Zusammenfassung
Transformationen des Wissens vollziehen sich in der ‚Sattelzeit‘ an verschiedenen Systemstellen der epistemischen Ordnung durch Temporalisierungseffekte − die wiederum (wie u. a. W. Lepenies, St. Gould und R. Koselleck zeigen) an der Formation neuer Disziplinen wie der Geologie, Biologie oder modernen Historiographie um 1800 beteiligt sind. Am Beispiel der Kosmologie zeigt der Beitrag, dass sich derartige Verzeitlichungstendenzen vereinzelt jedoch bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten lassen und rekonstruiert dazu das schrittweise und epistemisch widerständige Einbrechen der Zeit in die Darstellung der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) Immanuel Kants. Statische Formen aufgeklärter Naturdarstellung dynamisierend, schweift Kant mittels Analogie und Einbildungskraft räumlich wie zeitlich in einen Kosmos jenseits der Sichtbarkeit aus. Im Rückgriff auf Elemente aus den drei Großgattungen Lyrik, Dramatik und Epik (Roman) gestaltet sich der imaginative Ausblick auf ein Werden und Vergehen des Kosmos dabei als literarisches Gedankenexperiment. Gelingt es Kants tiefenzeitlicher Kosmologie noch über weite Strecken, die Figur des Menschen auszuklammern, so prägt deren anthropologischer ‚Einbruch‘ die literarischen Kosmologien seit der Spätaufklärung dagegen umso nachdrücklicher.
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Rössler, R. (2023). Einbruch der Zeit in die Darstellung. In: Pause, J., Prokić, T. (eds) Zeiten der Natur. LiLi: Studien zu Literaturwissenschaft und Linguistik, vol 5. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67588-5_3
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