Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik über Schuld, Rechtfertigung und Erneuerung: „Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi.“

Im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 ist nur ansatzweise zur Sprache gekommen, was Dietrich Bonhoeffer bereits 1941/42 in seiner Ethik als Schuld der Kirche benannt hatte:

Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung

Von Dietrich Bonhoeffer

Es geht um das Gestaltwerden der Gestalt Christi unter uns. Es geht also um den wirklichen, den gerichteten, den erneuerten Menschen. Es gibt den wirklichen, den gerichteten und erneu­erten Menschen nicht anders als in der Gestalt Jesu Christi und also in der Gleichgestaltung mit ihm. Nur der in Christus angenommene Mensch ist der wirkliche Mensch, nur der vom Kreuze Christi betroffene Mensch ist der gerichtete Mensch, nur der der Auferstehung Christi teilhaftige ist der erneuerte Mensch. Seit Gott in Christus Mensch wurde, ist alles Denken über den Menschen ohne Christus unfruchtbare Abstraktion. Das Gegenbild zu dem in die Ge­stalt Jesu Christi aufgenommenen Menschen ist der Mensch als sein eigener Schöpfer, sein eigener Richter und sein eigener Erneuerer, es ist der Mensch, der an seinem eigentlichen Menschsein vorbeilebt und darum früher oder später sich selbst zerstört. Der Abfall des Men­schen von Christus ist zugleich sein Abfall von seinem eigenen Wesen.

Umkehr gibt es nur auf dem Wege der Erkenntnis der Schuld an Christus. Nicht Verfehlung und Verirrung hier und dort, Übertretungen eines abstrakten Gesetzes, sondern der Abfall von Christus, von der Gestalt, die in uns Gestalt werden und uns zu unserer eigentlichen Gestalt führen wollte, muß als Schuld erkannt werden. Echte Schulderkenntnis erwächst nicht aus den Erfahrungen der Auflösung und des Verfalls, sondern für uns, die wir ihm begegneten, allein an der Gestalt Christi selbst. Sie setzt also ein Maß an Gemeinschaft mit dieser Gestalt voraus. Eben darum ist sie ein Wunder; denn wie soll der von [126] Christus Abgefallene noch Ge­meinschaft mit Christus haben, es sei denn durch die Gnade, mit der Christus selbst den Ab­gefallenen festhält und ihm die Gemeinschaft bewahrt? Schulderkenntnis gibt es nur aufgrund der Gnade Christi, aufgrund des Griffes Christi nach dem Abfallenden. In dieser Schulder­kenntnis nimmt der Prozeß der Gleichgestaltung des Menschen mit Christus seinen Anfang. Darin unterscheidet sich diese Schulderkenntnis von jeder anderen, die selbstgewirkt und unfruchtbar ist.

Der Ort, an dem diese Schulderkenntnis wirklich wird, ist die Kirche. Das darf jedoch nicht so verstanden werden, als ob die Kirche neben anderem, was sie ist und tut, auch noch der Ort echter Schulderkenntnis ist. Sondern die Kirche ist eben jene Gemeinschaft von Menschen, die durch die Gnade Christi zur Erkenntnis der Schuld an Christus geführt worden ist. Daß die Kirche der Ort der Schulderkenntnis ist, ist also eine tautologische Aussage. Wo es anders wäre, wäre die Kirche nicht mehr Kirche.

Die Kirche ist heute die Gemeinschaft der Menschen, die erfaßt von der Gewalt der Gnade Christi ihre eigene persönliche Sünde wie den Abfall der abendländischen Welt von Jesus Christus als Schuld an Jesus Christus erkennt, bekennt und auf sich nimmt. Sie ist es, an der Jesus seine Gestalt mitten in der Welt verwirklicht. Darum kann auch nur die Kirche der Ort der persönlichen und gemeinschaftlichen Wiedergeburt und Erneuerung sein.

Es ist ein Zeichen der lebendigen Gegenwart Christi, daß es Menschen gibt, in denen die Erkenntnis des Abfalls von Jesus Christus nicht nur in dem Sinne wachgehalten wird, daß dieser Abfall bei den anderen konstatiert wird, sondern so daß Menschen sich selbst an die­sem Abfall schuldig bekennen. Das Bekenntnis der Schuld geschieht ohne Seitenblicke auf die Mitschuldigen. Es ist streng exklusiv, indem es alle Schuld auf [127] sich nimmt. Wo noch gerechnet und abgewogen wird, dort tritt die unfruchtbare Moral der Selbstgerechtigkeit an die Stelle des Schuldbekenntnisses angesichts der Gestalt Christi. Eben weil nicht die einzelne Verfehlung, sondern die Gestalt Christi der Ursprung des Schuldbekenntnisses ist, darum ist dieses ein bedingungsloses und vollständiges; denn durch nichts anderes bezwingt uns ja Christus stärker als dadurch daß er unsere Schuld bedingungslos und vollständig auf sich nahm, sich für schuldig erklärte an unserer Schuld und uns frei ausgehen ließ. Der Blick auf diese Gnade Christi befreit gänzlich vom Blick auf die Schuld der anderen und läßt den Menschen vor Christus in die Kniee sinken mit dem Bekenntnis: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.

Mit diesem Bekenntnis fällt die ganze Schuld der Welt auf die Kirche, auf die Christen und indem sie hier nicht geleugnet, sondern bekannt wird, tut sich die Möglichkeit der Vergebung auf. Für den Moralisten völlig unbegreiflich wird hier nicht nach dem eigentlichen Schuldigen gesucht, wird nicht die gerechte Sühne als Strafe an den Bösen und als Lohn an den Guten gefordert, der Böse wird nicht bei seinem Bösen behaftet (im Sinne des apokalyptischen „wer böse ist, der sei fernerhin böse“ Apok 22[,11]), sondern es sind Menschen da, die alle, wirk­lich alle Schuld auf sich selbst nehmen, nicht in irgendeinem heroischen Entschluß der Aufop­ferung, sondern einfach überwältigt durch ihre eigenste Schuld an Christus, und die in diesem Augenblick nicht mehr an vergeltende Gerechtigkeit gegenüber den „Hauptschuldigen“, son­dern nur noch an die Vergebung ihrer eigenen großen Schuld denken können.

Es ist zunächst die ganz persönliche Sünde jedes Einzelnen, die hier als vergiftende Quelle für die Gemeinschaft erkannt wird. Auch die heimlichste Sünde des Einzelnen ist Verunreinigung und Zerstörung des Leibes Christi (1 Kor 6[,15]). Aus dem Begehren, das in unseren Gliedern steckt, entsteht Mord, Neid, Streit, Krieg (Jac 4, 1 ff). Ich kann mich nicht dabei beruhigen, [128] daß mein Anteil nur ein verschwindend geringer sei, hier wird nicht gerechnet sondern ich muß erkennen, daß gerade meine Sünde an allem schuld ist. Ich bin schuldig des ungeord­neten Begehrens, ich bin schuldig des feigen Verstummens, wo ich hätte reden sollen, ich bin schuldig der Unwahrhaftigkeit und der Heuchelei angesichts der Gewalt, ich bin schuldig der Unbarmherzigkeit und der Verleugnung der ärmsten meiner Brüder, ich bin schuldig der Un­treue und des Abfalls von Christus. Was geht es mich an, ob andere auch schuldig sind? Jede Sünde eines anderen kann ich entschuldigen, nur meine eigene Sünde bleibt Schuld, die ich nie entschuldigen kann. Es ist keine krankhaft ichbezogene Verzerrung der Wirklichkeit, son­dern es ist das Wesen echter Schulderkenntnis, daß sie nicht mehr rechnen und rechten kann, sondern die eigene Sünde als den Ursprung aller Sünde, mit der Bibel zu sprechen als die Sünde Adams erkennt. Es ist auch sinnlos, solche Erkenntnis durch den Hinweis darauf ad absurdum führen zu wollen, daß es unzählige Einzelne seien, von denen sich jeder in solcher Weise der Schuld am Ganzen bewußt sei. Diese vielen Einzelnen schließen sich ja zusammen in dem Gesamtich der Kirche. In ihnen und durch sie bekennt und erkennt die Kirche ihre Schuld. [129]

Die Kirche bekennt, ihre Verkündigung von dem einen Gott, der sich in Jesus Christus für alle Zeiten offenbart hat und der keine anderen Götter neben sich leidet, nicht offen und deutlich genug ausgerichtet zu haben. Sie bekennt ihre Furchtsamkeit, ihr Abweichen, ihre gefährli­chen Zugeständnisse. Sie hat ihr Wächteramt und ihr Trostamt oftmals verleugnet. Sie hat dadurch den Ausgestoßenen und Verachteten die schuldige Barmherzigkeit oftmals verwei­gert. Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zu rechter Zeit nicht gefunden. Sie hat dem Abfall des Glaubens nicht bis aufs Blut widerstanden und hat die Gottlosigkeit der Massen verschuldet.

Die Kirche bekennt, den Namen Jesu Christi mißbraucht zu haben, indem sie sich seiner vor der Welt geschämt hat und dem Mißbrauch dieses Namens zu bösen Zwecken nicht kräftig genug gewehrt hat. Sie hat es mitangesehen, daß unter dem Deckmantel des Namens Christi Gewalttat und Unrecht geschah. Sie hat aber auch die offene Verhöhnung des heiligsten Na­mens ohne Widerspruch gelassen und ihr damit Vorschub geleistet. Sie erkennt, daß Gott den nicht ungestraft lassen wird, der so wie sie seinen Namen mißbraucht.

Die Kirche bekennt sich schuldig an dem Verlust des Feiertags, an der Verödung ihrer Got­tesdienste, an der Verachtung der sonntäglichen Ruhe. Sie hat sich an der Rastlosigkeit und Unruhe, aber auch an der Ausbeutung der Arbeitskraft über [130] den Werktag hinaus schul­dig gemacht, weil ihre Predigt von Jesus Christus schwach und ihr Gottesdienst matt war.

Die Kirche bekennt, an dem Zusammenbruch der elterlichen Autorität schuldig zu sein. Der Verachtung des Alters und der Vergötterung der Jugend ist die Kirche nicht entgegengetreten aus Furcht, die Jugend und damit die Zukunft zu verlieren, als wäre ihre Zukunft die Jugend! Sie hat die göttliche Würde der Eltern gegen eine revolutionierende Jugend nicht zu verkündi­gen gewagt und hat den sehr irdischen Versuch gemacht „mit der Jugend zu gehen“. So ist sie schuldig an der Zerstörung unzähliger Familien, an dem Verrat der Kinder an ihren Vätern, an der Selbstvergötterung der Jugend und damit an ihrer Preisgabe an den Abfall von Christus.

Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi.

Die Kirche bekennt, kein wegweisendes und helfendes Wort gewußt zu haben zu der Auf­lösung aller Ordnung im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Sie hat der Verhöhnung der Keuschheit und der Proklamation der geschlechtlichen Zügellosigkeit [131] nichts Gültiges und Starkes entgegenzusetzen gewußt. Sie ist über eine gelegentliche moralische Entrüstung nicht hinausgekommen. Sie ist damit schuldig geworden an der Reinheit und Gesundheit der Jugend. Sie hat die Zugehörigkeit unseres Leibes zum Leib Christi nicht stark zu verkündigen gewußt.

Die Kirche bekennt, Beraubung und Ausbeutung der Armen, Bereicherung und Korruption der Starken stumm mitangesehen zu haben.

Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu sein an den Unzähligen, deren Leben durch Ver­leumdung, Denunzieren, Ehrabschneidung vernichtet worden ist. Sie hat den Verleumder nicht seines Unrechtes überführt und hat so den Verleumdeten seinem Geschick überlassen.

Die Kirche bekennt, begehrt zu haben nach Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre, auf die sie keinen Anspruch hatte und so die Begierden der Menschen nicht gezügelt, sondern gefördert zu haben.

Die Kirche bekennt sich schuldig aller 10 Gebote, sie bekennt darin ihren Abfall von Christus. Sie hat die Wahrheit Gottes nicht so bezeugt, daß alles Wahrheitsforschen, alle Wissenschaft ihren Ursprung in dieser Wahrheit erkannte; sie hat die Gerechtigkeit Gottes nicht so verkün­digt, daß alles menschliche Recht in ihr die Quelle des eigenen Wesens sehen mußte; sie [132] hat die Fürsorge Gottes nicht so glaubhaft zu machen vermocht, daß alles menschliche Wirt­schaften von ihr aus seine Aufgabe in Empfang genommen hätte. Durch ihr eigenes Verstum­men ist die Kirche schuldig geworden an dem Verlust an verantwortlichem Handeln, an Tap­ferkeit des Einstehens und Bereitschaft für das als recht Erkannte zu leiden. Sie ist schuldig geworden an dem Abfall der Obrigkeit von Christus.

Ist das zuviel gesagt? sollten hier einige ganz Gerechte sich erheben und beweisen wollen, daß nicht die Kirche, sondern gerade alle anderen die Schuld träfe? Wollten etwa einige Kirchen­männer dies alles als grobe Beschimpfung von sich weisen und in der Anmaßung, berufene Richter der Welt zu sein, das Maß der Schuld hier und da abwägen und zuteilen? War denn die Kirche nicht nach allen Seiten gehindert und gebunden? stand nicht die ganze weltliche Gewalt gegen sie? Durfte denn die Kirche ihr letztes, ihre Gottesdienste, ihr Gemeindeleben gefährden, indem sie den Kampf mit den antichristlichen Gewalten aufnahm? So spricht der Unglaube, der im Bekenntnis der Schuld nicht die Wiedergewinnung der Gestalt Jesu Christi, der die Sünde der Welt trug, sondern nur eine gefährliche moralische Degradierung erkennt. Das freie Schuldbekenntnis ist ja nicht etwas, das man tun oder auch lassen könnte, sondern es ist der Durchbruch der Gestalt Jesu Christi in der Kirche, den die Kirche an sich geschehen läßt oder aber aufhört Kirche Christi zu sein. Wer das Schuldbekenntnis der Kirche erstickt oder verdirbt, der wird in hoffnungsloser Weise schuldig an Christus.

Indem die Kirche die Schuld bekennt, entbindet sie die Menschen [133] nicht vom eigenen Schuldbekenntnis, sondern sie ruft sie in die Gemeinschaft des Schuldbekenntnisses hinein. Nur als von Christus gerichtete kann die abgefallene Menschheit vor Christus bestehen. Unter dieses Gericht ruft die Kirche alle, die sie erreicht.

Die Kirche und der Einzelne werden als in ihrer Schuld Gerichtete, von dem gerechtfertigt, der alle menschliche Schuld auf sich nimmt und vergibt, durch Jesus Christus. Diese Recht­fertigung der Kirche und des Einzelnen liegt darin, daß sie teilbekommen an der Gestalt Chri­sti. Es ist die Gestalt des von Gott gerichteten und in den Tod des Sünders gegebenen und des von Gott zu neuem Leben erweckten Menschen. Es ist die Gestalt des Menschen, wie er in Wahrheit vor Gott ist. Nur als in die Schande des Kreuzes als des öffentlichen Sündertodes hineingezogene empfängt die Kirche und der Einzelne in ihr die Gemeinschaft der Herrlich­keit des zu neuer Gerechtigkeit und neuem Leben Erweckten.

Allein in der göttlichen Rechtfertigung der Kirche, die diese in das volle Schuldbekenntnis, in die Kreuzesgestalt hineinführt, liegt die Rechtfertigung des von Christus abgefallenen Abend­landes. Allein in der göttlichen Erneuerung der Kirche, die diese in die Gemeinschaft des auferstandenen und lebendigen Jesus Christus führt, liegt die Erneuerung des Abendlandes.

Oder sollten solche Worte wie Rechtfertigung und Erneuerung des Abendlandes unerlaubte Hyperbeln sein, da ja niemals das ganze Abendland durch Glauben an Jesus Christus gerecht­fertigt und erneuert werden kann? Es ist allerdings zu beachten, daß von der Rechtfertigung der Kirche und Erneuerung in anderem Sinne geredet werden muß als von Rechtfertigung und Erneuerung des Abendlandes. Die Kirche wird durch ihren Glauben an Christus, das heißt durch die Beugung unter die Gestalt Christi, gerechtfertigt und erneuert. Das Abendland als geschichtliche politische Gestalt kann nur indirekt durch [134] den Glauben der Kirche „ge­rechtfertigt und erneuert“ werden. Die Kirche erfährt im Glauben die Vergebung aller ihrer Sünden und einen neuen Anfang durch Gnade, für die Völker gibt es nur ein Vernarben der Schuld in der Rückkehr zur Ordnung, zum Recht, zum Frieden, zum freien Ergehenlassen der kirchlichen Verkündigung von Jesus Christus. Die Völker tragen das Erbe ihrer Schuld und doch kann es durch Gottes gnädiges Regiment in der Geschichte geschehen, daß das, was im Fluch begann den Völkern endlich zum Segen wird, daß aus angemaßter Gewalt Recht, aus Aufruhr Ordnung, aus Blutvergießen Friede wird. In dem Griff nach der Krone hat es sich oftmals erwiesen, daß Willkür und Gewalt am Anfang standen und daß dann die innere Macht der Krone selbst, die Macht der göttlichen Institution der Obrigkeit sich allmählich heilend und vernarbend auswirkte. Im Verlauf einer imperialistischen Eroberungspolitik, die sich unter Verachtung des Rechtes, unter Vergewaltigung des Schwächeren vollzog, hat es immer wieder jene allmähliche Wendung zum Recht, zum Frieden, ja zum Glück der einstmals Vergewaltigten gegeben, die eine Vernarbung der vergangenen Schuld bedeutete. Damit wird zwar die Schuld nicht gerechtfertigt, nicht aufgehoben, nicht vergeben, sie bleibt bestehen, aber die Wunde, die sie riß, ist vernarbt. Während es für die Kirche und für den einzelnen Gläubigen nur einen völligen Bruch mit der Schuld und einen Neuanfang geben kann, der durch die Vergebung der Sünde geschenkt wird, [135] kann es im geschichtlichen Leben der Völker immer nur um den allmählichen Heilungsprozeß gehen. Der Träger der Krone, der [sie] sich mit Unrecht erwarb, aber im Verlaufe der Zeit Recht, Ordnung, Frieden schuf, kann nicht einfach zum Verzicht auf die Krone, der Eroberer, der die unterworfenen Länder zu Frieden, Wohlstand und Glück geführt hat, nicht einfach zur Preisgabe seiner Eroberung ge­nötigt werden. Durch den Verzicht auf die Krone, durch die Preisgabe der Eroberung könnte ja jetzt gerade um so größere Unordnung, um so größere Schuld entstehen. Die Kontinuität mit der vergangenen Schuld, die im Leben der Kirche und des Gläubigen durch Buße und Vergebung abgebrochen wird, bleibt im geschichtlichen Leben der Völker erhalten. Nur darauf kommt es an, ob die vergangene Schuld tatsächlich vernarbt ist, und an dieser Stelle gibt es dann auch innerhalb der geschichtlichen außen- und innenpolitischen Auseinanderset­zung der Völker so etwas wie Vergebung, die doch nur ein schwacher Schatten der Verge­bung ist, die Jesus Christus dem Glauben schenkt. Es wird hier auf die volle Sühne des ge­schehenen Unrechtes durch den Schuldigen Verzicht geleistet, es wird erkannt, daß das Vergangene durch keine menschliche Macht wiederhergestellt, daß das Rad der Geschichte nicht mehr zurückgedreht werden kann. Nicht alle geschlagenen Wunden können geheilt werden, aber entscheidend ist, daß nicht weitere Wunden gerissen werden. Das Vergeltungs­gesetz des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ bleibt Gott, dem Richter der Völker, vorbehalten. In den Händen der Menschen müßte es nur neues Unheil hervorbringen. Voraussetzung für diese innergeschichtliche Vergebung bleibt, daß die Schuld vernarbt ist, indem aus Gewalt Recht, aus Willkür Ordnung, [136] aus Krieg Frieden geworden ist. Wo das nicht der Fall ist, wo das Unrecht ungebrochen herrscht und immer neue Wunden schlägt, dort kann freilich von solcher Vergebung keine Rede sein, vielmehr muß dort die erste Sorge sein, dem Unrecht zu wehren und die Schuldigen ihrer Schuld zu überführen.

„Rechtfertigung und Erneuerung“ des Abendlandes wird es also nur so geben, daß Recht, Ordnung und Friede so oder so wiederhergestellt werden, daß dann die vergangene Schuld „vergeben“ wird, daß jede Illusion, Geschehenes durch Strafaktionen ungeschehen machen zu können fallen gelassen wird und daß der Kirche Jesu Christi als Ursprung aller Vergebung, Rechtfertigung und Erneuerung Raum gegeben wird unter den Völkern. Wie die Schuld des Abfalls von Christus eine gemeinsame abendländische Schuld ist, so verschieden auch das Maß der Verfehlung hier oder dort sein mag, so wird es auch nur eine gemeinsame abend­ländische Rechtfertigung und Erneuerung geben. Jeder Versuch, unter Ausschluß eines der abendländischen Völker das Abendland zu retten, wird zum Scheitern verurteilt sein.

Quelle: Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hrsg. v. Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green, DBW 6, München: Chr. Kaiser, 1992, S. 125-136.

Hier Bonhoeffers Text als pdf.

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