Martin Compart


DER ERSTE SERIENKILLER-ROMAN? BLAISE CENDRARS „MOLOCH. DAS LEBEN DES MORAVAGINE“ by Martin Compart

Moravagine wird von dem jungen Arzt Raymond la Science, dem Erzähler der Geschichte, in einer Irrenanstalt entdeckt und befreit. Sofort erliegt er der Faszination, die von Moravagine ausgeht. Zusammen führen beide bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges ein ruheloses Leben auf der Flucht: Sie nehmen in Russland 1905 an der ersten Revolution teil und planen einen Anschlag auf die Zarenfamilie, der im Fiasko endet; sie fliehen nach Amerika und gelangen schließlich zu einem Indianerstamm am Amazonas. Nach der Rückkehr nach Europa werden alle weiteren hochtrabenden Pläne durch den Kriegsausbruch vernichtet, beide werden eingezogen und verlieren sich aus den Augen; wahnsinnig geworden, stirbt Moravagine am Morphium 1917. Seine zahlreichen Manuskripte und Zukunftsvisionen über einen 99-jährigen Krieg und eine Marsexpedition gehen an La Science, über den sie wiederum zum vermeintlichen Herausgeber Cendrars gelangen, der dem Buch ein entsprechendes Vor- und Nachwort mit auf den Weg gibt.

Das „Problem“ ist, dass Moravagine, der letzte Nachfahre der ungarischen Könige, gerne Frauen quält und aufschlitzt und – wie es sich für einen ordentlichen Serienkiller gehört – eine Blutschneise durch die besuchten Länder zieht.

MORAVAGINE ist wohl der erste Serienkillerroman, der einen Täter in den Mittelpunkt des Romans stellt und ihn „analysiert“.

Zuvor behandelten Kriminalromane kaum oder gar nicht Triebtäter als Serienkiller. Und wenn, dann aus völlig anderer Perspektive. Marie Belloc Lowndes etwa, schrieb ihren Jack-the-Ripper Roman THE LODGER (1913) rein aus der Perspektive einer unbeteiligten Zeugin, der Vermieterin, und ließ bei allen Verdachtsmomenten das Ende offen.
Sie schuf eher einen stilbildenden Psychothriller, der heute noch funktioniert, als einen Serienkiller-Roman.

„Die Pathologie als Spezialgebiet einer allgemeinen Philosophie anzusehen – das hatte noch niemand gewagt.“

Der Ich-Erzähler und Begleiter des Killers ist derPsychiater Raymond la Science.

Die Person „Raymond la Science“ existierte tatsächlich und war Mitglied der französischen Anarchistengruppe Bonnot-Gang, die sich hauptsächlich auf Diebstähle und Randale spezialisierte. Raymond la Science wurde 1913 mit der Guillotine hingerichtet. Im Buch selbst gibt es einen Hinweis darauf („Wir kamen in Paris an, als die Affäre Bonnot gerade zu Ende ging“)! Man kann also davon ausgehen, dass Cendrars sehr bewusst diesen Namen wählte.

Getrieben wird er von seiner Faszination für Wahnsinn und das menschliche Unbewusste. Er wird von Moravignes Amoral infiziert, ist von Beginn an offen dafür:
„Endlich sollte ich mit einer menschlichen Bestie zusammen sein, ihr Leben teilen.“

Der Erzähler ist besessen davon zu erkunden, welche unterbewussten Prozesse „die Tätigkeit des Instinkts wandelt und so aus der Bahn kommt, dass sie entartet.“ Fragen sowohl nach Auschwitz wie Jack-the-Ripper. Der Roman zeigt Empathielosigkeit als unbefriedigendes Erklärungsmodell.

„Moloch. Das Leben des Moravagine „(französischer Originaltitel: Moravagine) erschien erstmals 1926 Der Autor hatte bereits 1917 den Roman  zu schreiben begonnen. Der Schock des Ersten Weltkriegs und das damit verbundene Ende der bekannten Zivilisation durchzieht das Buch. Was soll danach entstehen? Die Umwertung aller Werte? In der Fetischisierung der Kriegsmaschine positioniert Cendrars die Amoral der Wissenschaft vor der Diskussion über die Atombombe.

Eine erste Fassung mit 1800 Seiten, die verloren ging, entstand schon 1914 „…unter dem Eindruck der ersten sensationellen Erfolge der Fliegerei und der Lektüre von FANTOMAS machte ich daraus einen Abenteuerroman“.

Blaise Cendrars (1887-1961) ist einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller, der aber auch gerne der französischen Literatur zugeschlagen wird. Er war Lyriker, Romancier, Filmemacher und Abenteurer, der Reisen durch Asien, Afrika und Amerika unternahm („…solange ich, Blaise Cendrars, durch die Welt irre, durch Länder, Bücher und Menschen.“).

Anfang des 20.Jahrhunderts ging er nach Paris und gehörte bald zur Pariser Avantgarde der 1910er Jahre. Er kämpfte freiwillig als Fremdenlegionär im Ersten Weltkrieg für seine Wahlheimat Frankreich und verlor dabei einen Arm. Sein Leben selbst war ein Abenteuerroman und die Inspiration für ungewöhnliche Bücher. Er schrieb um die 40 Bücher, daneben Gedichte, Hörspiele und Filme.

Henry Miller übersetzte MORAVAGINE 1930 ins Amerikanische und war von ihm tief beeindruckt. Er erklärte, es sei in Frankreich nicht publizierbar, empfahl es aber einem deutschen Verlag (die deutsche Erstausgabe erschien 1928 bei Georg Müller, München). Cendrars wurde zu einem von Henry Millers Helden und Freunden (Cendrars war der erste, der WENDEKREIS DES KREBSES rezensierte).

Cendrars sieht in diesem lustmordenden Serienkiller ein Prinzip, in dem aus asozialer Destruktion Kreativität erwächst. Prägend war für Moravagine die geradezu maschinelle Soldateska, die seine Kindheit begleitete. Dabei schmerzt ihn die Sinnlosigkeit seiner Existenz, da er weder philosophisch noch religiös zu einer Antwort findet. Mit seiner Destruktion fordert er das Universum heraus.

Der Schriftsteller Oleg Jurew sieht eine Bedeutung des Romans darin, dass „mit den Mitteln eines Abenteuer- und Schauerromans Cendrars ein Bild der europäischen Menschheit in der ausgehenden Moderne bereitet… Am Ende des 19.Jahrhunderts… verwandelte sich Europa in einen Lustpsychopathen, der nur das will, was für Geld nicht zu bekommen wäre – Frauen aufschlitzen, fremde Länder zerstören, einen Weltkrieg anzetteln.“

„Daraufhin sprachen wir dann vom Krieg, korrekt und freundlich.“

Die amoralischen Freiheiten, die heute gerne in den Serienkiller hineininterpretiert werden, spiegeln die rücksichtslose Gier der imperialen Mächte wieder, die sich von Nationalstaaten zu Wirtschaftsmächten entwickelt haben und nun von den Finanzterroristen aufgeschlitzt werden. So könnte man vielleicht Moravagine in der Fortsetzung dieser Auslegung weiterführend interpretieren.

Die „Verwissenschaftlichung der Brutalität“ und „Industrialisierung des Mordens“ als Verdinglichung von Rationalität und Aufklärung, die bis heute fortwirkt um Gier zu legitimieren.

„Was bedeutet mir ein Mord mehr oder weniger auf dieser Welt, die Entdeckung der kleinen Leiche eines unschuldigen jungen Mädchens?“

Die schwachsinnige Behauptung des Serienkillers als „letzten amerikanischen Helden, der die substantielle Freiheit des Individuums ausübt“ pervertiert Gedanken der Aufklärung durch asoziale Fokussierung auf das Individuum, die dem vor-aufklärerischen Denken entspricht. Gilles des Rais lässt grüßen.

Trotz der gewollten Entemotionalisierung der Sprache ist die fiebrige Überspanntheit von Huysmans oder der Nachhall des fin-de-siècle spürbar (Cendrars nimmt immer wieder Bezug auf Auguste de Villiers de L´Isle-Adam).
Außerdem erinnert Moravagines apodiktische Verkündungswut an Nietzsche. Der ganze Roman hat etwas von einer wirren Interpretation des „Übermenschen“.

Um das alles im Genre einzugliedern: Ein ungewöhnlicher Serienkillerroman, der kaum für Freunde von Ethan Cross oder Karen Slaughter taugt.

Wahrscheinlich ist der Roman schon postmodern gewesen, bevor irgendwelche Strategen diesen Marketingbegriff à la „Ende der Geschichte“ kreierten.


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