Leseprobe «Eckart Förster – Reflexionen des Geistes»

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Eckart Förster

Re exionen des Geistes

Eckart Förster

Re exionen des Geistes in Philosophie und Kunst

Verlag am Goetheanum

www.goetheanum-verlag.ch

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Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: Ra aello Sanzio da Urbino: Die Philosophie, Deckenfresko in der Stanza della Segnatura, e Picture Art Collection / Alamy Stock Foto

Umschlag und Satz: Wolfram Schildt, Berlin

Druck und Bindung: Gra sches Centrum Cuno, Calbe

ISBN 978-3-7235-1660-7

Inhalt 7 Inhalt Vorwort .......................................... 9 Wir Ideenfreunde .................................. 11 Goethe und die Idee einer Naturphilosophie .............. 31 «Da geht der Mann dem wir alles verdanken!» ............. 49 Eine Untersuchung zum Verhältnis Goethe – Fichte Hölderlin und das Ende der Philosophie ................. 71 Wirklichkeitsgemäßes Denken 101 Überlegungen zu Rudolf Steiners Vom Menschenrätsel Die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie ............ 133 Anmerkungen zu Rudolf Steiners Bologna-Vortrag: «Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der eosophie» «Behutsamkeit, Indirektheit, Unmerklichkeit, auch oft ‹Antitechniken› sind meine Möglichkeiten.» ....... 149 Zu Joseph Beuys’ Das Ende des 20. Jahrhunderts Siglen- und Literaturverzeichnis ....................... 187 Textnachweise ..................................... 200 Abbildungsnachweise ................................ 201

Vorwort

Die hier gesammelten Arbeiten sind über einen Zeitraum von zwanzig Jahren entstanden und aus den unterschiedlichsten Anlässen. Die ersten drei entsprangen akademischen Zusammenhängen, die nächsten drei anthroposophischen. Der letzte Beitrag wurde verfasst für ein Dokumentationsprojekt anlässlich der Erö nung der Pinakothek der Moderne in München.

Trotz ihrer ganz unterschiedlichen Ursprünge und emen durchzieht die Aufsätze ein gemeinsames Motiv, das im Titel des vorliegenden Bandes angedeutet ist und das ihre gemeinsame Publikation gerechtfertigt erscheinen lässt. Zwei von ihnen werden hier zum ersten Mal verö entlicht.

Die bereits vorher publizierten Aufsätze sind zum Teil geringfügig überarbeitet worden; die Zitierweise wurde vereinheitlicht.

Bei den ursprünglich als Vorträge konzipierten Arbeiten wurde der mündliche Vortragsstil weitgehend beibehalten; ihnen wurden lediglich erläuternde Anmerkungen hinzugefügt. Gelegentliche Überschneidungen in den Beiträgen wurden in Kauf genommen, um ihre selbständige Lesbarkeit zu belassen.

Baltimore, Maryland, im Oktober 2020

Vorwort 9

W ir I deenfreunde

Die Ideenfreunde haben es schon in Platons Sophistes nicht leicht, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Der Grund dafür ist so einfach wie scheinbar unüberwindlich: Freunde der eide sind wie Freunde der sophia, d. h. sie haben das nicht selbst, was sie lieben. Und weil sie Ideen nicht selbst schauen können, neigen sie dazu, diese in der Vorstellung dem, was sie sehen können, anzugleichen und zu verdinglichen. Dann können sie sich nicht zur Wehr setzen gegen Einwände wie z. B. die des Parmenides oder des eleatischen Fremden im Sophistes. Aber auch das Wissen, dass Ideen so nicht verstanden werden dürfen, nützt wenig, wenn man keine Kriterien für die Identität und Unterscheidung von Ideen angeben kann. Aus diesem Grund müssen für jeden Ideenfreund besonders diejenigen Philosophen von Interesse sein, die nicht nur behaupten, Ideen zu kennen, sondern die die Erkennbarkeit der Ideen zu ihrem ema gemacht haben. Allen voran natürlich Platon, aber auch z. B. Goethe – um nur die zu nennen, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen möchte.

Zwischen beiden gibt es interessante Parallelen. Nehmen wir auf der einen Seite Platons Lehre von den Ideen, die er selbst zu schauen behauptete, und die Kritik an dieser Lehre, wie sie schon in der Akademie unter seinen Schülern einsetzte und in Aristoteles ihren bekanntesten Ausdruck gefunden hat: «Die Ideen, die wollen wir fahren lassen, sie sind ein Zikadengezirpe [τερετίσματά], und wenn es sie gibt, so tragen sie zur Erklärung nichts bei, denn die Beweise haben es mit solchem zu tun, was wirklich ist» (An. post. 83a 33 – 35; Herv. EF).1

1 Zur Zitierweise siehe das Siglen- und Literaturverzeichnis am Ende des Buches.

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Nehmen wir auf der anderen Seite das berühmte Gespräch zwischen Goethe und Schiller im Juli 1794 in Jena, in welchem Goethe die P anzenmetamorphose beschrieb und für Schiller «mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische P anzen vor seinen Augen entstehen» ließ. Zu Goethes Unbehagen «vernahm und schaute [Schiller] das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. […] [I]ch nahm mich aber zusammen und versetzte: das kann mir sehr lieb sein daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.» (Glückliches Ereignis, LA I, 9, S. 81 f. Herv. EF)

Dass Schiller mit ‹Idee› hier eine Idee im kantischen, nicht platonischen Sinne, meint, braucht uns nicht zu irritieren. Denn sein Einwand entspricht dem von Aristoteles: Die Urp anze (eine platonische Idee) ist Schiller zufolge ein bloßer Gedanke (eine kantische Idee, «ein bloßes Geschöpf der Vernunft», KrV A 479/B 507). Sie ist folglich nichts Wirkliches, das sich durch Erfahrung belegen und über das man wahrheitsfähige Aussagen machen könnte. Der Sache nach scheint sich damit zwischen Goethe und Schiller der alte Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles bzgl. der Realität von Ideen unter neuen Vorzeichen zu wiederholen. Der gemeinsame Punkt – aus meiner Perspektive – ist die darin zum Ausdruck kommende Herausforderung, die Erkennbarkeit der Ideen selbst zu thematisieren und philosophisch nachvollziehbar zu machen.

Über Goethes Lösung will ich nur gegen Ende kurz etwas sagen und mich zunächst auf Platon konzentrieren.

Es scheint weitgehend Konsens darüber zu bestehen, dass für Platon die Erkennbarkeit von Ideen in irgendeiner Weise an die Methode der Dihärese [διαίρεσις, Teilung, Zergliederung] geknüpft ist. Im Philebos heißt es, diese Methode sei ein Geschenk der Götter, die uns aufgetragen hätten, auf diese Weise zu forschen [σκοπεῖν], zu

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lernen und einander zu belehren (vgl. Phlb 16c – e). Und im Phaidros sagt Sokrates: «Hiervon also bin ich selbst ein Liebhaber, Phaidros, von diesen Einteilungen und Zusammenfassungen [τῶν διαιρέσεων καὶ συναγωγῶν], um doch auch reden und denken zu können. Und wenn ich einen anderen für fähig halte, die wahre Einheit in der Vielheit zu schauen, dem folge ich auf seiner Fährte als wäre er ein Gott» (Phdr 266b).

Diesen Dialog möchte ich etwas näher anschauen, da Platon hier erstmals die diairesis einführt.2 In mehrfacher Hinsicht ist der Phaidros ein ungewöhnlicher Dialog. Er ist der einzige der platonischen Dialoge, der außerhalb der Stadt in der Natur spielt. Doch nicht nur das: Platon liefert zudem eine so detaillierte Beschreibung der Landschaft, dass wir genau angeben können, wo sich das Gespräch abspielt: die Unterhaltung ndet am Ilissos statt und zwar, wie Sokrates erklärt, an einem «geweihten Ort», der «zwei oder drei Stadien unterhalb des Punktes, wo der Weg zum Heiligtum von Agra über den Bach führt» liegt (Phdr 229c 1 – 2)3. Im Heiligtum von Agra fanden jedes Jahr im Frühling die kleinen Mysterien statt, die vorbereitend den großen Mysterien in Eleusis (im September) vorangingen. In den großen Mysterien von Eleusis wurden einige wenige Auserwählte zur epopteia (Schau) geführt; in Agra durften viele gegen Bezahlung an der vorbereitende myesis (Reinigung, Deutung von Mythen, damit verstanden werden konnte, was man später schauen würde) teilnehmen. Das wusste jeder Leser Platons. Tausende Athener waren in Agra eingeweiht, und jeden September zog fast die gesamte Athener Bevölkerung in der Heiligen Prozession von Athen nach Eleusis – « yrsusträger die meisten», wie es Phaidon 69c heißt – , um die wenigen, die zur epopteia bestimmt waren, zu geleiten. Wenn Platon Sokrates im Gorgias ironisch sagen lässt: «Du

2 Dihärese als philosophische Methode ndet sich auch schon vor Platon, z. B. bei Heraklit, Frag 1: «[…] διαιρέων ἕκαστον κατά φύσιν». Ihre Ursprünge scheint sie in der antiken Musiktheorie und Mysterientradition zu haben; vgl. Koller, Hermann: Die dihäretische Methode, und ders.: Musik bei Platon und den Pythagoreern.

3 «Ein dort gefundenes Relief, auf dem Acheloos, die Nymphen, Hermes sowie Demeter und Kore dargestellt sind, beweist, dass zwischen diesen Gottheiten und den Göttinnen von Eleusis eine enge Beziehung bestand. Ihnen beiden wurde denn auch weiter unten im Bereich von Agra die ‹kleinen Mysterien› gefeiert. Die Mysten reinigten sich dabei im Wasser des Ilissos – genau wie Sokrates und Phaidros, die [zuerst] durch das reine Wasser waten (229a 4 – 5).» (Schefer, Christina: Platons unsagbare Erfahrung, S. 84)

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bist glückselig, Kallikles, daß du die Großen Weihen hast vor den Kleinen; ich meinte, das ginge nicht an» (Gorg 497c), sagt er etwas, was seine Leser selbstverständlich kannten und verstanden. Wir sind geographisch also in der Nähe des Orts der kleinen Mysterien. Das ist sicher kein Zufall.

Und der Titel des Dialogs: Phaidros. Wer war Phaidros? Zunächst einmal eine historische Figur.4 In der Nacht vor dem Kriegszug 415 v. Chr. gegen Sizilien waren in Athen von zahlreichen Hermen die Köpfe abgeschlagen worden, was als schlimmes Omen gedeutet wurde. Im Zuge der Nachforschungen stellte sich heraus, dass ebenfalls durch eine Gruppe betrunkener Jugendlicher die Mysterien von Eleusis nachgespielt, d. h. profaniert worden waren, worauf in Athen die Todesstrafe stand. Einer der an der Profanierung Beteiligten war Phaidros, und er entkam der Hinrichtung nur dadurch, dass er ins Exil oh. Auch das wussten Platons Leser natürlich. Mehr noch: da Phaidros im Dialog die Bedeutung des Orts, an dem er sich mit Sokrates be ndet, erklärt werden muss, haben wir es mit jemanden zu tun, der nicht einmal die kleinen Mysterien kennt, aber (später 5) an der Verballhornung der großen teilgenommen hat. Dieser Phaidros wird nun an diesem geweihten Ort auf sonderbare Weise belehrt.

Damit scheint der Inhalt des Dialogs allerdings zunächst gar nichts zu tun zu haben. Zuerst erfahren wir von einer schriftlichen Rede des Lysias, die Phaidros voller Begeisterung dem Sokrates vorliest und in der es um Nutzen und Schaden der Liebe geht. Darin argumentiert Lysias, ein Jüngling täte besser daran, seine Sympathien einem Nichtliebendem als einem Verliebten zu geben, da letztere sich wie Verrückte verhielten und dem Jüngling nur schaden können. Dann folgt Sokrates scharfe Kritik daran, seine ihm von Phaidros abgenötigte «bessere Rede über dasselbe ema», dann eine zweite,

4 Vgl. Nails, Debra: e People of Plato, S. 232

4.

5 Die dramatische Handlung des Phaidros ist zwischen 418 und 416 v. Chr. anzusetzen.

Vgl. ebd., S. 190, 314

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ganz andere Rede zum selben ema, dann eine Erörterung über das Wesen der Rhetorik und am Ende die berühmte Schriftkritik.

Die erste Frage, die sich unweigerlich stellt, ist, was an Lysias’ Rede eigentlich so schlecht sein soll und ob bzw. inwiefern Sokrates erste Rede wirklich besser ist.6 Ist Lysias’ Rede tatsächlich so schlecht? Und ist Sokrates eigene Rede nicht selbst höchst sonderbar – und zwar so sehr, dass er sie aus Scham mit verhülltem Haupt hält? Da in dieser Rede die diairesis eingeführt wird, ist eine Klärung dieser Frage nicht unerheblich. Versuchen wir also, uns einen ersten Überblick über Sokrates’ Rede zu verscha en, indem wir deren Hauptthemen zu bestimmen und durch eine Art von Zwischenüberschriften kenntlich zu machen versuchen.

Sokrates erste Rede

1 Der Jüngling muss den Nichtverliebten begehren statt des Verliebten.

2 Wer Verstand hat, untersucht zuerst das Wesen der Liebe, danach den durch den Verliebten verursachten Schaden.

3 Das Wesen der Liebe ergibt sich durch wiederholte Unterscheidung.

4 Liebe ist erworbene unvernünftige Begierde für schöne Körper.

5 Der Schaden, den Liebe anrichtet, ergibt sich durch wiederholte Unterscheidung.

6 Wenn sein Verstand zurückkehrt, wird der Liebhaber treulos und lästig.

7 Der Liebhaber begehrt den Jüngling wie der Wolf das Lamm.

Dabei fällt auf, dass sich die emen gewissermaßen spiegelbildlich um das 4. ema wie um eine Mittelachse herum entwickeln, so dass man das Ganze besser so darstellen könnte:

6 Das hat sich besonders Ferrari, G.R.F.: Listening to the Cicadas. A Study of Plato’s Phaedrus, gefragt.

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1

Der Jüngling muss den Nichtverliebten begehren statt des Verliebten

2

Ein verständiger Mensch wird zuerst untersuchen, was Liebe ist, bevor er bestimmt, ob sie Vorteil oder Schaden bringt

3

Liebe ist eine Art von Begierde

Sokrates erste Rede

7

Der Liebhaber begehrt den Jüngling nur wie der Wolf das Lamm

6

Schwindet die Liebe und der Verstand kehrt zurück, wird der Liebhaber ein anderer Mensch –lästig und treulos

5

Der Liebhaber bereitet dem Jüngling Schaden an

Seele Körper Besitz tägl. Umgang

4

Liebe ist erworbene unvernünftige Lust an der Schönheit der Leiber

Dabei wird im dritten Punkt der Rede die Liebe als eine Art Begierde bestimmt und ihre Erkenntnis anhand einer diairesis vorgeführt:

Begierde

eingeborene Begierde (Angenehmes) erworbene Gesinnung (das Beste)

mit Vernunft (Mäßigkeit) vernunftlos (Frevel) mit Vernunft (Besonnenheit) vernunftlos (Lust an Schönheit)

menschl. Körper

Resultat: Liebe ist die erworbene vernunftlose Begierde an der Schönheit menschlicher Körper.

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Nun behandelt Sokrates in seiner zweiten Rede dasselbe ema wie in der ersten Rede, nur braucht er sich dieses Mal für sie nicht zu schämen und seinen Kopf zu verhüllen. Damit stellt sich natürlich die Frage, wie die zweite Rede im Vergleich zur ersten Rede aufgebaut ist. Überraschenderweise: genauso!

Sokrates zweite Rede

1

Unwahr ist es, dass der Jüngling den Nichtverliebten dem Verliebten vorziehen muss

2

Wahr wäre es nur, wenn alle Formen des Wahnsinns Krankheit wären, doch einige Formen des Wahnsinns sind von bestimmten Göttern geschickt (z. B. Wahrsagekunst, Heilkunst, Dichtkunst …)

3

Mythos vom Seelenwagen: Die Seele als be edertes Gespann; Schau der Ideen als ihre Nahrung; Grund des Verlusts ihrer Federn

7

Jüngling und Liebhaber sind sich wechselseitig Ursache der Neube ederung ihrer Seelen

6

Entsprechend dem Gott, dem man früher gefolgt ist, sucht man auf Erden die seinem Gott entsprechende Schönheit und sieht sich selbst in ihr wie in einem Spiegel

5

Wer auf Erden Schönheit verehrt, dem ö nen sich die verstopften Poren durch die Erregung der Erinnerung und das Seelenge eder wächst erneut

4 Wer sich mit Erinnerung und göttlichen Dingen beschäftigt, kann seine Seele wieder heilen, wirkt auf andere aber wahnsinnig: die Liebenden und die Philosophen

Was hat es mit diesen Gliederungen auf sich? Wer sie bemerkt, erkennt, dass Sokrates an jedem Punkt seiner Rede nicht nur den folgenden, sondern alle übrigen Punkte im Bewusstsein haben muss –

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beim zweiten den sechsten, beim dritten den fünften usw. Sie bedingen sich gegenseitig. Dazu muss er in Gedanken nicht nur vom Anfang zum Ende der Rede gehen können, sondern zugleich vom Ende zum Anfang. Man erkennt: Hier werden nicht Teile aneinandergereiht (wie das Sokrates zufolge bei Lysias’ Rede der Fall ist: Phdr 264b), sondern die Idee des Ganzen ist in allen Teilen der Rede gleichzeitig anwesend, gestaltet diese und weist ihnen ihre Stellen im Ganzen an. Diese Idee – die «wahre Einheit in der Vielfalt», auf die es Sokrates ankommt – zeigt sich dem Leser bzw. Hörer, der den Zusammenhang für sich hergestellt hat, als überall wirksam, ohne selbst ausgesprochen zu sein.

Platons Ausdrucksweise erscheint vor diesem Hintergrund äußerst präzise, wenn er Sokrates z. B. sagen lässt, «daß eine Rede wie ein lebendes Wesen gebaut sein und ihren eigentümlichen Körper haben muß, so daß sie weder ohne Kopf ist noch ohne Fuß, sondern eine Mitte hat und Enden, die gegeneinander und gegen das Ganze in einem schicklichen Verhältnis gearbeitet sind» (Phdr 264c; Herv. EF). Worauf es ihm ankommt, wird noch deutlicher, wenn er sagt:

Mir erscheint alles Übrige in der Tat nur im Scherze gesprochen; nur dies beides, was jene Reden durch einen glücklichen Zufall [sic] gehabt haben, wenn sich dessen Kraft einer gründlich durch Kunst aneignen könnte, wäre es eine schöne Sache. – Was doch für welches? – Das überall Zerstreute anschauend zusammenzufassen in eine Gestalt [ἰδέαν], um jeden Gegenstand genau zu bestimmen und deutlich zu machen, worüber man jedesmal Belehrung erteilen will […]. Und ebenso wieder nach Begri en [κατ ’

εἴδη] zerteilen zu können, gliedermäßig wie jedes gewachsen ist, ohne etwa wie ein schlechter Koch verfahrend, irgendeinen Teil zu zerbrechen (Phdr 265c – e).

Dass die beiden Reden kaum durch einen ‹glücklichen Zufall› vorführen können, wie das Zerstreute anschauend zusammenzufassen und ebenso gliedermäßig zu zerteilen ist, sondern durch eben die Kunst, die Sokrates hier fordert, braucht kaum extra betont zu werden. So kann es auch nicht überraschen, dass Platon den ganzen Dialog nach dem gleichen Schema konstruiert hat:

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Lesung der geschriebenen Rede des Lysias und Sokrates’ Kritik daran, auf die Phaidros nichts entgegnen kann

Phaidros

7

Da die Kunst der Rede eine Führung der Seele ist, muss sie der jeweiligen Seele angepasst sein und sollte nicht schriftlich festgelegt sein

6

Zwei Reden des Sokrates, die anders – nämlich «wie ein lebendiges Wesen» –gegliedert sind

3

Phaidros’ Reaktion zeigt, dass, wer einen Zusammenhang nicht versteht, leicht zu täuschen ist

Eine gute Rede basiert auf synagoge und diairesis – «gliedermäßig wie jedes gewachsen ist»

5

Selbst um täuschen zu können, muss man die wahre Natur dessen kennen, worüber geredet wird, nicht nur den Schein (Meinung)

4 Zikaden-Mythos: wir müssen etwas tun, um uns den Göttern wohlgefällig zu machen

Halten wir fest: Die beiden Reden liefern Sokrates’ Paradigma für diairesis und synagoge. Erstaunlich ist allerdings, dass in der ersten Rede die diairesis zunächst als ein Unsinn eingeführt ist, der dann in der zweiten Rede richtiggestellt wird.

Aristoteles hat bekanntlich das platonische diairesis-Verfahren einer fundamentalen Kritik unterzogen. Diejenigen, die es benutzen, sagt Aristoteles, irren, wenn sie glauben, es ließe sich damit das Wesen der Dinge erforschen: «Sie hatten [kein] Verständnis davon, was man, wenn man dieses Einteilungsverfahren anwendet, erschließen

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kann» (An. pr. 46a). Sie tun so, als ob sie sich eines Schussverfahrens bedienten, aber es wird dabei Aristoteles zufolge gar nichts erschlossen, vielmehr setzen sie auf jeder Stufe dasjenige voraus, was durch ein solches Verfahren erst zu erweisen wäre.

Es sei also ‹Lebewesen› A, ‹sterblich› B, ‹unsterblich› C, ‹Mensch› dann, wovon es hier die Bestimmung zu erhalten gilt, D. Jedes ‹Lebewesen› nimmt dann entweder (die Eigenschaft) ‹sterblich› oder ‹unsterblich› an; das bedeutet: Alles, was A ist, ist entweder B oder C. Und wieder setzt man ‹Mensch› im Laufe der schrittweisen Einteilung, (schließlich) als ‹Lebewesen›, so daß man also annimmt, A liegt an D vor. Der Schluß ist dann: D muß als Ganzes entweder B oder C sein; somit also ist zwar notwendig, daß ‹Mensch› entweder sterblich oder unsterblich ist, dagegen, daß er ‹sterbliches Lebewesen› sei, das ist nicht notwendig, sondern es wird nur gefordert. Das aber war es doch, was durch Schluß erreicht werden sollte. (An. pr. 46b)

Stelle wir eine solche Dihärese, wie sie Aristoteles in den Analytiken (cf. An. pr. 46b, An. post. 91a – 92a) vor Augen hat, wieder anschaulich dar, dann ergibt sich folgendes Bild.

Lebewesen

sterblich unsterblich

auf Land im Wasser

mit Füßen fußlos

zweifüßig vierfüßig

unbe edert be edert

Mensch

Resultat: der Mensch ist ein unbe edertes mit Füßen begabtes sterbliches Landlebewesen

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Aus Aristotelischer Sicht ist eine solche Dihärese eine Begri sspalterei, die zur Erkenntnis der Wirklichkeit nichts beiträgt, sondern das, was sie zu erschließen vorgibt, bereits voraussetzt. Denn an jeder Stelle – bei jeder Teilung – kann man fragen: Warum wird jetzt die eine und nicht die andere Alternative gewählt? Statt einer Begründung «nimmt man» sich das gesuchte Ergebnis:

Ist der Mensch Lebewesen oder leblos? – Dann nimmt man sich ‹Lebewesen›, das ist nicht durch Schluß erreicht. Und aufs neue: Jedes Lebewesen lebt entweder auf Land oder im Wasser; dann nimmt man sich (in diesem Falle) ‹auf Land›. Und daß nun gelten soll: Der Mensch ist das Ganze daraus, zu Lande lebendes Wesen, ist aufgrund des Gesagten nicht notwendig, sondern man nimmt sich auch das. Es macht dabei keinen Unterschied, das über viele oder wenige (Stufen) so zu tun; es ist immer das gleiche. (An. post. 91b 18 – 26)

Folglich stellt Aristoteles unermüdlich seine eigene «physische» Betrachtungsweise derjenigen Platons entgegen, die bloß auf logoi schaue. So nennt er die Platoniker «diejenigen, die mit den logoi befaßt sind» (Met IX 8, 1050b 35) und sagt mit Bezug auf Platons Timaios: «Die, die sich mit vielen logoi befassen, sind unfähig, die Tatsachen zu betrachten» (Über Entstehen und Vergehen I 2, 316a 8 f).

Ihre «De nitionen» sind daher «dialektisch und leer» (De Anima I 1, 403a 2).

Damit scheint in der Tat ein schlagender Einwand formuliert zu sein. Wenden wir also Aristoteles Ergebnis auf das vorhin betrachtete Beispiel Platons an: die erste Rede des Sokrates im Phaidros. Sollen wir sagen, er habe das Wesen der Liebe falsch bestimmt, weil er sich bloß mit logoi und nicht mit den Tatsachen beschäftigt habe? Oder aus einem anderen Grund?

Ich habe oben bei der aristotelischen Dihärese von ‹Lebewesen› (von welchen Platon in seinen Schriften nie ausgeht) noch einen Zwischenschritt eingefügt, der bei Aristoteles nicht vorkommt –zweifüßig, vierfüßig. Bei Aristoteles fehlt dieser Schritt aus einem guten Grund: Wer sich mit Tatsachen statt mit logoi beschäftigt, weiß, dass die befußten Landtiere so nicht eingeteilt werden können. Wo blieben sonst z. B. die Käfer, die Spinnen, die Tausendfüßler?

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Ich habe diesen Schritt aber eingefügt, weil sich derartige ‹Fehler› dauernd in Platons Dihäresen nden. Dazu zwei Beispiele aus dem Sophistes, nämlich die Bestimmungen des Angel schers und des Sophisten.

Die Dihärese des Angel schers geht vom Oberbegri der Künste aus, zu denen die Angel scherei (wie auch die Sophisterei) gehört. Zunächst werden die Künste in hervorbringende und erwerbende Künste geteilt, die letzteren in gutwillig erwerbende und solche, die durch Zwang zum Ziel kommen. Die bezwingenden Künste teilen sich in die durch Kampf oder durch Nachstellung ein, die nachstellenden in auf Lebloses oder Belebtes gehende, und die Lebewesen – da erst kommen wir bei Lebewesen an! – werden in Landtiere und schwimmende Tiere geteilt. Hier, bei der Bestimmung des Angelschers, wird zuerst die Jagd auf schwimmende Tiere weiter verfolgt; später, bei der Bestimmung des Sophisten, dann die Jagd auf die Landlebewesen. Dort folgt dann als nächstes die Einteilung der Landlebewesen in wilde Tiere und zahme Tiere, die der zahmen Tiere in einzeln lebende und in Herdentiere – zu welchen letzteren dann schnell die Menschen gezählt werden.

Landtiere teilen sich in wilde und zahme? Das ist überhaupt keine Wesensbestimmung von Tieren, sondern eine ganz äußerliche Einteilung, die hier fehl am Platz zu sein scheint. Kehren wir also zur Angel scherei zurück und schauen, ob deren Bestimmung sachgemäßer durchgeführt ist. Wie sehen dort die nächsten Schritte aus?

Die Jagd auf Wassertiere geht entweder auf Wasservögel oder auf Fische. Der Fischfang wird eingeteilt in den durch Netze oder durch Verwundung, und letzteren in den bei Nacht und bei Tage! Damit ist natürlich ebenfalls gar nichts über das Wesen der Angelscherei ausgesagt: ob sie bei Tag oder bei Nacht ausgeführt wird, ist ihr selbst ganz unwesentlich.

Dass Platon derart o ensichtliche Fehler unterlaufen sind, halte ich für unwahrscheinlich. Vielmehr wird man annehmen müssen, dass er solche Schritte bewusst und mit Absicht eingefügt hat. In die gleiche Richtung weist auch die Tatsache, dass nacheinander sechs ganz verschiedene, sich gegenseitig relativierende Dihäresen des Sophisten entwickelt werden, bis der Gesprächspartner seinen eigenen Fähigkeiten nicht mehr traut. Da bekommen wir bereits bei Platon drastisch vorgeführt, dass eine Dihärese als solche gar nichts beweist

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(was sich ja auch schon bei Sokrates’ erster Rede über die Liebe im Phaidros zeigte).

Damit sage ich natürlich nichts Neues. Wie viele «Unebenheiten und Unklarheiten» die Dihäresen im Sophistes und Politikos enthalten, hat schon vor über 100 Jahren Constantin Ritter gezeigt und daraus geschlossen,

daß es Platon jedenfalls nicht darauf abgesehen hatte, mit diesen Einteilungen der techne eine möglichst gute Übersicht über das Gebiet des menschlichen Wissens und der menschlichen Kunstfertigkeit herzustellen. Sein Zweck ist im allgemeinen logische Übung, und diesem Zweck dienen in der Tat die vorgenommenen Begri seinteilungen recht gut, insbesondere, weil ihre mehrfachen Ungeschicklichkeiten immer darauf führen und zum Hinweise drauf benutzt werden, daß man dabei die empirischen Verhältnisse scharf ansehen und niemals außer Augen lassen dürfe, um nicht in bloßes Geklapper ohne vernünftigen Sinn hineinzugeraten.7

Dass es sich bei Platons Dihäresen um Übungen handelt, denke ich auch; bezweifeln möchte ich allerdings, dass es Platon primär um den Hinweis ging, «die empirischen Verhältnisse scharf an[zu]sehen». Worum aber dann?

(1) Zunächst fällt auf, dass es Platon bei der diairesis gar nicht um die zu teilende Sache selbst geht. So lesen wir z. B. im Politikos:

Fremder: Unsere Frage über den Staatsmann, ist sie uns mehr um seinetwillen selbst aufgegeben worden, oder damit wir in allem dialektischer werden? – Sokrates der Jüngere: O enbar auch dies, damit wir in allem dialektischer werden. – Fremder: Gewiß wird doch wenigstens kein irgend vernünftiger Mensch die Erklärung der Weberei um ihrer selbst willen suchen wollen. (Pol 285d)

Und von dem Angel scher sagt Sokrates, dieser sei «etwas allen Bekanntes und viel Mühe auf ihn zu wenden gar nicht wert» (Soph 218e). Es geht also um Übungen, die an bereits Bekanntem vorgenommen werden.

7 Ritter, Constantin: Neue Untersuchungen über Platon, S. 76

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(2) Worin besteht aber die dihäretische Übung? «Gib also recht acht, ob wir irgendwo an ihr ein Gelenk bemerken.» (Pol 259d)8 Entsprechend erfolgt die Mahnung: «Daß wir nicht ein kleines Teilchen allein von vielen und großen anderen aussondern und nie ohne einen eidos; sondern jeder Teil habe zugleich seinen eigenen eidos» (Pol 262a). Was geübt wird (an Bekanntem), ist also die Unterscheidung von bloßen Teilen eines Dinges einerseits, und solchen, die ihm wesentlich zukommen andererseits: von meros einerseits und eidos andererseits.

(3) Warum ist das wichtig? Die Antwort zeichnet sich ab, wenn wir das, was am Ende der Übung steht, ins Auge fassen: «Nun also sind wir, du und ich, von der Angel scherei nicht nur über den Namen einig, sondern haben auch die Erklärung über die Sache selbst zur Genüge erlangt.» (Soph 221a – b; Herv. EF)9

Das ist m. E. der entscheidende Punkt: Wir fassen dauernd beobachtete Eigenschaften einer Sache in einer Vorstellung zusammen und nennen diese synagoge mit einem Namen. Aber weil in solche synagoge manches eingeht, was der Sache nicht wesentlich ist, kann es unterschiedliche Meinungen über sie geben, ja endloses Streitigkeiten unter den Philosophen, selbst wenn die Meinung richtig sein sollte – weil in Ermangelung der Wesenskenntnis die eigene Position nicht so vertreten werden kann, dass der Gegner zustimmen muss.

Mit anderen Worten: So wie es richtige (= sachgemäße) und falsche (= nicht sachgemäße) Teilungen gibt, so auch sachgemäße und unsachgemäße Zusammenfassungen. Allgemein ist m. E. das Verfahren so: Du glaubst zu wissen, was F ist, weil Du einen ‹Begri › von F hast, in dem eine Anzahl von Merkmalen vereinigt sind. Dies ist in Wirklichkeit aber kein adäquater Begri , denn Deine synagoge ist eine bloß äußerliche Zusammenfassung von Merkmalen. Dass dies kein Begri im strengen Sinne ist, zeigt sich daran, dass Du bei

8 Im Phaidros hieß es 265e, wir müssen darauf achten, «gliedermäßig [zu teilen], wie jedes gewachsen ist».

9 Am Anfang der Untersuchung hieß es: «Denn jetzt haben ich und du von ihm nur erst den Namen gemein, die Sache aber, der wir ihn beilegen, mag vielleicht jeder von uns bei sich selbst besonders vorstellen» (Soph 218 b – c) – was dann anschließend anhand der sechs unterschiedlichen Dihäresen des Sophisten eindrucksvoll vor Augen geführt wird.

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der Dihärese des Begri s wesentliche von unwesentlichen Merkmalen nicht richtig unterscheiden kannst – mit anderen Worten: Du kannst die Merkmale nicht aus dem Wesen der Sache ableiten; Du kennst die Sache gar nicht wirklich.

(4) Ergebnis: Es geht bei Platons Dihäresen in Wirklichkeit primär um die Zusammenfassung, die synagoge! Die Dihäresen sind nur (Übungs-)Mittel zu diesem Zweck. Die erwähnten ‹Unstimmigkeiten› bei den Zerteilungen sind beabsichtigt: sie sollen uns darauf aufmerksam machen, dass unsere Zusammenfassung (Begri sbildung), unsere ursprüngliche synagoge, nicht sachgemäß war.

Allerdings stellt sich nun die Frage: wie hilft dabei die Dihärese? Sie selbst sagt doch nicht, was bloßer Teil und was wesentlich ist. Woran merke ich also, dass ich wirklichkeitsgemäß, d. h. an den ‹Gelenken›, geteilt habe und es mit eidoi, nicht nur mit bloßen Teilen zu tun habe? Oder anders gesagt: Abgetrennt werden soll immer das, was unwesentlich ist; aber hat man damit schon automatisch das Wesentliche? Was ist hier der Kontrollmechanismus? Darauf scheint Platon keine Antwort zu geben. Er sagt nur, wir sollen fortfahren, «bis wir endlich nach Absonderung alles dessen, was ihm mit anderen gemeinschaftlich ist, seine eigentümliche Natur übrig behalten» (Soph 264e; Herv. EF). Aber woher wissen wir das? Dass man nicht weiter teilen kann, ist noch kein Beweis, dass man bei einem eidos angekommen ist. Auch ‹bloße› Teile können irgendwann nicht mehr weiter geteilt werden, ohne dadurch zu eidoi zu werden.

Wir kommen hier einen Schritt weiter, wenn wir uns noch einmal an Aristoteles Kritik erinnern, wonach Platon sich bei der diairesis nur mit logoi, nicht mit Wirklichem beschäftige. An diesem Einwand ist tatsächlich etwas dran – wenn auch in einem anderen Sinn, als Aristoteles es gemeint haben dürfte. Denn mit Ausnahme der diairesisParodie im Phaidros, wo das ema ‹Liebe› nicht von Sokrates selbst gewählt, sondern durch Lysias’ Rede vorgegeben war, geht keine von Platons Dihäresen über Naturgegenstände, über natürliche Arten. Bei der Bestimmung des Staatsmanns ist der Ausgangspunkt eine Kunst, nämlich die des Herrschens. Ähnlich bei der Bestimmung der Webkunst; auch hier liegt eine techne vor. Der Angel scher wird als Künstler

] bestimmt, und parallel dazu wird auch der Sophist eingeführt als jemand, der im Besitz einer Kunst ist. In allen Fällen wird also eine techne bestimmt, niemals eine natürliche Art. Ist dies Zufall?

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Diese Frage scheint mir besonders wichtig vor dem Hintergrund des Parmenides, wo die Frage nach der Realität der Ideen an Hand von vier Beispielgruppen diskutiert wurde: (a) mathematische Begri e wie Ähnlichkeit, Einheit, Vielheit; (b) normative Begri e wie Gerechtes, Schönes, Gutes; (c) physikalische Begri e wie Mensch, Feuer, Wasser; und schließlich (d) Haar, Kot, Schmutz (bei denen der ontologische Status nicht ganz klar zu sein scheint). Sokrates, der in diesem Dialog gerade erst Anfang Zwanzig ist, hat keinen Zweifel, dass es für die Dinge der ersten beiden Gruppen Ideen gibt, aber bereits bei der dritten Gruppe kommen ihm Zweifel, und für die vierte Gruppe lehnt er sie ganz ab (vgl. Parm 130d). Das bringt ihm den Tadel des Parmenides ein, der Sokrates jugendliches Alter dafür verantwortlich macht und ihm vorwirft, es sei noch zu sehr von der Meinung der anderen Menschen abhängig. Auch Parmenides weist auf die Notwendigkeit von Übungen hin, aber worauf es mir ankommt, ist die Tatsache, dass die Schwierigkeiten mit den Ideen bei den Naturgegenständen – Mensch, Feuer, Wasser – einsetzen. Warum eigentlich?

Warum das so ist, das möchte ich nun abschließend durch einen Vergleich mit Goethe zu erhellen versuchen. Goethe hat zwar seinen philosophischen Anstoß nicht durch Platon, sondern durch Spinoza erhalten. Aber wie Platon war auch Spinoza davon überzeugt, dass unsere gewöhnlichen Begri e eigentlich nur Namen sind, dass sie «nur Vorstellungsweisen [sind] und keines Dinges Natur» (E1app)10 ausdrücken. Die Mathematik zeigt uns aber eine andere Wahrheitsnorm, indem sie uns lehrt, Eigenschaften aus dem Wesen einer Sache zu erkennen bzw. abzuleiten. Wird z. B. ein Kreis de niert als eine Figur, bei der die vom Mittelpunkt zur Peripherie gezogenen Linien gleich sind, dann drückt diese De nition keineswegs das Wesen des Kreises aus, sondern bloß eine bestimmte Eigenschaft von ihm. Sie ist nicht adäquat. Wird dagegen der Kreis als eine Figur

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10 Zur Zitierweise von Spinozas Ethik, siehe das Siglenverzeichnis am Ende des Buches.

de niert, die von einer Linie beschrieben ist, deren einer Punkt fest und deren anderer beweglich ist, so ist die De nition adäquat. Sie bringt die bewirkende Ursache zum Ausdruck, und aus ihr lassen sich alle Eigenschaften des Kreises herleiten. Eine solche Erkenntnisart nennt Spinoza «anschauendes Wissen» oder «scientia intuitiva» (E2p40s2). Dazu bemerkt er: «Obwohl dies […] bei Figuren und anderen Gedankendingen nicht sehr wichtig ist, ist es doch anders bei physischen und wirklichen Seienden, weil die Eigenschaften von Dingen sich selbstverständlich nicht begreifen lassen, solange deren Essenzen unbekannt sind.» (AVV, S. 85 f. Herv. EF)

Das Projekt einer scientia intuitiva hat Goethe begeistert, aber auch frustriert: Begeistert hat es ihn, weil er im Gegensatz zu Linnés Systema naturae ein natürliches System aufstellen wollte, das die Naturgegenstände nicht nur äußerlich (wie bei Linné), sondern gemäß ihrer Wesen klassi ziert, und dazu scheint die scientia intuitiva geeignet zu sein, denn ihr zufolge sollen ja die Eigenschaften aus dem Wesen der Sache abgeleitet werden. Frustriert hat es ihn aber auch, weil Spinoza deren Methode überhaupt nur an mathematischen Beispielen illustrieren hatte. Bei mathematischen Dingen (und bei Artefakten) ist die zugrunde liegende Idee aber bereits bekannt und wir müssen von ihr nur auf adäquate Weise zu den Eigenschaften der Dinge fortschreiten. Bei Naturprodukten ist das gerade nicht der Fall. Hier können wir nicht von einer bekannten Idee (Wesen) ausgehen – vielmehr muss diese erst gefunden werden. Wie soll das gehen? Darauf hatte Goethe zunächst keine Antwort, bis ihm 1790 Kants Kritik der Urteilskraft in die Hände kam und ihm das Gefühl gab, er sei aus dem Dunklen in ein hell erleuchtetes Zimmer gekommen.11

In der Kritik der teleologischen Urteilskraft hat Kant den fundamentalen Unterschied zwischen äußerer und innerer Zweckmäßigkeit thematisiert und gezeigt, dass beim lebendigen Organismus, im Gegensatz zu einer Maschine, die ihn konstituieren Teile nicht vor oder außerhalb des Ganzen existieren. Beim Organismus sind vielmehr Teil und Ganzes wechselseitig Ursache und Wirkung voneinander: kein Ganzes ohne Teile, kein Teil ohne Ganzes. Um das Wesen eines Organismus zu begreifen, müssten wir also in der Lage

11 Wie Arthur Schopenhauer berichtet in: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 168

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sein, nicht nur das Ganze aus seinen Teilen, sondern ebenso diese Teile aus dem Ganzen abzuleiten und zu bestimmen.

Wenn Kants Gedanke richtig ist, so schloss Goethe, dann muss Spinozas Weg bei organischen Naturprodukten umgekehrt werden! Statt alle Eigenschaften aus der Idee abzuleiten, muss hier die Idee aus allen Eigenschaften erkannt werden! Denn da uns bei solchen Naturprodukten ein Ganzes als Ganzes nie unmittelbar gegeben ist, müssen erst alle zu einem Phänomenbereich gehörenden Teile (Eigenschaften) aufgesucht und so zusammengefasst werden, dass sie ein Ganzes bilden. Dann müssen, in einem zweiten Schritt, die Übergänge zwischen den Teilen gedanklich nachvollzogen werden, um zu sehen, ob in diesen ein Ganzes bereits bildend am Werk war, oder ob die Teile nur äußerlich-mechanisch zusammenhängen. Ist ersteres der Fall, dann wird damit zugleich eine Idee (Wesen) als dasjenige ideele Ganze erfahrbar, dem die sinnlichen Teile ihr Dasein und Sosein verdanken. Eine den empirischen Phänomenen zugrunde liegende Idee kann, wenn es eine solche gibt, im Fall natürlicher Dinge nur am Ende der Untersuchung erkannt werden.

Auf die Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen.12 Wichtig im gegenwärtigen Zusammenhang ist der Gegensatz zwischen mathematischen und natürlichen Dingen, und die Umkehr von Spinozas Verfahren. Dies kann m. E. auch Licht auf Platons Verfahren werfen.

Das Geheimnis der platonischen diairesis ist die synagoge. Mit De nitionen hat dies zunächst wenig zu tun – das ist bereits Aristotelische Umdeutung! Diairesis ist geeignet für Fälle, wo wir die Idee schon zu kennen glauben, wie bei mathematischen Gegenständen13, bei Artefakten, Künsten oder Berufen. An solchen Fällen führt Platon sie vor als Übungsmittel, weil man an ihnen, da die zugrunde liegende

12 Vgl. dazu Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie, Kap. 11: Die Methodologie des intuitiven Verstandes.

13 Vgl. z. B. Becker, Oskar: Die diairetische Erzeugung der platonischen Idealzahlen.

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Idee schon bekannt ist, mittels diairesis den Unterschied zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften lernen kann.

Bei natürlichen Dingen wie z. B. Lebewesen, für die wir die Idee nicht kennen, sondern erst nden müssen, ist sie gar nicht geeignet. In solchen Fällen gälte sonst immer Aristoteles Einwand: will man durch diairesis die Idee (das Wesen) eines Naturprodukts nden, verfährt man immer question begging, d. h. man ‹nimmt sich›, was man erweisen sollte. Für Naturgegenstände ist eine ganz andere, aber komplementäre Methode nötig. Sie betri t die Frage: Wie gelangt man bei solchen Dingen zur richtigen naturgemäßen synagoge – modern gesprochen, wie ein intuitiver Verstand auszubilden wäre. Das hat, wenn ich richtig sehe, erstmals Goethe systematisch untersucht. Das jeweilige Ergebnis kann aber nicht mehr diskursiv vermittelt werden, da es um das Erlernen einer Fähigkeit zum Bilden von Zusammenhängen geht. Es muss von jedem selbst erarbeitet werden.14 Darum hat Platon von der diairesis gesprochen, die richtige synagoge aber nur gezeigt. Was Goethe hierzu geäußert hat, hätte Platon aber wohl nur unterstreichen können: «Betrachten Sie mir ja eißig diese Übergänge, worauf am Ende alles in der Natur ankommt! […] Den Zusammenhang aber müssen Sie selbst entdecken. Wer es nicht ndet, dem hilft es auch nichts, wenn man es ihm sagt.»15

14 Wie bei den Reden im Phaidros: der Leser muss selbst den Zusammenhang aufbauen und z. B. zugleich 2. und 6. Punkt, 3. und 5. Punkt (und so für alle Punkte) im Bewusstsein festhalten, um zu sehen, ob etwas (oder nichts) in allen Teilen zugleich am Wirken ist und diese überhaupt erst möglich macht. Einen solchen Zusammenhang kann aber nur jeder selbst herstellen. Solange man der Sache bloß äußerlich gegenüber steht, kann man immer sagen: ‹Die Einteilung ist willkürlich, eine andere wäre genauso möglich. Warum z. B. 7 Punkte? Warum nicht 6 oder 8?›

15 Goethe im Gespräch mit Johannes Daniel Falk. In: GG 5, S. 84 f.

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