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Dieser Beitrag erschien durch Kooperation mit The Economist

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„Engstirnig, selbstgefällig“: Economist rechnet mit unserer Energie-Politik ab
Dienstag, 26.07.2022 | 10:28
Die designierten Köpfe der Ampel (v.l.): Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Außenministerin Annalena Baerbock und Vizekanzler Robert Habeck (beide Grüne).
Kay Nietfeld/dpa Die designierten Köpfe der Ampel (v.l.): Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Außenministerin Annalena Baerbock und Vizekanzler Robert Habeck (beide Grüne).

Der Economist rechnet mit unserer Energiepolitik ab: Deutschland erwacht aus einem Traum: Das böse Erwachen erfolgte mit dem Anrollen russischer Panzer in der Ukraine. Die Energiekrise in Deutschland erinnert zunehmend an ein Märchen der Gebrüder Grimm.

Die Geschichte ist alt und hat viele Versionen. In der 200 Jahre alten Märchenfassung der Gebrüder Grimm dreht sich die Erzählung um einen Ziegenhirten namens Karl Katz aus dem mitteldeutschen Harzgebirge. Eines Nachts führt eine entlaufene Ziege Katz tief in eine Höhle. Dort angekommen wird er von fremden Männern zu einem Trank verführt und fällt in einen tiefen Schlaf. Als er erwacht, stellt er fest, dass nicht Stunden, sondern Jahre vergangen sind. Die Welt um ihn herum hat sich verändert.

Spannend, aber gerade keine Zeit?

Das Gefühl der Fassungslosigkeit, mit dem Katz erwachte, teilen heute viele Menschen in Deutschland. Einige Jahre zuvor verfiel das reichste Land Europas in einen Zustand, der zwar nicht an Schlaf, aber an Schlafwandel erinnerte. Von den eigenen wirtschaftlichen und diplomatischen Erfolgen eingelullt, gewöhnte sich das frisch wiedervereinigte Deutschland an den bequemen Glauben, dass sein System nahezu perfekt funktioniere. Einstiger Pragmatismus in der Regierungspolitik wurde bald durch Selbsttäuschung ersetzt: Politiker umgarnten die Wähler mit berauschenden Reden über immerwährenden Wohlstand bei minimaler Friktion und null Emissionen.

Zurück in der Vergangenheit

Das böse Erwachen folgte mit dem Anrollen russischer Panzer in der benachbarten Ukraine. Doch anders als Katz ist Deutschland nicht um Jahre in die Zukunft, sondern um Jahrzehnte in die Vergangenheit transportiert worden. Statt den Kurs Richtung liberale Demokratie einzuschlagen, sind weite Teile der Welt in einen unschönen Populismus abgerutscht, an den sich die Deutschen nur allzu gut erinnern.
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Deutschland muss feststellen, dass der plötzliche Bedarf an Waffen und Soldaten - einschließlich amerikanischer - nicht mehr mit einer Ära der friedlichen Zusammenarbeit einhergeht. Und es zeigt sich, dass der deutsche Wohlstand nicht einzig durch das Märchen vom deutschen Fleiß zustande kommt, sondern auch durch den Import billiger Energien und Arbeitskräfte. Der „nette“ Wladimir Putin und sein hübsch verpacktes Erdgas-Geschenk entpuppen sich dabei natürlich als Wolf.

Anders ausgedrückt: Jahrelange Selbstgefälligkeit hat Deutschland in eine Zwangslage gebracht. Doch obwohl der Staat die Tragweite seines Dilemmas und die immense Herausforderung eines Kurswechsels erkennt, bleiben deutsche Debatten über die eigene Situation seltsam engstirnig und ohne jede Dringlichkeit. Umso merkwürdiger ist dies in einem Land, das sich zwar für seine demokratische Offenheit rühmt, aber keine Erklärung zur aktuellen Schieflage liefert. Zu Recht wurden bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens für ihre rosarote Sicht auf Russland kritisiert. Die systematische Täuschung durch Putin, wie auch die vorsätzliche Verblendung Deutschlands sind jedoch kaum untersucht worden. Niemand scheint über die Vorgänge „in der Höhle“ sprechen zu wollen.

Die deutsche Abhängigkeit

Ein Beispiel ist Deutschlands bedauernswerte Abhängigkeit von russischen Brennstoffen. Diese entstand nicht nur, weil Putin Unternehmen und Politiker mit niedrigen Preisen lockte und so den russischen Anteil am deutschen Erdgasverbrauch in einer Zeitspanne von 20 Jahren von 30 % auf 55 % ansteigen ließ. Gleichzeitig wurden Beschlüsse gefasst, die die Energieversorgung aus anderen Quellen reduzierten. Neben zahlreichen Fällen derartiger Unvernunft ist das bekannteste Beispiel die Kernkraft.

Als im Jahr 2011 die japanischen Atomreaktoren in Fukushima von einem Tsunami getroffen wurden, reagierte die Regierung unter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, indem sie die deutsche Atomstromkapazität praktisch über Nacht halbierte. Die letzten drei Kraftwerke sollten im Dezember 2022 abgeschaltet werden - ein Ziel, das angesichts der drohenden Stromknappheit erst jetzt in Frage gestellt wird. Im Gespräch ist nun ein Kompromiss, der die merkwürdige Lethargie im deutschen Politikbetrieb offenbart. Demnach sollen die Grünen ihr beharrliches Festhalten am Atomausstieg aufgeben, wenn ihre liberalen Koalitionspartner im Gegenzug alle Einwände gegenüber eines Tempolimits auf den Autobahnen fallen lassen.

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Das wahrscheinlich gravierendste Eigentor hat Deutschland jedoch mit seiner eigenen Erdgasindustrie geschossen. Die Deutschen haben weniger Glück als ihre niederländischen Nachbarn, deren riesiges Groningen-Feld nicht nur eine Radtour von der Grenze entfernt liegt, sondern seit 1959 Erdgas im Wert von 490 Milliarden Euro produziert hat (was The Economist im Jahr 1977 zur Prägung des Fachbegriffs  „Dutch Disease“ inspirierte). Dabei sind Deutschlands eigene Reserven keineswegs unbedeutend. Um die Jahrtausendwende lieferte das Land mit einer jährlichen Fördermenge von 20 Milliarden Kubikmetern Erdgas fast ein Viertel des deutschen Bedarfs. Geologen gehen davon aus, dass Deutschland über mindestens 800 Milliarden Kubikmeter förderbares Gas verfügt. Statt eines Anstiegs ist die Gasgewinnung jedoch auf kaum mehr als 5-6 Milliarden Kubikmeter zurückgegangen - dies entspricht einem Volumen von lediglich 10 % der russischen Importe.

Furcht vor Fracking

Der Grund dafür ist einfach. Die Geologie diktiert, dass nahezu das gesamte deutsche Erdgas nur durch Fracking gewonnen werden kann, welches innerhalb der deutschen Bevölkerung auf irrationale Ängste stößt. Mehr noch als das: Im Jahr 2017 verabschiedete die Merkel-Regierung ein Gesetz, das kommerzielles Fracking im Wesentlichen verbannte. Deutsche Unternehmen hingegen setzten die Technik bereits seit den 1950er Jahren ein, ohne einen einzigen gemeldeten Vorfall von schweren Umweltschäden.

Auslöser für die öffentlichen Bedenken sind nicht lange zu suchen. Der große US-amerikanische Ölkonzern Exxon schlug 2008 eine Fracking-Ausweitung an einem Standort in Norddeutschland vor. Während Umweltschützer heftig protestierten, schaltete sich die aufstrebende Partei der Grünen in das Geschehen ein. Ebenso wie der kremlnahe Sender „Russia Today“, der Fracking für Strahlung, Geburtsschäden, Hormonstörungen, Freisetzungen riesiger Mengen an Methan und Giftmüll sowie der Vergiftung von Fischbeständen verantwortlich machte. Kein Geringerer als Putin selbst erklärte vor einer internationalen Konferenz, dass Fracking schwarzen Schleim aus dem Wasserhahn verursache.

Die Deutschen scheinen Märchen zu mögen. „Irgendwann haben wir den Versuch aufgegeben, den Menschen zu erklären, dass Fracking absolut sicher ist“, meint Hans-Joachim Kümpel, ehemaliger Präsident des wichtigsten Beratungsgremiums der Bundesregierung für Geowissenschaften. „Man kann es denjenigen, die keine Ahnung von der Geologie des Untergrundes haben, nicht wirklich verübeln, wenn sie nur Horrorgeschichten hören.“

Nach Angaben der deutschen Gasproduzenten besteht die Möglichkeit, mit den heutigen, umweltfreundlicheren und sichereren neuen Fracking-Methoden die Produktion in einem Zeitraum von nur 18-24 Monaten um das Doppelte anzukurbeln. In diesem Umfang könnte Deutschland noch bis weit ins nächste Jahrhundert hinein Erdgas fördern. Dies würde die Importkosten um etwa 12 Milliarden Euro pro Jahr senken. Und das ist kein Märchen.

Der Beitrag ist zuerst im Economist unter dem Titel „ Germans have been living in a dream" erschienen und wurde von Cornelia Zink übersetzt.

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Das Original zu diesem Beitrag "„Engstirnig, selbstgefällig“: Economist rechnet mit unserer Energie-Politik ab" stammt von The Economist.

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