Von der Schreib- zur ‚Denk’Maschine? – Die unerhörte Geschichte des verkannten Wegbereiters. Eine Buchvorstellung

Von der Schreib- zur ‚Denk’Maschine? – Die unerhörte Geschichte des verkannten Wegbereiters. Eine Buchvorstellung

Der Autor Cornelius Scherg erzählt die aufregende Geschichte eines Südtiroler Handwerkers im 19. Jahrhundert, dessen Erfindung – von seinen Zeitgenossen belächelt – den eigentlichen Siegeszug im 20. Jahrhundert antreten sollte

Zu Fuß zur Weltausstellung …

1873 – vor 150 Jahren – macht sich ein Südtiroler auf einen sechshundert Kilometer langen Fußweg – nach 1849, 1867, 1870 zum vierten und letzten Mal in seinem Leben. Sein Ziel: Wien. Die Hauptstadt des Kaiserreichs und Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn befindet sich im Umbruch, eine Weltwirtschaftskrise droht, und die Cholera hält die Stadt in Atem. Sieben Millionen Menschen werden in diesem Jahr dennoch kommen, um die Neuigkeiten auf der Weltausstellung zu bestaunen. Auch der Besucher aus dem kleinen Ort Partschins ist fasziniert, sein wahres Interesse aber gilt nur einem einzigen Objekt: der ersten serienreifen Schreibmaschine. Einen Ausstellungskatalog kann er sich nicht leisten, also begibt er sich auf die Suche, und tatsächlich, im amerikanischen Pavillon, am Stand der Firma Remington, wird er plötzlich hellhörig; er sieht eine junge Frau, die Klavier zu spielen scheint – unrhythmisch klappern Tasten und Hebel. Der Besucher bleibt gebannt stehen! Den Erfinder Latham Sholes verwickelt der Staunende in ein Gespräch; der Amerikaner seinerseits ist verblüfft wegen der außergewöhnlichen Sachkenntnis des sonderbaren Besuchers.

… bloß ein fachsimpelnder Sonderling?

In den „Innsbrucker Nachrichten“ ist bereits im Dezember 1867 folgende Notiz zu lesen:

… ein schlichter Zimmermann hat eine Schreibmaschine erfunden, welche die Bewunderung des Beschauers in hohem Grade erregt und nach dem Urtheile vieler eine weittragende Zukunft für sich hat. – Jetzt fehlt nur noch eine Denkmaschine, die mit der Schreibmaschine in Verbindung gebracht werden kann, und wir haben keine Schulen mehr nötig.

Peter Mitterhofer heißt dieser vermeintlich ‚schlichte Zimmermann‘, der 1822 auf die Welt kommt, 1893 verarmt und einsam in Partschins stirbt und „ohne Grabkreuz gleich beim Blitzableiter beigesetzt“ wird.

Porträt

Porträt Peter Mitterhofer

… erzählte Lebensgeschichte …

Cornelius Scherg hat diesem Außenseiter und Tüftler, der im Heimatort als Spinner gilt, mit seinem Buch ein eindrucksvolles erzählerisches Denkmal gesetzt. Das literarische Porträt der Hauptfigur Peter Mitterhofer lässt aber auch die Lebensverhältnisse der ‚kleinen Leute‘ lebendig werden; der Autor vermag das eindrucksvoll zur Sprache zu bringen: deren Engstirnigkeit ebenso wie das handwerkliche Können, die Armut ebenso wie das Leid und die Lebensfreude. Die gesellschaftliche Elite hingegen ‚glänzt‘ in der Erzählung auf ganz eigene, unverwechselbare Weise durch eine Melange aus Arroganz, Borniertheit und Pseudo-Großmut.

Der vierundvierzigjährige Peter Mitterhofer stellt das dritte Modell seiner Erfindung im Januar 1867 einer Kommission im Ministerium für Handel und Volkswirtschaft auf Empfehlung eines Südtiroler Adligen in Wien persönlich vor. In einem Schreiben des Präsidiums der Polizeidirektion Wien an die Kabinettskanzlei heißt es später über das fünfte, verbesserte Exemplar: „…das vorliegende, in allen Details musterhaft ausgeführte Modell würde für die Sammlung einer technischen Lehranstalt eine willkommene Bereicherung sein und strebsamen Schülern zum anregenden Beispiel dienen können, wieweit es der denkende und fleißige Mensch bringen kann.“

Schreibmaschine

Vermutlich das am weitesten von Mitterhofer entwickelte Modell im Stadtmuseum Meran

Die Idee, ein mechanisches Schreibwerkzeug zu bauen, ist Mitterhofer während eines sechswöchigen Gefängnisaufenthalts gekommen – er hatte sich in einem Spottlied über den örtlichen Ordnungshüter lustig gemacht. Eine reine Kopf-Konstruktion bildet die Grundlage für die jahrelange, beharrliche handwerkliche Umsetzung der Idee mit den einfachsten Mitteln und Materialien. In fünfeinhalb Jahren entstehen die ersten drei der insgesamt fünf Modelle in seiner kleinen Werkstatt, weitgehend ohne finanzielle Unterstützung.

… auf der Walz …

Umfassende Kenntnisse und Fertigkeiten hat sich Peter Mitterhofer bei verschiedenen Handwerksmeistern auf seiner neunjährigen Wanderschaft angeeignet. Cornelius Scherg erzählt diese Vorgeschichte anschaulich, detailreich in ausführlichen Episoden – zurecht, denn so wird verständlich, dass dieser vermeintliche Sonderling mit seiner selbstgebauten Gitarre und den Bänkelliedern, auf seiner Walz auch als Unterhaltungskünstler geschätzt wird. Mitterhofer lernt außerordentlich rasch aufgrund seiner außergewöhnlichen Beobachtungs- und Auffassungsgabe. Kurz: Er ist ein wissbegieriger, weltoffener und humorvoller Zeitgenosse. – Dem Autor gelingt es, die facettenreiche Biographie Mitterhofers als einen konsequent selbstbestimmten, entbehrungsreichen Lebensentwurf auf der Höhe seiner Zeit zu schildern. Verwehrt bleibt dem Unzeitgemäßen jedoch, die Gründung eines erfolgreichen Start up-Unternehmens; er weiß nicht, dass er seine Erfindung hätte patentieren lassen können. Auch die notwendige Anerkennung bleibt aus, so ist sein Lebensprojekt letztlich zum Scheitern verurteilt, nach dem Tod seiner Frau Marie resigniert er völlig und zieht sich immer mehr zurück. Auf seinem Grabstein wird später stehen: „Die Anderen, die von ihm lernten, durften die Früchte seines Talents ernten“.

getippter Text

Eigenhändig getippter Brief Peter Mitterhofers an den Herrn von Goldegg aus dem Jahr 1869

… späte Würdigung einer Erfindung mit revolutionärer Wirkung …

Als Genugtuung dürfte es Peter Mitterhofer empfunden haben, dass in seinem Heimatort 1993 ihm zu Ehren ein Schreibmaschinenmuseum errichtet wird und die Österreichische Post 1993 und 2017 Mitterhofer-Sondermarken herausgibt. Außerordentlich hätte ihn sicher gefreut, dass 75 Jahre später Konrad Zuse den ersten funktionsfähigen Computer Z3 präsentiert. Beide Erfindungen haben nicht nur die Büro- und Berufswelt im 20. Jahrhundert, sondern unsere gesamte Lebenswelt revolutioniert. Es scheint, als stünden wir – 130 Jahre nach Peter Mitterhofers Tod 1893 – wieder an der Schwelle einer weitreichenden Revolution: Auch in Gestalt des ChatGPT betritt eine ‚neue Macht‘ die Weltbühne: ‚Künstliche Intelligenz‘.

Cornelius Scherg ist literarisch etwas ganz Besonderes gelungen: nicht nur die denkwürdige „Geschichte eines außergewöhnliches Lebens“ eindringlich und virtuos zu erzählen, sondern ebenso ein eindrucksvolles, vielschichtiges Sittengemälde zu zeichnen, das Parabelcharakter besitzt, dadurch über sich hinaus weist und uns etwas angeht – den eigenen Träumen treu zu bleiben.

Briefmarken

Sondermarken der Österreichischen Post 1997

TEXT Erhard Mich
FOTOS Erhard Mich, Cornelius Scherg, gemeinfreie Bilder

Cornelius Scherg: Der Spinner aus Partschins. Die Geschichte eines außergewöhnlichen Lebens, Amazon 2022,
ISBN 9798848670585, Preis: 12,50 Euro
Cornelius Scherg, Jg. 1943, lebt in Tübingen, Veröffentlichungen in diversen Zeitungen und Zeitschriften

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