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  • Das Theater der Hunderttausend historisieren
  • Evelyn Annuß (bio)

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Abb 1.

Die Unterbrechung (Ligna, Richard-Wagner-Ham, play! Leipzig Festival 2010, © Marcel Ruge)

Re-enactments haben Konjunktur in der zeitgenössischen Theater-, Performance- und Videokunst – von Marina Abramovic über Omer Fast bis zu Gob Squad, Milo Rau oder Wael Shawky.1 Dabei offenbaren jene Reinszenierungen, die sich ihrer Lesbarkeit als “verkörperte Vergegenwärtigungen vergangener Ereignisse”2 widersetzen, den Akt der Nachals Entstellung und machen so unseren Begriff von Geschichte reflektierbar. Das gilt auch und gerade für das performative Zitieren chorischer Aufführungen, die sozusagen naturgemäß auf nichtdramatische Darstellungsregister setzen und das Moment ästhetischer Vergemeinschaftung untersuchen.3 Hier nämlich korrespondiert die reflexive Potenz des Zitierens, die Transposition in der Wiederholung, mit jener der chorischen Darstellung, die den Akt der Figuration im konstitutiven Fehlgehen kollektiven Verkörperns exponiert.

Das zeigt sich am Nachleben einer Massenchoreografie aus dem Jahr 1936. Das Hamburger Performancelabel Ligna zitiert sie zunächst in Leipzig (2010) auf der grünen Wiese und später in Hellerau (2012) unter dem Titel Die Unterbrechung noch einmal herbei.4 Diese Re-performance eröffnet den Ausblick auf die arbiträre Formgeschichte der Chorfigur im Nationalsozialismus. Darin wiederum ist sie einer aktuellen Diskursverschiebung verwandt, die die Tragfähigkeit [End Page 137] unserer Vorstellung von einer klar bestimmund umgrenzbaren ‘faschistischen Ästhetik’5 als Komplement nationalsozialistischer Gewaltherrschaft aus unterschiedlicher Perspektivik befragt: Untersucht die zeitgenössische kulturhistorische Forschung etwa die Präfiguration von Nazi-Masseninszenierungen in republikanischen Feiern und schenkt der Ästhetik der Zwischenkriegszeit jenseits totalitarismustheoretischer Verkürzungen neue Aufmerksamkeit, so wird zugleich der Topos des Undarstellbaren als Kehrseite nationalsozialistischer Selbstpräsentation revidiert; zudem wird von Seiten der Philosophie dasjenige, was als genuin faschistische “Ästhetisierung der Politik”6 firmiert, einer erneuten Lektüre unterzogen, die das Moment der Anästhetisierung, der Verstellung, des Inszenierungscharakters von moderner Repräsentationspolitik akzentuiert. Vor diesem Hintergrund zielt der folgende, von Lignas Unterbrechung ausgehende Vorschlag darauf, erstens der massentheatralen Inszenierung des Phantasmas ‘Volksgemeinschaft’ den Anstrich monolithischer Singularität wie Statik zu nehmen und zweitens auch und gerade im Hinblick auf den Nationalsozialismus für einen reflexiven Begriff von Theaterhistoriografie zu plädieren, der um die eigene Arbitrarität und Nachträglichkeit weiß und damit zugleich die Frage der Rezeptionspraxis aufwirft.7

1. Nach- als Entstellung

Lignas ‘Radioballett’;8 Die Unterbrechung ruft die bewegungschorische Arbeit Rudolf von Labans ins Gedächtnis. Neben der Mannheimer Inszenierung Alltag und Fest aus dem Jahr 1929 wird die Massenchoreografie Vom Tauwind und der neuen Freude zitiert, die 1936 ‘Volkwerdung’; in getanzter Form repräsentieren soll: Nach einjähriger Probenphase wird Labans Arbeit im Vorfeld der Olympischen Spiele versuchsweise auf der Dietrich-Eckart-Bühne – der heutigen Berliner Waldbühne – aufgeführt. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels allerdings lässt dieses von über 1.000 Laien aus 30 Städten getanzte sogenannte Weihespiel nach seinem Besuch der Generalprobe kurzfristig aus dem offiziellen Rahmenprogramm der Olympischen Spiele streichen.9 Labans Versuch, den Ausdruckstanz den Nazis anzudienen, scheitert also Mitte der 1930er Jahre. So zeugt er bereits vom komplizierten Verhältnis zwischen kollektiven Darstellungsformen und ihrer nationalsozialistischen Instrumentalisierung.

Daran erinnert Die Unterbrechung, indem das Re-enactment Vom Tauwind und der neuen Freude mit Alltag und Fest verschränkt. Die Aktion funktioniert als eine audiomedial gesteuerte, flashmobähnliche Nachstellung im öffentlichen Raum. Hierbei bringt die Re-performance durch ein zufällig zusammengewürfeltes Publikum die überlieferten Fotos wieder zum Tanzen und fragt darüber nach den Zäsuren und Kontinuitäten in der Geschichte des Ausdruckstanzes. Unterbrochen von dialogischen Kommentaren, die das Nachgestellte von unterschiedlichen Positionen aus reflektieren, werden über Mp3-Player allen Interessierten, in Teilchöre unterteilt, die jeweiligen Bewegungsanweisungen gegeben. Die von Laban anvisierte chorische Vermittlung von Kollektivität im Medium geteilter Gesten ist in der technisch fortgesetzten Übertragung des Zitierten als fremdbestimmter Akt markiert. Und natürlich ist die gestische ‘Gleichschaltung’ der Körper in dieser Konstellation zum Scheitern verurteilt; die Synchronisation der Bewegungen geht – dem Kalkül der Versuchsanordnung entsprechend – fehl. Im Zitat unterläuft das Geschehen den labanschen Einsatz der Körper, der 1936 völkische Vergemeinschaftung vor Augen stellen soll und lässt zugleich nach dem Verhältnis von bewegungschorischer Formation und faschistischer Repräsentation fragen...

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