Multilokalität bedeutet das gleichzeitige Leben an mehreren Orten, also eine „Vita activa an mehreren Orten“ (Rolshoven 2006: 181). Dabei verteilen multilokal lebende Personen ihren Lebensalltag auf zwei oder mehr Orte, die sie mehr oder weniger funktionsteilig in unterschiedlichen Zeiträumen nutzen (ebd.). Folglich übernachten Multilokale regelmäßig an verschiedenen Orten und nutzen dabei sehr unterschiedliche Unterkünfte. MehrörtigkeitFootnote 1 stellt ein Massenphänomen dar (Weichhart 2015: 378) und findet sich in allen Altersgruppen sowie in allen sozialen Schichten wieder (Hilti 2013: 18; ARL 2016: 7; Oberösterreichische Akademie 2019: 4; vgl. auch Abb. 1.1). Dies zeigt sich u. a. besonders deutlich in der Schweiz, wo fast 50 % der Bevölkerung (aktuell oder aus früheren Lebensabschnitten) über Erfahrungen mit multilokalem Wohnen verfügen (Schad et al. 2015; Hilti 2015). Auch in den nordischen Ländern sind mehrörtige Lebensweisen vermehrt zu beobachten; hier ist der Anteil der Haushalte, die einen Zweitwohnsitz (z. B. Ferienwohnungen und -häuser) haben, mit bis zu 50 % ebenfalls sehr hoch (Weichhart 2020). In Österreich und Deutschland ist der Anteil geringer; Schätzungen gehen davon aus, dass in Österreich mehr als 1 Million Menschen (Wisbauer et al. 2015) und in Deutschland mehr als 2 Mio. Haushalte multilokal leben (Tagesspiegel vom 29.05.2017). Dies zeigt, dass immer mehr Menschen „ein Leben über mehrere Wohnstandorte hinweg [führen]“ und entsprechende Alltagsräume nutzen bzw. gestalten (ARL 2016: 1 f.). Dabei können multilokale Lebenspraktiken verschiedene Anlässe haben und verschiedenen Zwecken dienen, sie können vielfältige Erscheinungsformen annehmen und unterschiedliche gesellschaftliche und (sozial-)räumliche Auswirkungen haben. Damit stellen multilokale Lebensweisen Stadt- und Regionalplanung vor neue Herausforderungen (ARL 2016; Danielzyk/Dittrich-Wesbuer 2020; Di Marino/Lapintie 2018) – dies gilt u. a. mit Blick auf die Schaffung entsprechender Wohnungsangebote, technischer und sozialer Infrastrukturen, Mobilitätsangebote u.v.a.m.

Abb. 1.1
figure 1

(Quelle: TempALand 2020 nach Oberösterreichische Akademie 2019: 21)

Neun Multilokalitätsszenarien (basierend auf möglichen Motiven für multilokale Lebensweisen und drei zentralen Lebensphasen)

1.1 Multilokale Lebenspraktiken und ihre Bedeutung für ländliche Räume

Es gibt unterschiedliche Motive für multilokale Lebensweisen (vgl. Beitrag Greinke/Lange/Born in diesem Band (Kap. 2)), die sich gegenseitig bedingen (können) (Hesse/Scheiner 2007: 143; ARL 2016: 2 ff.). Oft befinden sich diese Lebensweisen in einem Spannungsfeld zwischen Zwang und Freiwilligkeit (ARL 2016). Die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und Erwerbsverhältnisse führen bspw. zu einer Zunahme in Projekten organisierter Arbeit und einer wachsenden Instabilität von Beschäftigungsverhältnissen, sodass Arbeitnehmer*innen im Lauf ihrer Erwerbsbiografie an verschiedenen Orten arbeiten müssen (Kramer 2020; Tippel 2020). In Verbindung mit gesteigerten Mobilitätsmöglichkeiten führt dies zu einer Zunahme multilokaler Lebensweisen; die Nutzung einer Wohnung am Arbeitsort wird hier als Strategie und Reaktion auf flexible Arbeitsmärkte und Erwerbsverhältnisse gewählt (Tippel 2020; Weiske et al. 2009; vgl. Abb. 1.1). Gleichzeitig können Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile auch zu beziehungsbedingten Formen von Multilokalität führen – hierzu gehören u. a. Paarbeziehungen mit getrennten Haushalten (auch über große Distanzen). Darüber hinaus sind multilokale Lebensweisen in generativen Familienbeziehungen zu finden; dies umfasst bspw. Kinder getrenntlebender Eltern oder auch Kinder betreuende Großeltern (ARL 2016: 4). Multilokale Lebensweisen können zudem freizeitbedingt sein, hierzu zählen u. a. regelmäßige Aufenthalte in Ferienhäusern oder -wohnungen sowie saisonale Wohnortwechsel von Rentner*innen (z. B. auf dem Dauercampingplatz) (ebd.; vgl. Abb. 1.1). Vielfach überlagern sich mehrere Motive bei einem Leben an mehreren Orten. Insgesamt werden multilokale Lebensweisen gewählt, wenn „der subjektiv empfundene Nutzen höher eingeschätzt wird als der damit verbundene Aufwand“ – dies umfasst u. a. monetäre Kosten, aber auch soziale Kontakte, Erholungswerte etc. (Oberösterreichische Akademie 2019: 4).

Multilokale Lebensweisen sind durch den (regelmäßigen) Wechsel von An- und Abwesenheiten an den Wohn- bzw. Lebensorten gekennzeichnet (u. a. Kramer 2020). Multilokalität lässt damit die Grenzen zwischen einer permanenten Wohnsitzverlagerung (Migration) und zirkulären Alltagsmobilitäten (Pendeln) verschwimmen und stellt eine eigenständige soziale Praxis der Lebensführung dar (Hesse/Scheiner 2007: 138; Weichhart 2009: 6 f.), die sozial verbreiteter als bisher angenommen ist (Weiske et al. 2009: 67). Gleichzeitig bestimmen Rhythmik und Dauer der Aufenthalte die Ausgestaltung der Aktivitäten an den jeweiligen Orten (Beruf, Bildung, Einkaufen, Freizeit etc.) mit entsprechenden Auswirkungen auf die Bereitstellung und Finanzierung technischer und sozialer Infrastrukturen, die Nachfrage auf den lokalen Wohnungsmärkten, die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen oder die öffentliche Bereitstellung von Mobilitätsangeboten. Darüber hinaus sind auch Veränderungen hinsichtlich des sozialen Zusammenhaltes und der gesellschaftlichen Strukturen zu erwarten, da Multilokalität sich auf das politische und bürgerschaftliche Engagement einzelner Personen auswirken oder zu veränderten Familienstrukturen (Kinderbetreuung, Pflege älterer Menschen etc.) führen kann (Dittrich-Wesbuer et al. 2015; Duchêne-Lacroix 2020; Lange 2018; Weichhart 2009, 2020).

In der Forschung wurde Multilokalität bisher eher als städtisches Phänomen adressiert und analysiert (z. B. Dittrich-Wesbuer et al. 2015; Leubert 2013, 2020; Menzl 2014, 2020; Weiske et al. 2009); die Entwicklung neuerer, multilokaler Lebensstile mit ihrer Bedeutung für ländliche Räume steht bislang – mit wenigen Ausnahmen (u. a. Dannenberg et al. 2012; Dirksmeier 2012; Lange 2018; Greinke et al. 2018; Greinke/Hilti 2019) – eher weniger im Fokus (vgl. Beitrag Greinke/Lange/ Born in diesem Band (Kap. 2)). Dabei spielen multilokale Lebenspraktiken in ländlichen Räumen eine zentrale Rolle (Henkel 2004 in Franzen et al. 2008, 20): Der wirtschaftliche Strukturwandel und aktuelle demografische Entwicklungen gehen gerade in ländlichen Räumen mit sich verändernden Lebenswirklichkeiten einher (Hahne 2009). Die persönlichen, gesellschaftlichen und arbeitsmarktrelevanten Netzwerke erstrecken sich über immer größere (räumliche) Distanzen; verstärkt wird dieser Trend durch allgemein erhöhte Mobilitätsanforderungen und -möglichkeiten. Dies wiederum führt zu temporären An- und Abwesenheiten von Personen, die durch Tagespendler*innen und deren zirkuläre Alltagsmobilitäten verursacht oder durch multilokale Lebensweisen hervorgerufen werden (s.a. Steinrück/Küpper 2010: 9). Zukünftig werden weitere Trends wie Digitalisierung, Pluralisierung der Lebensstile und der (Fach-)Arbeitskräftemangel dies noch verstärken (Jahn et al. 2018: 7; Kempermann 2015: 21). Allerdings ist bislang weitgehend unerforscht, welche Motive bzw. Anlässe zu multilokalen Lebensformen in ländlichen Räumen führen, welche gesellschaftlichen und räumlichen Auswirkungen damit verbunden sind und welche (planerischen) Handlungsoptionen und Steuerungsmöglichkeiten Kommunen und Regionen haben, auf multilokale Lebenspraktiken zu reagieren.

1.2 Erfassung von Multilokalität – eine statistische Herausforderung

Eine Grenze in der Auseinandersetzung mit der Thematik multilokaler Lebenspraktiken ist bislang das weitgehende Fehlen einer aussagekräftigen Grundgesamtheit (Petzold 2013: 223 f.). Viele der bisher verwendeten qualitativen und quantitativen Instrumente und Methoden der Datenerhebung erfassen nur unzureichend die vielfältigen Alltagspraktiken multilokal lebender Personen (ARL 2016: 6) (vgl. Beiträge Albrecht/Dittrich-Wesbuer; (Kap 3) sowie Greinke/Lange in diesem Band (Kap. 4)). Dies gilt für städtische und ländliche Räume gleichermaßen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich anhand der kommunalen Statistiken keine gesicherten Aussagen über Anzahl oder Verteilung der multilokal lebenden Personen treffen lassen (vgl. Hilti 2009; Sturm/Weiske 2009).

In Deutschland wird jede Person melderechtlich einem territorial verfassten Gebiet zugeordnet (ARL 2016: 6). Die Menschen haben zwar die Möglichkeit, sich vielerorts mit Haupt- und Nebenwohnsitz zu melden (Weiske 2013: 354), dennoch tun dies viele nicht. Somit können Statistiken zu Zweitwohnsitzen nur bedingt für die Analyse multilokaler Lebensweisen genutzt werden (Weichhart/Rumpolt 2015: 17 f.) und die „Dunkelziffer“ multilokal lebender Personen liegt vermutlich deutlich höher (ARL 2016: 6). Häufig werden Formen wie die sogenannte verdeckte Multilokalität oder Kryptomultilokalität aufgrund von Nichtmeldungen von Wohnsitzen der Personen nicht erfasst (Weichhart/Rumpolt 2015: 18), sodass sich die Melderealität zumeist von der Lebensrealität unterscheidet (Hilti 2013: 60). Darüber hinaus existiert die Form der Schein-Multilokalität, bei der Menschen trotz mehrerer gemeldeter Wohnsitze diese nicht aufsuchen (Weichhart/Rumpolt 2015: 17 f.). Überdies werden zahlreiche Multilokale nicht statistisch erfasst, weil sie zum Beispiel zeitweise bei Freunden, Familie, weiteren Verwandten oder in einer Wohngemeinschaft leben und dort nicht gemeldet sind (Sturm/Meyer 2009: 18).

Konkrete Zahlen zur Anzahl multilokal lebender Personen verbleiben aufgrund der genannten methodischen Herausforderungen damit bislang oft auf der Ebene von Vermutungen und Zuschreibungen (vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band (Kap. 3)). Um sich den Ausprägungen multilokaler Lebensweisen in ländlichen Räumen anzunähern, ist es Ziel der Publikation, verschiedene eingesetzte Erhebungsmethoden v. a. auf lokaler bzw. regionaler Ebene zur Erfassung multilokaler Arrangements vorzustellen und hinsichtlich ihrer Praktikabilität und Ergebnisse auszuwerten (vgl. Beiträge Albrecht/Dittrich-Wesbuer (Kap. 3) sowie Greinke/Lange in diesem Band (Kap. 4)).

1.3 Zielsetzung der Publikation

Bislang fehlen v.a. empirische Ansätze, die „die soziale und physische Umwelt der multilokal agierenden Individuen“ betrachten (Dirksmeier 2012: 60), dies gilt vor allem für multilokale Lebenspraktiken in ländlichen Räumen. Empirische Erkenntnisse zu multilokalen Lebensweisen sind aber dringend erforderlich, da Multilokalität „als raum-zeitlich strukturierte und strukturierende Rahmen der alltäglichen Lebensführung […] auf elementare Lebens- und Planungsbereiche [wirkt]: Wohnen, Arbeit, Freizeit, Mobilität, soziale Beziehungen, Nachbarschaften, Quartiersentwicklung, Infrastrukturen, Raumentwicklung u. a.m.“ (Hilti 2009: 77). Hier setzt die Publikation an. Ziel ist es,

  • die Motive und Anlässe multilokaler Lebenspraktiken in ländlichen Räumen zu identifizieren und zu analysieren,

  • die Wechselwirkungen zwischen multilokalen Lebensweisen, gesellschaftlichen und räumlichen Auswirkungen und planerischen bzw. politischen Steuerungsmöglichkeiten zu untersuchen (vgl. Abb. 1.2) und

    Abb. 1.2
    figure 2

    (Quelle: TempALand 2020)

    Ausgewählte Handlungs- und Wirkfelder multilokaler Lebenspraktiken

  • politische und planerische Handlungsempfehlungen für den Umgang mit multilokalen Lebenspraktiken abzuleiten.

Dies beinhaltet nicht nur die Betrachtung möglicher Herausforderungen und negativer Folgewirkungen für die Kommunen, sondern auch der Potenziale, die multilokale Lebensstile für ländliche Räume im demografischen Wandel bieten (vgl. Abb. 1.3).

Abb. 1.3
figure 3

(Quelle: GbR dankegrafik & 123comics)

Herausforderungen und Potenziale multilokaler Lebensstile in verschiedenen Themenbereichen.

Insgesamt stehen im Rahmen dieser Publikation die folgenden wissenschaftlichen und anwendungsorientierten Forschungsfragen im Vordergrund:

  • Welche Formen von Multilokalität (z. B. arbeits- bzw. ausbildungsbedingte Multilokalität, Ferien- oder Altersruhesitze) sind in ländlichen Räumen vorzufinden? Welche Motive und Anlässe multilokaler Lebenspraktiken können identifiziert werden?

  • Wie kann Multilokalität als Phänomen empirisch erfasst werden? Welche empirischen Erhebungsmethoden sind hierfür geeignet? Welche Stärken und Schwächen weisen die einzelnen Methoden im Themenfeld Multilokalität auf?

  • Welche sozial-räumlichen Auswirkungen sind mit multilokalen Lebenspraktiken in ländlichen Räumen verbunden? Wie wirken sich temporäre An- und Abwesenheiten auf die Nachfrage am Wohnungsmarkt und die Bereitstellung von technischen und sozialen Infrastrukturen aus? Welche Folgen haben multilokale Lebensweisen für den Zusammenhalt ländlicher Dorfgemeinschaften bzw. für die generelle Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren?

  • Wie wird das Thema Multilokalität von der Politik und der (lokalen) Gesellschaft in ländlichen Räumen wahrgenommen? Welche Potenziale und Risiken (z. B. hinsichtlich der Identifikation multilokal lebender Personen mit „ihrer“ Region oder bei der Bereitstellung von Leistungen der Daseinsvorsorge) lassen sich mit Blick auf und temporäre An- und Abwesenheiten für ländliche Räume erkennen und nutzen?

  • Welche Handlungsoptionen stehen den Kommunen und Regionen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel zur Verfügung, um auf das Phänomen Multilokalität zu reagieren? Welche (planerischen) Steuerungsmöglichkeiten gibt es im Landkreis Diepholz und in den einzelnen Kommunen? Wie kann Multilokalität durch Kommunen und Regionen klimaschonend und nachhaltig gestaltet werden (innovative Modelle im Bereich Mobilität, Wohnen etc.)?

Als Fallstudie dient der Landkreis Diepholz (LK DH), der hier exemplarisch für ländliche Räume steht, die an Metropolen bzw. Agglomerationen angrenzen und vielfältige Herausforderungen hinsichtlich der demografischen, wirtschaftsstrukturellen, sozialen und räumlichen Entwicklung zu bewältigen haben. Für die Untersuchung multilokaler Lebenspraktiken und die Ableitung konkreter Handlungsansätze und -strategien zum Umgang mit Multilokalität bietet sich v. a. der südliche, ländlich geprägte Teil des Landkreises an, der als Modellregion Diepholzer Land aus der Stadt Diepholz, der Gemeinde Wagenfeld und den Samtgemeinden (SG) Altes Amt Lemförde, Barnstorf und Rehden besteht (vgl. Abb. 1.4) und über langjährige Erfahrungen in der interkommunalen Zusammenarbeit verfügt. Mit dem 2014 fortgeschriebenen Regionalen Entwicklungskonzept führt das Diepholzer Land die erfolgreiche interkommunale Praxis fort. Das Projekt TempALand kann hier an die im Regionalen Entwicklungskonzept erarbeiteten übergreifenden Entwicklungsstrategien und Handlungsfelder wie z. B. Wohnen und Leben andocken (LK DH 2014).

Abb. 1.4
figure 4

(Quelle: TempALand 2020 auf Grundlage von OpenStreetMap)

Übersicht über das Untersuchungsgebiet des Diepholzer Landes (orange eingefärbt) im LK DH

Die Stadt Diepholz ist Sitz der Kreisverwaltung und der Privaten Hochschule für Wirtschaft und Technik Vechta/Diepholz/Oldenburg (PHWT); die SG Altes Amt Lemförde ist Standort der großen Arbeitgeber BASF Polyurethanes GmBH und ZF Lemförder Fahrwerktechnik (LK DH 2014). Diese Unternehmensansiedlungen, eine solide Bandbreite mittelständischer Unternehmen und der Hochschulstandort bewirken hier, dass die Region wirtschaftlich verhältnismäßig gut aufgestellt ist und – zumindest in Teilbereichen – vom (temporären) Zuzug hochqualifizierter Fach- und Arbeitskräfte profitiert (IncomingsFootnote 2). Hier stellt sich die Frage, inwiefern Multilokalität bei den Hochschulabsolvent*innen im dualen Studium als auch bei den Fachkräften im Diepholzer Land ausgeprägt ist, welche spezifischen Anforderungen diese an ihr Wohn- und Lebensumfeld stellen und welchen Handlungsspielraum die Kommunen in diesem Zusammenhang besitzen, daran angepasste Angebotsstrukturen zu gestalten. Gleichzeitig ist die Region aufgrund des Dümmer Sees v. a. in der SG Altes Amt Lemförde touristisch geprägt – auch hier kommt es zu temporären Anwesenheiten multilokal lebender Personen, wenn diese ihre Ferien- und Altersruhesitze aufsuchen. Auf der anderen Seite ist davon auszugehen, dass es auch immer Personen gibt, die als OutgoingsFootnote 3 den Landkreis aus unterschiedlichen Gründen phasenweise verlassen, zum Beispiel aufgrund (fehlender) Ausbildungsmöglichkeiten im Diepholzer Land oder befristeter Anstellungen von Arbeitgebern außerhalb des Landkreises Diepholz (Wochenendanwesenheiten).

Die (unterschiedlich bedingten) temporären An- und Abwesenheiten können gravierende Auswirkungen zum Beispiel auf den Wohnungsmarkt, die Siedlungsstrukturen, kommunale Planungen, die Anpassung von Infrastruktur- und Versorgungsleistungen, technische und soziale Infrastrukturen und auf das bürgerschaftliche Engagement haben. Hier sind konkrete Lösungsvorschläge gefordert, wie die Kommunen, der Landkreis aber auch Unternehmen und Vereine auf multilokale Lebenspraktiken reagieren können. Dabei liegt der Fokus v. a. auf dem Umgang mit den Incomings, d. h. den Personen, die temporär in den Landkreis ziehen. Darauf aufbauend gilt es zu bedenken, wie die erarbeiteten Ansätze und Strategien zum Umgang mit multilokalen Lebensweisen auch auf anders strukturierte ländliche Räume (z. B. peripher gelegene, strukturschwache ländliche Räume) übertragen werden können.

1.4 Aufbau der Publikation

In Kap. 2 „Multilokalität in ländlichen Räumen: (K)Ein neues Phänomen?“ wird zunächst Multilokalität als Forschungsfeld skizziert bevor die Wechselbeziehung zwischen Multilokalität und Regionalentwicklung in ländlichen Räumen herausgearbeitet werden. Dazu werden zunächst multilokale Lebensweisen und ländliche Räume als eigenständige Forschungsfelder vorgestellt. Danach wird die Bedeutung mehrörtiger Lebensweisen für ländliche Räume anhand beispielhafter multilokaler Lebenspraktiken aus dem Landkreis Diepholz thematisiert und vorgestellt.

Kap. 3 „Pendeln, Umziehen oder die Zweitwohnung? Quantitative Annäherungen an multilokale Lebensweisen“ befasst sich mit der Frage, inwiefern eine quantitative Annäherung an Multilokalität erfolgen kann und wertet dafür vorliegende Datenbestände (z. B. aus Forschungsarbeiten, amtlichen Bevölkerungsbefragungen, Melderegistern und Daten zu Pendler*innen) zur Quantifizierung multilokaler Arrangements und für das Modellgebiet des Landkreises Diepholz aus.

In Kap. 4 „Der Lebensalltag von Multilokalen. Qualitative Annäherungen im Landkreis Diepholz“ wird sich dem Phänomen Multilokalität im Landkreis Diepholz anschließend über die Auswertung einer schriftlichen Haushaltsbefragung genähert, um erste (qualitative) Einblicke in multilokale Lebensweisen (Motive, Ansprüche, Formen etc.) zu gewinnen. Darauf aufbauend werden problemzentrierte leitfadengestützte Experten*inneninterviews mit Multilokalen sowie lokalen und regionalen Akteur*innen durchgeführt, um die in der Haushaltsbefragung gewonnen Ergebnisse zu reflektieren und zu vertiefen. Dem wird eine Akteursbeteiligung in Form von Workshops und Gruppendiskussionen mit Vertreter*innen aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Verbänden, Vereinen und der Zivilgesellschaft als weitere qualitative Methoden angeschlossen. Vorgestellt werden Ergebnisse der eingesetzten Methoden in den Themenbereichen Wohnen und bürgerschaftliches Engagement.

Kap. 5 „Was bedeutet das für meinen Landkreis oder meine Gemeinde? – Zu den Auswirkungen von Multilokalität in ländlichen Räumen“ betrachtet die vielschichtigen, bislang nur unzureichend erforschten Auswirkungen multilokaler Lebensweisen in ländlich geprägten Räumen in den Bereichen (1) Wohnen und Wohnungsmarkt, (2) bürgerschaftliches Engagement, (3) kommunale Finanzen und (4) Infrastrukturen. Zudem werden die Auswirkungen multilokaler Lebensweisen vor dem Hintergrund einer nachhaltigen Entwicklung zusammenfassend untersucht.

In Kap. 6 „Multilokalität vor dem Hintergrund gleichwertiger Lebensverhältnisse als Handlungsfeld von Regionalplanung und -management“ wird die Rolle von Regionalplanung und -management vor dem Hintergrund multilokaler Lebensweisen und gleichwertiger Lebensverhältnisse herausgestellt und potenzielle Handlungsfelder von Regionalplanung und –management identifiziert sowie der Umgang mit Multilokalität auf Regionsebene diskutiert.

Abschließend fokussiert Kap. 7 auf „Handlungsansätze und Strategien im Umgang mit Multilokalität“ die in TempALand eingesetzten Instrumente und Beteiligungsformate wie Workshops, öffentliche Veranstaltungsreihen, Planspiel und Gesellschaftsspiel und erläutert deren Chancen und Risiken. Danach werden beispielhaft ausgewählte Handlungsansätze und Strategien zum Umgang mit Multilokalität in der Praxis vorgestellt und hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf andere Regionen reflektiert.