Verliebte, Verlassene und Verlorene

Bodo Kirchhoffs Flucht- und Medienroman „Bericht zur Lage des Glücks“ erzählt von (Nächsten-)Liebe in grausamen Zeiten

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Roman von Bodo Kirchhoff verlangt dem Leser – zumal Kirchhoff-Bewunderern – einiges an Geduld und Nachsicht ab. Vieles von dem, was der Ich-Erzähler, ein entlassener, ehemaliger Redakteur einer christlichen Zeitschrift, auf den ersten hundert Seiten berichtet, wirkt stilistisch angestrengt, sprachlich bisweilen hölzern, handlungstechnisch unplausibel – und vor allem: viel zu lang. Dabei wird gleich zu Beginn des Romans mit der vorgeschalteten Erklärung und Beteuerungsformel der Authentizität, dass es sich im Folgenden um einen Bericht handele, der auf etwas zurückgehe, „das eigentlich nicht sein kann und doch der Fall war“, das Verhältnis von Fiktionalität und Realität thematisiert, aus dem der Text insgesamt gesehen seine Spannung bezieht.

Mit Berichten in der Literatur von Max Frisch (Homo Faber, 1957) bis Richard Ford (Die Lage des Landes, 2007) ist es aber so eine Sache: Einerseits spielen sie gattungstypologisch auf eine Form an, die gerade nichts mit Erzählen zu tun hat, sondern eher die Sachlichkeit einer Bestandsaufnahme suggeriert, was sich mithin dann auch im Erzählverfahren und -gestus solcher Texte bemerkbar macht. Andererseits markiert die Bezeichnung aber auch den Anspruch, sowohl individuell als auch gesellschaftlich-politisch Relevantes zu präsentieren. Für Kirchhoffs neuen Roman sind beide Perspektiven auf das Glück, die gesamtgesellschaftliche und die individuelle, nicht nur in gleicher Weise von Bedeutung, sondern auch aufs Engste miteinander verschränkt.

Der namenlos bleibende Ich-Erzähler schreibt diesen Bericht auch als Rechenschaft über seine Erlebnisse auf einer Reise zunächst durch Süditalien – später dann in Mailand und im Schwarzwald –, auf der er zufällig eine über das Meer nach Europa geflüchtete Afrikanerin, die in den Medien wie ein (Bild-)Phantom immer wieder auftaucht und nicht zu fassen ist, getroffen und im Auto mitgenommen, in der Folge sogar auch immer wieder vor den Behörden versteckt hat. Dass der Erzähler permanent und ostentativ – zumindest in den Anfangspassagen des Romans – das eigene Erzählen reflektiert und wie in einer Schreibwerkstatt immer wieder angibt, warum er auf die Nennung von Namen und (manchen) Ortsnamen verzichtet, mag man dem Charakter des Erzählers und seiner Profession als durchaus schlüssiges Merkmal zuschreiben, für den Leser ist das aber eher störend und wirkt bisweilen angestrengt.

Niedergelegt wird der Bericht des ehemaligen Redakteurs der fiktiven Zeitschrift „Christliche Stimme“ in einem afrikanischen Grenzort, wohin es den Erzähler in der Hoffnung, dort die Verlorene wiederzufinden, verschlagen hat. Rückblickend wird in der Rekapitulation jener Reise mit der Geflüchteten von Kalabrien bis nach Mailand, wo diese hofft, über Kontakte ihres Cousins (illegale) Arbeit zu bekommen, auch eine viele Jahre zurückliegende Reise mit derselben Route erzählt, die der Erzähler als Erinnerungsreise unternimmt und sich gleichzeitig die Überwindung einer verlorenen Liebe verspricht. Die Kapitel, in denen der Erzähler in Rom just in jenem gemeinsamen Lieblingslokal seine verflossene Liebe mit ihrem neuen Freund, einen bekannten und schillernden Moderator mit ebenfalls zumindest scheinbar christlicher Agenda zur Rettung von Geflüchteten und Benachteiligten auf der Welt, trifft und sogar das gesamte Abendessen mit ihnen verbringt, sind von ihrer Rahmung her sicherlich wenig überzeugend, weil der Zufall doch wieder überstrapaziert wird und eine allzu große Rolle spielt.

Doch zeigt sich gerade hier Kirchhoffs erzählerische Souveränität in der Darstellung von Alltagssituationen und deren individueller Verarbeitung. Die Gespräche zwischen den drei Figuren während des Abendessens, die Beobachtung der äußeren Handlungen und inneren Stimmungen, gehören nicht nur aufgrund der Intensität der Darstellung mit zum Besten, was der Roman zu bieten hat, sondern von diesem Abend und der Dreier-Konstellation aus entfaltet der Text auch sein Potential als Medien- und Liebesroman – eine Mischung, die nicht zwangsläufig immer gelingen muss.

Benedikt Cordes, der neue Freund seiner Ex-Geliebten, verwickelt den Erzähler immer wieder in Themen, die den Fortgang der Handlung und auch die Thematik des Romans bestimmen: Reflektiert werden die Macht der Bilder, die Rolle der Medien mit Blick darauf, was eine Gesellschaft bereit ist, als Informationen anzuerkennen und woraus schließlich Ängste und Hoffnungen gemacht werden. So abstoßend die Figur von Benedikt Cordes mit seiner medial perfekt inszenierten, aber eben doch für den kritischen Beobachter zu aufdringlich herausgestellten christlichen Nächstenliebe auch wirken mag, das Thema der Medienkritik und medialen Manipulation lässt sich mit seinem Charakter und seinen Handlungen exemplarisch einfangen und erzählen.

Die Stärke des Romans liegt sicher nicht in seiner Handlungsstruktur oder Handlungsführung, sondern in der sprachlichen Verdichtung existentieller Fragen nach dem, was Glück (gewesen) ist oder sein soll, was eigentlich praktische Nächstenliebe und Toleranz jenseits von politischen Sonntagsreden ausmacht, sowie in der Eng- und Parallelführung individueller Liebes- und Fluchtschicksale. Dabei werden Zustände und (migrationspolitische) Probleme unserer Gegenwart – und hier gerade Dank des manchmal unbeholfenen Ich-Erzählers – nicht aufgeregt oder anklagend im Stil eines Thesenromans aufgegriffen, sondern in den Erzählvorgang integriert und von ihrer anthropologischen Dimension her, was Menschsein eigentlich und auch historisch bedeutet, reflektiert. In ähnlicher Weise, wenngleich als Familiengeschichte angelegt, hat das Thema Francesca Melandri in ihrem großartigen Roman Alle außer mir (2018) literarisiert.

Nach und nach fügen sich bei Kirchhoff die unterschiedlichen Erzählstränge ineinander, Konstellationen und Situationen gewinnen eine unaufdringliche Doppelbödigkeit, die natürlich in der Gegenüberstellung der beiden Leben des Ich-Erzählers und der Afrikanerin ihren Ausgangspunkt nimmt. Beide verbindet die Suche nach Glück. Vordergründig hat der eine es in Deutschland verloren und macht sich auf seine Spuren in der Fremde, die andere wiederum sucht das Glück – und das ebenfalls fern der Heimat. In Wirklichkeit geht es dem Roman – und das auch vielleicht hinter dem Rücken seines Ich-Erzählers – darum, die Vorbedingungen für die Suche nach Glück auszuloten und zu benennen, an Selbstverständlichem zu rühren und den Blick für die Ambivalenz jeder Glückssuche zu schärfen.

Titelbild

Bodo Kirchhoff: Bericht zur Lage des Glücks.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2021.
608 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002886

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