"WAS SICH DA ALLES VERFLÜCHTIGT" (Zeit Magazin)

Nach Bier ohne Umdrehung und Spirituosen ohne Geist soll alkoholfreier Wein
das nächste große Ding werden. Wenn das Geschmacksspektrum von Wein nurnicht so komplex wäre! Von Jakob Pontius
Wer sein Leben im Griff hat oder wenigstens so wirken will, der überlässt heute nichts mehr dem Zufall. Vom Geburtskanal bis unter die Erde lässt sich inzwischen jede Sekunde optimieren. Tausende Apps versprechen Gesundheit und Glück, persönliche Berater helfen beim Entrümpeln des Alltags und beim Abgewöhnen aller objektiv schlechten Gewohnheiten.
Aber die letzte Sünde derer, die gesund leben und alt sterben wollen, bleibt das Glas Wein nach Feierabend. Und weil Verzicht immer so unfroh statt achtsam klingt, versprechen Start-ups und Getränkekonzerne nun Hilfe beim Entzug: Nach Bier ohne Umdrehung und Spirituosen ohne Geist sollen alkoholfreie Weine das nächste große Ding werden.
Das Dumme ist nur: Die Zukunft schmeckt nicht. Auch wenn man mit sehr guten Weinen beginnt, bleibt das Ergebnis nach dem Alkoholentzug – ernüchternd. Wie Wein mundet das jedenfalls nicht mehr, eher nur wie Kombucha aus Traubensaft. Ist das schlicht ein Innovationsproblem, also bloß eine Frage der Zeit, bis alkoholfreier Wein einigermaßen so schmeckt wie echter? Und wenn nicht: Kann alkoholfreier "Wein" trotzdem ein Publikum finden?
Die Zielgruppe ist größer, als man denkt. Denn es sind eben längst nicht nur Schwangere, die nach alkoholfreien Alternativen suchen. Dafür spricht der Erfolg alkoholfreier Biere, die inzwischen etwa acht Prozent des deutschen Biermarkts ausmachen.
"Ich glaube, die Dunkelziffer der Nichttrinker ist ziemlich hoch", sagt Moritz Zyrewitz, der mal Politikwissenschaft studiert hat und seit 2018 alkoholfreie Weine verkauft. Gemeinsam mit einem Freund hat er dafür in Berlin Kolonne Null gegründet, ein Label für entalkoholisierte Prädikatsweine. Zyrewitz hofft, dass alkoholfreier Wein gerade jetzt eine Chance hat, abzuheben. Weil er dem Zeitgeist entspricht. Dass er nicht für immer zu einem Nischendasein verdammt ist – als "Distinktionsmerkmal für Hedonisten auf Ritalin, die alles gleichzeitig wollen", so sagt es Zyrewitz, sondern dass alkoholfreier Wein im Mainstream ankommen kann.
Und es stimmt ja: Nicht nur Schwangere, Sportler und Hochleistungshipster kommen als Kunden infrage, auch gesundheitsbewusste Genussmenschen suchen nach gehobenen alkoholfreien Getränken, mit denen sie ihren lustbetonten Lebensstil beibehalten können – ohne den Kater am nächsten Morgen und den langfristigen Schaden für ihren Körper. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer der Nichttrinker am Ende egal, denn viel größer ist in jedem Fall die Zahl der möglichen Wenigertrinker. In quasi jedem Freundeskreis gibt es Menschen, die schon seit Jahren vorhaben, ihre allabendlichen anderthalb Gläser Wein endlich zu reduzieren: "Na gut, nochmal zwei Finger breit, bitte!" An Werktagen keinen Alkohol mehr zu trinken, ist einer der beliebtesten Neujahrsvorsätze, spätestens ab der Midlife-Crisis. Und er wird üblicherweise genauso lang durchgehalten wie der neue Trainingsplan für den Halbmarathon. Mitte Januar steht mittwochs wieder ein halb volles Glas auf dem Tisch, gerne mit der Begründung: "Aber das Ritual ist so schön!" 
Genau dort will Zyrewitz den Fuß in die Tür kriegen: beim Ritual. Alkoholfreier Wein soll die soziale und emotionale Komponente des Weinkonsums erhalten, das Suchtmittel aber aus der Gleichung streichen. Das Versprechen: Enthaltsamkeit ohne Entsagung.
An der Einlösung dieses Versprechens arbeitet Zyrewitz mitten in Berlin. In einem Neuköllner Hinterhof haben er und sein Team ein Industrieloft bezogen, sie teilen es sich mit ein paar anderen Start-ups. Hier wird weder Wein gekeltert noch Alkohol entzogen, hier wird geplant, geworben und verkauft. Weinherstellung als Bürojob. Kolonne Null ist so etwas wie ein Mini-Flixbus der Weinbranche: Die Firma besitzt weder Weinberg noch Kelterei noch Entalkoholisierungsanlage. Sie kauft fertige Jahrgangsweine und mietet sich bei großen Getränkeherstellern ein, um mit deren Anlagen den Alkohol zu entziehen. Es sind dieselben Maschinen, die auch für alkoholfreies Bier eingesetzt werden.
Die Technik dafür existiert schon seit mehr als einhundert Jahren: Der Rheingauer Winzer Carl Jung kam 1907 auf die Idee, seinem Wein bei großem Unterdruck den Alkohol zu entziehen. Je niedriger der Druck in einer Entalkoholisierungsanlage, desto niedriger der Siedepunkt des Alkohols, desto früher verdampft er also – und desto mehr Aromen bleiben in der Restflüssigkeit erhalten. Im Vakuum reichen weniger als 30 Grad Celsius, um Alkohol zu verdampfen. So die Theorie. In der Praxis verflüchtigen sich mit dem Alkohol auch einige der weintypischen Aromen, die nur schwer wieder einzufangen sind. Das gilt bis heute.
>> Margarine gibt es ja auch immer noch, obwohl sie nicht wie Butter schmeckt. <<
-Stephan Hoyer, Lebensmittelchemiker
Den Geschmack einigermaßen zu kontrollieren, ist schon beim ursprünglichen Wein ein komplexes Unterfangen, das auch von natürlichen Gewalten wie dem Wetter und der Gärung abhängt. Die Entalkoholisierung macht Kontrolle noch einmal schwieriger. Damit das Ergebnis trotzdem möglichst gut schmeckt, testen Zyrewitz und sein Kumpane mit einem kleinen Rotationsverdampfer, wie ein bestimmter Wein auf den Entzug reagiert. Entzug heißt: 0,06 bis 0,19 Prozent Restalkohol bleiben, sagt Zyrewitz. Legal wären bis zu 0,5 Prozent, wie beim alkoholfreien Bier.
Nur Weißweine haben bisher den internen Geschmackstest bei Kolonne Null bestanden, am häufigsten Riesling. Als Sekt verkaufen sie auch einen Rosé. An Rotweinen aber sind sie bislang gescheitert. Zyrewitz sagt: "Wir haben mehr als zwanzig probiert, bisher hat keiner geschmeckt."
Der Grund ist, dass Rotweine noch mal deutlich komplexere Aromen transportieren als Weißweine, der Alkoholentzug also mehr kaputt machen kann. So sagt es der Lebensmittelchemiker Stephan Hoyer. In seiner Diplomarbeit hat Hoyer den Geschmackseffekt von Alkohol in Weinen erforscht, er kann also erklären, warum die alkoholfreie Zukunft so schal schmeckt – und beantworten, ob sich das mit genügend Forschung ändern könnte.
Alkohol beeinflusse die Geschmackswahrnehmung eines Weines auf drei verschiedene Weisen, sagt Hoyer, und jede einzelne davon sei schwer zu imitieren: Er verstärke erstens Gerüche, mildere zweitens bestimmte Geschmacksrichtungen ab und löse drittens einen trigeminalen Reiz aus, stimuliere also den dreigliedrigen Gesichtsnerv, der vereinfacht gesagt für Tast- und Temperatursinn verantwortlich ist.
"Wenn wir sagen, ein Wein schmeckt gut, dann meinen wir eigentlich: Er riecht gut", sagt Hoyer. Zunge und Rachenraum können nur fünf verschiedene Geschmacksrichtungen wahrnehmen: süß, sauer, salzig, bitter – und umami, jene fünfte Geschmacksrichtung, die mit "herzhaft" oder "würzig" nur unzureichend aus dem Japanischen übersetzt werden kann. Die Nase dagegen kann mehrere Hundert einzelne Aromen erkennen, in der Kombination sind das Abermillionen Gerüche. Alkohol wirkt – wie Fett – als Aromaträger, nur verstärkt er Gerüche, keine Geschmäcker. Außerdem steuert reiner Alkohol noch einen eigenen Geruch bei, der an Vanille erinnert, findet Hoyer. Entzieht man den Alkohol, gehen also zum einen einzelne Duftstoffe verloren, die Komposition verändert sich, es fehlen wichtige Kopfnoten und der Wein wird flacher. Zum anderen nehmen wir die übrig bleibenden Duftkomponenten schwächer wahr.
Umgekehrt wirkt Alkohol auf den Geschmack im Mund: Er betäubt Geschmacksnerven, und zwar ungleichmäßig. Säurewahrnehmung etwa wird unterdrückt. Das heißt, alkoholfreier Wein schmeckt deutlich saurer, obwohl sich der pH-Wert nicht verändert hat, weil die betäubende Wirkung des Alkohols fehlt und wir die Säure besser wahrnehmen. Pur wäre der Wein so nicht mehr genießbar, das musste auch Moritz Zyrewitz einsehen. Kolonne Null versetzt seine alkoholfreien Weine daher mit knapp drei Gramm Zucker pro 100 Milliliter, um die Säure auszugleichen.
Den dritten Geschmackseffekt teilt sich Alkohol etwa mit der Schärfe von Chilischoten: Er stimuliert den Trigeminusnerv, der Gesicht, Mundhöhle und Kaumuskeln durchzieht. "In der Natur ist Schmerzempfinden in der Mundhöhle ein Zeichen für Gefahr – oder für etwas Ungenießbares", sagt Hoyer. Nur durch Gewohnheit kann sich der Mensch antrainieren, das als angenehm zu empfinden. Etwas schwächer als Alkohol löst diesen Effekt auch Kohlensäure aus – und tatsächlich kommt alkoholfreier Sekt aus diesem Grund deutlich näher an den Geschmack des Originals heran als Wein.
Alkohol ist und bleibt also die Bassnote des Weins. Er ist das Fundament des Geschmacks, er trägt und arrangiert die Aromen. Entzieht man den Alkohol, schmeckt der Wein flacher, oberflächlicher. Es ist, als würde man den Beginn des Weihnachtsoratoriums von Bach hören, aber ohne Pauke. Oder Drake ohne Synthesizer.
Gilt das alles nur für den Moment und kommt irgendwann der Durchbruch? Finden clevere Chemiker bald eine Rezeptur, die all diese Effekte des Alkohols imitieren kann? Stephan Hoyer glaubt nicht daran: "Nein, alkoholfreier Wein wird nie wie Wein schmecken."
Das klingt ziemlich niederschmetternd, aber es gibt ja noch andere Möglichkeiten, ohne Weinbegleitung zu speisen. In der gehobenen Gastronomie etwa ist es schon seit einer Weile üblich, alkoholfreie Alternativen anzubieten. Noch werden keine alkoholfreien Weine serviert, sondern eher Säfte und Kombuchas. Kolonne Null jedenfalls wird daran arbeiten, dass sich das bald ändert.
Obwohl alkoholfreie Weine wohl nie nach Wein schmecken werden, könnten sie sich also durchaus als eigenständiges Getränk etablieren. Wenn sie aufhören, sich am Original zu messen. Hoyer formuliert es so: "Margarine gibt es ja auch immer noch, obwohl sie nicht wie Butter schmeckt."
Autor: Jakob Pontius
Datum: 25.12.2019