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Schlagworte werden zumeist aufgerufen, wenn über Jugend und Aufwachsen gesprochen wird. Einige erinnern an die „Skeptische Generation“, an die „Halbstarken“ und vielleicht an die „Existenzialisten“, an die „Protestgeneration“, die Generation „Z“ oder „Y“. Andere assoziieren mit Jugend Probleme, Drogen- und Medienkonsum, Flucht in Fantasiewelten, Gewalt und Renitenz, Unsicherheit und psychosoziale Krisen.

Dass diese Begriffe jugendliches Aufwachsen nur unscharf beschreiben und die Vielfältigkeit, Differenziertheit, die Kulturen und Herausforderungen, mit denen Jugendliche sich konfrontiert sehen, auch nicht annähert darstellen, bleibt in Alltagsgesprächen – und zuweilen auch in sozialpädagogischen Diskussionen – jedoch weitgehend ausgeblendet.

„Die“ Jugend und „das“ Aufwachsen

Jugendliche, generell das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, findet immer dann Aufmerksamkeit, wenn sie „der“ Gesellschaft „Probleme bereiten“ oder sich still „zurückziehen“, schlicht formuliert, den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen nicht zu entsprechen scheinen. Das scheint in den 1950er-Jahren, als jugendliche Halbstarke vornehmlich nach Kinobesuchen randalierten und mit der Polizei um die Deutungshoheit in westdeutschen Innenstädten kämpften, in den 1960er-Jahren, wo Studierende und Jugendliche gegen die Invasion der USA in Vietnam, das iranische Schah-Regime und die Verabschiedung der Notstandsgesetze sich engagieren, sowie bei den Friedens‑, Anti-Atomkraft- sowie der Protest- und Hausbesetzer_innenbewegungen in den folgenden Jahrzehnten ebenso der Fall zu sein wie bei den Diagnosen, Jugend verfalle dem Drogen- oder Medienkonsum. Gegenwärtig finden Kinder und Jugendliche Beachtung, weil aufgrund der Folgen der Covid-19-Pandemie ihr Leben von Gefühlen der Frustration, Langeweile, Ängstlichkeit und Frustration geprägt werde und sie depressiven Stimmungen mittels Flucht in digitale Konsumwelten suchtartig zu kompensieren suchen.

Sicherlich sind die Wirkungen der fast dreijährigen pandemischen Situation sensibel wahrzunehmen und Angebote wünschenswert, die Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihre Erlebnisse und Erfahrungen aufzuarbeiten (vgl. hierzu Berngruber und Herz sowie Isenberg und Thole in diesem Schwerpunkt). Wie jedoch nicht alle Jugendliche der 1950er Jahre Halbstarke waren, nicht alle heute Achtzigjährigen an den Anti-Springer-Aktionen teilnahmen und die nachfolgenden Jugendgenerationen nicht alle in der Hausbesetzer_innen- oder Antikriegsbewegungen aktiv waren, zeigen heute nicht alle Heranwachsenden Schwierigkeiten, in die analoge Präsenz zurückzukehren und diese zu gestalten. Aufwachsen in einer bestimmten historischen Zeit ermöglicht Jugendlichen wie Kindern, Welt in einer bestimmten Art und Weise zu erleben, bedeutet aber nicht zugleich, dass das Erleben auch in identischer Form erfolgt, Jugend – oder auch Kindheit – unterschiedslos gestaltet, gelebt und erinnert wird. Erneut – und vielleicht insbesondere gegenwärtig – ist zu erinnern, dass es „die“ Jugend ebenso wenig gibt wie „die“ Kindheit.

Nach wie vor steht die Publikationsmenge über die Lebensphasen Kindheit und Jugend im disproportionalen Verhältnis zu den vielfältigen Ausdrucksweisen, die Kinder und Jugendliche für die Ausformung der einzelnen Lebensphasen, insbesondere des jugendlichen Aufwachsens finden. Diagnostizieren die einen eine politikapathische, werteabstinente, depressiv-frustrierte, in der digitalen Welt versunkende oder konsum- und lustbetonte Heranwachsenengeneration, erkennen andere in der heutigen Jugend eine durchaus engagierte, politisch interessierte, Ungerechtigkeiten kritisierende, Gemeinsamkeit und Solidarität suchende, für Klima- und Umweltfragen sensible Generation. Die einzelnen Beobachtungen mögen sich bei näherer Betrachtung vielleicht gar nicht widersprechen. Sie illustrieren jedoch zumindest eines: Pauschalisierende, generelle Bilder von Kindheit und Jugend verfehlen nach wie vor die Wirklichkeit.

Die Sorge um das „sittliche Gedeihen“ der Jugend …

… dominiert bis ins 21. Jahrhundert den sozialpädagogischen Blick auf Jugend und die Phasen des Aufwachsen. Jugendliche werden zwar nicht mehr als „aus allen Kreisen der menschlichen Gesellschaft“ kommender „Mob“ und als „furchtbare, grauenerregende Macht“ (Schultz 1912, S. 34) beschrieben, gegen die der Staat aufgefordert ist, einzuschreiten, da gesellschaftliche Veränderungen einen „großen Teil unserer heranwachsenden Jugend in eine Lage gebracht hat, die ihr leibliches und noch mehr ihr sittliches Gedeihen auf schwerste gefährdet“ und ein „fröhliches Heranreifen zu körperlicher und geistiger Kraft“ (Ministerialerlaß 1911, S. 192 f.) verunmöglicht, jedoch durchaus noch als entwicklungsbedürftige Subjekte charakterisiert.

Um Handlungsfähigkeit und -mächtigkeit in Bezug auf Jugendliche und Jugend zu begründen und zu legitimieren, wird weiterhin ein defizitorientiertes Bild von Jugend in den sozialpädagogischen Diskussionen (vgl. Ritter und Schmidt 2020; Bock et al. 2013) entworfen und im Kern von „der“ Jugend eine unproblematische, angepasste „Assimilation an die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte der Erwachsenengeneration“ (Lindenau 2009, S. 11) erwartet. Eine entsprechende Erwartung schimmert etwa in Konzepten zur sozialpädagogischen Diagnostik durch, die unter anderem, anlehnend an das von Robert J. Havighurst (1953) konzipierte Entwicklungsaufgabenkonzept, davon ausgehen, Jugendliche können die Herausforderungen der Jugendzeit nur erfolgreich durch die Bewältigung von allgemeinen Aufgaben spezifisch bewältigen (vgl. Mollenhauer und Uhlendorff 1995). Modifiziert findet sich das Konzept von Entwicklungsaufgaben auch in dem sozialpädagogisch breit rezipierten sozialisationstheoretischen Modell von Entwicklungsprozessen und -aufgaben im Jugendalter (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016) wieder. Und auch im fünfzehnten Kinder- und Jugendbericht werden Kernherausforderungen formuliert, die von Jugendlichen bewältigt werden sollten (BMFSFJ 2017, S. 96).

Nach Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel sind Jugendliche gefordert, die Aufgaben Qualifizieren, Binden, Konsumieren und Partizipieren erfolgreich zu meistern (Hurrelmann und Quenzel 2016). Sich zwar kritisch von „eher entwicklungspsychologisch orientierten Sozialisationsansätzen der ‚Entwicklungsaufgaben‘“ (BMFSFJ 2017, S. 96) absetzend, werden in dem erwähnten fünfzehnten Kinder- und Jugendbericht Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung als Kernherausforderungen „gesellschaftlicher Integration und generationaler Ordnung“ (BMFSFJ 2017, S. 96; vgl. auch Wersig 2022) genannt. Aufgabe von Jugendlichen sei, so wird herausgestellt, diese Kernaufgaben zu bewältigen, um die gesellschaftlich vorgehaltenen Erwartungen „soziale und berufliche Handlungsfähigkeit“, „Verantwortungsübernahme“ und „Individuation und soziale Zugehörigkeit“ (BMFSFJ 2017, S. 97) zu realisieren. Unabhängig von den konkreten klassen- oder milieuspezifisch austarierten und präformierten Lebenslagen und Lebensformen von Jugendlichen werden Jugendliche zu der Jugend und dieser Aufgaben zugewiesen, deren Lösung Jugendliche befähigt, den weiteren Weg durchs Leben als Erwachsene zu bestreiten und als Mitglied der Gesellschaft adressiert zu werden. Zwar wird in dem Kinder- und Jugendbericht wie auch in den anderen Entwicklungskonzepten davon ausgegangen, dass soziale Ungleichheiten keineswegs unbedeutend für die ökonomischen, bildungsbezogenen und beruflichen Situationen und Teilhabemöglichkeiten von Jugendlichen sind, jedoch davon abgesehen, die sozialen Lagen und Lebensformen von Jugendlichen differenziert zu betrachten. In der Konzeptualisierung von Kern- oder Entwicklungsherausforderungen werden die je spezifischen Bedingungen, die die Jugendzeit von Jugendlichen ausmacht, nicht durchgehend reflektiert, sondern generalisierend wird davon ausgegangen, dass erstens unabhängig von sozialen Lebenslagen und konkreten Erfahrungen alle Jugendlichen die Herausforderungen in ihrer Jugendzeit abzuarbeiten respektive zu bewältigen obliegt. Gut akzentuierte Hinweise argumentieren sicher theoretisch wie empirisch fundiert dafür, dass Heranwachsende im Jugendalter sich selbstständiger und eigensinniger in der Gesellschaft verordnen (vgl. hierzu auch Caroline Gröschner und Lukas Schildknecht in diesem Schwerpunkt), ihre Qualifizierungswünsche, Beziehungssuchen, Selbstpräsentationen und -positionierungen neu austarieren, ausbalancieren und arrangieren. Jedoch die Jugendphase und das hier anzutreffende experimentelle Suchen in Abgrenzung zum Erwachsenenalter zu binden an das Finden einer Berufsrolle, über die ökonomisch selbstständiges Handeln ermöglicht wird, sowie einer, eines Partner_in und die Übernahme einer Elternrolle, die Wahrnehmung einer Rolle als Wirtschaftsbürger_in und politischen Partizipanten_in, übersieht nicht nur die vielfältigen Formen der Gestaltung von Jugend, sondern auch die Ausdifferenzierung wie Entstrukturierung der Jugendphase. Auf das Jugendalter bezogene Entwicklungskonzepte ignorieren somit zweitens, dass die bisher an die Jugendphase adressierten Lebensbewältigungsaufgaben diffundieren, sich entstrukturiert und -standardisiert haben. Das Erlernen eines Berufs, das Finden eines sozial-kulturellen, ästhetischen Stils, der Aufbau eines sozialen, Sicherheit bietenden Freundeskreises und beispielsweise das Suchen und Finden einer festen, auf Liebe und Zuneigung begründeten primären Partnerschaft realisieren Jugendliche nicht mehr in einer aufeinander aufbauenden Abfolge.

Die Gestaltung von Jugend folgt keinen „festen Fahrplänen“ (Fuchs-Heinritz und Krüger 1991; vgl. auch Du Bois-Reymond und Oechsle 1990) mehr, sondern hat sich entstrukturiert. Zudem entwickelten sich die ehemals für die Jugendzeit reservierten Aufgaben zu Lebensprojekten, die heute nicht mehr nur in der Jugendzeit bewältigt und dann mit einem lebenslangen Haltbarkeitsdatum versehen werden. Das Erwachsenenalter stellt inzwischen eine Lebensphase dar, in der „die Kernaufgaben“ der Jugendzeit wiederkehrend „aufflackern“ und zu bewältigen sind – die „Entzeitlichung“ von Jugend scheint eng verwoben mit Dynamiken der Entstandardisierung zu sein. Die Jugendphase wird nicht mehr schnell „durchlaufen“, sondern die Möglichkeiten, in ihr zu verweilen, können nicht mehr nur, sondern müssen genutzt werden.

Entkopplung von schablonierten Normen und neue institutionelle Einbindungen

Einst verlässliche Merkmale des Jugendalters sind inzwischen fragil, sind zumindest neu zu prüfen und zu diskutieren. Annahmen, dass nicht von einer deutlich markierten Statuspassage Jugend, in der klar formulierbare Aufgaben bearbeitet und gelöst werden, ausgegangen werden kann, sind allerdings keineswegs neu. Prozesse der jugendzeitimmanenten Entstrukturierung und lebenszeitbezogen Entgrenzung respektive Entstandardisierung von Jugend werden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet und diskutiert (vgl. Olk 1986). Inzwischen scheinen sie zu einer die Jugendzeit wie das Erwachsenenalter bestimmenden Realität geworden zu sein, die Jugendliche und Erwachsene, aber auch institutionelle, Inklusion wie Exklusion produzierende sozialpädagogische Arrangements beschäftigt (vgl. den Beitrag von Molnar, aber auch von Beierle in diesem Schwerpunkt) und fordert, mit dem Ziel, die gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit von Jugendlichen zu erweitern (vgl. Gröschner und Schildknecht in diesem Schwerpunkt).

Analysen des jugendlichen Aufwachsens referieren, dass die Formen der Wege durch die Jugendzeit und der Identitätsentwicklung seit einigen Jahrzehnten hybride Züge andeuten, insbesondere wenn berufliche Qualifizierungswege (vgl. Beierle in diesem Schwerpunkt) oder die Selbstvergewisserungen und -verortungen über transnationale Erfahrungen beziehungsweise einen Migrationshintergrund zusätzlich angereichert oder gebrochen werden (vgl. Fürstenau und Niedrig 2007). Noch undurchsichtiger präsentieren sich die biografischen Verläufe von Jugendlichen durch internet- und handygestützte Präsentations- und Kommunikationspraktiken, insbesondere in Korrespondenz mit Versuchen, urbane Risiken und Herausforderungen zu bewältigen (vgl. Hübner in diesem Schwerpunkt).

Jugendlichen scheinen kaum noch bindende und verlässliche Sicherheiten zur Verfügung zu stehen, auf die sie ritualisiert zur Bewältigung von Risiken und Herausforderungen des Alltags zurückgreifen können. Die bislang gesellschaftlich und in den sozialen Milieus bereitgehaltenen sozialen Korsette, die unhinterfragt Qualifizierungswege, Umgangsformen wie soziale Beziehungen herstellen und Wege durch die Jugendzeit – das Leben – rahmen und konfigurieren, werden gesellschaftlich nicht mehr vorgehalten. Zugleich werden Jugendliche – und auch Kinder – vermehrt mit institutionellen Arrangements konfrontiert, deren Nicht-Wahrnehmung verbunden ist mit der Gefahr, die Gestaltung von Lebensläufen, gesellschaftlicher Inklusion und Teilnahme zu erschweren. Insbesondere die Selbst- und Weltverhältnisse kritisch reflektierenden Jugendlichen beobachten und nehmen wahr, wie die Wirkungen ihres Handelns sie selbst betreffen wie auch ihre Gegenwart und Zukunft (vgl. Wulf 2020).

Theoretisch kann über das Analysemodell der reflexiven Modernisierung versucht werden, die ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen, die diese Entwicklungen formieren, zu verstehen. Das bisher dominante einfache Vergesellschaftungsmuster der Reichtumsproduktion wird demnach um eine reflexive Vergesellschaftungsform der Produktion von Risiken und neuen Ungleichheiten – jenseits von gegebenen Klassen und sozialen Lebenslagen und diese doch zugleich im Hintergrund reproduzierend – ergänzt (vgl. Beck 1986, 1993). Diese fundamentale Veränderung vollzieht sich jedoch nicht als linearer, geplanter oder gar revolutionärer Prozess, sondern vielmehr als Nebenfolge des Alltagsgeschäfts industriekapitalistischer Vergesellschaftung, quasi als „ein Kampf auch gegen die eigenen Prämissen (...) der im Modell der nationalstaatlich-kapitalistisch-demokratischen Industriegesellschaft stillgelegten Moderne“ (Beck 1993, S. 25).

Das führende und dominante Deutungsmuster dieses grundlegenden, traditionelle soziale Strukturen zersplitternden Prozesses heißt Individualisierung. Damit ist keinesfalls, wie häufig angenommen wird, Individuierung oder gar Vereinsamung und Verinselung der Gesellschaftsangehörigen gemeint, sondern die Dynamisierung der ökonomischen Potenziale, insbesondere der sozialen Beziehungsformen. Zuvorderst meint Individualisierung die „Auflösung vorgegebener Lebensformen“ (Beck und Beck-Gernsheim 1994, S. 11), die Herauslösung der Subjekte aus vormals standardisierten kollektiven Orientierungen und Traditionen, Alltagshandlungen und -routinen. Selbst kleinste Alltagshandlungen müssen nicht, können aber zu einer Herausforderung werden. Ob eine Begrüßung lediglich durch Kopfnicken und einem Lächeln, durch geben einer Hand oder durch zwei – oder doch drei – Wangenküsse angebracht ist, ist situativ auszuhandeln und wird nicht mehr durch eine Erinnerung an tradierte Rituale präformiert. Gewonnene, vermeintliche Freiheiten sind folglich trügerisch, denn im Kern ist die Freiheit der individualisierten Gesellschaft eine „riskante Freiheit“ (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 1994) – die Entscheidung, nicht zu grüßen, kann als unhöflich oder Arroganz verstanden werden und den Verzicht auf Herstellung von Sympathie und Zugehörigkeit zur Folge haben.

Alle, auch und insbesondere die Akteur_innen in der Phase des Aufwachsens, gewannen und gewinnen also nicht nur eine neue Vielfalt an Entscheidungsmöglichkeiten über die Weichen der Lebensplanung und Lebensführung. Sie werden zugleich unter Entscheidungszwang gesetzt. Individualisierung bedeutet somit immer aber auch Institutionalisierung, Einbindung in institutionell formatierte Prägungsarrangements und in die Prozeduren der „politischen Gestaltbarkeit von Lebensläufen und Lebenslagen“ (Beck 1986, S. 212). Die Institutionalisierung von individuellen Lebensläufen vor allem durch den Arbeitsmarkt, aber auch durch das Bildungssystem und die sozial-politischen Versorgungssysteme verweisen auf die Widersprüchlichkeit des Individualisierungsprozesses. An die Stelle normativer und wertintegrierter Konsens- und Gruppenbildung treten als Regulierungsinstrumente bisher nicht bekannte institutionelle Anforderungen und Disziplinierungen, denen sich Jugendliche – und zunehmend prägnanter auch Kinder – in den Phasen des Aufwachsens konfrontiert sehen. (vgl. auch Willis 1978) Über die Ausbildungssysteme, den Arbeitsmarkt, die Angebote und Zwänge des Wohlfahrtsstaates und die Digitalisierung und Formierung von Entscheidungen über algorithmisierte Standards werden Jugendliche – wie auch Erwachsene und Kinder – mit einem vielförmigen Geflecht von Regularien und Normierungen konfrontiert. Individualisierung ist, wird der hier referierten Argumentation gefolgt, ein Code, der die komplexe, paradoxe Entwicklung der „Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke, und dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat“ (Beck und Beck-Gernsheim, 1994, S. 14), begrifflich wie theoretisch zu beschreiben versucht.

Den Weg durch die Jugendzeit gestalten – ein anspruchsvolles Unternehmen

Im Übergang zum 21. Jahrhundert scheinen sich die Entwicklungen weiter zu verschärfen und zu dynamisieren. Die gegenwärtigen Generationen von Jugendlichen wuchsen und wachsen nicht nur unter den Bedingungen einer sich stetig fortschreitenden individualisierten Gesellschaft auf, sondern zugleich auch in sie hinein. Die diese Gesellschaft kennzeichnenden Spielregeln sind ihnen bekannt, sie müssen sie nicht mehr neu kennen lernen, sondern können sich gefordert fühlen, sie in einer selbstverträglichen Form zu modellieren.

Davon wissend – oder ahnend –, wie gesellschaftlich hegemoniale Normalitätsvorstellungen von Jugend konfiguriert sind, scheint es Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen zu gelingen, auch herausforderungsvolle, tendenziell durch Krisen und Verunsicherungen hervorrufende Lebensereignisse nicht als Ohnmachtserfahrungen oder als problematische, mit Zukunftsängsten durchzogene Leidenserlebnisse der Hilflosigkeit und Beschämung zu kommunizieren, sondern als erfolgreiche oder als alternative beziehungsweise renitente Formen der Gestaltung von Leben. Jugendliche vermögen weitgehend konsistente, krisenfreie, zukunftsoffene, mit sich selbst zufriedene Identitäts- und Selbstkonstruktionen zu präsentieren (vgl. Thole und Schildknecht 2020).

Auch wenn dies nicht allen Jugendlichen in identischer Form und ungebrochen gelingt, zeigt sich zu den Befunden der 1980er-Jahre ein Unterschied, denn vergleichbare Positionierungen wurden als gegengesellschaftliche Selbstverwirklichungskonstruktionen entworfen (vgl. Lenz 1988; Thole 2010). Orientiert auf die jeweils gegebenen Möglichkeiten scheinen Jugendliche heute ihre Selbstrepräsentationen nicht als gegenkulturelle, normabweichende Wege durch die Jugendzeit, sondern als konventionelle und normkompatible, aber zugleich auch als selbstbestimmte Gestaltungen und Realisierungen eines „Normalentwurfs von Jugend“ zu konzipieren. Gekonnt schimmern hier Positionierungen des Selbst in der Welt als etwas Besonderes durch, der Selbstständigkeit und Selbstoptimierung, das „komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit“ nicht nur als subjektiven Wunsch artikulieren, sondern als Streben, einer paradoxen gesellschaftlichen Erwartung zu entsprechen (Reckwitz 2019, S. 9). In einer rationalisierenden Logik des Allgemeinen wird einerseits den gesellschaftlichen Ansprüchen zu entsprechen versucht. In einer Logik der Kulturalisierung wird andererseits den Selbstansprüchen zu entsprechen angestrebt. Beide Logiken, die Jugendliche zu realisieren versuchen, heben sich keineswegs gegenseitig auf, sondern bringen je spezifische Dynamiken der spätmodernen Gesellschaft hervor. Singularisierung, der von Andreas Reckwitz für diese Modellierung von Leben vorgeschlagene Begriff, sieht mit Prozessen der Rationalisierung Formen von Standardisierung, Formalisierung und Versachlichung (Logik des Allgemeinen) und mit Affektintensivierungen und Ästhetisierungen Formen der – auch neue Ungleichheiten hervorbringenden – Kulturalisierung verbunden (Logik des Besonderen) (Reckwitz 2019, S. 17). Individualisierung wird zu einem „Normereignis“ einer „Gesellschaft der Singularitäten“.

Der oftmals zitierte „Fahrstuhleffekt“, demnach beispielsweise alle Jugendlichen eine Möglichkeit finden, sich formal höherwertiger zu qualifizieren, zeigt sich nun als Paternoster, also als ein die Wege nach oben und unten untrennbar miteinander verbindendes Transportmittel. „Befanden sich in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft alle mehr oder weniger auf einem (…) vergleichbaren materiellen Niveau und in ähnlichem kulturellen Lebensstil, so dass sich gewissermaßen die beiden Kabinen des ‚gesellschaftlichen Paternosters‘ noch auf derselben Höhe befanden, ist seit den 1980er-Jahren die Kabine des einen sozialen Segments nach oben gefahren – die der neuen, akademischen Mittelklasse (zuzüglich der neuen Oberklasse) – wohingegen die Kabine des anderen Segments den Weg nach unten genommen hat.“ (Reckwitz 2019, S. 282 f.) Dieser Paternostereffekt führt zu einer nachhaltigen und tiefgreifenden Transformation der gesellschaftlichen Klassen, die im Wesentlichen neben einer im Verhältnis sehr elitären Oberklasse durch eine Spaltung der mittleren Klasse in eine neue akademische Klasse (der sogenannten „creative class“) sowie der alten Mittelklasse geprägt ist. Im Zuge der strukturellen Formatierung „feiner Unterschiede“ (Bourdieu 1982), die auch jugendliche Gleichaltrigenkulturen durchziehen, erweitert parallel sich die untere Klasse durch die prekär Beschäftigten der neuen „service class“ (Reckwitz 2019, S. 273 ff.).

Jugendliche, denen es gelingt, etwas Neues, Einzigartiges und Authentisches anzubieten und sich entsprechend zu präsentieren, können sich anders darstellen als Jugendliche, die sich zwar auch als „erfolgreich“ zu präsentieren versuchen, jedoch keinerlei Möglichkeiten haben und finden, ihr Leben als kreativ respektive singulär auszuweisen (vgl. hierzu auch die Beiträge von Beingruber und Herz sowie von Beierle in diesem Schwerpunkt) und als Basis heranziehen, urbane Räume zu erkunden und zu erobern (vgl. hierzu Hübner in diesem Schwerpunkt). Lebensetappen, wie das Beenden der Schule mit einem Hauptschulabschluss, oder engagierte Care-Tätigkeiten erfahren so eine enorme gesellschaftliche Abwertung und zwingen Jugendliche zugleich, sie als erfolgreiche und angestrebte Selbstentwürfe zu präsentieren. Das Kreieren von gesellschaftlich akzeptablen Selbstentwürfen wird für Jugendliche zur „Hauptbeschäftigung“, um der angenommenen Herausforderung, „sich selbst zu regieren und aus sich selbst heraus zu handeln“ (Ehrenberg 2012, S. 300ff.), zumindest narrativ entsprechen zu können. In der Ausformulierung und in den Selbstthematisierungen und -verortungen in der sozialen Welt (vgl. auch Hübner in diesem Schwerpunkt) kann es Jugendlichen nicht mehr lediglich um die Darstellung der Praxis gehen, wie die Anforderungen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft bewältigt werden können, sondern vornehmlich darum, Leiden an der Gesellschaft zu tarnen, neu zu framen und den erlebten Alltag als gelungene und erfolgreiche Gestaltungen der gelebten Zeit zu kommunizieren.

Für die die pädagogische, insbesondere die sozialpädagogische Praxis bedingen diese Entwicklungen enorme Herausforderungen (vgl. Molnar in diesem Schwerpunkt). Begegnen die pädagogischen Akteur_innen den jugendlichen Selbstbeschreibungen zu affirmativ-anerkennend, laufen sie Gefahr, auf problematische, risikohafte, selbst- und weltzerstörerische Alltagsgestaltungen – Übernahme von rechts-nationalen Deutungsmustern, Beendigung von Qualifizierungen, überbordender Drogenkonsum oder Flucht in digitale Fantasiewelten – aufbauende Subjektivierungsformen als „gelungene Formen der Lebensbewältigung“ anzusehen. Verlieren sie hingegen die Widersprüchlichkeiten innerhalb der Inszenierungen von Subjektivität gegenüber kapitalistischer Wertungslogiken und Vergesellschaftungsformen aus dem Blick, so setzen sie sich dem Bedenken aus, den Selbstadressierungen der Subjekte nicht zu glauben und ihren Versuchen, sich selbst zu regieren, mit Misstrauen, also mit Praktiken der Entmündigung zu begegnen. Nicht nur der Weg durch die Jugendbiographie war, ist und bleibt für Jugendliche eine schwierige, holprige Tour – für viele sogar eine Tortur – (Ziehe 1994, S. 259), auch die Pädagogik mit Jugendlichen war, ist und bleibt verhaftet mit Unsicherheiten und dem Risiko des Scheiterns.