Die Mittagspause des Seminars, das ich seit fast 20 Jahren besuchen möchte und an dem ich jetzt wundersamerweise teilnehmen darf, liegt exakt so, dass ich mich just mit dem mittäglichen Kirchengeläut in eine schattige Nische des Gartens zurückziehen kann, um mich der Fortschreibung dieser Serie zu widmen.

Ein paar Meter neben dem Rattansessel, in dem ich mich niedergelassen habe, sitzt die Hündin des Seminarleiters auf dem sonnigen Treppenabsatz und schaut hechelnd in die Runde.
In nahezu allen Nachbargärten hausen Katzen und in ihr eigenes Reich ist seit Samstag eine Schar fremdriechender Menschlinge eingedrungen. Neun an der Zahl sind wir, aus Hundesicht mit Sicherheit neun Störenfriede zu viel, denn so eine Katzenkolonie hundherum ist wahrlich strapaziös genug.

Ich fühle mich geehrt, dass sie mich schon am zweiten Kurstag nicht mehr anbellt, als ich morgens das Gelände betrete und ihrem Herrchen die Hand schüttle. So schnell die Gunst eines scheuen Angstbellers geschenkt zu bekommen, ist etwas, das mich überaus glücklich macht.

Auch ansonsten viele Glücksmomente hier im Seminar am See, beinahe unheimlich mutet manches an und ich merke, wie sehr ich das Glücklichsein verlernt habe im letzten Jahr und wie wenig ich ihm trauen mag, wenn es dann doch mal meinen Weg kreuzt, so wie jetzt.

Sofort möchte ich in solchen Momenten nach einer imaginären Reißleine greifen, um die verblüffende Verquickung zwischen Fortuna und mir gegebenenfalls mit einem einzigen Ruck wieder lösen zu können, denn das Meer der Malaisen ist mir allemal vertrauter als ein Hafen, in dem die Hoffnung vor Anker gegangen ist.

Die tägliche Gruppensituation ist es, die den Griff nach diesem Glückslöser überflüssig macht, denn sie sorgt für jene Nivellierung, die das Gesamtgeschehen auf ein normalverträgliches Level stutzt.
Ich bin kein Gruppenmensch, kann das aber einigermaßen geschickt verbergen und meist relativ bald zu Beginn einer solchen Sozialsituation in eine Rolle schlüpfen, die mich halbwegs geschmeidig durch die Stunden lotst, die ich im Schwarm zubringen muss.
Punktuell empfinde ich durchaus Freude bei diesem Spiel, doch letztlich bin ich jedesmal froh, wenn der Vorhang fällt, das Stück vorbei ist und ich mich in die Umkleide verkrümeln kann, um dort wieder in mein gewohntes Gewand zu schlüpfen.

Echte Bedrängnis schleicht sich in mir immer dann ein, wenn es ein mehrtägiges Stück ist, das aufgeführt wird und wenn dieses lediglich von ein paar läppischen Stunden Nachtschlaf unterbrochen wird, so man denn überhaupt nennenswert schlafen kann nach all dem Gemeinschaftsgedöns.

Der Pulkstress potenziert sich überflüssigerweise auch noch durch die Gegebenheiten in der Unterkunft.
In meinem kleinen Hotel logieren nämlich nicht nur drei der acht anderen Seminarteilnehmer, sondern auch eine schwäbische Reisegruppe: vier Familien, jeweils bestehend aus einem Häuslebauer, einer dazugehörigen Häuslebäuerin und mindestens einem (meist zwei) im erbauten Häusle erzeugten Kind.

Wir reden hier also von mehr als einem Dutzend schon frühmorgens sehr munter und sehr laut schwäbelnden Menschen, die sich frühstückend in Fahrt bringen für ihre Biketouren um den See oder durch das hügelige Hinterland, zu denen überwiegend die Väter Lust haben, weshalb die Mütter über alle Tischgrenzen hinweg ein Alternativprogramm ausdiskutieren.
Dazwischen das Dauergepiepse der Datengeräte des auf nichts, was sich jenseits der Ebbs im ächten Läben abspielen könnte, lusthabenden Nachwuchses.

Der erste Satz, der heute in mein müdes Morgenohr drang, als ich in den Frühstücksraum schlurfte, lautete: Wo ischn där Broschuddo?
Und kaum war dieser von der Buffetbestückerin auf einer Platte hereingeschafft worden, war die darauffolgende Degustation des begehrten Broschuddos bald begleitet von Mutmaßungen über dessen Herkunft und Preis, und das ganze geschäftige Geschwätz mündete schließlich in den Beschluss, sich vor der Heimreise ins Ländle schinkenmäßig hier in Italien noch ordentlich einzudecken, denn wennschd den in där Gwallidäd in Deudschland gaufschd, zahlschd logger däs Dobbelde.

Danach schnelle Morgentoilette und ein zwölfminütiger Marsch hinauf zu dem Haus am Hang, in dem das Seminar stattfindet.
Ein erster Glücksmoment besteht darin, auf diesem kurzen Weg niemanden zu treffen und unterwegs nur das Summen der Bienen in den Oleanderblüten zu hören.
Dann das Einklinken in die Gruppe und in den vorgesehenen Tagesablauf, der gottseidank meist mit einer Stillarbeit beginnt.

(Es würde Ihnen womöglich genau wie mir ein Schmunzeln entlocken, wenn ich Ihnen verriete, dass vor allem die drei Psychoanalytiker:innen – eh eine bemerkenswerte Kumulation einer Berufssparte innerhalb unserer vergleichsweise kleinen Gruppe – diese stummen Stunden ähnlich zu genießen scheinen wie ich.)

Das Hausglöcklein bimmelt und beordert alle Neune zu Tisch.
Es riecht nach einer Parmigiana, das glaube ich zumindest, doch selbst wenn sich meine Nase getäuscht haben sollte, wäre das ein schöner Schlusssatz für diesen Montagmittag.

Was Frau Graugans heute zur Mittagszeit ihrer Feder entlockt hat, finden Sie hier.

3 Kommentare zu “(#6): Alle Neune.

  1. Herzliche Grüße aus dem Liegestuhl vor unserem garantiert schwabenfreien Ferienhaus und weiterhin einen erfreulichen Seminarverlauf!
    Ihr C.

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  2. Pingback: #6 Ahmed Altan: „Ich rauche nur, wenn ich nervös bin“. | Graugans

  3. Bludgeon

    In zahllosen „Fort!“Bildungen mal mit/mal ohne Übernachtungen hab ich beides erlebt: Entweder mein Fluchtverhalten in die Natur oder ins Herbergezimmer zum Lesen, weil ich den Dummschwatz der Gruppe nach abgesessener Schein-Veranstaltung (Man brauchte eben wirklich diesen oder jenen Schein um später dies oder jenes tun zu dürfen; z.B. Prüfen dürfen.) nicht aushielt – oder aber: Die Vorfreude auf den nächsten Morgen, um in der Gruppe wieder aufgehen zu dürfen, diesen oder jenen wiederzusehen, und SOGAR dieser oder jener Veranstaltung auch inhaltlich das eine oder andere abgewinnen zu können. Letzteres war immer die größte Überraschung, denn der Mist überwog deutlich.

    Es kommt halt immer auf die Zusammensetzung der Leute an.

    Mal bereicherts, und dann wiederum sitzt du nur „unter dem, was man halt so auf Reisen schickt“ herum.

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