Verbindung, eine Meute Täter, getretene Opfer, einen kollektiv trainierenden Organismus von Sportlern, eine uniformierte Matrosenriege, verwaiste Vielheiten der zur Spitzenleistung angetriebenen Kindskörper (Andi), fußballspielende Kinder, in Körperuniformen oder Schatten, die „vom Leichenhemd [ihres] selbstgezeugten Mannstums umkleidet“ (92), zwitschernde Amazonen (Penthesilea), eine schweigende Gruppe von Mönchen oder Leute in Freizeitkleidung, Choräle usw. Die ausführliche Auseinan-


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dersetzung von Christina Schmidt mit dieser Inszenierung zählt 23 verschiedene Chöre.379 Stück und Inszenierung spielen in allen Facetten mit Übergängen „vom Körpermenschen zum Gattungsmenschen“380, um noch einmal diese einprägsame Formel Foucaults aufzugreifen. Die Übergänge entfalten sich zwischen einer Dressur, die sich mittels Arbeit am Körper selbst vollziehen soll und einer regulierenden Technologie, die Menschenmassen in den Blick nimmt und sich darauf richtet, das Leben selbst zu optimieren. Die Disziplin adressiert geschlechtlich identifizierte, bildhaft und institutionell organisierte Körpermenschen, während sich regulatorische Mechanismen der Macht auf biosoziologische Vitalprozesse von Bevölkerungen bzw. von Gattungsmenschen stützen. Zur Serie der Disziplinarmächte gehören die dramatische Infrastruktur des Krieges und die hierarchischen Gliederungen von Sub- und Objekten. Zur Serie der Regulierungsmechanismen gehören nicht nur die Politiken zur Steuerung von Gesundheit, Vorsorge und demografischer Entwicklung, sondern emblematisch auch der Sport als ein Massenphänomen, unter dessen Einfluss sich, wie es in Ein Sportstück heißt, „Menschen plötzlich maßgeblich [fühlen], das ist ihr Wahn“ (70). Plötzlich ‚maßgebliche‘ Menschen drogieren sich, rüsten sich biochemisch und biotechnisch auf. Intersubjektive, geschlechtsspezifische und genealogische Strukturen implodieren. Jelinek verdichtet diesen Zusammenhang in der Figur des toten Andi, der als Bodybuilder über einen mit Krafttraining und Chemie selbstgeschaffenen, gleichsam mutterlosen Körper verfügt. Mit dem herrenlosen Design seiner synthetischen Muskelmaterialien nahm Andi (Andreas Münzer, 1964–1996) erfolgreich an diversen Weltmeisterschaften teil und starb an einer Überdosierung seiner Sportdrogen. Bodybuilder trainieren ihre eigene Materialisierung ohne Zusatz. Subjekt und Objekt in einem. Im Mittelteil ihres Stücks entwirft Jelinek für diese Figur folgendes Tableau: „Ein erleuchteter Heiligenschrein tut sich auf. Darin eine Art Pietà: Die alte Frau sitzt in altmodischer Unterwäsche, Combinaige, Gesundheitsschuhe, etc. auf einem Stuhl und hat den Leichnam ihres Sohnes Jesus, hier immer Andi genannt, der im Bodybuilderhöschen ist, auf ihren Schoß gebreitet. Er kann als Säugling verkleidet sein, kann auch von einer Frau darstellt werden, denn er soll irgendwie geschlechtslos wirken.“ (75)


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Aus ganz verschiedenen Richtungen und unabhängig voneinander erscheinen in den 1990er Jahren wesentliche Arbeiten zum Chor. Sie resultieren aus der Suche nach einer Art zu denken, zu sprechen, zu zeigen, die auf das kontrollgesellschaftliche Feld von Gattungsmenschen führt, auf das Feld der unpersönlichen, singulären Leben. Eine Suche, die aus den erstmals neoliberalen, eiskalten 1980er Jahren hervorgeht oder durch diese bestärkt wird. Die Rede von der Zukunft ist versiegt, konstatiert wird ein lähmender Zeitstau. Diese Signatur prägt die Dekade gleichermaßen im Westen und im Osten und anderswo. 1990 erscheint von Deleuze das Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in dem es resümierend heißt, dass die veränderten Zeiten nicht mehr der Signatur des Individuums zugehören, sondern den Stichproben, Daten, Märkten oder Banken, von denen Dividuen per Chiffren erfasst oder bewirtschaftet werden. Doch bestehe weder zur Furcht noch zur Hoffnung Grund, „sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen“381. Heiner Müller bereitet seine Inszenierung von Mauser am Deutschen Theater Berlin (1991) vor und notiert auf einem Blatt unter dem Begriff „Der Zeitfaktor“382: „Die relative Ewigkeit des Kollektivs gegen die Endzeit des Einzelnen / Die Zeit des Dramas (Spiels) gegen die (Un)Zeit der Geschichte“. Der Einzelne ist in seine „Endzeit“ gekommen. Gegen diese steht die andere Zeitlichkeit eines „Kollektivs“ als ein nicht im historischen, sondern im abstrakten Sinn Gemeinsames. Seine „relative Ewigkeit“ ist die äonische Zeitlichkeit des Chors. Die „(Un)Zeit der Geschichte“ ist die als bleierne Zeit gestaute Zeit der Chronologie und ihrer Produkte. Dagegen kommt, wie bei Beckett gezeigt, nur die Zeitlichkeit eines Spiels an, das stets mehrere spielt oder zu mehreren gespielt wird. In dieser Perspektive sind die wesentlichen Arbeiten zum Chor zu begreifen, die in diesen Jahren entstehen. Nicht weil sie den Gruppenschluss präferierten oder das Kollektiv gegen das Individuum und seine Isolation ins Feld führen wollten, wie allzu naive Lesarten meinen, sondern weil der Chor das Feld bildet, auf dem Erfahrungen von Dividuen verlautbart und zur Empfindung gebracht werden können, die sich nicht mehr in einer bestimmten, letztendlich immer biografischen Form fassen lassen. Anstelle einer vermeintlich individuellen Perspektive verpflechten sich auf diesem Feld etwas Biografie und etwas Spiel und erneuern sich stetig im Kontakt mit dem Außen einer unabsehbaren Pluralität.


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Kleine Vertikalen und Horizontalen als äußerste Verknappungen der bildnerischen Figur-Grund- oder Figur-Horizont-Relation. Wenn sich horizontale und vertikale Beziehungen ausgleichen, entsteht eine quadratische Proportion. Da sich die zwei gegensätzlichen Beziehungen jedoch ständig anders darbieten, vervielfältigt sich das Quadrat und öffnet sich in eine Mannigfaltigkeit. In kontinuierlicher Variation verschieben sich die Gewichte. Etwas Vertikale und etwas Horizontale lösen einander ab. Ihr dynamisches Wechselverhältnis erzeugt eine Varietät von Flächen, die an eine chorische „Landschaft“ denken lassen. Deutlich tritt die Aufspannung einer Zusammenstellung hervor (ihr Neoplastizismus), die in Piet Mondrians Komposition 1917 auch schon das digitale Prinzip von Null-Eins evoziert.


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1997 erscheint Schleefs theoretischer Entwurf Droge Faust Parsifal, dessen dreigliedriger Titel als Chor Schauspiel Oper zu lesen ist. Die drei Komponenten, die das ‚westliche‘ Theater weithin prägen und die Schleef anhand der deutschen Tradition situiert, gehören zusammen. Es war ein Irrtum der Moderne, dem Schauspiel und der Oper eigene Sparten zuzuweisen und sie unter das Gesetz der Einzelfigur zu zwingen. Schleefs ganze Aufmerksamkeit geht dahin, die daraus resultierende Isolation der Einzelfigur zu durchbrechen und die einsame Drogeneinnahme, die zerstörerisch wirkt (Faust, Parsifal), wieder zu einer gemeinsamen zu machen, die sie mit dem Chor und durch ihn ist. In seinem Entwurf für ein Theater des Chors notiert Schleef als ersten Punkt: „Die Droge vereint Sub- und Objekt, Herr und Knecht.“383 Ebenfalls 1997 beendet Jelinek ihre Arbeit am Sportstück. Der unbestimmte Artikel im Titel tritt in genau derselben Funktion auf, die Deleuze 1995 in seinem letzten Text erläutert : Ein Leben unterscheidet sich von der (biografischen) Erfahrung insofern, als es weder auf ein Objekt verweist noch einem Subjekt zugehört. Der unbestimmte Artikel, so Deleuze, steht für die Diesheit eines neutralen, sich hier und da, überall mitteilenden Lebens, das „nicht mehr einer Individuation, sondern einer Singularisierung entspricht“, einem singulären Wesen. „Das Ein ist stets das Indiz einer Mannigfaltigkeit: ein Ereignis, eine Singularität, ein Leben …“384. Nicht nur weil das Sportstück eingangs „antike Chöre“ fordert, sondern vielmehr durch die Einsetzung des unbestimmten Artikels im Titel zeichnet Jelinek ihr Stück als Chorstück aus. Ein Sportstück handelt von und in der Zone eines infiniten und darum gleichermaßen unbestimmten Lebens, das überall ist. Ein Leben als Massenphänomen, das Moment für Moment durchlaufen und gemessen wird und sich singulär komponiert. Namenlos, unter der Haut und in der Tiefe der Körpergemische, die sich nicht abschotten lassen: Ein Chorstück.


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Altes Lied Die Erfindung der alten Leier

Die alte Leier der zwei Geschlechter gehört zu jenen Erfindungen, die ständig neu erfunden werden müssen. Mit dem Begriff der Erfindung ist die Gewissheit verbunden, dass sich die alte Leier nicht unendlich, überhistorisch und universell perpetuiert, zumal sie sich nicht von sich aus und schon gar von selbst erhält. Sie benötigt die permanente Aktivität derer, die sie am Leiern halten, samt all der Unregelmäßigkeiten, Abweichungen und Verweigerungen, die in einem solchen Prozess möglich sind und die ihn als performativen ausmachen. Soweit die Hoffnungen, die mit dem Begriff der Erfindung einhergehen. Unter dem Druck von Macht, Missbrauch, Gier und Eros kann sich die alte Leier der zwei Geschlechter jedoch unversehens auch in einen unter Hochdruck stehenden, geschlossenen Behälter verwandeln, der einem psychopolitischen Reaktor gleicht. Die Lawine, die aus ihm hervorquillt, wenn jemand wie ein Engel seinen Panzer durchsticht, ergießt sich internetforenweit und spaltet die Meinungen. SCHNEE WEISS (Die Erfindung der alten Leier) betitelt Elfriede Jelinek ihr Stück, das sie Anfang 2019 auf ihrer Homepage veröffentlichte. Anlass für dieses Stück sind die Enthüllungen der ehemaligen Ski-Rennläuferin Nicola Werdenigg über sexuellen Missbrauch im österreichischen Skisport der 1970er Jahre. Jelinek weitet diesen Fall, der in der Öffentlichkeit für Aufsehen sorgte, während Vorstandsvorsitzende und Sportverbände dazu schwiegen, weit über den Anlass hinaus in ein Tableau des Unbehagens, das sich im Reaktor der Geschlechter verkapselt. Es handelt sich nicht um ein einzelnes Vorkommnis, sondern um eine massenhafte Verstrickung, zu der auch das eisige Schweigen der ehemaligen Teamkollegin und Vorzeigesportlerin Annemarie Moser-Pröll gerechnet werden muss, genauso wie die schweigenden Stimmen in den Institutionen und die gespaltenen Meinungen in den Foren. Sie alle rühren, so oder so, an das Unbehagen der Geschlechter (Butler), das mit der Zwei einsetzt, die sich aus heterogenen, asymmetrisch verteilten und zum Teil monströs und keineswegs nur menschlich vermischten Geschlechtern herauslöst und allmählich materialisiert. Das „biologische Geschlecht“ verdankt sich „abgela-


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gerten Diskursen“ in einem „Prozeß der Materialisierung, der im Lauf der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, die wir Materie nennen“.385 Das Geschlecht liegt nicht vor wie ein Stückchen Natur, das auf seine Beschriftung wartet. Die Zwei der Geschlechter verdankt sich materialisierenden Effekten von Regulierungen, wie sie mit der Herausbildung von exklusiven, stammbaumförmigen Genealogien verbunden sind.386 Neben Einzelwesen, die sich vermischen und mehren, entstehen die Namen ihrer Plätze: Tochter, Sohn, Mutter, Bruder, Vater, Schwester. Die geschlechtlichen Imagines kleben jedoch nicht einfach an den Einzelnen und die Namen gleiten über sie hinweg, wenn es um Körper geht, die sich vermischen. Das ist alles sehr fragil. Die Zwei der Geschlechter wird umso schroffer behauptet, je stärker sie sich auf den Plätzen der Sukzession in den verschiedenen Namen von Verwandtschaft ausdifferenziert. Ein ubiquitäres Geschlecht unterliegt keinem Gesetz der Genealogie und kann, wie es den Göttern immer wieder nachgesagt worden ist, jederzeit außerordentliche und singuläre Verbindungen eingehen. Nur ein Geschlecht, das sich inklusiv zu bestimmen sucht, filtert aus einer pansexuellen Geschlechtlichkeit die Zwei heraus und bindet diese an die Definition einer nur-menschlichen Herkunft und Fortsetzung. (Daraus wird der Mensch des Anthropozentrismus seinen Ausnahmestatus herleiten.) In einer hierarchischen, bipolaren Struktur wird das Schema der Zwei dramatisiert und erfährt eine weitere Steigerung als soziale Norm, die zuletzt den modernen Anschein reiner Natur und bloßer Beschriftung annimmt. In den schier unendlichen Möglichkeiten, das rudimentäre Schema der zwei Geschlechter mit Konnotationen zu verknüpfen, manifestiert sich jedoch weniger dessen Universalität als vielmehr jenes Ereignis, das die Herausbildung des inklusiven Gattungsbegriffs darstellt. Die Herauslösung der Zwei aus einer Mannigfaltigkeit von unterschiedlichsten Vitalkräften (Mythologie der Titanen), ihre Verknüpfung mit dem Prinzip der Aufeinanderfolge (theogonische Mythologie), ihre Verengung auf das Feld geschlechtlicher Reproduktion und nochmalige Zuspitzung, sobald dieses Feld auf nur-menschliche Genealogiebildungen begrenzt wird (Oidipodeia) – der Sturz aus der Mannigfaltigkeit vollzieht über nur wenige, mythologisch verbürgte und erinnerte Stufen. Oft hat man diesen Sturz zu einer Linie begradigt, auf der dann eine ‚phallogozentrische Ordnung‘ in unaufhaltbarem Siegeszug erscheint und hat dafür


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in Kauf genommen, dass sich ein derartiger Zentrismus nur schwer ausmachen lässt. Götter werden nicht ‚fortgepflanzt‘, sondern gehen mythologisch auseinander hervor. Auch wenn die Tradition Götterherkünfte in Form von Stammbäumen darstellt, ist doch Okeanos zum Beispiel nicht der ‚Vater‘ seiner 5000 ‚Töchter‘ (Okeaniden), sondern nur ein Name, der eine Zugehörigkeit anzeigt. Zwischen einer offenen Relation und geschlechtlicher Zeugung besteht jedoch ein im Wortsinn himmelweiter Unterschied. Es scheint mir daher um vieles genauer, diesen Sturz in die Geschlechterdifferenz als disruptive Folge wahrzunehmen, die ebensolche Folgen zeitigt. Dieser Sturz entreißt sich, nicht etwas. Er entreißt sich keiner Einheit und keinem Chaos, sondern konstituiert und materialisiert sich auf dem Weg von Benennungen und Unterscheidungen. Es wirkt daher wie ein ferner Spiegel dieses Sturzes, dass sich die Duale von Himmel und Erde, Tag und Nacht, Leben und Tod, Sonne und Mond, Höhe und Tiefe, Geist und Körper, Kultur und Natur, Logos und Gefühl etc. mühelos als Konnotationen des männlich-weiblichen Musters ‚erkennen‘ lassen. Das Thema der Zwei

WEISS gilt gemeinhin als Farbe der Unschuld, und vom SCHNEE heißt es, dass er alle Spuren verdeckt. SCHNEE WEISS hingegen will die Auslöschung der Unschuld und des gesamten Musters. Das Thema der Zwei durchzieht das gesamte Stück, das unter seine Referenzen das Satyrspiel Die Spürhunde von Sophokles zählt, welches ebenfalls die Zwei thematisiert. Daher soll hier zunächst von diesem Satyrspiel die Rede sein. Es sind etwa 450 Verse überliefert, die 1912 durch einen glücklichen Umstand auf einem stark beschädigten Papyrus gesichert werden konnten. Sophokles wählt für seine Fabel der Ichneutai (gr. für Spurensucher) einen bekannten homerischen Hymnus, der sich um die Erfindung der Schildkrötenleier dreht, aus der später die Lyra des Apollon wird. Die Entstehung des neuen Musikinstruments ist in den Konflikt zweier Brüder eingebettet. Zum einen Apollon, dem die Rinderherde gestohlen wurde, zum anderen Hermes, der als kaum geborener und unnatürlich schnell heranwachsender Sohn des Zeus von der Nymphe Kyllene in ihrer Höhle aufgezogen wird. Soeben hat Hermes die Leier erfunden, indem er über einen Schildkrötenpanzer Saiten aus Därmen und zerschnittenen Rinderhäuten spannte. Apollon sucht überall nach seinen Rindern und verspricht


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demjenigen Gold, der sie ihm wieder herbeischafft. Der Silenos hört das und bietet seine Hilfe an. Als Belohnung verlangt er für sich und seine beiden Satyrsöhne die Freilassung aus der Sklaverei, was Apollon ihm zusagt (und Gold dazu). Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, der 1912 das Fragment erstmals ausführlich bespricht und vorstellt, beschreibt den Silenos unter Zuhilfenahme von antiken Vasenbildern als thrakisch-phrygisches Mischwesen, zottig am ganzen Leib und auf der Schulter ein Löwen- oder Ziegenfell tragend.387 Mythologisch sind Satyrn und Silene nicht miteinander verwandt. Sophokles dichtete Silenos also die Satyrn als Kinder an, vielleicht ‚ad hoc‘, vielleicht um einen Altersunterschied zu markieren.388 Die Satyrn, wiederum Vasenbildern zufolge, sind um die Lenden zottig wie Böcke und tragen Pferdeschwänze am Hintern. In Die Spürhunde treten sie als zwei Halbchöre an, Choros a und Choros b, die sich beide wie Hunde verhalten. Schnüffelnd verfolgen sie schließlich zwei Spuren. Die Spuren eines Gottes (Hermes), in dem sie den Dieb vermuten und die der Rinder, deren Fußstapfen ihnen allerdings Rätsel aufgeben. (Hermes hatte die Rinder rückwärts getrieben, sodass die Spuren ihrer Hufe in die falsche Richtung zeigen.) Die zentrale Szene des Fragments spielt nahe der Höhle Kyllenes. Unter dem Spott des Silenos liegen die witternden Satyrn auf dem Boden, ihre Hintern in die Höhe gestreckt, als sie plötzlich durch neue, vollkommen unbekannte Töne erschrecken. Entsetzt fahren sie auf, bellen, geraten in Aufruhr, stampfen und lärmen und steigern sich in eine bakchische Raserei. Kyllene steigt aus ihrer Höhle, spricht sie als Tiere an und erklärt ihnen, dass die Töne von einem Instrument herrührten, das Hermes in ihrer Höhle aus einem Tier gemacht hätte, das so schön sänge, weil es tot sei. Der Satyrn-Chor rätselt, um welches Tier es sich handeln könnte. Kyllene nennt die Schildkröte und erklärt ihnen das Instrument. Die Satyrn vermuten in Hermes den Rinderdieb, was Kyllene empört zurückweist. Im Verlauf ihrer Auseinandersetzung wird sie von einem der Satyrn sexuell bedrängt. Die Satyrn sehen ihre Aufgabe indes als erfüllt an und rufen nach Apollon. Mit dessen erneutem Erscheinen bricht das Fragment ab. Die Spürhunde spielen nicht unter Menschen. Satyrn heißen bei Sophokles (und Euripides) Tiere, die ihre Tiergestalt keiner Verkleidung verdanken, sondern einer Metamorphose. Wie im dionysischen Fest tanzen auch hier unzweideutige Böcke, etwa um einen Flötenspieler (Musikinstrumente müssen dabei sein). Das Satyrspiel erinnert das ekstatisch aus der Menschengestalt herausgetretene


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göttliche Tier des Kultus, stellt es jedoch in eine nachhomerische Gegend. In diesem Fall verfolgen die Satyrn zwei Spuren, die des Gottes und die der Rinder, somit haben sich Gott und Tier schon entzweit. Zudem hat die Gegend einen Herrn, der Silenos aus der Gefolgschaft des Dionysos und dessen hündische Brut versklavt. „Das wirklich Archaische“, merkt Wilamowitz an, „war freilich in der Zeit des Kallimachos nicht zu ertragen.“389 Jelinek legt ihrem Stück das gesamte Szenario dieses Satyrspiels zugrunde. SCHNEE WEISS spielt also im Szenario der Spürhunde oder: Das sophokleische Szenario zieht sich SCHNEE WEISS an, diesen ‚österr. Fall‘, in dem es um „teure Namen“ (14)390 geht, um „Hotels am hellichten Tag“ (13), um unantastbare Trainerpersönlichkeiten und um junge Frauen. Und weiter um Sportler, die alpine Ski-Geschichte schrieben, um die erfolgreichste Ski-Rennläuferin aller Zeiten, um ‚Österreichs Sportler des Jahrhunderts‘ (Toni Sailer) und wiederum um junge Frauen. Im Szenario der Spürhunde dehnt sich dieser ganze Fall jedoch entschieden über das Österreichische hinaus aus. Als ein nicht national zu beschränkendes Ereignis wird er in SCHNEE WEISS mit einer Schwellenzeit in Berührung gebracht, die schon in den großen städtischen Dionysien nur noch ihr Nachleben feierte: Satyrspiele zitieren ländliche Dionysien. Sie erinnern die ekstatische Kraft dionysischer Metamorphosen und pansexueller Erregung, die freilich für den Durchschnittsbürger der Polis „in der Zeit des Kallimachos nicht zu ertragen“ gewesen sei, wie Wilamowitz anmerkt. Dennoch gibt es diese Spur der Erinnerung in den Satyrspielen, an der vierten Stelle der städtischen Dionysien, ins Heitere gewendet, aber noch nicht stumm und mit Chören, die, zumindest im erhaltenen Fragment der Spürhunde, den Hauptanteil tragen. Auch die ausführliche und fast umständlich wirkende Erklärung der Schildkrötenleier mit ihrem lockenden „Klang, den keiner von den Menschen je vernahm!“ (V.138)391 kann unter dem Aspekt eines Chors betrachtet werden, der – pansexuell und geschlechtslos zugleich – in den ländlichen Dionysien den infinit verzweigten Grund des Lebendigen feierte. Die von den Satyrspielen der Polis aufgebotenen Mischwesen aus Tier, Gott und Mensch gehorchen selbst dem Prinzip, das hier in Bezug auf die Schildkrötenleier in dem denkwürdigen Vers formuliert wird: „Das tote Tier nahm Stimme an, das lebende war stumm“ (V. 293). Das tote Tier (vormaliger Ekstasen) lässt sich spielen, es klingt. Demgegenüber ist das lebende Tier in Gestalt des Polisbürgers stumm. Die Über-


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nahme des Szenarios der Spürhunde für SCHNEE WEISS besagt, dass auch dieses Stück unter Mischwesen spielt. Nur dass es sich jetzt um Mischwesen zwischen Disziplin und Technologie handelt und sich die Metamorphosen auf einen sporttechnisch verbesserten Menschen beziehen, der „die Berge hinauf- und hinunterjagt zu der Töchter schwärmenden Scharen, bitte, was für Töchter?“ (11) Mit dieser Frage greift Jelinek quasi-korrigierend in das Szenario der Ichneutai ein, das nur die Satyrn, den Silenos und die beiden namhaften göttlichen Brüder kennt, aber nicht die „schwärmenden Scharen“ der Mänaden (mainades, von gr. maníā für Raserei, Wahnsinn), die im Gefolge des Dionysos die wesentlichen Akteurinnen waren. Die Nymphe Kyllene (gr. nymphē, Braut, junge Frau, heiratsfähiges Mädchen) gehört zwar auch zu den jungen Mädchen, bildet aber deren entschieden domestizierte Variante. Als Naturgeist ist Kyllene mit ihrer Höhle in den Bergen liiert. Als annähernd ewig lebende Gottheit ist sie namentlich herausgehoben und als wohltätiger, weiblicher Geist mit der Pflege des Nachlasses aus einem Seitensprung des Zeus befasst. Von den Rasenden, die den Thyrsosstab schwingen, ist Kyllene jedoch vollständig isoliert. Insofern wird in den Ichneutai zwar eine bakchische Raserei aufgeführt, jedoch ohne Bakchen oder Mänaden (die Jelinek als zweite antike Referenz mit Hinweis auf Euripides anführt). Die vergessenen Mänaden

Jelinek entdeckt die im Szenario der Spürhunde von Sophokles vergessenen Mänaden jedoch in den weiblichen Tieren der Rinder, deren Spuren die hündischen Satyrn verfolgen. In SCHNEE WEISS wimmelt es von Kühen auf den Pisten, im Lift, am Hang. Dazwischen gibt es Kühe, die nach hinten rennen („also die Klauen nach hinten angeschraubt“, 8). Gejagt werden aber vor allem „die Kälber!“ (12) und die „Töchter des Landes“: „Also die jungen Nachwuchsläuferinnen, die […] wachsen nach, sie sind noch im Wachsen, immer neue kriegen wir herein, die sind natürlich besonders interessant; da könnt ihr kommen als Räuber“ (11). Alleweil gibt es Gebirgsjäger, die „sich des ruhenden Wildes Brut“ annehmen, und dann „wollen die natürlich auch zum Schuß kommen“ (11). Dazwischen macht sich ein einzelner Trainer bemerkbar wie zum Beispiel der „Kuhtreiber mit seiner Gerti, der ist inzwischen auch verschwunden, keine Ahnung, in welchem Loch“ (3). Das gesamte alpine Szenario von SCHNEE WEISS scheint erfüllt vom „Gebrüll dieses bergweidenden


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Getiers“ (13), dem nachgestellt wird, das „an Füßen und Haaren ins Zimmer gezerrt und von noch einem“ (14). Das ist lange her, „die Jahre vergingen, da man sich an den Kühen verging“ (13). Die äußerst vielgestaltige und berggewandte Population der Kühe bildet in den maroden Ski-Gebieten von SCHNEE WEISS den Chor der „besten Töchter der Welt“ (60). Die aus „der A-Jugend und der B-Jugend“ (29) sind auch dabei. Verabredungen unter Männern, unter Skilehrern, vielleicht am Telefon: „Die Kühe bringe ich dir. Du mußt gar nichts machen […] Setzt euch ruhig schon mal zum Essen hin, seht nur, wie jung das Kälbchen ist!“ (59) Ein Mänadenchor aus jungen Mädchen, aus Heranwachsenden, nicht Sieggewohnten, aber Siegbereiten, alle namenlos, geschlechtsreif, unverheiratet, fähig zu „wilder Tat“ (60). Im Mittelteil des Stücks, der sich auf die antikatholische Satire von Oskar Panizza Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie stützt, spricht ein ganzkörperlich kastrierter Kopf von einer „Phallustrophäe“ (49), die ehedem hochgeschätzt, dionysisch gefeiert und triumphierend auf zahlreichen Vasenbildern abgebildet ist, die Satyrtänze zeigen. „Der Kopf “ spricht von „phallischen Trophäen, welche nicht nur bei Skilehrern erhältlich sind“ oder von Skilehrern, die „dermaßen begehrt sind, ich habe gehört, die Mänaden prügeln sich schon um sie“ (50). Damit werden die Mänaden als Groupies dionysischer Feste gezeichnet, denen Satyrn mit Phallustrophäen winken. Die Unterschiede und Widersprüche zwischen solch phallischen Triumphfeiern und den freimütig ihre Eheverweigerung vortragenden, jungen Mädchen in den Hiketiden des Aischylos etwa sind immens. Vermutlich ist dabei in Betracht zu ziehen, dass der phallische Triumph in der vorklassischen Antike eine zigtausend Jahre währende Grundannahme berührt, die sich in Venusfigurinen wie der Venus vom Hohlefels (40 000 v. Chr.) aus dem Jungpaläolithikum konkretisiert. Gegenüber der kompromisslosen Darstellung einer Vulva in dieser kleinen, nur sechs Zentimeter großen Kultfigurine stellen sich die phallisch protzenden Darstellungen von Satyrn im 6. Jahrhundert unverhohlen als Siegesfeiern dar. Handeln ithyphallische Darstellungen nicht zunächst auch davon, dass es überhaupt einen männlichen Anteil an der Erzeugung neuen Lebens gibt? Dieser Anteil wird mit der Frage des sophokleischen Ödipus nach dem sperma, aus dem er stammt, als überlegen markiert, während das weibliche Geschlecht als gynäkomorphes Gefäß gilt, das nicht mit den Registern der Pflanzung, sondern der Geburtlichkeit verknüpft wird: Zeugung


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versus Geburt. Die Figuration der Rasenden (Mänaden) verhält sich zu diesen Fragen widersprüchlich und asymmetrisch. Sie spielt mit mehr Unbekannten und Beteiligten, als die binären Pole der Geschlechter annoncieren. Chorische Dynamik spielt nicht nur zwischen Gründung und Außenbezügen, nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern in grundlegender Art und Weise stets mit Mehr-alsZwei. Erst chorvergessene Zeiten fädeln die binären Pole Eins und Eins zusammen und bündeln sie zur alten Leier. Mänaden gibt es nur im Plural. Umgangssprachlich bezeichnet die Kuh im Singular eine gestandene Frau fortgeschrittenen Alters, eine sich öffentlich artikulierende Frau, die nervt, weil sie recht hat etc. Mit feinem Ohr werden in SCHNEE WEISS die Facetten unterschieden. Zum einen die Kuh als Bezeichnung für die Frau, die im Herzen alpiner Imagepolitik systematischen Missbrauch aufdeckt, auch nach vierzig Jahren: „diese Kuh, herausgesprengt aus ihrer Herde, was soll sie allein schon machen?, sie kann nichts machen, das ganze feine Viehzeug hat sich längst verdrückt, sie erwischt keinen mehr“ (17 f.). Diese Kuh wird in SCHNEE WEISS mit der Nymphe enggeführt, die auch eine Herausgesprengte ist. In die Empörung ob der quasi-öffentlichen, quälenden Inquisitionen mischt sich Mitgefühl: „Was wollt ihr dieser Nymphe nun noch alles antun?“ (12) Zum anderen gibt es neben der Frau, die öffentlich anklagt, die andere, noch erfolgreichere Altersgenossin, die öffentlich leugnet: „Diese Kuh?, sie sagt Worte, sie sagt kein Wort, doch Worte quellen unaufhörlich zwischen den Steinen dieses Körpers, der sich nicht erweichen läßt, hervor, wir warten, wir warten auf weitere Unwahrheiten“ (18). Diese „Kuh?“ setzt auf Verjährung, diese „Versprengte, kann es sein, daß ihre Tritte nach hinten zeigen?“ (3). In der Sprache der Verdrängung und Leugnung, einer Sprache der kalten Überheblichkeit und aggressiv gepanzerten Isolation, nimmt die Bezeichnung Kuh schließlich auch das ganze Gewicht der Frauenverachtung an:

„Früher war es nicht üblich, mit sowas an die Öffentlichkeit zu gehen. Das hat man unter sich abgemacht, unter den Schwestern, die zusammen trugen, nein, zusammentrugen das Elendslos. Und vierzig Jahre später gehen sie damit an die Öffentlichkeit, weil dieses Los immer noch nicht gewonnen hat. Ich sage Ihnen: Da war nichts […] sonst hätten wir doch etwas gemerkt. […] Aber wir haben nichts gehört. Wer was weiß, soll es sagen. Wieso sagt keiner was, wieso sagt nur diese Kuh was, immer nur diese eine.“ (16)


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Die Trostlosigkeit der Zwei

Heteronormativität betrifft die Zwei, Androzentrismus deren Hierarchie. Beide Systematiken wirken im sexuellen Missbrauch und im Reden darüber zusammen. Zur Sprache derer, die auf der SchuldKlaviatur spielen und verdrängen, um sich auf diese Weise selbst zu legitimieren und gegen Kritik zu immunisieren, gehört im Missbrauchsfall die sattsam bekannte Phrase: „Dazu gehören zwei.“ In dieser Phrase kulminiert die Trostlosigkeit des gesamten Schemas einer inklusiven Zweigeschlechtlichkeit. Es ist unmöglich, dieses Schema unter dem Aspekt einer mangelnden ‚Gleichheit‘ (Heteronormativität) oder einer angemaßten ‚Universalität‘ (Androzentrismus) zu kritisieren und ihm die sogenannte Realität im Einzelfall entgegenzuhalten. Unter dem Aspekt, dass dieses Schema einem Gattungs-trouble aufsitzt, der sich, genauer gesehen, als ein Spezies-trouble darstellt, ist das Schema einer inklusiven Zweigeschlechtlichkeit von seiner Ärmlichkeit her zu begreifen. Diese Spur finden wir in SCHNEE WEISS ausbuchstabiert: eine Spur der Trostlosigkeit der Zwei, die sich in der Wiederholung zur Lakonie steigert, zu einer Wahrheit ohne Erkenntnis, welche mitten im verallgemeinerten Glissando der Sprache Jelineks die Sprachlosigkeit streift. Es beginnt mit der trivialen Rede und den zahllosen Gemeinplätzen, die alle auf die Zwei hinauslaufen: „Und danach, was machen wir danach, wir machen ja alles mindestens zu zweit das ist uns am liebsten, zu zweit was unternehmen, das tun wir lieber als fromm unser Leben verbringen.“ (11) Es geht weiter mit den Architekturen, den Zimmern, den Kammern, den Fluren, den Türen: „Körper nur in Zweibettzimmern, die gemütlichen Körperkämmerlein ins Zweibettzimmer, wo Sie sind heute noch allein“ (9). Im Mittelteil, der sich auf das Liebeskonzil Panizzas bezieht, malt „Der Engel“392 das Bild einer jungen Frau im Flur: „Die sympathische Frau in Ski-Unterwäsche und Skischuhen. Aus den Türen greifen Hände nach ihr, sie weicht unter Tritten und Boxhieben etwas ungeschickt aus.“ (25) Dazu spricht ein debiler Jesus: „Diese Bestialität der Männer und Weiber, ja, beider, das muß ich betonen, beide sind daran beteiligt, dazu gehören mindestens zwei“ (28). Wie kann die Zwei aufhören? Ein heruntergekommenes, himmlisches Triumvirat, das keine Kraft mehr hat, ein neues Menschengeschlecht zu erschaffen, spekuliert über eine Direkt-Vergiftung beim Geschlechtsakt: „Der Täter, der sorglos mit seinem Instinkt und dem ganzen schönen, wenn auch ungenießbaren Samen


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im Sack munter drauflos Fahrende, soll demnach, soll also, mir nach!, durch ein kleines Nebenprodukt vergiftet werden“ (46). „Die Erzeugung des Menschen soll derweil ruhig weitergehen“ (29). Ein seniler Gottvater tritt als Chef des Skiverbands auf und sinniert zum wiederholten Mal über die Läuferinnen und Läufer: „Wir sind zu zweit, und wenn man keine Frau ist, ist das gut. Für Frauen ist es aber auch gut, allerdings eingeschränkt, die fahren von weiter unten los, also nicht die ganze Strecke, nicht wahr. Unwegsame Höhen sind mir letztlich die liebsten, wenn ich eine Frau bin wären sie mir das zweitliebste.“ (63) Die Zwei ist unterschiedlich, aber sie lässt sich keinesfalls auftrennen: „Wir können die Läuferinnen und Läufer doch nicht auseinanderdividieren, die Summe ist dann immer Null.“ (62) Und dann wieder die Suada der Leugnung: „Wir haben viele befragt, es kann nicht passieren, und es ist nie passiert und wenn, dann haben wir nicht gemerkt, wer die Tür zugesperrt hat, nachdem wir drinnen waren, dazu gehören zwei, einer war nämlich vorher schon drin.“ (57) Inmitten einer Suada von Leugnungen wird der Satz der vollendeten Trostlosigkeit zum ersten Mal ausprobiert, aber er passt nicht. Er ist an dieser Stelle nur die vollendete Gemeinheit eines Gemeinplatzes: „Dazu gehören immer zwei, nein, das paßt hier nicht, dieser Satz paßt nicht, er paßt nicht einmal mir, ich hab ihn probiert, er paßt nicht. Etwa Ihnen?“ (17) Etwas später wird an einer anderen Stelle die Zwei als bloßes Schema der zwei Geschlechter in einer Art Sprachlosigkeit angesprochen, in der sich vollkommene Leere und gänzliche Aussichtslosigkeit bündeln. Das Schema wird ausgeschöpft, es wird im Sinne Becketts erschöpft:

„Wenn man sich auf den Schoß von jemand setzt, dazu gehören zwei. Wenn man jemand in die Fresse haut, dazu gehören zwei. Wenn man die Hand auf einen Oberschenkel legt, dazu gehören zwei. Wenn man jemand an den Po faßt, dazu gehören zwei. Und wo soll ich jetzt einen Zweiten hernehmen?“ (25)

Schlussendlich verlangt das Schema der Zwei, das angeblich alle einschließen soll, eine Selbstausschließung. Von hier hat der gesamte Hader seinen Ausgang genommen und von hier musste er ausgehen, weil sich das Schema schließt und nicht offenlassen kann, was eine Frau ist. Also sind Frage und Antwort in diesem Fall klar: „Kann ich eine Frau sein? Nein. […] Also wenn ich eine Frau bin, dann bin ich keine.“ (64)


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Die Sprachlosigkeit an diesen beiden Stellen ist außerordentlich. Natürlich kann man sagen, dass es in SCHNEE WEISS um die Bestialität eines Modells der sozialen, statistischen und individuierten Sexualität geht und dass in diesem Stück ein ethologischer Horizont aufgespannt wird, der wie ein Schallverstärker dem Unsinn entgegensteht, Individuen könnten sich abschotten oder als sexuierte Identitäten agieren. Und dass dieser Horizont, in den Reden des Kopfs etwa, außerordentlich fragmentierend, intensiv und unvermittelt heftig weitere und neue Differenzen produziert. Dennoch ergibt sich an keiner Stelle der Eindruck einer freundlichen Heterogenese von Vielgestaltigem oder Vielheit. Es ist, als würde sich in SCHNEE WEISS an die Stelle einer erwarteten Interpretation, an die Stelle zumindest von Spuren einer solchen Interpretation oder zumindest einer reinen Möglichkeit dazu, das bloße Funktionieren einer textuellen Maschine setzen, die nach keinem bekannten Muster verfährt. Diese Maschine setzt in der Sprachlosigkeit nicht aus. Bei beiden, zuletzt zitierten Momenten handelt es sich um Hypertautologien, mit denen die Kraft einer äußersten Unbestimmtheit einhergeht. Die Unbestimmtheitskraft unterminiert die Tautologien und nichtet sie, ohne dass es ein Wort dazu gebraucht hätte. Es ist unmöglich, diese Unbestimmtheitskraft auf etwas anderes oder Vorgängiges zurückzuführen. Die Musik-Maschine

„Von toten Tieren lernen heißt auch was lernen, ich weiß aber nicht, was“ (59), heißt es in SCHNEE WEISS mit Bezug auf die Schildkrötenleier. Mit der titelgebenden alten Leier ist das Thema der Musik angeschlagen und das Thema der Zeit, des Fortwährenden bei gleichzeitigem Fortschreiten. Wie auch in der Winterreise (2011) mit ihrem Bezug auf Franz Schubert, wird im Bild der Leier eine Zeitlichkeit thematisiert, in der sie als ziehende Zeit ständig fort ist und sich einzig in dieser Bewegungsform berühren lässt. Leiern steht für Fort-Dauern, für das Fort der Dauer oder des Währens, für eine Zeitmaschine ganz eigener Art und zugleich für den Klang einer Musik. Vor allem das Klangliche führt zu einem Begriff von Maschine, in dem sich auch die textuelle Maschine Jelineks wiedererkennen lässt. Um das Klangliche zu profilieren, hält Rasmus Nordholt in seiner Studie Musikalische Relation fest, dass Gesang üblicherweise mit Tonhöhen verknüpft wird, mit der Länge oder Kürze festgelegter


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Töne und der Möglichkeit des Zusammenklingens mit anderen Stimmen. Der Klang eines Gesangs sei hingegen auf eine Färbung bezogen, auf ein Klingendes, das sich in einer Umgebung ausfaltet, in ein Ensemble von Klanggeneratoren eingehe und sich selbst gegenüber fremd werde. In dieser Selbstfremdheit beginnt der Klang, an einer klanglichen Maschine teilzuhaben.

Diese Maschine kann „am ehesten nach dem Vorbild eines Synthesizers vorgestellt werden, in dem sämtliche Klangquellen auf einer rein klanglich aufgespannten Ebene miteinander verschaltet sind; wo eine Lautstärkenmodulation eine Variation der Klangfarbe an anderer Stelle produziert; wo der weichere Attack eine Beschleunigung des Tempos provoziert oder das Ende eines Ausklingens ein anderes Ereignis triggert; wo die heterogenen Parameter einer stehenden Klangmasse von verschiedenen Seiten moduliert werden.“393

Unter dem Titel Die tote Musik-Maschine394 beschreibt Jelinek eine elektronische Musikerzeugungsmaschine aus der Zeit der frühen Elektronik, den Sonocoder, an dem Gottfried Hüngsberg zwischen 1966 und 1977 gearbeitet hat. Jelinek beschreibt diese Maschine möglichst genau (da sie tot ist). Sie dient zur Erzeugung beliebiger Klänge und Abfolgen durch steuerbare Frequenzen, Amplituden und enthält Filterfunktionen für die spektrale Zusammensetzung von Klängen. Jelinek schließt an:

„Die Musik, die schließlich mit dieser Maschine erzeugt wird, kommt nicht von einem Instrument, das im herkömmlichen Sinn ‚bespielbar‘ ist, denn wir spielen längst nicht mehr. Es ist unser Ernst. Was hergestellt werden soll, ist eine komfortable Klangentwicklungsumgebung, in der auch wir noch Platz haben, uns auszubreiten, gleich neben den Klängen.“

Das heißt, wir spielen die Instrumente nicht mehr. Aber es gilt auch nicht die einfache Umkehrung. Vielmehr ist es ernst: Die Komposition wird von einer „Klangentwicklungsumgebung“ vorgenommen, von einem Gefüge nach Art des Synthesizers. Sofern diese Umgebung alias Synthesizer alias Maschine komponiert, bringt sie maschinische Verkettungen hervor, die sich nicht mehr symbolisch oder signifikant erfassen lassen. Diese Verkettungen spannen sich zwischen alltäglichen, techno-medialen Gesten und Gegenständen auf, zwischen ganz unterschiedlichen Zeichensystemen, Ausdrucksebenen und den mit ihnen verbundenen Zeiten. Diese Aufspannung


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bedeutet, dass das Maschinische nicht mechanisch, sondern nur in Verschränkung mit dem Lebendigen vorzustellen ist. Es ist dadurch geradezu hypersensibel für Berührungen, die in die Sozietät und das Kosmische ausgreifen. Sofern ‚es‘ komponiert, haben wir Platz in seinem Generator, „gleich neben den Klängen“, wie Jelinek sagt, haben Teil an seinen a-signifikanten Eigenaktivitäten, die mehrdeutig unterscheiden, trennen und denken. „Und so geht es immer weiter“, heißt es bei Jelinek, nachdem sie das Maschinische des Sonocoders beschrieben hat, „indem es fortwährend weiter ist als man selber“. Und fügt in Klammern hinzu: „wenn ichs recht bedenke, bin ich selber so ein Generator, der vor sich hin schöpft, aber leider keine Maschine hat, an die er sich anschließen kann, zum Trotz schließe ich mich auch an meine Artgenossen nicht mehr an“. Jelinek schöpft nach Art eines Transformators, einer Musik-Maschine, als Jelinek-Maschine, die eine extreme Spannweite aufweist. In ihrer Aufspannung ist es möglich, dass die Jelinek-Maschine hier unvermittelt mit dem Begriff „Artgenossen“ dazwischenfährt und damit an jenen Spezies-trouble rührt, den uns ein inklusiver Gattungsbegriff eingebrockt hat. Und dann geht es weiter. Jede Maschine ist endlich, auch die Musik-Maschine, Jelinek hat soeben eine begraben. Anders jedoch die Struktur musikalischer Relationen: Diese verhalten sich in Abhängigkeit von den Eigenheiten der Schichten und der Ausdruckmaterialien, zwischen denen sie sich entfalten. Sie verhalten sich zwar niemals überhistorisch, sind jedoch infinit in ihrer kreativen Kraft „im Sinn der Teilhabe und der Verzweigung der kontinuierlichen Schöpfung eines allgemeinen Glissandos“395. Teilhabe und Verzweigung sind die beiden wichtigsten Modi chorischer Beziehungs- und Bewegungsweisen. Geeignet für Fernbeziehungen aller Art, generieren sie auch die extreme Aufspannung der Jelinek-Maschine. Die differentiellen Bewegungen tanzen. Die musikalische Relation klingt. Sie hat Stimme, die ihr von woanders herkommt. Jelinek bedankt sich für den Mülheimer Dramatikerpreis, der ihr für Winterreise verliehen wurde, mit einem Text, den sie mit einem Titel überschreibt, der ebenso für jeglichen Chor gilt: Fremd bin ich.396


Sophokles, Die Satyrn als Spürhunde, Papyrusfragment, Vers 96–138


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Zum Schluss, vorerst

Es ist ein Zufall, dass Die Perser des Aischylos, neben all seinen Stücken, die verloren sind, die älteste uns überlieferte Tragödie ist. Es ist jedoch kein Zufall, dass diese Tragödie mit einem Chor in der Orchestra einsetzt, dessen erste Verse eine unabgeschlossene Vergangenheitsform aufweisen. Es fehlt eine Flexion des schließenden und zuschreibenden Hilfsverbs ‚sein‘. In der Übertragung von Heiner Müller und Peter Witzmann lauten die beiden ersten Verse: „Das hier der Perser, gegangen / Nach Hellas, in das Land, wird genannt Treue“. Am Ort der Orchestra vermag sich niemand zu schließen. Die unifizierende Maske des Individuums entfällt. Sie sitzt ohnehin nur lose auf. Die Gewalttätigkeiten einer phantasmatisch gehüteten Identität entgleiten. In einem Übergang des Innen ins Außen lösen sich die Stoffe, aus denen zum Beispiel Biografien gewebt werden. Die Namen gleiten bedeutungslos über Körper, die sich im Hin und Her ihres Tanzens verausgaben, die sich ihrem Getanzt-Werden hingeben auf Zeit, die hier, ganz kosmisch, nach den Sternen geht. Die unendliche Winzigkeit des sogenannten eigenen Lebens ist eine Erfahrung, die den einzelnen nicht zur Geringfügigkeit verdammt, sondern im Gegenteil: Sie bringt ein einzelnes Leben in seiner unaufhebbaren Singularität zum Vorschein. Sie bringt absolut singuläre Figuren wie den Prinzen hervor, der klarsieht, in dem genauen Schauspiel eines Lebens, welches Kleist für ihn entworfen hat. In der Dämmerung beginnt die Gegenwart zu schwanken und öffnet sich für einen Rückfluss von Zeit, welcher in der Epoche der Tragödie Gedächtnisse und Prophezeiungen mit sich führte. An einem solchen Abend betrachten Wladimir und Estragon den Himmel, während Pozzo die Dämmerung zum „Schleier süßen Friedens“ erklärt, hinter dem die Nacht galoppiert und uns überfällt. Lange Pause. Mehr als irgendein anderes Stück spielt Godot nicht nur szenisch in der Orchestra, sondern stellt diese Orchestra her für ein Publikum, das nach 1945 meinte, den ‚Schleier süßen Friedens‘ über die Shoa breiten zu können. In Godot haben alle ein schlechtes Gedächtnis, können sich nicht mehr an Gestern erinnern und vergessen, was sie eben noch gesagt haben. Sie treten auf der Stelle, dehnen und knüpfen die leeren Kreise des Wiederkehrens, damit die Nacht des Gedächtnisses sich auf das identisch Neue des nächsten Tages hin öffnet und uns erwischt. Beckett sagt auch, wann: ‚in dem Augenblick, wo wir am wenigsten darauf gefasst sind‘.


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„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.“ Musik und Dichtung, die mit einem komponierten Vers wie diesem von Franz Schubert und Wilhelm Müller einsetzt, spielt in der Orchestra. Mit großer Genauigkeit trifft dieser Vers auf die Figur des Chors zu, die als fremde Figur am Ort der Polis erscheint und dort das Theater mit ihrem Einzug öffnet und mit ihrem Auszug beschließt und die uns entlang ihrer unzähligen Ränder fremd bleiben wird, welche über das Theater hinausgehen. Wenn sich im Theater etwas erneuert, kommt es von daher: von den Rändern, von Randständigen und Minoritären, die in Wahrheit die Mehrheit sind. Jelineks Schreiben schreitet diese Ränder aus, wühlt im Unsäglichen, in dem sich das Unsagbare unserer Ränder, unseres Endens türmt. Und gewinnt ihm, ohne dass eine Abtrennung möglich wäre, immer wieder neue Kenntlichkeit ab. Aber die ist dann auch wieder „wurst“ (Jelinek). So ist es mit dem Chor. Durch alle prophetischen, historischen, religiösen, kosmologischen, ethologischen Reihen hindurch, die nur mit ihm zu durchlaufen sind, entzieht er sich einer Identifizierung. Es ist unmöglich, den Chor absolut geltend zu machen. Ebenso ist er aus den Debatten über die Gemeinschaft rauszuhalten. Vielmehr bezeichnet er eine unbestimmte Pluralität ohne gemeinsamen Nenner, Mischverhältnisse, eine nicht-genealogische, vorübergehende Weise des Zusammengehörens und der Individuation inmitten einer Welt als Prozess, in dem Menschen, Nicht-Menschen, Körper, Maschinen, Diskurse, belebte Materie und sogenannte unbelebte Materie tätig ineinander verstrickt sind. Ein Chor unterläuft den bekannten kartesischen Schnitt zugunsten von Praktiken, bei denen es sich nur zum Teil um menschliche Praktiken handelt. Innerhalb von geltenden Dichotomien bewirkt der Chor eine zunächst kaum merkliche Verschiebung. Indem er sich in den Asymmetrien polarer Unterscheidungen einnistet, spannt er diese bis zum Zerreißen an, bis die relativen Pole auseinanderreißen. Die Spannung wird immer von dem Pol her aufgebaut, der als unterlegen definiert wird und der auf Seiten der Pluralität steht. Was wir dann haben, wenn der Knoten geplatzt ist, ist kein freundliches Weder-noch, kein Sowohlals-auch im Allgemeinen und auch keine nebulöse Nivellierung, sondern der singuläre Fall und etwas. Wir haben ein Leben im Einzelfall und finden uns in einem beständigen, unabsehbaren Mitgeteilt-Werden vor. Ein Chor ist das praktische Feld, das nicht aufhört, sich für diese, selbst namenlose Erfahrung zu öffnen.


Mona Hatoum, Turbulence (black), 2014


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Sabine Föllinger, Aischylos. Meister der griechischen Tragödie, München 2009, bes. 24–33. Aristoteles, Metaphysik, in: ders.: Philosophische Schriften (Bd. 5), nach der Übersetzung von Herrmann Bonitz, bearbeitet von Horst Seidl, Hamburg 1995, 216. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung [1968], aus dem Französischen von Joseph Vogl, 2. korr. Aufl., München 1997, 52–60, hier 54. Die folgenden Zitate von Deleuze werden mit Seitenzahl im Text notiert. Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, aus dem Französischen von Edmund Jacoby, Frankfurt a. M. 1982, 134 f. Die folgenden Zitate von Vernant ebd. Vgl. die Metaphorik bei Hegel, der den Chor als „das fruchtbare Erdreich“ bezeichnet, „aus welchem die Individuen wie die Blumen und hervorragenden Bäume aus ihrem eigenen heimischen Boden emporwachsen“. In: G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke 13, Frankfurt a. M. 1986, 541. Vgl. Einar Schleef, der den Chor in „seiner Zugehörigkeit zur Landschaft, zu einer geographischen wie zu einer seelischen“ situiert. In: Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1997, 12. So Foucault in seiner Vorlesung vom 17. März 1976, in: Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt a. M. 1999, 282–311, hier 282. George Steiner, Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München 1990, 144 u. 173 ff. Claude Lévi-Strauss, „Die Struktur der Mythen“, in: ders., Strukturale Anthropologie I [1967], aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt a. M. 1972, 226–254, hier 234. Ebd., 236 f. Diese Gleichzeitigkeit bildet nach Lévi-Strauss die eigentliche Struktur des mythischen Denkens: ‚Beziehungsbündel‘ werden durch Mytheme gebildet, die einander widersprechen, aber durch ihr asymmetrisches Halb-Sagen auch geeint sind. Sie lassen sich auf verschiedenen Ebenen identifizieren: hier auf der Ebene von Autochthonie im Verhältnis zu chthonischen Ungeheuern. Ihrem Verhältnis entspricht jenes von Überbewertung (Übernähe) und Unterbewertung (Mord) von Blutsverwandtschaft. Ebd., 237 f. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Altgriechische eine eigene Flexionsform des Dual kannte, die eine Zweizahl von Handelnden bezeichnet. Sophokles verwendet sie zu Beginn der Antigone, dann nicht mehr. Vgl. Steiner, Die Antigonen, 144. Mit der Zahl Sieben wird in der orientalischen Narratologie etwas unendlich lang Andauerndes oder Ewigwährendes beschrieben („sieben Tage und sieben Nächte“). Vgl. Gotthard Reinhold (Hg.), Die Zahl Sieben im Alten Orient. Studien zur Zahlensymbolik in der Bibel und ihrer altorientalischen Umwelt, Frankfurt a. M. 2008. Aischylos, Die Perser, deutsche Fassung von Heiner Müller/Peter Witzmannn, in: Heiner Müller, Werke 7, Die Stücke 5, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2004, 683–721, hier 688 f. (im Versbruch). Vgl. Gilles Deleuze, „Die Immanenz, ein Leben“, in ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M. 2005, 365–370. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, ebd., 239. Der Rechtshistoriker und Lacanianer Pierre Legendre hat diese juridische Tradition dargestellt, die im Römischen Recht und im Kanonischen Recht des Mittelalters fundiert ist und den Vater, der ‚immer ungewiss ist‘, in einem kulturell geformten „Vateramt“ sistiert. Es besteht darin, dem Filius Zugang zum Gesetz zu verschaffen, indem der Vater sich und den Sohn auf das ‚Gesetz‘ des Generierens von Abfolgen bezieht. Zu Legendres Darstellung, die selbst nicht frei ist von


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dogmatischen Untertönen, vgl. ders., Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater, aus dem Französischen von Clemens Pornschlegel, Freiburg i. Br. 1998. Renate Schlesier und Agnes Schwarzmaier, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Dionysos – Verwandlung und Ekstase. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Antikensammlung im Pergamonmuseum Berlin, November 2008/Juni 2009, Regensburg 2008, 13–15, hier 13. Steiner, Die Antigonen, ebd., 142. Steiner zitiert diese Auffassung, die er nicht vertritt. Sie basiert auf Johann Jakob Bachofens Das Mutterrecht (1861) und dessen Relektüren in den 1960er und 1970er Jahren, in denen die Annahme einer Spiegelbildlichkeit (matri-/patrilinear) und die Ablösungsrhetorik dominierten. Nicole Loraux, Les enfants d‘Athéna. Idées athéniennes sur la citoyenneté et la division des sexes, Paris 1990. Judith Butler, Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén, Frankfurt a. M. 2001. Christina von Braun, Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte, Berlin 2018. Vgl. „Griechenland: Die geistige Vaterschaft wird leiblich“, 114–124. Steiner, Die Antigonen, ebd., 173. Ebd., 144. Auch von Braun betont die Nähe von schriftmedialen, grammatischen und familiären Genealogien, vgl. von Braun, Blutsbande, ebd., 73–100. Anton Bierl, „Fragment und fragmentierende Poetik aus gräzistischer Sicht“, in: Anton Bierl, Gerald Siegmund, Christoph Meneghetti, Clemens Schuster (Hg.): Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne. Bielefeld 2009, 19-28. Ein bei Athenaios überlieferter Ausspruch des Aischylos, zitiert bei Bierl, ebd., 20f. Ebd., 21 f. Aristoteles: Poetik (Griechisch/Deutsch), übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, 33 f. Zit. n. Bierl, „Fragment“, ebd., S. 22. Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker – Griechisch und Deutsch, Bd. I, hg. von Walther Kranz, Dublin/Zürich 1972. Hermann Diels übersetzt hier „gegenstrebige Vereinigung“, 162. Zit. n. Bierl, ebd., 22. Michel Foucault, „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ [1974], übers. von Michael Bischoff, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (Bd. II 1970– 1975), hg. von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2002, 669–792. „König Ödipus: Der Mann, der zuviel wusste“, übers. von Horst Brühmann, in: Lettre International 5 (II/1989), 68–72. Siehe die Ödipus-Lektüren Foucaults in: Michel Foucault, Über den Willen zum Wissen – Vorlesungen am Collège de France 1970/71, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 2012, 236–258; 288–329, 310. Bernhard Zimmermann, „‚Ein ungeheures, mit übernatürlicher Lunge begabtes Einzelwesen‘. Griechische Chöre zwischen Religion, Politik und Theater“, in: Julia Bodenburg, Katharina Grabbe, Nicole Haitzinger (Hg.), Chor-Figuren. Transdisziplinäre Beiträge, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2016, 247–261, 250. Gilles Deleuze, Felix Guattari, Tausend Plateaus, übers. von Rabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, 173. Foucault, „Die Wahrheit und die juristischen Formen“, ebd., 694. Ebd., 691. Ebd. Georges Dumézil, Mythos und Epos. Die drei Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völker, Teil I, Die erleichterte Erde (1968), übers. von Dieter Horning, Frankfurt a. M./New York 1989. Foucault, „Die Wahrheit und die juristischen Formen“, ebd., 704. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, ebd., 161 u. 162. Derselben ‚altorientalischen Logik‘ gehorcht auch die Aufzählung der Namen im ersten Chorlied der Perser.


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Friedrich Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus, in: ders., Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. hg. von Michael Franz, Michael Knaupp und D. E. Sattler, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1988, 247–258, hier 250 u. 251. Aristoteles, Politik, 1255 b, übers, von Franz F. Schwarz. Im Unterschied zum pater familias sei angemerkt, dass hier kein „Vater“ herrscht, sondern ein „Herr“. Im Vergleich zum römischen Modell bleibt das häusliche „Vaterwesen“ unterbestimmt. Aristoteles hält zum „Vater“ mit Hinweis auf Zeus lediglich fest, dass „das Erzeugende […] auch das Herrschende“ ist. Vgl. ebd., 1259 b. Ebd., 1295 a. Sebastian Kirsch, CHOR-DENKEN. Sorge, Wahrheit, Technik, Paderborn 2020. Vgl. „Jenseits von Ödipus“, 11–156, im Besonderen das Unterkapitel „Wissen der Götter – Wissen der Erde“, 138–142, hier 137. Ebd., 140. Die Seitenangabe gilt für die folgenden Zitate jeweils bis zur nächsten Seitenangabe. Ebd., 141. Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., 274. Das folgende Zitat ebd. Von der unheilbaren Krankheit des Chors „profitieren die Faschisten, die als Gegenentwurf die ‚gesunde‘ Masse zeigen.“, Schleef, ebd. Ebd., 276. Kirsch, CHOR-DENKEN, ebd., S. 142. Wolfgang Schadewaldt, „Der König Ödipus des Sophokles in neuer Deutung“, in: ders. (Hg.), Sophokles König Ödipus, Frankfurt a. M. 1975, 89–99, hier 98 f. Zur Figur des Sich-gegenseitig-in-den-Blick-Nehmens als einer psychischen Aktivität in der Antike und Bestätigung der Lebendigen untereinander vgl. Gérard Simon, Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik, übers. von Heinz Jatho, München 1992. Foucault, Über den Willen zum Wissen, ebd., 308. „Dreiweg“ oder auch, in der Übersetzung Kurt Steinmanns, „an einer Scheide dreier Wagenwege“ (V. 716). Gr. „iō, dystēnos egō“ (V. 908). Die Fassung der Perser von Heiner Müller/Peter Witzmann gibt den Vers in derselben Wortfolge wieder: „Io, unglücklicher Ich“. In: Heiner Müller, Werke Bd. 7, ebd., 683–721, hier 715. Diese Pointe wurde von der Dramaturgie dieser Inszenierung verantwortet, während die Textfassung von Helena Varapoulou, die die Müller/WitzmannFassung ins Neugriechische übertragen hat, sie nicht vorsieht. Heiner Müller, „ÖDIPUSKOMMENTAR“, in: ders., Werke Bd. 1, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 1998, 157 f., hier 158. Damit werden Herkünfte und Nachkommen fraglich. Der Versuch des Ödipus, aus Geschlechtern im Plural das singuläre Geschlecht seines Hauses zu machen, gleicht dem Versuch einer Selbstzeugung: „Wächst eine Wand, die Welt eine Warze, oder es pflanzt sein / Finger ihn fort im Verkehr mit der Luft“. (Müller, ebd.) Bernhard Zimmermann, Dithyrambos. Geschichte einer Gattung, 2. Aufl., Berlin 2008. Zur Zusammenstellung des Chors durch einen wohlhabenden Bürger (Choregen), der für Unterhalt und Training des Chors aufkam sowie zur Praxis der Vorbereitung der Städtischen Dionysien und Zusammenarbeit mit den Dichtern vgl. Helene Foley, „Choral Identity in Greek Tragedy“, in: Classical Philology 98 (2003), University of Chicago 2003, 1–30. Aristoteles, Poetik, 11–17, hier 15. Roland Barthes: Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin, hg. von Jean-Loup Rivière, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Berlin 2001, 25–37, hier 29. Das folgende Zitat ebd., 30. Die Raumstelle des Dionysostheaters lag nahe der Stadt, am Südhang der Akropolis auf „halber Höhe“, von der aus der „freie Blick“ auf das Meer (und gleichzeitig Schutz vor den Winden) gegeben war. Die Tanzplatte war an einer Geländekante gelegen, unterhalb derer Dionysos ein Temenos hatte. Der Hügel, ein felsiges Gelände, fiel insgesamt von Osten (Richtung Stadt) nach Westen

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(Richtung Meer) stark ab, sodass die seitlichen Zugänge (paradoi) im Osten durch gewachsenen Fels erschwert und im Westen durch eine Rampe ausgeglichen werden mussten. Der Spielplatz bestand zunächst nur aus einer künstlich hergestellten Terrasse mit einer gestampften Tanzplatte. Der Aufbau eines hölzernen Bühnenhauses wird erst für die Orestie des Aischylos angenommen und geht einher mit einem Umbau des Dionysostheaters um 460 v. Chr. Die Orchestra wird stärker in Richtung des Burghangs verschoben (N) und die Zuschauerreihen werden hangaufwärts erweitert (ca. 14 000 Zuschauer). Die gesamte Anlage wird entlang der Symmetrie ihrer Mittelachse ausgerichtet, die Parodoi auf gleiches Niveau gebracht. Eine spezielle Abstützung an der Geländekante ermöglicht den Aufbau eines semistabilen Bühnenhauses aus Holz. Siegfried Melchinger: Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, 12–36, 87 und 112–125. Roland Barthes, „Die Macht der antiken Tragödie“, in: Ich habe das Theater immer sehr geliebt, ebd., 40–54, hier 41. Aristoteles, Physik. Vorlesung über Natur, Bücher I–VIII, griechisch-deutsch, übersetzt, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen herausgegeben von Hans Günter Zekl, zwei Halbbände, Hamburg 1987 und 1988, hier erster Halbband, 149–237. Aristoteles diskutiert an verschiedenen Stellen den „Welt-Ort“, der ebenfalls die Merkmale des Orts als eine Berührung von Umfassendem (Welt) und Umfassten (Himmelssphären) aufweisen muss. Darüber hinaus weist dieser Ort ein Unten (der schweren Körper) und ein Oben (der leichten Körper) auf, wobei alle Körper, die Aristoteles für einen Ort in Betracht zieht, wachsend oder beweglich, also in physischem Sinn lebendig sind. Werner Hamacher, „Amphora“, in: Elisabeth Schweeger (Hg.), Wanda Golanka. Tanz Ensemble Modell, Berlin 2010, 29–35, hier 31. Ebd., 32. Damit ist natürlich ein Paradox ausgesagt, denn das Unbegrenzte muss irgendwo am Himmelskörper an einen beweglichen, begrenzten physischen Körper angrenzen, also dessen endliche Grenze teilen, welche dann der unendlichen Dehnung des Unbegrenzten entsprechen müsste. Deutlich ist, dass Aristoteles bestimmt, dass der Himmelskörper selbst nicht noch einmal umfasst wird, das Unbegrenzte also nicht als Körper, Ur-Archē oder Anfangsgrund verstanden wird (wie bei den Pythagoreern). Die Paradoxie einer Teilung von endlicher und unendlicher Grenze, ergibt sich aus seinem Topos-Denken und bleibt ungelöst. Vgl. 203b 15–30 und 204b 4–6. Pierre Pellegrin, „Aristoteles“, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, in: Jacques Brunschwig, Geoffrey Lloyd (Hg.), Das Wissen der Griechen, München 2000, 507–526, hier 519. Hamacher, „Amphora“, ebd., 32. Aristoteles: Poetik, ebd., 59. Diese Struktur, die sich in der Gliederung von Eingangslied (Parodos) und abschließender Klage (Exodus) wiederfindet, ist unbestritten. Das Exodus-Finale wurde als Festzug (Pompē) ausgeführt, der den Chor (und dann die Zuschauer) aus dem Theater hinausführte. Etwas uneinheitlicher sind die Auffassungen hinsichtlich der Pompē zu Beginn: Dass die Großen Dionysien mit einer Pompē starteten, die durch die Stadt zum Dionysos-Heiligtum und dann in das Theater führte, und dass die Dionysien am ersten Tag mit einem Dithryamben-Agon eröffnet wurde, wird übereinstimmend angenommen. Etwas uneinheitlicher gestalten sich die Auffassungen, wie sich der Übergang von der Pompē zu der Parodos der jeweiligen Tragödie genau vollzog. Vgl. unter vielen möglichen Zusammenfassungen von Zimmermann, Melchinger etc. zum Beispiel Susanne Gödde, „Die Polis auf der Bühne. Die Großen Dionysien im klassischen Athen“, in: Renate Schlesier/ Agnes Schwarzmaier (Hg.), Dionysos – Verwandlung und Ekstase, ebd., 95–105. August Wilhelm Schlegel, [Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. Fünfte Vorlesung], in: ders.: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1966, 61–71, hier 65.


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Auf- und Abtritte sind im Griechischen nicht markiert. Sie werden von den Übersetzern aus der Chronologie der Verse und ihrer Zuordnung zu den Figurennamen abgeleitet und eigenmächtig hinzugefügt. Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a. M. 2009, 147 (Hervorhebungen i. O.). Ebd., 143 ff. Arbogast Schmitt übersetzt diesen zentralen Begriff der aristotelischen Poetik mit „Darstellung“. Vgl. Aristoteles, Poetik. Übersetzung und Kommentar von Arbogast Schmitt, Berlin 2009. Aristoteles: Poetik, 21. Folgend werden die Zitate aus diesem Text per Seitenzahl in Klammern ausgewiesen. Während die andere plakative Vereinfachung, die „Lehre von den drei Einheiten“ (Einheit von Handlung, Zeit und Ort), eine Lesefrucht von Ludovico Castelvetro darstellt (1570), die in Frankreich in das Handbuch Pratique du Théâtre (1657) von François Hédelin, Abbé d’Aubignac aufgenommen wurde und große Verbreitung in der Regelpoetik fand. Hans Blumenberg, „Nachahmung der Natur“, in ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 55–103, hier 56. Aristoteles: Poetik, 7 bzw. 49. „Handlung“ bezeichnet hier das „Drama“ (9), das Aristoteles als Konstellation von Tuenden (drôntes, von drân) definiert, die aus den Mythen bekannt sind. Tragödien werden „über eine kleine Anzahl von Geschlechtern zusammengesetzt“ (41). Michel Serres’ Beschreibung seines Besuchs von Epidauros, in ders.: Die fünf Sinne, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1998, S. 111–113. Aristoteles resümiert: Wie es in der Kunst/techne „Zweckmäßigkeit“ und „Zweckgerichtetheit“ gibt, so auch in der Natur/physis, die sich selbst reguliert. In: ders., Physik. Zweites Buch, 95, 199b 30. Marita Tatari, Kunstwerk als Handlung. Transformationen von Ausstellung und Teilnahme, Paderborn 2017, 26 f. Ebd., 134. Vgl. auch Tataris Skizze eines Zusammenhangs von Chor – Handlung – Bühne, 130–134. Zimmermann, „‘Ein ungeheures, mit übernatürlicher Lunge begabtes Einzelwesen‘“, ebd., 253. Für die Großen Dionysien im fünften Jahrhundert (Dithyramben-Agon, drei tragische Tetralogien, fünf Komödien) wurden mehr als 1100 Choreuten eingesetzt, vgl. Zimmermann, ebd., 249. Ebd., 253 (Zimmermann verweist hier auf Aristoteles, Poetik, ebd., 15). Ebd. Ebd., 255. Gilles Deleuze, Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Diekmann, Frankfurt a. M. 1993, bes. 86–90, hier 87. Ebd., 86 f. Ebd., 87. Wolfram Ette, Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 2011. Mitunter derart randständig, dass zum Beispiel Wilhelm Kuchenmüller, dessen Übersetzung aus dem Jahr 1955 immer noch bei Reclam gängig ist, in Bezug auf das zweite Chorlied in der Antigone (V. 322 ff.) vermutet: Dieses „Chorlied ist wohl ohne jeden Zusammenhang mit dem Drama entstanden und darf an keiner Stelle mit der Handlung in Verbindung gebracht werden“. Vgl. Sophokles, Antigone, Stuttgart 1992, Anmerkungen, 59. Aristoteles, Poetik, 31 f. In der Übersetzung Steinmanns, der nicht von ‚Konstellation‘/‚Konfiguration‘, sondern von „Fabel“ spricht, heißt es: „Hieraus ergibt sich, dass sich die Tätigkeit des Dichters mehr auf die Fabeln erstreckt als auf die Verse […], dass von den wirklichen Geschehnissen manches so beschaffen ist, dass es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte, und im Hinblick auf diese Beschaffenheit ist er Dichter derartiger Geschehnisse.“

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Friedrich Hölderlin, „Anmerkungen zur Antigonä“, in: Sophokles, Sämtliche Werke, Bd. 16, Basel, Frankfurt a. M. 1988, 411–421, hier 417. Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989, 149. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, aus dem Französischen von Rüdiger Hentschel und Andreas Knop, in der Reihe Übergänge, hg. von Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels, Band 17, München 1987, 114. Nachfolgende Zitate bis zur nächsten Fußnote ebd. Ebd., 75. Ebd., 115. Jan Kott, Gott – Essen. Interpretationen griechischer Tragödien. Aus dem Polnischen von Peter Lachmann, Berlin 1991, 15. Die Charakterisierung dieser Ausnahmetragödie als Denkmal richtet sich auch gegen die vielen Versuche, ihren Ausnahmecharakter als Zeitstück aufzuweisen. Die Tatsache, dass Aischylos in der Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.) selbst mitkämpfte und 472 diese Tragödie ‚aus der Sicht der Besiegten/Feinde‘ verfasste, hat zu haltlosen Spekulationen Anlass gegeben. Sie unterstellen die „demokratische Gesinnung“ des Autors und den griechischen Zuschauern seiner Zeit das „ungeheure Gefühl des Triumphs“ bei der Schilderung der Niederlage der Perser, sodass sich die abschließende Klage „mit dem Jubel des Zuhörerkreises vereinigt“ haben soll (Emil Staiger, „Nachwort“, in: Aischylos, Die Perser, Stuttgart 2007). Im Gegensatz dazu Anton Bierl: „Es geht also kaum um die politische Wertung und Beeinflussung des Publikums für den Sieger und den Besiegten, sondern um die ritualisierte, auf Körpergesten und Sprachgewalt reduzierte Inszenierung eines exemplarischen Geschehens“, in: ders., „Zwischen dem Selbst und dem Anderen. Aischylos‘ Perser und das Politische in der antiken Tragödie“, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Dreyer (Hg.), Antike Tragödie heute, Blätter des Deutschen Theaters, Nummer Sechs, Berlin 2007, 49–64, hier 56. Zu diesem Term genauer vgl. Ulrike Haß: „Die Zwei Körper des Theaters: Protagonist und Chor“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich/Berlin 2014, 139–159. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. Fünfte Vorlesung, in ders.: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1966, 61–71, hier 65. Walther Kranz, Stasimon. Untersuchungen zu Form und Gestalt der griechischen Tragödie [1933], Reprint Hildesheim 1988, 171 f. Vgl. Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität [1982], aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Frankfurt a. M. 2007, 137-160. Zum Heraklit-Fragment vgl. Fußnote 25. Siehe dieses Buch, 269 ff. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann, Frankfurt a. M. 1985, 123 ff. Christiane Sourvinou-Inwood bespricht diese Horizontbildungen mit den Begriffen von „zooming effect“ und „distancing effect“. Vgl. dies., „Assumptions and the Creating of Meaning in Sophocles‘ Antigone“, in: Journal of Hellenic Studies 109/1989, 134–148. Handlung bezieht sich auf die tragische Komposition und nicht auf Charaktere, wie Aristoteles zugespitzt sagt: Es „könnte ohne Handlung keine Tragödie zustande kommen, wohl aber ohne Charaktere“ (Poetik, 21). Dies erscheint Manfred Fuhrmann derart widersinnig, dass er in seinem Nachwort zur Poetik eingreift: „Der Ausdruck ‚ohne Charaktere‘ darf […] nicht im Wortsinne genommen werden.“, ebd., 110. Lacan hält die Funktion des „emotionalen Kommentars“ für „die größte Überlebenschance der antiken Tragödie“. Vgl.: Jacques Lacan: „Das Wesen der Tragödie. Ein Kommentar zur Antigone des Sophokles“, in: ders., Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII, bearbeitet von Jacques A. Miller und übersetzt von Norbert Haas, Weinheim 1996, 291–345, hier 303.


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Vgl. Jürgen Rode: „Ob im szenischen Spiel der Charakter des Chores stark ausgeprägt ist oder nicht, ob er stark oder schwach beteiligt ist: die Form des Chorliedes wird davon nicht beeinflußt.“ Jürgen Rode, „Das Chorlied“, in: Walter Jens (Hg.), Die Bauformen der griechischen Tragödie, München 1971, 85–115, hier 115. Was von so unterschiedlichen Kommentatoren wie Kott oder Lacan bemerkt worden ist. Vgl. Jan Kott, „Der schwarze Sophokles oder die Zirkulation der Gifte“, in: ders., Gott–Essen, Berlin 1991, 101–126, bes. 119 f. Zur extremen Einsamkeit der sophokleischen Protagonisten, die in der Tragödie stets „am-Endeder-Bahn“ stehen, vgl. Lacan, „Das Wesen der Tragödie“, ebd., 326 f. Kirsch, Chor-Denken, ebd., 100. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, ebd., 523. Jean-Pierre Vernant, Tod in den Augen, Figuren des Anderen im griechischen Altertum: Artemis und Gorgo, aus dem Französischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1988, 20. Ebd., 21. Die nachfolgenden Zitate bis zur nächsten Fußnote ebd. Mit der Chor-Verkümmerung sind erhebliche ‚Kollateralschäden‘ verbunden, die in Ion mit einem lügenden Orakel beginnen. Vgl. die Analyse von Ion in: Kirsch, Chor-Denken, ebd., 348–379, bes. „Touristenchöre“, 369-375. Kirsch, Martin Hose und Siegfried Melchinger vergleichen euripideische Chöre mit Touristen (Nachweise ebd.). Thomas Paulsen zählte den Choranteil am jeweiligen Gesamtumfang der Verse in Prozent: Aischylos weist die umfangreichsten Chorteile auf (Die Hiketiden: 60 Prozent, Sieben gegen Theben: 49 Prozent), der Anteil verringert sich bei Sophokles (Antigone: 27 Prozent, Ödipus: 21 Prozent) und noch einmal bei Euripides: Die Bakchen bildet eine Ausnahme (29 Prozent), Iphigenie mit einer langen Parodos (23 Prozent), Orest (11 Prozent). Vgl.: Thomas Paulsen: „Die Funktionen des Chores in der Attischen Tragödie“, in: Gerhard Binder, Bernd Effe (Hg.), Das antike Theater: Aspekte seiner Geschickte, Rezeption und Aktualität, Trier 1998, 69–92. Richard Wagner, „Oper und Drama“, in: ders., Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 7, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1983, 8–370, hier 64. Bertolt Brecht, „Fatzer“, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller, Bd. 10, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1997, 387–529, 477. Gilbert Simondon, der für die Anerkennung eines Verbunds aus Menschen, offenen technischen Maschinen und Natur plädiert, in: ders., Die Existenzweise technischer Objekte, Übersetzung von Michael Cuntz, Zürich/Berlin 2012. Jean-Luc Nancy, Corpus, übersetzt von Nils Hodyas und Timo Obergöker, Zürich/ Berlin 2007, 28 f. Sebastian Kirsch, „Vermählt mit dem (Theater)Gott. Aischylos‘ Hiketiden oder die Chorfigur als Medium des Heiligen“, in: Archiv für Mediengeschichte – Medien des Heiligen, hg. von Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl, Paderborn 2015, 21-29, hier 23. Wir werden auf diesen Aspekt genauer im Zusammenhang mit Beckett zurückkommen. Siehe dieses Buch, 222 ff. Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., S. 277. Ebd., S. 17. Die Seitenangabe gilt ebenso für die folgenden Zitate (bis zur nächsten Fußnote). Das ungewöhnliche Verfahren Schleefs, werkübergreifend zu analysieren, gilt den beiden Körpern des Theaters, Protagonist und Chor, deren Verhältnis er als conditio sine qua non unseres Theaters auffasst. Schleefs Forschungen entbieten damit in sehr explizitem Sinn eine Theater- und keine Literaturrecherche. Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1986. Zu Galen vgl. 140–163, 145. Die nachfolgenden Zitate bis zur nächsten Fußnote ebd.

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Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., 18. Das Thema Ansteckung wird im Kleist-Kapitel ausführlich zur Sprache kommen. Siehe dieses Buch, S. 144 ff. Foucault, Die Sorge um sich, ebd., 183. Walter Benjamin, „Haschisch in Marseille“, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. IV, 1, hg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt a. M. 1972, 409–416, hier 409. Jerzy Grotowski strebte bei seinen Schauspielern die Gleichzeitigkeit von Impuls und Ausdruck an. Als Voraussetzung dafür galt es, den kulturalisierten Körper durch extremes Körpertraining zu überwinden. Vgl. Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, aus dem Englischen von Claudia Marie Mense, Berlin 1996. Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, 386. Vgl. zur Musik bes. 376–389. Folgend wird hieraus im Fließtext per Seitenzahl in Klammern zitiert. Lacan, Das Wesen der Tragödie, ebd., S. 296. Marita Tatari in: Ulrike Haß/Marita Tatari, „Eine andere Geschichte des Theaters“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen, ebd., 77–90, hier 83. Nietzsche, „Das griechische Musikdrama“ (1870), in: Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bd., hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999, Band 1, 515–532, 522 f. Ausgehend von einer Isomorphie von Anatomie und Geschlechtsakten bei Frau und Mann, gilt das Sperma gegenüber den Säften der Frau als kräftiger und vollkommener: So kommt ihm größerer Einfluss auf die Bildung des Embryos zu. Vgl. Galen, der ältere Traditionen aufnimmt, zit. in: Foucault, Die Sorge um sich, ebd., 142 f. Jean-Luc Godard, „Es kommt mir obszön vor“, ein Gespräch von Katja Nicodemus, 6. Oktober 2011, in: Die Zeit Nr. 41/2011. Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Frankfurt a. M. 2016. Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung. Aus dem Französischen von Jadja Wolf, Frankfurt a. M. 2009, 232 u. 233. Tarde zieht immer wieder Beispiele aus der Physik und der Thermodynamik heran, um das sich unaufhörlich vergrößernde „Feld der Nachahmung“ (375) zu beschreiben. Jörn Etzold, Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft, Paderborn 2019, 129–145. Ebd., 142. Alle hier verwendeten Zitate Hölderlins werden nachgewiesen bei Etzold, ebd., 142 u. 143. Ebd., 196 f. Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, übersetzt von Richard Steurer, Wien 2008, 11–34, hier 16. Diese Stelle gilt auch für das nächste, im Fließtext folgende Zitat von Rancière. Isabell Lorey, „Die Macht des Präsentisch-Performativen. Zu aktuellen Demokratiebewegungen“, in: Themenheft: kollektiv auftreten, hg. von Evelyn Annuß, Forum Modernes Theater, Bd. 28, Tübingen 2017, 80–90, hier 88, Fußnote 3. Ebd., S. 81. Es handelt sich um eine Doppelbewegung: Die Verdrängung des Chors und die Vertreibung der Frau aus dem tragischen Konflikt bilden zwei Seiten einer Medaille, die Schleef als „drückende Erb-Last“ der deutschen Klassik kennzeichnet. Vgl. Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., 9. Aristoteles, Poetik, 59. Die Stelle lautet im Griechischen: Kai ton choron de ena die hupolambanein tōn hypokritōn (wörtlich: Doch es ist notwendig, den Chor in einem mit dem Antwortenden/Schauspieler gastlich aufzunehmen). Fuhrmann übersetzt: „Den Chor muss man ebenso einbeziehen wie einen Schauspieler, und er muss Teil des Ganzen sein.“ Im Original wird der Vorgang betont, die Aufnahme von zwei Figuren ‚in einem‘. Fuhrmanns Übersetzung legt missverständlich einen Vergleich nahe („ebenso“). Für diese Präzisierung danke ich Meike Hinnenberg.


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Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie Oder: Griechentum und Pessimismus, Stuttgart 1993, 59–61, hier 61. „Glorie der Passivität“ ist Ödipus als die „leidvollste Gestalt der griechischen Bühne“, ebd. Vgl. Aristoteles, Poetik, „Der wichtigste Teil [der Tragödie] ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen [anthrōpos], sondern von Handlung [pragma] und Lebenswirklichkeit [bios].“ Ebd., 21. Es ist das noch zu beschreibende Verdienst der Inszenierungen Einar Schleefs, unter den Einrichtungen des Guckkastens die verborgene, aber nicht wirkungslose Topologie des Theaters aufgedeckt zu haben. Was Michel Serres vom Dialog sagt, dass er nur den ‚unwahrscheinlichen Sonderfall‘ einer netzförmigen, stets vielpoligen Kommunikation darstellt, gilt entsprechend für den Guckkasten und die Topologie des Theaters. Vgl. Michel Serres, Hermes, Bd. 1, Kommunikation, Berlin 1991, 15-30. Juliane Vogel, Bettine Menke, „Das Theater als transitorischer Raum“, in: Bettine Menke und Juliane Vogel (Hg.), Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden (= Recherchen 133), Berlin 2018, 7–23. Juliane Vogel, Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, Paderborn 2017, 22-29. An Wilhelmine von Zenge, Fr., 10., und Sa., 11. Oktober 1800. In: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Band IV/1, Briefe 1, März 1793–April 1801, 333–351, 347 f. An Adolphine von Werdeck, Di., 28., und Mi., 29. Juli 1801. In: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke, Band IV/2 Briefe 2, Mai 1801–Aug. 1807, 69–81, 73. Das blitzartige Auftreten dieses ‚Amphitheaters‘ inmitten verschiedener Stücke und Erzählungen ist Gegenstand meines Aufsatzes: „Das größere Theater Kleists“, in: Jörn Etzold, Moritz Hannemann (Hg.), rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin, Paderborn 2016, 235–252. Michel Foucault, Die Regierung der Lebenden. Vorlesungen am Collège de France 1979/80, Berlin 2014, 20. An Johann Wolfgang Goethe, 24. Januar 1808. In: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Münchener Ausgabe, 3 Bände. Auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, München 2010, Bd. II, 896. Bernhard Greiner, „,Die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen‘: Die unausführbare Tragödie Robert Guiskard“, in: Michael Lützeler/David Pan, Kleist Erzählungen und Dramen. Neue Studien, Würzburg 2001, 135–149. Thomas Mann sprach von einem „kolossalen Akt“, der „zu gut“ sei, als daß er überboten werden könnte und weitere vertrüge“, in: Helmut Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Bremen 1967, Nr. 500d. Roland Reuß, „Lautlos“. Kritik der Rede in Kleist „Robert Guiskard“. In: Brandenburger Kleist-Blätter 13. Band I/2 der Brandenburger Kleist-Ausgabe (Robert Guiskard) 2000, 3-11, hier 3. In der Phöbus-Erstveröffentlichung hieß es „Tragödie“ anstelle von „Trauerspiel“. BKA I/2, 7. Alle Zitate aus dem Stück werden mit Versangabe zit. n.: H. v. Kleist, Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle, Band Bd. 1/2, Basel/Frankfurt a. M. 2000. Juliane Vogel, „Kleists Guiskard-Fragment und die Pestkranken von Jaffa“, in: dies., Aus dem Grund, ebd., 208–225, 208. Ebd., 217 f. Ebd., „Das Fragment oder die Verweigerung des tragischen Verlaufs“, 223-225. BKA I.2, 108. Vogel, Aus dem Grund, 225. Ebd., 207. Kleist gehört zu den bevorzugten literarischen Referenzen von Deleuze/Guattari.

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Hier im Zusammenhang mit der Kriegsmaschine: Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, ebd., 487–489, 489. Heiner Müller, „Deutschland ortlos. Anmerkung zu Kleist“. Rede anläßlich der Entgegennahme des Kleist-Preises 1990, in: ders., Jenseits der Nation. Berlin 1991, 61–67, 62 u. 61. Die Phöbus-Ausgabe des Fragments verwendet zur Erläuterung dieser Zusammenhänge eine ausführliche Fußnote (I.2, 23). In Anspielung auf den schönen Titel der Anthologie von: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i. Br. 1994. Der dritte Term dieser Reihe lässt sich auf den Souverän beziehen, der von Gottes (oder Papstes) Gnaden eingesetzt ist. Sophokles: König Ödipus (übers. Kurt Steinmann). Anstelle von Sohn steht im Griechischen das Wort Kind (paios). Durch die letzten vier Worte – emou te kakeinou para – wird konkretisiert, dass dieses Kind aus Zweien kommt (emoute), wörtlich: „mir dir“. Übertragungen unterlegen jedoch stets die Geschlechterdifferenz von männlich und weiblich: „aus mir und ihm“ (Steinmann) oder „mir und ihm“ (Schadewaldt). Roland Barthes, „Zuhören“, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1990, 249–263, hier 262. Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Adam Müller (28.08.1807), in: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hg. von Helmut Sembdner, 4. erw. Aufl., München/Wien 1996, 185. Barthes, „Zuhören“, ebd., S. 262. Werner Hamacher, 95 Thesen zur Philologie, hg. von Urs Engeler, roughbook 008, Frankfurt a. M./Holderbank (SO), Oktober 2010, hier: These 16. Ludwig Tieck (Hg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften, Berlin 1821. Zu den Diskrepanzen der Einschätzung Tiecks, die keineswegs bemäntelt werden, vgl. bes. LXIII–LXXIII. Jan Mieszkowski, „Zur ewigen Nachwelt (ohne Frieden)“, in: Nikolaus Müller-Schöll, Marianne Schuller (Hg.), Kleist lesen, Bielefeld 2003, 242–269, bes. 244–248. Dieses und das folgende Zitat, ebd., 247. Ebd., 246. Zum Vergleich: „Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“ (Schroffenstein); „Ein Drama“ (Hermannsschlacht); „Ein Trauerspiel“ (Penthesilea); „Ein großes historisches Ritterschauspiel“ (Käthchen); „Ein Lustspiel“ (Krug); „Ein Lustspiel nach Moliere“ (Amphitryon). Alle Zitate aus diesem Stück erfolgen mit Versangabe nach: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Band 1, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Frankfurt a. M. 2006. Roland Reuß, „Bittschrift. Zur Poetik von Kleists Schauspiel ,Prinz Friedrich von Homburg‘“, in: BKA 1.8, Brandenburger Kleist-Blätter 18, Frankfurt a. M. 2006, 3–17. Friedrich, d. i. etymologisch Frieden / reich. Als Verbalabstraktum gilt Frieden als ein „Zustand der Schonung, des Wohlwollens“ wie dies noch im Verb befrieden hörbar ist, im Sinne von „beruhigen, friedlich stimmen, den Friedenszustand herbeiführen“. Frieden basiert auf der Wortwurzel fri, das sich als Adjektiv in das semantische Feld von „frei, unabhängig, unbeschränkt, hold“ öffnet und in den Worten „freien, Freund, Friede, Friedhof“ wirkt. Reich, von mdh. rich(e), ist als Grundwort von Adjektivkomposita (geist-, lieb-, ruhm-, sieg-, tugend-) nicht das Gegenteil zu arm, sondern „viel besitzend“. Vgl. die Einträge „Frieden“, „frei“ und „reich“ in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 3 Bde., hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1989. Geplant war die Übergabe eines gewidmeten Drucks an die Königin Luise, was jedoch durch deren Tod (19. Juli 1810) unmöglich wurde. Kleist sah sich daraufhin einer wichtigen Protektion beraubt. Der durch Marie von Kleist unterstützte Vorgang, das Stück mit einer persönlichen Widmung Kleists im Sommer 1811 Prinzessin Wilhelmine von Preußen direkt zuzuspielen, endet mit dem genann-


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Kraftfeld Chor ten Aufführungsverbot durch die Prinzessin. Prinz Friedrich von Homburg wird erstmals in den von Ludwig Tieck 1821 herausgegebenen Hinterlassenen Schriften Kleists veröffentlicht. Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., 101. Für das folgende Zitat ebd. Genauso wie die „responsiven Verhältnisse“ von Verführung und Verführer bzw. Vertretung und Vertreter, vgl. Bernhard Waldenfels, „An Stelle von …“, in: Kathrin Busch/Iris Därmann (Hg.), „pathos“. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007, 33–49, hier 39. Reuß, „Bittschrift“, ebd., 6. Arendt fügt in Klammern hinzu: „(Wenn man seit den Römern nach Autorität sucht als Legitimation, brauchten und suchten die Griechen nach Maßstäben.)“, in: Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, Erster Band, hg. von Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann, München Zürich 2003, S. 299. (Hervorhebungen i.O.). Dies wird auch von Legendre zugestanden, der das römische Modell aus historischen Gründen für das einzige hält, das dem ‚Westen‘ zur Verfügung stünde und es dogmatisch verteidigt. Vgl. Pierre Legendre: Die Fabrikation des abendländischen Menschen. Zwei Essays, übersetzt von Andreas Meyer, Wien 2004. Ivan Nagel, „Sohn und Vater. Zu Kleists letztem Stück“, in: ders., Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern, München/Wien 1988, 119–142, hier 121. Das folgende Zitat ebd. Steins Inszenierung entschied sich konsequent für das Kammerspiel und zeigt, was passiert, wenn der Zentralkonflikt auf der Figurenebene situiert wird: Er führt zu den immer selben Befunden („Sohn und Vater“). Die Höhlung des Sozialen, das Getrenntsein aller von allen, wird als zentrale Konfliktlage verfehlt. Es heißt letztendlich, die Perspektive Goethes auf Kleist einzunehmen und die Sprache Kleists zu verkennen, denn alles an Kleist erinnert an die in das Äußerste vorgetragene Dichtung der Stasima in der antiken Tragödie. Hier wie da ist es die Sprache der Dichtung, in der die Figuren ihre einzige Verbindung und Stütze haben. Ruhm gilt als das wichtigste Merkmal der Herrscher Preußens. Kottwitz bezeichnet ihn als das höchste Ziel des Königs, hier in Bezug auf den Kurfürsten (V. 1595). Das „Allgemeine der Gattung im Plural“: Nach der Beschreibung der Pest im siebten Buch der Metamorphosen von Ovid findet die Entstehung eines neuen Volks an einem Ort statt, wo „breitästig ein seltener Eichbaum“ (622) steht. Aus den Ameisen, die diesen Baum beleben, wird das „Geschlecht“ der Myrmidonen, mit denen Aeacus das durch die Pest entvölkerte Gemeinwesen (Stadt, Felder) neu aufbaut. (Auch der Prinz sitzt eingangs im Garten vor dem Schloss „unter einer Eiche“.) Eine überragende Inszenierung von Andrea Breth hat dieses szenische Prinzip Kleists beherzigt. Was der Theaterkritik als Inszenierungseinfall galt, nämlich alle ‚Auf- und Abtritte zu streichen‘, verdankt sich realiter einer wortgetreuen Lektüre Breths, denn Kleist sieht, wenn der szenische Ort nicht wechselt, kaum je Abgänge vor. Stets treten die Figuren „zu den Vorigen“, alles vollzieht sich vor aller Augen. [Der Zerbrochne Krug. Neuinszenierung von Andrea Breth am 25.9.2009 im Salzlager Kokerei Zollverein Essen, Ruhrtriennale 2009.] Walter Benjamin: „VIII. Theater auf dem Podium“, in ders: „Was ist das epische Theater (2)“ [1938], in ders.: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. 1971, 32–39, hier 39. László F. Földényi, Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter (1999), aus dem Ungarischen von Akos Doma, Berlin 2020, Eintrag „Mittelstraße“, 295–301, hier 297 u. 301. François Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, aus dem Französischen von Erwin Landrichter, Frankfurt a. M. 2018, 30; zur Charakterisierung vgl. ebd., 30 f. Horaz, Eipistulae 2, 1.134.


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James Knowlson, Damned to Fame. The life of Samuel Beckett, London 1996, 398: „I came back from Berlin on Saturday. It was badly played there, above all badly directed, but well received. I would have preferred the opposite.“ Zit. n. Kölner Abendzeitung (2. Juni 1954). (Die London Times wird o. A., o. J. zitiert.) Pierre Temkine datiert dieses geflügelte Wort auf die Jahre 1954/55, in: ders., „Was es macht, nichts zu sagen“, in: ders., Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte, Berlin 2009, 95–108, hier 104. Theresia Birkenhauer, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur, Berlin 2005, 130–210 („Sprechen und Sprache in Not I“), hier 133. Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a. M. 1965, 64. Alexander Mitscherlich, Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967. Temkine, „Was es macht, nichts zu sagen“, ebd., 105. Die bleierne Zeit (1981), Spielfilm von Margarethe von Trotta, der die Biografien der Schwestern Christiane und Gudrun Ensslin in den 1950er und 1960er Jahren der BRD thematisiert. Günther Anders, „Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück En attendant Godot“, in: ders., Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956), München 1980, 213–231, hier 213. Rolf Tiedemann, „Gegen den Trug der Frage nach dem Sinn“. Eine Dokumentation zu Adornos Beckett-Lektüre, in: Frankfurter Adorno Blätter 3 (1994), 18–78. Susan Sontag, Gegen Interpretation (1964), in dies. Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, dt. von Mark W. Rien, München/Wien 1980, 9–18. Georg Hensel, „Die Quadratur des Greises“ (anlässlich von Quadrat I und II), in: FAZ vom 8.10.1981. Georg Hensel, „Heiland der Heillosen. Samuel Beckett wird achtzig Jahre alt“, in: FAZ vom 12.4.1986. Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer Bd. I. Interviews und Gespräche, Berlin 1990, 49. 1955 schreibt Hans Knudsen mit Bezug auf 1933: „Inzwischen waren die bösen Jahre ausgebrochen.“ Hans Knudsen, Begründung und Entwicklung der Theaterwissenschaft an der Friedrich-Wilhelm-Universität, in: Studium Berolinense. Aufsätze und Beträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, 739–754, hier 752. „The younger generation seems to be petrified, inarticulate, incapable of consistent thought.“ Hannah Arendt, „The Aftermath of Nazi Rule. Report from Germany“, in: Commentary 10 (1950), 342–353, hier 344. Hans Magnus Enzensberger, Berliner Gemeinplätze II, in: Kursbuch 13, Frankfurt a. M. 1968, 190–197. Anders, „Sein ohne Zeit“, 218. Temkine, „Was es macht, nichts zu sagen“, 95. Heiner Müller, „Die Wahrheit ist leise und unerträglich“, ein Gespräch mit Peter von Becker, in: Heiner Müller, Werke Bd. 12, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, 745–782. Zum Dual siehe: Karen Gloy, Alterität. Das Verhältnis von Ich und dem Anderen, Paderborn 2019, 28. Zur homogenisierenden Erzählung vgl. Pierre Temkin, „Woher kommen all diese Leichen? Eine historische Lektüre von Warten auf Godot. Valentin Temkine im Gespräch mit Pierre Temkine“, in: Temkine, Warten auf Godot, ebd., 13–42. Im Französischen ist diese Verschiebung noch auffälliger: Vladimir: „En effet, nous sommes sur un plateau. Aucun doute, nous sommes servis sur un plateau.“ Vgl. Samuel Beckett, Warten auf Godot, En attendant Godot, Waiting for Godot, Frankfurt a. M. 1971 (im Folgenden zitiert als: Godot, dreisprachige Ausgabe), 182. Godot, dreisprachige Ausgabe, 151. Jean Jourdheuil, „Der Raum des Theaters und der Raum im Theater“, in: Angela Lammert (Hg.), Raum und Körper in den Künsten der Nachkriegszeit, Amsterdam/ Dresden 1998, 261–278, hier 267.


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Jourdheuil, „Der Raum des Theaters“, ebd., 268. Ebd., 267. Godot, dreisprachige Ausgabe, 151. Deleuze, „Die Immanenz: Ein Leben“, ebd., 369. Godot, dreisprachige Ausgabe, 163. Alberto Gicometti, zit. n. Jourdheuil, „Der Raum des Theaters“, ebd., 271. (Jourdheuil gibt als Quelle für das Zitat an: Giacometti, Carnets et feuillets, 198.) Horst Bollmann, der in Becketts Inszenierung 1975 in Berlin den Estragon spielte, zit. n.: „Mit ihm waren wir glücklich. Ein Gespräch mit Becketts Lieblingsschauspielern Horst Bollmann, Klaus Herm und Stefan Wigger. Von Peter Kümmel“, in: Die Zeit Nr. 16/2006 vom 12. April 2006. Zu erinnern ist an die Aufführung von George Tabori an den Münchner Kammerspielen 1984 mit Peter Lühr als Estragon und Thomas Holtzmann als Wladimir. Die Situation (W + E) und das Bild (P + L) bezeugen zusammen eine weitere Entscheidung Becketts, nämlich die Bühne nicht als einen vorexistenten Raum aufzufassen: Die Bühne ist kein Container, keine Black Box, kein White Cube. Anders, „Sein ohne Zeit“, 229. Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und Überleben auf der Straße, hg. von Christian Chruxin, Karin Kerner und Klaus Trappmann, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1982. Der Band enthält eine eindrucksvolle Dokumentation zum gewählten, vagabundierenden Lebens im frühen 20. Jahrhundert, mit Schwerpunkt auf den 1920er Jahren. Alle im Zitate bis zur nächsten Seitenangabe finden sich auf S. 7 der verwendeten Ausgabe. Zur Frage, was die Linke ausmache, stellt Deleuez unter G (wie ‚gauche‘) fest: „Die Mehrheit ist also niemand, eine Minderheit hingegen die ganze Welt und das ist es auch, was die Linke ausmacht: zu wissen, dass eine Minderheit die gesamte Welt umfasst und dass nur dort die Phänomene des Werdens auftauchen.“ Vgl. „Das ABC von Gilles Deleuze mit Claire Parnet. Arbeitsmanuskript“ (keine Transkription), hergestellt und übersetzt von Christina Malycha 2003. www.langlab.wayne.edu/CStivale/D-G/DASABC-A-L.html#anchor80972. Letzter Zugriff am 22.11.2018. Warten auf Godot, dreisprachige Ausgabe, 50. Tophoven übersetzt: „Das leuchtet ein.“ Ebd., 51, bzw. „Das ist klar“ in der Einzelausgabe, 20. Der Bezug des Ausdrucks zur Norm/Normalität ist gelöscht. Anders, „Sein ohne Zeit“, ebd., 219. D. i. das Zentrum seiner Analyse vom „Sein ohne Zeit“: „Zeit ist Geschichte“, als ihr „Motor“ gilt ihm, hierin gut hegelianisch, der Kampf um Herrschaft, der Antagonismus, ebd., 228 f. Maurice Blanchot, „Wer nun? Was nun?“ (zu Beckett), in: ders., Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt a. M. 1982, 285–290, hier 289. „By all the known criteria, Waiting for Godot is a dramatic vacuum. It has no plot, no climax, no denouement, no beginning, no middle, no end, it frankly jettisons everything by which we recognize theater, it arrives as it were with no luggage, no passport, nothing to declare, yet it gets through, as might a pilgrim from Mars.“ Kenneth Tynan, „Waiting for Godot“, in: The Observer, 7. August 1955. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt a. M. 2004. Nikolaus Müller-Schöll, „Der ‚Chor der Komödie‘. Zur Wiederkehr des Harlekins im Theater der Gegenwart“, in: ders., André Schallenberg, Mayte Zimmermann (Hg.), Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert (= Recherchen 92), Berlin 2012, 189-201, hier 191. Zum Zitat von Alewyn vgl.: Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München 1999, 99. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, München 1974, 160. Erst im 18. Jahrhundert verdichten Carlo Goldoni und Carlo Cozzi die Erbschaften der Straße, was nicht ohne strittige Transformationen abgeht. Anonyme Verschriftlichungen liegen im Einzelfall auch schon früher vor.

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Den Hinweis auf M. Gogo verdanke ich Mark Lammert. Alexia M. Yates, C’est comme ca que vous entendez les affaires? Gogos and the Moral Parameters of Commercial Life in Nineteenth-Century France. Permalink: http://hdl.handle.net/2027/spo.0642292.0036.012. Letzter Zugriff am 6.4.2018 Frédérick Lemaître, Maurice Alhoy, Benjamin Roubaud, Saint-Amant, Robert Macaire (1833). Ein Textauszug findet sich, übersetzt vom Daumier-Spezialisten Claude Keisch, auf der Seite der Honoré Daumier-Gesellschaft unter dem Stichwort „Robert Macaire“. (www.daumier-gesellschaft.de/robert-macaire) Robert Macaire, 1. Akt, 4. Bild, 6. Szene, ebd. Missgeschicke und Enttäuschungen des M. Gogo, in La Caricature provisoire 1838/39 und eine Serie zu dem Emporkömmling und Betrüger Robert Macaire in der satirischen Tageszeitung Le Charivari 1840–42. Honoré de Balzac, „Monographie du Rentier“, in: ders., Les Français peints par eux-même, Paris 1840. Vgl. auch die Erwähnung einer „schrecklichen [hier im Sinn von ‚zutreffenden‘, UH] Farce mit dem Titel Robert Macaire“ in: Honoré de Balzac, Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken. Die schrägen Typen der Journaille, Zürich 2016. Paul de Kock, Frédérick Lemaître fils, Monsieur Gogo. Comédie-vaudeville en cinq actes, Paris 1959. Agnès Pierron, Dictionnaire de la Langue du Cirque. Des mots dans la sciure, Paris 2003. Tophoven schließt sich damit den Anfang der 1950er Jahre gängigen Übertragungen für Titel berühmter Kunstwerke an, die den Verbrechen der Shoa gewidmet sind: Le Charnier (1944/45), das Tableau von Pablo Picasso, wird im Deutschen unter dem Titel „Das Beinhaus“ tradiert, ebenso das Gedicht Charniers (1945) von Paul Éluard. Anders, „Sein ohne Zeit“, ebd., 224. Deleuze, Logik des Sinns, ebd., 86-90, hier 87. Das folgende Zitat aus Logik des Sinns ebd. Anders, „Sein ohne Zeit“, ebd., 344 f. (Fußnote, Hervorhebung i. O.) Deleuze, Logik des Sinns, 90 f. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 1, Hermeneutik I, Tübingen 1990, bes. 107–138, hier 109. Ebd., 112, Hervorhebung i. O. Für die drei folgenden Zitate Gadamers vgl. den Abschnitt ebd., 111–115. „Spiel als Leitfaden der ontologischen Explikation“ lautet entsprechend Gadamers Kapitelbezeichnung, ebd., 107–138. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002. Zur Charakterisierung des ‚neuen Totalitarismus‘ vgl. die Diskussion zu Nancy in: Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politische bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt a. M. 2010, 87–117. François Rastier, „Warten auf Valentin Temkine“, in: Temkine, Warten auf Godot, ebd., 43–94, hier 52 (Fußnote 61). Anders, „Sein ohne Zeit“, ebd., 229. Die folgenden Zitate von Anders zum „Einbruch“ ebd. Vgl. Han zu Immanuel Kants „homo doloris“, in: Byung-Chul Han, Gute Unterhaltung. Eine Dekonstruktion der abendländischen Passionsgeschichte, Berlin 2018, 77–104, bes. 102 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, 134, hier Zeile 7–15. Die beiden folgenden Hegel-Zitate sind ebenfalls diesem kleinen, zentralen Abschnitt entnommen. Ebd., 135, Zeile 14. Ebd., 131, Zeile 36 f. Peter Bürger, „Die Souveränität und der Tod. Batailles Einspruch gegen Hegel“, in: Andreas Hetzel, Peter Wiechens (Hg.), Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, Würzburg, 1999, 29-40.


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Georges Bataille, L’experience intérieure (Paris 1967), zit. n.: Jacques Derrida, „Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, übersetzt von Rudolphe Gasché, Frankfurt a. M. 1976, 380–421, hier 389. Georges Bataille, Conférence sur le Non-Savoir, in: Tel Quel 10, zit n. Derrida, ebd. Batailles Einspruch entzündet sich am Lachen und geht darüber hinaus: Er betont die Zonen des Nicht-Wissens zum Beispiel im ekstatischen Außer-sich-Sein, in der ‚Erfahrung‘ des Todes, im souveränen Erleben des Heiligen (unsagbare Allkommunion) etc. Gilles Deleuze, „Erschöpft“, aus dem Französischen von Erika Tophoven, in: Samuel Beckett, Quadrat, Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, aus dem Englischen von Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt a. M. 1996, 49–101, hier 55. Hegel, Phänomenologie, ebd., 135. Bürger, „Die Souveränität und der Tod“, ebd., 36. Ebd. Horst Breuer, „Ordnung und Chaos in Lucky’s Think“, in: Ursula Dreysse (Hg.), Materialien zu Samuel Becketts „Warten auf Godot“, Frankfurt a. M. 1976, 117– 126. Klaus Herm, zit. n.: „Mit ihm waren wir glücklich. Ein Gespräch mit Becketts Lieblingsschauspielern Horst Bollmann, Klaus Herm und Stefan Wigger. Von Peter Kümmel“, in: Die Zeit Nr. 16/2006 vom 12. April 2006. Werner Hamacher, „Arbeiten Durcharbeiten“, in: Dirk Baecker (Hg.), Archäologie der Arbeit, Berlin 2002, 155–200, hier 155. Ebd., 158. Zit. n.: Max Domarus, Hitler, Rede und Proklamationen (1932–1945) Bd. 1, Neustadt 1962, 263 f. Hamacher betont an Hitlers Rede ihre Sprache der „PsychoBiotechnologie“ und den „mytho-theologischen“ Begriff von Arbeit. Hamacher, „Arbeiten“, 159–164, das Hitler-Zitat ebd., 161. Zwei weitere Positionen/Motive entnimmt Hamacher Heideggers Rektoratsrede und Jüngers Arbeiter. Hamacher, „Arbeiten“, ebd., 163 (Hervorhebung, UH). Ebd., 163 f. (Hervorhebung i. O.). Theodor W. Adorno, Eingriffe: Neun kritische Modelle, Frankfurt a. M. 1963, 126. Zum „Durcharbeiten“ im hier skizzierten Sinn vgl. Hamacher, „Arbeiten“, ebd., 180–200. Ebd., 181. Siegmund Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: ders., Studienausgabe, Ergänzungsband. Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt a. M. 2000, 205–215, hier 214 f. Ebd., 215. Das Altgriechische kennt an seiner Stelle den Begriff (gr. γένος) genos für ‚Art‘, ‚Geschlecht‘ oder ‚Stamm‘. Der oikos, von dem unser Wort ‚Ökonomie‘ herkommt, wird oft einfach mit „Familie“ übertragen, Aristoteles diskutiert die oíkia als hauswirtschaftende Einheit, bei Homer findet man den oíkio anax, den „Ersten des Hauses“, als Bezeichnung für den Vater. Die Engführung von ‚Geschlecht‘ und ‚Haus‘ wird wesentlich durch die juridische Erfassung genealogischer Positionen in der römischen familia ermöglicht. Dieser Anspruch tritt im Zeichen der Reproduktionstechnologien ideologisch verschärft auf: Jede/jeder hat heute „Anspruch und Recht auf ein gesundes Kind“. Die frühere Formulierung „Jede Frau“ gilt als obsolet, hinzugefügt ist „gesund“. Vgl. Malaika Rödel, Geschlecht im Zeitalter der Reproduktionstechnologien. Natur Technologie und Körper im Diskurs der Präimplantationsdiagnostik, Bielefeld 2014. Horst Bollmann, zit. n.: „Mit ihm waren wir glücklich. Ein Gespräch mit Becketts Lieblingsschauspielern Horst Bollmann, Klaus Herm und Stefan Wigger. Von Peter Kümmel“, in: Die Zeit Nr. 16/2006 vom 12. April 2006.

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Vernant, Tod in den Augen. Figuren des Anderen im griechischen Altertum, ebd., 7 f. Literaturangaben: Timaios, 35 a 3f.; Parmenides, 143 c 2f. Vgl. ebd., 73. Hamacher, „Arbeiten“, ebd., 185. Norbert Elias, John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. 1993. Gilles Deleuze, Felix Guattari, Was ist Philosophie? Aus dem Französischen von Bern Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1996, „Die Begriffspersonen“, 70-98. Nietzsche, „Das griechische Musikdrama“, ebd., 252. Sehr aufschlussreich zum Produktionsproblem ist: Gérard Granel, Die totale Produktion, Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, herausgegeben und eingeleitet von Erich Hörl, aus dem Französischen von Laura Strack, Wien– Berlin 2020. Einige Stichworte sind entliehen: S. 20, 27, 31 ff. (Vorwort), S. 92 f. (Granel). Ich stütze mich hier paraphrasierend auf die sehr schöne Darstellung Marita Tataris zur ‚Kunst der Konfiguration‘ bei Laurent Chétouane, siehe: Tatari, Kunstwerk als Handlung, ebd., 200. Frz. „En attendant“. An dieser Stelle wird der Stücktitel im Text wiederholt. Tophoven übersetzt „Bis dahin“. Beckett unterstreicht diese Worte in seiner Ausgabe von 1975 und notiert am Rand Alternativen, die den zielführenden Zeitbezug durchstreichen: „Inzwischen“ oder „Einstweilen“. Godot, dreisprachige Ausgabe, 154. „Weder“ ist der Titel des Zehnzeilers, den Beckett 1976 als Libretto für eine Komposition von Morton Feldmann schrieb: Chiastisch miteinander verschränkte Begriffe rhythmisieren die Wahrnehmung von Schatten und Licht, von Selbst und Nicht-Selbst, von Stille und Klang. Text/Übersetzung in: Sebastian Claren, Neither, Hofheim 2000, S. 5 ff. „Kopfstand bei Monsieur Samuel. Das Nichts, der Glaube und der ganze Rest. Acht Autoren von Elfriede Jelinek bis Joachim Unseld gratulieren Samuel Beckett zum 100. Geburtstag“, in: Die Welt, 8.4.2006. Ivan Nagel, „Lügnerin und Wahr-Sagerin, Über Elfriede Jelinek zum BüchnerPreis 1998“, in ders., Schriften zum Drama, Berlin 2011, 301-311. Ich halte mich eng an die Beschreibung Nagels, die auch das folgende Zitat aus den Salzburger Nachrichten ausweist, hier 304. Ebd., 305. Ebd., 303. Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Eine Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M./New York 1992. Ich folge der Hauptthese Laqueurs trotz der Kritik, die eine wesentlich ältere Geschlechterbinarität einklagt: Es ist jedoch ein paradigmatischer Unterschied, ob die Geschlechter in einer geschaffenen Gattung unterschieden werden oder ob sie das Gattungswesen selbst darstellen sollen. Slavoj Žižek bestätigt die hier vertretene These vom ‚letzten Hemd‘ auf seine Weise, wenn er schreibt, dass die Geschlechterdifferenz „der letzte Bezugspunkt bleibt, der das kontingente Abdriften der Sexualität verankert“. Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, bes. 363-385, hier 376. Nagel, „Lügnerin und Wahr-Sagerin“ ebd., S. 305. Elfriede Jelinek, „Nachbemerkung“, in dies.: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek bei Hamburg 1999, 85 - 90, hier 90. Elfriede Jelinek, Über Tiere. in: stets das Ihre. Elfriede Jelinek, hrsg. von Brigitte Landes, Berlin 2006, S. 115-128, hier S. 125. Erika als „Herrin“, in: Elfriede Jelinek, Die Klarvierspielerin, Reinbek bei Hamburg 1986, z.B. S. 63. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung zum Menschengeschlecht, Berlin 1780. Friedrich Balke, Mimesis zur Einführung, Hamburg 2018, 121. Elfriede Jelinek, Raststätte oder Sie machens alle, Programmbuch Nr. 130, Burgtheater Wien (Hg.) 1994, 15. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie der politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, 56.


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William Shakespeare, King Richard II / König Richard II., Englisch/Deutsch, Stuttgart 1976. Zitate werden im Fließtext mit Akt/Szene/Verszeile in Klammern ausgewiesen. Elfriede Jelinek, Schatten (Eurydike sagt), in: Theater heute 10/2012 (Beilage), 4. Folgend werden die Zitate durch die Seitenzahl (in Klammern) im Fließtext ausgewiesen. Siehe hierzu Karen Barads posthumanistische performative Auffassung materieller Körper, sowohl der menschlichen als auch der nicht-menschlichen. Vgl. Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, aus dem Englischen von Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2012. Elfriede Jelinek, Krankheit oder Moderne Frauen. Wie ein Stück, Köln 1987, 6. Folgend werden die Zitate mit der Seitenzahl (in Klammern) im Fließtext ausgewiesen. Paradigmatisch ist der Auftritt der Frau als Anblick auf den Bühnen der neuen Komödie in La Mandragola (1524) von Niccolò Machiavelli gestaltet worden. Ihr Anblick/Auftritt bilden Fabel und Struktur der ganzen Komödie. Vgl. Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, 245-255. Michel Foucault, „Nachwort“, in ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963), aus dem Französischen von Walter Seitter (1973), Frankfurt a. M. 1988, 206-219, hier 206. Foucault, ebd., 207 (kursiv i.O.). Bei Foucault heißt es: „im Bezugsrahmen des Todes wahrgenommen, wird die Krankheit erschöpfend lesbar und sie öffnet sich restlos der sezierenden Tätigkeit der Sprache und des Blicks.“, ebd. Elfriede Jelinek, Burgtheater. Posse mit Gesang, in dies., Theaterstücke, hg. von Ute Nyssen, Köln 1984, 102-150, hier 107. Paula Wesselys Bekenntnis zum ‚volksdeutschen Reich‘ 1938, ihr Einsatz für den NS-Propagandafilm und deren groteske Verdrängung in der Nachkriegszeit sind mit Jelineks Stück Burgtheater (1985) neuerlich und nachdrücklich ins Bewusstsein gehoben worden. Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens, München 2005, 59-135. „Das Massenwesen wird jetzt entkleidet“, Elfriede Jelinek, Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek 1999, 20. Das Menschengeschlecht, Frankfurt a. M. 1987. Der Bericht von Robert Antelme, der 1944 als Résistance-Kämpfer in das KZ Buchenwald deportiert wurde und überleben konnte, wurde 1947 als L’espèce humaine veröffentlicht und erst vierzig Jahre später erstmals ins Deutsche übertragen von Eugen Helmlé. Die Schwarz-Weiß-Logik der Dichotomie bezeichnet eine Struktur aus zwei Teilen, die einander ohne Schnittmenge gegenüberstehen. Die dreiteilige Anforderung –einander konfrontiert, gegenüber und sich nicht überschneiden – ist nach dem Bild zweier Einzelwesen modelliert und zitiert nicht von ungefähr auch die moderne Bühnenform mit ihrer konfrontativen Anordnung von Akteuren und Publikum. Diese Anordnung ist außerhalb der geometrischen Optik der Widerspiegelung (als Spiegel- und Bildlogik) undenkbar und versagt völlig, wenn Paare wie Singular/Plural in das binär-hierarchische Schema eingetragen werden sollen. Heiner Müller, Hamletmaschine, in ders., Werke 4. Die Stücke 2, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001, 543-554, hier 554. „Von 1730 bis 1735 wurde nur noch von Vampiren gesprochen … Es ist offensichtlich, dass der Strukturalismus diese Art des Werdens nicht berücksichtigt, da er nur geschaffen wurde, um ihre Existenz zu leugnen oder zumindest herabzuwürdigen.“ Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, 317-422, hier 232 f. Bärbel Lücke, Elfriede Jelinek. Eine Einführung in das Werk, Paderborn 2008, 140. So im Paratext zu Bambiland: „Der Rest ist aber auch nicht von mir. Er ist von schlechten Eltern. Er ist von den Medien.“ Elfriede Jelinek, Bambiland, Reinbek bei Hamburg 2004, 15. Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1974, 53 f. Elfriede Jelinek, Lust, Reinbek bei Hamburg 1992, 28.

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Stephanie Kratz, Undichte Dichtungen. Texttheater und Theaterlektüren bei Elfriede Jelinek. Dissertation Köln 1999, 1. Ebd., 22. Ebd., 17. Elfriede Jelinek, In Mediengewittern, 2003. Antwort auf die Frage vom Bühnenverein: „In Mediengewittern – die Theater überflüssig?“ In der Rubrik „zum Theater“ auf Jelineks Homepage. Martin Heidegger, „Die Sprache“, in ders.: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959, 9-34, hier 16. Elfriede Jelinek, „Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz“. Gespräch mit Peter von Becker, in: Theater Heute, September 1992, 1-9, hier 2. Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy, „Dialog über den Dialog“ (aus dem Französischen von Ulrich Müller-Schöll), in: Joachim Gerstmeier, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Politik der Vorstellung, Berlin 2006, 20-42, hier 21 f. Alle folgenden Zitate werden ohne Einzelnachweis dieser Textstelle entnommen. 1992 als Essay publiziert, fortgesetzt bei der Konferenz „Dialoguer – un nouveau partage des voix“ (Jean-Pierre Sarrazac/Catherine Naugrette, Paris III, März 2004); Buchpublikation unter dem Titel Scène, Paris 2013. Jelinek, In Mediengewittern, ebd. Elfriede Jelinek, Zu Stecken, Stab und Stangl (ein Interview) 1996. In der Rubrik „zum Theater“ auf Jelineks Homepage. Das szenische Dispositiv liegt in der Anordnung des Filmsets oder der Bühne als Bühnenform vor, die das Sehen/Gesehenwerden sowie das Hören/Gehörtwerden miteinander verschränkt. Das szenische Dispositiv ist eine technische Apparatur, die der Film übernimmt und vervollkommnet, indem er an der Stelle des Schnitts durch den Raum ein ortloses, zu jeder Bewegung fähiges Kameraauge installiert. Elfriede Jelinek, Ich möchte seicht sein. Zuerst erschienen in: Theater heute. Jahrbuch 1983, Berlin 1983, 102. Unter der Rubrik „zum Theater“ auf Jelineks Homepage. Ebenda ist auch der folgend zitierte poetologische Essay Sinn egal. Körper zwecklos (1997) abrufbar. „Wenn es ein modernes Zeitalter gibt, dann ganz gewiss das Zeitalter des Kosmischen.“ Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, ebd., 466. Deleuze/Guattari sprechen nicht vom Chorischen, aber ihre Beispiele und deren ‚Verortung‘ in einer Topologie von Tiefe und Oberfläche entsprechen dem hier gesuchten Phänomen des Chors genau. Zu den folgenden Beispielen von Klee und Cézanne vgl. Deleuze/ Guattari, ebd., 467 ff. Wolfram Pichler, „Bildoberflächen, topologisch gewendet. Zur Kunstgeschichte des Möbiusbandes seit ca. 1935“, in: Thomas Eder/Juliane Vogel (Hg.), Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek, München 2010, 19–48. Ebd., 32. Tatima Naqvi, „Unmögliche Möglichkeiten: Elfriede Jelineks paradoxe Topologie in Angst.Störung“, in: Eder/Vogel (Hg.), Lob der Oberfläche, ebd., 131–142. Das folgende Zitat ebd., 142. Elfriede Jelinek, Es ist Sprechen und aus (2013). In der Rubrik „zum Theater“ auf Jelineks Homepage. Elfriede Jelinek, „Bis ich am Boden aufschlage“. Interview anlässlich der Uraufführung von Babel im Nachrichtenmagazin profil vom 5. März 2005. Elfriede Jelinek, Im Abseits (2004), in der Rubrik „zur Kunst“ auf Jelineks Homepage. Alle Zitate in diesem Abschnitt, wenn nicht anders angegeben, ebd. Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954, 120. Balke, Mimesis zur Einführung, ebd., 27. Die Darstellung der niederen Mimesis orientiert sich an Balke, 27–57. Folgend werden Zitate aus Balke im Fließtext in Klammern ausgewiesen. Balke, unter der Verwendung von Zitaten Lukians, in: ders., Mimesis, ebd., 240 (Fußnote 40).


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Nicole Loraux, Tragische Weisen, eine Frau zu töten, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1993, 8. Vgl.: Deleuze/Gauttari, Tausend Plateaus, ebd., 298 f. Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung (1890), aus dem Französischen von Jadja Wolf, Frankfurt a. M. 2009, 13. Folgend werden die Zitate von Tarde im Fließtext in Klammern ausgewiesen. Chaosmose: Der Titel des letzten Buchs von Guattari ist ein Neologismus, der sich zum geflügelten Wort eignet: Osmose (gr. ōsmós für Eindringen, Schub, Antrieb), die den Ausgleich von Konzentrationsunterschieden in Flüssigkeiten bezeichnet, die durch eine Membrane getrennt sind, wird durch die Verknüpfung mit Chaos zu zahllos strömenden Ausgleichsbewegungen, in denen ‚das Für-sich und das Für-andere keine Vorrechte der Menschheit mehr sind‘. Félix Guattari, Chaosmose [1992], Wien 2014, 138. Elfriede Jelinek, Meine gute Textwurst. Dankesrede zur Verleihung des Nestroy Autorenpreises 2013. Unter der Rubrik „zu Politik und Gesellschaft“ auf Jelineks Homepage (zuletzt abgerufen 18.4.2019). In Anlehnung an Foucault: „[S]eit Descartes wird die Übereinstimmung zwischen Glauben und Wahrheit durch eine bestimmte (mentale) Evidenzerfahrung erreicht. Für die Griechen findet die Übereinstimmung jedoch nicht in einer (mentalen) Erfahrung statt, sondern in einer verbalen Tätigkeit, nämlich der parrhesia.“ Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Berkeley-Vorlesungen 1983, übersetzt von Mira Köller, Berlin 1996, 13. Stefanie Carp, „Die Entweihung der heiligen Zonen. Aktualisierte Rede zur Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Elfriede Jelinek im Jahr 2002“, in: Brigitte Landes (Hg.), stets das Ihre. Elfriede Jelinek (= Arbeitsbuch 2006), ebd., 48–52, hier 50. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a. M. 2009, 27. Leonhard Schmeiser (dem Jelinek in einer Fußnote zu Wolken.Heim dankt), „Das Gedächtnis des Bodens“, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 10/1987, 38–56. Juliane Vogel, „Ich möchte seicht sein. Flächenkonzepte in Texten Elfriede Jelineks“, in: Vogel/Eder (Hg.), Lob der Oberfläche, ebd., 9–18, hier 18. Ebd. Elfriede Jelinek, Ein Sportstück, Reinbek 1998, 29. Folgend werden Zitate aus diesem Stück per Seitenangabe in Klammern im Fließtext ausgewiesen. Christina Schmidt, Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater, Bielefeld 2011. Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975/76, aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt a. M. 2001, 282–311. Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M. 1993, 254–262, hier 256. Das Blatt ist abgedruckt in: Stephan Suschke, Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog, Berlin 2003, 145. Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., 478. Deleuze, „Die Immanenz: ein Leben“ (1995), ebd., 365–370, hier 368 f. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen von Geschlecht, aus dem Englischen von Karin Wördemann, Frankfurt a. M. 1995, 55 und 32. Mythologisch verbürgt in den Oidipodeia, prähistorisch kommen dazu Übergänge von nomadischen zu agrarischen Kulturen, von polygynen zu monogamen Paarbildungen, die sich in den ersten Hochkulturen als soziale (nicht sexuelle) Paarbildungsnorm durchsetzen. Vgl. Jürgen Kaube, Die Anfänge von allem, Reinbek 2019, 323–339. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Die Spürhunde des Sophokles. Sonderabdruck aus den Neuen Jahrbüchern, Jg. 1912, I. Abteilung, XXIX Band, 7. Heft, 449– 476, hier 465 f.

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Eine von Sophokles „ad hoc erfundene Genealogie“, denn „es gab nirgends Silenose und Satyrn als zwei verwandte, aber verschiedene Wesen“, ebd., 464. Ebd., 465. Elfriede Jelinek, SCHNEE WEISS (Die Erfindung der alten Leier). Mit dem Datum vom 8. Januar 2019 auf ihrer Homepage unter der Rubrik „Theater“ veröffentlicht. Zur etwaigen Orientierung in diesem, auf der Homepage nicht paginierten Text, zitiere ich hier per Seitenzahl eines standardisierten Papierausdrucks. Sophokles, Die Satyrn als Spürhunde, in: ders., Dramen. Griechisch und deutsch, hg. von Wilhelm Willige, neu bearbeitet von Karl Bayer, mit einer Einleitung von Bernhard Zimmermann, Berlin 2014, 659–690. „Der Engel“ ist im Liebeskonzil (1894) die Figur eines missbrauchten Jungen, der tot ist. Rasmus Nordholt, Musikalische Relationen, Dissertation, Ruhr-Universität Bochum 2020, 130. Elfriede Jelinek, Die tote Musik-Maschine, datiert: 27.4.2008/1.11.2013, Sonocoder Entwicklung (1966–1977) von G. Hüngsberg. In der Rubrik „zur Musik“ auf Jelineks Homepage. Nachfolgend nicht eigens ausgewiesene Zitate sind diesem nichtpaginierten Text entnommen. Letzter Zugriff am 15.11.2019. Nordholt, Musikalische Relationen, S. 150. Elfriede Jelinek, Fremd bin ich. Dankesworte zur Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises 2011 für ‚Winterreise‘ am 26.6.2011. In der Rubrik „zum Theater“ abrufbar auf Jelineks Homepage.


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Kraftfeld Chor

Abbildungsverzeichnis S. 36: S. 53: S. 97: S. 125:

Das Theater Epidauros um 1926. In: Epidauros-Katalog In: Kōstas Geōrgousopoulos/ Savvas Gōgos, Epidauros. To archaio theatro, hoi parastaseis. Athen 2002, S. 27

Attisch-rotfigurig Hydria, Syleus-Maler, um 475 v. Chr. Standort: Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin, Inv. F 2179 © bpk Berlin / Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Johannes Laurentius

Die Perser von Aischylos in der Regie von Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme von Mark Lammert im Amphitheater von Epidauros 2009. © Mark Lammert

Bernd und Hilla Becher, Transformator, Bous, Saarland, D 1970. © Estate Bernd & Hilla Becher, represented by Max Becher; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd and Hilla Becher Archive, Cologne, 2020.

S. 141 : Jean-Jacques Lequeu, in: Johnny Leya, Ici Repose Jean-Jacques Lequeu, De te fabula narratur, Brüssel 2015, S. 122

S. 163: Adolph Menzel, Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generäle (1864/5). In: Claude Keisch/Marie Ursula Riemann-Reyher (Hg.), Adolph Menzel 1815–1905. Das Labyrinth der Wirklichkeit. 1996, S. 197

S. 199: Frank Stella, Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel, 2001, National Gallery Washington. Von dieser Skulptur im öffentlichen Raum kursieren unzählige Aufnahmen Im Netz. Der Name des Fotografen konnte nicht ermittelt werden. Der Text dazu ist ebenfalls ein Fundstück (ohne Autorangabe) aus dem Netz. S. 213:

Bühne für Warten auf Godot 1961, Regie: Roger Blin, Bühnenbild: Alberto Giacometti. In: Angela Lammert (Hg.), Raum und Körper in den Künsten der Nachkriegszeit, Amsterdam-Dresden 1998, S. 272

S. 227 : Honoré Daumier, Monsieur Gogo et les nouvellistes de la Bourse, 1838. Privatsammlung.

S. 241 : Guy Debord, „Ne travaillez jamais“, 1953.

S. 267: Mark Lammert, Raum für Warten auf Godot (ursprünglich in der Regie von Dimiter Gotscheff geplant) am Deutschen Theater Berlin 2014, Foto © Ole Meerganz, Archiv Mark Lammert

S. 289: Achille Galant, Modell für einen Bettensaal in Form eines Panoptikums, 1792. Privatsammlung.

S. 293: Wolfsmensch auf der etruskrischen Amphore von Cerveteri, Foto von Chuzeville, (oben). Etruskische Schale, Etruskisches Nationalmuseum Rom, (unten). In: Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 317

S. 317:

Piet Mondrian, Komposition, 1917.

S. 332: Sophokles, Die Satyrn als Spürhunde, Papyrusfragment, Vers 96–138

S. 335: Mona Hatoum, Turbulence (black), 2014. Billes en verre noir, Black glass marbles, Schwarze Glasmurmeln, 3 x 250 x 250 cm | 1 1/8 x 98 3/8 x 98 3/8 inches. Courtoisie de l'artiste et Galerie Chantal Crousel, Paris | Courtesy of the artist and Galerie Chantal Crousel, Paris. Foto: Sebastiano Pellion


Danksagung 357

Danksagung

Dieses Buch ist über einen sehr langen Zeitraum hinweg entstanden, vielfach unterbrochen von zahlreichen anderen Verpflichtungen. Dass das Nachdenken über den Chor dennoch nie abgerissen ist, sondern zu ganz unterschiedlichen theaterpraktischen und theoretischen Arbeiten von und mit vielen anderen führte, verdanke ich glücklichen Bochumer Jahren. Die dichte und experimentierfreudige Theaterlandschaft Ruhr hat vielfältige Erfahrungsfelder und Kooperationen ermöglicht. In Seminaren an der Ruhr-Universität Bochum, in zahllosen Gesprächen und gemeinsamen Beobachtungen konnte ich die Chor-Thematik, die mich seit den Theaterarbeiten Einar Schleefs nicht mehr losgelassen hat, in diesem Umfeld weiterentwickeln. Wenn Arbeiten einander in ihrer Entstehung begleiten und sich schon im Stadium ihrer Entwürfe mitteilen, entsteht eine Atmosphäre der Auseinandersetzung, die über deren willkürliche Einrichtung weit hinausreicht. Ich danke allen, die daran teilhatten, für die Möglichkeit zusammen zu arbeiten und das Blickfeld stetig zu erweitern. Ein solch ausgedehnter Zusammenhang hätte gemeinhin eine Monografie zum Chor in der Geschichte des europäischen Theaters zur Folge gehabt. Mit einer überwältigenden Fülle von Nachweisen hätte diese Monografie die mitunter gebrochene, aber niemals abgebrochene Wirkung des Chors in Dramatik und Theater belegt und die Vorlage für eine andere Geschichte des Theaters zu schaffen gesucht. Doch ein Kraftfeld eignet sich nicht zum Helden einer Monografie. Es ereignet sich in immer neuen Schichten und auf je einmalige Weise in den Werken selbst, ohne sich deshalb in ihrer Diversität zu verlieren. Vielmehr erhält es sich in dieser Diversität selbst und gewinnt in ihr und durch sie hindurch Kohärenz. Um dies nicht nur zu behaupten, sondern an den Werken selbst nachzuvollziehen, habe ich den Weg einer radikalen Reduktion eingeschlagen: nur wenige Namen, nur sehr wenige ausgewählte Werke, die wiederum nicht als Werkeinheit betrachtet und entsprechend nicht umfassend analysiert werden. Eine willkürliche Auswahl, die ich gehütet habe, indem ich der Neigung widerstand, sie durch Querverweise oder Bezugnahmen auf andernorts vorliegende Auseinandersetzungen mit weiteren Autoren und Werken aufzuweichen. Gegen die Versuchung, alles zu sagen, geht es dieser Studie darum, Anknüpfungen zu ermöglichen, den immer anderen Schichten des Chorischen in ihren jeweiligen Zusammenhängen nachzugehen.


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Kraftfeld Chor

Für philosophische, theoriepolitische und medientheoretische Klärungen danke ich Jasmin Degeling, Astrid Deuber-Mankowsky, Jörn Etzold, Moritz Hannemann, Meike Hinnenberg, Jurgita Imbrasaite, Kirsten Möller, Rasmus Nordholt, Jascha Sommer, Laura Strack und Marita Tatari. Für geteilte inhaltliche Interessen und die Möglichkeit, einzelne Aspekte auf Tagungen intensiv zu diskutieren, danke ich Inge Arteel, Silke Felber, Nicole Haitzinger, Bettine Menke und Teresa Kovacs. Für einen niemals abgerissenen theaterpolitischen und fachinhaltlichen Dialog sowie für Einladungen zu Vorträgen und Seminaren danke ich Nikolaus Müller-Schöll. Für vielfache Kooperationen und Einladungen danke ich Kathrin Tiedemann und dem FFT Düsseldorf, Matthias Frense, Holger Bergmann und dem Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr, den Impulse Theater Festivals, den Favoriten Festivals, hier vor allem unter der Leitung von Fanti Baum und Olivia Ebert, dem Festivalcampus der Ruhrtriennale, insbesondere der Ruhrtriennale unter der Leitung von Heiner Goebbels. Für die gemeinsamen Erfahrungen in chorpraktischen Arbeiten danke ich Gotthard Lange, Fabian Lettow, Mirjam Schmuck und Alexander Kerlin. Für unsere Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Chor und (Volks)Gemeinschaft danke ich Evelyn Annuß. Für einen andauernden und intensiven Dialog zum Chor, in dem sich unsere Einzelentdeckungen wechselseitig beförderten, danke ich Sebastian Kirsch. Schließlich möchte ich besonders Mark Lammert für seine freundschaftliche Begleitung meiner Arbeit danken. Seine Hinweise als Leser des entstehenden Manuskripts, sein unbestechlicher Blick für die Dramaturgie von Texten sowie seine Beratung in Fragen der Bildauswahl sind für mich nicht nur eine unschätzbare Hilfe, sondern stets auch eine große Freude. Für seine schnelle und entschiedene Zusage zur Publikation danke ich Harald Müller und dem Verlag Theater der Zeit. Erik Zielke danke ich für sein sehr sorgfältiges Lektorat. Zu besonderem Dank bin ich der Kunststiftung NRW verpflichtet: Ohne ihre großzügige finanzielle Unterstützung wäre diese Publikation schlicht nicht möglich geworden. Nicht zuletzt danke ich Andreas Schiechel für sein Interesse und seine Geduld sowie unsere zahllosen Gespräche, die meine Arbeit nicht nur an diesem Buch begleitet haben.


Zur Autorin 359

Bei einem Vortrag auf der Ruhrtriennale im September 2019, Foto: Moritz Hauthaler

Ulrike Haß ist Theaterwissenschaftlerin und Publizistin. Bis zu ihrer Emeritierung 2016 lehrte sie als Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Bühnen-, Bildund Raumfragen des Theaters; Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform (2005) untersucht die Herausbildung des modernen Innenraumtheaters und seiner Schauanordnung in früher Neuzeit und Barock. Speziell interessieren sie die von den vorherrschenden Modellen verdrängten und partiell vergessenen anderen Möglichkeiten im Gegenwartstheater, in Geschichte und Gegenwart der Dramatik, vor allem Elfriede Jelinek, Heiner Müller und Einar Schleef. 1978 war sie Mitherausgeberin des Lesebuchs Ein anderes Deutschland, von 1986 bis 1990 Vorstandsmitglied der Dramaturgischen Gesellschaft, 1993 erschien Militante Pastorale. Antimoderne Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert. Sie begründete das Jahrbuch für das Theater im Ruhrgebiet (2001– 2011), initiierte den Masterstudiengang Szenische Forschung (etabliert 2012 unter der Leitung von Sven Lindholm) und publizierte 2013 Mark Lammert / Bühnen Räume Spaces. Ulrike Haß ist Mitglied des Internationalen Theaterinstituts ITI.




Aus den älteren, weit verzweigten ländlichen Dionysien mit ihren kultischen Tanzplätzen macht sich der Chor auf, um im fünften vorchristlichen Jahrhundert in der griechischen Polis zu erscheinen. Demokratie, Tragödie und die genealogische Ordnung im Namen des Mannes entstehen zur selben Zeit. Sie gründen sich als je zweifache Gliederung von Polis und Oikos, Skene und Orchestra, Protagonist und Chor, Mann und Frau. Ihre Asymmetrie bewirkt, dass sich diese hybriden Gliederungen nicht schließen können. Am Ort des Chores artikulieren sich Bezugnahmen auf kosmologische Wirkungsgefüge, Umweltsphären und nichtgenealogische Zusammenhangsformen. Chorische Beziehungsweisen bilden ein Kraftfeld. Ein Chor, der keine Erfindung des Theaters ist, führt über dieses hinaus und erneuert es auf je einzigartige Weise.


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