LTB Spezial 105: Am Hofe

news ltb spezial 105

Illustre Adelsgesellschaft…

„Der Graf von Quackham“: Auf Quackham Manor, einem idyllischen englischen Landsitz, kümmert sich Sir Dagobert um das Vermögen seines Schwagers Graf Basil Quackley, der seit rund 30 Jahren verschollen ist. Abgesehen vom Geiz des Sir Dagobert geht es allen dort Lebenden gut. Aber eines Tages findet sich ein legitimer Erbe des Grafen – ein amerikanischer Bürgerlicher mit Namen Donald Duck. Sir Dagobert ist geschockt, seine Nichte Daisy dagegen begeistert. Auch das Personal kann Donald durch seine offene und liebenswürdige Art für sich gewinnen. Allerdings gibt es auch viele Geheimnisse in Quackham Manor, die nicht ans Licht dringen dürfen: Das Personal übt heimlich für eine Theateraufführung und Daisy darf sich nicht bei ihrer Geschäftsfrauentätigkeit erwischen lassen – Frauen haben kein Recht auf Männerarbeit. Außerdem gibt es da noch einen seltsamen Landstreicher, der Kost und Logie in Quackham Manor gefunden hat. Und Claas Clever will Sir Dagobert wieder einmal ein lukratives Geschäft streitig machen.

„Daisy von Duckenburg“: Dienstmagd Daisy bittet Graf Donald von Undzu nach Hause zurückzukehren, um seiner betagten Tante Gesellschaft zu leisten. Graf Donald kommt der Bitte nach, soll aber noch einen Brief von Konsul Knauserle an Hauptmann Hallodrius übergeben. Was Donald nicht weiß: Dieser Brief hat es in sich, benennt er doch alle Verschwörer gegen den König. Damit heften sich sofort allerhand Gegner auf seine Fersen, um ihm den Brief wieder abzujagen. Dabei kommt es zu allerlei Verwicklungen und einer spontanen Liebe zu Daisy – von der Graf Donald nicht weiß, dass sie keine Adlige ist.

„Kampf um die Krone“: Dagobert Duck erfährt, dass sich sein Erzrivale Klaas Klever einen Adelstitel erkauft hat. Das lässt Dagoberts Ansehen im Milliardärsklub auf einen Schlag sinken. Dann aber kommt er überraschenderweise in den Besitz eines Adelstitels und einer Diamantenmine. Allerdings ist nicht alles Gold, was glänzt…

„Seiner Majestät neuer Hut“: Die drei Musketier-Anwärter Goofos Goofamis, Micky de Mausignan und Rudios Lecheval haben sich ihre Aufgaben als Anwärter spannender vorgestellt als nur den Vorkoster, Hundesitter und Golfjunge zu mimen. Also beschließen sie, Schurken auf frischer Tat zu ertappen. Leider erwischen sie die falschen, sodass die echten Schurken mit der neuesten Hutkreation für den König entkommen können. Die drei Mausketiere beschließen, den Fehler wiedergutzumachen und heften sich den Dieben an die Fersen.

„Der aristokratische Rivale“ (deutsche Erstveröffentlichung): Onkel Dagobert will mit einem Aristokraten lukrative Geschäfte machen. Dabei erhält Donald nicht nur einen neuen Rivalen um Daisys Gunst, Phantomias kommt außerdem unsauberen, adligen Praktiken auf die Spur.

… alles andere als fehlerfrei

9 Geschichten weist das 512 Seiten starke LTB-Spezial auf. Davon sind zwei als Fortsetzungen konzipiert, die aber im Band ihr Happy End (?) finden. Die Episoden rund um „Graf von Quackham“ kommen als deutsche Erstveröffentlichung daher; die Episoden von „Daisy von Duckenburg“ wurden überarbeitet. Zudem beinhaltet der Band die beiden ersten Episoden der Mausketiere. Recht, Gerechtigkeit (was nicht immer das Gleiche ist), Demokratie, ungerechte Hierarchie, Frauenrechte und immer wieder der Kampf um eine bessere Welt zeichnen diesen Band aus. Frauenrechte und selbstbestimmte Frauen in Männergesellschaften kommen in mehreren Geschichten vor („Die Wirtin von Venedig“, „Daisy von Duckenburg“, „Der Graf von Quackham“) und im Gegensatz zu den Episoden rund um die Musketiere spielen sie keine nachgeordnete, sondern eine gleichberechtigte Rolle als Hauptfiguren. Zudem wird das asymmetrische Verhältnis zwischen Volk und Adel angesprochen und kritisch, aber auch humorvoll beleuchtet. Ebenso wird spannend und humorvoll, dabei aber auch kritisch der Adel als ebenso im Guten wie im Bösen menschlich dargestellt. „Rummel in Rolabola“ zeigt auf, dass ein despotischer Herrscher zwar ein Land erobern kann – aber ob er es auch hält, ist die ganz andere Frage. Der genetisch verankerte Sinn für Gerechtigkeit bricht immer wieder hervor und verteidigt demokratische Grundwerte. Damit hat die Geschichte auch einen aktuellen Bezug zu den diversen despotisch regierten Regionen der realen Welt und aktuell zum Ukraine-Krieg.

Empfohlen.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist

Und täglich grüßt das Murmeltier

Der soeben unter dem Titel «Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist» veröffentlichte Roman von Gert Loschütz hat eine weit zurückreichende, editorische Vorgeschichte. Das Buch basiert auf dem gleichnamigen Hörspiel aus dem Jahre 1988, das zwei Jahre später unter dem Titel «Flucht» erstmals als Roman veröffentlicht wurde. Wie der Autor in seiner Nachbemerkung schreibt, stand der damalige Titel in deutlichem Zusammenhang mit den Absetz-Bewegungen aus der DDR. Angesichts der heutigen, ganz anders gelagerten Flucht-Problematik «ist der Titel falsch». Er sei für die Neuausgabe deshalb «zu dem Titel zurückgekehrt, den die Geschichte für mich immer hatte», erklärt der 1957 als Elfjähriger mit seinen Eltern aus der DDR ausgereiste Autor.

«Sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst», sagt die Mutter von Karsten, als sie spätabends noch mal durch die Straßen gehen, es ist der Abend vor ihrer klamm-heimlichen Ausreise in den Westen. Immer wieder wurden vorab schon mal von verschiedenen Postämtern aus Pakete dorthin geschickt, wurde das Geld vom Konto abgehoben und davon ein teurer Fotoapparat gekauft. Der soll ‹Drüben› dann gleich wieder verkauft werden, der Erlös ist als Startkapital gedacht. Am nächsten Morgen machen sie sich dann auf den Weg zum Bahnhof. «Sieh dich nicht um» sagt die Mutter unterwegs immer wieder zu ihrem Sohn. Ihre Reise ist allen gegenüber als Urlaubsreise an die Ostsee deklariert worden, niemand darf wissen, wohin sie tatsächlich fahren. Diese konspirative Ausreise aus seinem Heimatort Plothow hinterlässt bleibende Spuren bei Karsten, um nicht zu sagen Schäden. Zeit seines Lebens ist der Abreisetag für ihn nun ein ganz besonderes Datum, sein persönlicher Feiertag quasi, der eine gravierende Zäsur in seinem Leben markiert. Und auch die traumatische erste Nacht in einem hessischen Hotel wird prägend für sein weiteres Leben. Denn künftig wird jede erste Nacht in einem Hotel den Reisejournalisten an die beklemmende, ungewohnte Situation erinnern, irgendwo ganz neu zu sein, so wie damals, als plötzlich alles ganz anders war als daheim in der DDR.

Eine durchgängige Handlung findet man nicht in diesem Roman, es sind eher narrative Vignetten, die da, zeitlich vor und zurück springend, aufgereiht werden. Den Ich-Erzähler Karsten hat das Fluchterlebnis nicht nur geprägt, es hat ihn total entwurzelt, er ist nirgendwo mehr richtig zu Hause und sucht bei seinen Reisen ruhelos nach Orten und Landschaften, die ihn an seine märkische Heimat erinnern. In Irland und auf Sizilien glaubt er sie gefunden zu haben. Als Reisejournalist schreibt er so manches Notizbuch voll und sitzt am Ende mit drei anderen Teilnehmern in einer Rundfunksendung, in der es ums Reisen geht, Genaueres erfährt man aber nicht. Gert Loschütz erweist sich hier als Großmeister der Andeutungen. Er lässt eine Feindschaft in der Schulzeit seines Helden kurz aufblitzen, führt einen ebenfalls viel reisenden und schreibenden Freund Götz ein, von dem man kaum etwas erfährt, und auch Frauen spielen nur andeutungsweise eine Rolle. Einzige Ausnahme ist Vera, mit der Karsten wohl länger liiert ist, und die dann auch als Adressatin fungiert, wenn beim Erzählen zuweilen in die Du-Form gewechselt wird. Aber auch da wird nur episodenhaft verkürzt erzählt, Vera bleibt eine eher schemenhafte Figur ohne Profil.

Die posttraumatisch bedingte Ruhelosigkeit des Protagonisten wird in einem unablässigen Gedankenstrom artikuliert, der in beeindruckenden Bildern Landschaften ebenso stimmig wiedergibt wie Erlebnisse und Begebenheiten im eng begrenzten Lebensradius des melancholischen Helden. Mit der Methode des unzuverlässigen, und zudem auch noch heftig mäandernden Erzählens wird der Leser allerdings ziemlich gefordert. Man fühlt sich verloren wie Karsten, dessen Gedanken refrainartig immer wieder auf den «Tag, der nicht vorüber ist» zurückweisen, was als fatale Zeitschleife (sorry!) an «Und täglich grüßt das Murmeltier» erinnert.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman

Wo, bitte, geht´s zum Kapitän? Eine Reiseleiterin auf ihrem Weg ins Glück

Wer zum ersten Mal im Leben eine Kreuzfahrt unternimmt, einen Flussdampfer entert oder die Weltreise in einem schwimmenden Hotel bucht, der wird mit diesem kleinen Buch auf die mitunter undurchsichtige Welt der Kabinenschiffe vorbereitet. Anders als beispielsweise bei dem satirischen Essay »Schrecklich amüsant – Aber in Zukunft ohne mich« von David Foster Wallace schildert Heidi von Balingen Erlebnisse und Beobachtungen auf den Meeren dieses Planeten aus der Perspektive einer Reiseleiterin. Weiterlesen


Genre: Erfahrungen, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Hochzeit in Jerusalem

Schläfenlocken und Dolce Vita

Der zweite Roman von Lena Gorelik mit dem Titel «Hochzeit in Jerusalem» wurde für den Deutschen Buchpreis 2007 nominiert. Die vor allem als Journalistin tätige, in Leningrad geborene Autorin mit russisch-jüdischen Wurzeln knüpft mit diesem ebenfalls autobiografisch geprägten Werk an ihren erfolgreichen Debütroman an. Denn auch hier geht es wieder um die Frage, was Jüdischsein in Deutschland heute bedeutet. Es gelingt der Autorin, diesem nach wie vor konfliktreichen Thema auf humoristische Weise die Schärfe zu nehmen, ohne jedoch den bitterernsten Hintergrund damit zu verleugnen.

Die Ich-Erzählerin Anja Buchmann, deren Eltern als russische Juden nach Deutschland ausgewandert sind, ist als Kommunikations-Beraterin tätig. Mal wieder auf der Suche nach einem neuen Partner, lernt sie auf einer jüdischen Single-Internetseite Julian kennen, ein ökologisch orientierter, eher unscheinbarer Hippietyp. Er hat gerade erst erfahren, dass sein Vater Jude ist, wenn auch ein nicht praktizierender, und dass seine Großeltern im KZ ermordet wurden. Nun möchte er mehr darüber wissen und beginnt sich für das Judentum zu interessieren. Zunächst kommuniziert er per E-Mail mit Anja darüber, lernt sie, obwohl er ihr zuweilen auf die Nerven geht, schließlich auch persönlich kennen und begleitet sie sogar in eine Synagoge. Nach dem Studium religiöser Schriften überlegt er nämlich, ob er Jude werden will. Er erfährt aber vom Rabbiner, dass Jude nur ist, wer eine jüdische Mutter hat. Eine Konvertierung in diese Religion wäre zwar möglich, sei aber ein langer und dornenreicher Weg. Als Anja und die gesamte Familie überraschend zur Hochzeit einer entfernten Cousine nach Jerusalem eingeladen werden, nutzt Julian die Gelegenheit und fragt zaghaft, ob er sich anschließen dürfe. Anjas Mutter würde die beiden, bisher nur lose als Freunde verbundenen, mit knapp dreißig aber immer noch Ledigen, bei dieser Gelegenheit gerne verkuppeln, sie stimmt also begeistert zu.

Es gibt wohl kein Klischee russisch-jüdischen Alltagslebens, das in diesem heiteren Roman nicht bedient wird. Sei es die unbekümmerte Art, mit der mehr oder weniger religiös geprägte Juden trickreich allerlei Auswege finden, die strengen Regeln und Gebräuche ihrer Religion zu umgehen. Sei es die weitverbreitete Verachtung aller Palästinenser, die ausgelassene Feierwut und Fresslust jüdischer Familienfeste oder die Streiterei mit der nervtötenden Verwandtschaft im Kontrast zu der ungebremsten Überschwänglichkeit innerhalb der eigenen Sippe. Besonders lustig ist die Episode mit der Anreise zur titelgebenden Hochzeit, bei der Anja mit ihrer beklemmenden Flugangst kämpft, um dann im Bus in Jerusalem auch noch in jedem Araber einen Selbstmord-Attentäter zu vermuten. Unverkennbar ironisch wird auch das touristische Jerusalem geschildert, mit dem Gedrängel vor der Klagemauer und den in der Altstadt herumwuselnden, schwarz gekleideten Ultraorthodoxen mit ihren Schläfenlocken, in absurdem Kontrast stehend zum lockeren Strandleben in Tel Aviv und dem von Konsumgier geprägten Dolce Vita der säkularen Oberschicht.

Mit ihrem dialogreichen, lockeren Erzählstil umschifft die Autorin elegant und selbstironisch so manche Hürde der Banalität, sie schafft es sogar, aus der Freundschaft zwischen Anja und Julian keine kitschige Liebesgeschichte werden zu lassen. Zudem gibt sie auch allerlei, den Zionismus betreffende, politische und gesellschafts-kritische Denkanstöße. Oder sie persifliert beispielsweise genüsslich den Markenwahn auch in der israelischen Konsum-Gesellschaft. Im Epilog sitzt Anja dann wieder im Flugzeug und bekämpft ihre Angst, indem sie mit ihrem MP3-Player die dreitägige Aufzeichnung abhört, in der ihre schon sehr vergessliche Großmutter ihr Leben erzählt: «Geboren wurde ich in einem Schtetl, das weißt du ja. In Weißrussland war das, es war ein Schtetl, wahrscheinlich wie das in Kanada, wohin du fliegst. Warum eigentlich noch mal?» Amüsant also, – mehr aber auch nicht!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diana Verlag

Eine runde Sache

Absolut keine runde Sache

Als Gewinner ist Tomer Gardi mit seinem Roman «Eine runde Sache» die große Überraschung der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Erstmals wurde hier auch ein Buch prämiert, dessen etwas umfangreicherer zweiter Teil auf Hebräisch geschrieben wurde und den man folglich nur in Übersetzung lesen kann. «Mein Grundkonzept hinter diesem Roman war, dass ich wissen wollte, wie unsere Sprachen unsere Fantasie beeinflussen» erklärte der Autor dazu. Die Jury sprach euphorisch von einem «Feuerwerk der Einbildungskraft», das «ebenso dreist wie kunstvoll mit den Lesegewohnheiten spiele». Es fragt sich nur, inwieweit dieses feuerwerkartige Spiel auch diejenigen erfreut, auf deren Kosten es geht, die überraschten Leser nämlich.

«Ein Mann rutscht auf eine Scheibe Salzgürke aus, stürzt nieder auf seiner Arsch», beginnt slapstickartig und in ‹Broken German», dem für den Autor typischen Migranten-Deutsch, der erste, vom Museumswächter Tomer Gardi erzählte Teil des Romans. Er wird auf eine Yacht eingeladen, landet aber überraschend im Wald auf einer Jagd, bei der er selbst der Gejagte ist, der bissige Schäferhund Rex ist hinter ihm her. Es gelingt ihm, Rex zu überrumpeln und ihm die «Portable Vagina» über die Schnauze zu ziehen, die er gestern Abend in einem Pissoir aus dem Automaten gezogen hat. Der Hund protestiert wütend, Tomer aber tut so, als habe er ihn nicht verstanden. «Dü Plüstükfützü! Nüm sü jützt vün münür Schnützü rüntür!» «Das ist keine Plastikfotze, Rex. Das ist dein Maulkorb» antwortet Tomer. «Ürzühl mür kün Schüß!» Wie bei den Bremer Stadtmusikanten schließt sich ihnen bald auch der tote Erlkönig an, der nur in altmodischen Reimen spricht. Im allegorisch benannten Bad Obdach versucht das hungrige Dreigespann durch Singen etwas Geld zu verdienen, wird bald schon von einer freundlichen Oma (oder Hexe?) zum Essen eingeladen und erlebt schließlich auch noch die Sintflut. Es gelingt aber nur Tomer Gardi, sich auf die Arche Noah zu retten, ehe er am Ende wieder auf den Intendanten trifft, der am Anfang auf der «Salzgürke» ausgerutscht ist.

Im zweiten, stilistisch konventionellen Teil des Romans wird die Geschichte des realen indonesischen Malers Rahden Saleh von der Insel Java erzählt, der im 19ten Jahrhundert zur Ausbildung nach Europa reiste, schnell berühmt wurde und in den höchsten Kreisen verkehrte. Als er auf Wunsch des Königs Jahrzehnte später in die niederländische Kolonie zurückkehren musste, war er dort als Einheimischer plötzlich nicht mehr privilegiert und erlebte einen bitteren sozialen und künstlerischen Abstieg. Diese gut recherchierte Lebensgeschichte bietet historisch aufschlussreiche Details aus der Kolonialzeit, wobei die Leser aber mit einer Fülle von Figuren konfrontiert werden, von denen die meisten nie etwas gehört haben dürften. Das trägt nichts zur Sache bei, sondern stört nur den Lesefluss!

Im Grunde sind es zwei Romane, die man da liest. Deren einzige Verbindung kann dahingehend interpretieren werden, dass hier zwei Künstler, durch mehr als ein Jahrhundert getrennt, auf Identitätssuche in ihren unterschiedlichen Kunstgattungen geschildert werden. Einerseits die Romanfigur des ehemaligen Schriftstellers und Museumswächters Tomer Gardi im ersten, als Schelmenroman angelegten Teil, andererseits der von höchstem Ruhm verwöhnte Maler, der am Ende völlig desillusioniert auf Nimmerwiedersehen in den Weiten einer javanischen Kaffeeplantage verschwindet. Dabei werden auch die Mythen vom Ewigen Juden und vom Fliegenden Holländer mit einbezogen. Das wird im märchenhaften ersten Teil durch das wohl auch real vorhandene, hier mutmaßlich aber übertrieben stümperhafte Deutsch des israelischen Autors symbolisiert, im historischen zweiten durch die Zerrissenheit des Malers zwischen den unterschiedlichen Kulturen von Orient und Okzident. Die verhaltene Rezeption der Leserschaft ist mehr als deutlich: Eine runde Sache, zusammenpassend und preisträchtig also, ist dieser seltsame Roman keinesfalls!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Die besten Ideen von einem Blech

Alles auf einem Blech

Es hat Vorteile, wenn Gerichte auf einem Blech gemacht werden, und die hebt das vorliegende Buch hervor: Man muss nicht mit vielen verschiedenen Töpfen und Pfannen hantieren. Aufwand und Abwasch halten sich in Grenzen. Wenn das Gericht im Ofen ist, kann man auch etwas anderes machen. Das zahlt sich z.B. bei Partys aus. Alles ist gut vorzubereiten, gart gleichmäßig und liegt so dicht beieinander, dass die Aromen sich gut durchdringen können. Die Bleche lassen sich gut reinigen.

Das Buch geht außerdem auf die verschiedenen Betriebsarten von Backöfen und deren Vor- und Nachteile ein. Ebenso ist Backblech nicht gleich Backblech – auch da gibt es Unterschiede, was bei den Gerichten beachtet werden sollte, wie z.B. bei Fettpfannen und verstellbaren Blechen.

Auf den Blechen kann man alles Mögliche zubereiten, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der Star ist allerdings das Gemüse, das nach Geschmack gewürzt, mit Öl vermengt und mit verschiedenen Käsesorten verfeinert werden kann. Es bildet im Backofen feine Röstaromen. Aber auch Fleisch am Knochen (so bleibt es saftig), ganzer Fisch und sogar Obst und Desserts lassen sich gut im Backofen zubereiten.

Meist ansprechende Rezepte

Dementsprechend sind die Rezepte gestaltet. Die meisten habe ich ausprobiert und sie schmecken sowohl mir als auch meinem Kind sehr gut. Einzig die Rezepte, die mir schon auf dem Foto recht trocken erschienen sind, habe ich ausgelassen. Das Gericht auf dem Cover z.B. finde ich aus mehreren Gründen nicht wirklich ansprechend, weil es zum einen ganze, ungeschälte Knoblauchknollen enthält (lieber geschält und geschnitten), Tomaten mit Rispen (die von den heißen Tomaten abzuklauben ist nicht mein Ding) und es mir, wie schon erwähnt, zu trocken erscheint.

Die Gerichte sind sehr übersichtlich gestaltet und mit großen Fotos bebildert. Es sind meist wenige Zutaten und überschaubare Zubereitungsschritte nötig, um das Gericht zuzubereiten. Es kostet damit tatsächlich relativ wenig Zeit. Das Argument, dass man zwischenzeitlich etwas anderes machen kann, stimmt zwar, aber weil das Backen doch meist noch einige Zeit in Anspruch nimmt, eignen sich Backofenrezepte eher weniger, wenn es mal schnell gehen muss.

Unterteilt werden die Rezepte ganz klassisch in Hauptgerichte, Snacks und Beilagen, Desserts und süßes Gebäck. Insgesamt sind sie fleisch- und fischlastig mit Gemüsebeilage; es gibt aber auch ein paar vegetarische Varianten, v.a. bei den Snacks und Beilagen, die z.T. aber auch als Hautgerichte durchgehen würden. Ein Rezeptregister rundet das Buch ab.

Fazit

Schmackhafte, übersichtlich gestaltete Rezepte süß und herzhaft für Fans der Backofengerichte. Manche Gerichte sind aber Geschmackssache, da sie schon auf dem Foto etwas trocken aussehen.


Genre: Koch- und Backbuch
Illustrated by Weltbild

Der geschenkte Gaul: Bericht aus einem Leben

Hildegard Knef hatte mit Ende vierzig ihren „Bericht aus einem Leben“ herausgegeben. Dass ich ihn fünfzig Jahre später lesen wollte, liegt an Angela Merkels Wunsch, sich vom Bundeswehrorchester zum Abschied das Lied Für mich soll’s rote Rosen regnen, als Ständchen darbieten zu lassen. Ihre Lieder hatten mir schon lange gefallen, vor allem Von nun an ging’s bergab, nun weiß ich, dass es eine, in ihrem kodderigen Stil gefasste, Kurzbiografie darstellt …

Das Buch überrascht, es ist ein Stilmix, von ihrer Jugendzeit sind es lebhafte Erzählungen, später werden es Tagebuchnotizen, manchmal sind Briefe eingestreut, die Jahrzehnte später verfasst sind, alles ist prall gefüllt mit ihren Erlebnissen, geprägt von ihrer Neugier und Lust auf das Leben.

Als Kleinkind zieht ihre Familie Mitte der Zwanziger nach Berlin, kurze Zeit später stirbt der Vater, die Mutter muss Geld verdienen und so kommt sie zu den Großeltern. Am liebsten ist sie mit dem Opa in Zossen, in einer Laube, wo sie sich frei entfalten konnte. Das erste Kapitel heißt „Liebeserklärung an meinen Großvater.“ Die Oma hatte Angst vorm jähzornigen Ehemann, ihr konnte er gar nichts. Später, als ihr erster Ehemann auch zu Jähzorn neigt, ist es ihr auch kein Problem.

Die Mutter heiratet einen Schuhmacher, dessen Geschäft am S-Bahnhof Wilmersdorf (heute Bundesplatz) liegt, und sie berichtet von seinen Versuchen, den Blockwart auszutricksen, wenn er seinen Laden mit der Nazifahne schmücken soll. Zwei Lehrerinnen langweilen sie mit dem Schwärmen von Führer und Vaterland, manche schikanieren sie. Das erschwert die Berufswahl, es gelingt ihr, in einen Zeichenkurs bei der Ufa zu kommen. Sie will mehr, glaubt an sich, und sie schafft es, als Schauspielerin vorzusprechen. Ihr Motto ist, ganz berlinerisch: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommste ohne ihr.

Der Krieg beginnt, die ersten Freunde werden Soldaten, dann fallen die Bomben, sie verbringt Abende in Bunkern und sieht, wie Stück für Stück das Viertel zerstört wird. Die Straßennamen aller ihrer Wohnungen sind ausgeschrieben, die meiste Zeit wohnte sie ganz in der Nähe meines Wohnorts, was meine Aufmerksamkeit erhöhte. Die Mutter ist mit dem kleinen Bruder evakuiert, sie lebt mit dem schwindsüchtigen Stiefvater zusammen, als die Wohnung teils zerbombt ist, kommt die Kapitulation.

Als Freund bei Kriegsende hatte sie einen führenden Parteigenossen, dessen Namen sie nur als Initiale, aber mit Adelstitel verrät. Sie schließt sich ihm zur Verteidigung der Stadt an, sie wollten, an der S-Bahn entlang, Richtung Westkreuz kämpfen und müssen aufgeben, kommen beide in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Alle diese Begegnungen sind ohne Wehklagen geschrieben, nach vorne wird geguckt. An ihn, E.v.D. denkt sie oft, einmal schreibt sie von den Flitterwochen am Kriegsende.

Weiter geht es, als die Alliierten das Sagen haben, als die Amis Häuser besetzen in Zehlendorf und die Briten in Wilmersdorf. Inzwischen ist sie Anfang zwanzig, Schauspielerin: Sie macht mit beim ersten Film nach Kriegsende: Die Mörder sind unter Uns, aber lieber noch spielt sie Theater mit Borislaw Barlog.

Manchmal gibt es tagelang nichts zu essen, die Ruhr grassiert, aber das hält sie nicht auf. Ein Ami macht ihr den Hof. Dazu, ganz trocken: „Kurt Hirsch, wurde später der Assistent von Erich Pommer, noch später mein Angetrauter und wesentlich später ein von mir Geschiedener.“

Bei den Amerikanern in Zehlendorf wird sie entnazifiziert, mit Hirsch sieht sie bei den Sowjets einen Film über Auschwitz und beginnt zu begreifen. Seine Eltern sind Juden und werden nie verstehen, wie ihr Sohn eine Deutsche heiraten konnte.

Die ersten Jahre nach Kriegsende sind bewegt, sie lernt Englisch und französisch. Der Film Die Sünderin wird zu einem Skandal, umso mehr zieht es sie nach Hollywood, sie kann als Deutsche keine Verträge abschließen, mit Ihrem Mann wandert sie aus und filmt in den USA, lebt in Hollywood, das in der Zeit von McCarthy als linksversifft bekämpft wird.

Ihre Beobachtungen sind genau, fast wie ethnologische Studien, wenn sie über Sitten, etwa Grill- und andere Partys, schreibt. Sie beschreibt die Dichte von Therapeuten in Hollywood, besonders amüsant wird es, wenn sie von Vertreterinnen der Frauenorganisationen ob ihrer Moralvorstellungen verhört wird. Natürlich trifft sie viele Prominente, schon in Berlin war es so, sie begegnet Rock Hudson, übrigens hat er dieselbe Sprachlehrerin wie sie, Henry Miller, Cole Porter ist Komponist ihrer Broadway-Show. Es bleibt nicht beim name dropping, sie freundet sich mit manchen an, mit Marcuse, vor allem mit Marlene Dietrich, die sie fast ein bisschen bemuttert, ihr ihren Astrologen empfiehlt, und sie mit Rat und Tat unterstützt.

Eingestreut sind interessante Überlegungen, warum gibt es im Englischen kein „Sie“? Wie ist das Bild der Deutschen im Ausland, wie denken die vielen Emigranten, denen sie immer begegnet? Sie ist die „Kraut“ und wird bei Interviews nicht dazu befragt, wie ihr Schauspiel ist, sondern, ob sie Nazi war.

Später geht sie dazu über, Tagebucheintragungen zu verwenden. Es gibt Erfolge, aber auch Enttäuschungen in New York, Rückkehr nach Deutschland, Ärger mit Produzenten, Me too-Erlebnisse. Eine lange Aufzählung ist den Anfeindungen gewidmet, die sie, lange vor den Zeiten, des Shitstorms erfährt. Und dann Aufzählungen der vielen Krankheiten, die sie durchlitt.

Zum Schluss kommen Berichte ihres Glückes nach der Geburt ihrer Tochter Tinta, und dem Leben mit deren Vater.

Ich las die Erzählungen in ganzen Sätzen, gerne im feuilletonistischen Stil der Theaterkritiker ihrer Zeit, sehr gerne. Das Lesen der Satzbrocken wurde anstrengend. Ob ein Redigieren es verbessert hätte? Oder ist es gerade ihr Stil, frisch und frei „von der Leber weg“ zu schreiben? Jedenfalls konnte ich ihre ersten drei Jahrzehnte mit mehr Aufmerksamkeit, ja Anteilnahme lesen. Schon die vielen zeithistorischen Hinweise lohnen die Lektüre, sie wusste eben, wieder ganz berlinerisch: „Wer angibt, hat mehr vom Leben.“


Genre: Biografien, Theater
Illustrated by Ullstein

Zusammenkunft

Fataler Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht

In England gilt der Roman «Zusammenkunft» der studierten Mathematikerin Natasha Brown als erfolgreichstes Debüt des Jahres 2021. Er wurde von Jackie Thomae kongenial ins Deutsche übersetzt und thematisiert den Rassismus aus einer völlig ungewohnten Perspektive. Die namenlose Protagonistin ist entgegen aller Klischees eben keine unterprivilegierte farbige Frau, die sich vergeblich abmüht, sich den Weg nach oben in eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Stattdessen hat hier die Heldin «Oxbridge» absolviert, arbeitet in der Londoner Bankenszene in den obersten Etagen der Hierarchie, mit dementsprechend üppigen Bezügen natürlich. Sie hat es eigentlich doch geschafft, müsste froh und glücklich sein, oder?

Den steilen Aufstieg hat die junge Frau in London nur mit harter Arbeit, eisernem Durchhalte-Vermögen und absoluter Hintanstellung aller privaten Wünsche und Ziele geschafft. Nun, da sie dort angekommen ist, wo sie partout hinwollte, beginnen ihre Zweifel. Dient sie ihrer Firma etwa nur als Aushängeschild für ethnische und gender-bezogene Diversität? Waren all die Mühen das denn wirklich wert? Nach ihrer aktuellen Beförderung stellt sie ernüchtert fest, dass ihr hierarchisch gleichgestellter, neuer weißer Kollege gleichwohl von ihr erwartet, dass sie den Kaffee kocht, dass sie den Flug nach New York für ihn bucht, weil er nun mal in seinem Wochenend-Urlaub mit Familie einfach keine Zeit dafür habe. Und plötzlich schwebt auch noch kurzzeitig das Damokles-Schwert einer möglichen Krebserkrankung über der Ich-Erzählerin. Ihr schnöseliger Freund gehört zur britischen Upperclass, eine Familie «mit Geld so alt und dreckig wie das Empire». Er genießt seinen leistungslosen Wohlstand und wird mit all seinen Beziehungen mühelos eine politische Karriere machen, wenn er denn will, was gar nicht so sicher ist. Mit der Einladung seiner Eltern zu einer pompösen Gartenparty mit illustren Gästen wachsen ihre Zweifel. Soll sie sich wirklich den Demütigungen aussetzen, die sie dort sicherlich erwarten werden, wenn nicht gar möglichen Aggressionen? Vor dem Beginn des Festes zieht sie sich auf eine nahe gelegene Bergwiese zurück. «Warum leben?» fragt sie sich grübelnd, «Warum mich weiterhin ihrem reduzierenden Blick aussetzen? Diesem vernichtenden Objektsein. Warum meine eigene Entmenschlichung dulden?»

Trotz ihrer beruflichen Karriere kann die Heldin als farbige Frau also der latenten Ungerechtigkeit nicht entkommen, dem schlimmen Erbe der Kolonial-Geschichte nicht entfliehen. Sie ist als Karrieristin im Sektor der Hochfinanz ein Fremdkörper in einer fast ausnahmslos männlichen Domäne, und sie wirkt als Farbige mit Migrations-Hintergrund in der konservativen gesellschaftliche Oberklasse so exotisch wie einst der Mohr an den Fürstenhöfen der Feudalzeit. Junge Frau, Farbige auch noch und triumphal Erfolgreiche, dass ist zu viel der Zumutungen für die bessere Gesellschaft. Soziale Flexibilität und Durchlässigkeit der Klassen bleiben jedenfalls reine Utopie, da sie nur vordergründig erkennbar und wirksam sind, sich aber als fest verankerte Denkmuster nie wirklich haben etablieren können.

In einem quasi post-postmodernen Stil mit vielen inneren Monologen entwickelt die Autorin ihre unkonventionellen Gedanken zu einem nicht bewältigten Thema, dem leidigen, scheinbar unausrottbaren Rassismus. Vieles reißt sie dabei nur an, buchstabiert ihre Reflexionen nicht durch bis zur letzten Konsequenz, wohl um dem Vorwurf auszuweichen, ihr Thema allzu theoretisch zu entwickeln. Ihre minimalistische Verdichtung des Stoffes, in der sie sich zum Beispiel über das kollektive Gedächtnis der britischen Gesellschaft äußert, wird in der gewählten unkonventionellen, schon fast irrealen Erzählform den beabsichtigten realen Aussagen kaum gerecht. Auch die emotionslosen Figuren bleiben schemenhaft unwirklich in den Erzähl-Vignetten dieses wenig überzeugenden Romans über einen fatalen Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Am Morgen des zwölften Tages

Hochaktuell

Aus zwei nicht nur zeitlich unterschiedlichen Perspektiven berichtet Vladimir Vertlib in seinem Roman «Am Morgen des zwölften Tages» über orientalische Männer. Dabei geht es dem österreichischen Autor russisch-jüdischer Herkunft hauptsächlich um die Islam-Erfahrungen seiner zwei Protagonisten, die als Großvater und Enkelin, also aus der Perspektive verschiedener Generationen, über das religiös gesteuerte Verhalten von Muslimen berichten. Da ihre Geschichten völlig unabhängig voneinander in Ich-Form erzählt werden, sind es eigentlich zwei Romane, die man da in ständigem Wechsel liest.

«Gnädige Frau, wären Sie bereit, mit mir zu schlafen», fragt gleich zu Beginn in einer Bar der 57jährige Adel die 39jährige Astrid, die seit jeher eine Schwäche für orientalische Männer hat. Die alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter bricht 1988, gleich nach dem Abitur, aus ihrer süddeutschen Universitätsstadt zu einer Reise nach Marokko auf, kommt aber nur bis Stuttgart. Dort lernt sie am Bahnhof Khaled kennen, der sich im Kaffeehaus an ihren Tisch gesetzt hat. Die mollige junge Frau kann seinem Charme nicht widerstehen, die Beiden erleben eine rauschhafte Nacht miteinander. Sie verschiebt daraufhin die Weiterreise von Tag zu Tag. «Am Morgen des zwölften Tages verschwand er», – und zwar auf Nimmer-Wiedersehen, sie weiß so gut wie nichts von ihm, außer dass er aus einem Dorf im Irak stammt. Neun Monate später kam ihre Tochter zur Welt. Ähnlich desaströs verläuft auch zwanzig Jahre und viele Männer später ihre Affäre mit Adel, denn schon bald schlägt er sie im Streit. Sie sinnt auf Rache und schließt sich einer Selbsthilfe-Gruppe nicht-muslimischer Frauen an.

Ihr verstorbener Großvater war als Orientalist durch sein Buch «Faschistische Perspektive für die Welt des Islam» berühmt geworden. Im Krieg war er für das Propaganda-Ministerium und die deutsche Abwehr tätig und wurde in eine Delegation berufen, die 1941 mit dem Auftrag in den Irak reiste, dort einen Aufstand gegen die britischen Besatzungs-Truppen anzuzetteln und sich als Verbündete zu inszenieren, wobei ja allein schon der Antisemitismus als Bindemittel diente. Die schriftlich festgehaltenen Ereignisse der Nazi-Mission bilden den größten Teil des Romans. Sie erinnern in ihrer Abenteuerlichkeit zwar an Karl May, sind aber offensichtlich gut recherchiert und durchaus bereichernd zu lesen. Zum Lesegenuss trägt insbesondere die deutliche Ironie des Autors bei, der nicht ganz klischeefrei, aber gut nachvollziehbar die Wurzeln im machohaften Weltbild islamischer Männer in ihrer extrem frauenfeindlichen Religion verortet. Dem Autor deshalb allerdings Islamophobie zu unterstellen, «gerade er als Jude dürfe so nicht über den Islam schreiben», geht allerdings völlig an der Sache vorbei, weist er doch deutlich auf dafür gleichermaßen vorhandene europäische Ursprünge hin.

Man macht es sich auch zu einfach, wenn man das bis heute gültige, mittelalterliche Weltbild des Islam nur als eine Frage der Koran-Auslegung interpretiert. Dieses antike Märchenbuch trägt, übrigens genau wie Talmud und Bibel, zum Leid jener Mehrheit von naiven Gläubigen bei, deren Intellekt den Schwachsinn nicht zu durchschauen vermag, der ihnen da von Kindesbeinen an eingetrichtert wird. Angesichts des islamistischen Terrors wird deutlich, wie gefährlich dieser «explosive Religionskitsch» tatsächlich ist. Die köstlichste Stelle im Buch ist die lebhafte Diskussion der Selbsthilfegruppe-Damen über die 72 Jungfrauen, die im Jenseits auf die Märtyrer des Islam warten. Der dem realistischen Erzählen verhaftete Vladimir Vertlib hat seine Thematik gründlich durchleuchtet und auf humorvolle Weise sehr unterhaltsam darüber geschrieben. Sollte, was Allah verhüten möge, Marine Le Pen am Sonntag zur Präsidentin gewählt werden, droht, wie Emmanuel Macron gestern im TV-Duell prophezeit hat, mit dem von ihr geplanten Kopftuchverbot ein Bürgerkrieg in Frankreich. Hochaktuell also, worüber der Autor hier schreibt!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien

LTB Spezial 104: Nachts in Entenhausen

Vielfältige nächtliche Aktivitäten

Zwischen „Schein und Schimären“ und der Realität muss Phantomias unterscheiden, denn der Schein trügt im Fall der Panzerknacker, die wieder eine neue Niederträchtigkeit ausgeheckt haben, um an Onkel Dagoberts Geld zu kommen.

„Eine unruhige Nacht“ verbringt nicht nur der schlaflose Donald, sondern auch ganz Entenhausen, weil Donald nächtens Hilfe sucht.

„Unliebsame Verpflichtungen“ müssen Micky und Kommissar Hunter eingehen, um den lieben Frieden innerhalb der Liebes- und Freundesbeziehungen zu wahren.

Ein „Besuch zur Geisterstunde“ lässt Donald an seinem Verstand zweifeln.

„Die lange Nacht der Follower“ ist ein Resultat des sinkenden Ruhmes von Phantomias. Der muss sich dringend überlegen, wie er seinen Ruf wieder aufpoliert. Das funktioniert aber völlig anders als geplant.

Die „gesunde Sorge“ um seine „kläglichen Ersparnisse“ bringt Onkel Dagobert um seinen Nachtschlaf. Damit es wieder heißt „Schlaf gut, Onkel Dagobert!“, muss sich seine Familie etwas einfallen lassen.

 

Positives und Negatives

11 deutsche Erstveröffentlichungen von insgesamt 27 Geschichten und satte 512 Seiten bietet dieser Band an Geschichten rund um den (Nicht-)Schlaf und anderen vielfältigen gewollten und ungewollten nächtlichen Aktivitäten. Ich persönlich hätte mir zwar mehr Erstveröffentlichungen gewünscht, dafür hatte dieser Band aber eine angenehme Nebenwirkung auf Schlafgestörte wie mich: Das ständige Mantra der „Gute-Nacht-Geschichten“ mit all den Schlüsselwörtern wie „Schlaf“, „Nacht“ und den dunkelblau gehaltenen Hintergrundfarben wirkte tatsächlich schlaffördernd.

„Spannend, gut, cool“ findet mein Sohn den Band. Er findet es auch positiv, dass viele Geschichten nicht nur nachts spielen, sondern auch Episoden am Tag haben – das ist abwechslungsreicher.

Neue Perspektiven, Korrekturen von Fehleinschätzungen und Freundschaften können sich durchaus und vielleicht gerade zu ungewohnten Zeiten außerhalb der Komfortzone ergeben, wie mehrere Geschichten schön veranschaulichen („Im Namen des Mondes“, „Die richtige Richtung“, „Nacht der tollen Träume“). Aber auch Anspielungen werden verarbeitet und zu neuen Geschichten umgeformt, z.B. das Märchen „Dornröschen“ in „Gefangen im Dornröschenzauber“ und „Die Nacht des Werwolfes“. „Schlaflos in Entenhausen“ verdeutlicht humorvoll, aber auch hintersinnig, was passiert, wenn eine ganze Gesellschaft unter Schlafstörungen leidet – Deutschlands Realität mit Dauerstress und damit verbundener Dauerschlaflosigkeit lässt grüßen!

Das Cover soll mit Fluoreszenz wohl cool wirken, aber mit einem verschreckten Onkel Dagobert und den fies grinsenden Panzerknackern wirkt es eher beunruhigend und triggert möglicherweise Schlafgestörte. Es passt zwar zu manchen Geschichten, aber eben nicht zu allen, und vermittelt damit eher das Bild, dass es im Band um unruhige Nächte mit den Panzerknackern geht. Wie gesagt, das trifft bei manchen Geschichten durchaus zu, aber eben nicht bei allen. Die Bandbreite der nächtlichen Aktivitäten in diesem Band ist weitaus größer als das Cover es vermuten lässt.

Schade auch, dass Frauen wieder einmal nur marginal vorkommen. Es wird durchgehend aus männlicher Perspektive erzählt, was besonders gut (aber nicht nur) in der Geschichte „Unliebsame Verpflichtungen“ zu sehen ist.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa

Alphabet

Peinlich

Der 2004 erschienene, sechste Roman der britischen Schriftstellerin Kathy Page ist nach siebzehn Jahren unter dem Titel «Alphabet» nun auch auf Deutsch erschienen. Wie die Autorin im Nachwort erklärt, war sie ein Jahr lang als «Writer in Residence» in einem britischen Männergefängnis tätig, machte sich eifrig Notizen über ihre Erfahrungen dort und begann mit einer ersten Niederschrift. Sie legte den Entwurf schließlich aber anderer Projekte wegen zur Seite, fand ihn erst zehn Jahre später bei ihrem Umzug nach Kanada wieder und stellte dann dort den Roman fertig. Herausgekommen ist dabei eine tiefgründige, psychologische Studie über einen jugendlichen Mörder und sein schwer nachvollziehbares Tatmotiv.

Simon Austen sitzt wegen Mordes lebenslänglich im Hochsicherheits-Trakt eines Gefängnisses. Als Vierjähriger wurde er von seiner Mutter einfach in einem Park allein zurückgelassen, sie nahm sich wenig später das Leben. Der kleine Junge kam in verschiedene Heime und wuchs bei Pflegeeltern auf. Im Knast lernt der ehemalige Teppichleger Lesen und Schreiben, holt seinen Schulabschluss nach und beginnt, verbotener Weise und auf verschlungenen Wegen an der Zensur vorbei, eine heimliche Korrespondenz mit einer kunst-interessierten, verwitweten älteren Frau, die einen Brieffreund sucht. Er verschweigt ihr seine wahre Identität, und als sie ihm schließlich eine gemeinsame Kunstreise vorschlägt, beendet er den Briefkontakt. Der inzwischen 29Jährige findet nun auf offiziellem Weg mit Tasmin eine angeblich 17jährige Brieffreundin, die sich sehr für seine Tat interessiert, nach Einzelheiten fragt und ihm sogar eine Schreibmaschine schickt, die er sich sehnlichst wünscht.

Auf ihr tippt er nun die Geschichte, die ihn zum Mörder machte: ‹Im Jahre 1979 lernte er bei der Arbeit die 20jährige Amanda kennen, lud sie spontan zum Essen ein und ging mit ihr anschließend in seine Wohnung. Dort forderte er sie auf, ihr Oberteil abzulegen, und danach, nun ihre Brüste anzufassen. Auf ihre erstaunte Frage, ob er denn nicht mehr von ihr wolle, antwortete er: «Das ist meine Art, es zu machen». Sie ging daraufhin ins Bad und kam splitternackt zurück, hatte sogar ihre Brille abgesetzt und trug stattdessen Kontaktlinsen. Ihr eigenmächtiges Handeln aber machte ihn rasend, er wollte allein bestimmen, was geschah, und so warf er sie wütend zu Boden und erwürgte sie!› Weil dieser ausführliche Brief aber viel zu umfangreich war, wurde er vom Zensor zurückgeschickt, und außerdem beendet Tasmins Vater endgültig ihren Briefkontakt, weil seine Tochter erst 14 Jahre alt ist und unter Depressionen leidet. Als Simons neue Betreuerin ihn nach seiner Tat befragen will, übergibt er ihr dann einfach den Brief, in dem ja alles drinsteht. Es folgen Verlegungen in andere Gefängnisse, er absolviert verschiedene Therapien und beginnt sogar ein geistes-wissenschaftliches Fernstudium.

Trotz aller eigenen Bemühungen und seiner manipulativen Fähigkeiten wird es Simon letztendlich wohl nicht gelingen, sich nach dreizehnjähriger Haft psychisch wirklich soweit zu verändern, dass er irgendwann tatsächlich Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung hätte. Zu rätselhaft erscheinen seine Motive, zu unabänderlich seine fest verankerten Verhaltensmuster. Dieses psychologische Drama glänzt vordergründig durch die entlarvenden Einblicke in das britische Haftsystem und all die verstörenden Gewaltexzesse, denen seine Insassen ausgesetzt sind, vor allem aber auch durch die seelischen Abgründe, in die der Leser hier zu blicken hat. Äußerst fragwürdig erscheint bei alledem aber der Transgender-Teil am Ende des Romans, bei dem sich Simons grobschlächtiger Zellengenosse Victor mit Hilfe von Medikamenten und durch Operationen nach seiner Entlassung zu einer lieblichen Charlotte umwandeln lässt. Das hat als spezielle Form der Selbstfindung rein gar nichts mit Simons Problemen zu tun, und dass die Zwei auch noch Gefallen aneinander zu finden scheinen, ist dann nur noch peinlich. Schade!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Gärten des Jahres 2022: Die 50 schönsten Privatgärten

Gespannt war ich auf den Beitrag von Dieter Kosslick, dass er Gärten liebt, wusste ich. Ein wenig enttäuscht war ich, dass es nur eine Art Vorwort war. Geschrieben während des Wahlkampfes 2021, er erinnert daran, wie Kanzlerin Merkel eine Offensive für ökologischen Landbau ausrief und, verständlicherweise, die amtierende Landwirtschaftsministerin nicht dabeihaben wollte, oder wie Herr Lindner noch glaubte, den Profis die Klimakrise überlassen zu können.

Aber er holt weiter aus, kritisiert den Bau des Humboldtforums; wie viel schöne Gärten hätte man für die Milliarde Euro bauen können, statt „einem monumentalen post barocken Betonklotz mit einer 200 m langen, nachgemachten Preussen-Fassade.“

Man sollte sich auch einen Prinzessinnengarten leisten, womit er auf das urban gardening Projekt in Kreuzberg hinweist.

Und von seiner eigenen Gartenbegeisterung berichtet er, wie er zum Foerster Schüler wurde, noch Marianne, die Tochter, kannte und sich für sein eigenes Haus im Norden (mit Reetdach!) Foerster Stauden kaufte. Das alles geschrieben während des vierten Lockdowns, wo der Drang nach draußen, ins Freie, allen spürbar war.

Anekdoten gibt es auch: auf einer Wiese neben seinem Haus blühen immer Bänder von Narzissen, die aber Leerstellen zwischen sich hatten: Die Nachbarn berichteten, dass der Vorbesitzer ein strammer Nazi gewesen war, der ein Hakenkreuz in 10 x 10 m Größe aus Narzissen gepflanzt hatte. Spätere Versuche, dies unkenntlich zu machen, scheiterten an der Vermehrungsfreude der Narzissenzwiebeln.

Oder er weiß, dass Melania Trump den Stauden- und Nutzgarten von Michelle Obama in einen Rosengarten mit Steinplatten und Rasen verändert hatte. 75 000 Menschen hätten schon eine Petition unterschrieben, um nun dies wieder zu ändern.

Gärten sind also wie „die Menschen ticken“, wer will heute noch einen Barockgarten? Dazu kennt er auch einen Film, „Der Kontrakt des Zeichners“ wo ein solcher in einen englischen Landschaftsgarten verwandelt wird. Es haben sich „die Herrschaftsverhältnisse…umgekehrt, die Verschwörung der Frauen hat die patriarchalische Ordnung unterwandert.“

Damit leitet er zum Buch: Was für Gärten wollen die Menschen heute? Ein Paradies in Zeiten von Corona, mit Homeoffice, aber in der Klimakrise? Oder, wie die „Gartenfighter“ wünschen, aufgerüstete Gartenfuhrparks, mit ohrenbetäubenden „Kanonen“, die Laub aus den Ecken blasen?

Es folgt ist ein Katalog, größer als DIN A4, in dem die 50 schönsten Privatgärten im deutschsprachigen Raum vorgestellt werden, mit wunderschönen Fotos. Es gibt den ersten Preis, sechs „Anerkennungen“ der Rest sind Projekte. Die ersten erhalten eine Laudatio, dazu jeweils Bericht der Schöpfer dieser Planungen.

Natürlich mit den Namen der Planenden, Ausführenden und Fotografierenden, es überwiegen Männer.

Schon die Laudatoren sind interessant, es wird auf die unterschiedlichen Standorte hingewiesen. Man will nun mehr als Stauden oder Zwiebelpflanzen, Gehölze, gerne Bäume und wenigstens Sträucher. Sie sollen robust sein, Trockenheit ertragen, in Nürnberg wird auf den Dächern alter Stadthäuser ein Gewächshaus für urban gardening angelegt, in Absprache mit dem Denkmalschutz.

Dann gibt es ein Gärtnerpaar, das dem eigenen Garten beim Entwickeln zuguckt, und mal dies und mal das ausprobiert.

Am besten gefiel mir, „Das gepflanzte Märchen“ mit Stauden und Gräsern, „die sich dennoch dynamisch und stellenweise naturnah entwickeln dürfen.“ (Aus der Laudatio) Und das Märchen passt in einen Handtuchgarten!

Ein anderer „Garten besticht durch seine Einfachheit. Es wurde bewusst auf zusätzliche Gartenaccessoires wie Gartenküche, Pool, Gartensauna oder eine Garten-Lounge verzichtet.“

Danach kommen „Lösungen“, wo genau diese von den Herstellern angeboten werden. Pools, Gartenküchen, aber auch ein aufstellbares Homeoffice.

Zeit zum Unken, mit einem Realitätscheck: In Berlin bereitet der Senat das Wassermanagement zum Einsparen von Trinkwasser vor, vor allem im Garten reichen Südwesten ist der Wasserverbrauch zu hoch, um von den Wasserwerken beliefert zu werden (Tagesspiegel, 6.4. und 10.4.22).

Anfangs fand ich den Preis von fast sechzig Euro unangemessen. Wer das in der Coronakrise gesparte Geld im eigenen Paradies anlegen will, bekommt wichtige Hinweise. Auf dem Weg dahin kann man angesichts der schönen Bilder schon mal träumen …


Genre: Garten, Gartendesign, Gartengestaltung
Illustrated by Callwey

Die rote Pyramide

Irgendwie kommt es mir so vor, als könne man einen Text des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin nicht langsam lesen. Grundsätzlich nicht. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, hege jedoch den Verdacht, dass es etwas mit Sorokins Schreibgeschwindigkeit zu tun hat. Siehe auch die neun Erzählungen, die im Band “Die rote Pyramide” auf 190 Seiten versammelt sind. Im Original sind die Texte in verstreuten Medien erschienen; als die von Kiepenheuer & Witsch 2022 veröffentlichte Zusammenstellung gibt es sie nur im deutschen Sprachraum. Sorokin lässt jede Handlung zu einem anderen Zeitpunkt in der russischen Geschichte spielen – nach dem 2. Weltkrieg und während der Jahrzehnte danach, während des Kalten Krieges, im Putin-Russland. 
Sorokin ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur, an Putin und seinem Apparat arbeitet sich der Schriftsteller mit allen literarischen Mitteln ab. Weder produziert er dabei plumpe Satire noch eindimensionale Polemik. Literatur ist letztlich immer die Erzählung vom Menschen: Er glaube, der Mensch sei die höchste Lebensform, sagt Sorokin, allerdings eine sehr beängstigende. Das untersucht er nicht zuletzt in den Erzählungen in “Die rote Pyramide”, etwa durch einen Ausflug in die sowjetische Vergangenheit. “Der Tag des Tschekisten”: Mark und Iwan spielen den Tschekisten abwechselnd, indem sie sich einen sowjetischen Uniformmantel umwerfen und sich von ihrem Gegenüber verhören lassen: “Hast du Provokateure eingeschleust? … Hast du Geiseln genommen? … Warst du selbst an Massenerschießungen beteiligt?” Jede Frage beantworten sie mit Ja, ob man sich schäme, verneinen sie rundheraus. Bis plötzlich das Hin und Her aufhört und Mark eine Geschichte über sexuelle Nötigung und Ausbeutung in einem Pionierlager erzählt.
       Registerwechsel, Wechsel des Schauplatzes oder der Bewusstseinsebene können in Sorokins Erzählungen (und nicht nur dort) jederzeit auftreten. “Hiroshima” besteht aus fünf Szenarien, in denen jeweils zwei Menschen sich gegenseitig würgen. Fünf von ihnen erleben während des Würgeprozesses nichts Auffälliges. Die anderen fünf teilen miteinander eine Vision, in der eine nackte Frau über Asche, Ruinen und sterbende Körper schreitet und sich einiger frisch geborener Hundewelpen annimmt. In diesen Visionen zeigt Sorokin eine kollektive Angst oder eine kollektive Heimsuchung: wie im Fall der titelgebenden roten Pyramide. Jura, der Protagonist der Erzählung, kann die Pyramide – nachdem er vor Jahrzehnten zum ersten Mal von ihr erfahren hat – erst im Moment des Todes sehen. Ihre Grundfläche nimmt den gesamten Roten Platz ein. Von Lenin in Gang gesetzt, verstrahlt sie das rote Rauschen, in dem die Menschen versinken, “das rote Rauschen deckte sie alle zu”. Die Erzählung “Lila Schwäne”, übrigens eine durch die aktuellen Geschehnisse aufgefrischte Satire auf das von Waffen starrende Putin-Russland, besteht aus einem Ineinander von Träumen. Aus irgendeinem Grund sind die russischen Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt worden. Eine Abteilung Funktionär:innen aus unterschiedlichen Bereichen pilgert zu dem wundertätigsten Eremiten des Reiches, um ihn kniefällig zu bitten, er möge mit seinen Kräften die Atommacht wiederherstellen.
       Sorokin zu lesen ist wie Achterbahnfahren. Man hält sich die Hand über die Augen und linst zwischen den Fingern durch – man ahnt, etwas wird kommen, aber man weiß nicht, was. Der postmoderne Schriftsteller Sorokin beherrscht viele Tonarten und Stile, er kann subtil und einlullend sein, aber auch frech bis grotesk (siehe “Der Fingernagel”). Vom Magischen Realismus über die ländliche Erzählung à la Tolstoi bis hin zu Thrillerartigem, das an Filme von Christopher Nolan denken lässt, findet man bei ihm die unterschiedlichsten Erzählweisen. Vladimir Sorokin hat für die Art, wie er das literarische Schreiben in Russland neu aufgestellt hat, viel Gegenwind ausgehalten. Während Putins erster Amtszeit verbrannten dessen Sympathisanten vom rechten Flügel öffentlich Sorokins Bücher oder warfen sie demonstrativ in ein riesiges Klosett aus Papiermaché. Sorokin zu lesen, kann man heutzutage als Ausdruck einer friedlichen Solidarität sehen. “Die rote Pyramide” bietet einen guten Einstieg in seinen literarischen Kosmos und die Geschehnisse darin.

Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Ran und die graue Welt 1

Bild 1 - Aki Irie ~ Ran und die graue Welt 1 9783551023636Bunte Welt der Zauberei

Ran ist ein etwa 10-jähriges Mädchen, das in ihrer Wildheit und Willensstärke ihresgleichen sucht. Als erklärter Liebling ihrer mächtigen Mutter ist sie das Sorgenkind ihres Vaters und ihres großen Bruders. Letzterer muss sich immer auf die Suche nach dem Kind machen, wenn es mal wieder ausgebüxt ist. Als wäre das noch nicht alles, soll die Familie ein Geheimnis wahren: Alle Familienmitglieder können zaubern. Die Männer der Familie halten sich an das Gebot der Unauffälligkeit, aber Ran und ihre Mutter gehen nur nach ihrem eigenen Kopf. So artet der eher seltene Besuch der vielbeschäftigten Frau Mama in schieres Chaos aus, wenn ihre Zauberkraft mal wieder übersprudelt. Aber auch Ran gerät in verzwickte Situationen: Wenn sie ihre zu groß geratenen Schuhe anzieht, verwandelt sie sich in eine hübsche, junge Frau – bleibt aber im Geiste ein Kind. Das zieht ungewollte männliche Aufmerksamkeit auf sich.

Rollenklischees auf den Kopf gestellt

Die bunte Welt der Zauberei trifft – oder besser kollidiert – mit der grauen Welt der „normalen“ Menschen. Aus dieser Kollision bezieht die Reihe ihre Spannung und ihre Situationskomik.

Ein eher ungutes Gefühl kommt auf, wenn Ran als erwachsene Frau mit kindlichem Gemüt auf Männer trifft: der Lolita-Komplex lässt grüßen und beschert gerade Leserinnen Stirnrunzeln und den Wunsch, Ran aus diesen Situationen so schnell wie möglich rauszuholen, um sie vor der sexuellen Aufmerksamkeit der Männer zu schützen. Das könnte evtl. Menschen mit Missbrauchserfahrungen triggern.

Ansonsten ist das Männer- und Frauenbild eher nicht „regelkonform“, sondern wie die Zauberei bunt: Die Mutter ist die Matriarchin der Familie, die in ihrem Beruf sehr erfolgreich agiert, sich zuhause aber wie ein weiteres Kind aufführt und damit die erwachsenen Mitglieder der Familie in den Wahnsinn treibt. Dieses Schema kennt man sonst eher von Männern.

Ran und ihre Mutter sind sehr willensstark und lassen sich nicht von ihren Vorhaben abhalten. Ran als Kind ähnelt dementsprechend vom Äußeren her mehr einem verschrammten Jungen als einem dem Rollenklischee entsprechenden Mädchen. Das bringt den beiden aber auch alle Freiheit, Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein und Selbstwert, den sie für ihre eigene gesunde Entwicklung brauchen. Rans Mutter ist für ihre Tochter eindeutig ein Vorbild. Allerdings bringt die Charakterstärke gerade Ran in Schwierigkeiten, da sie noch nicht gelernt hat, wann ihre Willensstärke in Sturheit umschlägt und ihr dann eher schadet als nützt.

V.a. der Bruder – vom Körperbau ein Musterbeispiel an Männlichkeit – hat in der Familie die Rolle der vernünftigen und vorausblickenden Frau übernommen und kümmert sich rührend um seine kleine Schwester. Er übernimmt auch andere “frauentypische” Tätigkeiten wie Kochen, ohne dass ihn das in seiner Männlichkeit beeinträchtigt. Der Vater spielt keine wirklich tragende Rolle im Familiensystem. Er ist halt da und macht sich Sorgen um Ran. Wenn er eine Rolle hat, dann die des Vermittlers innerhalb der Familie, was sonst auch eher eine rollenklischeetypische Frauenaufgabe ist. Schön an diesem Manga ist, dass all dies sehr natürlich rüberkommt: Die Frauen sind weiterhin in ihrer eigenen Art weiblich und die Männer männlich. Rans selbstbewusster Mutter kommt zudem die Aufgabe einer Fruchtbarkeit spendenden Schöpferin zu – das erinnert an frühere weiblich-mächtige Göttinnen.

Empfohlen! Für Fantasy-Fans.


Genre: Fantasy, Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Inland

Unterschätzt

Das jüngst unter dem Titel «Inland» erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlichte, vierte Werk des australischen Schriftstellers Gerald Murnane ist im Original 1988 erschienen. Es entzieht sich, wie von ihm selbst für alle seine Werke apostrophiert, den gängigen Gattungs-Bezeichnungen und ist am ehesten als ‹metaphysische Parabel› anzusehen, welche lehrhaft Fragen von Moral und Ethik aufwirft. Diese werden jedoch erst durch Anwendung auf Vorstellungen in ganz anderen Gedanken-Ebenen wirklich begreifbar. Ein populäres Beispiel dafür ist die Eselsbrücke, die man sich baut, um einen Sachverhalt bildhaft besser aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Der nicht nur in Deutschland weitgehend unbekannte Schriftsteller hat stilistisch für sich einen ganz eigenen, unverwechselbaren Erzählstil entwickelt, der im Klappentext schlagwortartig als ‹murnanesk› bezeichnet wird und ihn zum Solitär unter den Autoren seines Landes macht.

Glaubt man einem Bericht im ‹New York Times Magazine›, bezeichnet sich dieser in äußerst bescheiden, geradezu prekären Verhältnissen lebende Schriftsteller als reich, weil er weiß, «dass die endlos scheinenden Landschaften meiner eigenen Gedanken und Empfindungen ein Paradies gewesen sein mussten, verglichen mit den eintönigen Gegenden, in denen andere ihr Selbst oder ihre Persönlichkeit oder was immer sie als ihre geistigen Territorien bezeichneten, angesiedelt hatten». Und auch die seinem aktuellen Buch als Motto vorangestellten Worte von Hemingway geben einen Hinweis auf die literarische Selbst-Verortung des Australiers: «Ich glaube, dass man im Grunde für zwei Leute schreibt: für sich selbst, um nach absoluter Vollkommenheit zu trachten … Dann schreibt man für Diejenige, die man liebt, ganz gleich ob sie lesen oder schreiben kann oder nicht und ob sie lebendig ist oder tot». Kein Wunder, das zu den wenigen ihm verliehenen Preisen der ‹Patrick White Award› gehört, mit dem bezeichnender Weise Autoren geehrt werden, «die einen bedeutenden, aber unterschätzten Beitrag» zur australischen Literatur geleistet haben.

Ein in der Bibliothek seines Herrenhauses in Ungarn sitzender, schriftstellerisch tätiger Ich-Erzähler beschreibt die unendlich scheinende Weite der Graslandschaft, die er von seinen Fenstern aus sieht. Eines der typischen Motive von Murnane, seine Ideal-Landschaft, wie sie sich auch in der amerikanischen Prärie wiederholt, auf die seine Lektorin am Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies von ihrem Fenster aus schaut. Sie hat bisher aber nicht eine Seite aus seiner Feder erhalten und erscheint dann selbst unversehens als Figur in einem anderen Buch. Realität und Fiktion verschwimmen hier in einem schwer durchschaubaren Ausmaß miteinander, buchstäblich alles bleibt in der Schwebe in diesem literarischen Kosmos, in dem Konkretes suspekt ist und die ungehemmte Imagination fröhliche Urständ feiert. Alles eine Frage der richtigen Sicht, heißt es dazu im Buch, ein Leser, «der meine Seiten aus seinen Augenwinkeln beobachten und der nicht die Reihen meiner Worte untersuchen würde, sondern die Formen des Papiers, die sich zwischen den Worten zeigten – solch ein Mann könnte schon das Bild einer Mädchen-Frau oder das Bild eines Graslandes oder die Geister solcher Bilder sehen». Die Grenzen zwischen trügerischer Außenwelt und grenzenlos imaginierter Innenwelt sind nicht klar erkennbar, man kann sie allenfalls vage ertasten.

Wo alles erfunden ist und man nicht mehr weiß, wer sich wen ausgedacht hat, da scheint auch das am Tisch sitzende, schreibende Ich schließlich nur noch davon zu träumen, das es schreibt. Schließlich rücken dann erzählerisch Kindheits-Erinnerungen in den Vordergrund, wobei man auch da nicht weiß, zu wem sie gehören, zum Schreiber oder zu seiner Figur. Als äußerst komplexes Werk der Postmoderne, das nur einen ziemlich kleinen Leserkreis ansprechen dürfte, demonstriert diese sinnliche Prosa eines unterschätzten Autors, was Literatur zu leisten vermag.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin