11.1 Einleitung

Wölfe und Bären kehren nach Deutschland zurück, Biber verändern Landschaften, Gänse verursachen Ernteausfälle, Singvögel und Eichhörnchen bevölkern Gärten und Hinterhöfe, Fledermäuse und Waschbären lassen sich im Dachgeschoss nieder. Ob auf dem Land oder in der Stadt – Menschen und wildlebende Tierarten treffen regelmäßig aufeinander. So entstehen Interaktionen, die beim Menschen für vielfältige Emotionen und Gedanken sorgen, die von positiven über neutrale bis hin zu negativen Assoziationen reichen (Frank et al. 2019). Während die Sichtung eines Wolfs bei einer Waldwanderung oder der nächtliche Flug einer Fledermaus Freude oder Faszination auslösen kann, führen der Verlust von Schafen durch Wölfe oder der Einzug von Fledermäusen in das eigene Haus hingegen meist zu Frustration, Wut, Sorgen oder Ängsten. Angesichts vielfältiger menschlicher Aktivitäten und intensiver Raumnutzung in Deutschland rücken Lebensräume von Menschen und Wildtieren immer näher zusammen. Dadurch entstehen zunehmend Mensch-Wildtier-Konflikte, mit einer wachsenden Anzahl verschiedener Beteiligter. Menschen und ihre Beziehung zu Wildtieren zu verstehen wird immer wichtiger, um einerseits Arten wirksam zu schützen und andererseits Konflikte bzw. Konfliktpotenziale zu minimieren. Die Ansichten zu wildlebenden Tierarten und deren Management können stark auseinandergehen, sowohl auf der individuellen Ebene als auch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen („Stakeholder“, Manfredo 2008; Decker et al. 2012). In vielen Fällen gehen die Konflikte dabei über den Sachzusammenhang (Mensch-Wildtier) hinaus und finden tatsächlich – aber nicht immer sichtbar – auf der menschlichen Beziehungsebene statt: d. h., obwohl verschiedene Interessengruppen vordergründig über Artenschutzfragen diskutieren, stehen tieferliegende Konfliktursachen wie z. B. unterschiedliche Werte und Einstellungen hinter diesen Auseinandersetzungen (Manfredo et al. 2017; Skogen et al. 2017; Harrison et al. 2019). In derartigen Fällen werden die sogenannten „Human Dimensions of Wildlife“ (HDW), die menschlichen Aspekte in Bezug auf Natur und Wildtiere, relevant.

Die Zielsetzung und die damit verbundenen Ergebnisse der HDW-Forschung lassen sich wie folgt beschreiben: HDW versucht, menschliches Denken, Fühlen und Handeln in Bezug auf Natur und Wildtiere als auch deren Management zu verstehen. Damit leistet diese Forschungsdisziplin im Idealfall nicht nur einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Rolle des Menschen im Naturschutz, sondern trägt auch zu effektiven, gesellschaftlich unterstützten und somit nachhaltigen Entscheidungen und Lösungen bei und verbessert dadurch Naturschutz und Wildtiermanagement (Manfredo 2008; Decker et al. 2012). Zum Beispiel kann HDW positive und negative gesellschaftliche Auswirkungen von Naturschutzmaßnahmen aufzeigen und den Zugang zum Wissen und den Perspektiven unterschiedlicher Personengruppen erleichtern. Dies wiederum trägt zu einem besseren gegenseitigen Verständnis für unterschiedliche Sichtweisen bei (Manfredo 2008). Ein weiteres Ziel von HDW ist es, die Akzeptanz von Wildtiermanagementmaßnahmen zu erfassen oder Entscheidungsfindungsprozesse aufzuzeigen sowie Gründe für Zustimmung oder Ablehnung zu identifizieren. Ergebnisse der HDW-Forschung bilden außerdem eine Grundlage für eine effektivere Kommunikation und Zusammenarbeit, indem Maßnahmen und Lösungen auf bestimmte Personengruppen zugeschnitten, ihre Erfahrungen und Wünsche einbezogen oder, falls nötig, Wissenslücken geschlossen und falsche Überzeugungen ausgeräumt werden (Decker et al. 2012; Frank et al. 2015a). Mit HDW sind Erfolge und Lösungsfindungen im Naturschutz und Wildtiermanagement möglich, die durch Naturwissenschaften und technische Lösungen allein nicht erreicht werden können. Deshalb gilt ein interdisziplinärer Ansatz, d. h. die Integration von Natur- und Sozialwissenschaften, als wesentliches Element zur langfristigen Lösung von Mensch-Wildtier-Konflikten (Manfredo 2008; Madden und McQuinn 2014; Bennett et al. 2017).

Vor diesem Hintergrund – und auch, weil im deutschsprachigen Kontext die gesellschaftlichen Dimensionen des Naturschutzes in der Praxis noch zu selten eine Rolle spielen (Ruschkowski 2010) – geben wir in diesem Kapitel eine kurze Einführung in die Forschungsdisziplin der „Human Dimensions of Wildlife“ und stellen einige gängige sozialwissenschaftlichen Ansätze und Theorien dieser Disziplin vor. Außerdem zeigen wir auf, wie diese Ansätze im Wildtiermanagement eingesetzt werden können, indem wir Beispiele aus einer Reihe aktueller HDW-Studien vorstellen. Im zweiten Teil des Kapitels beschreiben wir exemplarisch Wildtierkonflikte in Deutschland und stellen eine Auswahl an Fallstudien (Abb. 11.3, 11.4, 11.5 und 11.6) vor, die verdeutlichen, wie HDW in Konfliktsituationen wirkungsvoll und hilfreich angewendet werden kann. Im Kapitel wird eine genderneutrale Schreibweise gewählt, es soll jedoch die gesamte Gender-Bandbreite angesprochen werden.

11.2 Konzeptionelle Ansätze der Human Dimensions of Wildlife

„Human Dimensions of Wildlife“ wird heute meist als Teildisziplin den sogenannten Naturschutzsozialwissenschaften (Conservation Social Sciences) zugeordnet (Bennett et al. 2017) und wendet konzeptionelle Ansätze und Theorien z. B. aus der Soziologie und Sozialpsychologie im Kontext von Wildtiermanagement, Arten- und Naturschutz an (Manfredo 2008; Decker et al. 2012; Manfredo et al. 2017). HDW ist in Nordamerika entstanden und zielt somit primär auf Schlüsselkonzepte aus dem angelsächsischen Sprachraum ab, die aber im deutschsprachigen Raum Anklang gefunden haben. So stellt z. B. die Theorie der kognitiven Hierarchie („Cognitive Hierarchy“) ein Schlüsselkonzept für die HDW dar; diese Theorie beschreibt die enge Verknüpfung von Werten, Überzeugungen, Einstellungen und Normen (Fulton et al. 1996; Manfredo 2008; Manfredo et al. 2017; Jacobs et al. 2018; Abb. 11.1). Dabei bauen die einzelnen Konzepte ähnlich einer umgekehrten Pyramide aufeinander auf und beeinflussen sich gegenseitig, wobei einige wenige zentrale Werte das Fundament bilden und ganz oben zahlreiche Verhaltensweisen stehen, die situationsspezifisch sind und sich schnell ändern können (Fulton et al. 1996; Abb. 11.1). Neben diesen kognitiven Konzepten (d. h. was Menschen denken) verweisen viele Forschungsarbeiten zusätzlich auf die Relevanz von Emotionen in Bezug auf Wildtiere und deren Management (z. B. Manfredo 2008; Jacobs et al. 2014a; Johansson et al. 2016; Jacobs und Vaske 2019). Im Folgenden veranschaulichen wir, wie sich die genannten sozialpsychologischen Konzepte in der Forschungspraxis bewährt haben und ins Wildtiermanagement integrieren lassen.

Abb. 11.1
figure 1

Kognitive Hierarchie menschlichen Verhaltens (nach Fulton et al. 1996). Konzepte auf den unteren Stufen beeinflussen die darüber liegenden Ebenen

Werte („values“) beeinflussen, wie Menschen oder soziale Gruppen die Welt beurteilen und welche Entscheidungen sie treffen (Ives und Kendal 2014). Werte sind relativ stabile Leitprinzipien im Leben (z. B. soziale Gleichheit, die Erde respektieren; Rokeach 1973), die über Überzeugungen und Einstellungen eines Menschen sein Verhalten beeinflussen (siehe Fulton et al. 1996), aber sich auch direkt auf das Verhalten auswirken können. Hrubes et al. (2001) zeigen zum Beispiel, dass Werte in Bezug auf Wildtiere und zum Leben allgemein sich darauf auswirken können, wie häufig zur Jagd gegangen wird. Abhängig von der Forschungsfrage können menschliche Werte mit unterschiedlichen (quantitativen) Instrumenten gemessen werden, z. B. anhand der Wertedimensionen nach Schwartz (Schwartz 1992) oder mittels auf Umwelt oder Tiere bezogene Skalen für Wertesysteme (z. B. Drijfhout et al. 2020; Riepe et al. 2021).

Überzeugungen („beliefs“) füllen Werte mit subjektiver und individueller Bedeutung (Fishbein und Raven 1962; Fulton et al. 1996; Fishbein 2009). Überzeugungen können definiert werden als „Fakten, wie sie ein Individuum wahrnimmt“ (Dietz et al. 2005). Sie können die Einstellungen gegenüber Wildtieren oder Akzeptanz von Managementstrategien erklären, wie es z. B. für die Rückkehr von Wölfen und Wisenten (Überzeugungen, dass Menschen Wildtieren überlegen sind, führen zu einer nur geringen Unterstützung der Ansiedlung von Wisenten bei deutschen Schülern (Hermann et al. 2013; Hermann und Menzel 2013)) sowie für nicht-heimische Arten gezeigt wurde (Überzeugungen, dass diese Arten schädlich sind, führen eher zur Unterstützung von Managementmaßnahmen (Fischer et al. 2014)). Eine Möglichkeit, solche Überzeugungen zu messen, stellen die sogenannten wildtierbezogenen Wertorientierungen dar („wildlife value orientations“, WVO; Fulton et al. 1996; Manfredo et al. 2009). Das Konzept der wildtierbezogenen Wertorientierungen wurde ebenfalls primär im nordamerikanischen Kontext entwickelt. Bisher liegen nur wenige Einzelstudien vor, welche zeigen, dass das Konzept auch in anderen kulturellen Kontexten tragfähig zu sein scheint (Hermann et al. 2013; Jacobs et al. 2014b; Gamborg und Jensen 2016; Zainal Abidin und Jacobs 2016) jedoch auch kulturelle Unterschiede der wildtierbezogenen Werteorientierungen aufzeigen kann (Jacobs et al. 2022). Derzeit ist jedoch eine größere, auf über 30 Länder angelegte Studie in Vorbereitung (pers. Kommentar von Ruschkowski).

Einstellungen („attitudes“) umfassen die positive oder negative Bewertung eines Objekts oder einer Handlung (z. B. Zustimmung oder Ablehnung) und können durch Wissen und vorherige Erfahrung beeinflusst werden (Eagly und Chaiken 1993; Manfredo 2008). Einstellungen können auf vielfältige Weise gemessen werden und sind Teil vieler Theorien jenseits der kognitiven Hierarchie (z. B. „Theorie des geplanten Verhaltens“ (Ajzen 1991)). Einstellungen gehen dem Verhalten voraus und können es beeinflussen, sodass Verhaltensweisen unter anderem aufgrund von Einstellungen (z. B. positive Einstellung gegenüber dem Naturschutz) prognostiziert werden können. Dieser unmittelbare Zusammenhang zum Verhalten und die relativ einfache Messbarkeit erklären, warum HDW-Forschung sich meist mit Einstellungen befasst. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass menschliches Verhalten komplex ist und von vielen Faktoren beeinflusst wird (Gifford und Nilsson 2014), sodass eine Veränderung der Einstellung nicht unbedingt eine entsprechende Verhaltensänderung hervorruft. Dennoch ist es oft hilfreich, Einstellungen zu messen, um Interessenvertreter in ihren Bewertungen von Wildtieren und deren Management zu verstehen (Manfredo 2008). Dazu gehört zum Beispiel, ob Richtlinien und Maßnahmen zum Wildschadenmanagement unterstützt oder abgelehnt werden (Reiter et al. 1999).

Verhaltensabsichten („behavioural intentions“) werden oft anstelle von Verhalten gemessen, da sie über Umfragen einfach messbar sind und bewusste Verhaltensweisen in der Regel mit einer Absicht beginnen (Jacobs und Harms 2014). Obwohl Verhaltensabsichten mit Verhaltensweisen korreliert sein können, zeigt die Datenlage jedoch auch, dass gerade bei unbequemen Handlungen und komplexen Themen Verhaltensabsichten zu großen Teilen nicht in Verhalten umgewandelt werden (Kollmuss und Agyeman 2002).

Normen („norms“) beziehen sich darauf, welche Verhaltensregeln in einer Gruppe oder Gesellschaft als angemessen oder erlaubt wahrgenommen werden. Es wurde vielfach gezeigt, dass Normen einen starken Einfluss auf das Verhalten haben (z. B. Fishbein 1967; Cialdini und Trost 1998), und es gibt immer mehr Belege, dass dies auch für umweltfreundliches Verhalten gilt (Farrow et al. 2017). Im Wildtiermanagement-Kontext haben allerdings bisher nur wenige Studien die Bedeutung sozialer Normen untersucht (z. B. Niemiec et al. 2016).

Emotionen („emotions“) sind die Bandbreite der Gefühle (positiv bis negativ, einfach bis komplex), die Menschen erleben, wenn sie mit persönlich bedeutsamen Dingen und Ereignissen umgehen. Es wird angenommen, dass Emotionen die menschliche Reaktion auf Wildtiere direkt beeinflussen (Jacobs et al. 2014a; Manfredo 2008). Bei Emotionen werden diskrete Kategorien und Dimensionen unterschieden (Jacobs und Vaske 2019). Zu den diskreten Kategorien gehören verschiedene Emotionen wie Angst, Freude oder Traurigkeit. Bei den Dimensionen wird zwischen Valenz (Wertigkeit, positiv oder negativ) und dem Aktivierungsniveau (Erregung, von niedrig bis hoch) differenziert. Zur quantitativen Messung dieser Parameter werden Umfrageteilnehmer zumeist gebeten, auf einer Skala anzugeben, wie ängstlich, freudig oder traurig bzw. wie positiv oder negativ, aktiviert oder entspannt sie sich fühlen, wenn sie an bestimmte Wildtiere oder damit einhergehende Situationen denken. Emotionen können alleine oder im Zusammenspiel mit den anderen Konzepten der kognitiven Hierarchie betrachtet werden (Manfredo 2008). Zum Beispiel zeigen Straka et al. (2019), dass Emotionen gegenüber Wölfen die Akzeptanz von Wolfsmanagementmaßnahmen stärker beeinflussen als wildtierbezogene Werteorientierungen. Decker et al. (2010) zeigen, dass Menschen, die aus Angst einen Wald mit Wisent-Vorkommen nicht betreten würden, auch gegen deren Wiederansiedlung in Deutschland sind – in Folge dieser Studie wurde daher an Orten mit geringer Unterstützung der Anwohner von diesem Vorhaben abgesehen. Bei Wölfen können nicht nur Angst, sondern auch Abscheu oder Freude sowie ethische Emotionen (z. B. Aufgebrachtheit aufgrund eines möglichen Versagens beim Erhalt von Wolfspopulationen (Hermann und Menzel 2013; Jacobs et al. 2014a)) die Akzeptanz von Managementmaßnahmen beeinflussen.

Betrachtungsebenen

Werte, Überzeugungen, Normen, Einstellungen und Emotionen können innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft ähnlich oder unterschiedlich ausgeprägt sein. Mitglieder sozialer Gruppen (Abb. 11.2) sowie kulturelle Einheiten teilen zumeist ähnliche Werte (Inglehart und Welzel 2005; Manfredo et al. 2017). Dennoch haben Einzelpersonen innerhalb einer Interessengruppe (Abb. 11.2) auch eigene Überzeugungen, Emotionen etc., die sich von anderen in der Gruppe oder von der offiziellen Selbstdarstellung der Gruppe unterscheiden können. Folglich hängt es von der Fragestellung ab, auf welcher Ebene, z. B. Individuum oder Gruppe, Untersuchungen zu HDW-Konzepten durchgeführt werden (Decker et al. 2012). Darüber hinaus sind in der HDW-Forschung oft mehrere Interessenvertreter an einer Situation bzw. einem Konflikt beteiligt. Im Fall der Rückkehr von Wölfen nach Europa gehören beispielsweise Nutztierhalter, Jäger und Naturschützer zum zentralen Kern dieses Interessenvertreternetzwerkes, aber auch die Medien, Politiker, Anwohner, der Tourismus, Ministerien/Behörden, Förster und Wissenschaftler sind relevante Interessenvertreter (Grossmann et al; 2020, Abb. 11.2). Für ein effektives Wildtiermanagement ist das Verständnis der Individual- als auch der Gruppenebene sowie der Beziehungen unterschiedlicher Interessengruppen zueinander unerlässlich.

Abb. 11.2
figure 2

Beispielhafte Konstellation von Interessengruppen im Mensch-Wildtier-Kontext. Konzepte (im orangen Kreis) können sowohl für Einzelpersonen als auch auf Gruppenebene untersucht werden (mit freundlicher Genehmigung Exner Deluxe Design, ©Rawpixel.com/Adobe Stock, ©jan stopka/Adobe Stock)

11.3 Mensch-Wildtier-Konflikte in Deutschland und Europa

Obwohl Mensch-Wildtier-Interaktionen auch positiv oder neutral sein können (Frank et al. 2019), beschreiben wir im Folgenden vorrangig Konflikte, da diese meist aktives Handeln im Wildtiermanagement erfordern. In Deutschland treten z. B. zahlreiche Konflikt-Szenarien mit verschiedenen Säugetierarten (große Beutegreifer, Huftiere und Fledermäuse) als auch mit Arten an und in Gewässern und mit Vögeln auf. Anhand ausgewählter Studien zeigen wir auf, wo und wie HDW zur Unterstützung und Verbesserung von Arten- und Naturschutz angewendet werden kann.

11.3.1 Große Beutegreifer

Seit über zwei Jahrzehnten kehren große Beutegreifer wie Luchs (Lynx lynx), Bär (Ursus arctos) und Wolf (Canis lupus) in viele europäische Länder zurück – hauptsächlich aufgrund von sozial-politischen Veränderungen und durch das Inkrafttreten der Europäischen Naturschutzgesetzgebung zu Beginn der 1990er-Jahre, aber auch durch verbesserte Lebensraumbedingungen und einen ausgezeichneten Beutetierbestand. Daran entfachen sich seitdem immer wieder Mensch-Wildtier-Konflikte (Chapron et al. 2014; Linnell et al. 2017), und die wachsende Wolfspopulation in Deutschland bildet dabei keine Ausnahme. Während laut Umfragen die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit Wölfe wertschätzt (NABU 2015, 2018, 2021), wird dies von anderen Interessengruppen nicht unbedingt geteilt. Dabei handelt es sich zumeist um Gruppen aus der Jäger- oder Landwirtschaft – allerdings können Stakeholdernetzwerke lokal-regional unterschiedlich ausgeprägt sein und so z. B. auch Anwohner in Wolfsgebieten oder Behörden einschließen (z. B. Grossmann et al. 2020). Oft stehen hier dann Sorgen und Probleme rund um ökonomische und materielle Auswirkungen, wie etwa durch Nutztierrisse oder Konkurrenz um Jagdwild, im Vordergrund. Ängste, Haus- und Nutztiere oder die eigene Sicherheit betreffend, spielen ebenfalls eine Rolle, zumal sie zusätzlich geschürt werden durch ein reichhaltiges Kulturerbe an Märchen und Mythen mit meist negativen Assoziationen zum Wolf (Hunziker et al. 2001; Roskraft et al. 2007; Chapron et al. 2014; Dressel et al. 2015; Frank et al. 2015b; Linnell et al. 2017; Abb. 11.3).

Abb. 11.3
figure 3

Fallbeispiel Wolf (mit freundlicher Genehmigung Exner Deluxe Design, ©jan stopka/Adobe Stock)

11.3.2 Huftiere

Neben großen Beutegreifern sind große Pflanzenfresser bzw. wildlebende Huftiere häufig Teil von Mensch-Wildtier-Konflikten (Glikman und Frank 2011; Linnell et al. 2020). Zumeist drehen sich entstehende Konflikte um land- und forstwirtschaftliche Schäden, Verkehrsunfälle durch Kollision oder wechselseitig zwischen Menschen und Tieren übertragbare Krankheiten (Zoonosen). In erster Linie sind land- und forstwirtschaftliche, aber auch jagdliche Interessen betroffen (z. B. Frank et al. 2015a; Linnell et al. 2020). In Europa bietet großflächige Landnutzung durch den Menschen in Kombination mit oft historischen Höchstständen wildlebender Huftiere Anlass für Konflikte. In Deutschland vorkommende, potenzielle Konfliktarten sind das Reh (Capreolus capreolus), der Rothirsch (Cervus elaphus), das Wildschwein (Sus scrofa) und, zu einem geringeren Anteil, auch das Wisent (Bison bonasus; Decker et al. 2010; Reimoser und Putman 2011; Linnell et al. 2020; Abb. 11.4).

Abb. 11.4
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Fallbeispiel Wildschwein. mit freundlicher Genehmigung Exner Deluxe Design, ©jan stopka/Adobe Stock)

11.3.3 Tierarten in und an Gewässern

Küstengebiete und Binnengewässer werden von Menschen und Tieren intensiv genutzt, was unweigerlich zu Konflikten führt. In Mitteleuropa handelt es sich vor allem um Konflikte an der Küste mit Robben (Seehund, Phoca vitulina, und Kegelrobbe, Halichoerus grypus) sowie um Konflikte an Binnengewässern mit dem Eurasischen Biber (Castor fiber), dem Fischotter (Lutra lutra) sowie fischfressenden Vögeln (Kormoran, Phalacrocorax carbo, und Graureiher, Ardea cinerea). Die Bestände dieser Arten gingen im 19. und 20. Jahrhundert stark zurück. Durch die Wiederherstellung ihrer Lebensräume, Wiederansiedlungsmaßnahmen und Einstellung der Jagd haben ihre Verbreitung und Bestände wieder zugenommen und auch die damit verbundenen Mensch-Tier-Konflikte (Klenke et al. 2013; Marzano et al. 2013). Hauptursache für die Konflikte ist für die meisten Arten ein Konkurrenzverhältnis mit der Fischerei (Kloskowski 2011; Tixier et al. 2021), aber auch mit anderen menschlichen Aktivitäten wie dem Ausbau der Offshore-Windenergie oder mit der Landwirtschaft, wenn beispielsweise Biberbauten Felder überfluten. Bei Arten, die in und am Gewässer leben, zeigt sich besonders deutlich, dass Konflikte nicht nur daraus entstehen, wie Menschen fühlen oder über eine Tierart denken (z. B. als „Teufel, Engel oder Tiere“ (Goedeke 2005)), sondern dass es wichtig ist, die Vorlieben von Anwohnern, Touristen und Interessengruppen für „vermeintlich natürlich“ (Harrison et al. 2019) oder „neu“ gebaute Landschaften zu verstehen, wie sie z. B. beim Biber als „Landschaftsarchitekten“ entstehen (Abb. 11.5).

Abb. 11.5
figure 5

Fallbeispiel Biber. Graphik mit freundlicher Genehmigung Exner Deluxe Design, ©jan stopka/Adobe Stock)

11.3.4 Fledermäuse

Von den weltweit mehr als 1420 beschriebenen Fledermausarten (Simmons und Cirranello 2020) kommen 25 Fledermausarten in Deutschland vor. Aufgrund ihres nächtlichen Verhaltens sind Fledermäuse für das menschliche Auge oft nicht sichtbar und daher als potenzielle Konfliktarten wenig präsent, von Ärgernissen wie Fledermauskot auf dem Dachboden abgesehen. Angesichts ihres hohen Schutzstatus in Deutschland (Anhang II und IV der EU-Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie) kann ihre Anwesenheit in Gebäuden jedoch zu Einschränkungen bei Sanierungsvorhaben, langwierigen Genehmigungsverfahren und anderen unvorhergesehenen Kosten führen, was die Wahrnehmung der Menschen von Fledermäuse beeinflussen könnte. Die gleiche Problematik entsteht bei Infrastrukturanlagen wie Windparks, die für Fledermäuse ein hohes Risiko für Kollisionen oder ein sogenanntes Barotrauma (Zerplatzen innerer Organe durch große Luftdruckänderungen nahe der Rotorblätter) darstellen (Voigt et al. 2015). Dieses Konflikt-Szenario ist sogar noch heikler, da es für die Beteiligten einen Balanceakt zwischen zwei Naturschutzzielen impliziert – erneuerbare Energien versus Artenschutz (Voigt et al. 2019; Straka et al. 2020). Der vermutete Ursprung der Stammform von SARS-CoV-2 in Fledermäusen hat die Tiere außerdem kurzfristig in den Fokus der Medien und der öffentlichen Diskussion gerückt (Lu et al. 2021; Sasse und Gramzar 2021), was zu einer Besorgnis unter Fledermausexperten weltweit geführt hat (Straka und Voigt 2022). Allerdings sind die langfristigen Auswirkungen dieser Diskussionen auf den Fledermausschutz noch nicht bekannt. Die Literatur zum Thema Mensch-Fledermaus-Konflikt ist, insbesondere für Deutschland, spärlich (Abb. 11.6).

Abb. 11.6
figure 6

Fallbeispiel Fledermaus. mit freundlicher Genehmigung Exner Deluxe Design, ©jan stopka/Adobe Stock)

11.4 Abschließende Bemerkungen

HDW kann mit seinen primär in der Sozialpsychologie verankerten Theorien wichtige Beiträge und neue Impulse zur Lösung konfliktträchtiger Fragen im Naturschutz liefern. Der kurze Überblick in diesem Kapitel zeigt gleichermaßen das Konfliktpotenzial und die Vielzahl der möglichen Lösungen auf. Dabei ist ein disziplinübergreifender Ansatz eine Mindestvoraussetzung für die erfolgreiche Arbeit im HDW-Feld (Bennett et al. 2017). In der Praxis sind die Konfliktsituationen zudem meist sehr komplex, sodass weitere sozialpsychologische Faktoren und Konzepte bei der Forschungsarbeit berücksichtigt werden sollten. Hierzu gehören beispielsweise (öffentliches) Vertrauen (z. B. Sjölander-Lindqvist et al. 2015; Marino et al. 2016; Straka et al. 2020), Wissen/Kenntnisse (z. B. Glikman et al. 2012), Framing (z. B. Vitali 2014), soziale Identität (z. B. van Eeden et al. 2019) und die symbolische oder Stellvertreterfunktionen von Wildtieren (z. B.Madden und McQuinn 2014; Skogen et al. 2017). Im deutschsprachigen Raum fällt auf, dass wissenschaftliche Studien zu menschlichen Dimensionen im Natur- und Artenschutz relativ selten sind, gerade im Vergleich zu anderen Regionen wie Skandinavien (z. B. Johansson et al. 2016; Prager et al. 2018) oder den USA (z. B. Manfredo 2008; Bruskotter et al. 2009). Abgesehen von wenigen Ausnahmen bleiben systematische Ansätze, die über sozialwissenschaftliche Methoden Verbesserungen im angewandten Natur- und Artenschutz herbeiführen, selten. Selbst wenn es entsprechende empirische Vorarbeiten gibt (z. B. Brendle 1999), bleiben diese bislang in der Praxis weitestgehend unbeachtet. Insofern lassen sich mehrere Bedarfslücken konstatieren: Zum tieferen Verständnis von gesellschaftlichen Aspekten im Naturschutz und Wildtiermanagement ist eine bessere Einbindung von HDW-Fachwissen erforderlich – bestehende Wissensdefizite müssen abgebaut und gleichzeitig die empirischen Datengrundlagen verbessert werden. Darüber hinaus ist es aber genauso wichtig, den Transfer von Wissen in naturschutzrelevante Planungsverfahren und Managementabläufe zu stärken, beispielsweise durch zusätzliche Fort- und Weiterbildungsangebote und die Förderung inter- und transdisziplinärer Untersuchungsansätze.