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Das letzte Kapitel [2] führte über das Konzept der Performativität eine allgemeine Perspektive auf die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien durch die gesellschaftlichen Akteur*innen ein und verortete das Phänomen in weiteren sozialen Zusammenhängen. Im Zentrum des Interesses dieser Arbeit steht allerdings nicht die allgemeine Verwendung dieser wissenschaftlichen Ressource, obwohl auch Erkenntnisse hierfür aus den empirischen Analysen folgen sollen. Die Perspektive der Performativität wird vielmehr als Erklärungsweg angesehenen, um nachzuvollziehen, weshalb Kulturproduktion eine solch große Bedeutung in gegenwärtigen Gesellschaften erlangen kann. Im Rahmen eines weiteren theoretischen Kapitels [3] gilt es daher, eine Reihe von Ansätzen einzuführen, um den gesellschaftlichen Bereich zu theoretisieren. Diese Theoretisierungen werden dann in Verbindung mit der Perspektive der Performativität gebracht, um zu fragen, wie die Effekte der Theorien jeweils wirken können.

In den folgenden Unterkapiteln werden drei grundsätzliche Konzeptbereiche vorgestellt: [3.1] Dies ist zuerst der Ansatz der Lebensstilforschung aus der Sozialstrukturanalyse. Damit wird ein grundsätzliches Verständnis von Kulturkonsum als symbolische Repräsentation von Ungleichheit etabliert (Bourdieu 1982). Dies gilt es zu erweitern und zu verfeinern, um verschiedene strukturelle Veränderungen in Gesellschaften beachten zu können (Beck 1986) und eine Handlungstheorie zu etablieren (Lahire 2011a). [3.2] Anschließend wird Kulturproduktion als gesellschaftlicher Teilbereich konzeptualisiert. Anhand der Feldtheorie lässt sich ein solcher Bereich auf ein eindeutiges analytisches Interesse ausrichten, nämlich Dominanz (Bourdieu 1999), während mit dem Ansatz der Kulturwelten stärker auf Details in einem sozialen Kontext eingegangen werden kann (Crane 1992; Peterson und Anand 2004; Becker 2017 [1982]). [3.3] Der letzte Konzeptbereich ermöglicht es schließlich, Kulturproduktion als Phänomen kohärent zu betrachten, indem ein Blick auf Mediationsprozesse eingeführt wird (Hennion 2015).

Ziel dieses Kapitels ist nicht, eine vollständige Erklärung für die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturproduktion zu liefern. Die im Folgenden präsentierten Konzepte sind daher nicht „definitiv“ (vgl. Blumer 1954, S. 7): Sie liefern weder je einzeln alle Eckpunkte der Kulturproduktion, noch dass deren Kombination die umfassenden Eigenschaften der Prozesse bestimmt. Die Konzepte sollen lediglich „sensibilisieren“ (Blumer 1954, 1986): Sie dienen dazu, Referenzen und Richtlinien zu etablieren, die für das empirische Vorgehen im Rahmen der Erforschung der Kulturproduktion genutzt werden können. Sie führen weitere Interessen ein, die neben der allgemeinen Perspektive der Performativität verfolgt werden können. Das im Kapitel präsentierte Angebot an sensibilisierenden Konzepten, so die Annahme, entspricht einer angemessenen und zeitgenössischen soziologischen Betrachtung von Kulturproduktion.

3.1 Theorien als Lebensstil-Ressource

3.1.1 Ein Interesse für Sozialstruktur und Lebensstile

Im vorhergehenden Kapitel [2] wurden neben dem Konzept der Performativität einige Diagnosen aus aktuellen, gesellschaftstheoretischen Arbeiten präsentiert und die Verbreitung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien diskutiert. Die Überlegungen aus den Unterkapiteln [2.2 und 2.3] verbindet eine Gemeinsamkeit: Sie weisen ein Interesse dafür auf, wie sich die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen aus den beschriebenen Entwicklungen verändern beziehungsweise für welche Mitglieder einer Gesellschaft diese Entwicklungen besonders relevant sind. Es wird nicht etwa davon ausgegangen, dass alle Individuen von den beschriebenen Prozessen in demselben Maß beeinflusst sind, sondern dass sich spezifische Unterschiede in einer Gesellschaft zeigen. Dieses gemeinsame Interesse kann mit der Sozialstrukturanalyse in Verbindung gebracht werden. Sie „untersucht die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse, in denen die Mitglieder einer gesellschaftlichen Einheit situiert sind“ (Weischer 2022, S. 1). Dabei sind strukturelle Unterscheidungen von besonderem Interesse, die Ungleichheiten zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft eine Beständigkeit verleihen. Die Sozialstrukturanalyse stellt hierzu theoretische Überlegungen an, um diese Ungleichheiten zu bestimmten. So können summarische Analysen für soziale Gruppen durchgeführt werden, um eine Komplexität der gesellschaftlichen Unterschiede zu reduzieren, während gleichzeitig ein Erklärungspotenzial durch die Gruppierungen geschaffen wird (ebd.). Die sozialstrukturellen Konzepte können auch in Bezug gesetzt werden zu den im letzten Kapitel beschriebenen Entwicklungen.

Die Sozialstrukturanalyse schafft insofern einen relevanten Blick auf soziale Prozesse wie Performativität, da sie eine Aufmerksamkeit für Ungleichheiten einführt. Offensichtlich wird dies bei der sogenannten Bildungsexpansion [2.3]: Hier lässt sich für die Schweiz festhalten, dass der Zugang zur Bildung nicht etwa insgesamt demokratischer geworden ist; sprich, dass alle gesellschaftlichen Schichten mehr Bildungsabsolvent*innen aufweisen würden. Vielmehr ist die Zunahme an Hochschulabsolvent*innen in der Gesamtbevölkerung seit den 1970er Jahren vor allem auf ein Wachstum in einer bestimmten sozialen Gruppe zurückzuführen, nämlich einer „oberen Mittelklasse“ (Falcon 2016, S. 7). Dies lässt die Vermutung zu, dass das Wissen um die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften ebenfalls in einer bestimmten sozialen Gruppe vorgefunden werden kann und in anderen nicht. Auch die erwähnten Gesellschaftsdiagnosen [2.2] verdeutlichen, dass es bestimmte soziale Gruppen sind, welche für die diagnostizierten Veränderungen besonders relevant sind: Die Kulturalisierung und das Streben nach Einzigartigkeit werden von einer „neuen Mittelklasse“ getragen, so Andreas Reckwitz (2017, S. 273 ff., 2019b). Diese bildet sich aus Personen, die ein hohes kulturelles Kapitel in Form von akademischen Bildungsabschlüssen besitzen, weshalb auch von einer „Akademikerklasse“ gesprochen werden könne (Reckwitz 2017, S. 274). In ähnlicher Weise gilt für die Bereicherungsökonomie, dass Personen, die über kulturelles Kapitel verfügen, eine zentrale Rolle in den neuen Wertschöpfungsprozessen spielen (Boltanski und Esquerre 2018, S. 587). Gleichzeitig heben Luc Boltanski und Arnaud Esquerre hervor, dass im Zusammenhang mit dem von ihnen untersuchten ökonomischen Wandel nur sehr vage von sozialen „Klassen“ gesprochen werden kann (2018, S. 613 f.). Denn diese Gruppierung von Personen hänge unter anderem mit sozioprofessionellen, statistischen Kategorien zusammen, die noch gar nicht für die verschiedenen Akteur*innen der Bereicherungsökonomie vorhanden sind. Trotzdem, oder gerade aufgrund dieser Tatsache, bleibt die Sozialstrukturanalyse allgemein sowie eine eigene Anwendung davon ein wichtiges Instrument, um die entsprechenden gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen (vgl. Boltanski und Esquerre 2018, S. 137 ff.) und die damit verbundenen Ungleichheiten zu erfassen.

Auch die vorliegende Arbeit mit ihrem Interesse an der Verwendung von kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorie durch gesellschaftliche Akteur*innen muss daher einige Überlegungen der Sozialstrukturanalyse aufnehmen und im Rahmen der Analyse anwenden (vgl. Weischer 2022, S. 1 ff.). Es müssen Modellvorstellungen gefunden werden, die Individuen auf bestimmte Weise zu sozialen Gruppen zusammenfassen, um die Verwendung der Konzepte bei den Mitgliedern einer Gesellschaft zu verorten. Damit kann verdeutlicht werden, dass das Phänomen mit bestimmten strukturellen Aspekten einer Gesellschaft zusammenhängt. Den bisherigen Überlegungen folgend wird nämlich angenommen, dass die Konzepte nicht etwa von allen Mitgliedern in gleichem Maße verwendet werden, sondern dass sich bestimmte gemeinsame Nenner derjenigen Personen finden, welche die Theorien als Ressource für ihre Produktionsweisen auffassen. Performativität wird daher im Zusammenhang gesehen mit den Ungleichheiten von Arbeits- und Lebensverhältnissen: als Phänomen, das von diesen Verhältnissen bestimmt wird und diese wiederum beeinflusst. Die allgemeine Modellvorstellung, die hier vorgeschlagen wird, um soziale Gruppen oder auch „Klassen“ zu bilden, greift insbesondere auf Arbeiten von Pierre Bourdieu zurück (Bourdieu 1974, 1982; vgl. Diaz-Bone 2010, S. 26 ff.; Reckwitz 2019, S. 67 f.). Der Begriff der Klasse wird hierbei mit einem bestimmten Interesse verwendet: Die sozialen Gruppen sind nicht nur deskriptiv zu erfassen und es sollen nicht nur Unterschiede zwischen ihnen festgemacht werden. Der Begriff hilft zu verdeutlichen, dass sich eine Hierarchie zwischen den Gruppen in Bezug auf ihre Möglichkeiten in einer Gesellschaft ergibt und dass diese Hierarchie aufgrund eines relationalen Verhältnisses zwischen ihnen entsteht (vgl. Wright 2015, S. 12). Zudem ermöglicht eine verhältnismäßig wenig theoretisierte Auffassung des Begriffs bereits, Zusammenhänge mit anderen Arbeiten aufzuzeigen, die auf Klassen verweisen (neben den oben bereits erwähnten Arbeiten wäre dies etwa Florida 2002).

Für die Beschreibung der Mitglieder einer Gesellschaft kann auf eine fundamentale Unterscheidung hingewiesen werden, die genutzt wird, um die Klassen zu konzeptualisieren: Soziale Gruppen können zuerst „objektiv“ bestimmt werden (Bourdieu 1974, S. 42 ff.). Hierbei werden die Mitglieder einer Gesellschaft gruppiert, indem ihre gemeinsamen sozialstrukturellen Merkmale hinsichtlich verschiedener Kapitalsorten verdeutlicht werden. Kapital wird dabei als „Energie“ aufgefasst und dessen Verteilungsstruktur zu einem Zeitpunkt repräsentiert die Verteilung sozialer Macht (Diaz-Bone 2010, S. 27). Als Klassen unterscheiden sich die Gruppen daher in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Status, ihr Prestige, ihre Möglichkeiten und ihren Einfluss (Reckwitz 2019b, S. 69). Dies kann indirekt über die objektiven Merkmale erhoben werden. Sie werden hinsichtlich drei Kapitalsorten zusammengefasst: (1) So kann das oben bereits genannte kulturelle Kapital der Akteur*innen bestimmt werden, das sich in Form von erworbenen Fähigkeiten und Wissen, formalisierter Bildung und institutionalisierten Bildungsabschlüssen zeigt. Das Wissen um Theorien würde dieser ersten Kapitalsorte zugeordnet. (2) Weitere objektive Merkmale werden im ökonomischen Kapital zusammengefasst, das dem Einkommen und dem Besitztum einer Person entspricht. (3) Ergänzt werden diese beiden Kapitalsorten um das sogenannte soziale Kapital: Dieses besteht aus aktuellen oder potenziellen Ressourcen, die aus dem Netzwerk an Beziehungen und Bekanntschaften gewonnen werden können. Für jedes Mitglied einer Gesellschaft kann grundsätzlich eine Verteilung der Sorten als Kapitalstruktur sowie ein Besitz insgesamt als Kapitalvolumen bestimmt werden. Verfügen verschiedene Personen über vergleichbare Ausprägungen von Struktur und Volumen, so bilden sie eine objektive Klasse. Die so gebildeten sozialen Gruppen können im Verhältnis zueinander angeordnet und bildlich in einem zweidimensionalen sozialen Raum dargestellt werden. Hierbei entspricht die Struktur der horizontalen Achse und das Volumen bildet die vertikale Achse (Bourdieu 1982, S. 171 ff.; vgl. Diaz-Bone 2010, S. 29).

Die sozialen Gruppen können nicht nur „objektiv“ bestimmt werden, sondern auch über „symbolische“ Merkmale und die damit zusammenhängende Konzeptualisierung von Lebensstilen (Bourdieu 1982, S. 277 ff.; Diaz-Bone 2010, S. 30 ff.). Diese symbolischen Merkmale umfassen Handlungs- oder allgemeiner Lebensformen, Auffassungen oder Weltsichten (Bourdieu 2016, S. 16). Die Verwendung der Theorien im Rahmen von Kulturproduktion ist ebenfalls ein solches Merkmal und Teil einer weiteren Konstellation von Verhaltensweisen im Alltag der Individuen (vgl. Otte und Rössel 2011, S. 12 f.). Die Konzepte treten als eine mögliche „Ressource“ eines Lebensstils auf, neben einer Vielzahl weiterer: etwa ein Konsum spezifischer kultureller Produkte und eine Vorliebe für ein bestimmtes Musikgenre, den „gewöhnlichsten Entscheidungen des Alltags“ hinsichtlich „Küche, Kleidung oder Inneneinrichtung“ (Bourdieu 1982, S. 25) oder auch Wertvorstellungen gegenüber Personen, Institutionen und so weiter. Teilen verschiedene Personen einen gemeinsamen Lebensstil, können sie wiederum zu einer sozialen Gruppe zusammengefasst werden. Als Merkmal der jeweiligen Gruppe verfügt die Lebensstilkonstellation über eine gewisse sinnhafte Kohärenz sowie biographische Stabilität, ist Ausdruck einer zugrunde liegenden Orientierung und kann von anderen Personen identifiziert werden (vgl. Otte und Rössel 2011, S. 12 f.). Die Konstellationen von symbolischen Merkmalen können daher als etwas angesehen werden, mit dem eine objektive soziale Gruppe ihre Identität in Abgrenzung zu anderen Gruppen oder Kollektiven markiert (Bourdieu 1982; vgl. Diaz-Bone 2010, S. 26 f.). Wie bereits bei der objektiven Einteilung finden sich auch bei der symbolischen Zuordnung zu Gruppen nicht nur Unterschiede, sondern es wird eine gesellschaftliche Hierarchie dieser Lebensstile angenommen: Einige symbolische Merkmale sind wichtiger, akzeptierter oder legitimer als andere. Der soziale Raum und die darin angeordneten Klassen finden daher ihre symbolische Entsprechung in einem zusätzlichen Raum der Lebensstile: Die Relationen und Hierarchien von letzterem sind homomorph zu denjenigen von ersterem (Bourdieu 1982, S. 286; Diaz-Bone 2010, S. 31).

Die soeben implizierte Korrespondenz zwischen objektiven und symbolischen Merkmalen muss dabei nicht immer vorausgesetzt werden. Vielmehr kann ein Interesse dafür, ob und wie die objektiven sozialen Strukturen die subjektiven symbolischen Ausdrucksweisen von Individuen bestimmen, als ein „Kern“ der Lebensstil-Debatte aufgefasst werden (Otte 2004, S. 21). Die entsprechende Debatte in der Soziologie entwickelte sich allerdings erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Bis in die 1970er Jahre wurde eine objektive Bestimmung des Berufs als die dominierende Erklärung für unterschiedliche Lebenslagen in der Gesellschaft angesehen: Die sozio-ökonomische Abstufung in Beziehung zu den Berufspositionen erklärte die Ungleichheiten im Leben von verschiedenen Individuen sowohl bei (marxistischen) Klassenanalysen als auch bei den (US-amerikanischen) Schichtkonzepten (vgl. Berger und Hradil 1990, S. 4 f.).Footnote 1 Erst im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Dominanz eines Erklärungsfaktors mehr und mehr abgelöst und stattdessen ein differenzierteres Bild der Ungleichheit von modernen Gesellschaften präsentiert (Otte und Rössel 2011, S. 9 f.). Zentral für diese Entwicklung war insbesondere die 1979 veröffentlichte Studie La distinction von Bourdieu (Die feinen Unterschiede, 1982). Neben der bereits eingeführten Konzeptualisierung des mehrdimensionalen sozialen Raums und dessen Verdoppelung im Raum der Lebensstile (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 26) verdeutlichte diese Studie vor allem Folgendes: Es sind nicht nur die objektiven Eigenschaften der Klassen, die zu strukturellen Unterschieden führen, sondern vielmehr auch die symbolischen Aspekte und die davon ausgehende „Gewalt“. Letztere wurde von Bourdieu als zentraler Faktor in der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten festgemacht. Hierzu wird genau auf die Übereinstimmung oder eben Homologie zwischen objektiven und symbolischen Merkmalen einer Klasse fokussiert. Konsumformen sind eine Möglichkeit für die Mitglieder einer Gesellschaft, ihren Kapitalbesitz darzustellen und Zugehörigkeit sowie Abgrenzung aufzuzeigen. Diese theoretische Vorstellung markiert allerdings nur den einen Pol der Debatte um Lebensstile.

Ebenso kann der Startpunkt einer Betrachtungsweise die Annahme sein, dass eine stärkere Entkoppelung von symbolischen und objektiven Merkmalen stattgefunden hat. Die Lebensstile üben aus dieser Perspektive immer noch eine wichtige symbolische Gewalt aus, also einen Einfluss auf Ungleichheit. Sie werden allerdings nicht mehr nur durch objektive Merkmale bestimmt und stehen daher immer weniger im Zusammenhang mit sozialen Klassen. Paradigmatisch wurde dieser andere Pol der Debatte um Lebensstile von Ulrich Beck und dessen Individualisierungsthese etabliert (1983, 1986; Beck und Beck-Gernsheim 1994). Ausgangslage für Becks These war die wohlfahrtsstaatliche Modernisierung und Integration, wie sie ab den 1950er Jahren in weiten Teilen Europas stattfand (1983, S. 37 f.). Auf der einen Seite hat diese Veränderung der Lebensbedingungen für eine Vielzahl von Menschen lediglich vertikale, ökonomische Ungleichheiten zwischen Klassen teilweise ausgeglichen. Auf der anderen Seite machten die Entwicklungen immer mehr auf horizontale Unterschiede innerhalb von Klassen aufmerksam. Vor diesem Hintergrund lösten sich die Individuen teilweise von den sozialen Gruppen und deren „ständische Fixierungen“ (Beck 1983, S. 63) sowie aus den zentralen Bezugsrahmen von Familien und Berufen. Die (materiellen) Klassenunterschiede wurden mehr und mehr nivelliert, sodass auch deren struktureller Einfluss auf Lebensstile abnahm. Die Individualisierungsthese schreibt dieser neuen Situation allerdings nicht ein Fehlen von Ungleichheit zu. Vielmehr zeigen sich Unsicherheiten und neue Entscheidungszwänge, die durch einen breit vorhandenen Wohlstand auch für den Lebensstil von immer mehr Personen gelten. Dabei werden die einzelnen Personen zu einer „lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (Beck 1986, S. 119). Sinn und Identität der Verhaltensweisen müssen individuell gefunden werden, wobei weniger das „Individuelle“, sondern das „Müssen“ zu betonen ist (Beck 1986, S. 307). Ungleichheiten fallen daher keineswegs weg und bleiben auch im Sinne eines ökonomischen Klassenverhältnisses weiterhin bestehen.Footnote 2 Gleichzeitig verlagern beziehungsweise erweitern sie sich und betreffen nicht mehr nur Fragen des Zugangs (Beck 1986, S. 302). Somit müssen neue Ungleichheiten identifiziert werden, etwa bei der Suche nach Sinn und Identität, und nachvollzogen werden, wie sich daraus womöglich neue soziale Gruppen ergeben.

Hier soll nicht etwa eine Entscheidung getroffen werden für einen der beiden theoretischen Pole zur Analyse von Sozialstruktur allgemein und Lebensstilen im Besonderen (also entweder „für Bourdieu“ oder „für Beck“). Denn auf der einen Seite finden sich kaum Studien, die eine Kohärenz und Stabilität der Übereinstimmung von objektiven und symbolischen Merkmalen in der Weise feststellen würden, dass die entsprechende Homologie immer in einem absoluten Sinne vorausgesetzt werden könnte (Otte und Rössel 2011, S. 12). Auf der anderen Seite wird von verschiedensten Studien aufgezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen den objektiven Klassenmerkmalen und den Lebensstilen, wie dieser von der Individualisierungsthese infrage gestellt wurde, sehr wohl vorhanden ist (vgl. Otte 2004, S. 22; Weischer 2022, S. 534 f./720 f.). Zudem erlebt das Konzept der Klasse eine neue Relevanz in einer Vielzahl aktueller soziologischer Studien (Nachtwey 2016; Atkinson 2017; Hochschild 2017; vgl. Reckwitz 2019b, S. 63). Soll anhand der Sozialstrukturanalyse ein Phänomen wie die Performativität der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien verortet werden, so gilt es, eine Ko-Existenz des Erklärungspotenzials verschiedener Modelle anzuerkennen. Dabei ist eine gewisse Vielfalt der Begriffe und Theoriekonzepte eher vordergründig. Die verschiedenen Ergebnisse sind in einem kumulativen Sinne aufzufassen (Weischer 2022, S. 723), wobei ein Konsens über die wichtigeren Trends herrscht (Weischer 2011, S. 481). Ein Zuwachs an Bildung, die Bedeutung des Sozialstaats, eine Erosion klassischer sozialmoralischer Milieus und die Veränderung der Geschlechterverhältnisse sind alles Entwicklungen, die übereinstimmend als relevant angesehen werden, während lediglich deren Gewichtung umstritten ist (ebd.). Dementsprechend haben beide theoretischen Pole ihre Relevanz. Die Frage ist, wie sich Übereinstimmungen zwischen den objektiven und symbolischen Merkmalen zeigen und wie sich damit soziale Klasse sowie deren unterschiedliche gesellschaftliche Stellungen aufzeigen lassen. Und genauso soll danach gefragt werden, wie sich symbolische Merkmale von bestimmten objektiven Strukturen lösen und sich dadurch womöglich neue Ungleichheiten zeigen, die nicht mehr nur mit Klassenstrukturen übereinstimmen.

3.1.2 Distinktion über Kulturprodukte

In der bisher präsentierten Weise erfüllte der sozialstrukturelle Ansatz vor allem eine deskriptive Funktion, die es nun zu erweitern gilt. Zuerst kann hierzu grundsätzlich festgehalten werden, dass die Beschreibung der sozialen Gruppen über objektive und symbolische Merkmale nicht nur für die eigentlichen Produzent*innen der Kulturprodukte gemacht werden kann. Vielmehr können auch die Konsument*innen oder allgemeiner diejenigen Personen erfasst werden, für welche die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften eine Lebensstil-Ressource in Bezug auf die Resultate der Kulturproduktion repräsentieren. Ist eine entsprechende soziale Gruppe von Akteur*innen einmal bestimmt, kann gefragt werden, welches analytische Potenzial sich aus der Frage nach dem Zusammenhang von objektiven und symbolischen Merkmalen ergibt. Das zuletzt eingeführte gleichzeitige Interesse sowohl für den vorhandenen Zusammenhang als auch für die Entkoppelung der beiden Merkmale repräsentiert insbesondere für die Betrachtung von Kulturproduktion eine wichtige Herangehensweise. Gleichzeitig wird darüber ein Mechanismus deutlich, der von Bourdieus Arbeiten und damit im Hinblick auf die Reproduktion von Klassenstrukturen konzeptualisiert wurde, nämlich „Distinktion“ (Bourdieu 1982). Dieser Mechanismus wird im vorliegenden Abschnitt aufgegriffen und verallgemeinert, um ihn auch in Bezug auf die Individualisierungsthese zu diskutieren. Anschließend [3.1.3] wird Distinktion in Bezug gesetzt zum zentralen Phänomen der vorliegenden Arbeit, nämlich der Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturproduktion.

Kulturprodukte sind in gegenwärtigen Gesellschaften ubiquitär verfügbar. Die digitalen Medien und ihre Möglichkeiten im Zusammenhang mit dem mobilen Internet haben eine Situation geschaffen, in der fast jeder Wunsch zu fast jeder Zeit erfüllt werden kann, insbesondere wenn es um Musik geht (Huber 2018; Sun 2019). In dieser Extremform mag dies nicht für alle Kulturformen gelten, trotzdem ermöglichen unter anderem die digitalen Aufnahmen unendlich reproduzierbare Produkte, die einfach verbreitet werden können. Dies geht so weit, dass die Frage des Besitzes schon fast unnötig erscheint. Angesichts dieser potenziellen ubiquitären Verfügbarkeit haben sich neue Zugangsbeschränkungen ergeben. Sie können zeitlicher und/oder räumlicher Natur sein, oder es können neue Ressourcen wie Beziehungen oder ein bestimmtes Wissen benötigt werden, um den Zugang erst zu ermöglichen (vgl. Huber 2018, S. 8; Sun 2019, S. 220). Die neuen Beschränkungen verweisen daher teilweise noch auf objektive Grundlagen. Aber ein Zugang zu den Resultaten der Kulturproduktion ist immer weniger über einen Faktor wie Geld oder eben ökonomisches Kapital reguliert. Es wird daher eine Entkoppelung deutlich, welche die Individualisierungsthese allgemeiner erfasst: Die Akteur*innen sind in dem Sinne freigesetzt worden, als dass sie die vormals durch finanzielle Einschränkungen vorgegebenen oder durch Institutionen festgelegten Entscheidungen immer öfter selbst treffen müssen (Beck 1986, S. 115). In dieser Entwicklung sind die Akteur*innen zu einem anderen Umgang mit Kulturprodukten „gezwungen“. Für die Analyse verdeutlicht die ubiquitäre Verfügbarkeit von kulturellen Gütern als symbolische Merkmale, dass im besonderen Maße die Stilisierung der Lebensführung durch die eigenen Anstrengungen der Akteur*innen betrachtet werden muss.

Die Stilisierung des Konsums kann nun als Distinktion erfasst werden. Der Mechanismus beschreibt grundsätzlich, wie sich die sozialen Ungleichheiten im Bereich des „Geschmacks“ oder eben der symbolischen Merkmale fortsetzen (was zuvor bereits mit der Homologie des Sozialraums und des Raums der Lebensstile beschrieben wurde). Es findet sich ein bestimmter Lebensstil in einer Gruppe, der sich von einem anderen Lebensstil einer anderen sozialen Gruppe unterscheidet. Distinktion ist daher eine Praxis, „in der sich ein Klassifizierender in einem urteilenden Akt in eine Relation zu einem Objekt, zu einer Handlung oder zu einem Wert setzt“ (Diaz-Bone 2010, S. 37). Dies gilt nicht nur für Kulturgüter, sondern zeigt sich in allen alltäglichen Bereichen der Lebensführung. Die Distinktion führt dann dazu, dass die gesellschaftlichen Unterschiede, wie eben diejenige zwischen Klassen, in den Handlungssituationen reproduziert werden (Diaz-Bone 2010, S. 38).

Demzufolge stellt der Raum der Lebensstile, d. h. das Universum der Eigenschaften, anhand deren sich – mit oder ohne Wille zur Distinktion – die Inhaber der verschiedenen Positionen im sozialen Raum unterscheiden, nichts anderes dar als eine zu einem bestimmten Zeitpunkt erstellte Bilanz der symbolischen Auseinandersetzungen, die um die Durchsetzung des legitimen Lebensstils geführt werden und ihre exemplarische Verwirklichung in den Kämpfen um das Monopol über die Embleme von ‘Klasse’ – Luxusgüter, legitime Kulturgüter und deren legitime Aneignungsweisen – finden. (Bourdieu 1982, S. 388 f.)

Die Vermittlung zwischen dem Raum der Sozialstruktur und dem Raum der Lebensstile, die sich im Akt der Distinktion zeigt, erfolgt über den Habitus. Das Konzept erfasst ein „einheitsstiftendes Erzeugungsprinzip“ (Bourdieu 1982, S. 175), das die mit einer Klassenlage korrespondierenden Praktiken erklären kann. Der Habitus umfasst die Dispositionen, also die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die sich in mentalen Strukturen ablagern. Es ist eine „lebenslange Verinnerlichung der sozialen Existenzbedingungen“, aus dem der Habitus als Erzeugungsprinzip für Praxisformen entsteht (Diaz-Bone 2010, S. 34; vgl. Bourdieu 1982, S. 104). Die Existenzbedingungen wiederum lassen sich in den sozialen Gruppen im Sinne von objektiven Strukturen und den sich daraus ergebenen Möglichkeiten finden. Die daraus resultierenden Dispositionen führen zu den Vorlieben, die in einem nicht reflexiven Sinne und jenseits eines Bewusstseins zu den Lebensstilen führen und so die symbolischen Strukturen schaffen (Bourdieu 1982, S. 727). Mit der daraus folgenden Beschränkung des Denkens und Handelns reproduziert der Habitus wiederum die objektiven Strukturen (vgl. Fuchs-Heinritz und König 2014, S. 58). Dadurch ist er sowohl das Resultat von Existenzbedingungen als auch beeinflusst er diese wiederum – der Habitus strukturiert genauso, wie er selbst strukturiert wird (Bourdieu 1982, S. 279). Ein durch den Habitus geformter, persönlicher Geschmack kann somit als eine systematische Verhaltensweise einer sozialen Gruppe gelesen werden, die sich von anderen unterscheidet und abgrenzt. Im Sinne einer „sozialisierten Subjektivität“ werden daher in der Analyse die persönlichen Vorlieben der Individuen als etwas Gesellschaftliches verstanden (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 159).

Die habituelle Distinktion verdeutlicht eine „dreifache Indexikalität“ (Diaz-Bone 2010, S. 37): (1) Das Geschmacksurteil verweist auf die distingierende Person selbst zurück, da von der Homologie des sozialen Raums und dem Raum der Lebensstile ausgegangen wird. Das Urteil zeigt nämlich auf, welche Position im sozialen Raum und damit welche biographischen sowie alltäglichen Bedingungen die entsprechende Entscheidung für etwas ermöglichen (ebd.). (2) Weiter verdeutlichen und reproduzieren die Geschmacksurteile eine symbolische Ordnung der distingierten Objekte: Es wird in der Gesellschaft ein System von Zeichen etabliert, bei dem bestimmte Güter oder Praktiken bestimmten sozialen Gruppen zugeschrieben werden (Bourdieu 1982, S. 278).Footnote 3 Entsprechend werden einige Güter von den Akteur*innen nicht konsumiert, weil sie als etwas betrachtet werden, das einer anderen Klasse zuzuordnen ist. (3) Schlussendlich lassen die Geschmacksurteile auf eine implizite Ästhetik schließen (Diaz-Bone 2010, S. 42), die sowohl für Kulturgüter als auch für die alltäglichen Dinge gilt. Je nach Klasse finden sich verschiedene Logiken davon, was „gut“ und „schön“ beziehungsweise „schlecht“ und „unschön“ ist. Ästhetik ist damit nicht etwas Universelles, sondern zeigt sich in Abhängigkeit von sozialen Gruppen: Sie ist „keine Qualität der Objekte, sondern ein System von semantischen Oppositionen, das sich in der Relation zwischen Klassifizierendem (Distingierendem) und Klassifiziertem (Distingiertem) entfaltet“ (Diaz-Bone 2010, S. 43).

Obwohl Bourdieu die Distinktion als zentrale Praxis für die Reproduktion von Klassenunterschieden verdeutlicht, kann dieses Prinzip auch im Zusammenhang mit Becks Individualisierungsthese betrachtet werden. Denn neben dem zentralen Unterschied, der sich anhand des Zusammenhangs zwischen objektiven Klassenstrukturen und symbolischen Merkmalen zeigt, finden sich Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze (vgl. Wissing 2006, S. 156 ff.). Sowohl im Distinktionsmechanismus als auch in Bezug auf die Individualisierungsthese werden nämlich Handlungsspielräume der Akteur*innen hervorgehoben, die sich aufgrund einer veränderten Sozialstruktur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergeben haben (Bourdieu 2016a, S. 260 f.; Beck 1983, S. 58 f.). Beide Positionen haben daher die Ausgangslage, dass die Mitglieder einer Gesellschaft sich in neuen Arten und Weise behaupten müssen und soziale Integration nicht mehr nur durch objektive Merkmale, sondern auch durch andere Mechanismen geleistet wird. Die Inszenierung und Stilisierung des Konsums im Rahmen eines Lebensstils kann als ein solch neuer Mechanismus der Integration aufgefasst werden: als ein bestimmter Ausdruck von Individualisierung (Wissing 2006, S. 158 f.). Die Fragen der sozialen Unterschiede werden von beiden Polen der Debatte um Lebensstile verschoben: von der objektiven auf die symbolische Ebene.

Der Mechanismus der Distinktion lässt sich daher als allgemeinerer Prozess auffassen. Die Gruppe, von der die symbolische Abgrenzung ausgeht, muss nicht unbedingt einer Klasse entsprechen, die hauptsächlich durch eine ökonomische Realität geprägt ist. Sondern auch eine soziale Gruppe, die sich aufgrund von „neuen“ Ungleichheiten gebildet hat (wie sie von der Individualisierungsthese impliziert werden), kann im Hinblick auf ihre distingierenden Praktiken betrachtet werden. Werden diese Praktiken nämlich analysiert, so geht es nicht nur um die Möglichkeit eines bestimmten Konsums, sondern um die jeweiligen Eigenarten: die Strategien des Aneignens (vgl. Bourdieu 1982, S. 441; Diaz-Bone 2010, S. 40). Diese erzeugen einen Lebensstil und damit immer auch die Möglichkeit für eine bewusste Markierung einer Differenz gegenüber den Eigenarten im Konsum von anderen sozialen Gruppen. Die Individualisierungsthese impliziert dabei zwar einen Spezialfall, der jedoch nicht unbedingt gegen den von Bourdieu beschriebenen Mechanismus spricht: Wenn potenziell alle gesellschaftlichen Schichten auf ein Kulturgut zugreifen können beziehungsweise strukturelle Eigenschaften keinen Konsum vorgeben, dann sind es die bewussten und gewählten Umgangsweisen mit symbolischen Merkmalen, die Differenzen zwischen den sozialen Gruppen verdeutlichen. Der Unterschied der beiden Pole der Diskussion um Lebensstile wird erst wieder beim implizierten Resultat dieses Prozesses deutlich: Der Theorieperspektive Bourdieus folgend würden sich trotz der ubiquitären Verfügbarkeit die Klassenunterschiede über die Kulturgüter reproduzieren. Der Individualisierungsthese folgend würde hingegen nach neuen sozialen Gruppen gefragt werden, die sich über ihren Konsum von Kultur distingieren. Der Akt der Distinktion ist aber aus beiden Perspektiven von Interesse.

3.1.3 Distinktion mittels kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien

Die theoretischen Überlegungen in Bezug auf Distinktion lassen sich detaillierter auf das Interesse der vorliegenden Arbeit ausrichten. Für kulturelle Produkte, bei denen sich Fragen des Zugangs teilweise von objektiven strukturellen Voraussetzungen lösen, gilt es, die Ungleichheit in spezifischen Aneignungsweisen zu suchen (vgl. auch Seifert 2018, S. 210 ff.). Das heißt, dass die bewussten Umgangsformen, wie sie der Mechanismus der Distinktion verdeutlicht, immer relevanter werden, während die Möglichkeiten des Konsums alleine kaum mehr ein Distinktionspotenzial versprechen. Die Verwendung der Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften ermöglicht, eine solch spezifische Aneignungsweise und Umgangsform mit den Resultaten der Kulturproduktion zu etablieren: Die theoretischen Texte im Zusammenhang mit kultureller Produktion sowie eine dazugehörige Fähigkeit, die Referenzen zu dekodieren, können eine distinkte Praxis repräsentieren. Aus der bisher erläuterten sozialstrukturellen Perspektive ergibt sich daraus die Frage, für welche soziale Gruppe diese Praxis eine symbolische Abgrenzung ermöglicht. Bourdieus Perspektive auf Lebensstile würde verdeutlichen, dass Kenntnis und Verwendung der theoretischen Konzepte Teil eines bestimmten Klassenhabitus sind und so die entsprechenden objektiven Ungleichheiten reproduziert würden. Folgt man hingegen der Individualisierungsthese, so verdeutlicht die symbolische Abgrenzung mittels der Theorien keine objektive soziale Gruppe im Sinne einer Klasse. Vielmehr müsste nach anderen Zwängen gesucht werden, die zur Verwendung der Konzepte führen, und ein Interesse darauf ausgerichtet werden, welche neuen integrativen Prozesse erkennbar werden.

Nach der Einführung des Konzeptes der Distinktion und der grundsätzlichen Ausrichtung auf die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien, kann gefragt werden, wie verschiedene performative Effekte in diesem sozialen Mechanismus wirken könnten. Dazu lassen sich die verschiedenen Effektstärken von Performativität (siehe [2.1.4]) mit der bereits eingeführten, dreifachen Indexikalität der Distinktion verknüpfen (Diaz-Bone 2010, S. 37): Der Verweis auf die Position der distingierenden Person im sozialen Raum kann zuerst noch unabhängig von Performativität betrachtet werden. Denn egal welche Effektstärke durch eine Theorie bewirkt werden könnte, die entsprechende Praxis der Verwendung des Konzeptes verweist immer auf Akteur*innen, die über das benötige Wissen verfügen (d. h. ein spezifisches kulturelles Kapital aufweisen). Bei der zweiten Indexikalität, dem Zeichensystems der distingierten Objekte, und der dritten Indexikalität, der impliziten Ästhetik, lassen sich hingegen die verschiedenen Effektstärken unterscheiden. Ein generisch performativer Effekt würde dann auftreten, wenn eine Akteurin das von ihr wahrgenommene Zeichensystem oder ihre Ästhetik durch ein theoretisches Konzept der Kultur- und Sozialwissenschaften bestätigt sieht. Sie könnte also ihre bereits vorhandene Aneignungsweise neu beschreiben, während sich gleichzeitig deren Zeichencharakter nicht verändern würde. Beim Auftreten eines stärkeren performativen Effektes würde ein theoretisches Konzept hingegen diese Aspekte verändern: Die Ordnungen der distingierten Objekte könnte sich ändern, indem neue Objekte aufgenommen oder Rangfolgen angepasst würden. Die theoretische Beschreibung würde daher dazu führen, dass ein Akteur die gesellschaftlich vorhandenen Assoziationen nicht mehr als gegeben ansieht. Auch Veränderungen bei der impliziten Ästhetik sind denkbar: Die theoretischen Beschreibungen würden dazu führen, dass die entsprechenden Vorstellungen von „gut“ und „schön“ sich anpassen würden, um Objekte anders zu bewerten.

Die soeben eingeführten Effekte sind lediglich hypothetisch und die Wirkungsweisen von Performativität müssen empirisch detaillierter ausgearbeitet werden. Gleichzeitig lassen sich durch die Überlegungen einige theoretische Schwierigkeiten aufzeigen: So kann danach gefragt werden, ob die kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzepte lediglich eine Abgrenzung verdeutlichen oder mit ihrem Einfluss auf Distinktionspraktiken auch andere Prozesse ermöglicht werden. Insbesondere in der bourdieuschen Formulierung des Mechanismus wird jedoch davon ausgegangen, dass eine (objektive) Dominanz einer sozialen Gruppe immer zur (symbolischen) Abgrenzung führen muss (vgl. Bourdieu 1982, S. 270 f.). Dies muss aber nicht immer der Fall sein, sondern entspricht vielmehr nur einer bestimmten Form der Dominanz. Boltanski und Eve Chiapello (2003) zeigen etwa auf, dass es auch Koordinations- und Rechtfertigungslogiken gibt, die auf andere Prozesse als Abgrenzung ausgerichtet sind. In der Koordinationsweise (und Qualitätskonvention) des Netzwerks, die die gegenwärtige kapitalistische Produktion mitbestimmt (siehe [2.2.2 und 2.2.4]), wird eine Distinktion im Klassenhabitus als das zentrale Merkmal einer sozialen Logik immer mehr untergraben (Boltanski und Chiapello 2003, S. 164).Footnote 4 Zeitgenössische Koordinationsformen schreiben eher denjenigen Praktiken eine Wertigkeit zu, bei denen mit verschiedensten Personen interagiert wird, wo zwischen diversen Kontexten Brücken geschlagen werden und über die sich Akteur*innen in verschiedenen Zusammenhängen bewegen. Auch herrschende und dominante Positionen müssen koordinieren und motivieren, was wiederum geteilte Ansichten und „reibungslose“ Beziehungen verlangt (Erickson 1996). Daraus folgt nicht unbedingt, dass es keine distinkten Merkmale mehr gibt. Aber diese Merkmale müssen sich bisweilen in einer neuen Art und Weise zeigen, in welcher Abgrenzung alleine nicht mehr das Hauptmerkmal zu sein scheint (Peterson und Kern 1996; vgl. auch Kunißen et al. 2018, S. 209 f.). Gerade solche Wertigkeiten könnten von den theoretischen Konzepten impliziert werden.

Neben diesem eher grundsätzlichen Problem der Distinktionslogik lassen sich weitere konzeptionelle Schwierigkeiten in Bezug zur Performativität anführen: Unklar bleibt etwa, wie bei der Verwendung der Theorien durch die Akteur*innen ein Einfluss von Konzepten gemeinsam mit weiteren Aspekten und Ressourcen betrachtet werden kann (vgl. Boltanski et al. 2018, S. 3). Solange nämlich der Distinktionsmechanismus nicht von einer barnesischen Performativität vollständig beeinflusst wird, kann die Verwendung der Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr müssen die theoretischen Konzepte und deren performative Effekte als ein Teil von weiteren Prozessen im Umgang mit Kulturgütern aufgefasst werden, die erst gemeinsam eine distinkte Praxis schaffen. So betrachtet Sarah Thornton in einer Studie der elektronischen Tanzmusik (1995) die Distinktionsweisen einer sozialen Gruppe. Diese zeigen sich auf der einen Seite anhand verschiedener Themen: die Bestimmung von authentischen Produktionsweisen, die Abgrenzung gegenüber einem imaginierten „Mainstream“ oder das Verhältnis zu den Massenmedien (Thornton 1995, S. 16 f.). Auf der anderen Seite erfolgt die Distinktion in der entsprechenden Kulturwelt auf verschiedenen Ebenen: Sie kann sich nämlich stärker auf Positionen innerhalb der Kulturwelt beziehen oder gegenüber gesamtgesellschaftlichen sozialen Gruppen ausgerichtet sein. Wichtig ist hierbei, dass sich die Strategien als auch die damit zusammenhängenden objektiven Merkmale je nach Thema oder Ebene unterscheiden (vgl. Thornton 1995, S. 27 f.). Auch Rainer Diaz-Bone arbeitet in seiner Analyse der diskursiven Konstruktion der Wertigkeiten von Lebensstilen (2010) eine Vielzahl von Repräsentationsdimensionen heraus und zeigt, wie sich zwei Musikgenres darin unterscheiden. Im Hinblick auf die Performativität muss daher betrachtet werden, wie im Rahmen von welchen Themen, Ebenen oder Dimensionen der Distinktion die theoretischen Konzepte eine Wirkung entfalten.

Distinktion ist daher auch innerhalb einer sozialen Gruppe kein einheitlicher Prozess. Eine solche Interpretationstendenz folgt jedoch aufgrund der theoretischen Vorstellung einer durch Habitus bedingten Distinktion. Denn eine jeweilige Art und Weise der symbolischen Abgrenzung wird als etwas angesehen, was einheitlich für eine soziale Gruppe gilt (vgl. Bourdieu 1982, S. 277 f.): Die Gruppe ähnelt sich nicht nur aufgrund vergleichbarer objektiver Merkmale, sondern auch aufgrund einer spezifischen Konstellation symbolischer Merkmale, die bei allen Gruppenmitgliedern auftritt. Bereits mit Becks Individualisierungsthese wird impliziert, dass die Einheitlichkeit in Bezug auf Klassen nicht mehr angenommen werden kann, sondern vielmehr deren sozialer Charakter in Bezug auf Lebensbedingungen „verloren“ geht (1986, S. 122). Performativität kann potenziell zu einem ähnlichen Resultat führen, aber die damit zusammenhängende Erklärungslogik ist eine andere: Dabei kann zuerst zwar festgestellt werden, dass die Verwendung von theoretischen Konzepten womöglich ein einheitliches Merkmal einer sozialen Gruppe sein kann und deren Distinktion ermöglicht. Aus dieser Verwendung und aus den stärkeren performativen Effekten können sich jedoch unterschiedliche Wertvorstellungen und damit unterschiedliche Konsumformen ergeben, die abhängig sind von der verwendeten Theorieperspektive (siehe [2.2.4]): Ein Zeichencharakter der Kulturprodukte oder eine implizite Ästhetik kann sich ändern und dies nicht einheitlich für alle Mitgliedern einer sozialen Gruppe, sondern in Abhängigkeit der verwendeten theoretischen Konzepte. Als Folge der performativen Effekte würde die soziale Gruppe dann in Bezug auf ihre symbolischen Merkmale keine Einheitlichkeit mehr aufweisen.

Als letzte Schwierigkeit kann darauf verwiesen werden, dass die habituellen Prozesse der Distinktion in den bisherigen theoretischen Formulierungen als etwas Prä-Reflexives konzeptualisiert sind: als etwas, was den Akteur*innen nicht bewusst ist. Der prä-reflexive Charakter von Distinktion ist hierbei nicht nur ein theoretisches Detail, sondern wird in der bourdieuschen Perspektive als eine zentrale Erklärungsweise für die soziale Funktion der Abgrenzung herangezogen (Bourdieu 1982, S. 727; vgl. Diaz-Bone 2010, S. 44). Doch gerade die Verwendung der theoretischen Konzepte bietet die Möglichkeit, dass die Akteur*innen sich gewisser Prozesse bewusst werden. Im Sinne eines „Extrembeispiels“ könnten Kulturproduzent*innen Bourdieus Studie Die feinen Unterschiede (1982) gelesen haben und sich deshalb ihrer vorreflexiven Abgrenzungsmechanismen bewusst werden.Footnote 5 Dies mag nicht dazu führen, dass keine Distinktion mehr stattfindet. Zumindest könnten aber gewisse Retroaktionen der Akteur*innen erwartet werden, die einigen symbolischen Abgrenzungen entgegenwirken würden. Aber auch weniger „extreme“ Beispiele sind denkbar, bei denen Akteur*innen eine Reflexivität gegenüber den stattfindenden sozialen Prozessen erlangen. Dies kann bereits bei einer generischen Performativität erfolgen, wenn über ein theoretisches Konzept etwa die implizite Ästhetik explizit gemacht wird. Solche potenziellen Effekte der Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturproduktion lassen sich aktuell noch nicht mit der der theoretischen Perspektive auf Lebensstile vereinbaren.

3.1.4 Die Möglichkeit eines pluralen Habitus

Trotz der erläuterten Schwierigkeiten, die die Konzeptualisierung der Distinktion mit sich bringt, beschreibt das Konzept einen relevanten Mechanismus, um die sozialen Gruppen analytisch zu erfassen und auf den Zusammenhang zwischen objektiven und symbolischen Merkmalen in einer bestimmten Weise einzugehen. Dieser Fokus auf Gruppen führt jedoch auch zu den erläuterten Schwierigkeiten (vgl. Schwegler i. E.). Handlungsweisen lassen sich nämlich nicht in jedem Fall deterministisch von einer Gruppe ableiten, insbesondere wenn Performativität betrachtet wird. Das Phänomen verlangt vielmehr, dass die in den Individuen ablaufenden Prozesse nachvollzogen werden. Anstelle eines theoretischen Fokus auf den gemeinsamen Lebensstil einer Gruppe und der Frage, wie sich ähnliche sozialstrukturelle Bedingungen in Umgangsformen mit Resultaten der Kulturproduktion zeigen, muss daher eine ergänzende theoretische Perspektive eingeführt werden. Dies ist das Akteur*innen-Konzept von Bernard Lahire (2011a), mit dem der bisher erläuterte Habitus-Begriff neu aufgefasst wird. Anstatt von einem Punkt im sozialen Raum auszugehen, von dem aus die Sozialisationsprozesse für Dispositionen ausgehen, betont Lahire die Notwendigkeit, die Entstehung von Praktiken empirisch zu untersuchen. Der Fokus liegt auf den Praktiken der Akteur*innen in verschiedenen Situationen und in einer Entwicklung über die Zeit, statt die einheitliche Logik einer sozialen Gruppe zu analysieren.

As long as sociologists want to shed light on groups of individuals on the basis of a practice or of a specific domain of practices – employees of a corporation, partners, readers, users of a given cultural institution, voters, etc. – there is no need to study these individualized social logics. However, when the focus is on individuals, not as atoms that are the basic elements of sociological analysis but as complex products of multiple processes of socialization, it is no longer possible to remain confined to relying on explicit or implicit models of actors, action, and cognition which have been current until now. (Lahire 2003, S. 332 f.)

Die Perspektive von Lahire startet mit der Annahme der Pluralität: Ziel ist es zu klären, wie sich heterogene Umgebungen und materielle genauso wie soziale Realitäten in den einzelnen Akteur*innen und ihrem Verhalten ausdrücken und zu verschiedenen Resultaten führen können (vgl. Hadas 2022). Noch viel stärker als in Bourdieus Konzeptualisierung von Habitus gilt es daher, das Zustandekommen, die Verfügbarkeit und die jeweilige Nutzung von spezifischen Dispositionen zu betrachten und zu verorten, die dann zu symbolischen Merkmalen führen. Die Perspektive muss gewechselt werden und Strukturen dürfen nicht mehr durch eine Makroperspektive betrachtet werden; stattdessen wird der Blick auf die Akteur*innen gerichtet. Diese empirische Betrachtung der Habitus-Dispositionen soll auf eine vollumfängliche Weise erfolgen und einen langen Zeitraum abdecken (Lahire 2017). Der Fokus auf die Individuen, deren Handlungen in verschiedenen Situationen und die jeweiligen Entwicklungen über längere Zeiträume soll aber nicht einer reinen Detailversessenheit dienen, sondern analytisches Potenzial bieten. Auf der einen Seite ermöglicht diese Herangehensweise, das soziale Leben in seiner Komplexität und Unordnung zu erfassen (vgl. Telling 2016, S. 150) und damit die relativ „grobe“ Betrachtung der Reproduktion von sozialer Ungleichheit zu verfeinern und differenzierter darzustellen. Auf der anderen Seite gilt es aber auch, die sich neu stabilisierenden Kombinationen und Strukturen zu erklären, die in der sozialen Realität deutlich werden. Die Erfahrungen, welche die Akteur*innen machen und die ihre Dispositionen formen, sind damit keineswegs etwas „Individuelles“. Vielmehr repräsentieren sie spezifische Kombinationen der Bedingungen der Welt – und somit immer etwas durch und durch Soziales.

Der Zusammenhang zwischen den Handlungen der Akteur*innen, ihrem Lebensstil und der Sozialstruktur wird von Lahires Perspektive auf verschiedene Weisen neu erfasst: Grundsätzlich werden die Individuen nicht nur als ein Produkt der Ungleichheit und als die Reproduktionsinstanzen der Unterschiede angesehen, wie dies noch bei Bourdieus Habitus-Konzept vorausgesetzt wird (vgl. Lahire 2003, S. 333). Ein solcher Prozess muss zuerst empirisch aufgezeigt werden, statt ihn a priori festzulegen. Weiter folgen die Akteur*innen nicht einer zentralen Logik in allen Bereichen ihres Lebens und sind nicht nur die „Exekutoren der Makrostrukturen“ (Peter 2004, S. 297). Damit ist das Auftreten von Lebensstilkonstellationen nicht von einheitlichen „Profilen“ geprägt (Lahire 2011b), das heißt, nicht alle Individuen einer Gruppe weisen vergleichbare symbolische Merkmale auf. Neben den inter-individuellen Unterschieden in Gruppen sind insbesondere intra-individuelle Differenzierungen bei einzelnen Akteur*innen zu erwarten. Das heißt, dass Individuen jeweils nicht nur einem „Geschmack“ folgen, sondern sich an einer Vielzahl unterschiedlicher Logiken in ihrem Lebensstil orientieren. „Dissonante“ und „heterogene“ Profile im Habitus – also diejenigen, welche die Prinzipien von verschiedenen Klassen in ihren Lebensstilausprägungen aufweisen – sind nicht Ausnahme, sondern Regel des Sozialen (Lahire 2004, 2011b). Dies fördert die Aufmerksamkeit dafür, dass die Akteur*innen „nacheinander oder gleichzeitig“ Teil von verschiedenen sozialen Gruppen und Institutionen sind (Lahire 2011b, S. 47 f.), die wiederum spezifisch die symbolischen Merkmale und Handlungen der Individuen ermöglichen und auf diese einwirken. Die Konzeptualisierung von heterogenen Sozialisationseinflüssen (Lahire 2011b, S. 50) richtet zudem Becks Individualisierungsthese (1983) neu aus. Anstelle einer „Herauslösung“ sowie einer „Freisetzung“ (Beck 1986, S. 25/115) der Individuen und damit dem Fehlen von Bezugspunkten wird die Verschiedenheit und Gleichzeitigkeit der Bezugspunkte betont. Dies bestimmt dann die Lebensstile der Individuen in neuer Art und Weise.

Lahire geht wie bereits Bourdieu in seinem Habitus-Konzept von Dispositionen aus, führt dabei aber wichtige Änderungen ein. Diese können zu zwei Aspekten zusammengefasst werden: Erstens wird eine Heterogenität von Sozialisationseinflüssen und Kontexten bei den unterschiedlichen objektiven sozialen Positionen vorausgesetzt. Diese Heterogenität wird dafür verantwortlich gemacht, dass ein Repertoire von verschiedenen habituellen Dispositionen bestimmend für die Handlungen der Individuen wird (Lahire 2011a, S. 26, b, S. 50). Dispositionen sind daher nicht einheitlich für soziale Gruppen zu erwarten. Wiederum vergleichbar mit Bourdieu nimmt in der Erklärung die Vergangenheit eine wichtige Stellung ein: Sie verdeutlicht die Genese der Dispositionen. Über die Vergangenheit lassen sich die genauen Konditionen aufzeigen, innerhalb derer die Handlungsschemata als Resultate von Sozialisationserfahrungen entstehen und sich in den Individuen ablagern. Dabei erfolgen sowohl sukzessive als auch parallele Entwicklungen hin zu den Dispositionen. Als zweite Änderung gegenüber Bourdieus Habitus-Konzept hält Lahire aber fest, dass die Vergangenheit alleine noch nicht als Erklärung ausreicht. Es muss weiter aufgezeigt werden, wie eine bestimmte Disposition in einer neuen Situation aktualisiert werden kann (Lahire 2003, S. 335). Erst zwischen den beiden Zeitpunkten Vergangenheit und Gegenwart zeigt sich eine konkrete Disposition, die aber jeweils nur ein mehr oder weniger beständiges Schema repräsentiert. Handeln, Sehen, Fühlen oder Glauben sowie die daraus resultierenden Voraussetzungen, Arten des Seins, jeweiligen Perspektiven oder auch Vorlieben und Vorstellungen sind daher nicht in jedem Fall stabil. Lahire konzeptualisiert Dispositionen als heterogene sowie teilweise stabile Eigenschaften, die sich relational zwischen der Vergangenheit und der aktuellen Situation entfalten (Lahire 2011a, S. 52).

Die Ausgangslage zur Erklärung der Lebensstile von Akteur*innen präsentiert sich daher folgendermaßen: Multiple Handlungsanleitungen entstehen in einem auf diverse Arten und Weisen erfolgenden Sozialisationsprozess und müssen in einer aktuellen Situation abgerufen werden. Die Herausforderung ist zu erklären, welche der Habitus-Dispositionen konkret abgerufen werden in einer gegenwärtigen Situation.

If the present situation certainly does not explain anything by itself, it is this that opens or leaves closed, awakens or leaves in reserve, mobilizes or silences the habits embodied by the agents. Negatively (by what they leave ‘unexpressed’ or ‘unactualized’) as well as positively (by what they allow to be ‘expressed’ or ‘actualized’), the elements and configuration of the present situation have a quite fundamental weight in the generation of practices. (Lahire 2011a, S. 49)

Es sind die gegenwärtigen Situationen und deren Funktionen beim Abrufen von vergangenen Erfahrungen, die im Zentrum der Erklärungen stehen. Dieser Fokus leitet sich daraus ab, dass in den allermeisten Fällen eingeprägte Strukturen zwar bestimmte Handlungen konditioniert haben. Trotzdem können diese Handlungen nicht immer direkt auf die aktuelle Situation übertragen werden. Zu oft herrschen zu viele Diskrepanzen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, als dass die erlernten Handlungslogiken direkt angewendet und die Vergangenheit immer auf dieselbe Art und Weise repetiert werden könnte (Lahire 2011a, S. 45 f.). Dadurch können auch ein Akteur und sein Lebensstil nicht nur über eine gewisse Anzahl objektiver sozialer Koordinaten bestimmt werden (Lahire 2011a, S. 47). Vielmehr entscheidet sich in der Gegenwart, wie aus einem Pool von Handlungsschemata ausgewählt wird. Die jeweilige Situation bestimmt mit, ob eine Akteurin sich etwa an einer als legitim geltenden kulturellen Logik orientiert oder an einer völlig anderen – oder auch, ob sie rational handelt oder nicht. Je pluraler die Möglichkeiten für Handlungen oder Vorlieben sind, desto weniger kann ein und dasselbe Schema aus der Vergangenheit übertragen werden, und desto mehr entscheidet die aktuelle Situation mit (Lahire 2011a, S. 47).

Mit einer solchen Perspektive, die in der Situation das zentrale Moment einer Erklärung sieht, können dann auch dissonante Profile und mehr konzeptualisiert werden (Lahire 2011b). So können Aktivitäten beispielsweise habituell erfolgen, gleichzeitig aber auch unabhängig von einem Geschmack ausgeführt werden – etwa aufgrund der Höflichkeit, als Zwang in einer Situation oder aufgrund der Beeinflussung durch ein theoretisches Konzept. Die Aktivitäten werden jeweils von einem zeitlichen Kontext oder allgemeiner einer aktuellen Situation ermöglicht oder eingeschränkt. Diese Kontextbedingungen sind ohne Zweifel nicht völlig befreit von Strukturmerkmalen: Akteur*innen und deren Situation sind bestimmt durch ihre soziale Umwelt, die soziale Klasse und weitere Aspekte. Allerdings darf den Situationen deshalb eine Wirkmächtigkeit nicht abgesprochen werden. Es müssen sowohl Kontextbedingungen einer Situation als auch die Dispositionen mitgedacht werden, um Handlungen zu erklären (Lahire 2011a, S. 52 f.): Erstere im Sinne eines Auslösers oder als eine Wirkung, die Handeln mitbeeinflusst, indem die Situation die Auswahl von Dispositionen bestimmt; Letztere im Sinne der verschiedenen Möglichkeiten, aus denen überhaupt ausgewählt werden kann. Die vielfältigen Kombinationen der Ausgangslagen ermöglichen, dass eine Vielzahl von Identitäten zum Ausdruck kommt. Verschiedene Handlungslogiken aus verschiedenen Dispositionen können in verschiedenen Situationen zum Zug kommen – und womöglich in Widerspruch zueinander stehen (Lahire 2011a, S. 58). Diese theoretische Betrachtungsweise schafft daher das Potenzial, die Wirkungsweisen von Theorien innerhalb der Lebensstile der Akteur*innen zu beachten, sowohl grundsätzlich als insbesondere auch im Hinblick auf eine mögliche Reflexivität, die sich aufgrund der Konzepte entwickelt.

3.1.5 Reflexivität und Performativität

Die Heterogenität der Dispositionen, welche vom pluralen Akteur*innen-Konzept aufgezeigt wird und welche die Betrachtung von Performativität ermöglicht, kann nun in einer bestimmten Weise geordnet werden. Hierfür schlägt Lahire vier Dimensionen vor (2003, S. 336 ff.): (1) Erstens ist eine Unterscheidung zwischen den eigentlichen Handlungsdispositionen und Denkdispositionen nötig.Footnote 6 Letztere zeigen sich in einer rein mentalen Komponente von Überzeugungen oder Normen. Sie müssen nicht in jedem Fall in Handlungen übersetzt werden und können den eigentlichen Handlungen der Akteur*innen auch widersprechen (Lahire 2003, S. 337). (2) Als zweite Unterscheidungsdimension können Dispositionen in eher starke und eher schwache Schemata aufgeteilt werden. Die starken Dispositionen sind bleibende Vorstellungen und immer wiederkehrende Routinen, während die schwächeren eher vorübergehend übernommenen Wertvorstellungen oder einem kurzlebigen Verhalten entsprechen (Lahire 2003, S. 336). Doch auch bei stärkeren Dispositionen finden sich Möglichkeiten, dass diese aufgrund von neuen Lebenssituationen oder sonstigen gravierenden Änderungen ersetzt werden (Lahire 2003, S. 340). (3) Eine dritte Dimension klärt die Frage, ob die Schemata mit bewussten Präferenzen der Individuen korrespondieren. Dispositionen können daher unterschieden werden, ob sie mit den Wünschen und Vorlieben der Individuen übereinstimmen, ob sie einfach einer (unbewussten) Routine entsprechen oder die Handlungs- und Denkschemata sogar abgelehnt werden. (4) Eine letzte Unterscheidungsdimension zeigt auf, ob die Schemata eine berufliche Kompetenz der Akteur*innen darstellen oder eher nicht (vgl. Lahire 2003, S. 340). Eine bestimmte Handlung oder Vorliebe kann nämlich sowohl Teil eines professionellen Kontextes sein als auch lediglich einem beiläufigen Hobby entsprechen. Ein Schema aus letzterem Bereich wird zwar ebenso regelmäßig ausgeführt und bleibt ein wichtiger Teil des Lebensstils einer Person. Die entsprechende Disposition würde aber kaum in einer Weise weiterentwickelt, wie dies in einem beruflichen Umfeld erfolgt.

Die vier Dimensionen verdeutlichen noch einmal, dass die durch Dispositionen geformten Beziehungen zur sozialen Umwelt, zu anderen Personen und zu Objekten durch verschiedenste Faktoren geprägt sind und kaum einer einzelnen Logik oder einem dominanten Prinzip folgen. So können Handlungen unbewusst, ohne weitere Empfindungen und nur für einige Male erfolgen. Oder sie können von den Akteur*innen bewusst und mit großer Missgunst über lange Zeit immer wieder vorgenommen werden. Oder die Dispositionen zeigen sich gar nicht in konkreten Handlungen, sondern nur in einer Freude über etwas. All diese und noch viel mehr Möglichkeiten können sich im Rahmen eines zentralen sozialen Bezugspunkts einer jeweiligen Person zeigen oder auch in eher „unwichtigeren“ Bereichen und Nebenschauplätzen entwickelt werden. Die Pluralität von Dispositionen verweist weiter auf einen Aspekt, der im Folgenden genauer behandelt wird: Die Schemata für Handlungen und Denkprozesse müssen nicht als jederzeit unbewusste Komponenten der Akteur*innen betrachtet werden. Genauso wie man sich schlechter Angewohnheiten bewusst sein kann, ohne dass diese geändert werden, gehören auch Planen und Konzeptualisieren zu einem Repertoire von Handlungen. Das Mobilisieren der jeweils passenden, in der Vergangenheit eingeprägten Dispositionen in einer aktuellen, sozialen Situation kann daher sowohl unbewusst als auch im Sinne einer gewählten Entscheidung erfolgen (Lahire 2011a, S. 66). Die Vorstellung von pluralen Akteur*innen bezieht reflexive Tätigkeiten in die Betrachtung mit ein.

Lahires Konzeptualisierung erfasst die Möglichkeit für Reflexivität in einem bestimmten Sinne: Grundsätzlich wird damit nicht impliziert, dass die Individuen ihre allumfassenden Lebensziele ständig befragen und eine Langzeitplanung unabhängig von sozialen Einschränkungen erreichen (vgl. Telling 2016, S. 151). Vielmehr sollen (auch) die tagtäglichen, scheinbar unbedeutenden Arten der Reflexion in die Analyse miteinbezogen werden. Diese Form des Befragens von Situationen durch die Akteur*innen ist keineswegs nur einer bestimmten sozialen Gruppe vorbehalten (wie dies im ursprünglichen Habitus-Konzept teilweise impliziert wird, vgl. Bourdieu 1982, S. 283). Ziel einer Analyse ist es, Reflexion als etwas Graduelles zu fassen und die Möglichkeit zur Reflexivität zu überprüfen. Unterschiedliche Situationen zeichnen sich durch ein bestimmtes Maß an Reflexion aus, von hochgradig öffentlichen und weitreichenden Konfigurationen bis hin zu minimalem Zögern in Routinen (vgl. Barthe et al. 2016, S. 213 f.). Je nach Situation ergibt sich eine gewisse Offenheit in der Anwendung der pluralen Dispositionen. Je offener diese ist, desto weniger können das Denken und Handeln der Akteur*innen nach Routinen und Gewohnheiten ablaufen. Offenheit fordert das Individuum auf „nachzudenken“, womit Teile einer Selbstverständlichkeit hinterfragt werden können. Diese theoretischen Annahmen sind allerdings nicht gleichbedeutend mit einer Aufgabe des Habitus-Konzepts selbst. Einerseits gilt es nach wie vor, die Möglichkeit für „ungewollte“ Praktiken oder Nachahmungen zu prüfen (Lahire 2011a, S. 72 f.). Und andererseits sind auch reflexive Momente beziehungsweise die darin benötigten Kompetenzen sozial konstruiert (ebd.). Die Handlungs- und Entscheidungskompetenz der Akteur*innen ist damit weder komplett durch Autonomie bestimmt, noch folgt sie lediglich unbewussten Prozessen.

Die Betrachtung der Dispositionen in einem pluralen Sinne ermöglicht es, das Abstrahieren, die Gestaltung von Plänen und das konzeptuelle Denken der Akteur*innen nachzuvollziehen. Je nach Situation können Reflexionen stattfinden oder nicht. Die konzeptionelle Ausgangslage verortet zudem das wissenschaftliche Denken und die darin vorhandene Reflexivität auf derselben Ebenen wie ein alltägliches Handeln im Lebensstil. Eine a priori getroffene Unterscheidung zwischen den beiden Formen wird daher in Frage gestellt: „An intellectual and scholarly habit, which presupposes, the highest degree of reflexivity, is not any the less applied pre-reflectively in the everyday reasonings of researchers. Scientist may make us of the specific habits of reflexivity without being aware of it, without having to think of it, without any particular need for reflexivity“ (Lahire 2011a, S. 73). Reflexivität ist demnach nicht ein klar von anderen dispositionalen Praktiken abzutrennender Modus, sondern genauso ein Schema, das von allen Akteur*innen erlernt werden kann. Dies gilt für wissenschaftliche wie für gesellschaftliche Akteur*innen. Die Möglichkeit zur Anwendung von reflexiven Dispositionen verbindet Lahire insbesondere mit bestimmten Handlungen, etwa dem Schreiben oder dem Erstellen von Diagrammen, Tabellen oder Modellen (2011a, S. 40/140 f.). Solche Handlungen sind für ihn Objektivierungstechniken in einem allgemeinen Sinne, die eine Distanz zwischen einer jeweiligen Praxis und der Betrachtung dieser Praxis einführen. So erfolgt etwa über das Schreiben eine abstrakte und damit objektivierende Beherrschung einer Praxis, die vorher nur in einem praktischen Sinne angeeignet wurde (Lahire 2011a, S. 121). Objektivierungstechniken können daher dazu beitragen, dass reflexive Dispositionen abgerufen werden oder überhaupt erst für die Akteur*innen entstehen. Anwendung findet eine solche Distanzierung durch Objektivierungstechniken beim Außergewöhnlichen, den Ausnahmen des Alltags:

When practical sense (habitus) is no longer enough to ‘remind oneself’ or act, in view of the unusual nature of things, the extension of timeframe to be mastered and the need to prepare the future, because of the complexity of activities to be managed, the tension due to an official situation, the absence of the body, or temporary mental disturbances and disorganizations, then appeal is made to writing. [Written words] enable not only a reflexive look back on action but also its reflexive preparation. (Lahire 2011a, S. 135)

Die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften als symbolische Ressourcen können nun ebenfalls in Zusammenhang mit den Objektivierungstechniken betrachtet werden. Denn wie das Schreiben oder das Entwickeln von Modellen sind diese Konzepte nicht ein exklusives Arbeitsinstrument und Erkenntniswerkzeug von Wissenschaftler*innen. Grundsätzlich eröffnen die Konzepte die Möglichkeit, dass Handlungen auf eine Art und Weise reflektiert und objektiviert werden, wie dies in kultur- und sozialwissenschaftlichen Denkweisen erfolgt. Sie bieten den Akteur*innen eine Möglichkeit, ein unabhängiges Wissen über die eigene Kulturproduktion zu erlangen und diese zu verändern. Die Theorien können daher auf zwei Weisen mit Objektivierungstechniken in Verbindung gebracht werden: Zuerst kann danach gefragt werden, welche Ausnahmen und Techniken eine Anwendung der Theorien bedingt. Dann kann betrachtet werden, wie die Konzepte selbst zu solchen Objektivierungstechniken werden.

Wie bereits bei der Betrachtung der verschiedenen Dispositionen ist es auch bei der Frage nach dem Reflektieren von Handlungen mittels theoretischer Konzepte eine jeweilige Gegenwart, die eine Erklärung liefert: Die Verwendung der Theorie findet nie in einem absoluten Sinne entweder statt oder nicht, sondern es ist eine konkrete Situation, innerhalb der sich entscheidet, ob und wie stark eine theoretische Reflexivität zum Zug kommt (vgl. auch Lahire 2011a, S. 154). Gewisse Handlungen beruhen auf einer unmittelbaren Reaktion, die keine Gelegenheiten für reflexive Momente bietet. Wenn hingegen eine Handlung aufgeteilt werden kann in verschiedene Zeiträume, Entscheidungsschritte sowie Versuchs- und Evaluationsprozesse, ergeben sich Gelegenheiten für Reflexivität (vgl. Lahire 2011a, S. 154) oder die theoretischen Konzepte können zum Zuge kommen. Es gilt, eine Situation zu analysieren, in der allenfalls vorhandene theoretische Referenzen hinzugezogen werden, um die eigenen Handlungen zu objektivieren und – nochmals als Option – neue Dispositionen zu schaffen sowie Handlungen anzupassen (vgl. auch Lahire 2011a, S. 50 ff.). Der theoretische und der praktische Bezug zur Welt kann damit nicht mehr fundamental unterschieden werden, sondern beide können in derselben Person und in derselben Situation gleichzeitig präsent sein (Lahire 2011a, S. 144).

Daraus folgt weiter, dass die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht nur zu einem weiteren symbolischen Merkmal der Akteur*innen und ihrem Verhältnis zu Kulturprodukten gehören. Vielmehr wird ihre Verwendung theoretisch fassbar: Die Konzepte werden gebraucht, um Kulturproduktion zu beschreiben, zu planen oder zu bewerten sowie zu evaluieren. Diese Verwendungsweisen werden aber nicht abgetrennt von Handlungsdispositionen betrachtet. Die theoretischen Konzepte sind nicht lediglich sekundäre Formen, die etwas bereits Vorhandenes nur bezeichnen oder begleiten.

[I]t is essential to abandon the idea that ‘thought’, ‘psyche’, ‘mental activity’ or ‘consciousness’ possess some kind of existence anterior to their ‘expressions’ or ‘manifestations’. To say that linguistic activity (in all its forms) is simply the ‘expression’ of something already formed in consciousness outside of any linguistic instrument, an ‘expression’ ‘making public’ in some way an ‘internal’, ‘private’ or ‘intimate’ activity, would be equivalent to maintaining that the tail wags the dog. (Lahire 2011a, S. 174)

Die Theorien als Lebensstil-Ressourcen dienen als Instrument zur Schaffung, Veränderung und Übernahme von Praktiken. Damit ermöglicht Lahires Ansatz, auf eine bestimmte Effektstärke von Performativität zu fokussieren: Es geht nämlich nicht darum, dass der bereits vorhandene Zeichencharakter des Lebensstils nochmals durch Theorie neu erfasst wird, ohne das Änderungen erfolgen. Diese generische Form der Performativität wird bereits durch den Distinktionsmechanismus verdeutlicht. Das hier eingeführte Akteur*innen-Konzept fokussiert aber ebenso wenig auf den unwahrscheinlichen Fall, dass eine umfassende Änderung der symbolischen Merkmale im Hinblick auf ein theoretisches Konzept ausgerichtet würde, wie dies eine barnesische Performativität erfasst. Was Lahires Perspektive im besonderen Maße ermöglicht, ist eine Performativität in einem effektiven Sinne zu beschreiben: Als Objektivierungstechnik werden Teile von einer oder mehreren Theorien verwendet, um Dispositionen auf die Beschreibung in der Theorie hin anzupassen. Welche Mechanismen weiter mitspielen – oder ob gar Gegenperformativität oder Retroaktionen erfolgen – muss im Rahmen einer jeweiligen Situation nachvollzogen werden. Die weiteren Perspektiven hierfür werden im Verlauf des Kapitels noch ergänzt [3.3], doch bereits jetzt ist die Erfassung der Veränderungen in einem Lebensstil grundsätzlich theoretisierbar dank der Erweiterungen der Distinktions-Perspektive durch Lahires plurales Habitus-Konzept.

3.1.6 Schlussfolgerung: Handlungen in Lebensstilen

Die über den Verlauf dieses Unterkapitels eingeführten Konzeptualisierungen versuchten Möglichkeiten zu bieten, wie diejenigen Akteur*innen theoretisch zu bestimmen sind, welche die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften in der Kulturproduktion verwenden. Hierzu wurde erläutert, wie entsprechende Gruppen über objektive und symbolische Merkmale sozialstrukturell zu erfassen sind. Die Verwendung der theoretischen Konzepte in Bezug auf Produktion und Konsum wurde als Teil eines Lebensstils konzeptualisiert, der die symbolische Distinktion einer objektiven Gruppe ermöglichen kann. Für die Frage danach, wie diese sich abgrenzende Gruppe genau zu erfassen ist, wurden zwei grundsätzliche Pole der Lebensstildebatte angeführt: Die Perspektive kann einerseits auf die Reproduktion von Klassenunterschieden gerichtet werden, wie dies insbesondere Bourdieus Arbeiten verdeutlicht haben (1982). Anderseits können „neue“ Ungleichheiten hervorgehoben werden, wie sie von Beck in seiner Individualisierungsthese hervorgehoben wurden (1983, 1986). Als mögliches gemeinsames Interesse der beiden Pole wurde die Frage nach der Distinktion dieser Gruppen herausgehoben. Anschließend daran konnte die Erklärungsrichtung umgedreht werden mit dem Konzept der pluralen Akteur*innen beziehungsweise des pluralen Habitus Lahires (2011a). Seine Konzeptualisierungen erfassen nicht nur die performativen Effekte der Theorien als Lebensstil-Ressourcen genauer, sondern sie weichen auch von einem allgemeinen Fokus auf Fragen der Reproduktion von sozialer Ordnung ab (vgl. Lahire 2003, S. 338). Statt dies erklären zu wollen, wird stärker auf die Prozesse innerhalb der Reproduktion und die daraus folgenden Änderungen fokussiert. Die Sozialstruktur selbst wird dabei eher als Kontext angesehen und dient nicht als endgültige Erklärung. Es geht neu darum, wie genau Handlungsmodi, Interaktionen, Reaktionen, Wertschätzungen, Orientierungen, Wahrnehmungen, Kategorisierungen und Weiteres von den Individuen übernommen werden (Lahire 2011a, S. 176). Diese Erklärungen können wiederum zurückgeführt werden, um zu verdeutlichen, wie Dispositionen zum Teil der sozialen Beziehungen werden, Strukturen stabilisieren und womöglich Ungleichheiten reproduzieren oder auch nicht.

Das Konzept der pluralen Akteur*innen ergänzt eine Lebensstilperspektive zusätzlich um eine bestimmte handlungstheoretische Ausrichtung. Neben dem bereits erwähnten Perspektivenwechsel in Bezug auf die Reproduktion sozialer Ordnung etabliert und erweitert Lahires Ansatz auch eine Kultursoziologie des Konsums. Konkret wird im Rahmen der symbolischen Merkmale eine wissenssoziologische Komponente stark gemacht. Das Auftauchen von Musik, Filmen, Belletristik oder eben auch theoretischen Texten in den Lebensstilen der Individuen wird nicht mehr nur als soziale Funktion und als Zeichen gelesen (vgl. Lahire 2011a, S. 94, 2011b, S. 41 f.). In den Fokus rückt nun, wie genau und mit welchen Dispositionen die Objekte von den Individuen aufgenommen und in welchen Situationen diese verwendet werden. Lahires Ansatz ermöglicht es damit, die „Resultate“ aus diesem Kulturkonsum mitzudenken, zum Beispiel welches neue Wissen durch die Verwendung der Ressourcen entsteht und wie sich dadurch Handlungen ändern. Die entsprechende Konzeptualisierung von Dispositionen sowie deren Entstehung, Anwendung, Veränderung und bewusste Änderung repräsentiert gleichzeitig eine Handlungstheorie. Die Abwesenheit einer solchen wird insbesondere bei einigen Ansätzen der Lebensstilforschung kritisiert (vgl. Otte 2004, S. 34; Otte und Rössel 2011, S. 12). Im weiteren Verlauf der Arbeit wird implizit eine Vielzahl von zusätzlichen Konzepten vorgestellt, die ebenfalls einer Handlungstheorie zuzuordnen sind (bevor dann erst die empirische Arbeit eine systematische Anwendung der verschiedenen Konzeptualisierung zulässt). Gleichzeitig kann jetzt bereits auf einen wichtigen Aspekt in Lahires Handlungstheorie hingewiesen werden.

Die Vorstellung der pluralen Akteur*innen und deren Potenzial für Reflexivität lässt sich in Einklang bringen mit der umfassenderen theoretischen Perspektive dieser Arbeit, nämlich dem Neo-Pragmatismus und der „Economie des conventions“ (Diaz-Bone 2018a). Dieser allgemeine Ansatz verfolgt nämlich eine Analyse unter der Prämisse der Pluralität und der teilweise widersprüchlichen Logiken, mit denen sich die Handelnden nicht nur konfrontiert sehen, sondern die sie auch bewusst navigieren können (vgl. Barthe et al. 2016, S. 214 f.). Eine Vorstellung von prä-reflexivem Habitus, wie sie in Bourdieus Überlegungen impliziert wird, ist damit kaum vereinbar (Boltanski 2003a; Diaz-Bone 2018a, S. 81). Gleichzeitig will der Neo-Pragmatismus eine Handlungsfähigkeit der Individuen nicht überbewerten (vgl. Peter 2011, S. 77; Wagner 2004). Vielmehr liegt das Interesse darin, diejenigen sozialen Prozesse zu erklären, durch welche die materiellen und kognitiven Voraussetzungen für die Handlungen geschaffen werden – egal ob diese reflexiv sind oder nicht. Hierbei treffen sich das (handlungstheoretische) Akteur*innen-Modell des Neo-Pragmatismus und dasjenige von Lahire. Das lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die dispositionale Erfassung von Handlungen beschreibt diese zwar nicht vollständig, sie führt aber eine gewisse Vorhersehbarkeit und Erklärbarkeit ein. Die Bestimmung von Dispositionen erlaubt es, in der Analyse das beobachtbare Verhalten der Akteur*innen mit den vergangenen Verhaltensweisen ins Verhältnis zu setzen. Damit kann verdeutlicht werden „wie – d. h. durch welche Prüfungen und Dispositive – die hier und jetzt zum Vorschein kommenden Tendenzen und Gewohnheiten sich mit der Zeit herausgebildet haben“ (Barthe et al. 2016, S. 216). Eine solche Verwendung des Habitus-Konzepts ist so vereinbar mit der neo-pragmatischen Soziologie (ebd.).

3.2 Felder und Kulturwelten: Theorien im sozialen Kontext der Kulturproduktion

3.2.1 Felder als soziale Kontexte der Kulturproduktion

Die Erläuterungen zum Habitus der Akteur*innen im vorhergehenden Unterkapitels [3.1] verweisen sowohl in Bourdieus ursprünglicher Formulierung als auch in der mit Hilfe von Lahire neu konzeptualisierten Weise darauf, dass Dispositionen in Bezug zu einem jeweiligen sozialen Kontext betrachtet werden müssen. Das heißt, es gilt zuerst, in einem deskriptiven Sinne die Bedingungen zu erfassen, welche eine Kulturproduktion sowie Resultate der Kulturproduktion und deren Konsumformen als symbolische Merkmale überhaupt erst hervorbringen. Aus der bourdieuschen Distinktionsperspektive heraus ist dann die Frage relevant, wie ein Zusammenspiel der Güterproduktion in diesem sozialen Kontext mit der Geschmacksproduktion im weiteren sozialen Raum zu erfassen ist (Bourdieu 1982, S. 362). Für Lahires Ansatz wiederum sind diese Bedingungen relevant, da sie den Rahmen zur Konstruktion der Habitus-Dispositionen bieten und die Aktivierung von Schemata genau nachvollziehen lassen (2011a, S. 26 f.): Erst der Bezug zu verschiedenen Kontexten und verschiedenen Positionen in einem Kontext führt dazu, dass Akteur*innen als plural bestimmt werden können (Lahire 2011a, S. 31). Das vorliegende Unterkapitel wird daher genutzt, um ein theoretisches Modell für die sozialen Kontexte zu erarbeiten, in denen Kulturprodukte realisiert werden.

Ausgangslage für die theoretische Konzeptualisierung ist die sogenannte Feldtheorie (Bourdieu 1983, 1993, 1999). Das von Bourdieu eingeführte Analysekonzept positioniert sich gegen zwei Annahmen, um ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Kulturproduktion zu etablieren. Auf der einen Seite reicht nämlich die Betrachtung der Resultate der Kulturproduktion selbst nicht aus, die insbesondere von Disziplinen wie der Kunstgeschichte oder der Literaturwissenschaft vorgenommen werden (vgl. Bourdieu 1998, S. 17 f.). In den Werken steckt keine essentialistische und universelle Realität, die direkt auf soziale Aspekte bezogen werden könnte. Auf der anderen Seite reicht es jedoch genauso wenig aus, die umfassenden sozialen Strukturen herbeizuziehen und die Resultate der Kulturproduktion in Bezug „zur Gesellschaft“ zu verstehen, wie dies etwa marxistische Kulturanalysen teilweise implizieren (ebd.). Denn eine solche Betrachtungsweise ignoriert die Handlungen der Akteur*innen in konkreten sozialen Situationen. Das Konzept des Feldes beschreibt nun ein „vermittelndes Universum“ (Bourdieu 1998, S. 18) zwischen den Produkten und der gesamten Gesellschaft. Im weiteren Verlauf des Unterkapitels [3.2.33.2.5] wird die feldtheoretische Perspektive Bourdieus wieder um weitere Ansätze ergänzt. Lahires Konzeptualisierungen verdeutlichen nämlich, dass der plurale Habitus von Akteur*innen nicht nur in Bezug zu einem Feld betrachtet werden kann (Lahire 2011a, S. 30). Vielmehr muss auch eine Beeinflussung der Dispositionen der Akteur*innen durch mehrere Felder und außerhalb von Feldern bedacht werden. Diese theoretische Prämisse des pluralen Habitus-Kontexts ist nicht zuletzt diejenige des Phänomens der Performativität: Theoretische Texte aus dem Feld der Wissenschaft werden von Akteur*innen außerhalb dieses Feldes verwendet, nämlich im Rahmen der Kulturproduktion. Trotz der benötigten Erweiterung weist die Feldtheorie eine Vielzahl von Konzeptualisierungen auf, die sowohl bei der Betrachtung der Kulturproduktion allgemein als auch bei der Betrachtung des Phänomens der Performativität nützlich sind (Martin 2003).

Grundsätzlich wird mit einer feldtheoretischen Perspektive sowie den damit verwandten Positionen versucht, die verschiedensten Aktivitäten und Bereiche einer modernen Gesellschaft zu ordnen. Diese Ordnung der sozialen Kontexte kann einerseits der Idee der Differenzierung folgen und damit die Herausbildung von funktionalen gesellschaftlichen Bereichen verdeutlichten (vgl. Lahire 2012, S. 411). Andererseits kann eine Verdichtung und Ballung von Praxis- sowie Diskursformen innerhalb eines bestimmten Feldes aufgezeigt werden, ohne dabei entsprechende funktionale Unterscheidungen ins Zentrum zu stellen (vgl. Reckwitz 2006, S. 51). Die differenzierungstheoretische Erklärungsweise liegt diversen Ansätzen klassischer und neuerer Soziologien zugrunde. So wird unter anderem feldtheoretisch aufgezeigt, dass sich mit der Entstehung einer gesellschaftlichen Moderne mehr und mehr Funktionen trennen, die zuvor gemeinsam abgelaufen sind (Witte 2014). Ein Beispiel für eine solche Entwicklung wäre etwa die Herausbildung eines „Kunstmarktes“: Im 17. Jahrhundert, so die verkürzte Erklärung, entstand ein gesellschaftlicher Teilbereich mit eigener Wertrationalität und einem Selbstbezug, durch den sich Künstler*innen vom Einfluss und der Abhängigkeit eines Mäzenatentums ablösten (vgl. Janz 2014, S. 118). Ziel einer solchen und vieler anderen „Ordnungen“ ist es allgemein, die Prozesse der Differenzierung und/oder Gruppierung der sozialen Aktivitäten gemeinsam mit der spezifischen Logik eines bestimmen gesellschaftlichen Bereichs oder eben Feldes zu betrachten.

Im Hinblick auf eine Ordnungsvorstellung repräsentiert die Verwendung der Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften im Rahmen der Kulturproduktion einen Aspekt, der theoretische Erwartung verwirft. Insbesondere diejenigen Ansätze, die Differenzierung in modernen Gesellschaften als den zentralen sozialen Prozess ausmachen (etwa Parsons 2009; Luhmann 1977, 1992, 2007), sehen sich nämlich mit einem Phänomen konfrontiert, das diesem zentralen Prozess entgegenläuft: Eine Logik, nämlich das Heranziehen von theoretischen Konzepten, wechselt scheinbar von einem gesellschaftlichen „System“ in ein anderes. Die wissenschaftliche Praktik wird Teil eines Kulturkapitalismus (Wirtschaftssystems), beeinflusst Wertvorstellungen von Kulturproduzent*innen (Kunstsystem) oder ist überhaupt nicht mehr exklusiver Teil eines gesellschaftlichen Bereichs, sondern wird zu einer Alltagspraktik der Individuen. Die mit dem Phänomen zusammenhängenden sozialen Prozesse sprechen gemäß einer Differenzierungslogik für eine Umkehrung des ursprünglichen Prozesses der Moderne (vgl. Böschen 2016, S. 54 f.). Aus der Performativität der Kultur- und Sozialwissenschaften könnten daher für die Differenzierungsperspektive schon fast „dramatische“ Konsequenzen folgen. Gleichzeitig ist es möglich, das Phänomen der Verwendung von Theorien in der Kulturproduktion in einer weniger dogmatischen Funktionslogik zu sehen (vgl. Böschen 2016, S. 53). Insbesondere neuere soziologische Konzeptualisierungen betonen nämlich statt eindeutiger Grenzen vielmehr den „konflikthaften, uneinheitlichen Charakter der Moderne“ und so eine „Logik der Grenzüberschreitung“ (Reckwitz 2004, S. 3).

Auch die Feldtheorie kann als ein Ansatz aufgefasst werden, der nicht einfach die (horizontale) Differenzierung von unterschiedlichen Funktionen in gesellschaftlichen Bereichen ins Zentrum rückt (vgl. Hillebrandt 2006, S. 337 f.; Böschen 2016, S. 55 f.).Footnote 7 Vielmehr werden mit dem Feldkonzept mindestens drei Interessen verfolgt, mit denen auch eine produktive Analyse des Phänomens der Performativität angedacht werden kann: (1) So stehen zunächst die Zusammenhänge von gesellschaftlichen Teilbereichen stärker im Fokus. Exemplarisch zeigt sich das in der von Bourdieu postulierten Beziehung zwischen „Kunst“ und „Markt“, die eine simple Gegenüberstellung von Ästhetik und Kapitalismus überschreiten und vielmehr auf Ausprägungen von Abhängigkeiten eingehen möchte (Bourdieu 1999; vgl. Kropf 2017, S. 3). Künstler*innen und diejenigen Institutionen wie Galerien und Verlage, welche die künstlerischen Arbeiten gemäß einer ökonomischen Logik verwerten, seien „Gegner und Komplizen zugleich“, die in ambivalenten Beziehungen zueinander stehen (Bourdieu 2015a, S. 107; vgl. Kropf 2017; Chiapello 2004). (2) Weiter gilt das Interesse des Erklärungsansatzes immer auch Dynamiken, also Fragen nach Bestand und Wandel der sozialen Ordnung. Dieser Schwerpunkt einer Feldtheorie wurde insbesondere von Neil Fligstein und Doug McAdam hervorgehoben (2012; vgl. Bartley 2021, S. 25). Die oben skizzierten Herausforderungen für einen Differenzierungsblick sind hier also eher Normalfall: Die Feldtheorie interessiert sich für die Formen und Mechanismen der Grenzveränderung zwischen Feldern und erklärt immer auch Verschiebungen in den Einflüssen innerhalb eines gesellschaftlichen Teilbereichs (vgl. Böschen 2016, S. 56). (3) Nicht zuletzt wird das Verhältnis zwischen Feldern und die jeweilige Grenzziehung nicht grundlegend theoretisch festgelegt. Es soll nämlich empirisch erfasst werden, wie die Verhältnisse und Prozesse zustande kommen. Die soziale Realität wird hierfür immer als fundamental relational betrachtet (vgl. Hilgers und Mangez 2015, S. 2; Diaz-Bone 2017a, S. 382). Mit dem Ansatz wird daher ein Interesse deutlich, wie ein Feld der Wissenschaft auf ein Feld der Kulturproduktion wirken könnte.

In Bourdieus allgemeiner Praxistheorie, wie sie in Bezug auf Lebensstile bereits ansatzweise dargestellt wurde (siehe [3.1.13.1.2]), stellt das Feldkonzept ergänzend zum Habitus ein zweites Strukturierungsprinzip für Handlungen dar (Bourdieu 1993, S. 107; Bourdieu und Wacquant 1996, S. 136). Ein jeweiliges Feld repräsentiert daher einen weiteren teilautonomen Subraum, der neben den sozialen Raum tritt und so mitverantwortlich ist für ein Wahrnehmen, Denken und Handeln der Individuen (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 49).Footnote 8 Im Sinne einer allgemeinen Feldtheorie zeigen sich die gesellschaftlichen Teilbereiche als eine Summe von Positionen und deren jeweiligen Macht und Einfluss (Bourdieu 1993, S. 107; Fuchs-Heinritz und König 2014, S. 111). Die Relationen dieser Positionen schaffen eine Struktur und damit ein soziales Kräftefeld. In den verschiedenen Feldern erfolgt daher ein „Kampf“ darum, wer Einfluss ausübt und wer über die Konsekrationsmacht verfügt. Letztere entspricht dem „Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien“ (Bourdieu 1999, S. 153). Die etablierten „Amtsinhaber“ (Fligstein und McAdam 2012) besitzen überdurchschnittlichen Einfluss in einem Feld, wodurch sich ihre Interessen und Ansichten in den Strukturen und Prozessen vertreten finden. Der Kampf im Feld zeigt sich sehr oft zwischen Amtsinhabern beziehungsweise „Herrschenden“ und den „Anwärtern auf die Herrschaft“ (Bourdieu 1993, S. 107). Die herausfordernden Akteur*innen, die sich in weniger privilegierten Positionen finden, formulieren alternative Visionen des Feldes und versuchen diese durchzusetzen (vgl. Fligstein und McAdam 2012, S. 13). Aus den Relationen des Kräftefeldes ergeben sich die Grenzen genauso wie die eigentlichen Möglichkeiten für die Handlungen der einzelnen Akteur*innen oder der Kollektive (Fligstein und McAdam 2012, S. 9). Deshalb repräsentieren die Felder eine eigene soziale Wirklichkeit als Subraum und bestimmen mit, wie sich die Individuen verhalten und sich dadurch wiederum positionieren (vgl. Hilgers und Mangez 2015, S. 10). Die gesellschaftlichen Teilbereiche werden daher immer auch als Praxisfelder verstanden: Es können die Passungen betrachtet werden, die zwischen den Schemata des Habitus aus der Sozialstruktur und demjenigen eines Feldes vorhanden sind beziehungsweise vorhanden sein müssen, um in den gesellschaftlichen Bereich eintreten zu können (Diaz-Bone 2010, S. 50). Darüber hinaus werden mit der Feldtheorie die Bedingungen betrachtet, unter denen (kulturelle) Produkte geschaffen werden. Die Felder sind daher auch Produktionsfelder (Diaz-Bone 2010, S. 50 f.), in denen ein materielles oder symbolisches Gut geschaffen wird. Damit geht es in den gesellschaftlichen Teilbereichen immer darum, zu koordinieren und zu mobilisieren. Während Bourdieu hierbei vor allem eine Dominanz einzelner Positionen ins Zentrum rückt, betonen andere Feldtheoretiker wie Fligstein und McAdam stärker die Rolle von Gruppen und deren gemeinsame Anstrengung und Kooperation (Fligstein und McAdam 2012, S. 18/25).

Neben den allgemeinen Mechanismen zeigen sich Unterschiede zwischen den Feldern. In den gesellschaftlichen Teilbereichen sind nämlich je eigene „Interessen und Interessensobjekte“ (Bourdieu 1993, S. 107) definiert und die Bereiche verfügen über bestimmte Werte und Ressourcen, mit denen feldspezifische Ziele angestrebt werden. Dadurch ordnen sich die verschiedenen Kapitalien (siehe [3.1.1]) in eine Hierarchie gemäß den Feldern, je nachdem welche Sorte welche Relevanz erlangt im sozialen Kontext. Die Kapitalien tauchen dabei als doppelte Ressource auf: sowohl im Sinne einer Grundlage für Handlungen als auch als umkämpfte Objekte (vgl. Bourdieu und Wacquant 1996, S. 128). Die Akteur*innen sind in den Feldern daher nicht einfach von äußeren Kräften bestimmte „Teilchen“, sondern Agent*innen, die gemäß ihrer zur Verfügung stehenden Kapitalstruktur und Kapitalvolumen über Möglichkeiten verfügen und eine bestimmte Agenda verfolgen (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 140). Für die Felder der Kulturproduktion gilt nun, dass im besonderen Maße das eigentlich unterliegende ökonomische, kulturelle oder soziale Kapital „verleugnet“ beziehungsweise „verneint“ wird (Bourdieu 1982, S. 39 ff., 2011; vgl. Diaz-Bone 2010, S. 52). Das heißt, dass der Besitz dieser Kapitalsorten weder als Quelle des Einflusses einer Position anerkannt wird, noch in einer offensichtlichen Weise deren Gewinnung angestrebt werden kann. In den Feldern der Kulturproduktion ist daher vor allem das sogenannte symbolische Kapital legitim: Es gilt, Prestige, Reputation oder Autorität anzustreben, „sich einen Namen zu machen“ (Diaz-Bone 2010) und diesen Einfluss zu nutzen. Das Verfügen über symbolisches Kapital ermöglicht eine „Konsekration“ (Bourdieu 1999): die Weihung von Kulturgütern mit einem Wert. Als Folge des Einflusses einer Position wird dieser Wert von den anderen Personen im Feld der Kulturproduktion anerkannt.

Anhand der Felder der Kulturproduktion wird so wiederum besonders deutlich, was für alle gesellschaftlichen Teilbereiche gelten kann: Jedes Feldes verfügt über eigene „Spielregeln“, die Außenstehenden unzugänglich und unverständlich sein mögen. Insbesondere in der wissenschaftlichen Betrachtung eines solchen sozialen Kontextes können gewisse Funktionsweisen eines Felds als „illusio“ beschrieben werden, als eine Täuschung der im Feld tätigen Akteur*innen. Innerhalb von Feldern kann hingegen von einer „croyance“ gesprochen werden, einem Glauben an die Feldprozesse: Die Akteur*innen werden dazu bewogen, nach der Logik des Feldes zu handeln und Entscheidungen gemäß des darin vorliegenden Interpretationsrahmens zu treffen (Bourdieu 1999, S. 36). Sie sind sich zwar ihrer Position und des daraus resultierenden Verhältnisses bis zu einem gewissen Grad bewusst. Trotz des „Kampfes“ um die Positionen stimmen die Akteur*innen aber dahingehend überein, was genau im Feld erfolgt, welche Regeln befolgt werden sollen sowie was als Ressource hinzugezogen wird (vgl. Fligstein und McAdam 2012, S. 10 f.). In den Konflikten wird daher das Bestehen des Feldes selbst nie infrage gestellt (Bourdieu 1993, S. 109) und es zeigt sich eine Art „stillschweigende Anerkennung des Wertes der Interessenobjekte der Felder“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 149). All dies erfolgt, ohne dass Regeln eindeutig ausformuliert werden müssten. Das gemeinsame Verständnis sowie der kollektive Glaube an dieses Verständnis bestimmen, wie die Dinge, Personen und Handlungen einen Wert erhalten (Bourdieu 1982, S. 389; Fligstein und McAdam 2012, S. 10 f.; vgl. Diaz-Bone 2010, S. 56). Dort, wo diese Feldlogiken nicht angenommen werden, wo sie nicht mehr funktionieren, zeigt sich die Grenzen eines Feldes (vgl. Bourdieu und Wacquant 1996, S. 130 f.).

3.2.2 Performativität und die (Un-)Abhängigkeit von Feldern

Von zentraler Bedeutung für die Herausbildung als auch für die Funktion eines Feldes stehen immer die Fragen nach der Abhängigkeit und Unabhängigkeit eines gesellschaftlichen Teilbereichs. Grundsätzlich kann die Emergenz eines Feldes erfolgen, wenn zwei Akteur*innen-Gruppen einen zuvor unorganisierten sozialen Kontext besetzen (vgl. Fligstein und McAdam 2012, S. 109). Aufgrund von fehlenden Regeln oder gemeinsamen Verständnissen finden sich die beiden Parteien zuerst in einer unsicheren Lage. Zu Beginn des Prozesses für die Etablierung eines Feldes bilden die Akteur*innen daher neue Interaktionsformen auf der Grundlage gemeinsamer Gruppeninteressen aus. Als Reaktion auf wahrgenommene Chancen, Gefahren oder Möglichkeiten in diesem sozialen Bereich werden über die neuen Interaktionen von den beiden Parteien eigene soziale Beziehungen, Identität und normative Vorstellungen geschaffen (vgl. Fligstein und McAdam 2012, S. 91 f.). Damit diese Übereinkünfte in Bezug auf Koordination, Vorgehen oder Ziel eine eigene Logik repräsentieren und sich zu einem Feld entwickeln können, muss der entsprechende soziale Bereich ein gewisses Maß an Autonomie erlangen: Es gilt, die eigenen „Spielregeln“ nicht nur festzulegen und zu stabilisieren, sondern auch unabhängig von anderen Interaktionsformen zu machen (vgl. Fligstein und McAdam 2012, S. 94 f.). Das Einfordern der eigenen Definitionen ist die kritische Phase in der Herausbildung eines Feldes (Bourdieu 1999, S. 104). Zudem geht die Autonomisierung von Aktivitäten in einer bestimmten Sphäre mit der Herausbildung der zentralen Positionen der Konsekration einher: Sie bestimmen legitime Interpretationen von Praktiken, formalisieren Handlungsschemata und entwickeln ein System von Normen (Hilgers und Mangez 2015, S. 6). Mit einer Entwicklung von Unabhängigkeit zeigt sich schlussendlich, welche Ressource im Feld als relevant angesehen wird.

Die Autonomie eines Felds ist vorhanden, wenn dessen Handlungs- und/oder Produktionslogiken nicht mehr gemäß externen Maßstäben und anderen Kapitalstrukturen funktionieren, sondern einer Anwendungs- und Akkumulationslogik des im Feld zentralen Kapitals folgen (vgl. Witte 2014, S. 162). Die herausgebildeten und stabilisierten Kriterien, die Handlungen und Produktion anleiten und Relationen im Feld bestimmen, führen dazu, dass Akteur*innen ihre Realität mehr und mehr aufgrund der geteilten Prinzipien im Feld wahrnehmen. Als letzte Konsequenz der autonomen Funktionslogiken schottet sich das Feld nach außen hin ab: „Je mehr sich ein […] Raum verselbstständigt, desto mehr entwickelt er eine eigene Logik, desto mehr tendiert er dazu nach den dem Feld inhärenten Interessen zu funktionieren, und desto größer wird der Bruch mit den Laien“ (Bourdieu 2001, S. 47). Der Zugang zum Feld wird schwieriger, da die Autonomie verschiedene Eintrittshürden etabliert. Als Folge der neuen Praktiken, den „wechselseitigen Verständnisbarrieren“ (Fuchs-Heinritz und König 2014, S. 116) und dem erschwerten Zugang im Sinne einer „Eintrittsgebühr“ findet der im Zitat erwähnte Bruch statt und zeigt sich als „Brechungseffekt“ (Bourdieu 1999, S. 349). Das heißt, dass die Akteur*innen auch feldexterne Phänomene gemäß den Ansätzen, Logiken und Vorstellungen des gesellschaftlichen Teilbereichs ableiten, übersetzen und interpretieren – sowohl gemäß dem Feld allgemein als auch gemäß ihrer Position darin. Weiter konstituieren die dominanten Positionen ein eigenes Wissen im Feld, was die Abschottung vorantreibt (vgl. Hilgers und Mangez 2015, S. 7): Es erfolgt eine bestimmte Historisierung der Feldentwicklung und es herrscht ein Bewusstsein für den eigenen, geschichtlichen Verlauf. Schlussendlich zeigt sich eine Unabhängigkeit des Feldes im Entstehen von Institutionen, welche die verschiedenen Praktiken und die Positionen auf Dauer ermöglichen (vgl. Bongaerts 2015, S. 103).

Der beständige Autonomisierungsprozess kann nochmals in spezifischer Weise für Kulturproduktion beschrieben werden. Das zuvor erwähnte Bewusstsein für die eigene Feldgeschichte ermöglicht bei Feldern allgemein, dass der Erwerb der Eintrittsbedingungen in den gesellschaftlichen Teilbereich bestimmt wird. Für die Kulturproduktion impliziert dies Folgendes: Wenn ein Kunstwerk von einer Person erst dann „korrekt“ interpretiert werden kann, wenn sie die Geschichte eines Produktionsfeldes kennt (Bourdieu 1993, S. 111; vgl. auch Diaz-Bone 2010, S. 54), dann repräsentiert das eine Eintrittshürde in das Feld (und das fehlende Verständnis ist ein Feldeffekt). Die Historisierung führt nicht nur zu symbolischen Eintrittshürden, sondern es werden auch stilisierende Selbstbezüge möglich (und die beiden Aspekte bedingen sich gegenseitig, Diaz-Bone 2010, S. 54). Die fortschreitende Autonomisierung der Kulturproduktion wird daher feldtheoretisch als etwas aufgefasst, das zu einem verstärkten Fokus auf formal-abstrakte Ästhetiken führt. Diese Vorstellungen, die sich etwa im Ausdruck „l’art pour l’art“ zusammenfassen lassen, bestimmen vermehrt den Wert von Kulturprodukten und es erfolgt ein Streben nach „Reinheit“ (vgl. auch Bourdieu 2007, S. 70; Diaz-Bone 2010, S. 53). Anstelle von externen Funktionen wie etwa ein Unterhaltungswert für viele Personen, eine Musik zum Tanzen oder auch ein finanzieller Erfolg wird immer mehr ein „internes“ Spiel mit Formen angestrebt (vgl. Bourdieu 1999, S. 134).

Werden nun die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien im Rahmen von Kulturproduktion verwendet, lassen sich erste feldtheoretische Schlussfolgerungen ziehen. Diese können anhand von zwei Dimensionen der Felder geordnet werden können: Zuerst kann danach gefragt werden, ob die Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften von den dominanten Positionen im Feld oder den dominierten Positionen verwendet werden (vgl. Bourdieu 2011, S. 175 f.). Räumlich betrachtet geht es hierbei um eine vertikale Dimension im Feld, die den Besitz von symbolischem Kapital unterscheidet (als Pendant zum Kapitalvolumen im sozialen Raum, vgl. Bourdieu 1993, S. 186). Werden die Konzepte von den „oberen“ und dominanten Positionen im Feld verwendet, so würde dies eher auf eine fehlende Autonomie hinweisen: Das Streben nach Unabhängigkeit mithilfe des symbolischen Kapitals und in Bezug auf eine „Reinheit“ der Prozesse der Kulturproduktion ist konzeptionell schwer vereinbar mit der Verwendung einer Ressource aus einem anderen Feld. Um eine Autonomie trotzdem anzunehmen, könnte einerseits der Brechungseffekt betrachtet werden, der eine eigene Verwendung der Theorie im Feld der Kulturproduktion aufzeigen würde. Anderseits könnte die strategische Verwendung der theoretischen Konzepte als Teil der Historisierung des eigenen Feldes aufgefasst werden. Wäre die Verwendung der theoretischen Konzepte hingegen ein Merkmal der dominierten Positionen „unten“ im Feld, dann könnte weiterhin die Autonomie des Bereichs der Kulturproduktion angenommen werden. Die aufstrebenden Avantgarden (vgl. Kropf 2018, S. 188) würden dann die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaft als Mittel ansehen, mit dem die dominanten Positionen und deren Konsekrationsweisen herausgefordert werden könnten.

Die Abbildung [Abb. 3.1] fasst die Überlegungen zur ersten Dimension zusammen und verweist bereits auf die weiteren Konzeptualisierungen. Die Interpretationsweise wird im Folgenden insofern erweitert, als dass nicht mehr nur bestimmt wird, ob eine Autonomie für das ganze Feld entweder eher vorhanden ist oder nicht. Unabhängigkeit zeigt sich nämlich innerhalb desselben Feldes in einer Abstufung. Die in der Abbildung ersichtliche und nun weiter zu erläuternde zweite Dimension verdeutlicht diese relative Autonomie des Feldes. Sie ist der zweite „zentrale Gegensatz“ (Bourdieu 1999, S. 190) aufgrund des Besitzes von symbolischem Kapital und der damit ermöglichten Konsekration. Hierbei wird auf einen heteronomen und einen autonomen Pol verwiesen: Bei ersterem sind es andere Felder, die Anforderungen stellen und Einfluss auf die „Spielregeln“ nehmen. So können Kunstbereiche eben nicht nur nach einer „L’art-pour-l’art“-Maxime funktionieren (unabhängig von der Frage, wie viel symbolisches Kapital damit generiert wird), sondern auch anderen Logiken folgen (vgl. Bourdieu 1999, S. 198). Diesem Pol werden insbesondere populäre Formen der Kulturproduktion zugeordnet, die einen ökonomischen Erfolg erlangen (vgl. Bourdieu 1999, S. 198). Die entsprechenden Feldproduzent*innen können jedoch weniger symbolisches Kapital akkumulieren und verfügen nicht über dieselbe Konsekrationsmacht wie die kulturellen und symbolisch dominanten Positionen (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 53). Letztere lassen sich wiederum eher am autonomen Pol verorten. Die dortigen Akteur*innen sind in ihren Praktiken nur durch die Logik des Feldes bestimmt. An diesem Pol, so die gängige Auffassung (Bourdieu 1999, S. 135), finden sich Personen, die im Besitz von viel kulturellem Kapital sind, während sie gleichzeitig aber „wirtschaftlich beherrscht“ werden (ebd.). Als Konsequenz ihrer Autonomie und der entsprechenden „reinen“ Produktion sind ihre Werke nämlich nicht für eine breite Masse interessant und können (zumindest kurzfristig) nicht in einem großen Ausmaß verkauft werden (Bourdieu 1999, S. 137). Deshalb sind die entsprechenden Akteur*innen auf ökonomisches Kapital aus anderen Bereichen angewiesen (ebd.). Anstelle einer Einschätzung der Autonomie des Feldes insgesamt, wird mittels der zweiten Dimension nun gefragt, an welchem Pol die theoretischen Texte auftauchen. Deren Auftreten am heteronomen Pol würde auf einen Einfluss der Kultur- und Sozialwissenschaften in der wirtschaftlichen Produktion verweisen, die dann indirekt auf den ökonomisch-dominanten Pol eines Feldes wirken würde. Wären die Konzepte Teil des kulturellen Pols, könnte die entsprechende Logik ebenfalls als heterogen konzeptualisiert werden (siehe unten), statt hier per se eine rein autonome Produktion anzunehmen.

Abb. 3.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bourdieu 1983, S. 329; vgl. Hilgers und Mangez 2015, S. 9/12)

Vereinfachte Darstellung eines Feldes in Bezug auf Theorieverwendung durch die Agent*innen

Diese Überlegungen verdeutlichen, dass die Autonomie eines Feldes insgesamt als auch der Positionen innerhalb eines gesellschaftlichen Teilbereichs relativ ist (Hilgers und Mangez 2015, S. 8). Diese Situation der (Un-)Abhängigkeit wird von Autoren wie Fligstein und McAdam teilweise detaillierter konzeptualisiert als in Bourdieus Formulierung der Feldtheorie. Sie weisen auf drei Gegenüberstellungen hin, die Hinweise auf die gegenseitigen Beeinflussungen von Feldern geben können (Fligstein und McAdam 2012, S. 18/59 ff.): (1) Als erste Gegenüberstellung können im Verhältnis der Felder entfernte und sich nahestehende, gesellschaftliche Bereiche unterschieden werden. Letztere verfügen über zahlreiche Verknüpfungen miteinander. Entfernung zeigt sich hingegen darin, dass gar nicht erst die Möglichkeit besteht, dass ein Feld Einfluss auf ein anderes nehmen kann. (2) Die zweite Gegenüberstellung unterscheidet ebenfalls einen autonomen und einen heteronomen Pol. Letzteren konzeptualisieren die beiden amerikanischen Soziologen aber in einer Variante, die Bourdieus Ansatz ergänzt (Fligstein und McAdam 2012, S. 59): Der heteronome Pol kann nämlich nicht nur durch die Dominanz eines anderen Feldes bestimmt werden. Eine Beziehung zwischen Feldern kann auch im Sinne einer reziproken und voneinander abhängigen Kooperation bestehen. Dies bedeutet, dass zwei heteronome Pole gesellschaftlicher Bereiche sich gegenseitig und in vergleichbarer Weise beeinflussen. (3) Als dritte Gegenüberstellung führen Fligstein und McAdam diejenige zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Feldern ein. Ihre These hierfür ist Folgende: Die gesellschaftlichen Bereiche im Zusammenhang mit dem Staat verfügen in der Organisation der Moderne über besonderes Potenzial, um Einfluss auf andere Felder zu nehmen (Fligstein und McAdam 2012, S. 71). Agent*innen aus diesen Feldern besetzen oft allgemeinere Schnittstellen, sind übergeordnete Regulierungsinstanzen oder vergeben ökonomische Ressourcen an diverse Teilbereiche der Gesellschaft, wie dies etwa bei der staatlichen Kulturförderung erfolgt. In vergleichbarer Weise konzeptualisiert Bourdieu ein sogenanntes „Feld der Macht“, bei dem unter anderem staatliche Einflussnahme sichtbar wird (Bourdieu 2004).Footnote 9 Dieses konstituiert nicht nur einen weiteren gesellschaftlichen Teilbereich wie alle andern, sondern ist in einer exponierten Position und bildet ein externes Prinzip für Hierarchien, das andere Felder mitstrukturiert (Bongaerts 2015, S. 145).

Die ergänzenden Konzeptualisierungen zur gegenseitigen Beeinflussung von Feldern lassen sich wiederum auf das Phänomen der Performativität der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien übertragen. Aus den Überlegungen von Fligstein und McAdam (2012) folgt etwa, dass das betrachtete Feld der Kulturproduktion grundsätzlich verschiedenste Verknüpfungspunkte zum Feld der Wissenschaft aufweisen sollte (damit überhaupt ein Einfluss des einen Feldes auf das andere erfolgen kann). Weiter kann bei der Verwendung der theoretischen Konzepte am autonomen Pol des Feldes nach möglichen Kooperationsformen mit der Wissenschaft gesucht werden, die im Sinne einer Reziprozität funktionieren. Eine Form der hierarchischen Abhängigkeit könnte wiederum im Bezug der Kulturproduktion zu staatlichen Stellen, etwa durch Kulturförderung, gesucht werden. Den bisherigen feldtheoretischen Implikationen folgend ist nämlich die Verwendung der Theorien eher am kulturell-dominanten beziehungsweise ökonomisch-dominierten Pol zu erwarten, weshalb die Akteur*innen auf andere finanzielle Einnahmen als diejenige durch Verkäufe angewiesen sein könnten (z. B. Kulturförderung). Der mögliche Einfluss dieses „Feldes der Macht“ bietet zudem eine Möglichkeit, die Verwendung von Theorien in einer weiteren Weise zu konzeptualisieren:

[T]he question remains if the state does not leave a mark on the artistic realm itself. For many artists, government funding makes up an essential part of their livelihoods. If we link state support for the arts to Bourdieu’s conception of the artistic field as a place of continuous struggle between autonomous and heteronomous principles of hierarchization (Bourdieu 1983; [1999]), dependence on government support may bring in heteronomous (i. e., field-external) justifications in the same way that the market impresses economic criteria onto the artistic field. However, the effects of state support on the arts have received considerably less empirical attention than the encroaching role of the market. (Peters und Roose 2020, S. 953)

Die Verwendung der Theorien kann theoretisch als Folge einer solchen staatlichen Einflussnahme erfasst werden. Um die entsprechende Fördergelder zu erhalten, könnten die Akteur*innen am autonomen, aber eben ökonomisch-dominierten Pol des Feldes auf die theoretischen Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften zurückgreifen. Sie würden dann eine Ressource zur Rechtfertigung nutzen, um die eigene Kulturproduktion als förderungswürdig zu präsentieren (Peters und Roose 2020, S. 961). Als Folge dieser Rechtfertigungsweise wäre dann der kulturelle und scheinbar autonome Pol ebenfalls von heteronomen Hierarchisierungen beeinflusst.

Das Beispiel des Einflusses von staatlicher Kulturförderung (Alexander 2018) verweist darauf, dass nicht nur feldinterne Prozesse zu Veränderungen der Autonomie eines gesellschaftlichen Teilbereichs betrachtet werden müssen. Zwar müssen diese nachvollzogen werden, indem die Feldgeschichte als Entwicklung zwischen den dominanten und dominierten sowie den autonomen und heteronomen Polen betrachtet wird. Insbesondere in der Kulturproduktion wird so eine Abfolge von „Schulen“ ersichtlich, bei der ästhetische Veränderungen als permanente kulturelle Revolutionen aufgefasst werden (Diaz-Bone 2010, S. 53; vgl. Bourdieu 2007, S. 70). Das Potenzial für Änderungen in einem Feld kann aber auch allgemeiner erfasst werden im Rahmen von sogenannten „Episoden der Auseinandersetzungen“ (Fligstein und McAdam 2012, S. 21 f.), also Zeiten von Krisen und Unsicherheiten. Hierbei bilden die beständigen endogenen Veränderungen innerhalb eines gesellschaftlichen Teilbereichs nur die eine Möglichkeit. Bei diesen werden die „normalen“ Felddynamiken wie etwa Dominanz einer Schule überspannt, nutzen sich ab, wodurch ein Schwellenwert für deren Funktionen überschritten wird und sie außer Kraft gesetzt oder hinterfragt werden können (Fligstein und McAdam 2012, S. 102 f.). Daneben gilt es, die Auseinandersetzungen auch als Folge von exogenen „Schocks“ anzusehen (Fligstein und McAdam 2012, S. 99): Die Etablierung von staatlicher Kulturförderung kann einen solchen Schock repräsentieren, da eine neue Abhängigkeit des Feldes geschaffen wird.Footnote 10 Andere Schocks können durch neue Akteur*innen-Gruppen oder durch einschneidende Makroevents ausgelöst werden (ebd.). Ein Beispiel für Letzteres wäre die COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 (Gamba et al. 2020), in Folge derer sich die Kulturproduktion über kurze Zeit fundamental anpassen musste. In den aus endogenen und exogenen Entwicklungen folgenden Episoden der Auseinandersetzungen besteht Unklarheit hinsichtlich der Regeln oder Machtverhältnisse in einem gesellschaftlichen Teilbereich. Wirkliche Wendepunkte entstehen aber erst dann, wenn es den zentralen Positionen im Feld nicht mehr möglich ist, ihren Einfluss zu reproduzieren (vgl. Fligstein und McAdam 2012, S. 111). Die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturproduktion ist daher auch im Zusammenhang mit diesen Episoden der Auseinandersetzungen zu betrachten, die sowohl in Bezug zu feldinternen als auch feldexternen Prozessen auftauchen können.

3.2.3 Von den Feldern zu den sozialen Welten der Kulturproduktion

Die Perspektive der Feldtheorie versucht die Verhältnisse der gesellschaftlichen Teilbereiche nicht a priori festzulegen und sieht es als empirische Aufgabe, „bei jedem Feld nach seinen Grenzen, seinem Zusammenhang mit den anderen Feldern usw.“ zu suchen (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 142). Fragen nach der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit, wie sie im Zusammenhang mit dem Phänomen der Performativität deutlich werden, können daher immer aufs Neue formuliert werden. Mit dieser offenen Ausgangslage muss die Feldtheorie aber konzeptionell erweitert werden, um die sozialen Kontexte für Kulturproduktion detaillierter zu erfassen. Die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturproduktion verweist nämlich auf die gegenseitige Beeinflussung und Ergänzung der Felder sowie auf eine mögliche Gleichzeitigkeit, bei der Akteur*innen in mehreren Feldlogiken operieren und diese Logiken von einem zum anderen Feld übertragen. Eine solche mit Lahire festgestellte und erläuterte Pluralität (Lahire 2010, S. 446; siehe [3.1.43.1.5]) erfordert eine Erweiterung der Feldtheorie. Insbesondere Bourdieus Ansatz weist die Tendenz auf, diejenigen Aktivitäten zu ignorieren, die nicht feldkonform organisiert sind. Dies wird in einer „banalen“ Weise beim Einfluss von Haushaltstätigkeiten im Feld deutlich (vgl. Lahire 2015, S. 75), scheint aber auch bei wissenschaftlichen Theorien als Lebensstil-Ressourcen der Fall zu sein. Beides ist nur schwer mit dem theoretischen Werkzeug der Feldtheorie zu erfassen. Denn ein solches Verhalten ist teilweise frei von den Machtfragen, die in einer Feldlogik gelten (vgl. Lahire 2011a, S. 30). Gleichzeitig haben diese Handlungen „von außerhalb“ einen Einfluss auf ein Geschehen und die Tätigkeiten in einem Feld: Aufgaben im Haushalt können dazu führen, dass im beruflichen Feld etwas nicht mehr ausgeführt werden kann, und ein Theoriestudium kann zu Veränderungen in der Kulturproduktion führen. Theoretisch erfassbar ist ein solcher Einfluss feldtheoretisch bisher noch nicht (vgl. Lahire 2015; Schwegler i. E.).

Die Problematik entsteht insbesondere deshalb, da die Feldtheorie die Individuen in ihrem Akteur*innen-Status auf die Agentschaft in einem sozialen Feld reduziert (vgl. Atkinson 2020, S. 4). Daraus folgen nämlich einige theoretische „Probleme“: Der Ansatz findet etwa nur schwer Erklärung für Laien- oder Hobby-Aktivitäten in einem gesellschaftlichen Teilbereich. Diese mögen zwar nicht in der Lage sein, die Regeln des Feldes zu definieren. Deren reine Konzeptualisierung als „dominiert“ würde aber einen möglichen Einfluss weitestgehend ignorieren. Insbesondere in den Feldern der Kulturproduktion finden sich immer auch Laiinnen und Laien, die Prozesse mitgestalten, während sie gleichzeitig nicht in dem Sinne von der „illusio“ des Feldes eingenommen worden sind, als dass sie hauptsächlich nach symbolischem Kapital streben würden (Lahire 2015, S. 73; vgl. Kaitajärvi-Tiekso 2018). Wissenschaftlerinnen können Laiinnen im Feld der Kulturproduktion sein, und Kulturproduzenten können wissenschaftsinteressierte Laien sein.Footnote 11 In vergleichbarer Weise wird mit dem Ansatz der Feldtheorie „ignoriert“, dass in der sozialen Realität Akteur*innen auftauchen, die in mehr als einem gesellschaftlichen Bereich tätig sind: die sich „diachron“ als auch „synchron“ in mehreren, gesellschaftlichen Teilbereichen aufhalten (Lahire 2010, S. 447; vgl. auch Bowker und Star 1999, S. 300 ff.). Feldzugehörigkeit kann sich im Laufe einer Karriere verändern oder Personen sind in mehreren Bereichen tätig. Etwaige Überschneidungen werden zwar mit der Frage der Übertragung von Kapitalien (vgl. Bourdieu 1993, S. 108) oder als „Transfergewinne“ (Diaz-Bone 2010, S. 404) im Ansatz Bourdieus diskutiert. Die Gleichzeitigkeiten dürfen aber nicht als Ausnahme, sondern eher als Normalfall angesehen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Felder der Kulturproduktion betrachtet werden. Sie ermöglichen nämlich oftmals kein „Vollzeit-Engagement“ in einem primären Feld, mit dem ein Lebensunterhalt verdient werden könnte. Die Akteur*innen sehen sich oftmals gezwungen, auf eine weitere Einkommensquelle zurückzugreifen, was oftmals eine Agentschaft in einem weiteren Feld bedingt (vgl. Lahire 2015, S. 82 ff.). Zusammengefasst ignoriert die Feldtheorie „the ceaseless transitions made by agents belonging to a field between the field in which they are producers, the fields in which they are mere consumer-spectators and the many situations that cannot be related to a field reducing actors to their being-as-ember-of-a-field” (Lahire 2011a, S. 30).

Neben der von Lahires pluralem Habitus-Konzept abgeleiteten Kritik gilt es, auf einen weiteren, den Ansatz der Feldtheorie einschränkenden Punkt hinzuweisen: die Konzeptualisierung von „Wert“ (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 68; Schwegler i. E.). Im Rahmen des Ansatzes wird Wert nämlich vor allem über Gegensätze erfasst: Es findet sich eine autonom-reine Logik, die einer heteronom-fremdbestimmten Logik gegenübersteht. Jedoch haben neuere kunstsoziologische Arbeiten aufgezeigt, wie das Streben nach autonomen Produktionsweisen als Experimente mit Form und Inhalt auch dazu führen kann, die Grenzen des Feldes selbst zu überschreiten und mit Ressourcen aus anderen Feldern zu experimentieren (Heinich 2014). Wert kann daher nicht mehr nur über die erläuterte Gegensätzlichkeit bestimmt werden. Weiter verortet die Feldtheorie die Resultate der Kulturproduktion in Abstufungen gemäß ihrer gesellschaftlichen Legitimität (vgl. Kropf 2018, S. 197). Diese ergibt sich aus der Homologie der verschiedenen Räume: des Sozialraums, des Raums der Lebensstile und der Felder als Subräume. Was gesellschaftlich in welcher Form von Bedeutung ist, wird durch die horizontalen und vertikalen Hierarchien des sozialen Raums bestimmt (Bourdieu 1982, S. 365).Footnote 12 Es sind daher vor allem zwei Dimensionen, in denen Kulturproduktion wertend angeordnet sind. Doch genauso wie die verschiedenen Handlungskontexte die Tätigkeiten eines Feldes beeinflussen – diejenigen Kontexte ohne und außerhalb einer Feldlogik, die Laienkompetenzen sowie die Gleichzeitigkeiten und verschiedenen Formen von Heteronomie –, so resultieren daraus auch verschiedene Möglichkeiten, diese Tätigkeiten in den Feldern zu bewerten. Ein Wert, der lediglich gemäß den objektiven sozialen Eigenschaften von Personen die Resultate der Kulturproduktion differenziert, kann daher kaum die gegebene Komplexität erfassen (vgl. Boltanski 2003a; Diaz-Bone 2010, S. 68, 2011, S. 17 f.).

Damit wird deutlich, dass die Feldtheorie die Fragen nach der Wertigkeiten und der Wertzuschreibung in der Kulturproduktion noch nicht ausreichend beantwortet. Sie stellt nämlich vor allem die Erklärung des kollektiven Glaubens an die Wertzuschreibung ins Zentrum. Sie erfasst hingegen nicht, wie diese jeweilige Anerkennung genau zu konzeptualisieren sei und was der konkrete „Glaubensinhalt“ ist (Diaz-Bone 2010, S. 56). Ebenfalls wird kaum konzeptualisiert, wie sich diese Prozesse in den Produktionsweisen manifestieren. Die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien durch die gesellschaftlichen Akteur*innen muss jedoch in Hinblick auf diese beiden Aspekte betrachtet werden. So impliziert ein generisch performativer Effekt, dass die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften für die Bestätigung der Glaubensvorstellungen genutzt werden. Sie werden Teil von einem weiteren Prozess, über den ein Kulturprodukt im sozialen Kontext von den Akteur*innen als „authentisch“ qualifiziert wird (Bessy und Chateauraynaud 1995, 2019), als das „reale“ Resultat der Kulturproduktion gilt und nicht nur als irgendwas, dem keine Konsekration zuteilwerden kann. Gegenperformativitäten und Retroaktionen wären demnach die entsprechenden Abwehrreaktionen zu diesen theorieinformierten Konsekrationsweisen. Auch die Feldtheorie selbst kann zu einem Teil einer solchen Konsekration von etwas „Echtem“ im Feld werden: „The Bourdieusian approach to artistic autonomy and differentiation processes has dominated the understanding of artistic autonomy for a long time. In arts management, one could also claim that it has created some normative guidelines for artistic decision making“ (Kleppe 2018, S. 202). Verschiedene theoretische Konzepte müssen daher als Grundlage für vorhandene sowie neue Wertzuschreibungen aufgefasst werden. Um dies zu analysieren, muss auf die „Glaubensinhalte“ Bezug genommen werden können. Weiter müssen die Konsequenzen dieser Glaubensinhalte für die Produktionen erfasst werden können, um stärkere performative Effekte zu beschreiben.

Als nächster theoretischer Schritt wird eine Perspektive dargestellt, mit der konkreter auf kleinere Einheiten von Felder eingegangen werden kann (Diaz-Bone 2010, S. 137). Diese Einheiten können zunächst grundsätzlich als „soziale Welten“ (Strauss 1978) aufgefasst werden, um sie anschließend konkreter als „Kulturwelten“ zu bestimmen (Crane 1992). Der allgemeinere Welten-Begriff bezeichnet soziale Zusammenhänge von unterschiedlicher Größe, die ein bestimmtes Eigenleben aufweisen und bei denen die Teilnehmer*innen ein gemeinsames Verständnis von etwas schaffen (Strauss 1978, S. 122; vgl. Clarke et al. 2018, S. 148). Dieses Etwas ist (mindestens) eine geteilte Aktivität, die an einem bestimmten Ort stattfindet und gewisse Technologie nutzt, also Arten und Weisen, wie die Aktivität ausgeführt wird. Über den zeitlichen Verlauf einer sozialen Welt können deren Aspekte mehr und mehr institutionalisiert werden und es entwickeln sich womöglich Organisationen. Zudem weisen soziale Welten gemeinsame Diskurse darüber aus, was ihre Angelegenheiten sind. Durch diese Verdichtungen von Handlungen, Kommunikation und Interaktion entsteht eine gemeinsame Identität (vgl. Zifonun 2012, S. 246). Trotzdem sind die Individuen in der Regel Teil von mehreren sozialen Welten gleichzeitig und führen deren unterschiedliche Aktivitäten aus, was zu fließenden Übergängen führt (Clarke et al. 2018, S. 148).

Die theoretische Ausrichtung auf soziale Welten verdeutlicht einige Unterschiede zur bourdieuschen Feldtheorie (vgl. Becker und Pessin 2006, S. 277 f.): Grundsätzlich wird bei der Betrachtung von sozialen Welten ein größeres Interesse für Details deutlich. Es geht um das Nachvollziehen der gemeinsamen und gegenseitig bedingten kollektiven Aktivität. Der zentrale Mechanismus, dem die Akteur*innen folgen und der im Zentrum dieser Perspektive steht, ist nicht Dominanz (bzw. der „Kampf“ um symbolische Anerkennung). Vielmehr soll ein sozialer Wandel nachvollzogen werden und dabei die „Kreativität“ der Akteur*innen in diesem Wandel verdeutlicht sowie die Situiertheit und Kontingenz der Prozesse betont werden (Strauss 1978, S. 120; Clarke und Star 2008, S. 113). Aus diesem Interesse folgt weiter die Annahme, dass die sozialen Welten sich immer überschneiden. Deshalb können noch weniger eindeutig Grenzen einer sozialen Welt festgelegt werden, sondern es bleibt eine analytische Entscheidung, was alles zur gemeinsamen Aktivität beiträgt und zur Welt gehört (Becker und Pessin 2006, S. 278). Die Raummetapher des Feldes kann daher nicht mehr in derselben Weise genutzt werden. Zudem wird bei der Betrachtung einer sozialen Welt kaum auf unterschiedliche Logiken innerhalb derselben Welt eingegangen, wie dies die verschiedenen Pole eines Feldes verdeutlichen. Dies wäre zwar theoretisch möglich, aber im Fokus steht immer die „zentrale“ Gestaltung der gemeinsamen Aktivität der sozialen Welt.

Mit dem Begriff der Kulturwelten werden diejenigen sozialen Welten erfasst, die eine bestimmte Kulturproduktion als ihre zentrale Aktivität ansehen. Bereits sehr früh hat Howard Becker das Konzept der sozialen Welten genutzt, um die Herstellung von Kunst soziologisch zu betrachten (1974). Dabei zeigt er auf, wie nicht nur Künstler*innen die Werke schaffen, sondern eine Vielzahl von Akteur*innen, Objekte und Prozesse an der Produktion beteiligt sind. Die „Kunstwelten“ (Becker 2017) oder eben Kulturwelten setzen sich aus all denjenigen Personen zusammen, „deren Handlungen für die Herstellung der Werke notwendig sind, die in dieser Welt – und möglicherweise auch in anderen – als Kunst bezeichnet werden“ (Becker 2017, S. 49). In den folgenden Erläuterungen liefert insbesondere die Perspektive der „Production of culture“ (Peterson 1976; Crane 1992; Peterson und Anand 2004; Fine 2008, 2018) beziehungsweise deren diskursive Erweiterung (Diaz-Bone 2010) die Grundlage, um Kulturwelten zu erfassen. Der Ansatz verfolgt das Ziel, denjenigen sozialen Kontext zu bestimmen, in dem Kultur in Form von Bildern, Musik, Texten und mehr kreiert, verteilt, evaluiert oder unterrichtet wird und damit erhalten bleibt (vgl. Peterson und Anand 2004, S. 311). Grundsätzlich wird sowohl „Produktion“ als auch „Kultur“ sehr allgemein gefasst: Bei Ersterer geht es genauso um Technologien, Gesetze und Regulationen, wie damit Industrien sowie Organisationsstruktur und Karrieren gemeint sind (vgl. Peterson und Anand 2004). Bei Letzterer können auch gesellschaftliche Bereiche außerhalb von Kulturproduktion im engeren Sinne betrachtet werden (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 141). Im folgenden Abschnitt wird thematisch trotzdem auf einen solchen engeren Begriff von Kultur fokussiert (Musik, Literatur usw.), während gleichzeitig aber die Produktion der „Kunst“ selbst nicht als einziger Aspekt einer Kulturwelt aufgefasst wird.

3.2.4 Konzepte zur Analyse von Kulturwelten

Dem Ansatz der „Production of culture“ folgend sollen in der Betrachtung von Kulturwelten die konkreten Produktions-, Distributions-, Evaluations- oder Konsumprozesse nachvollzogen werden (Peterson und Anand 2004, S. 312). Die Analyse kann sich dabei auf Organisationen, Berufe, Netzwerke, Gemeinschaften und mehr beziehen, um eine jeweilige Kulturproduktion zu erklären. Keine einzelne soziale Organisationsform und kein einzelner sozialer Prozess wird a priori als zentraler Erklärungsfaktor angesehen. Vielmehr soll mit der Erklärung von verschiedenen Aspekten aufzeigt werden, wie Kulturproduktion in konkreten Situationen ausgeprägt ist und sich verändern kann (statt anzunehmen, „die Kultur“ sei ein gesamtgesellschaftliches und sich kaum veränderndes Phänomen). In den empirischen Studien des Ansatzes wird so verdeutlicht, wie Kunst, Musik, Literatur, Film und so weiter in den alltäglichen Prozessen der Herstellung geformt werden.Footnote 13 Trotz dieses sehr stark empirischen Fokus und der Vielzahl von Aspekten, die potenziell beachtet werden können, lassen sich hier einige Konzepte aus verschiedenen Studien einführen. Diese sollen Kulturwelten theoretisch erfassen sowie teilweise ordnen und insbesondere eine spätere eigene empirische Arbeit anleiten. Sie können als zusätzliche „Verwerfungen“ (Diaz-Bone 2010, S. 150) aufgefasst werden, die über die „Production-of-culture“-Perspektive in die feldtheoretische Betrachtungsweise eingeführt werden.

Als eine erste Konzeptualisierung kann es hilfreich sein, diejenige „Kultur“, die von einer sozialen Welt produziert wird, in Bezug zu verschiedenen gesellschaftlichen Domänen zu stellen. Ein solches Modell führt Diana Crane in ihren Arbeiten ein (1992, vgl. 1995, 2002). Als eine Art Synthese von Klassenmodellen und medientheoretischen Ansätzen vor dem Hintergrund einer immer größeren Medienvielfalt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet Crane die Bedingungen für Produktion und Konsum von aufgezeichneter Kultur (1992, S. 5).Footnote 14 Sie unterscheidet dabei grundsätzlich drei Domänen, in denen sich die Aufzeichnungen von symbolischen Gütern bewegen (Crane 1992, S. 5): (1) In einer Kerndomäne finden sich Medienkonglomerate, welche die Kulturprodukte an ein nationales und internationales Publikum verbreiten. Diesen Produkten sind potenziell alle Mitglieder einer jeweiligen Gesellschaft ausgesetzt. Beispiele hierfür wären die Filmproduktionen aus Hollywood oder die Musik im Vertrieb der großen „Major-Labels“. (2) Dieser Kernbereich wird ergänzt von einer Peripherie, die von Organisationen dominiert wird, welche stärker auf lokaler bis nationaler Basis Kulturprodukte vertreiben. Die entsprechenden Medien orientieren sich dabei an spezifischen und distinkten Subgruppen, das heißt an deren Lebensstilen. Beispiele hierfür wären etwa „Special-Interest“-Zeitschriften (Diaz-Bone 2010), Online-Plattformen für ein Musikgenre oder Ähnliches. (3) Die dritte Domäne ist diejenige einer spezifisch lokalen Kultur. Sie ist oftmals in einem urbanen Setting angelegt und in ihr wird von einem und für ein lokales Publikum Kultur produziert. Kulturwelten und ihre Kulturprodukte können anhand dieses Modells danach unterschieden werden, wie weit und in welcher Form sie in die jeweiligen medienvermittelten Domänen vordringen können (Diaz-Bone 2010, S. 175).

Die von Crane beschriebenen drei Domänen können anhand einiger Hinweise relativiert werden: Vor dem Hintergrund der Globalisierung (Buchholz 2016), der Digitalisierung sowie der zentralen Rolle des Internets für die Verbreitung von medialen Inhalten oder der Idee einer „Hyperkultur“ (Reckwitz 2017; siehe [2.2.3]) ist die Aufteilung womöglich nicht mehr zutreffend. So ist ein Großteil aller Medieninhalte heute immer und überall verfügbar. Aufgezeichnete Kulturprodukte sind womöglich nicht mehr eindeutig „international“ oder „lokal“ beziehungsweise sie sind alle „international“. Zudem haben sich die Produktionsweisen von verschiedenen Mediendomänen angleichen können, da Produktions- und Distributionsmittel durch die Digitalisierung immer günstiger und einfacher zugänglich wurden (Cole 2011). Gleichzeitig können Nischenprodukte im Rahmen der gegenwärtigen Valorisierungstendenzen des Kapitalismus (Reckwitz 2017, S. 298 ff.) zu weltweit erfolgreichen Massenphänomenen werden. Damit muss nicht mehr a priori ein Spannungsverhältnis zwischen einer Kerndomäne und einer lokalen Domäne vorausgesetzt werden (Diaz-Bone 2010, S. 176).Footnote 15 Kulturproduktion zeigt sich nun auch in internationalen Netzwerken (Crane 2002, S. 7 f.), wodurch insbesondere die dritte Domäne der urbanen Kulturproduktion neu aufgefasst werden muss (Crane 2009). Letztere kann sich weiterhin durch einen lokalen Produktionsmodus auszeichnen. Gleichzeitig sind „Kleinräumigkeit“ und „Nähe“ in einem physischen Sinne nicht mehr zentrale Merkmale, welche diese urbanen Kulturwelten auszeichnet. Denn auch kleine Welten können in einem internationalen Sinne verknüpft sein und „global“ funktionieren.

Trotz der erwähnten Relativierung in Bezug auf die drei Domänen lassen sich einige wichtige Einsichten der Konzeption Cranes für Kulturwelten ableiten: So kann Kulturproduktion anhand der Größe eines jeweiligen Publikums unterschieden werden. Dabei sind es insbesondere kleine Publika und Produktionskreise, in welchen „neue“ Ideen ausprobiert werden (Crane 1992, S. 6). Diese mögen vielleicht nicht mehr nur lokal organisiert sein. Trotzdem sind sie immer noch „klein“ in der Anzahl der beteiligten Personen im Vergleich zum Publikum von größeren Medienkonglomeraten. Die Produktion innerhalb dieser kleinen Kontexte wird insbesondere dadurch bestimmt, dass die Kreierenden sich immer wieder gegenseitig abgleichen (Crane 1992, S. 6). Zudem kann eine wechselseitige („two-way“) Kommunikation zwischen Kulturproduzentinnen und Kulturkonsumenten auftreten (Crane 1992, S. 29). Quer zu den verschiedenen Domänen können wiederum „Genres“ betrachtet werden (Crane 1992, S. 7): bestimmte Arten von Literatur, Musik oder Film etwa, die über je eigene Normen und Kodierungen verfügen. Die Genres lassen sich insbesondere dadurch unterscheiden, wie sehr ihre Produktionsweisen auch in einer Kerndomäne übernommen werden können, oder inwiefern entwickelte Eigenheiten in spezifischen Bereichen verbleiben: „[W]ithin each genre, some of the content is disseminated in the core domain (the cultural arena), while the remainder is disseminated in the peripheral and urban domains“ (Crane 1992, S. 7). Die Frage, welche spezifischen Aspekte übernommen werden oder nicht, ist dabei abhängig vom jeweiligen Publikum einer Domäne. Die Produkte von urbanen Kulturwelten sind geprägt von einem sozial deutlich homogeneren Publikum (Crane 1992, S. 109). Demgegenüber zeigen sich von der Peripherie hin zum Kern immer breitere soziale Gruppen, die von der Kulturproduktion angesprochen werden sollen: vom im weitesten Sinne gemeinsamen Lebensstil bis hin zu sehr breiten und heterogenen Bevölkerungsschichten. Je heterogener das Publikum, desto weniger spezifisch dürfen die vermittelten Inhalte sein.

Neben dieser ersten, sehr groben Betrachtung von Kulturwelten in Bezug zu den drei Domänen werden weitere Konzepte der „Production-of-culture“-Perspektive als nützlich erachtet. Hierbei kann nochmals die grundsätzliche Ausgangslage des Ansatzes angeführt werden (Becker 2017, S. 17 ff.): Es gilt, eine Vielzahl von Prozessen zu betrachten, die erst ein Kulturprodukt „ermöglichen“. Dies erläutert Becker in Bezug auf Musik wie folgt:

Für das Konzert eines Symphonieorchesters müssen zum Beispiel Instrumente erfunden, hergestellt und gewartet worden sein, eine Notenschrift muss entworfen werden und Musik muss komponiert worden sein, die diese Notenschrift verwendet, Musiker müssen gelernt haben, die Noten auf ihren Instrumenten zu spielen; für die Proben musste Zeit eingerichtet und ein Raum bereitgestellt worden sein; das Konzert musste beworben, die Öffentlichkeit informiert, Karten verkauft und ein Publikum musste erreicht werden, das dazu in der Lage ist, die Vorstellung zu hören, zu verstehen und auf sie zu reagieren. Eine ähnliche Liste kann für jede andere der Darstellenden Künste erarbeitet werden. (Becker 2017, S. 18)

All die verschiedenen Prozesse mit ihren jeweiligen Aspekten sind Teil einer Kulturwelt und führen zu bestimmten Resultaten der Kulturproduktion, die im Rahmen der zuvor erwähnten Domänen an ein Publikum vermittelt werden. Je nach Domäne können sich dabei unterschiedliche Infrastrukturen ergeben, die eine bestimmte Verbreitung ermöglichen. Um die komplexen Zusammenhänge und deren potenziell unzähligen Möglichkeiten handhabbar zu machen, entwickeln sich in Kulturwelten bestimmte „Konventionen“ (Becker 2017, S. 43 ff.). Dies sind nun nicht die fundamentalen Ontologien, welche die „Economie des conventions“ (EC) anhand der Qualitätskonventionen beschreibt (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2018a, S. 141 ff.; siehe [2.2.4]).Footnote 16 Die Beckerschen Konventionen beschreiben vielmehr „frühere Übereinkünfte, die zum Bestandteil der Art und Weise geworden sind, wie […] üblicherweise vorgegangen wird“ (Becker 2017, S. 44). Aufgrund der Tatsache, dass zu viele Prozesse der Kulturproduktion miteinander zusammenhängen, erhalten die Konventionen ihre Wirkmächtigkeit und Beständigkeit, während sie gleichzeitig nicht formalisiert werden müssen. Die Ausprägung dieser Konventionen im Sinne Beckers ist ein weiterer Aspekt, der neben der konkreten Produktion betrachtet werden muss.

Die Herstellung der Kulturprodukte und deren Verteilung sowie damit etablierte konventionelle Übereinkünfte erfassen noch nicht alle Aspekte, die in der Kulturproduktion vorkommen. So gilt es weiter, bestimmte Positionen zu betrachten, die zwischen Produktion und Konsum vermitteln, nämlich die sogenannten „Gatekeeper“ (Crane 1992, S. 70, 112; Diaz-Bone 2010, S. 140; siehe auch Karpik 2011, S. 206): Dies können Kritikerinnen, Kuratoren, Redaktionen und sonstige sichtbare sowie einflussnehmende Personen in einer Kulturwelt sein. Damit wird hervorgehoben, dass die Distribution der Kulturprodukte, im Sinne einer Infrastruktur zur Verbreitung, nicht der einzige erklärende Aspekt für einen Konsum ist. Es sind nämlich auch die Gatekeeper, die Resultate der Kulturproduktion beurteilen, besprechen und sichtbar machen und so deren eigentliche Verbreitung unter den Konsumierenden fördern. In meist mehreren Organisationsschritten der Kulturproduktion bestimmen sie, was überhaupt „konsumiert“ werden kann, bevor in weiteren Schritten die Produkte in einem eingeschränkten und stärker ausgewählten Bereich präsentiert werden (vgl. Crane 1992, S. 70). Die Verbreitung von Kulturprodukten über Online-Plattformen mag die Rolle von „etablierten“ Gatekeepern herausgefordert haben (Huber 2018, S. 48). Gleichzeitig funktionieren auch die neuen digitalen Möglichkeiten der Distribution nicht ohne solche Rollen (Collet und Rémy 2022). Das Konzept der Gatekeeper erfasst in einem spezifischeren Sinne für Kulturwelten, was im Rahmen der „Economie des convention“ (EC) allgemein über die „Intermediäre“ betrachtet wird. Es geht darum, dass sich Beziehungen zwischen zwei Dingen, wie etwa diejenige zwischen einer Produktion und dem Konsum, auf etwas „Drittes“ stützen. Dieses Dritte übernimmt in der vermittelnden Rolle eine aktive Mitkonstruktion an demjenigen Etwas, das vermittelt wird (Bessy und Eymard-Duvernay 1997; vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 109 f.). Auch Gatekeeper etablieren einen auf das Kulturprodukt einwirkenden „Rahmen“ (Bessy und Eymard-Duvernay 1997, S. XVII f.). Konkret zeigt sich dieses Einwirken unter anderem daran, dass nicht immer in Hinblick auf die möglichen Wünsche eines Publikums produziert wird, sondern die Ausrichtung einer Produktion auf die Interessen der Gatekeeper abzielen kann (vgl. Hirsch 1972, S. 649).

Das Resultat einer Kulturwelt wird nicht nur durch konventionelle Übereinkünfte im Rahmen einer Produktion sowie durch vermittelnde Positionen geformt, sondern auch durch den Konsum beziehungsweise die Rezeption selbst. Die eigentliche Bedeutung ist daher noch nicht durch die Produktion selbst festgeschrieben. Daher muss die Art und Weise betrachtet werden, wie Personen mit der aufgezeichneten Kultur umgehen. Eine jeweilige Welt steht daher auch im Zusammenhang mit einer bestimmten Rezeptionsweise, die durch verschiedene Faktoren angeleitet wird:

First, how is a fictional narrative text read or interpreted by a reader? Here the objective is to explain how multiple readings of a text can produce different interpretations. […] Second, what are the characteristics of the text that make it less susceptible to multiple readings? Reception theory argues that texts ‘position’ readers. This means that the text reflects the viewpoint of a particular gender, race, age, social class, or other social category, generally the dominant ideology. […] Third, how is the reader’s interpretation of the text influenced by his or her social location? Reception theory hypothesizes that readers belong to interpretive communities, or communities of readers, who interpret the same text in similar ways because they share similar backgrounds and environments. (Crane 1992, S. 88)Footnote 17

Die Fragen nach der Interpretation sind für die vorliegende Arbeit gleich doppelt relevant: Sie müssen einerseits im Zusammenhang mit den Resultaten der Kulturproduktion einer sozialen Welt gestellt werden. Andererseits muss auch die Rezeption der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturwelt erfasst werden, da diese zur Verwendung ebenfalls interpretiert werden müssen. Dabei kann angenommen werden, dass die theoretischen Konzepte im Vergleich eher komplexe kulturelle Produkte repräsentieren und jeweils für eine sehr spezifische Leserschaft ausgerichtet wurden. Deshalb sollten sie für die Kulturproduzent*innen Unbestimmtheiten und damit Rahmen für Interpretationen bieten: „Texts directed to more homogeneous audiences leave more leeway for, and in some cases require, interpretation by the audience“ (Crane 1992, S. 96). Cranes Ansatz impliziert weiter auch eine besondere Nähe, die für eine Theorieverwendung in der Kulturproduktion vorhanden sein sollte. Denn je mehr sich Produzierende und Konsumierende sozial ähneln, desto mehr können komplexere und „esoterische“ Kodierungen der Resultate von Kulturproduktion verwendet werden, da ein entsprechender Interpretationsrahmen vorausgesetzt werden kann (Crane 1992, S. 106).

Im Anschluss an diese ersten Konzepte der „Production-of-culture“-Perspektive können fünf Eigenschaften von Kulturwelten systematisiert werden (Crane 1992, S. 112): (1) Es finden sich in jeder Kulturwelt Produzent*innen, die mit einem weiteren Umfeld von Akteur*innen, Objekten, Prozessen und mehr die Kulturprodukte gemeinsam herstellen. (2) Zentral für die Herstellung ist eine in der Vergangenheit festgelegte Art und Weise, wie dies von Becker (2017) als konventionelle Übereinkunft beschrieben wurde: eine geteilte Vorstellung dessen, was die Resultate der Kulturproduktion genau sein sollen und wie diese zu bewerten sind. (3) Für die verschiedenen Aktivitäten einer Kulturwelt (wie eben Produktion, Distribution, Evaluation und Konsum) sind bestimmte Organisationen, Mittel, Infrastrukturen und so weiter vorhanden. (4) Es finden sich in einer Kulturwelt zudem ergänzende Rollen vor, wie etwa die Gatekeeper. Diese bestimmen mit, wie Kulturprodukte gestaltet werden und – als letztes Element der Kulturwelten – (5) welche Produkte von einem Publikum konsumiert werden. Das Publikum als Eigenschaft einer Kulturwelt nimmt eine aus mehreren Gründen wichtige Rolle ein: Auf der einen Seite wird ihm eine zentrale Kompetenz zugewiesen, die Bedeutungen der Kulturprodukte zuzusprechen. Und auf der anderen Seite können verschiedene Kulturwelten sowohl anhand ihrer Organisationsweise (Eigenschaften 1–4) als auch durch die soziale Strukturierung ihres jeweiligen Publikums unterschieden werden (Crane 1992, S. 113).

3.2.5 Authentische Produktion und Performativität

Das Festlegen der Eigenschaften einer jeweiligen Welt, die den sozialen Kontext von Kulturproduktion darstellt, darf allerdings nicht als Endpunkt der Analyse verstanden werden. Es muss auch ein Resultat der Produktion betrachtet werden, das durch diese Eigenschaften ermöglicht wird (Peterson 1997, S. 10). Das heißt, dass danach gefragt werden muss, was aus den strukturellen Arrangements der Produktion, Distribution, Evaluation und des Konsums als Kulturprodukt folgt. Im Anschluss an Richard Peterson kann dessen Resultat als die „Authentizität“ in einer Kulturwelt angesehen werden (1997, 2000, 2005). Die Ausprägung der jeweiligen Authentizität liefert einen einheitlichen Bezugspunkt zur Ausrichtung der unterschiedlichen Prozesse in einer Kulturwelt. An diesem können sich die Akteur*innen orientieren – und auch eine Analyse der sozialen Welt kann darauf ausgerichtet werden (vgl. Strauss 1978, S. 123). Die Fragen von Authentizität sind zudem in verschiedenen weiteren theoretischen Zusammenhängen dieser Arbeit immer wieder aufgetaucht: So haben die Gesellschaftsdiagnosen, die im Zusammenhang mit Performativität der Kultur- und Sozialwissenschaften eingeführt wurden, auf die Bedeutung dieser Vorstellung in der gegenwärtigen kapitalistischen Produktion hingewiesen (Reckwitz 2017, S. 137; Boltanski und Esquerre 2018, S. 229). Sowohl bei den Erläuterungen zur Distinktion hinsichtlich der Lebensstile als auch im Zusammenhang mit der Verwendung der Theorien in Feldern tauchten immer wieder Fragen nach dem „Authentischen“ auf (siehe [3.2.3]). Eine konzeptionelle Erfassung der entsprechenden Vorstellung als Grundlage und als Resultat der Kulturproduktion scheint daher angebracht.

Für seine Untersuchung von Authentizität beschreibt Peterson verschiedene „Pfade der Institutionalisierung“ (1997, S. 8) am Beispiel der US-amerikanischen Countrymusik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anhand dieser Pfade lässt sich grundsätzlich nachvollziehen, wie sich diese Kulturwelt in einer bestimmten Weise herausbildet, nämlich indem für die gemeinsame Aktivität mehr und mehr Rollen definiert werden:

To be successful the earliest artists not only had to perform for an audience, but they often had to book their own engagements, arrange, transportation, plan publicity, find new songs, and collect the money owed to them. Over the years, the roles of manager, talent agent, recordings producer, publicist, publisher, song plugger, disk jockey, sideman, session musician, and costumer emerged, and by the mid 1950s constituted the institutionalized “world” (Becker [2017]) or “field” (Bourdieu [1982]) of commercial country music, a machine that was capable of making and merchandising new records and new artist on predictable basis using the evolving conception of authenticity. (Peterson 1997, S. 10)Footnote 18

Durch die Institutionalisierungen der Rollen entsteht sowohl ein bestimmtes kulturelles Produkt (bzw. dessen Produktion wird darin definiert) als auch eine konkrete und korrespondierende Vorstellung von dessen Authentizität. Es wird definiert, was „echt“ ist; was das Originale und nicht das Gefälschte ist; was als unverändert gelten kann oder was richtig reproduziert wurde; was und wer in einem Kontext glaubwürdig ist (vgl. Peterson 1997, S. 206 ff.). Auf die Vorstellung von Authentizität können die verschiedensten Akteur*innen im Feld immer wieder Bezug nehmen und sich danach ausrichten. Gleichzeitig ist aber Authentizität selbst nicht in einem Objekt oder Prozess per se festgelegt. Es muss von der Kulturwelt selbst bestimmt werden, was auf welche Art und Weise abgerufen und vermittelt wird, um Authentizität zu schaffen. Für „Country“ beschreibt Peterson unter anderem die Orientierung an einer Glaubwürdigkeit im aktuellen Kontext und die Betonung authentischer Persönlichkeiten, mit der eine Authentizität der Musik geschaffen wurde (1997, S. 209). So galten allzu einfache Formen wie diejenigen der „Oldtimers“, bei denen alte, traditionell gekleidete Männer alte und traditionelle Lieder spielten, nicht unbedingt als „authentische“ Countrymusik. Gemäß einer Authentizitätsinterpretation in Bezug zum aktuellen Kontext wurde diese Form eher als Kuriosität interpretiert (Peterson 1997, S. 5/66/227). Eine Authentizität der Musik wurde vor allem anhand der Künstler*innen als „Personen“ festgemacht. Diese sollten das „Leben auf dem Land“ kennen, die eigenen Lieder schreiben und engen Kontakt zum Publikum suchen (Peterson 1997, S. 153/210/225). Hierfür wurden bestimmte Stereotype geschaffen, wie etwa der arme in den Bergen lebende „Hillbilly“ oder der auf Farmen und oftmals alleine arbeitende „Cowboy“. Die Darstellung der Country-Musiker*innen anhand dieser Charaktere konnte jeweils auf vorhandene kulturelle Imaginationen zurückgreifen. Dass es „Darstellungen“ und damit konstruierte Authentizitätsvorstellungen waren, zeigt sich an folgender Tatsache: Die Musiker*innen, welche die Charaktere repräsentierten, waren in der Stadt aufgewachsen und lebten auch weiter dort. Und die eigentlich arbeitenden Cowboys konnten kaum Musikinstrumente auf dem Niveau spielen, das für einen Erfolg im „Country“ nötig gewesen wäre (Peterson 1997, S. 68).

Am Mechanismus der Authentizitätskonstruktion lassen sich Fragen zur Produktion in einer Kulturwelt auf verschiedenste Weise angehen. Ein Analyseinteresse kann mit der Frage beginnen, warum in einem gewissen Bereich kultureller Produktion überhaupt eine Forderung nach Authentizität entsteht. Beim Beispiel der Countrymusik tauchten solche Forderungen mit der Wende hin zum 20. Jahrhundert auf: Infolge einer sich ausbreitenden Plattenindustrie sei eine zuvor noch vorhandene „Unmittelbarkeit“ der Musik mehr und mehr weggefallen, so Peterson (1997, S. 211). Das bedeutet keineswegs, dass es gesellschaftliche Bereiche der Produktion gibt, die im Sinne eines „Urzustandes“ dem wirklich „Echten“ entsprechen würden. Der „Production-of-culture“-Perspektive folgend geht es Peterson darum, die Strukturen zu beschreiben, in denen ein stärkerer Fokus auf ein Konzept wie Authentizität gelegt wird. Im Verlauf der Formierung und Etablierung eines Authentizitätsverständnisses kann in einer Kulturwelt weiter eine bewusste Politik verfolgt werden, welche dieses Verständnis zu naturalisieren versucht (Peterson 1997, S. 211 ff.). Als Resultat dieses Prozesses zeigt sich eine bestimme Ausrichtung der Vorstellung vom „Echten“ und die dazugehörenden Prozesse neu als Normalität. Das in der institutionalisierten Kulturwelt konsolidierte Verständnis von Authentizität und das System zur Produktion werden als Teile einer „natürlichen“ Ordnung dargestellt und die daraus abgeleiteten Prozesse zur Gewohnheit erklärt (Peterson 1997, S. 212, 217). Ein analytisches Interesse kann hierbei aufzeigen, wie Intentionen mit dem entsprechenden Naturalisierungsprozess verbunden sind und dabei (bewusst) alternative Möglichkeiten ausgeschlossen werden.

Das naturalisierte Authentizitätsverständnis und die damit zusammenhängenden Produktionsstrukturen können sich im weiteren zeitlichen Verlauf einer Kulturwelt auch wieder ändern. Für das Beispiel der Countrymusik verdeutlicht Peterson, wie bestimmte Prozesse zu dieser Veränderung geführt haben. Diese lassen sich mit bereits eingeführten Konzeptualisierungen erfassen, nämlich als ein Wechselspiel zwischen einem ökonomischen und einem kulturellen Pol des Feldes (siehe [3.2.2]) beziehungsweise zwischen einer Kerndomäne und den kleinräumigeren Produktionswelten (siehe [3.2.4]). Peterson erläutert die beiden Pole beziehungsweise Domänen als die „weiche“ und „harte“ Countrymusik (1997, S. 137 ff.). Zentral ist hierbei, dass ein bestimmtes Authentizitätsverständnis nicht nur je einem der beiden Bereiche zugeordnet werden kann. Vielmehr erfolgt eine Hin und Her in Bezug auf Authentizität zwischen den beiden Bereichen: Ein zuerst kulturell-dominant hartes Authentizitätsverständnis wurde in der ökonomisch-dominant weichen Kerndomäne übernommen und umgekehrt (Peterson 1997, S. 154 f.). Die Anpassung des Authentizitätsverständnisses innerhalb der Kulturwelt wurde von weiteren sozialen Veränderungen begleitet. Diese zeigen sich auch im Sinne von exogenen Schocks (siehe [3.2.2]), welche die Produktionsbedingungen im Feld neu anpassten. Ein Beispiel für Letzteres war in der Countrymusik die Verbreitung und Popularisierung des Radios, das neue Authentizitätsverständnisse erfordert (Peterson 1997, S. 119 ff.). Was daher authentisch ist, ist im Rahmen einer Kulturproduktion nicht statisch, sondern verändert sich über die Zeit hinweg. Die Festlegung von Authentizität ist dabei nicht zufällig, sondern repräsentiert “a continuous political struggle in which the goal of each contending interest is to naturalize a particular construction of authenticity” (1997, S. 220).

Die mit Peterson eingeführte Betrachtungsweise kann auf das in der vorliegenden Arbeit im Zentrum stehende Phänomen übertragen werden. Die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften können innerhalb einer Authentizitätskonstruktion insofern performativ wirken, als dass sie ein mögliches Modell darstellen, auf das ein Verständnis in der Kulturwelt ausgerichtet werden kann. Ein Hinweis auf ein theoretisches Konzept oder dessen Autor*in kann etwa Teil eines Sets von kodierten Referenzen sein, die eine Kulturwelt auszeichnen. Für die Countrymusik beschreibt Peterson dieses Set wie folgt: “The verbal accent, vocabulary, grammar, and prior rough work experience affirm that a person is from the great geographic cradle of country music and hasn’t let education get the better of a working-class identification” (Peterson 1997, S. 225). Ein solches Authentizitätsverständnis von Countrymusik könnte potenziell zu retroaktiven Effekten gegenüber der Verwendung von Theorien führen, also zur bewussten Ablehnung der entsprechenden Referenzen in der sozialen Realität. Für die Kulturwelten, in denen die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften als Referenzen auftauchen, kann daher eine Art gegenteiliges Authentizitätsverständnis erwartet werden, das auf die Relevanz der Bildung hinweist. Die Verwendung eines theoretischen Konzeptes wäre somit die Bestätigung, dass ein*e Kulturproduzent*in potenziell über das „richtige“ Verständnis von Kulturproduktion verfügt. Das Set von Referenzen, in dem Theorien auftauchen, funktioniert sowohl als Distinktionsmerkmal als auch im Sinne einer zu befolgenden konventionellen Übereinkunft für die Produzierenden (bzw. Distribuierenden oder Evaluierenden). Im Sinne der generischen Performativität (siehe [2.1.4]) würden die Theorien in einem solchen Set auftauchen, ohne dass dies weitere Konsequenzen für die konkrete Ausprägung der Authentizität und damit die Wertvorstellungen in der Kulturwelt hätte. Die Referenz auf ein Konzept wird als eine Art gegebenes Kriterium angesehen, das es zu erfüllen gilt (vgl. Crane 1992, S. 119).

Wiederum stärkere performative Effekte würden aufgrund der Verwendung eines kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzeptes zu einer Veränderung des Authentizitätsverständnisses führen. Die Theorien wären nicht eine weitere Referenz unter vielen, sondern würden aktiv mitbestimmen, was überhaupt und auf welche Weise etwas zu einer Referenz werden kann. Ein Effekt, der einer solch effektiven Performativität ähnelt, wird von Paul DiMaggio am Beispiel von kulturellen Unternehmer*innen am Ende des 19. Jahrhunderts in der US-amerikanischen Stadt Boston aufgezeigt (DiMaggio 1982a, b; vgl. Peterson 1997, S. 206). Er verweist zunächst darauf, dass zu Beginn des Jahrhunderts kaum Unterscheidungen zwischen einer „Hochkultur“ und einer „populären Kultur“ vorherrschten, wie dies in Europa der Fall war (DiMaggio 1982a, S. 34 f.). Die verschiedensten Formen wurden in Museen nebeneinander präsentiert. Die Vorstellung einer authentischen Hochkultur musste zuerst noch etabliert werden, um sie in konkreten organisationalen Zusammenhängen festzumachen (etwa ein Museum für „bildende Kunst“). Grundlage für diese Unterscheidung und die Zuordnung von Kulturprodukten zu den beiden Bereichen waren unter anderem die Schriften eines englischen Literaturkritikers (vgl. DiMaggio 1982a, S. 306). Diese Schriften gaben vor, was wirklich „Kultur“ sein könne (und zu einer besseren Gesellschaft führe) und was lediglich für andere Zwecke geschaffen wurde. Die entsprechenden Aufteilungen wurden dann konkret umgesetzt (DiMaggio 1982a, b; vgl. Peterson 1997, S. 206). Das Beispiel zeigt auf, wie ein theoretisches Konzept und dessen Beschreibung der sozialen Realität das „Zentrum“ eines Authentizitätsverständnisses repräsentiert. Im Gegensatz zu den oben vorgestellten Überlegungen zur generischen Performativität kann hierbei die Referenz auf eine Theorie und das damit verbundene Verständnis auch stärker in den Hintergrund rücken. Trotzdem leitet ein theoretisches Konzept die verschiedensten Prozesse einer Kulturwelt an (vgl. Carstensen und Hansen 2019). Eine solche Wirkung auf Authentizität beschreibt potenziell eine Möglichkeit, wie sich ein besonders starker performativer Effekt einer Theorie entfalten könnte.

3.2.6 Schlussfolgerung: Zwei Interessen am sozialen Kontext von Performativität

In diesem Unterkapitel wurde versucht, den sozialen Kontext der Kulturproduktion theoretisch zu bestimmen, in dem die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften verwendet werden. Die zuletzt eingeführten Konzepte in Bezug auf Kulturwelten verdeutlichten hierbei ein stärker detailorientiertes Interesse: So wurde die Möglichkeit diskutiert, wie im Rahmen der Authentizitätskonstruktion die vorhandenen Vorstellungen von den „echten“ Resultaten der Kulturproduktion bestätigt oder verändert werden könnten. Dabei ließen sich bereits verschiedene Effektstärken von Performativität (siehe [2.1.4]) im sozialen Kontext verorten. Die Überlegungen zur Performativität lassen sich auch auf die weiteren eingeführten Konzepte in Bezug zu Kulturwelten übertragen: Werden Gatekeeper analysiert, so kann danach gefragt werden, ob und auf welche Weise diese die Verwendung der Theorie fördern oder womöglich einschränken (und deshalb Retroaktionen provozieren).Footnote 19 Die Rezeptionsweisen in einer Kulturwelt kann ebenfalls danach befragt werden, wie diese von einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive beeinflusst werden (wobei wiederum Effektstärken unterschieden werden können) oder wie die Rezeptionsweisen zu unterschiedlichen Interpretationen der Theorien führen (und damit wieder Retroaktionen bewirkt werden). Im Zusammenhang mit den verschiedensten Produktionsprozessen lässt sich somit eine konventionelle Übereinkunft der Kulturproduktion nachvollziehen, die mit den theoretischen Konzepten im Zusammenhang steht und davon beeinflusst wird. Anhand der drei Domänen von Kultur können schließlich Thesen abgeleitet werden, weshalb sich Prozesse der Verwendung der Theorien in unterschiedlichen Kulturwelten unterscheiden: Die Kerndomäne, so die theoretische Annahme, würde komplexere Kodierungen der Kulturprodukte wie eben Referenzen auf Theorien eher verhindern. Das Angebot an Konzepten aus der Kulturwelten-Perspektive ist ohne Zweifel eine Hilfestellung bei der Betrachtung einer Vielfalt und der Situiertheit von den Produktionsprozessen, im Rahmen derer die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien verwendet werden.

In der Kombination mit der allgemeineren Perspektive der Praxis- und Feldtheorie Bourdieus wird wiederum ein stärkeres abstraktes und analytisches Interesse an diesen Details hervorgehoben. So kann Kulturproduktion, die der Kerndomäne zugeordnet wird, als eine Art „Zusammenfassung“ der heteronomen Pole verschiedener Felder betrachtet werden. Die Orientierung an einem breiten Publikum, so die theoretische Schlussfolgerung, ist dann der Dominanz einer ökonomischen Logik zuzuschreiben. Die urbanen Kulturwelten wiederum können als der kulturell-dominante Pol angesehen werden, an dem Produzierende für andere Produzent*innen die Produkte schaffen. Das mögliche Spannungsverhältnis zwischen den Domänen wäre die Ausübung des symbolischen Einflusses der urbanen Welten auf das Feld insgesamt. Dieser Einfluss führt weiter potenziell dazu, dass ein distinktiver Wert der Kulturprodukte durch die Aufnahme in die Kerndomäne abhandenkommt (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 157 f.). Auch die Betrachtung der Rezeptionsweisen innerhalb der Kulturwelten lässt sich auf ein solches Interesse an Distinktion umorientieren. Der „Interpretationsrahmen“ der Mitglieder einer Welt stimmt deshalb mit den Produktionslogiken überein, da von einer funktionalen und strukturalen Homologie ausgegangen werden kann (Bourdieu 1982, S. 365, 1999, S. 395): Die produzierenden Feldpositionen und die konsumierenden Positionen im sozialen Raum weisen einen vergleichbaren Kapitalbesitz auf. Daran anschließend lässt sich das Interesse an den Gatekeeper analytisch ausrichten. Bourdieu beschreibt nämlich sogenannte „neue Kulturvermittler*innen“ (1982, S. 510): Diese verfügen über eine besondere Stellung in den Massenmedien, die zwischen der kulturell-dominanten Produktion und der Massenproduktion anzusiedeln ist. Hierbei geht es weniger um die „Auswahl“ von Kulturprodukten, sondern darum, dass diese Kulturvermittler*innen eine sogenannte „Fehlrezeption“ herbeiführen. Es wird suggeriert, dass die Produkte des kulturell-dominanten Pols über die Massenmedien prinzipiell allen zugänglich gemacht werden könnten (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 64). Dieses Zugänglichmachen kann dazu führen, dass die Resultate der Kulturproduktion ihren distinkten Wert verlieren. Der beständige Wandel in sozialen Welten, der in der „Production-of-culture“-Perspektive ein zentrales Interesse ist, resultiert aus den Prozessen der symbolischen Dominanz (vgl. Bourdieu 1982, S. 512 f.). So wird deutlich, dass auch Kulturwelten die strukturellen Eigenschaften von Feldern aufweisen beziehungsweise deren Dynamiken folgen (Diaz-Bone 2010, S. 151). Aus beiden Perspektiven wird ein Kontext als sozialer und symbolischer Raum erfasst (vgl. Zifonun 2012, S. 246). Während die Feldtheorie weniger auf Details eingeht, so hebt sie immer wieder das analytische Interesse für Dominanz hervor.

Die Kombination der beiden theoretischen Perspektiven zur Betrachtung des sozialen Kontextes, in dem Performativität stattfindet, lässt sich in bestimmter Weise zuspitzen. Diese Zuspitzung ist unabhängig davon, ob eine stärker analytische Abstraktion betrieben wird (wie bei der Feldtheorie) oder ob die Betrachtungsweise detailorientiert erfolgt (in Bezug auf Kulturwelten). Grundsätzlich geht es nämlich um folgende beide Interessen: Steht die Performativität im Zusammenhang mit einer Art Zusammenarbeit zwischen zwei sozialen Kontexten? Oder zeigt sich die Verwendung der Theorien als etwas, das einen eigenen sozialen Kontext überhaupt erst etabliert? Beim ersten Interesse wird wahlweise danach gefragt, wie ein Bereich eine Dominanz in einem anderen Bereich erlangen konnte (also Wissenschaft in der Kulturproduktion) oder wie eine Kooperation in spezifischen Produktionsprozessen ermöglicht wird. Eine solche Kooperation kann über eine „Nähe“ der unterschiedlichen Kontexte, über die Überschneidungen ihrer Netzwerke oder durch eine sogenannte „Kooperation ohne Konsens“ erfasst werden. Letzteres beschreibt eine Zusammenarbeit ohne Dominanz, bei der gleichzeitig die genauen Formen noch nicht festgelegt sind und vielmehr ein offenes System der Zusammenarbeit etabliert wird (Strauss 2008, S. 248 ff.; vgl. Clarke und Star 2008, S. 125; Clarke et al. 2018, S. 73). Beim zweiten Interesse wird feldtheoretisch danach gefragt, wie eine Autonomie mittels der theoretischen Konzepte erreicht werden kann und von welchen Positionen aus die Verwendung erfolgt, also ob die dominierten Akteur*innen Konsekrationsweisen herausfordern oder ob etwa Heterogenität am kulturell dominanten Pol ausgemacht werden müsste. Aus der Detailperspektive der Kulturwelten-Theorie wiederum werden die Institutionalisierungspfade deutlich, die zu einer eigenen sozialen Welt mit spezifischen Eigenschaften führen können, in der die Verwendung der Theorien die zentrale Aktivität repräsentiert. Bei einer Kombination der Betrachtung von der Zusammenarbeit zweier Bereiche einerseits und der Etablierung eines eigenen sozialen Kontextes andererseits schließen sich die erläuterten Prozesse potenziell nicht gegenseitig aus. Vielmehr repräsentieren sie Interessen in Bezug auf das Phänomen der Performativität, die beide verfolgt werden sollen.

3.3 Mediation durch Theorien

3.3.1 Erweiterung der Perspektive durch Mediation

Mit dem in diesem Unterkapitel einzuführenden Begriff der Mediation wird ein Prozess nochmals aufgenommen, der teilweise bereits im Rahmen der vorhergehenden theoretischen Perspektiven betrachtet wurde: die Kulturproduktion als die „Erschaffung“ der Kulturprodukte. Die hier zu präsentierenden Konzeptualisierungen, die insbesondere von Antoine Hennion (2015) eingeführt wurden, versprechen aber, den Produktionsprozess nicht nur detaillierter, sondern vor allem theoretisch kohärent anzugehen. Auch beim Konzept der Mediation ist es das Ziel, Kulturproduktion und deren Resultate nicht auf eine reine Leistung der Künstlerin oder des Kulturproduzenten zurückzuführen. Vielmehr soll ein ganzes Set von Aktanten im weitesten Sinne beschrieben werden, die an dieser Produktion beteiligt sind (vgl. Hennion 2015, S. 17). Diese Aktanten können genauso Personen wie Objekte, Medien oder bestimmte Vorstellungen und Prozesse sein. Sie alle werden als Intermediäre aufgefasst: als aktiv beteiligte und ko-konstruierende Vermittler (vgl. auch Bessy und Eymard-Duvernay 1997). Die Aktanten sind Zwischeninstanzen, die Prozesse anleiten, Vorstellungen einführen, Kompetenzen zuschreiben, Informationen formatieren und so nicht zuletzt Reichweiten und Qualitätsvorstellungen der Kulturproduktion mitbestimmen (vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 110). Mithilfe des Konzeptes der Mediation steht die aktive Vermittlung selbst im Fokus (und nicht das Vermitteln zwischen zwei Parteien), während die Handlungen im Auftreten betrachtet werden (statt diese einem Handelnden zuzuschreiben).Footnote 20

Die angestrebte Betrachtungsweise erweitert den Blick auf Performativität grundsätzlich um zwei Aspekte, die in den Lebensstil-Konzepten sowie der Feldtheorie beziehungsweise dem „Production-of-culture“-Ansatz nur schwach formuliert oder nur indirekt enthalten waren: Erstens wird auf die materielle und mediale Beschaffenheit von (kulturellen) Objekten eingegangen, wodurch zweitens die genaue Wirkungsweise der Theorien auf die Objekte der Kulturproduktion herausgehoben werden kann.

Materielle und mediale Beschaffenheit von Objekten

Bei der ersten Erweiterung mit dem Ziel, eine Ontologie der materiellen und medialen Beschaffenheit von kulturellen Objekten in der Analyse zu erfassen, orientiert sich das Konzept der Mediation an der allgemeinen Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT, siehe auch [2.1.2]).Footnote 21 Mediation ordnet sich damit in einen weiteren Verbund von Konzepten ein, die sich durch eine Umkehrung der Erklärungsperspektiven auszeichnen (Hennion 2013, S. 11 f.). Auch die Ansätze der neo-pragmatischen Perspektive der EC können diesem Verbund zugeordnet werden (vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 14 f.). Im Rahmen dieser umgekehrten Erklärung wird etwa davon ausgegangen, dass die Handlungen die Akteur*innen schaffen (und nicht umgekehrt). Weiter werden Interessen von Akteur*innen nicht als gegeben betrachtet, sondern diese müssen erklärt werden – und erst dann können Interessen potenziell als Erklärungen hinzugezogen werden (vgl. Barthe et al. 2016, S. 210 f.). Objekte wiederum werden nicht als vorhanden angesehen, sondern erst eine bestimmte Beziehung zu diesen schafft sie. Anders formuliert geht es darum, Ursachen und Wirkungen umzudrehen: “[…] to study rather the construction of reality than realities already constructed” (Hennion 2015, S. 9). Mit dieser umgedrehten Perspektive soll sichergestellt werden, dass in den Erklärungen die wirklichen Tätigkeiten der Akteur*innen und die Realitäten der Dinge in den Blick geraten. Eine solche „Objektivität“ von Tätigkeiten und die Beschaffenheiten von Prozessen werden bisweilen ignoriert, wenn eine soziologische Analyse die Handlungen und Prozesse ausschließlich als soziale Zeichen analysiert (Hennion 2013b, S. 15 f.). Die eigentlichen Produktionsschritte eines Künstlers, das kulturelle Produkt und die Worte der Kritikerin, die Distributionskanäle oder die Konsumweisen einer Person fallen oft weg und werden (überspitzt formuliert) zum sozialen Zeichen für eine a priori festgeschriebene Funktion: für die Abgrenzung einer sozialen Gruppe oder für die Feldposition der Akteur*innen.Footnote 22

Die materielle oder mediale Beschaffenheit der Prozesse zu erfassen impliziert keineswegs, nach einem wie auch immer gearteten Absoluten oder Autonomen im Sinne eines „naiven Realismus“ zu suchen. Den verschiedenen Tätigkeiten wohnt ohne Zweifel die Funktion eines sozialen Zeichens inne. Weiter ist der Status der Prozesse und Objekte sowie ihre Realitäten immer konstruiert: Er zeigt sich erst durch weitere Assoziationen und vollzieht sich erst durch Handlungen, die mitlaufen müssen oder zugeschrieben werden (vgl. Hennion 2013, S. 16). Trotzdem muss einer solchen Konstruktion eine eigene Realität und eine eigene Rolle zugesprochen werden. Hennion hat das Konzept der Mediation insbesondere am Beispiel der Musik entwickelt. Dort repräsentiere die Analyse von Mediationen ein genauso „riskantes“ wie „vielversprechendes“ Unterfangen (Hennion 2015, S. 1 ff.). Ein eigentliches Objekt der Musik existiert nämlich nie, denn selbst die grundlegendsten Vibrationsbewegungen, welche das Klangerlebnis ausmachen, werden nur über Luft ermöglicht. Das Beispiel sei daher prädestiniert, in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung zu „verschwinden“, so Hennion (2015, S. 3). Doch Klang – und das sollte der physikalische Vergleich klarmachen – wird über alle diese Verbindungen und Vermittlungen getragen: von den Luftschwingungen genauso wie von den Interpret*innen, von Instrumenten genauso wie von konzeptionellen Vorstellungen; bis er als Musik inmitten von Musikern und einem Publikum auftritt (Hennion 2015, S. 1). „Das, worauf die Mediation den Blick öffnet, ist eben jene musikalische Sache: Etwas, das entsteht oder hervortritt, etwas, wovon man den Eindruck hat, dass es (dort) anwesend ist oder auch nicht, eine Präsenz, ohne dass es jedoch ein konkretes Objekt gäbe, was man vor sich hinstellen und isolieren könnte“ (Hennion 2013, S. 18). Die Beschaffenheiten zu erfassen bedeutet all die potenziellen Stationen der Mediation in die Analyse miteinzubeziehen. Dabei gilt es zu fragen, wie deren jeweils eigene Materialität und Medialität wiederum diejenige des Resultates der Kulturproduktion, hier Musik, mitbestimmen.

Wirkungen der theoretischen Konzepte

Als zweite Erweiterung der bisher eingeführten Perspektiven wird über das Konzept der Mediation nochmals eine Wirkung vertieft und konkretisiert, die von der Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien ausgehen kann. Mediation beschreibt nämlich eine kontinuierliche Vermittlung zwischen den verschiedensten Elementen, mit denen ein kulturelles Objekt und ein sozialer Zeichencharakter eines kulturellen Objektes entstehen (Hennion 2015, S. 1). Auch die wissenschaftlichen Theorien selbst werden als Teil der Mediation betrachtet: Sie sind ein weiterer Aktant oder eben Intermediär und so Teil der Beziehung zwischen einer Ontologie des Materiellen und dem Sozialen in einem Kulturprodukt. Beide Aspekte, die Ontologie des Materiellen/die Ästhetik und das Soziale/der Zeichencharakter, können mit den Theorien in der Mediation verändert werden. Hennion selbst erfasst einen vergleichbaren Prozess bereits in früheren Arbeiten für die Wirkung der Musiktheorie (1987a, b, 2021): Anstelle einer Beschreibung von Musik und der Erklärung von konsistenten Tonsystemen schafft jede Theorie eine je eigene Realität von Musik. Während die musikwissenschaftliche Diskussion lange davon ausging, wie eine Konsistenz in der Erfassung von Musik allgemein ermöglicht werden kann, dreht Hennion die Erklärung um: Die jeweiligen theoretischen Systeme verschieben Inkonsistenzen in den Tonsystemen und ermöglichen es so, bestimmte Musiken zu mobilisieren und zu kontrollieren (Hennion 2021, S. 20). Diese Vorstellung der performativen Wirkungen von Konzepten wird hier nun übernommen für die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien.

Da die Einbindung von Theorien und abstrakteren Aspekten im Mediationsprozess beachtet wird, läuft Hennions Konzeptualisierung nicht Gefahr, in einen zu eng verstandenen „Empirismus“ zu verfallen. Dieser würde jegliche Generalisierungen und Stabilisierungen ignorieren und lediglich Detailprozesse betrachten (Hennion 2015, S. 35). Mediation verdeutlicht aber, dass ein Status der Objekte entsteht und festgeschrieben werden kann, der beständiger ist als eine immer wieder neue und direkte Verhandlung. Auch eine Theorie kann in diesem Prozess zwischen den verschiedensten Elementen als beteiligte intermediäre Position und Vermittlerin auftreten. Sie ist genauso Teil der Mediation wie eine mediale Anordnung, der Geschmack eines Kollektivs oder die physischen Eigenschaften eines Objekts. Die Rolle der Theorie in ihrer performativen Wirkung ist dabei nicht diejenige einer „wahren“ oder „falschen“ Beschreibung der Realität. Die theoretischen Konzepte bilden als Teil von Mediationen einen „Angelpunkt“ (Hennion 2021, S. 14), von dem aus Dinge neu ermöglicht und zusammengebracht oder auch verunmöglicht und getrennt werden können. Innerhalb der Mediation kann ein theoretisches Konzept der Kontrolle dienen, um eine Realität zu verändern und auch wieder festzuschreiben. Oder die Verwendung der Theorie durch die Akteur*innen verweist darauf, dass eine bestimmte Ontologie so sehr stabilisiert ist, dass ein abstraktes Konzept oder eine Generalisierung damit in Verbindung gebracht werden kann.

Mit der Vorstellung eines aktiven Eingreifens von Theorie in die Realität folgt Hennion der Ethnomethodologie (Garfinkel 2017) und wiederum einer pragmatischen Soziologie, die wissenschaftliche Analyse selbst als Teil einer kollektiven Produktion von sozialer Realität auffassen (Hennion und Muecke 2016; Hennion 2019, vgl. 2015, S. 36 f.). Der Ansatz der Mediation sieht es als Regel an, dass (kultur- und sozial-)wissenschaftliche Konzepte in der Empirie auftauchen können, und nicht etwa als Ausnahme. Damit ist eine performative Perspektive bereits implizit mitgedacht. Das Konzept der Mediation verhindert, dass ein jeweiliger Diskurs in der sozialen Realität in einen „Quarantäneraum“ durch die Wissenschaftlerin eingeschlossen wird, von dem die Wissenschaft selbst ausgeschlossen ist. Zudem vermeidet der Ansatz, die ontologischen Konsequenzen zu ignorieren, die aus diesem Diskurs erfolgen könnten, wie dies etwa bei einem zu simplen linguistischen oder rhetorischen „Turn“ passieren könnte (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 148; Lahire 2015, S. 90). Die konstituierende Wirkung eines wissenschaftlich-informierten Diskurses muss mitanalysiert werden:

[Mediation] draws our attention to a long series of key figures, with complementary or rival roles – players, teachers and theorists, musicologists, critics, producers, publishers, sound engineers, concert impresarios, music shops and passionate music lovers; and to a no less heteroclite list of intersecting material or institutional arrangements, more or less materialised as things – instruments, scores and treatises, teaching manuals, recordings, media, music lessons, stage sets, concert halls: in short, all the different types of programme which present us with music, from concert to radio, from school to the Internet. […] in order to analyse the relations between the artistic object and the social, using the notion of mediation, the existing critical literature would be as much an object of analysis as a resource. (Hennion 2015, S. 10 f.)

Wissenschaftliche Theorien sind daher ein Teil all der verschiedenen Prozesse in der Mediation. Sie tragen dazu bei, dass etwas wie Musik über ein Dasein als Schwingungen zu einem Objekt der Kulturproduktion wird.

3.3.2 Naturalisierung und Sozialisierung der Objekte

Bei der Analyse der Mediation von Objekten der Kulturproduktion werden immer zwei Seiten gleichzeitig betrachtet: Einerseits geht es darum, wie die Repräsentation des Sozialen durch die Objekte ermöglicht wird. Und andererseits muss genauso betrachtet werden, wie die Effekte des Sozialen auf das Objekt wirken. Das Konzept legt den Fokus weder auf ein Zeichen noch auf das Bezeichnete, sondern auf eine „Signifikation“, den Prozess des Bezeichnens.Footnote 23 Damit führt Mediation weg von einem festgeschriebenen Modell, in dem eine mögliche Realität der Objekte unabhängig von den Zeichen existiert und umgekehrt, also einem Modell, in dem ein mögliches soziales Zeichen unabhängig von der Realität eines Objekts existiert. Das Konzept geht über zu einem performativen Erklärungsansatz (Austin 1972): Die Repräsentation produziert das, was sie repräsentiert (Hennion 2015, S. 23). Hierüber sollen gleichzeitig zwei Dinge vermieden werden: Einerseits darf gemäß Hennion keine rein soziale Erklärung von Kulturproduktion erfolgen. Und andererseits darf eine Erklärung auch nicht in eine Naturalisierung gemäß physischen Eigenschaften verfallen. Erstere würde einer zirkulären und externen Erklärung entsprechen: Der strukturalistischen Idee folgend (Durkheim 2017) wird das Objekt von umfassenderen sozialen Strukturen bestimmt und erhält durch diese eine mögliche „Wirkung“ oder eben einen Zeichencharakter, der wiederum auf dieselben sozialen Strukturen wirkt (Hennion 2015, S. 15/31/154/290). Die zweite Variante wäre eine lineare und interne Erklärung: Für ein Objekt finden sich einzelne soziale Aspekte und weitere Details als Ursache, die zusammengefasst dessen Eigenschaft ergeben. Das einmal geschaffene Objekt kann dann auf andere soziale Aspekte als Zeichen wirken (vgl. Hennion 2015, S. 15, 30, 155, 290). Wichtig ist nun, dass beide Varianten erst in der Kombination ihr Erklärungspotenzial entfalten.

Die Gleichzeitigkeit der zwei Erklärungen wurde bereits im letzten Unterkapitel zum sozialen Kontext angesprochen [3.2]. Sie kann hier zur Veranschaulichung nochmals in etwas zugespitzter Weise präsentiert werden (Hennion 2015, S. 156). Bourdieus Praxistheorie (1999) und die entsprechende Analyse von Kulturproduktion entspricht der zirkulären Erklärungsweise: Resultate der Kulturproduktion entstehen aufgrund von bestimmten objektiv-ungleichen Verhältnissen in einem gesellschaftlichen Teilbereich (dem Feld). Sie ermöglichen dann die Distinktion: die symbolische Repräsentation der objektiv-ungleichen Verhältnisse in der Gesellschaft (im sozialen Raum). Für diesen gesamten zirkulären Prozess der Reproduktion von Ungleichheit spielt die Ontologie eines Kulturproduktes kaum eine Rolle. Zwar hat die Erklärungsweise vermittelnde Instanzen zwischen dem Resultat der Kulturproduktion und den sozialen Zusammenhängen in einer Gesellschaft eingeführt, wie etwa Distinktion, Felder oder Institutionen, Geschlechter und mehr. Diese Instanzen selbst werden aber auf ihre Zeichengebung reduziert, ohne nach weiteren Konsequenzen für das Kulturprodukt zu fragen (Hennion 2015, S. 95 ff.). Die Perspektive der Kulturwelten wiederum kann der linearen Erklärungsweise zugeordnet werden: Die jeweils spezifischen Eigenschaften einer Kulturwelt gilt es immer wieder aufs Neue zu erfassen. Davon ausgehend können die Kulturproduktion und ihr Resultat nachvollzogen werden (Becker 2017). Ziel der Erklärungsweise der Produktion des Objektes ist es, die Aktivität einer spezifischen sozialen Welt zu verstehen: Weil ein Objekt so und so beschaffen ist, zeigt sich die jeweilige soziale Welt auf diese und jene Weise. Hierbei scheint die genaue Beschreibung der vermittelnden Instanzen ein Ziel zu sein. Gleichzeitig fehlen in den stärker deskriptiven Ansätzen eine theoretische Erklärung und allgemeingültige Komponenten. Eine solche ist jedoch nötig, um die Mediation von Kulturproduktion außerhalb eines konkreten Beispiels zu abstrahieren und Befunde generalisieren zu können (Hennion 2015, S. 42 f./135 f.). Trotzdem ist die lineare Erklärungsweise wichtig: Über die Beschreibung der einzelnen Schritte werden die oft heterogenen Praktiken der Akteur*innen sowie gegenseitige Beeinflussungen ebenso deutlich wie die Rolle von zeitlichen Gegebenheiten (Hennion 2015, S. 128 f.).

Bei der Analyse der Mediation von Kulturproduktion müssen daher die von beiden Erklärungsweisen beachteten Aspekte als Agenten oder eben Intermediäre aufgefasst werden: „[…] showing instead how each one of the factors at work (in the fields of the social, the object, and their terms of engagement) is the product of others which it simultaneously actively produces“ (Hennion 2015, S. 162). Das eigentliche Ziel ist es, empirisch nachzuvollziehen, wie die Akteur*innen selbst die physischen Prozeduren und die sozialen Prozesse nutzen, um eine jeweilige Welt und deren Objekte zu verfestigen. Mediation selbst ist daher weniger ein theoretisches Erklärungskonzept als vielmehr die Zusammenfassung dessen, was die Akteur*innen oder allgemeiner die Aktanten etwas repräsentieren lässt (Hennion 2019, S. 42). Auf der einen Seite werden im Sinne der Naturalisierung sowohl die Objekte etabliert und ihnen eine Wirkung auf Subjekte zugeschrieben. Auf der anderen Seite werden genau diese Wirkungen immer wieder hinterfragt und stattdessen die „dahinterliegenden“ Interessen, die Verhältnisse oder allgemeiner die Funktion des Sozialen hervorgehoben. Beide Betrachtungen können jedoch nicht nur in der Analyse erfolgen, sondern sie werden durch die Akteur*innen in der sozialen Welt hinzugezogen: als Prozesse zur Erschaffung der Kulturprodukte in einer Welt.

This is what writing on mediation involves: rather than theoretically obliterating the objects we come across by turning them into signs or accepting them as things, this means showing this double process constantly at work in the practices of the actors in order both to establish their objects (by naturalising them: that is, by turning them into things which have power, and by doing the same with the subjects which confront them) and to call them into question (by challenging their power: that is, by showing where it comes from, mobilising the interests which lie behind objects and socialising them). (Hennion 2015, S. 38)

Die Aufgaben der Soziologie in der Analyse ist es, den komplexen Wechsel zwischen den beiden Logiken zu fassen und die verschiedenen Interpretationen beim Einbeziehen der Elemente durch die Akteur*innen zu beschreiben (Hennion 2015, S. 199). Die Abbildung [Abb. 3.2] versucht, diese Auffassung schematisch zu präsentieren.

Abb. 3.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hennion 2015, S. 155)

Mediation zwischen linearer und zirkulärer Kausalität

Wie ein mögliches Hin und Her der Mediation sich konkret zeigen kann und wie dessen Konsequenzen in einem kulturellen Objekt münden, beschreibt Hennion unter anderem am Beispiel der Barockmusik (2015).Footnote 24 Nach ihrer „Wiederentdeckung“ in den 1970er Jahren (Hennion 2015, S. 179) entstand zunehmend ein Streit darüber, was genau die Musik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts sei und wie man sie in die aktuelle Gegenwart bringen könne (Hennion 2015, S. 166). Die zentrale Frage dabei war, wie diese frühe Musik genau gespielt werden soll. Die eigentliche Bruchlinie von zwei Vorstellungen verlief beinahe entlang der Grenzen von wissenschaftlichen Disziplinen (Hennion 2015, S. 167): Das eine „originalgetreue“ Lager ging insbesondere von archäologischen Studien der Instrumente sowie Partituren aus und argumentierte musikwissenschaftlich. Im Sinne der linearen Kausalität und einer Naturalisierung versuchten die Vertreter*innen dieses Lagers, anhand des Bestimmens des genauen Umgangs mit den Objekten die Musik festzumachen, und orientierten sich an historischen Gegebenheiten. Barockmusik solle so gespielt werden, wie sie (angeblich) vor über 200 Jahren gespielt wurde: Es erfolgte die Wiederaufnahme von alten Instrumenten, Partituren, Tonsystemen und die Analyse von verschiedensten historischen Dokumenten, die Anleitungen hierfür gaben.Footnote 25 Das andere, „moderne“ Lager ignorierte nun genau eine Rolle von Objekten und übernahm im Sinne eines „Turn to the Social“ eine geradezu soziologische und damit zirkulär-soziale Argumentation (Hennion 2015, S. 167; siehe [2.3.2]). Barocke Musik, so die Antwort dieses Lagers, müsse nicht möglichst originalgetreu interpretiert, sondern einer gegenwärtigen Zeit und deren Geschmacksvorstellungen angepasst werden. Neben den unterschiedlichen Ideen von der Mindestanzahl Musiker*innen, Instrumenten, Tonsystemen und Ähnlichem fanden sich daher im Streit um Barockmusik zwei verschiedene theoretische Vorstellungen, was als „authentische Musik“ gelten konnte (Hennion 2015, S. 168; siehe [3.2.5]).

Die Aktanten der Mediation beeinflussten dann nicht nur „Vorstellungen“ der Akteur*innen (etwa zur Authentizität), sondern ganz konkrete Umgangsweisen mit der Musik. So ignorierten die modernen Interpretinnen und Musiker die vorhandenen Anweisungen auf alten Partituren, um ihre „freie“ Interpretation weiterhin rechtfertigen zu können (Hennion 2015, S. 192 f.). Zudem existierten distinkte Verständnisse einer Mediennutzung: Für das Lager der „Modernen“ waren es die Interpretation der Partituren im Live-Kontext, welche als barocke Musik verstanden wurde (Hennion 2015, S. 166). Bei der „originalgetreuen“ Interpretationen stand hingegen die mediale Speicherung auf Vinylplatten und CDs im Zentrum. Solche Aufzeichnungen repräsentierten die „authentische“ Musik. In all diesen Entwicklungen, ihrem historischen Verlauf, in der gegenseitigen Beeinflussung und den daraus resultierenden Abhängigkeiten genauso wie in den Abgrenzungen zeigt sich die „Montage“ der Barockmusik (Hennion 2015, S. 165). Deren verschiedene Ausprägungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatten eine radikale ontologische Konsequenz. Denn zwischenzeitlich gab es zwei sehr verschiedene Interpretationen derselben Barockmusik: „There are now two musics where once there was one“ (Hennion 2015, S. 165).

Hennions Analyse des Beispiels bleibt nicht bei der Beschreibung der beiden unterschiedlichen Mediationsformen stehen. Er zeigt weiter auf, dass die „originalgetreuen“ Barockmusik-Interpret*innen sich durchsetzen konnten (Hennion 2015, S. 189 f.). Anhand des „Sieges“ dieses Lagers lässt sich nochmals verdeutlichen, dass weder die rein linear-ontologische, noch die rein zirkulär-soziale Mediationsweise der Akteur*innen für die Erklärung einer Kulturproduktion ausreichend ist. Würde Erstere genügen, so hätte es gar keine Möglichkeit für eine „moderne“ Interpretation gegeben. Denn es waren genügend historisch „objektive“ Anleitungen zum Spielen der Barockmusik vorhanden. Diese konnten aber dank der sozialen Argumentationsweise durch die „Modernen“ ignoriert werden (Hennion 2015, S. 191). Gleichzeitig reichte die zirkulär-soziale Mediation genauso wenig aus, da sich schlussendlich das „originalgetreue“ Lager durchsetzen konnte: Sie kombinierten linear-ontologische Mediationen in ihrem Fokus auf den exakten Umgang mit Objekten und zirkulär-soziale Mediationen, indem sie sich den zeitgenössischen medialen Techniken anpassten. Die beiden Mediationsweisen wurden von den „Originalgetreuen“ nicht nur kombiniert, sondern die Mediationen verstärkten sich gegenseitig: „[M]ediations do not cancel each other out: they accumulate and feed off each other. The stabilisation and instrumentalization of one area of music through recordings does not forecast the end of musical performances, but opens up different spaces […] In 1990, the most effective media for the return to ‘authentic’ performances of seventeenth-century music were called Harmonia Mundi or EMI, compact discs and Virgin Megastores“ (Hennion 2015, S. 202).Footnote 26 Es waren weder die Objekte, die schlussendlich ein Phänomen bestimmten, noch die sozialen Faktoren. Sondern es war deren Kombination und, wie im Falle der „originalgetreuen“ Interpret*innen der Barockmusik, ihre gegenseitige Verstärkung in der Mediation.

3.3.3 Wert in der Mediation

Die von Hennion anhand der Barockmusik verdeutlichten Aspekte wie die unterschiedlichen Authentizitätsverständnisse oder deren Zusammenhänge mit medialer Speicherung mögen in vergleichbarer Form ebenfalls in anderen Studien auftauchen. So haben die Arbeiten von Peterson (1997, 2005; siehe [3.2.5]) Konstruktionen von Authentizität in der Countrymusik verdeutlicht, die im beständigen Wandel sind. Auch eine bereits erwähnte Studie von Thornton (1995; siehe [3.1.3]) verweist darauf, wie in der elektronischen Tanzmusik ein Wechsel von der Live-Interpretation zur Aufführung einer gespeicherten Musik das Authentizitätsverständnis prägte und als Distinktionsmerkmal funktionierte. Im Gegensatz zu diesen und weiteren Studien sowie deren theoretischen Ansätzen vertieft das Konzept der Mediation nun einige Aspekte: Es sind das genauere Zusammenspiel und die Abhängigkeiten der einzelnen, vermittelnden Intermediäre, die analysiert werden. Das heißt, dass auch ein Distinktionsmerkmal erst im Zusammenwirken der verschiedenen Aktanten sowie deren gegenseitiger Beeinflussung entsteht und nicht, dass ein vorhandenes Kulturprodukt von den Akteur*innen aufgenommen wird. So führten etwa die beständigen Angriffe der Vertreter*innen der „originalgetreuen“ Interpretation dazu, dass die „modernen“ Interpret*innen sich schließlich nur noch auf eine Geschmacksfrage beriefen: „[T]hey could no longer invoke a standard other than their own taste in order to validate their judgement in personally liking or disliking a performance“ (Hennion 2015, S. 194). Bei der Betrachtung einer solchen vermittelten und vermittelnden Distinktion wird nicht nur die Entwicklung der Vorlieben und damit der symbolischen Merkmale der Individuen hervorgehoben. Mediation betont immer auch die Arbeit des Geschmacks am Kulturprodukt.

So sehr er auch einerseits Arbeit am Körper ist, ist der Geschmack andererseits genauso sehr eine Arbeit an den Objekten, um in ihnen eben jene Unterschiede entstehen zu lassen, die den Objekten nur durch die Aufmerksamkeit derer beigebracht werden können, die diese Unterschiede zu schätzen wissen, Unterschiede, die ihrerseits nur diejenigen erreichen, die sie wahrzunehmen und zu deuten vermögen. (Hennion 2011, S. 107, eigene Hervorhebung)

Die Fragen nach dem Geschmack und die damit verbundenen Wertvorstellungen werden also nicht nur durch das kulturelle Objekt bestimmt. Auch dieses selbst wird durch die Geschmacksausrichtungen mitgeformt. Die doppelte Konstitution innerhalb der Mediation verweist darauf, dass weder eine „individuelle Subjektivität“ am Werk ist, noch dass ein reiner Determinismus einer sozialen Differenzierung der Grund für die symbolischen Merkmale der Akteur*innen liefert (Hennion 2015, S. 190 f.). Der ersten Vorstellung wird anhand einer Stabilisierung in der Mediation entgegengewirkt. Das heißt, dass die gegenseitige Abhängigkeit von den Prozessen einer Kulturwelt betont wird, die ein kulturelles Objekt überhaupt ermöglichen. Letzterer Determinismus wird verhindert, da dem Geschmack eine Rolle in der Mediation und damit in der Stabilisierung des Resultates der Kulturproduktion zugeschrieben wird (Hennion 2007b).

Die gleichzeitige Mediation der symbolischen Merkmale und des Objektes findet eine gemeinsame Ausprägung in der Form eines „Validierungskriteriums“, das im Rahmen der Kulturproduktion zur Anwendung kommt (Hennion 2015, S. 187). Beim Beispiel der Barockmusik war dies auf der Seite der „Originalgetreuen“ die historische Präzision, während die „Modernen“ auf eine Spielfreude verwiesen (ebd.). Ein solches Validierungskriterium wird an den verschiedensten Stationen der Mediation hinzugezogen, um symbolische Vorlieben genauso wie materielle Konsequenzen zu bestimmten. Oder umgekehrt: Das Kriterium wird verwendet, um bei den verschiedensten Etappen die nicht angemessenen und falschen Mediationsweisen hervorzuheben. Dies erfolgte auch im Prozess der Ablösung der „modernen“ durch die „originalgetreuen“ Interpret*innen der Barockmusik. Letztere verwiesen immer mehr auf „Ungereimtheiten“, die sie im Zusammenhang mit ihrem Kriterium der Historizität in den „modernen“ Vorstellungen ausmachen konnten:

There was a systematic clash – sequential then simultaneous – between the different series of objects which the ‘Moderns’ added to early music in order to adapt it to their tastes (recent instruments and performance techniques, edited musical scores, equal scales and rhythms) and the series of archaeologically reconstituted objects which the Baroques restored to this music (its treatises, early instruments original musical scores). (Hennion 2015, S. 204)

Durch die musikwissenschaftlichen und historischen Argumente des „originalgetreuen“ Lagers verlor die „moderne“ Interpretation beständig an Glaubwürdigkeit in den Validierungen über die verschiedenen Etappen der Mediation (Hennion 2015, S. 199). Dies führte zu einer abnehmenden Kohärenz und schlussendlich zur „Demontage“ des musikalischen Objektes der „Modernen“ (Hennion 2015, S. 203). Die „originalgetreue“ Interpretation führte über ihre Validierungskriterien eine neue Rolle für die Musik und für die Ausrichtung in deren Mediation ein: Barocke Musik wurde als Beweis verstanden, als geschichtliches Zeugnis, dem es nachzueifern galt. Die andere Seite der „modernen“ Musikerinnen und Interpreten, welche die Barockmusik als Ausgangspunkt verstand, um etwas Neues zu schaffen (Hennion 2015, S. 203), verlor hingegen mehr und mehr an Relevanz.

Der von Hennion verwendete Begriff der „Validierung“ kann auch als eine Form der Valorisierung aufgefasst werden.Footnote 27 Mediation würde dann wegführen von einer „wertfreien“ Bestätigung und der Frage nach einer Gültigkeit der Mediationsschritte hin zu der Ausrichtung gemäß einem bestimmen Wert: eine „Qualität“ (Diaz-Bone 2018a, S. 143), die bei den verschiedenen Etappen der Mediation mitbestimmt und geprüft wird. Jede Validierung verfügt nämlich über normativ ausgerichtete Elemente: Ein entsprechendes Kriterium ist positiv-bestätigend als auch negativ-ablehnend ausgerichtet gegenüber gewissen Aktanten. Die mit dem Konzept der Mediation etablierte Betrachtungsweise erlaubt, hierfür gleich zwei scheinbar gegenläufige Sichtweisen auf Wert zu verknüpfen: Es wird einerseits verdeutlicht, dass einem Objekt kein Wert per se innewohnt.Footnote 28 Erst über die Mediation der Aktanten entsteht überhaupt eine bestimmte Qualität. Anderseits verdeutlicht gerade diese Betrachtungsweise, dass der Wert eines Objekts der Kulturproduktion keineswegs etwas Arbiträres repräsentieren muss (Hennion 2007b, S. 134). Da die verschiedenen Aktanten sowie deren Zusammenhänge über ein Validierungskriterium eine Kohärenz aufweisen und sich gegenseitig bedingen, hat ein bestimmter Wert eines Objekts zu folgen. Die Analyse der Mediationsprozesse zeigt so gleichzeitig auf, dass keine essentialistischen Wertigkeiten vorhanden sind, während gleichzeitig aus der Validierung ein bestimmter Wert folgen muss.

Innerhalb einer solchen Valorisierungsvorstellung der Mediation lässt sich wiederum nach den performativen Effekten fragen und lassen sich diese konzeptualisieren: Einer generischen Performativität folgend könnten die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in einer Mediation auftauchen und dabei bereits dem vorhandenen Validierungskriterium entsprechen. Die theoretischen Konzepte würden so eine Mediationsweise nochmals verdeutlichen, dabei aber nur einen Zeichencharakter bestätigen und als Referenz auftauchen (etwa im Rahmen eines Pressetextes zum Kulturprodukt), ohne weitere Aspekte des Objektes zu verändern. Dies schien teilweise bei den „modernen“ Barockinterpret*innen der Fall zu sein, wenn diese über eine soziologische Argumentation auf ihren Geschmack als ultimatives Kriterium verwiesen. Die Theorien können aber auch in einem effektiven Sinne bestimmte Etappen der Mediation nicht nur validieren, sondern diese abändern und so eine einflussreichere Rolle übernehmen. Die theoretische Perspektive von Hennion scheint dabei zu implizieren, dass die stärkeren Effekte eigentlich immer erfolgen sollten, da die Ko-Konstitution von jedem Aktanten ausgehend angenommen wird. Die Möglichkeit für barnesische Performativität wäre insbesondere dann gegeben, wenn die Kohärenz einer Validierung sich voll und ganz auf eine theoretische Position der Kultur- und Sozialwissenschaften beziehen würde. Nicht zuletzt zeigt das Beispiel des Angriffs der „originalgetreuen“ auf die „modernen“ Interpret*innen auf, dass Retroaktionen oder gar Gegenperformativitäten in Bezug zu den Validierungen und den enthaltenen Wertvorstellungen erfolgen können.

3.3.4 Von der Mediation zu Attachements

Der Schwerpunkt der bisher erläuterten Theorieperspektive Hennions kann leicht verschoben werden, um die Reichweite der damit verbundenen Implikationen zu verdeutlichen: Anstelle der Hervorbringung und Stabilisierung eines Objektes der Kulturproduktion kann nämlich auch betrachtet werden, wie die Mediation gleichzeitig den Status der Akteur*innen und Aktanten sowie deren Handlungen ermöglicht. Oder anders formuliert: wie nicht die Akteur*innen und Aktanten handeln, sondern sie durch die Handlungen hervorgebracht werden. Das Interesse hierfür kann allgemein der ANT-Perspektive zugeschrieben werden (siehe oben): Es geht darum, wie aus einem Netzwerk von hybriden Entitäten sowohl die verschiedenen Akteur*innen, Aktanten und deren Handlungen als auch die Stabilisierung des Netzwerks selbst hervorgeht (Callon 1998a, S. 7). Der analytische Schwerpunkt darauf kann mit dem Begriff des „Attachement“ verdeutlicht werden. Es geht darum, die mitwirkenden „Anhänge“ einer Konstituierung zu betrachten und die neu entstehenden „Anhänglichkeiten“ zu erfassen (vgl. auch Hennion 2011, S. 93). Anstelle der „Erschaffung“ und „Montage“ von etwas (wie dies die Mediation betont), sollen neu die resultierenden Interaktionen und Wechselwirkungen erfasst werden, die ein „Erschaffen“ und das „Montieren“ ermöglichen. Auf diese Weise werden Prozesse erklärt, wie es üblicherweise von der Handlungstheorie geleistet wird (siehe auch [3.1.6]). Gleichzeitig erfolgt mit dem Konzept eine Abwendung von einem zu simplen Vokabular der Handlungen oder eindeutigen Erklärungsrichtungen. Bei der Betrachtung von Attachements geht es nicht um eine Ursache- und Wirkungsbeziehung oder Kausalität, sondern um eine Verbundenheit von „Dingen“, die wiederum Prozesse einfordert (Latour 1999).

[Attachements] lassen sich nicht mit Begriffen wie Ursachen, Intentionen oder Bestimmungen erfassen. Sie gehören nicht zum Vokabular der Handlung, auch wenn man in diesem Modus über sie sprechen kann. Sie funktionieren eher auf der Passivseite, aber nicht im grammatikalischen Sinn, sondern in der Bedeutung, die das Wort Passiva, Schuldenmasse in der Welt der Unternehmen angenommen hat: als die Rechnung, welche die Vergangenheit der Gegenwart präsentiert. (Hennion 2011, S. 94)

In der Betrachtung des Attachements wird so versucht, eine Art „aktive Passivität“ hervorzuheben (Hennion 2013, S. 25). Auf der einen Seite wird mit den Attachements der „aktive“ Aufbau von Verbindungen betrachtet: das Anhängen von Objekten, Konzepten, Personen, Institutionen und mehr. Sie alle werden Teil von einem Netzwerk und statten dieses mit Bezugspunkten aus. In einem reziproken Sinne werden dabei genauso die Individuen irgendwo „angehängt“ wie auch die Anhänge durch die Individuen bestimmt werden (Hennion 2017, S. 113). Die einmal etablierten Attachements führen dann in einem „passiven“ Sinne dazu, dass gewisse Prozesse zu erfolgen haben: Jemand „erhält“ einen Akteur*innen-Status oder eine Handlung „muss“ passieren, weil sie durch all die Anhänge eingefordert wird. Denn die Attachements bedingen sich gegenseitig mehr und mehr, bis die entsprechenden Prozesse zu erfolgen haben, denn nur sie machen im Netzwerk der Anhänge Sinn. Statt zwischen determinierten und determinierenden Aspekten klar zu unterscheiden, wird mit dem Konzept zu einer Kontinuität übergegangen. All dies soll aber nicht nur Beschreibungen komplexer machen, sondern durchaus auch „potenter“. Denn Akteur*innen, Aktanten, Handlungen, Begründungen, Objekte und alles Weitere wird im Netzwerk verteilt betrachtet und als etwas aufgefasst, dass sich gegenseitig bedingt. So soll ein besseres und umfassenderes Verständnis von all diesen Aspekten ermöglicht werden.

Neben einer allgemeinen Umdeutung des Schwerpunkts der Mediation nimmt der Begriff der Attachements zudem nochmals die Idee eines „Geschmacks“ (Hennion 2007b, c) als die Vorliebe für bestimmte Kulturprodukte in einem Lebensstil auf. Die symbolischen Merkmale von Akteur*innen werden mit dem Konzept nicht nur als Folge einer objektiven Position in der Sozialstruktur erklärt (Bourdieu 1982; siehe [3.1.13.1.2]), sondern neu in einem pragmatischen Sinne erfasst (Dewey 1980). Geschmack wird dabei als eine inkorporierte, gerahmte, kollektive und mit bestimmten Ausstattungen versehene Aktivität beschrieben. Sie erschafft sowohl die Kompetenzen der Akteur*innen als auch die Objekte des Geschmacks selbst (Hennion 2007b, S. 131; siehe [3.3.3]). Geschmack ist somit ein performativer Akt im Sinne Austins (1972): Die Äußerung der Geschmackspräferenzen für ein Kulturprodukt ist eine Bindung des Individuums an diesen Geschmack als Aktivität und damit immer auch die Beeinflussung der Ontologie des Produktes (Frith 1999, S. 276; vgl. auch Hennion 2007b, S. 135). Mit der pragmatischen Reformulierung der Handlungen des Geschmacks geht wiederum die These einher, dass nicht mehr nur menschliche Akteur*innen im Zentrum stehen müssen. Das Subjekt des Geschmacks wird genauso wichtig wie die verschiedensten Elemente, die an diesem Geschmacksprozess beteiligt sind (Hennion 2007b, S. 135). Beide Teile sind schlussendlich nur als Hybride in ihrer Mischung vorhanden. Mit dem Blick auf die Attachements sollen die Aktivitäten im Geschmack als etwas Eigenständiges aufgefasst werden, wie dies Hennion am Beispiel der (Musik-)Liebhaberinnen und Amateure versucht:

The challenge is to explain the music lover’s attachments, tastes, ways of acting and pleasures, as an activity in its own right and an elaborate competence, capable of self-criticism – instead of seeing it only as the passive play of social differentiation. The latter view is now generalized to the point where music lovers often present their own tastes exclusively as pure social signals, determined by their origin, that they know to be relative and historical, pretexts for diverse rituals – and, paradoxically, it is the sociologist who must ‘de-sociologise’ the music lover for her to talk about her pleasure, or the amazing techniques she develops to (sometimes) attain felicity. (Hennion 2015, S. 268 f.)

Als groben Rahmen schlägt Hennion vier verschiedene Bereiche von Attachements vor, die bei der Analyse von Geschmack und weiteren Prozessen beachtet werden können (2007b, S. 137 ff.): (1) Teil einer Geschmacksaktivität und all den damit zusammenhängenden Prozessen ist immer ein Kollektiv, das die Relevanz der Aufwände bestätigt, Resultate ermöglicht und Hilfestellungen genauso wie die richtigen Wörter bereitstellt. „There is no taste as long as one is alone, facing objects“ (Hennion 2007b, S. 137). Kollektive sind hierbei gleich von doppeltem Nutzen: Sie helfen bei der Entstehung der Merkmale als „Support“ (Hennion 2007c, S. 101) genauso wie andere Kollektive als Vergleichshorizont dienen (und Geschmack dann eine Distinktion gegenüber diesen markiert, Bourdieu 1982). (2) Neben einem Kollektiv als Gruppe von Menschen muss immer auch eine Ansammlung von Objekten erfasst werden, also von Apparaten, Geräten, Instrumenten und mehr (Becker 2017). Diese materiellen Kollektive schaffen Grundlagen sowie Bedingungen und bestimmen symbolische Merkmale genauso wie die Vorstellungen der Individuen selbst. Die Objekte ermöglichen Geschmacksgesten und bestimmen als Medien die Repräsentationsformen und Inhalte mit (Hennion 2007c, S. 101). (3) Des Weiteren verweist Hennion auf einen körperlichen Aspekt des Geschmacksprozesses: „[T]aste, amateurism, passion for an object or interest in a practice are ‘corporated’ activities“ (Hennion 2007b, S. 138 f.). Auch hier soll keineswegs ein „natürlicher“ Status eines Körpers festgeschrieben werden. Denn eine Körperlichkeit ist sowohl als Attachment am Geschmacksprozess beteiligt, als dass sie auch mitgeformt wird (wie dies etwa bei leidenschaftlichen Sportler*innen sofort nachvollziehbar ist). (4) Schlussendlich sind es die kulturellen Objekte selbst, die einen wesentlichen Beitrag zum Geschmacksprozess als Attachement beitragen: Ihre konkrete (materielle) Ontologie bestimmt als eine Art Feedback mit, was als Anhang funktionieren kann und was in den Anhängen passiert – und damit wiederum, was als kulturelles Objekt gilt und worauf sich Geschmack ausrichten kann (Hennion 2007b, S. 140). Der hier präsentierte Rahmen kann als Ergänzung zu den Eigenschaften einer Kulturwelt aufgenommen werden [3.2.4], um von der Blickrichtung des Geschmacks her die kulturellen Objekte zu betrachten (statt von den Produktionsbedingungen her). So wird ein Übergang erreicht vom Erklären des Geschmacks als abhängige Variable, die durch „versteckte“ soziale Einflüsse entsteht, hin zu der Beschreibung der Entstehung eines Geschmacks als kollektive Technik (Hennion 2007b, S. 98).

Das pragmatische Verständnis von Geschmack oder allgemeiner Handlungen, welche die Betrachtung von Attachements ermöglicht, ist kohärent mit dem bisher eingeführten, pluralen Akteur*innen-Konzept (Lahire 2011a; Boltanski und Thévenot 2007; siehe [3.1.6]). Die Betrachtungsweise bietet unter anderem eine Theoretisierung der Reflexivität der Akteur*innen an. Ein Verbund von bestimmten Attachements kann nämlich „Pausen“ ermöglichen (Hennion 2007b, S. 136): ein Innehalten im Konsum und damit eine Abwendung vom Unmittelbaren, wodurch wiederum Überlegungen initiiert werden können. Weiter können gewisse Attachements in Form von Werkzeugen den Individuen als Objektivierungstechniken dienen, die Prozesse beschreibbar und fassbar machen (Lahire 2011a; siehe [3.1.5]). Durch Pausen und die Techniken entstehen Momente, um neben die eigene Tätigkeit zu treten, „perplex“ auf diese zu reagieren, wodurch sich der Raum für Reflexion öffnet (Hennion 2007c, S. 104). Das impliziert, dass sich die Individuen über verschiedenste Anhänge ihres Handelns bewusster werden könnten. Die Attachements und die daraus resultierende Tätigkeit weisen in sich selbst und für sich selbst eine Zurechenbarkeit auf (vgl. Hennion 2007a, S. 108). Reflexivität zeigt sich weiter auch darin, dass die Akteur*innen sich einer eigenen sozialen Bedingtheit ihres Geschmacks bewusst sind: diejenige Bedingtheit, die mit soziologischen Beschreibungen festgemacht wird (siehe Zitat oben). Ganz im Gegensatz zu einer „verstecken Wahrheit“ ist die Tatsache, dass eine soziale Identifikation hinter jeder Äußerung zu Geschmack steht, ein verbreitetes Wissen. Im Sinne einer Reflexivität können dann Versuche unternommen werden, diese sozialen Voraussetzungen zu „bearbeiten“ (Hennion 2007a, S. 102 ff.).

Who still presents his taste as disinterested, absolute, independent from its origins, and above the game of social differentiation? When interviewing amateurs, sociology has become not just a reference horizon shared by the interviewer and the interviewed but one of the principal pieces of equipment through which the amateur thinks about and describes his taste and the taste of others. How can we take into account this unexpected reflexive aspect of our activity: the interviewee now reflects – often dominantly and sometimes exclusively – an image that sociology itself has created? […] The solution cannot be found in such a reflexivity of withdrawal but rather in an openness toward objects that are themselves open. We need commitment and perspicacity, not distance, to respond to objects’ capacity to respond, to reveal themselves, to deploy. (Hennion 2019, S. 49, vgl. 2015, S. 268 f.)

Dem Ansatz der Ethnomethodologie folgend ändert sich daher die Aufgabe der Analyse (Garfinkel 2017; vgl. Hennion 2007b, S. 135, c, S. 113, 2019, S. 42): Sie soll nicht mehr eine bestimmte Dimension der Tätigkeiten der Individuen extrahieren, um diese als erklärende Variable darzustellen. Vielmehr gilt es, die Selbstformierung durch die Akteur*innen zu beschreiben. Geschmack und Vorlieben sind die Resultate von konkreten Praktiken, die kollektiv vorhanden sind und instrumentell verwendet werden. Die genauen Methoden dieser Praktiken werden von Individuen diskutiert. Dies kann wiederum von der Analyse aufgezeigt werden. Die pragmatische Konzeptualisierung impliziert weiter, dass eine analysierende Position immer Teil der kollektiven Produktionen der sozialen Prozesse wie eben Geschmack ist (Hennion 2007b, S. 135). Die entsprechende Analyseweise kann daher zur Untersuchung der performativen Effekte genutzt werden.

Hennion nimmt zudem den Begriff „attachement“ (bzw. „detachement“) von Michel Callon auf (Callon 1992, 1999; vgl. Hennion 2011, S. 99 f.). Der Autor kann (im Anschluss an Garcia-Parpet) als einer der Initiator*innen der Perspektive der Performativität angesehen werden (siehe [2.1.2]). In einem wirtschaftssoziologischen Beitrag (Callon 1992) verwendet er den Begriff, um eine permanente Arbeit eines Marktes für das eigene Funktionieren zu beschreiben. Ein solches Attachement zeigt sich etwa in der Vermittlung zwischen den Interessen von Käufer*innen und den verfügbaren Gütern (vgl. Callon 2016, S. 34). Weit entfernt von der Regulierung durch eine „unsichtbaren Hand“, den klaren Vorstellungen von Angebot und Nachfrage oder der „Face-to-Face“-Situation zwischen Verkäufer und Käuferin geht es darum, all die beteiligten Elemente zu beschreiben, die ein Funktionieren des Marktes ermöglichen. Es ist ein „unentwirrbare[s] Ensemble von Bindungen, in deren Verknotung sich Präferenzen und Produkte momentweise gegenseitig definieren“ (Hennion 2011, S. 100). Erst aus dem Zusammenspiel dieser Elemente und als dessen Konsequenz ergeben sich die jeweiligen Funktionen eines Marktes (bzw. die Idee der Funktion selbst wird daraus geschaffen). Das Konzept der Attachements liefert für Callon den Ausgangspunkt, um die Performativitätsperspektive zu entwickeln (Callon 1998a). Die Wirtschaftswissenschaften finden sich nämlich als Teil dieser Bindungen, als Attachement, im Markt selbst wieder (Garcia-Parpet 2022; MacKenzie 2006). Ihre theoretischen Beschreibungen und Modelle spielen eine aktive Rolle bei diesen Vermittlungen und Verknüpfungen. Sie helfen insbesondere dabei mit, den genauen Rahmen zu bestimmen, um „Berechenbarkeit“ im Markt zu ermöglichen. Letzteres kann wiederum uminterpretiert werden: Die Theorien bestimmen diejenigen Attachements, die hinzugezogen werden sollen.

Anstatt die unterschiedlichen Effektstärken von Performativität mit Attachements in Verbindung zu bringen, kann das Zusammenspiel der Verwendung der theoretischen Konzepte durch die Akteur*innen mit den weiteren „Anhängen“ auch in einer anderen Weise präsentiert werden. Grundsätzlich wird mit dem Konzept nämlich davon ausgegangen, dass Handlungen sich als Attachements die eigene Grundlage im Vollzug schaffen: „When one says that one loves opera or rock – and what one likes, how one likes it, why, and so on – this is already a way of liking it more“ (Hennion 2007b, S. 135). Eine vergleichbare Vorstellung findet sich im Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung wieder und damit in einer ähnlichen theoretischen Vorstellung wie Performativität (vgl. MacKenzie 2006, S. 19; Brisset 2019, S. 13; Callon und Roth 2021, S. 227; siehe [1.3 und 2.1.3]). Auch dort ist es eine („falsche“) Aussage zu einer Situation, die zu einer Handlung führt, welche die Aussage bestätigt (und die Situation „wahr“ werden lässt). Wird nun eine Theorie der Kultur- und Sozialwissenschaft als ein Attachement verstanden, geht es nicht sofort darum, ihre sich selbst erfüllende Wirkungsweise im Handlungsvollzug nachzuzeichnen. Vielmehr soll ein Interesse verfolgt werden, wie dieses Attachement mit weiteren Anhängen in Verbindung gebracht wird. Die Theorien können daher mehr und mehr zu den weiteren Attachements „passen“ oder diese „passend“ machen. Die Wirkungsweise wird so weniger direkt erfasst – von der Theorie auf die Kulturproduktion –, sondern im Rahmen des ganzen Netzwerkes von Elementen etabliert. Die Attachements können dann nach und nach so verändert werden, dass ein Prozess der Kulturproduktion aufgrund einer Theorie angepasst werden muss. Und umgekehrt kann trotz einer genauen theoretischen Beschreibung eine Kulturproduktion doch nicht in der theoretisch vorgegeben Weise erfolgen, da alle weiteren Attachements einen anderen Prozess einfordern. Das Konzept der Attachements bietet so eine grundlegende Vorstellung der Wirkungsweisen von Theorien in den Prozessen der Kulturproduktion.

3.3.5 Schlussfolgerung: Übersetzung der Theorien als Attachements

Anhand des Konzeptes der Mediation wurde in diesem Unterkapitel versucht, den Prozess der „Erschaffung“ der Kulturprodukte sowie eine dabei erfolgende Verwendung der Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften genauer zu konzeptualisieren. Im Zentrum der Betrachtung einer Mediation steht dabei, wie sowohl die jeweilige Ontologie als auch der soziale Zeichencharakter eines Objektes bestimmt werden kann beziehungsweise wie beide Aspekte durch die Intermediation der Akteur*innen und Aktanten gemeinsam vermittelt werden. Die Theorien können hierbei in die Prozesse eingreifen, indem sie ein Validierungskriterium für verschiedene Etappen einer Mediation darstellen und so diese insgesamt auf einen Wert ausrichten (im Sinne einer Valorisierung). Das zuletzt eingeführte Konzept der Attachements verdeutlichte, dass ein solcher Prozess der Mediation nicht nur auf ein Resultat hin betrachtet werden kann (das Kulturprodukt). Es lässt sich zudem aufzeigen, wie über die Mediation Akteur*innen und Produktionsprozesse angehängt werden und so überhaupt erst entstehen (und dann wiederum zum Kulturprodukt führen).Footnote 29 Die konzeptionelle Vorstellung der Attachements erlaubt es, den Mediationsprozess zurück auf das Akteur*innen-Modell zu beziehen, das zu Beginn des Kapitels eingeführt wurde (siehe [3.1.6]). Es wird nämlich die Performanz im „Geschmack“ und in den symbolischen Merkmalen von Akteur*innen hervorgehoben. Mediation und Attachements können hier abschließend noch mit einem weiteren zentralen Konzept der ANT in Verbindung gebracht werden: dem der „Übersetzung“ (Serres 1992; Latour 1984; Callon 2006).

Alle drei Begriffe beschreiben grundsätzlich ähnliche Vorstellungen hinsichtlich der Akteur*innen beziehungsweise Aktanten, Handlungen und Prozesse sowie das Produzieren von Objekten. Sie haben jedoch gewisse Schwerpunkte beziehungsweise richten das analytische Interesse auf unterschiedliche Aspekte aus. Der Begriff der Übersetzung wurde insbesondere im Rahmen von ANT-Arbeiten in der Wissenschafts- und Technikforschung eingeführt (Latour 1984; vgl. Hennion 2013, S. 17 f.). Grundsätzlich sollen diese Studien aufzeigen, wie etwas in einem sozialen Kontext erschaffen werden kann. Dieses Etwas, das die Studien analysieren, ist eine wissenschaftliche Objektivität. Der Beschreibung der Übersetzung verdeutlicht, wie im Rahmen von verschiedensten Etappen eine solche Objektivität erschaffen wird. Dabei sind in jedem Schritt eine Vielzahl sozialer Faktoren und materieller Aspekte beteiligt, um wissenschaftliche „Wahrheit“ in einer bestimmten Weise auszurichten. Zugespitzt formuliert bedeutet dies (vgl. Hennion 2013, S. 16 f.): Die Übersetzung hebt die soziale Konstruktion von einem produzierten Objekt hervor (wie eben der wissenschaftlichen Objektivität). In der Analyse löst sich das Objekt über die Vielzahl der daran beteiligten Schritte auf, indem beschrieben wird, wie jeder einzelne Übersetzungsschritt eine Veränderung bewirkt. Mediation wurde von Hennion insbesondere in Bezug auf Kulturproduktion eingeführt (1981; 1989; 1994; 2015; Hennion und Méadel 1986) und geht den umgekehrten Prozess an: Hierbei soll verdeutlicht werden, dass neben all den sozialkonstruierten Aspekten weiterhin auch konkrete Objekte an der Erschaffung der sozialen Realität beteiligt sind (Hennion 2013, S. 17). Diese können nicht „nur“ auf eine Konstruktion reduziert werden, beziehungsweise es geht von ihnen eine zentrale Konstruktionsleistung aus.

Sowohl in der Beschreibung der Übersetzungen als auch in denjenigen der Mediationen geht es darum, die beteiligten heterogenen Elemente mit derselben Vorgehensweise zu betrachten und mit demselben Vokabular zu beschreiben, lediglich die Blickrichtungen unterscheiden sich. Die Abbildung [Abb. 3.3] versucht, dies schematisch zu präsentieren, indem die beiden Richtungen aufgeführt werden. Die Übersetzung verdeutlicht, wie ein vorhandenes, zu erklärendes Objekt in einzelnen Bestandteilen aufgehen kann. Mediation wiederum geht von den einzelnen Bestandteilen aus, um so das Zustandekommen des zu erklärenden Objektes aufzuzeigen.

Abb. 3.3
figure 3

(Quelle: Eigene Darstellung)

Von der Übersetzung und Mediation zu den Attachements

Mit dem Konzept der Attachements, das in der Abbildung zwischen den beiden anderen theoretischen Prozessen angeordnet ist, wird betont, dass dieselben konzeptionellen Ideen hinter den Begriffen stehen.Footnote 30 Das Aufzeigen von Attachements soll eine Erklärung für Prozesse ermöglichen, die in einem verteilten Sinne ausgelöst werden (Hennion 2013, S. 33). Allgemein beschreiben Attachements neben dem Ermöglichen von Prozessen so immer auch Verbindungen, die einschränken, zurückhalten oder die Abhängigkeiten aufzeigen (vgl. Hennion 2017, S. 113). Die Übersetzung verdeutlicht, dass die wissenschaftliche „Objektivität“ durch die soziale Konstruiertheit eingeschränkt wird. Mediation zeigt die Einschränkungen der „rein sozialen Konstruktion“ der Kultur anhand der Rolle von Objekten auf.

Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit und deren empirischer Untersuchung werden die drei Begriffe wie folgt genutzt: Die konzeptionelle Vorstellung der Mediation wird als grundsätzliches Interesse verstanden, nämlich dafür wie Resultate der Kulturproduktion durch verschiedene Intermediäre erschaffen werden. Hierbei, so die Annahme, legen die Akteur*innen selbst die Schwerpunkte auf eine materielle Ontologie oder den symbolischen Zeichencharakter. Die Theorien werden als ein beteiligter und je nach Effektstärke der Performativität unterschiedlich wichtiger Aktant aufgefasst. Das Konzept der Übersetzung wiederum wird folgendermaßen zur Erklärung von Performativität hinzugezogen: Es gilt, den Prozess und dessen Etappen zu beschreiben, mit denen eine Theorie in die Kulturproduktion hineintragen wird und mit denen Konzepte zu einem Teil der Mediation werden. Diese Auffassung von Übersetzung bezieht sich auf die aktuellere Verwendung des Begriffs (Latour 2017a; vgl. Kjellberg und Helgesson 2006), sie ist aber auch vereinbar mit der oben eingeführten Erläuterung. Es geht um den fundamentalen sozialen Prozess, wie etwas (hier eine Theorie) über Zeit und Raum verbreitet wird. Zentral ist hierbei, dass einerseits jede Etappe erklärt werden muss und eine Übersetzung nicht von alleine abläuft (vgl. Kjellberg und Helgesson 2006, S. 843). Und andererseits erfolgt eine Veränderung des übersetzten Etwas in jeder der Etappen. In der aufgezeigten Übersetzung einer Theorie der Kultur- und Sozialwissenschaften und der Wirkungen als Teil der Mediation der Kulturproduktion gilt es dann, nach den Attachements zu suchen, die Prozesse ermöglichen oder einschränken. Die Theorien können hierbei selbst als Attachements wirken, die Dinge einfordern oder verhindern, genauso wie diese Konzepte durch andere Anhänge erst eine Wirkung erhalten können oder auch nicht angehängt werden.