Macht Erben glücklich?

Familie – Erbe – Begehren

Macht Erben glücklich?

Zur Debatte „Müssen wir begehren, was der andere hat?“ und der Romanlesung „Der Fang des Tages“ von Gisela Stelly Augstein im Auditorium der Spore-Initiative

In der einstigen Einflugschneise des Flughafens Tempelhof am Eingang des ehemaligen Kirchhofs der Gemeinden Jerusalems- und Neue Kirche hat die Spore-Initiative ein Haus für Kultur- und Lernprogramme an der Hermannstraße bezogen. Innen viel Sichtbeton, außen Klinker. Das Haus ist um einen denkmalgeschützten Leuchtfeuermast der Einflugschneise von 1939 gegliedert.[1] Rückseitig öffnet sich das Haus schon zu einem künftigen Garten mit weiteren Befeuerungsmasten. Die Hermannstraße in Neukölln weist eine hohe Späti-Dichte zwischen Eldorado Pfandhaus, Babylon-Berlin Shisha Bar und Liebe Döner um den U8-Bahnhof Leinestraße auf. Kürzlich titelte die Berliner Zeitung: „U8, die schlimmste U-Bahn Berlins“. Der Stifter Hans Schöpflin gründete 2020 hier die Spore-Initiative. „Come by to garden, cook, explore, paint, collect, play, build, test and learn!” steht an der Scheibe. Hier soll „biokulturelle Vielfalt‟ gelernt werden.

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Im 2023 erschienenen Erbe-Roman Der Fang des Tages von Gisela Stelly Augstein geht es am 2. Mai im Auditorium der Spore-Initiative an der Hermannstraße um die Familie Escher, die in einer Villa am Hundekehlesee im Grunewald wohnt und Leonhard K aus Hamburg. Wolfram Koch liest engagiert aus dem Hamburger Teil des Romans, in dem ein großes Vermögen mit einem Nummernkonto in der Schweiz und eine Mediengruppe vererbt werden. In Deutschland werden bekanntlich große Vermögen vererbt und Stiftungen gegründet. Die Buchvorstellung mit dem Gespräch über die Frage, ob wir begehren müssen, was der andere hat, trifft ein gesellschaftlich relevantes Thema. Gisela Stelly Augstein spricht mit Rüdiger Safranski über die Begehrensfrage, die in den Erbe-Roman hineinspielt. Sie docken mit dem Begehren an den französischen Anglisten und Kulturanthropologen René Girard an. Das Personal des Romans verstrickt sich im Begehren und Neid.

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Die Hermannstraße[2] beginnt und endet am Hermannplatz, der insbesondere mit der Sonnenallee seit dem 7. Oktober 2023 wiederholt in internationalen Medien für Aufsehen sorgte, während die Spore-Initiative wenige hundert Meter entfernt „biokulturelle Vielfalt“ nach einem Artikel von Luisa Maffi im Annual Review of Anthropology vermittelt. Die Mitbegründerin und Direktorin des Magazins Terralingua, definiert biokulturelle Vielfalt als „die Vielfalt des Lebens in all seinen Erscheinungsformen – biologisch, kulturell und sprachlich –, die innerhalb eines komplexen sozio-ökologischen Anpassungssystems miteinander verbunden sind“.[3] Das ist zumindest eine Gegenhaltung zum Mythos der sogenannten Biodeutschen. Der Name der Initiative bezieht sich zudem im Deutschen wie Englischen auf Sporen bzw. Keime, die „im Werden“ begriffen sind, indem sie sich asexuell vermehren. Dabei klingt für den Berichterstatter sogleich Gilles Deleuze‘ und Félix Guattaris Buch Mille plateaux (1980) an, auf dessen Einband der deutschen Ausgabe im Merve Verlag in einer Begriffswolke „Werden Transformationen Ansteckung Milieus Rhizom Outsider“ etc. in unterschiedlicher Größe erschienen.[4]

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Die Anthropologie stellt die Frage nach dem Menschen und wie er wurde, was er ist. Seit geraumer Zeit lässt sich formulieren, dass sie fragt, wie der Mensch im Werden bleibt, während gelegentlich von einem Posthumanismus gesprochen wird. Der Begriff Begehren erschien nicht in der Begriffswolke von Tausend Plateaus. Vielmehr formulierten Deleuze und Guattari mit dem Rhizom im Werden eine Kraft, auf das Begehren einzuwirken: „Das Rhizom (…) wirkt auf das Begehren durch produktive Anstöße von außen ein.“[5] – Nachdem der Verleger und legendäre Piper- wie Suhrkamp/Insel-Lektor Rainer Weiss dem Stifter Hans Schöpflin und der Initiative für die Gelegenheit der Verlagsveranstaltung gedankt und den Roman aus der Edition W anmoderiert hatte, las Wolfram Koch eine erste Passage, die Rüdiger Safranski mit dem Begehren nach René Girard kommentierte. Es ginge um ein „zirkulierendes Begehren, an das das Ich als Subjekt andocke“.[6]   

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Das Erben und das Begehren korrelieren miteinander als Modi der Übertragung. Durch die Vererbung werden in sozialen wie biologischen Konzepten, in Natur und Kultur Objekte/Dinge – Bücher, Kleider, Häuser, Geld, Gene, Wissen etc. – an andere übertragen.[7] Das Begehren überträgt das Begehren des und der Anderen auf ein Ich, ein Subjekt, wodurch u.a. Neid entstehen kann. Wie lassen sich aktuell Übertragungen formulieren? Die feministische Comiczeichnerin Liv Strömquist hat 2021 in einem Interview mit Jaqueline Haddadian im Magazin Stern die mimetische Theorie von René Girard in ihrem Sachcomic Im Spiegelsaal aktualisiert.[8] Strömquist reagierte damit auf Schönheitsideale, wie sie auf der Plattform Instagram mit Microblogs und Fotos oder Videos z.B. mit Selfies von Kim Kardashian propagiert werden. 2021 schätzte Forbes Kim Kardashians Privatvermögen auf 1 Milliarde US-Dollar, die sie mit Medienauftritten und Mode- wie Kosmetikprodukten mit ihrer Schwester Kylie verdient habe. Strömquist fragte sich, warum es so sei, „dass Leute/junge Frauen, die ein Bild von Kylie Jenners Wespenköniginnentaille, ihren Wangenknochen wie aus Elfenbein geschnitzt oder ihrem himmelskörperartigen Hintern sehen“, genauso aussehen wollen.[9]

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In einer kaum noch textbasierten, dafür hashtagsatten visuellen Medienwirklichkeit wie Instagram erhält die Frage nach dem Aussehen und der Nachahmung durch das Begehren eine neuartige Brisanz. Als Antwort schlägt Strömquist Im Spiegelsaal René Girards mimetische Theorie vor. Dadurch erhielt Girards Rede vom Begehren seit den 1970er Jahren eine schlagartige Aktualität. Am Comic-Beispiel einer Caprihose erklärt und visualisiert Liv Strömquist die Funktionsweise des Begehrens mit Girards Formulierung „Der Mensch begehrt, was andere begehren.“ Wenn nur eine Person eine Caprihose trägt, mag das noch keine Folgen „für mich“ haben.
„Aber nach kurzer Zeit verbreitet sich das Begehren und überträgt (Hervorhebung T.F.) sich in Windeseile von Mensch zu Mensch, und plötzlich finden alle Caprihosen super und wollen eine (Caprihose) besitzen und fragen und fangen an zu LEIDEN, wenn sie nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um an ein Exemplar zu kommen.“[10]     

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Strömquist spitzt ihre Girard-Lektüre so weit zu, dass der „gleiche Mechanismus (…) beispielsweise auch in einer Finanzblase“ greife, wenn alle oder viele auf „Sägespäne“ spekulierten. Es gibt darin allerdings den kleinen Unterschied, dass die „Caprihose“ wie der „himmelskörperartige Hintern“ das Begehren visuell übertragbar machen, während es bei den „Sägespänen“ um Objekte geht, die sprachlich verfasst sind.[11] Doch die Kombination von Text und Grafik durch Strömquist bietet zunächst einmal einen Zugang zu René Girards mimetisch-anthropologischer Theorie, wie er sie u.a. in A Theater of Envy William Shakespeare mit dem Kapitel über die Liebe durch Hörensagen in Viel Lärm um Nichts entfaltet hat:
„The desire that speaks first puts itself on display and, as a result, can become a mimetic model for the desire that has not yet spoken. The displayed desire runs the risk of being copied rather than reciprocated. In order to desire someone who desires us, we must not imitate the offered desire, we must reciprocate it, which is vastly different. Positive reciprocity demands an inner strength that mimetic desire lacks. In order to love truly, one must not selfishly capitalize the desire of one’s partner.”[12]

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Das Hörensagen (Hearsay) spielt als vager Modus der Übertragung eine entscheidende Rolle für das Begehren. So genau will oder muss man gar nicht wissen, was begehrt werden will und soll. Indem das Begehren zuerst spricht, produziert es sich als Model für ein noch nicht ausgesprochenes Begehren. Das Begehren lockt zum Kopieren. Ein flüchtiges Sehenzeigen funktioniert beim Scrollen der 363 Millonen Follower durch das Instagram-Konto Kim Kardashian mit @kimkardashian, @SKIMS … genauso wie das Hörensagen. Vielleicht sagt Strömquist schon zu viel mit „Wespenköniginnentaille“. Es reicht völlig, dass ein tiefer Einschnitt zwischen einem weiblichen Ober- und Unterkörper im Scrollen aufblitzt. Das Begehren spricht in der Formulierung von Girard, damit es kopiert werden kann. Was es sagt, wird nicht formuliert. Girard neigt zu einer moralischen Geste, wenn er schreibt, dass man das Begehren nicht eigennützig kapitalisieren oder verwerten (capitalize) dürfe, um wahrhaftig (truly) zu lieben. Dadurch spielt er indessen schon auf die Figur des Verzichts als eine Überwindung der Logik, der Mechanik des Begehrens an.

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Rüdiger Safranski und Gisela Stelly Augstein kamen in ihrem Gespräch zwischen den Lesungen aus dem Erbe-Roman mehrfach auf die Dynamik des Begehrens zurück. Sie führe zu einer „Steigerung von Konflikten und Krisen“ wie sie mit Lena Grau in Der Fang des Tages vorgespielt würden. Schon Søren Kierkegaard habe geschrieben: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“ Doch bereits im ersten Teil wird die Dynamik des Begehrens nach dem Erbe deutlich, während noch die tote Erblasserin Elfriede Escher in der Villa am Hundekehlesee aufgebahrt ist:
„»Nun komm endlich zur Sache, Heiner Lehmann, was willst du uns erzählen?« Helene klopft ungeduldig mit ihrer Hand auf den Tisch.
»Ihr wollt es wirklich von mir wissen? Ich soll es aussprechen?«
»Sprich es aus!«, fordert Katrin, »wir platzen vor Neugier!«
Sie lächelt spöttisch.
»Also gut: Dora und Mila hätten ohne die Vorvererbung demnächst als Erbinnen mit dem Erbschein nach Wien fliegen und ihr Viertel vom Ganzen einfordern können, richtig? Elfriede hat in ihrem Testament verfügt, ihr Bankvermögen gehört ihren vier Kindern zu gleichen Teilen, richtig? Als Erbinnen mit Erbschein können Dora und Mila aber auch Einsicht in alle Konten verlangen, auch in die in Österreich und in die davor in der Schweiz, richtig? Über die Konteneinsicht könnten sie verfolgen, wie sich das große geheime Vermögen des alten Poppe in all den Jahren entwickelt hat, richtig? (…) Versteht ihr? Dora und Mila könnten mit ihrem Erbschein als Erbinnen verfolgen, in welche Seitenarme das viele schöne Geld geflossen ist, und es einfordern, von ihren Brüdern zurückfordern, versteht ihr? Über Grenzen hinweg …«“[13]

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Die eingefädelte Vorvererbung verhindert in dieser Erzählung Heiner Lehmanns den Zugang zum oder auch das Recht auf das Wissen über die Geldflüsse. Obwohl sein Wissen hypothetisch bleibt, vermag die Erzählung das Begehren Helenes und Katrins, mehr wissen zu wollen, anzustacheln. Die Erzählung von den Geldflüssen bleibt vage und ungenau. Doch dieser Wissensmodus vermag es, das Begehren nach mehr Wissen zu steigern. Der zweite Teil des Romans mit dem Zwischentitel „Die Schwarze Witwe“ entwickelt sich nicht zuletzt als ein Covid-Roman, insofern Larissa aus dem ersten Teil mit Verdacht einer Infektion durch SARS-Cov2 in die Charité eingeliefert wird. Doch nun geht es um Otto, dessen Vater ihm auf seinem Sterbebett eine Lebensbeichte als Notar abgelegt hatte. In der Isolation der Pandemie „(e)ingebunkert“ beginnt Otto, die Beichte als Krimi zu schreiben:
„Jetzt, seit dessen Beichte, ist er geradezu versessen, sich zumindest diesen Teil seines Lebens, in den ihn sein Vater kurz hatte blicken lassen, nicht nur in seiner Phantasie zu erobern. Nein, er will daran tatsächlich teilhaben. Und das einzige Mittel, das ihm diese Teilhabe ermöglicht, ist sein Schreiben …“[14]

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Der Erbe-Roman bekommt insofern durch den Ausnahmezustand der Pandemie mit ihrer Todesdrohung eine weitere Wendung. Für Otto geht es einerseits um die Teilhabe am „unbekannten Leben seines Vaters“, nachdem der seine Familie verlassen hatte. Andererseits geht es für ihn zugleich darum, die Zeit der Einbunkerung zu überleben und unausgesprochen mit dem Krimi ein Erbe zu hinterlassen. Er will das Wissen der Beichte seines Vaters, eines Notars, vererben. Das Erbe wird von Otto durch das Schreiben geradewegs in ein Vermächtnis gewendet, indem er die Beichte nicht einfach kopieren, sondern transformieren will:
„Was also, wenn er Einfluss nähme und das fatale Wirken seines Vaters zu einem besseren Ende führte, zumindest in der Fiktion? Was also, wenn er die Mitspieler im Leben seines Vaters zum Reden und das Unrecht seines Vaters zur Sprache brächte? Auf seine eigene Weise eine ganz andere Art von Krimi schriebe und seinen Vater von seiner Schuld erlöste? Seiner Schuld gegenüber Leonard K, dem Ex der Schwarzen Witwe?“[15]

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Dr. Otto Mayer hat sich als Notar gegenüber Leonard K, dem Eigentümer der gleichnamigen im Hamburger Hafen in einem zwölfstöckigen Hochhaus ansässigen Mediengruppe GmbH & Co.KG schuldig gemacht. Die Schauplätze der Villa am Hundekehlesee und die Hamburger City mit ebenso verschwiegenen wie einflussreichen Notaren in Übertragungsverhältnissen vermitteln ein reales Erfahrungswissen shakespeareschen Ausmaßes. Die Shakespeare-Signale eines Theaters des Neides werden von Otto zwischen Hamlet- und Othello-Anspielungen gesetzt.
„»Oh nein, das war deine Mutter! Deine Mutter hat deinen Vater mit falschen Beweisen von Fannys Untreue in den Othello-Wahnsinn getrieben …«
»Mein Vater war kein eifersüchtiger Mann«, widerspricht Amanda kühl, »die Affären meiner Mutter haben ihn nicht interessiert.«
»Die Affären deiner Mutter … ja … aber Fanny … Er hat Fanny geliebt … so wie ich deine Mutter geliebt habe …«“[16]  

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Die Funktion des Notars in Rechtsgeschäften und in der Hierarchie zu seinem Mandanten Leonard K wird als eine tiefe Verstrickung ins Begehren formuliert, die es für den Notar gar nicht geben dürfte, da er in Vertretung des Rechts handelt. Doch der Notar begehrt die Frau seines Mandanten. Die Tragödie des „Othello-Wahnsinn“ Leonard Ks wird von René Girard, der in Stanford lehrte, mit der Komödie Viel Lärm um Nichts korreliert, insofern zwei Helden von der Promiskuität ihrer gegenwärtigen oder zukünftigen Frauen fasziniert werden. Man muss allerdings gegenüber Girard hinzufügen, dass Frauen ebenfalls von der Promiskuität der Männer fasziniert sein können. Begehrt wird das Begehren des anderen in einer gewissen Radikalität, die Girard ein „mimetic self-poisoning” nennt:
In both plays the heroes are mimetically aroused at the thought of many men with whom these women supposedly made love and want to join this imaginary mob. When erotic desire becomes collective, it turns to base lust and starts vearning for the fallenness of its presumably fallen object.”[17]

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In der Zirkulation des Begehrens erweist sich Lena Graus „Diät“ für den sterbenskranken Leonard und zukünftigen Erblasser als „Gift“ in einer nahezu komödiantischen Szene. Die Kinder Leonards treffen in der Küche seiner Hamburger Villa in Anwesenheit des Hausmeisterehepaars Schmidt auf Leonard. Unterschwellig geht es darum, wer was erben will, soll und wird. Doch die Verwandlung der „Diät“ als „Ding“ in ein „Gift“ erhält ihre eigene Komik:
„»Hallöchen, hallöchen, wie nennt man denn das hier?», fragt Mario nun fuchsig, schaut antwortheischend fragend in die Runde und schüttelt das haarige Etwas leicht, sodass es Staubwölkchen von sich gibt. Amanda schreit leise auf, Herr und Frau Schmidt sehen sich verstört an, zwischen Lena Graus Augenbrauen bildet sich eine steile Falte.
Mario hält das pelzige Ding hoch: »Nennt man das hier Diät?«, fragt er, um dann marktschreierisch zu bestätigen: »Also das hier nennt man Diät!Er wirft das grauliche Ding mit Schmiss auf die Marmorplatte, sodass es auseinanderbricht und seine Teile in einer Pilzstaubwolke über den Tisch schlittern. Ein allgemeiner Aufschrei.
»Oh Hilfe, das ist Gift!«, ruft Amanda wie in Panik, »das ist pures Gift! Alle weg vom Tisch! Mario, trag Vater sofort weg vom Tisch, das hier ist pures Gift für ihn.«“[18]   

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Die Kombination und Komposition unterschiedlicher Erzählungen vom Erben durch Gisela Stelly Augstein, die Otto einen Krimi schreiben lässt, wirft die Frage auf, ob es ein gerechtes Erben, ein richtiges Erben ohne Schuld in der Zirkulation des Begehrens geben kann. Oder verpasst das Erbe immer, was vererbt werden soll? Wird nie geerbt, was zu erben gewünscht wird? Im Roman will Dora den Familienschmuck mit dem Diamantenarmband erben, findet aber nur Modeschmuck der Mutter, den sie nicht will. Macht das Begehren, weil es immer zirkuliert, nie besessen werden kann, zwangsläufig unglücklich? Rüdiger Safranski merkte im Gespräch an, dass René Girard im Alter wieder in die römisch-katholische Kirche eingetreten sei, als ob er sich damit vom Begehren befreit habe. Funktioniert ein Verzicht in der Figur des Opfers, wie er von Jesus in der Passion und im Abendmahl – „Mein Leib für Dich gegeben. Mein Blut für Dich vergossen.“ – als Gegenmittel zum Begehren und Beginn einer Gemeinschaft formuliert wird?

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Funktioniert der Verzicht, wie er nicht zuletzt mit einem vertraglichen Erbverzicht festgehalten werden kann? Könnte er mit Liv Strömquist geradezu zu einer feministischen Praxis werden? In der deutschen Gesellschaft, in der immer höhere Kirchenaustritte verzeichnet werden, hat die Praxis des Verzichts immer weniger Attraktivität. Stifter ließen sich noch bis in die Neuzeit Epitaphe in Kirchen setzen, um mit ihrem Geld „ihre“ Kirchengemeinde und deren Fortleben zu finanzieren. In Berlin hatte mit den unterschiedlichen Konfessionen wie der Französischen Kirche der Hugenotten oder der Parochialkirche der Reformierten oder der Bethlehemskirche der böhmischen Glaubensflüchtlinge etc. eine hohe Relevanz. Ab dem späten 18. Jahrhundert schlief die Praxis ein und transformierte sich in den teilweise pompösen Mausoleen und Grabmälern auf den Berliner Kirchhöfen. Heute werden große Vermögen in Stiftungen eingebracht, um im günstigen Fall an der Hermannstraße neue Prozesse anzustoßen.

Torsten Flüh

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PS: Dass die CDU auf ihrem Parteitag im Neuköllner Tagungshotel, wie der Spiegel heute berichtet, am Dienstag einen „Späti“ zur Unterhaltung aufbauen will, darf man als degoutante kulturelle Aneignung des Privatflugzeugpiloten und Konservativismus-Experten Friedrich Merz aus dem Hochsauerland bedenken.

Gisela Stelly Augstein
Der Fang des Tages
Gebunden, ca. 270 Seiten
ISBN 978-3-949671-08-1
24,00 € (D) | 24,70 € (A)

Spore-Initiative
Besuchen und Mitmachen
Hermannstraße 86
12051 Berlin
U-Bahnhof Leinestraße


[1] Die Hermannstraße 84 bis 87 gehören zur Denkmal Gesamtanlage Flughafen Tempelhof in der Denkmaldatenbank.

[2] Zur Hermannstraße siehe auch Galerie im Körnerpark: Torsten Flüh: Reinigungsrituale, Ruinen und Korean Soulfood. Zur Ausstellung After The Rain von Jinran Kim in der Galerie im Körnerpark. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Mai 2014.

[3] Zitiert nach Eigendarstellung Spore-Initiative: Im Werden: biokulturelle Vielfalt.

[4] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve Verlag, 1990.

[5] Hervorhebung durch Fett-Modus von T.F. Ebenda S. 26.

[6] Zitat nach Notizblock.

[7] Siehe Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013.

[8] Jaqueline Haddadian: Über Schönheit, Liebe und warum wir begehren, was andere begehren. Interview mit Liv Strömquist. In: Stern 14.11.2021, 15:46.

[9] Liv Strömquist: Im Spiegelsaal. Berlin: avant-verlag, 2021, (ohne Seitenzahl).

[10] Ebenda.

[11] Zur Frage, ob sich hier zwischen Quasi-Objekten und Objekten unterscheiden lässt, siehe Objekte im Spiel: Torsten Flüh: Starke Transformationen vom Fußballfeld und Parkplatz zum Kunstparcours. Zum Spielfeld Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration während der Fußball-Europameisterschaft am Gropius Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2024.

[12] „Das Begehren, das zuerst spricht, stellt sich selbst zur Schau und kann dadurch zum mimetischen Modell für das noch nicht ausgesprochene Begehren werden. Das gezeigte Begehren läuft Gefahr, eher kopiert als erwidert zu werden. Um jemanden zu begehren, der uns begehrt, dürfen wir das angebotene Verlangen nicht nachahmen, wir müssen es erwidern, was etwas ganz anderes ist. Positive Reziprozität erfordert eine innere Stärke, die dem mimetischen Begehren fehlt. Um wahrhaftig zu lieben, darf man das Begehren des Partners nicht egoistisch ausnutzen.“
René Girard: A Theater of Envy. William Shakespeare. (Hier: Love by Hearsay. Mimetic Strategies in Much Ado About Nothing) New York Oxford: Oxford University Press, 1991, S. 80-81.

[13] Gisela Stelly Augstein: Der Fang des Tages. Neu-Isenburg: Edition W, 2023, S. 85-87.

[14] Ebenda S. 143.

[15] Ebenda S. 143-144.

[16] Ebenda S. 152-153.

[17] René Girard: A … [wie Anm. 12] S. 291.

[18] Gisela Stelly Augstein: Der … [wie Anm. 13] S. 162-163.

Starke Transformationen vom Fußballfeld und Parkplatz zum Kunstparcours

Spiel – Wettbewerb – Gelände

Starke Transformationen vom Fußballfeld und Parkplatz zum Kunstparcours

Zum Spielfeld Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration während der Fußball-Europameisterschaft am Gropius Bau

Der grünste innerstädtische Parkplatz Berlins an der Niederkirchnerstraße Ecke Stresemannstraße wird für die Dauer der Fußball-Europameisterschaft EURO 2024 bis zum 14. Juli 2024 zu einem Spielfeld anderer Art. Spielen Sie mit. – Das Gelände ist historisch kontaminiert. Mit dem Königlichen Museum für Völkerkunde an gleichem Ort ging es seit 1886 im Kaiserreich um den Wettbewerb des Deutschen Reichs bei der Kolonialisierung außereuropäischer Länder. Die Völkerkunde stand im Dienst eines künstlerisch-kulturellen Wettbewerbs unter den Völkern. Es diente damals an der Königgrätzer Straße Ecke Prinz-Albrecht-Straße dazu, die Überlegenheit des deutschen Volkes und seiner Kunst gegenüber anderen Völkern im Kontrast mit dem benachbarten Deutschen Gewerbemuseum von Martin Gropius, dem Gropius Bau, sichtbar zu machen.

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Heute gibt es nationale Fußballmannschaften, die im europäischen und weltweiten Wettbewerb stehen. Wie lässt sich kreativ mit dem Wettbewerb am Fußball unter männlichen, europäischen Nationalmannschaften umgehen, wenn Deutschland das Gastgeberland ist? Ein Ausscheiden oder der Gewinn der Meisterschaft wird Emotionen bündeln und freisetzen. Der Intendant der Berliner Festspiele, Matthias Pees, hat sich anlässlich der EURO 2024, gefragt, „(w)elche sportlich-kreativen, vielleicht künstlerisch inspirierten Alternativen“ es geben könne „zu fortschreitender Kommerzialisierung und immer dominanteren Vermarktungsmechanismen“.[1] Was heißt Spiel? Wie lässt sich die Praxis des Wettbewerbs reflektieren? EURO 2024 solle „neue, imaginative und kollaborative Räume eröffnen, die das Spiel und das Spielen selbst in den Fokus rücken“.

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Das einst von den Maya erfundene Fußballspiel droht, nicht erst seitdem deutsche Fußballfans mit Tennisbällen Bundesligaspiele störten, um einen DFL-Investor zu verhindern, in einem globalen Wettbewerb des Transfermarktes und der Meisterschaften wie schon in Saudi-Arabien zum aberwitzigen Kommerz zu werden. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar war erst der Anfang wirtschaftlicher wie politischer Machtspiele um Armbinden und einen بشت Bischt als kulturelle Geste der Vereinnahmung des Weltmeisters und Weltfußballers Lionel Messi. Die Golfstaaten investieren in Fußball und sonstige Sportveranstaltungen, um darin eine Meinungsführerschaft ähnlich den „Hunger Games“ in der dystopischen Serie Die Tribute von Panem zu generieren. Die Tennisbälle zeigten kürzlich ihre Wirkung. Doch nun muss die Deutsche Fußball Liga Gesellschaft mit beschränkter Haftung (DFL) ihren Betrieb anders finanzieren.

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Internationale Fußballclubs wie Bayer 04 oder FC Bayern in Deutschland, aber auch Paris St. Germaine etc. sind heute globale Finanzunternehmen mit Fanclubs in Peking oder Shanghai. Wobei der Firmenclub des Pharmaunternehmens Bayer nicht mit der Clubfirma Bayern zu verwechseln ist. Fußballclubs sind viele kleine und einige sehr große Geldmaschinen. Zur Nationalmannschaft aus internationalen Clubs zusammengestellt wird die GmbH DFL zum Wirtschaftsunternehmen, das die Nation symbolisch vertritt. Das Fußballspiel und seine rituellen Handlungen in erster Linie unter einzelnen Männern mit einem Team persönlicher Berater und Manager sind betriebs- wie volkswirtschaftlich bis zum Einsatz neuester Technologien wie Künstlicher Intelligenz durchdrungen. Die Sehnsucht der Fans orientiert sich paradoxerweise an Mythen des Natürlichen und Bodenständigen. Vor dem Hintergrund dieser globalen Fußball-Ökonomie findet nun EURO 2024 in Deutschland statt.

Florentina Holzinger: Halfpipe, Bent Metal on 2 Cars, 2024.

Matthias Pees und Jenny Schlenzka, die Direktorin des Gropius Baus, wollen das Spiel strategisch stärker für die Kunst und den Kunstbetrieb einsetzen. Das Spiel soll inklusive Kräfte freisetzen. Denn der Kunst- und Kulturbetrieb setzt sonst gern auf exklusive Formate, aus denen sich Prestige für Sponsoren gewinnen lässt. Das „niederschwellig“ zugängliche Spiel für alle Generationen vom Kind bis zur Greis*in gehört für Jenny Schlenzka zum neuen Konzept des gewissermaßen durch Aspekte des Kolonialismus belasteten Gropius Baus. Sie arbeite mit der Künstlerin Kerstin Brätsch „an einem permanentem Spielort für Kinder, der ab September 2024 im Westflügel des Erdgeschosses kostenlos für alle Familien zugänglich sein“ werde. Es solle ein Ort werden, „an dem – (…) – mehr erlaubt als verboten ist, und wo das Zweckfreie und Regellose des Spiels zu einem Modell für die unmittelbare Begegnung mit Kunst“ werde.[2] Radical Playgrounds direkt am Gropius Bau, sieht sie als eine Erweiterung ihres Programms und wohl auch als experimentellen Vorlauf.   

Florentina Holzinger: Halfpipe, Bent Metal on 2 Cars, 2024.

Wie setzen sich internationale Künstler*innen mit dem Format Spiel in Praktiken zwischen einer Halfpipe für Skater*innen von Florentina Holzinger, Spielplätzen und dem historisch kontaminierten Boden auseinander? Praktiken öffnen zunächst einmal Spielräume. Es gibt nicht nur die Praxis des Gewinnen-müssens. Meine Besprechung habe ich mit einer Bildcollage des Ortes zwischen dem bis auf die Grundmauern zerstörten Völkerkundemuseum mit dem ebenfalls zerstörten Gewerbemuseum von Martin Gropius und dem Preußischen Landtag sowie der Erinnerungslinie „Berliner Mauer“ bis 1989 aus Granitpflastersteinen im Asphalt und Gehweg visuell eingeleitet. Der sehr große Parkplatz wird heute durch Platanen, die ca. 40 Jahre alt sind und zu einem Erinnerungshain gehören sollten, versteckt. Spielerische bzw. künstlerisch-kollaborative Praktiken der Ausgrabung werden ebenfalls von Radical Playgrounds an diesem Ort vielfältiger diskursiver Überschneidungen ausprobiert.

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Der Parkplatz als städtischer Raum einer autofreundlichen Stadt wird von Radical Playgrounds überspielt, woran der Architekt Benjamin Foerster-Baldenius von raumlaborberlin als Kurator erinnert.[3] Doch er ist weiterhin da mit seinen historisierenden Gaslaternen, den Granitpollern, dem Pflaster unter den Holzböden, dem Parkscheinautomaten, einer Sicherheitskamera etc. Die Niederkirchnerstraße wird von Bussen zugeparkt, weil neben dem Gropius Bau das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors zur Ausstellung über den polizeilichen Terror der Gestapo[4] während der Herrschaft des Nationalsozialismus (1933-1945) lädt. Das vermeintlich ferne oder gar als überwunden gedachte Grauen staatlich legitimierter Folter lockt mehr als das Kunstmuseum daneben. Die Stresemannstraße gehört zu Berlins vielbefahrenen und daher lauten vierspurigen Straßen. Zwischen Touristenströmen, Wurstbar auf dem einstigen Todesstreifen(!) und Grundmauern der Gestapo-Keller über den „Grundmauern des preußischen Kolonialmuseums“[5] wird nun der Park- zum Spielplatz.

Céline Condorelli: Play for Today, 2021/2024.

Die sich überschneidenden Linien für Spielfelder verschiedener Sportarten wie Badminton, Basketball, Fußball, Petanque, Volleyball sowie einer Laufbahn in den offiziellen Farben Orange, Rot, Rosa, Weiß, Hellblau und Gelb der in London lebenden Künstlerin Céline Condorelli sollen unter dem Titel Play for Today daran erinnern, dass Spielfelder und Spielregeln immer zugleich die Teilnahme nach binären Geschlechtern regeln.[6] Wer am Spiel teilnehmen darf und wer von ihm ausgeschlossen wird, regeln Sportverbände in der Welt hart. Auf dem Rundgang durch den von ihr kuratierten Kunstparcours erinnert die Kuratorin Joanna Warsza daran, dass Frauen in den meisten Sportarten zunächst ausgeschlossen waren.[7] Die Herstellung von Gleichheit, Chancengleichheit im Sport hat Gruppen zu Mannschaften normalisiert. In Berlin als Gründungsort der Turnbewegung durch Friedrich Ludwig Jahn am 13. November 1811 in der Hasenheide vor den Toren Stadt werden die geschlechtlichen Ausschlussmechanismen der körperlichen Betätigungen bzw. der Sportarten besonders sinnfällig.

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Die Körperertüchtigung, die heute Sport genannt wird, zunächst durch Turnen für Männer, die die deutsche Nation begründen wollen und sollen, wird von Friedrich Ludwig Jahn 1810 in seiner zuerst im Lübecker „Exil“ veröffentlichten Schrift Deutsches Volkstum formuliert. Jahn widmet sein nationalangelegtes Buch, während Napoleon in Berlin und den Ländern Deutschlands herrscht, „(e)inem Deutschen Biedermann in Rath und Tath in Handel und Wandel, Ihm, dem Manne, dem Menschen, dem Weisen“[8]. Andere Männer und Frauen werden von vornherein ausgeschlossen. Friedrich Ludwig Jahn konzipiert und konstruiert ab 1811 in der Hasenheide Spielfelder und Spielregeln im Bereich Turnen. Er bildet dadurch Gruppen, die später in Vereinen institutionalisiert werden und sich in einem Turnerbund national organisieren inklusive antisemitischer, nationalistischer und rassistischer Ausschließungen. Für die Olympischen Spiele 1936 wurde der Gedenkort in der Hasenheide ausgebaut, erwies sich aber als Spielfeld des Nationalen für zu klein.   

Céline Condorelli: Play for Today, 2021/2024.

Die Geschlechterregeln der Sportarten im Team- wie Einzelsport des Laufens haben zunächst Frauen ausgeschlossen. An den Linien von Play for Today finden sich Jahreszahlen, „in denen es Frauen erstmals erlaubt wurde, an internationalen Turnieren in der jeweiligen Sportart teilzunehmen. Beim Frauenfußball wurde die Erlaubnis zunächst noch einmal zurückgezogen und erst 1971 wieder erteilt.“[9] Doch der Binarismus der Geschlechter im internationalen Sport führt zugleich zu einem Ausschluss von Trans-Athlet*innen und hält an geschlechtsspezifischen Vorurteilen und der Abwertung von Queerness im Sport fest. Céline Condorelli will dem mit ihrer Installation begegnen, die von einer Reihe von Workshops im Programm begleitet werden wird.

Agnieszka Kurant: Quasi-Objects, 2024.

Die Frage nach dem Spiel und den Regeln wird von Agnieszka Kurant mit ihren Quasi-Objects thematisiert. Die in New York lebende Künstlerin geht davon aus, dass Spiele „Produkte kollektiver Intelligenz“ sind.[10] Quasi-Objects erhalten in Anschluss an Michel Serres‘ Text Der Parasit ihren Wert erst durch gesellschaftliche Praktiken und Zirkulation.[11] Serres selbst hat den Begriff allerdings nicht eingeführt. In Der Parasit, der zwischen Dezember 1975 und August 1979 geschrieben wurde, kommt er nicht vor. Vielmehr hat ihn Bruno Latour aus dem Text extrahiert, woraufhin Gustav Roßler „Quasi-Objekte“ als „Hybride(), Mischwesen aus Natur und Gesellschaft, aus Sprachlichem und Realem“ definiert hat. Nach Roßler „zirkulieren (sie) in Netzen und überqueren die Grenzen zwischen Sprache, Sozialem und Realem“.[12]

Agnieszka Kurant: Quasi-Objects, 2024.

Michel Serres lehrte eine radikale Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne. Deshalb ist es fraglich, ob er mit Der Parasit zwischen Objekten und „Quasi-Objekten“ unterschieden hätte. Vielmehr schrieb er, wie er es noch 2010 formulierte, in der Figur der „Odyssee“.[13] Sie reißt Odysseus aus seinem Wissen heraus und schreibt ihn in immer neue Geschichten ein. Als Wissen lässt sich aus Serres‘ Text schwer zitieren, obwohl er von Rousseau bis Marx‘ Kapital usw. Wissenschaftsgeschichte schreibt.
„Der Joker verwandelt sich in einen blanken Dominostein. Es ist ratsam, diesen leeren Raum, der in den vorzeitlichen Savannen auftauchte, diesen Riß inmitten ihrer fließenden Stabilität, zu begreifen. Haben wir in den Augenblicken, da die Geschichte sich plötzlich verzweigt, jemals andere Objekte geschaffen?“[14]

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Was heißt es, Objekte und Spielregeln zu schaffen? Existieren Objekte außerhalb der Regeln? Agniezka Kurant hat mit ihrer dreidimensionalen Arbeit in Anknüpfung an Serres nicht nur ein vieldimensionales Spiel geschaffen, das die Besucher*innen der Radical Playgrounds selbst erfinden können. Sie erinnert daran, dass Steine oder Würfel etc. „ihre performative Kraft“ verlieren, wenn „sie nur bei einer einzelnen Person bleiben“. Vielleicht erfinden Kinder im Vorschulalter am leichtesten damit ein Spiel. Kurant stellt zugleich die Frage nach dem Wissen, wie Serres sie treffend formuliert hat:
„Wenn der Parasit eines Tages erfunden hat, wie man an der Tafel des Wirts Materielles gegen Logisches tauscht und umgekehrt, so hat er an diesem Tage die Wissenschaft und die Theorie erfunden. Was wäre alles Wissen ohne – vor allem – diesen kreuzweisen und asymmetrischen Austausch?“[15]

Gabriela Burkhalter: The Playground Project – Architecture for Children, 2024.

Gabriela Burkhalter kuratiert The Playground Project – Architecture for Children, denn der Kinderspielplatz hat eine vielfältige Geschichte. Auf den Holzwänden zum Projekt sind die Druckplatten ihres Kataloges in der dritten Auflage von 2023 aufgebracht. Ihr Projekt, das sie seit 2006 in mehreren Städten und Ländern mit verschiedenen Künstler*innen und Themen permanent weiterentwickelt lässt sich unter architekturfuerkinder.ch einsehen. In Berlin arbeitet sie mit Yvan Pestalozzi zusammen, der 1972 die Spiel-Skulptur und Kunstwerk Lozziwurm erfunden hat. Burkhalter hat in Berlin die lokale Geschichte der Kinderspielplätze erforscht und dokumentiert. Sie unterschieden sich u.a. in Ost- und West-Berlin. Auf diese Weise können die Besucher*innen einerseits die Materialien und Konzepte der Spielplätze nachvollziehen und überdenken. Die Ausstellung mit großformatigen, kommentierten Fotografien lässt andererseits auch an die Spielplätze und ihre Zurichtung der eigenen Kindheit denken.

Yvan Pestalozzi: Lozziwurm, 1972.

Mit dem Lozziwurm hat Yvan Pestalozzi ein Spielgerät erfunden, das teilweise weiterhin auf Spielplätzen zu finden ist. Aber es entspricht nicht mehr den europäischen Sicherheitsnormen. Deshalb ist es in Berlin und Europa aus dem öffentlichen Raum verschwunden.  Die Schweizer Firma produziert nach dem Originalmodel aus Polyesterrohren weiterhin. Dass Lozziwurm im Kunstparcours Radical Playgrounds wieder auftaucht und von einem Kind sogleich zum Krabbeln benutzt wird, gibt einen Wink auf das Spielverhalten von Kindern und darauf wie sehr Spielgeräte – Schaukeln, Rutschen, Kletterbögen, Kletternetze etc. – von Regeln und Konzepten durchdrungen sind. Spielplätze und ihre Möblierung ändern sich permanent, wie es Gabriela Burkhalter formuliert:
„Während der 1980er Jahre spiegelte sich in den Ländern des Westens der Rückzug der staatlichen Zuständigkeit und die ökonomische Deregulierung sowie das schwindende Denken in Utopien auch im Spielplatzdesign, während Gesellschaften im kommunistischen Block weiter gemeinschaftliche Aktivitäten pflegten. Die Ausstellung führt durch diese facettenreichen Wechselwirkungen und die zugrundeliegenden Kräfte“.[16]

Yvan Pestalozzi: Lozziwurm, 1972.

Gabriela Burkhalter begann vor 20 Jahren, die bis dahin unbekannte, hoch dynamische Geschichte der Kinderspielplätze zu erforschen und zu dokumentieren. Denn die Ensembles der Spielgeräte, die Formen und Materialien ändern sich weiterhin permanent. Kletterbögen beispielsweise reizen zum Turnen als Körperertüchtigung im Kindesalter. Die in unterschiedlichen Designs zu findenden Schaukeln verknüpfen in der Schwingbewegung Kraft, Mut, Träume von Schwerelosigkeit und Sicherheit. Kinder wünschen sich beim Schaukeln nichts sehnlicher, als dass insbesondere ein vertrauter Erwachsener sie anschubst, damit sie höher fliegen können. Die unterschiedlichen Wippen, die nicht immer ungefährlich sind, weil ein Kind unter die Wippe geraten könnte, trainieren durchaus einen spielerischen Wettbewerb im Abstoßen mit den Beinen. Oft animieren die Übungen an den Spielgeräten Kinder zu endlosen Wiederholungen, wenn sie einmal von der höchsten Rutsche hinuntergesaust sind.

Gabriela Burkhalter: The Playground Project – Architecture for Children, 2024.

Die Wasserfontäne von Raul Walch lässt sich ebenfalls als ein Element von Spielplätzen und Parks seit der frühen Neuzeit finden. Die künstliche Fontäne und ihre Höhe lassen sich nicht zuletzt als eine allegorische Beherrschungsfantasie der Elemente bedenken. In den Gärten der König*innen und Herrscher*innen von Versailles bis Sanssouci war die künstliche Höhe der Fontäne immer auch ein Beispiel der Macht über die Natur. Erst der Maschinenbauer August Borsig schaffte es mit einer Dampfmaschine an der Havel, den Wasserdruck für die Fontäne im Park von Sanssouci zu erhöhen und sie beeindruckender Höhe zu bringen. Vielleicht nicht ganz zufällig, mit einer kolonialen Geste konstruierte Ludwig Persius 1848 das Maschinenhaus für die Fontäne als „Moschee“. Sein Auftraggeber Friedrich Wilhelm IV. ließ ungefähr zur gleichen Zeit die umstrittene Bibeltext-Montage an der Kuppel des Berliner Schlosses anbringen.[17]   

Raul Walch: A Fountaine of Knowledge, 2024.

Raul Walch erinnert mit seiner Installation A Fountain of Knowledge (Ein Brunnen des Wissens) indessen an sein Verhältnis zu Ute Fritzsch, der heute über 80-jährigen Designerin und Gestalterin von DDR-Spielplätzen. Ute Fritzsch plante und gestaltete Spielplätze und Spielzeug für die DDR und wird von der Stiftung Industrie- und Alltagskultur gewürdigt. Raul Walch hat beispielsweise für seine Installation „eine Variation des Maxi-Baukastens von Ute Fritzsch als modulare Kisseninstallation“ im Bassin eingerichtet.[18] Für die Sommermonate soll A Fountain of Knowledge nicht zuletzt Abkühlung auf dem Spielplatz bieten. Walch hatte bereits auf der Fläche des Potsdamer Platzes, wo es besonders heiß werden kann, eine Fontäne installiert.[19] Hinter der Installation wehte der Wind bei gefühlten 2° C während des Presserundgangs am 25. April das „textile Gewebe“ von Vitjitua Ndjiharine.

Vitjitua Ndhkjiharine: Network Constellations, 2024 .

Die Künstlerin aus Namibia war 2022 Artist in Residence der Dekoloniale Berlin und nimmt mit den bunten Fahnen entlang der einstigen Mauern des Königlichen Museums für Völkerkunde unter dem Parkplatz direkt Bezug auf dessen Sammlung. Die Sammlung des Völkerkundemuseums, die in die ethnologische Sammlung bzw. das Ethnologische Museum im Humboldt Forum umgeschrieben worden ist[20], ging, wie erst kürzlich Bénédicte Savoy für Kamerun als Forschungsergebnis mitgeteilt hat, aus einem verheerenden Raubzug hervor, durch den 40.000 Kulturobjekte nach Berlin und in bundesdeutsche Sammlungen gelangten.[21] Bisher gibt es noch keine abschließende Untersuchung, wie viele Kunst- und Kulturobjekte aus Afrika vor allem im 19. Jahrhundert in Museen in Deutschland gelangt sind. Nicht zuletzt unter Mitwirkung von Missionaren wurden die Objekte in Afrika ihrer Praktiken entrissen und auf dem Kunstmarkt angeboten.

Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/A Mountain of Drawings/Ein Berg von Zeichnungen, 2024.

Vitjitua Ndhkjiharine knüpft mit ihrer ebenso farbenfroh spielerischen, wie präzisen Installation Networked Constellations an die Debatte des Dekolonialisierung und Restitution an. Die Debatte um das Ethnologische Museum im Humboldt Forum und die Restitution wie Teilhabe der ethnischen Nachkommen an den Sammlungen in Europa lässt sich im Konzept Vitjitua Ndhkjiharines nachverfolgen, wenn es heißt, „(u)ralte Textiltechniken verschränken sich mit neuer Technologie“. „Der Vorhang bewegt sich mit dem Wind, die Arbeit ruft nach Restitution von Bedeutung und Gegenständen.“[22] Das Spielerische und das Politische weit über das Tagespolitische hinaus werden von der Künstlerin angespielt.

Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/A Mountain of Drawings/Ein Berg von Zeichnungen, 2024.

Aus einer früheren historischen Schicht hat Edgar Calel aus Guatemala mit seiner Familie für Jun Juyu Juxuj (Ein Berg von Zeichnungen) eine Pyramide aus Strohballen mit Maya-Schriftzeichen auf den Parkplatz gebaut. Während seiner Vorstellung der Pyramide betont er mehrfach, dass es sich um eine kollektive Arbeit seiner Familie handelt. Einerseits wurden in seiner Familie Geschichten von Bergen und Pyramiden erzählt, andererseits sind haben ihn Familienmitglieder zum gemeinschaftlichen Aufbau nach Berlin begleitet. Seine Pyramide nimmt in mehrfacher Weise Bezug auf die Maya-Kaqchikel-Kosmovision, seine Familie und Berlin:
„Unsere Großeltern erzählten uns, dass einige dieser Berge mit Wasser und andere mit Feuer gefüllt seien. Von da an war ich immer neugierig, was sich im Innern der Berge und Hügel befindet. Bei einem Besuch der antiken Maya-Stadt Takalik Abaj fragte ich einen Anwohner nach den Hügeln, die dort zu finden sind. Er erzählte mir, dass sich darin Maya-Pyramiden mit Inschriften zu wichtigen Daten befinden. Einige von ihren wurden teilweise abgebaut und an westliche Museen verschifft – auch an Museen hier in Berlin.“[23]

Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/A Mountain of Drawings/Ein Berg von Zeichnungen, 2024.

Edgar Calel bezieht sich nicht auf Ballspiele in der Maya-Kultur, obwohl EURO 2024 dafür eine Möglichkeit geboten hätte. Anders als viele afrikanische und nordamerikanisch-indigene Kulturen wurde die Maya-Kultur bereits von den Eroberern als eine Hochkultur angesehen. Im Sinne der christlich-europäischen Eroberer musste diese Kultur zerstört werden. Andererseits soll Friedrich II. in Potsdam als Montezuma aufgetreten sein. Edgar Calel hat indessen seiner Installation einen „Interaktionsleitfaden für ein immersives und kontemplatives Erleben der Pyramide“ beigeben.
„Bitte klettern Sie vorsichtig
Erreichen Sie die oberste Ebene mit Achtsamkeit
Nehmen Sie den multifunktionalen Raum mit Freude an
Spielen Sie mit der Struktur des Monuments
Sie können bauen und umbauen
Respektieren Sie den Augenblick
Sicherheit geht vor
Hinterlassen Sie keine Spuren“

The School of Mutants: The Dig, 2024.

Spielen generiert Wissen, ließe sich nicht nur für die Maya-Pyramide sagen. Grabungen und Ausgrabungen sind intensiv mit dem Erzählen von Geschichten verknüpft, wie Helene von Oldenburg und Claudia Reiche mit „Wo es war“ beschrieben haben.[24] Mit The Dig (Die Grabung) zeigen The School of Mutants und Stella Flatten nun auf dem Parkplatz und im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors eine ebenso künstlerische wie forschende Ausgrabung. The School of Mutants sind Horacio Cadzco, Hamedine Kane, Boris Raux & Stéphane Verlet-Bottèro in Zusammenarbeit mit Stella Flatten. Das Künstlerkollektive wurde 2018 in Dakar, Senegal, gegründet, um „die westliche epistemologische Autorität in Frage zu stellen“. Damit geht es an der Schnittstelle von Kunst, Forschung, Ausgrabung und Erzählen zugleich um andere Wissensformen, die an das Königliche Museum für Völkerkunde, wo sie einst ausgeschlossen wurden, herangetragen werden.

The School of Mutants: The Dig, 2024.

Am 27. April wurde Radical Playgrounds der Öffentlichkeit zum Spielen und Forschen übergeben. Schon jetzt lässt sich sagen, dass das hochwertige Begleitprogramm zur EURO 2024 von Joanna Warsza und Benjamin Foerster-Baldenius in Berlin zu einem Publikumsmagneten für Kinder und Erwachsene werden sollte.

The School of Mutants: The Dig, 2024.

Torsten Flüh

Radical Playgrounds
From Competition Collaboration
Ein Kunstparcours am Gropius Bau
bis 14. Juli 2024


[1] Matthias Pees: Einleitung. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds – From Competition to Collaboration. Programmbroschüre. Berlin 2024, S. 2.

[2] Jenny Schlenzka: ebenda S. 4.

[3] Benjamin Foerster-Baldenius: NO PlAY NO CITY – Eine Einführung in die Architektur von Radical Playgrounds. In: ebenda S. 12.

[4] Zur Struktur der Polizei während der Herrschaft des Nationalsozialismus siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[5] Benjamin Foerster-Baldenius: NO …. [wie Anm. 3]

[6] Katalogteil: Céline Condorelli: Play for Today, 2021/2024. In: ebenda S. 20.

[7] Joanna Warsza: Radical Playgrounds. Ein Rundgang. In: ebenda S. 5.

[8] Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Lübeck: Niemann und Comp. 1810, (ohne Seitenzahl).

Siehe zu Jahns Sportgeräten auch: Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.

[9] Céline Condorelli: Play … [wie Anm. 6]

[10] Agnieszka Kurant: Quasi-Objects, 2024. In: Ebenda S. 35.

[11] Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1987.

[12] Zitiert nach Endnote 23 in: Anne-Marie Riesner: Imaginationen des Internets in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 1999-2018. Analyse anhand der Akteur-Netzwerk-Theorie. Berlin: Springer Nature, 2022, S. 107.

[13] Siehe Torsten Flüh: Die Odysseen des Michel Serres. Odysseys and Shipwrecks for Michel Serres by the Spree. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. August 2010. (PDF)

[14] Michel Serres: Der … [wie Anm. 11] S. 274.

[15] Ebenda S. 323.

[16] Gabriela Burkhalter: The Playground Project – Architecture for Children. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds S. 44.

[17] Zur Bibeltext-Montage auf der Kuppel siehe: Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[18] Raul Walch: A Fountain of Knowledge. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds, S. 62.

[19] Ebenda siehe Foto S. 63.

[20] Torsten Flüh: Von der Supersammlung zum Debattenraum. Nachgedanken zur Eröffnung des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2021.

[21] Silke Arning: Rückgabe von kolonialem Raubgut an Kamerun verabredet. In: SWR>>Kultur 16.1.2024, 10:02 Uhr.

[22] Vitjitua Ndjiharine: Networked Constellations. In: Berliner Festpiele: Radical Playgrounds S. 41

[23] Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/Ein Berg von Zeichnungen. Ebenda S. 14.

[24] Zur Archäologie und dem Erzählen siehe: Torsten Flüh: Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.

Ringen um Freiheit durch Wort und Bild

Freiheit – Zukunft – Verlag

Ringen um Freiheit durch Wort und Bild

Zum außergewöhnlichen Verlag PalmArtPress und die fantastischen Romane RUA 17 von Volker Kaminski und Der Ideenfabrikant von Wolfsmehl

In der Pfalzburger Straße, Berlin-Wilmersdorf, Nähe Fasanen- und Uhlandstraße, stadtauswärts rechts vom Hohenzollerndamm mit der U3 unterirdisch nach Dahlem zur Freien Universität, herrscht tiefer Berliner Westen mit einer gewissen Schriftsteller*innen-, Akademiker*innen- und Künstler*innendichte, wo Catherine Nicely ihren Literatur- und Kunstverlag PalmArtPress seit 2008 zwischen Buchhandel, Galerie und Salon etabliert hat. In den gerade eingerüsteten Räumen – runterherum unweit der Landesbank Berlin werden Kriegsbaulücken bebaut, geschlossen, wird neu gebaut und saniert – der Hausnummer 69 haben sich am sommerlich temperierten Abend des 13. April, einem Samstag, ca. 50 Personen eingefunden, die von der Verlegerin, Wolfgang Nieblich u.a. oft persönlich begrüßt werden. Catharine Nicely lässt ihre PalmArtPress-Community eintauchen in die jüngst erschienen Zukunftswelten zweier Autoren: Volker Kaminski und Wolfsmehl.

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Wolfsmehl ist ein beziehungsreiches Autorenpseudonym, wie sich in diesen Räumen überhaupt ein literarisches Beziehungsnetz der Mehrdeutigkeiten ausspinnt. Wolfsmehl? Wolfsmehl? Ohne Vorname. Name als Programm und Fingerzeig? Letterntausch m statt k: Wolfskehl. Karl Wolfskehl war ein deutscher Lyriker (1869-1948). George-Kreis. Beziehungsfäden zwischen Worten. So auch im Verlagsnamen der in Ohio geborenen, Deutsch in der Schule, von Deutschland faszinierten literatur- und kunststudierten Verlagsgründerin Catharine Nicely. PalmArtPress, klar! Palme. Steht sogar eine Palme im Galerieraum. Nein, nicht nur! Johann Philipp Palm auch, der Erlanger Buchhändler und Nürnberger Apothekersohn, der 1806 auf Napoleons Dekret hin als Autor einer deutschen Freiheitsschrift erschossen wurde. Motto: IN ADVERSIS VIRTUS. Deutsch: Stärke in der Not oder auch anders mit Männlichkeit und Freiheitsdrang übersetzt. Übersetzungsbewegungen.

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Am Lesepult hängt gerahmt als Motto das gestickte Palm-Wappen: Eule mit ausgebreiteten Flügeln auf Krone, horizontal links und rechts Palmwedel – Stechpalme? – darunter wieder Eulen wie Schilde, Palmenkrone, IN ADVERSIS VIRTUS PALM. Catharine Nicely zählt Johann Philipp Palm zu ihren entfernten Vorfahren. In Ohio mit den Großstädten Cleveland, Cincinnati, Toledo, Akron und Dayton mit der Hauptstadt Columbus gab es viele deutschstämmige Einwanderer. Am Denkmal für Friedrich Ludwig Jahn in der Hasenheide gibt es eine Plakette der „Turngemeinde Cincinnati, Ohio.“ von 1865. Der Turnvater schrieb sich ebenfalls die Freiheit in schwierigen Zeiten auf die Fahnen seiner Turnübungen. In ihrem Verlag kommen für Catharine Nicely seit 2008 ihre unterschiedlichen Lebensbereiche zusammen. Auf Nachfrage, ob die Büchervorstellung zum „Fantastische(n) Realismus“ (Wolfsmehl) mit dem Imbiss, Getränken und Gesprächen für sie eine Art Salon[1] sei, bestätigt die Verlegerin erfreut, dass sie gern Gastgeberin sei.  

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Zu den ersten Veröffentlichungen im Verlag PALMARTPRESS gehörten die beiden Bände Auf Beton I und II von Wolfgang Nieblich, bei denen es um Öffentlichkeit geht. Auf Beton ist Berliner Stadtkunst, Streetart aus dem Moment.[2] Seit 2013 beschriftet der Buchkünstler Nieblich an der Schnittstelle von Bildender Kunst und Literatur Halterungen für oberirdische Behelfsleitungen, wie sie seit Jahren überall in Berlin wegen Sanierungsarbeiten über längere Zeit aufgestellt wurden, aus Beton. Von Seneca bis Sartre wurden Aphorismen zur Öffentlichkeit auf die vier Horizontalseiten der Halterungsblöcke aus Beton vom Künstler geschrieben. Brutalistische Adhoc-Betonkunst im öffentlichen Stadtraum.[3] Nicely und Nieblich lieben das Medium Buch. Nieblich sitzt gar seit 2005 im Stiftungsrat der Stiftung Zentrum für Bucherhaltung. RUA 17 ist als Hardcover erschienen. Allerdings hat Wolfgang Nieblich trotzdem den Einblattdruck erfunden, von dem es mittlerweile der Zählung nach ca. 150 gibt. Der vierseitige Einblattdruck Nr. 10 ist mit dem Text Im Kaufrausch von Christoph Geiser[4] und einem Bild Dialektik und Ordnung von Nieblich erschienen.[5]  

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Der Singer-Song-Writer Herbert Dauksch-Maus eröffnet mit Who are you? an der Gitarre die Buchvorstellung. Gute Frage: who are you? Herbert ist bereits mehrfach bei Lesungen mit Volker Kaminski aufgetreten. Das Programm ist abgestimmt. Im Roman geht es schließlich um die Frage von Mensch oder Maschine. Was heißt Menschsein für die allgegenwärtigen humanoiden Assistenten?[6] Sind die Maschinen noch Maschinen? Pflegemaschinen in einer überalterten Gesellschaft. Volker Kaminski hat seinen Roman in das Jahr 2084 gelegt, sagt die Verlegerin in ihrer Anmoderation. 2084 ist quasi übermorgen. Die Zukunft steht schon in den Puschen. Wolfmehls Ideenfabrikant spielt ca. 50 Jahre später in den 2130er Jahren. Deine Zukunft ist näher als Du denkst. 2084 spielt auf 1984 von George Orwell an. Sechzigjährige werden sich vielleicht an ein gelindes Erstaunen erinnern, dass das Jahr 1984 weit weniger von einem totalitären System beherrscht wurde und weit weniger spektakulär verlief als die ausgerufene Zeitenwende.

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Volker Kaminski hat seinem Roman ein Glossar zu „Namen, Orten und Dingen in der Zukunftswelt“[7] im Anhang hinzugefügt. Die Zukunft wird immer von einer zukünftigen Sprache geprägt. Wie schnell kann es passieren, dass Leser*innen selbst zu Lebzeiten von neuen Sprachen und Praktiken heimgesucht werden?! Das ist so tiefgreifend und schlimm, dass die christsozial-freiwählerische Regierung im Freistaat Bayern nun trotz oder gerade wegen des ganzen Freien das Gendern in Schulen und Behörden verboten hat. Frei bleiben ohne gendern, was nie und nimmer ein deutsches Wort ist. Selbst dann nicht, wenn die KI des Word-Programms gendern im Deutschen akzeptiert. Also braucht es ein Glossar, mit dem sich nicht zuletzt der Titel entschlüsseln lässt:
„RUA: heruntergekommenes Altstadtviertel, zugewiesener Wohnort für Menschen ab etwa 55, Abkürzung für „Region Unter Assistenz“, überbevölkert; Bewohner der RUA = RUAner.“[8]

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Zur Eröffnung las Kaminski den Anfang des ersten Teils mit dem Titel „Die Assistenten“, in dem die Lebensverhältnisse der „unfreiwillige(n) Hauptfigur“[9] Meister in einer Wohngemeinschaft mit Assistenten und anderen Menschen über 55 geschildert werden. Es wird hin und wieder „ein Glas Favorit getrunken“[10] und „ein blau gekleideter Assistent“ berichtet Meister, dass „(n)ichts Ungewöhnliches“ passiert, „alles normal, fehlerfrei und sicher“ sei. Währenddessen bemerkt Meister „hinter der glatten, wächsernen, leicht transparenten Stirn des Assistenten (…) ein Flackern“.[11] Das „Flackern“ wie die Antwort verraten den Assistenten als humanoide Pflegemaschine, die ihn und die anderen Bewohner „sanft und träge machte“. Die am „SYSTEM“ angeschlossene Pflegemaschine hat gewissermaßen eine sedierende Wirkung, die zum Programm des „SYSTEM(s)“ gehört. In Zeiten eines Pflegenotstandes in vielen Industrienationen und so auch in Deutschland mögen die freundlichen, blauen Assistenten mit ihren fürsorglichen Fähigkeiten zunächst einmal utopische Züge bekommen. Alles normal, fehlerfrei und sicher. Doch zugleich fällt Meister auf, dass er und alle anderen möglicherweise „vergessen“ sollen.
„Nicht zum ersten Mal störte ihn die Arglosigkeit seiner Mitbewohner. Er war zwar gern mit ihnen zusammen, doch manchmal vermisste er ihren Willen zur Erkenntnis. Er hätte sie gerne aufgerüttelt, doch wollte er sie andererseits nicht beunruhigen.“[12]   

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Mit der Eröffnungssequenz wird von Kaminski im Reich des Zusammenlebens von Menschen und Maschinen eine Fährte gelegt, ob es sich hier um eine Utopie oder eine Dystopie handelt, weil Menschen wie Meister, Hölzer, Reeder, Braun und die am stärksten vergessliche Oma Ka nicht nur gepflegt, sondern von den Assistenten des Systems beherrscht und entsorgt werden. Die verkürzten Namen der Protagonist*innen entpersönlichen sie und machen sie ein wenig unheimlich. In der Übergangszone am Strand erinnert vieles an einen kalkulierten schönen Tod: Euthanasie. Obwohl Meister anfangs nichts davon ahnt, stört ihn „die Arglosigkeit seiner Mitbewohner“. Zwischen „Favorit“, Singen, Erinnerungskino und einem „karge(n) Dasein“, in dem „(a)lles (…) zunehmend karger wurde“ (S. 12) spielt sich das Leben in „Haus 1021“ ab. Meister fällt dieser Widerspruch auf. Doch zunächst lacht er mit den Anderen „ausgelassen“. (S. 13) Liest man schon Kaminskis Eröffnungssequenz, wie er sie las, und kennt sowohl das Vergessen von über 70jährigen und ihrem Medienkonsum im Liegen, hat die Zukunft längst begonnen. Kommen dann auch noch Kenntnisse über die Pflegesituation in Berliner Seniorenpflegeheimen hinzu, wird aus dem fantastischen Realismus ein nackter.

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Wird Meister ein Rebell im SYSTEM, Kaminski schreibt es immer in Majuskeln, werden? Entwickelt er einen Freiheitsdrang, um aus dem System auszubrechen? Wird er womöglich gar zum Systemsprenger? Liegt in seinem Arg eine Chance, um das System zu ändern? Zukunftsromane entstehen meistens, wenn nicht ausschließlich wie beim Science-Fiction-Autor Dietmar Dath aus einer vielschichtigen „Verknüpfung von Theoremen, Elementen und Diskursen“, wie es Stefan Willer bereits 2013 formuliert hat.[13] Bei Volker Kaminski lassen sich gut die aktuellen Diskurse zum Pflegenotstand, Pflegerobotern, Künstlicher Intelligenz, Rentenalter, Todeswünschen und -ängsten, gemeinschaftlichen Lebensformen, Massentourismus etc. identifizieren. Meister liest in seinen eigenen Notizen über die sogenannte „PORTA“ und das „CAMP“:
Das CAMP befindet sich in Nordafrika, so erzählt man uns. Ich meine mich an den Schriftzug KARTHAGO an einer Wand zu erinnern. Ein anderer Schriftzug lautete SCHLEMMEN TRINKEN LIEBEN. Weitere Plakate trugen Botschaften wie GREIF ZU, BEREUE NICHTS, SEI DU SELBST. Ein einstündiger Flug mit der Schnell-Transport-Linie (STL) hatte mich dort hingebracht.[14]

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Karthago? Warum Karthago, wenn Katar am Wüstenstrand schon alles inklusive Fußballweltmeisterschaft bietet? Katar und Saudi-Arabien bieten heute so viel, dass selbst Weltfußballer Christiano Ronaldo für al-Nassr FC spielt. Und der kriegt natürlich alles zum Schlemmen und Lieben. Der Strand in Nordafrika ruft heute beim Lesen widersprüchliche Assoziationen bis nach Arabien aus: in Seelenverkäufer steigende Flüchtlinge und vergoldete Steaks essende Promis im Strandrestaurant.
Eines Nachts bin ich Ballerina durch einen dichten schwarzen Wald hinunter zum Strand gefolgt. Ich erinnere mich, dass wir uns der PORTA näherten. In der Dunkelheit schimmerte der Torbogen silbern und erhaben in der Ferne. Ein Eingang tat sich vor uns auf, wir näherten uns, bis unsere Körper von der Schwärze geschluckt wurden und wir bis zur Brust ins Wasser glitten.“[15] 

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In der Eröffnungssequenz von RUA 17 geht es um die Zukunft. Volker Kaminski kristallisiert die Zukunft im „CAMP“. Dabei trägt es Züge von Berghain und Baumschulenweg (Krematorium). Doch die Grenzen zwischen Berghain und Baumschulenweg werden derart verwischt, dass der Bericht aus dem „CAMP“ für Meister ebenso verlockend wie ein Reiseprospekt als auch erschreckend ist. Die systematische Lösung des Überbevölkerungsproblems wie der Überalterung muss bestmöglich verkauft werden. Den „hohe(n) Preis“ wert sein. Die paradiesische CAMP-Beschreibung findet ihre Sprache zwischen petite mort, wie der Orgasmus im Französischen heißt, und dosiertem Drogenkonsum, während vom globalen, überwiegend jungen Berghain-Publikum so viel konsumiert wird, dass es schon gar nicht mehr zum petite mort kommen kann.
Was ist das CAMP? Überwältigung. Duft. Lust. Nichts wünschen wir uns sehnlicher als ein paar Wochen im CAMP zu verbringen. Die Sinne vergehen dir, der Taumel erreicht stündlich seinen Höhepunkt. Berührungen, Stöße, Singen, Saugen, Miauen, wilder Tanz, das Derwisch-Programm, (…) die Hände auf dem nackten Körper, die weißen Handschuhe der Assistentin, die perfekte Anpassung an die Altersgruppen, das Schlangenspiel mit den Mädchen, das Trinkgelage am rauschenden Grottenbrunnen, der perlende Platinwein, der Übergang ins Weißlicht, die personalisierte Dosis Morpheus-Bowle, das Ableben im Hymnensaal, die Veilchen- und Rosenbank, das Ende-so-nah-Erlebnis, das Auffahren ins neue Leben, die grünen Auen.[16]   

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Das lässt sich als Diskurs des Hedonismus im Berghain mit Panoramabar lesen, wo richtig teure, riesige Gemälde im Laserlicht bei 110 Dezibel aufflackern. Echte Biskys schon im Eingangsbereich hängen. Sorry, wer nicht weiß, was Biskys sind: Der Maler Norbert Bisky dürfte bereits mit zukünftigen Gemälden auf Lebzeit ausverkauft sein. Seine bunten Ölgemälde u.a. aus der Club-Szene kursieren zu Höchstpreisen global im Kunstmarkt. Allerdings verkehren im Berghain alle Geschlechtsvarianten fließend, was bei Kaminski leider völlig binär formuliert wird. Und das hat nichts mit queerer Literatur zu tun, sondern diskursiver Zukunftsvernetzung bzw. Vernetzung der Diskurse für eine Zukunft. In den Berliner Clubs mit globalem Publikum wird kaum noch zwischen queer und hetero unterschieden. „No Ageism. No Rassism. No Sexism.“ etc. steht irgendwo gerahmt im KitKat Club. Zur CarneBall Bizarre-KitKatClubnacht liegen hunderte Menschen aller Geschlechter am Swimmingpool, in den Nackte aus der Sauna kommend springen jeden Samstag für 20,- €. Da bleibt das CAMP mit seiner Altersdiskriminierung wie seinem Sexismus hinter zurück.

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Der Hedonismus kann sich in ein Freiheitsproblem verwandeln. Denn im Berghain und KitKat muss er durch strenge Kontrollen bis zur Leibesvisitation am Eingang ermöglicht werden. Mitarbeiter*innen der Clubs kontrollieren während der Partys, dass keine verbotenen Substanzen verkauft werden oder sich Gäste übergriffig verhalten. Wer sich nicht daran hält, wird mit lebenslangem Hausverbot bestraft. Praktizierte Freiheit lässt sich kaum ohne Kontrolle leben.[17] Ein Konsens über die Freiheit muss eingehalten werden, was sich gerade im Grenzbereich zwischen Bouncer bei der Einlasskontrolle und Kontrollgängen in der Berliner Clubszene quasi täglich zeigt. Aus diesem Kontext wird das Freiheitsproblem im Roman RUA 17 ein wenig schlicht mit Todesdrohungen beseitigt, wenn Grandin Bäumer droht:
„„Ich werde mit Ihnen nicht über Freiheit diskutieren!“ Im Aufstehen beugte er sich noch einmal zu ihm hinunter. „Sie werden nicht mehr lange Gelegenheit haben mich zu ärgern, Bäumer, das verspreche ich Ihnen. Diesmal lasse ich den Assistenten freie Hand. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, sind Sie Asche!““[18]

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Die Freiheit und die „freie Hand“ der mit dem System verschalteten Assistenten blenden einen anderen Aspekt der Zukunft aus, der an Berghain und KitKat Club als große Geldmaschinen deutlich wird. Die utopische Freiheit der Clubs generiert hohe Geldsummen bei fast demokratisch niedrigen Eintrittspreisen. Im globalen Vergleich bieten die Technoclubs in Berlin eine einzigartige Kultur der „Freiräume“, so dass sie 2024 zum Immateriellen Kulturerbe der Unesco in Deutschland erklärt worden sind.
„Bei der Technokultur in Berlin handelt es sich nicht nur um eine spezifische Musikstilrichtung, sondern auch um einen gelebten Gegenentwurf zu klassischen Praktiken des Musikhörens. In Deutschland etablierten sich Mitte der 1980er Jahre die Frankfurter und Berliner Clubszene. Aus der in vorherigen Jahren entstandenen DJ-Kultur wurde Techno zum Soundtrack der Aufbruchstimmung nach der Wende. Die entstandenen Freiräume verhalfen zur Etablierung der Techno- und Clubszene, die in Berlin so präsent ist.“[19]

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Die literarische Verknüpfung der Diskurse im Namen der Zukunft ist bei aller Erzähldramaturgie in RUA 17 nicht einfach, weil sie sich immer auch an der Gegenwärtigkeit der Diskurse messen lassen muss. Wolfsmehl schlägt für seine Zukunftserzählung in Der Ideenfabrikant einen anderen Weg ein. Die Kombinatorik der Begriffe führt zu utopischen Formulierungen, wenn es schon zu Anfang heißt:
„Die Pulte türmten sich in die Tiefen der Gedankenhalle. Die Reihen bildeten Jahresringe. Über dem Nordtor, dessen inwendiger Fortlauf das Wirrwarr wie eine Hauptschlagader durchzog, prangte eine schwarze Eisentafel. Die Buchstaben blitzten in goldener Schrift.

Diese Ideenfabrik wurde von Seiner Exzellenz,
dem Weltbotschafter Dr. Webwablü,
am 30. Januar im Jahre 2133
in Betrieb genommen.“[20]

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Die eröffnende Wiederholung des Datums der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg 1933 lässt aufmerken. Wie wird Wolfsmehl damit verfahren, was an dem schwierigen historischen Datum vor 200 Jahren begann? Er wendet die Sprache durch eine schwindelerregende Kombinatorik ins Fantastische. Wenn es gleich nach der Eröffnung heißt:
„Die Manege, ein mit dem Mehl zerriebener Gehirne bedeckter Kreis, trug die Arbeitsplattform des Produktionsleiters Orplid, die auf einem turmhohen Mast ruhte, der durch zahlreiche Sprossen zu erklimmen war und auf dem man im Schnittpunkt Hunderttausender von Augen thronte. Von dieser Höhe aus schrumpften die Antreiber zu Bleistiften, die Arbeiter zu Grashalmen und die Pulte zu Nussschalen.“[21]

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Die Gigantomanie der Architektur eines Albert Speer für Berlin mit einzigartigem Schwerbelastungskörper[22] zum Test der Statik im Urstromtal der Spree wird von Wolfsmehl „mit dem Mehl zerriebener Gehirne“ in Aberwitz und Schrecken gewendet. Damit wendet sich zugleich die Geste der Beschreibung und Berechnung ins Unsinnige. Gerade die sprachlichen Praktiken, die Sinn und Größe herstellen sollen, gipfeln in einer aberwitzigen Hierarchie. Auf diese Weise können im Text Der Ideenfabrikant mit seinen den Namen nach Produktionsleiter, Antreiber und Arbeiter Menschen durchschimmern. Doch zugleich flackert das „AI-powered language model“-Schreibprogramm ChatGPT auf.[23] Lexik, Syntax und Grammatik sind zwischenzeitlich so effizient programmiert, dass sie einen Zukunftsroman binnen Sekunden, allenfalls Minuten schreiben können. Was mit der Figur des Fabrikanten aus dem 19. Jahrhundert noch als menschlich evoziert wird, leistet als Open AI eine Maschine.

Torsten Flüh

Volker Kaminski
RUA 17
Seiten: 330
Hardcover 14 x 21 cm
Umschlag: Wolfgang Nieblich
Sprache: Deutsch
Erschienen: Oktober 2023
ISBN: 978-3-96258-144-2
Preis: 25,- €

Wolfsmehl
Der Ideenfabrikant
Klappenbroschur 10,5 x 14,8 cm
Sprache: Deutsch
Erschienen: Mai 2023
ISBN: 978-3-96258-139-8 
Preis: 15,- €


[1] Zum Salon siehe: Torsten Flüh: Gespräche – Bettina von Arnim. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 79-99.
Und: Torsten Flüh: Neues von den Berliner Salonièren. Zu Private Thursday, Wikimedia-Salon und zur Salonforschung von Hannah Lotte Lund. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Juni 2014.

[2] Wolfgang Nieblich: Auf Beton II. Berlin: Palmartpress, 2014. (Verlagsseite)

[3] Zum Brutalismus siehe: Torsten Flüh: The Beauty and The Logic of Brutalism. Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2021.

[4] Zu Christoph Geiser siehe auch: Im Netz der Literaturen. Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juli 2023.

[5] Wolfgang Nieblich: Einblattdruck Nr. 10. Berlin: Palmartpress, ohne Jahr. (Verlagsseite)

[6] Zur Frage der Conditio Humana, des Menschseins oder der Menschlichkeit siehe auch: Torsten Flüh: Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. April 2019.

[7] Volker Kaminski: RUA 17. Berlin: Palmartpress, 2023, ohne Seitenzahl (S. 4).

[8] Ebenda S. 329.

[9] Ebenda S. 327.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 8.

[12] Ebenda S. 12.

[13] Siehe: Torsten Flüh: Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung. Zum Semesterthema Across the Universe. Aktuelle Blicke ins All der Mosse-Lectures im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2013.

[14] Volker Kaminski: RUA … [wie Anm. 7] S. 14-15.

[15] Ebenda S. 14.

[16] Ebenda S. 15.

[17] Zum KitKat Club, der kürzlich sein 30jähriges Jubiläum feierte, als Freiheitsprojekt aus der SM- und Fetischszene von Simon Thaur und Kirsten Krüger wäre noch mehr als zum Berghain.

[18] Die Schreibweise der Anrede in direkter Rede mit Großschreibung, nimmt der Berichterstatter als ungewöhnlich wahr. Oder sollte hier eine widersprüchliche Höflichkeitsform markiert werden. Ebenda S. 267.

[19] unesco Deutsche Unesco-Kommission: Immaterielles Kulturerbe: Technokultur in Berlin. (Aufnahmejahr 2024)

[20] Wolfsmehl: Der Ideenfabrikant. Berlin: Palmartpress, 2023, S. 5.

[21] Ebenda S. 6.

[22] Zum Schwerbelastungskörper siehe: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.

[23] Siehe Bing Search ChatGPT.

Zur Radikalität der Instrumente

Instrument – Elektronik – Komponieren

Zur Radikalität der Instrumente

Erwan Keravec mit Dudelsack und Lucia Dlugoszewski mit To Everybody Out There bei MaerzMusik 2024

Das Festival MaerzMusik 2024, kuratiert von Kamila Metwaly, bot Raum für das radikal Andere. Erwan Keravec brachte mit seinem Dudelsack nie zuvor gehörte Klänge, die mit dem für ihn und sein Instrument komponierten OCCAM XXVII (2019) von Éliane Radigue im Livekonzert die Grenze zur Elektronik auflösten oder umdrehten. Lucia Dlugoszewski (1925-2000) erfand über 100 Schlaginstrumente, um völlig neue Klangfarben, Klanglandschaften und Kompositionspraktiken zu entwickeln. Ihr wurde mit dem Abschlusskonzert To Everybody Out There ein umfangreiches und bahnbrechendes Forschungsprojekt unter dem Titel Contemplations into the Radical Other gewidmet.

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Der Trompeter Marco Blaauw, der dem Ensemble Musikfabrik angehört und mit Karlheinz Stockhausen intensiv zusammenarbeitete, forschte in den Notizen, Schriften und Interviews von Lucia Dlugoszewski in der Library of Congress in Washington, D.C. Denn die Komponistin, die schon als Fünfzehnjährige zu komponieren begann, entwickelte eine eigensinnige Kompositionsweise, die allererst zu rekonstruieren war und weiterhin ist. Der Festivalteil Contemplations into the Radical Other ermöglichte insofern die Teilnahme an einem Forschungsprojekt zur Musikgeschichte und ihren Parametern. Im Abschlusskonzert des Festivals reagierte Elena Rykova mit der Uraufführung ihres Stücks A Sonic Corona to a Song Eclipsed auf Space is a Diamond von Lucia Dlugoszewski.

© Camille Blake

Im Radialsystem V kam Erwan Keravec seitlich von hinten links, ruhig einen Fuß vor den anderen setzend, N°20/58 (2018) von Heiner Goebbels auf dem Dudelsack spielend auf die Bühne. Schwer einzuordnende Pfeifenklänge mit schnellen Taktschlägen gehen in ein Gewitter über. Bevor sich der Klang des Dudelsacks genauer hören lässt, nimmt man zunächst ein Gewitter von einer Soundspur wahr, die der Komponist für das Stück vorbereitet hat. Aus dem Gewitter und Platzregen bahnen sich die eigentümlichen Klänge und Triller des großen bretonischen Dudelsacks. Heiner Goebbels – und dazu passte das Aufführungsdatum 23. März als Samstag vor Palmsonntag und der Karwoche – hat über sein Stück selbst als einen verspäteten musikalischen „via crucis“ gesprochen.[1]

© Camille Blake

Erwan Keravec hatte Heiner Goebbels wie auch andere Komponist*innen gebeten, ein Stück für sein Instrument zu komponieren. In Frankreich erfreut sich der bretonische Dudelsack größerer Beachtung zwischen Improvisation, Jazz, Tradition und zeitgenössischer Musik. Keravec verrät, dass er häufig Komponist*innen anschreibt oder wie bei der Minimal Music der Two Pages (1968) von Philip Glass von anderen Instrumenten wie dem Klavier auf seinen Dudelsack überträgt. Heiner Goebbels arbeitete mit dem Musikmaterial der Johannes Passion von Johann Sebastian Bach[2], um auf dem beschrittenen musikalischen Weg Triller für den Dudelsack einzufügen, die zwei Arien verbinden. Durch das ruhige, gleichmäßige Schreiten beim Spielen des Stücks entstand eine meditative Stimmung.

© Camille Blake

Die meditative Stimmung nutzt Keravec, um fast unmittelbar mit Philip Glass‘ ursprünglich für Klavier geschriebenes Stück Two Pages daran anzuknüpfen. Fünf Noten werden in dem Stück gleichmäßig 15 Minuten lang wiederholt, was eine ebenso große Fingerfertigkeit an den Flöten wie gleichmäßige Atemtechnik für den Dudelsack erfordert. Keravec schritt nun von hinten links im Zickzack nach vorne rechts, was im starken Kontrast zum Klangreichtum des ersten Stückes stand. Doch nicht weniger meditativ durch die permanente Wiederholung wirkte. Der Klang des Dudelsacks in seiner Eigentümlichkeit faszinierte sehr. Enthusiastischer Applaus brandete auf.

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Für OCCAM XXVI setzte sich Keravec auf einen hohen Hocker, veränderte eine der Flöten und erklärte, dass er wohl der letzte Solist eines spezifischen Instruments sei, für das Éliane Radigue komponiert habe. MaerzMusik 2022 hatte der 1932 geborenen Pionierin der elektronischen Musik einen Schwerpunkt gewidmet.[3] Dass mit Erwan Keravec nun einer der wenigen Solist*innen im Rahmen des Festivals auftrat, gibt auch einen Wink auf dessen Nachhaltigkeit. Es schreibt mit Uraufführungen und musikhistorischer Forschung immer zugleich an der Musikgeschichte des Zeitgenössischen. Nicht zuletzt wird dabei die Geschlechtergeschichte der zeitgenössischen Musik daraufhin erforscht, welche Komponist*innen wie Julius Eastmann[4], Halim El-Dabh[5] oder eben Éliane Radigue marginalisiert worden sind.

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Wie sich elektronische Wellen bzw. elektronische Musik in den jüngsten und vielleicht letzten Komposition von Radigue anhören, führte Keravec eindrucksvoll mit dem Dudelsack vor. Die Komponistin wurde in der Zusammenarbeit mit Keravec selbst von dem akustischen Ergebnis überrascht, wie sie 2019 sagte:
„Comment ? Fini ou presque les pianissimo, les mezzo forte plus mezzo que forte dans cette infinie richesse de pulsations, harmoniques, battements, dansants, virevoltants dans un espace infini vibrant du plus profond de l’espace et de l’être.
a poésie submergeante de quelques arrières plans de douces mélodies, une sublime harmonique émergeant comme un autre cadeau… Whaouh !!!”[6]
(Wie? Verschwunden sind das Pianissimo, das Mezzo forte, mehr Mezzo als Forte in diesem unendlichen Reichtum an Pulsationen, Flageoletts, Beats, Tänzen, Wirbeln in einem unendlichen Raum, der aus den Tiefen des Raumes und des Seins vibriert.
Die überwältigende Poesie einiger Hintergründe süßer Melodien, eine erhabene Harmonie, die wie ein weiteres Geschenk auftaucht… Beeindruckend!!)

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Élaine Radigue formuliert mit der Beschreibung von OCCAM XXVII für den Dudelsack Parameter der elektronischen Musik als eine Überschreitung der klassischen Kompositionsschemata. Das Stück auf dem analogen Instrument Dudelsack imitiert nicht einfach elektronische Klänge, vielmehr wird „un espace infini vibrant du plus profond de l’espace et de l’être“ geschaffen. Beim ersten Hören stellt sich indessen auch die Überraschung ein, dass Keravecs Spiel seines Dudelsacks perfekte Elektronik-Klänge erzeugt. Der elektronische Sound wird nicht nur zur Spielerei oder konzentriertem Steuern am Mischpult, vielmehr entsteht mit Radigue daraus ein Erweiterung des musikalischen Klangspektrums. Statt einer oft kritisierten Oberflächlichkeit der Elektronik wird OCCAM XXVII zu einer Musik von Tiefe und Unendlichkeit. Musss die Elektronik angesichts dieser instrumentenpraktischen Operation neu gedacht werden?

© Fabian Schellhorn (Ausschnitt)

Die dunklen Haare auf dem Plakatfoto hochgesteckt hat eine jüngere Frau in einem hellen Trägerkleid ihre Arme wie zum Tanz ausgebreitet. Die Geste der Frau erinnert an schwingende Bewegungen mit den ausgebreiteten Armen, die auch an Flügel und an ein gestisches Fliegen denken ließen. In den Händen hält sie Schlagstöcke. Wer will da fliegen? „BE NOT AFRAID OF THE SENSUOS UNIVERSE!“ steht darüber. Das sinnliche Universum fordert Lucia Dlugoszewski in den 70ern mit Black Lake auf zu erkunden. Black Lake könnte vom Namen her an Schwanensee und die schwarzen Schwäne erinnern. Die Frau auf dem Foto war Komponistin und Instrumentenerfinderin die „eine rätselhafte Erscheinung in der Musikwelt darstellt“.[7] Einzelheiten über ihre Musik und ihr Leben sind nur schwer zugänglich. Im kollektiv-enzyklopädischen Wissensmedium Wikipedia gibt es lediglich in Deutsch, Arabisch, Englisch und Polnisch kürzere Einträge.

Programmseite mit Kompositionsskizzen zu Disparate Stairway Radical Other.

Als Lucia Dlugoszewski am 11. April 2000 in New York verstarb, erschien immerhin ein Nachruf in der New York Times. Ihr Nachlass gelangte in die Library of Congress. Es geht mit der Erforschung der Schriften und Fotografien von Lucia Dlugoszewski um die Marginalisierung im zeitgenössischen Musikbetrieb, um Aufschreibepraktiken des Komponierens, um eine Sprache zur Musik jenseits eingeübter Konventionen und nicht zuletzt um die Klangbreite von über 100 erfundenen Schlaginstrumenten. Zumindest die Instrumentenerfindungen geben einen Wink auf sehr feine, mikrologische Klangbereiche, die erst einmal nicht bekannt waren und nun allererst mit dem Ensemble Musikfabrik erforscht werden.

© Katherine Duke

Die Komponistin arbeitete mit dem Tänzer und Choreographen Erick Hawkins in New York zusammen, Marco Blaauw nennt es einen „Workflow“, was zunächst wohl kaum als eigenständiges Komponieren anerkannt wurde. Gab und gibt es also Kompositionspraktiken die systematisch musikhistorisch ausgegrenzt werden, weil die Autorschaft im „Workflow“ eher elastisch genannt werden müsste? Wie viel 19. Jahrhundert steckt noch in den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Kompositionsparametern? Umgangssprachlich wird noch immer von Komponist*innen als Genies gesprochen[8], obwohl bereits bei Ludwig van Beethoven der Begriff nur durch Normalisierungen, Glättungen und Namensgebungen ausgebaut werden konnte.[9] Musikdenken, Kompositionswissen und Sehenhörenfühlen – sinnliche Verschaltungen – tragen womöglich genauso zum Komponieren bei.

© Camille Blake

Marco Blaauw hat sich die einzigartige Partitur z.B. von Dazzle on a Knife’s Edge genauer angeschaut. Die Partituren von Dlugoszewski sind eigensinnig, ja, eigengrafisch. Dazzle on a Knife’s Edge (1966) wie Radical Othernes bzw. Disparate Stairway Radical Other (1995) mit unterschiedlichen Buntstiften geschrieben, Pfeilen, Anführungszeichen, Unterstreichungen etc. versehen ähneln eher kartographischen Geheimschriften als Noten auf linearen Notenpapier. Partituren teilen die Stimmen auf (partire), damit sie für die Aufführung zusammenklingen können:
„Die Partitur (Dazzle on a Knife’s Edge, T.F.) ist also – entgegen dem ersten Eindruck – nicht ohne Weiteres zugänglich: es fehlen ausreichende Informationen zu Spieltechniken, Schlaginstrumenten und der Rolle des Klaviers. Um hierzu mehr herauszufinden, mussten wir einen Blick auf andere Stücke werfen, die Dlugoszewski kurz vor „Dazzle on a Knife’s Edge“ komponiert hatte.“[10]

© Katherine Duke

Lucia Dlugoszweskis Komponieren bestand aus einem komplexen Arbeitsprozess mit dem Tänzer und Choreographen Erick Hawkins, schreibt der Trompeter Blaauw. Die Beschreibung von kollaborativen Arbeitsprozessen ist in dem Maße in die Aufmerksamkeit gerückt, wie das elitäre Wissen des Genies aus sich selbst heraus oder gar unter Kollaboration mit Gott fragwürdig geworden ist.
„Nachdem wir einige dieser Notizen und die Partituren aus dieser Zeit durchgesehen hatten, begannen wir, ihren Arbeitsprozess zu rekonstruieren. Dieser startete mit einzelnen Worten: philosophische Konzepte und poetische Inspirationen. Anschließend folgten kurze Sätze und Definitionen, innovative Wortspiele sowie Ausarbeitungen dieser abstrakten Konzepte. Diese Schriften konnten sich in Essays, Gedichte, kurze Artikel oder Beschreibungen von Bewegungen im Raum oder in Klang verwandeln. Aus den Bewegungen auf dem Papier wurden Karten. Die grafischen Notationen zeigen die Organisation von Zeit, Klangfarbe, Tonhöhen, Intervallen und Dynamik. Sie sind somit das Fundament für Choreografie und Musik zugleich.“[11]

© Camille Blake

Mit Space is a Diamond für Trompete wurde Marco Blaauw im Raum der Bühne selbst zum Solisten in einer Choreografie von und mit Edivaldo Ernesto. Die Schnittstelle von Tanz und Komposition wird in diesem Stück von 1970 besonders deutlich. Ist Space is a Diamond zeitgenössische Musik, mit der Musik selbst reflektiert wird? Oder ist Space is Diamond neuer Tanz, wie er beispielsweise in Berlin mit dem Festival Tanz im August zelebriert wird? Raum wird zunächst einmal mit einer Choreografie etwas anderes. Mit einer Choreografie wird der Tanz als Verräumlichung vorgeschrieben. Sie kann allerdings buchstäbliche Tanzschrift werden und die Schrift zum Tanzen bringen. Die Ambiguität und Poesie der Choreografie schwingt in Dlugoszewskis Space is a Diamond in ihren Worten zwischen Sinn und Sinnlichkeit für das Programm mit:
„Sense of hugeness, transparency, delicacy of brilliance, speed and frequency of sudden daring leaps into disparate dynamics and the passionate capacity of expression of a solo instrument with essentially linear possibilities: meditations along these lines created the music of “Space is a Diamond”.
As a result of structural challenges implicit in working with large dimensions, many new ways of playing the trumpet were invented such as unlimited ½ valve glissandos and the feathery tender flapwhisper thrilling techniques. The trumpet sound is washed in a constant unfolding of mute changes, with seven different mutes continuing throughout.”[12] 

© Camille Blake

Die Vieldeutigkeit der Choreografie, der Tanz-Schrift, bis hin zur Kalligrafie wird von der Komponistin poetisch formuliert, wenn sie schreibt, dass Space is a Diamond „verschiedene Kalligrafien von Tempi, die oft nur die äußersten Registergrenzen streifen“, enthalte. Dazwischen hinterließen sie eine „klanglose Leere“. Oder sie generierten „sich in kalligrafischen Höhenflügen windende Parabeln melodischer Variation“.[13] Der Berichterstatter erinnert sich bei einer wechselseitigen Übertragung von Musik und Tanz in den Bereich der Kalligrafie an Roland Barthes‘ einflussreiches Buch L’EMPIRE DES SIGNES von 1970 und in der Zeitschrift L’Arc erschien sein Text MUSICA PRACTICA in einer Ausgabe über Beethoven.[14] In Musica Practica unterschied Barthes zwischen dem Musikhören und dem Musikmachen, also Beethoven hören und ihn spielen. Er formulierte darin die Utopie, dass „das ganze musikalische Tun in einer restlosen Praxis aufginge”.[15] Die Kalligrafie in Space is a Diamond reagiert nicht zuletzt auf eine zeitgenössische Debatte um Zeichen und die Schrift.
„The music, then, assures an entirely different dimension. The line flowers into a variety of oscillations including ¼ tone thrills until it reaches a new concentration of tautness and finally severs so that a fragile hanging bridge spans the silence of the ear.”[16]

© Camille Blake

Lucia Dlugoszewskis Komposition wie ihre Sprache der Beschreibung ihrer Musik lässt sich als hochpoetische und wechselreich beschreiben. Zwischen „the line flowers“ und „a fragile hanging bridge spans the silence of the ear” wechseln Begriffsfelder eigensinnig metonymisch. Es werden Begriffe und Verben kombiniert, die kaum zuvor in dieser Weise gebraucht wurden, was sich als eine gewisse Radikalität bedenken lässt. Die Aufführung von The Space is a Diamond durch Edivaldo Ernesto und Marco Blaauw präsentierte auf beeindruckende Weise das eigensinnige Verhältnis von Tanz und Musik der Komponistin. Elena Rykova nimmt mir ihrer Komposition A Sonic Corona to a song Eclipsed intensive und konzeptuellen Bezug auf Space is a Diamond. Für sie wird der „Klang als Raum“ wichtig, um „ihn in verschiedenen Dimensionen wie Zeit, Entfernung, Nähe, Form, Dichte, Transparenz und mehr zu denken,“ ist zu ihrer „Obsession“ geworden.[17] Doch die Uraufführung fand, wo möglich auch um den Unterschied zu markieren ohne eine Choreografie statt.

© Camille Blake

Für die Entdeckung der Musik von Lucia Dlugoszewski ist To Everybody Out There und dem Schwerpunkt Contemplations into the Radical Others mehr als ein erster Schritt getan. Das einzigartige Ensemble Musikfabrik hat sich ein neues Konzertprogramm erforscht und erarbeitet, das hoffentlich auf weiteren Festivals zu hören und sehen sein wird. Namen werden mit Wissen, Musikwissen verknüpft. Da der Name Lucia Dlugoszewski zuvor nahezu unbekannt war und das „Musikpublikum“ sich nur marginal mit dem „Tanzpublikum“ überschneidet, löste der Schwerpunkt keine Besucherströme aus. Wissen und Begehren werden heute über Kurzzeitmedien, durch permanente Wiederholung und Verlinkung generiert. Lucia Dlugoszewski wurde als Komponistin nicht zuletzt wegen ihrer Musiksprache und Sprache über Musik marginalisiert. Dass in ihren Kompositionen eine aufregende, bereichernde Andersheit stecken könnte, wurde in einer Konkurrenz der Schulen hinweggerissen. Die Andersheit bringt Vielfalt und Farben hervor, die mit Dlugoszewski gehört werden können.

Torsten Flüh    


[1] Siehe: Erwan Keravec: Goebbels/Glass/Radigue.

[2] Zur Johannes Passion siehe: Torsten Flüh: Herzenssache. Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle auf DVD und Blu-Ray. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Oktober 2014.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[4] Zu Julius Eastman: Torsten Flüh: Requiem für einen Obdachlosen. MaerzMusik feiert Julius Eastman mit dem Eröffnungskonzert im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. März 2018

[5] Zu Halim El-Dabh: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[6] Siehe: Ewan Keravec: Goebbels … [wie Anm. 1]

[7] MaerzMusik: Contemplations into the Radical Others. Programm: 20.-24.3.2024, Berlin, Berliner Festspiele 2024, S. 9.

[8] Der Begriff Genie entsteht im 18. Jahrhundert und erreicht um 1800 die höchste Gebrauchsfrequenz. Siehe: DWDS: Genie.

[9] Siehe zu Ludwig van Beethoven anhand seiner Autografen: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[10] Marco Blaauw: Zu Lucia Dlugoszewski: Dazzle on a Knife’s Edge. In: MaerzMusik: Comtemplations … [wie Anm. 7] S. 20.

[11] Ebenda.

[12] Lucia Dlugoszewski: Space is a Diamond. Programme note, 1970. Zitiert nach: MaerzMusik. Contemplations … [wie Anm. 7] S. 55.

[13] Ebenda S. 54.

[14] Siehe: Roland Barthes: Œuvres complètes. Tome II 1966-1973. Table du Tome II. Paris: Édition du Seuil, 1994, S. 862.

[15] Roland Barthes: Musica Practica. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main: edition suhrkamp,1990, S. 268.

[16] Lucia Dlugoszewski: Space … [wie Anm. 12] S. 55.

[17] Elena Rykova: A Sonic Corona to a Song Eclipsed. In: MaerzMusik: Contemplations … [wie Anm. 7] S. 62.

Die neue Radikalität und Ethik in der Musik

Ethik – Forschung – Komponieren

Die neue Radikalität und Ethik in der Musik

Zu den Konzerten Pulp Science und (Musical) Ethics Lab 6 bei MaerzMusik 2024

Die Position des Dirigenten steht in der zeitgenössischen Musik schon seit geraumer Zeit zur Debatte. Im Rahmen des diskursiven Festivals MaerzMusik 2024 wurde sie mit 2 Konzerten auf radikale Weise in der Praxis ausgelotet. Das Black Page Orchestra wurde 2014 in Wien gegründet und feiert mit Pulp Science sein 10jähriges Jubiläum. Ein Orchester des 21. Jahrhunderts in vieler Hinsicht, das mit seinem Namen an die Rockmusik andockt, insofern Frank Zappa 1978 in New York das Stück The Black Page veröffentlichte, das seinerseits so viele Noten auf einer Seite präsentierte, dass sie fast schwarz war. Das Berliner Splitter Orchester und das Trondheim Jazz Orchestra präsentierten in der Akademie der Künste ihr (Musical) Ethics Lab 6 ganz ohne Dirigent*in als Ergebnis ihres Workshops zur Ethik beim Musikmachen.

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Braucht das Orchester der Zukunft in seiner ethischen Praxis keine Dirigent*in mehr? Obgleich das (Musical) Ethics Lab 6 im Unterschied zur Pulp Sciences von den so friedvoll ausgerichteten Fragen der Ethik ausgeht und strukturiert wird, das Konzert selbst zu einer Performanz der Ethik wird, ist seine Praxis nicht weniger radikal und kompromisslos als die des Black Page Orchestras. Zudem trugen mehrere Ensemblemitglieder weiße T-Shirts mit der Aufschrift „CEASE FIRE NOW“. Die Frage der Ethik spielt nicht nur bei einem Konzert und dem Musikmachen eine oft verwickelte Rolle, der Aufruf zum Waffenstillstand im Gazastreifen und Israel stellt ebenso wie im Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine die Ethik bis zum aus ihr formulierten Pazifismus aktuell vor schwierige Entscheidungen.

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Die neue Radikalität hatte bei beiden Konzerten nicht nur akustisch-musikalische Effekte, vielmehr wurde sie visuell z.B. durch Bemalungen des Gesichts etc. und Bühnenperformance ebenso beim Black Page Orchestra geübt. Es hat sich programmatisch vielmehr als „Ensemble für radikale und kompromisslose Musik“ gegründet.[1] Bereits die beiden Titel der Konzerte geben einen Wink auf die radikale Andersartigkeit der Konzertform. Konzertformate vom Orchester in uniformen schwarzen Anzügen und Kleidern etc. bis zu Casual Concerts und experimentellen Formen bleiben für die Musik nicht folgenlos. Dass die Position des Dirigenten im 20. Jahrhundert lange noch als geradezu natürlich wahrgenommen wurde, ist zwischenzeitlich aufgebrochen worden.

© Fabian Schellhorn

Was genau eine Pulp Science als Konzertformat sein könnte, wird nicht formuliert. Es wird als Titel ebenso kreativ wie experimentell gesetzt. Allerdings veröffentlichten Ulrich Kohler und Julia C. Post 2023 in Budrich Journals GWP – Gesellschaft, Wirtschaft, Politik ihren Aufsatz „Pulp Science? Zur Berichterstattung über Meinungsforschung und Massenmedien“.[2] Problematisiert wird in dem Artikel die Gefahr von Meinungsumfragen bei „politischen Meinungsbildungsprozessen“.[3] Doch der Begriff pulp schwankt im Englischen zwischen Quentin Tarantinos Pulp Fiction (1994) mit Uma Thurman und billigem Papier oder einfach Brei. Für das Black Page Orchestra war wahrscheinlich vor allem das Paradox von Pulp als Wissenschaft anstoßgebend.

© Fabian Schellhorn

Die Radikalität der Pulp Science bezieht sich insbesondere auf die politischen Implikationen des Musikmachens, wenn Alexander Khubeev in seiner Komposition Ghost of Dystopia (2015) mit dem Titel nicht nur auf das Konzept Dystopie, vielmehr noch auf Karl Marx‘ Formulierung „Ein Gespenst geht um in Europa“ aus dem Kommunistischen Manifest von 1848 anspielt.[4] Khubeev möchte mit dieser Überschneidung von Kommunismus bzw. Kommunistischem Manifest und Dystopie die „Beziehung und Interaktion zwischen „Solist*in“ und Ensemble“ reflektieren.[5] Dabei geht es nicht zuletzt um die Position des Dirigenten als „Solist*in“. Denn anstelle des Dirigenten steht hier Thomas Moore als „Solist*in“, die mit akustischen Sensoren auf Plexiglasflächen zugleich Klänge beisteuert. Doch die Dirigiergesten führen zugleich dazu, dass die Sensoren von den Platten gerissen werden.

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Das visuelle Geschehen, das mit dem akustischen wie an den Fäden der Plastikhandschuhe auf dramatische Weise verbunden ist, trägt zur klanglichen Reflexion über die Dystopie bei. Während das Kommunistische Manifest eine erfreuliche Zukunft formuliert, eine Utopie, setzte sich der um 1986 aufkommende Begriff Dystopie ab 2006 zu einer rasant kursieren Verunsicherung durch eine „düstere Zukunft“ durch.[6] Das Verhältnis der Solist*in-Dirigent*in zum Ensemble erweist sich nicht nur akustisch als schroff. Durch die Kontextualisierung des Komponisten mit dem Kommunistischen Manifest lässt sich auch bedenken, dass 2017 der Film Le jeune Karl Marx von Raoul Peck insbesondere dessen Manuskript ins Interesse rückte, indem es keinesfalls allein, sondern von Karl, Jenny, Friedrich und Mary zusammen geschrieben worden sei.[7] Prozesse des Schreibens und des Musikmachens werden auf diese Weise stärker als eine kollektive Praxis vorgeschlagen.   

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Für Halucinatio von Jung An Tagen wurde die Bühne in rotes Licht und Trockeneisschwaden getaucht, um das Akustische mit dem Visuellen für die dissoziative, psychoakustische Musik von Flöte (Alessandro Baticci), Schlagzeug (Igor Gross) und Elektronik (Matthias Kranebitter) zu verstärken. Das achtminütige, experimentelle Stück des Wiener Komponisten und Klangkünstlers Jung An Tagen lotet damit experimentell neue Konzertformen hinsichtlich einer ästhetischen Offenheit aus.[8] Die virtuose Spiel auf der Doppelflöte Dvojnice wird darin durch die Elektronik als „ultimative Spaltung, Entmenschlichung, mechanische Fremdheit“ eingesetzt. Die Modi der Elektronik wie Wiederholung und Rückkopplungen generieren nicht nur halluzinatorische Effekte, vielmehr wirken sie akustisch und visuell auf das psychische Befinden.   

© Fabian Schellhorn

Sarah Nemtsov waren bei MaerzMusik 2024 mehrere Veranstaltungen wie ein Gespräch und die Aufführung weiterhin hochaktuellen und politischen Medienkomposition Journal (2015) durch das Black Page Orchestra gewidmet. Wie schon bei ultraschall berlin 2024 mit Skotom zeigt sich einmal mehr der ausgeprägte Einfallsreichtum der aus Oldenburg stammenden Komponistin[9], die in ihren Stücken Wahrnehmungs- und Klangbereiche kombiniert, die bislang nicht für möglich gehalten wurden. Nemtsov komponiert seit ihrer Jugend ohne Berührungsängste Musik, die wie Klanglandschaften unterschiedliche Themen der auditiven wie visuellen Wahrnehmung berühren. Sie verfügt über die heute äußerst wichtige Fähigkeit, in Worte fassen zu können, was sie genau macht beim Komponieren. Seit dem Wintersemester 2022/2023 lehrt sie als Professorin Komposition an der namhaften Universität Mozarteum in Salzburg:
„In meinem Stück habe ich mich damals, vor fast zehn Jahren, mit der Überforderung des Einzelnen, der Ohnmacht angesichts der Fülle von Schreckensnachrichten auseinandersetzen wollen. Ein Thema, das heute leider weiterhin akut ist. Das Ensemble ist verstärkt, das Cello hat zusätzlich ein Distortion-Pedal, das den Klang verzerrt. Rhythmische Impulse im Ensemble, Eruptionen, klare, wenn auch verschränkte Impulse gegen freiere Teile, Strudel entwickeln sich. Verlorenheit und zugleich auch ein Aufgehobensein im Digitalen. Die virtuelle Welt kann Weltflucht und Welt-Bewusstsein bedeuten.“[10]    

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Journal erweist sich als eine komplexe Komposition zu Fragen des Subjekts in einer digitalen Medienöffentlichkeit. Nemtsov verwirft das Digitale nicht per se, vielmehr erforscht sie mit ihrer Komposition, was sie damit machen kann. – „Das Keyboard hat 37 Samples – eine Mischung von verfremdeten News-/Nachrichten-Jingles und Beiträgen aus aller Welt, Drones, Noise, anderen elektronischen Klängen und verfremdeten historischen Aufnahmen, sowie field recordings bis hin zu space sounds.“[11] – Das auf Nachrichtensendungen anspielende Journal verarbeitet und „verfremdet()“ eine schier kaum noch identifizierbare, klangliche Medienwelt. „Nachrichten-Jingles“ oder Soundmarken sind seit geraumer Zeit ein Klangraum, der jede Einzelne* in Alarmbereitschaft versetzt. Permanent wird das Subjekt im Digitalen von Sounds, die es erinnern sollen, die sich in die akustische Wahrnehmung einbrennen sollen, getriggert. Die Psychoakustik, die bei Jung An Tagen eher als positives Experimentierfeld komponiert wurde, taucht bei Sarah Nemtsov als Feld des akustischen Stresstests auf. Auf VIDEVO lassen sich „456 lizenzfreie Jingle Sound Effekte“ von „Zelttür mit Reißverschluss aus Nylon“ bis „Musical, Glockenspiel, Positiv, Motiv“ und „Herzschlag“ herunterladen und beim Anklicken einer Website oder Nachricht aktivieren.[12]

Ob Sarah Nemtsov bereits VIDEVO für ihr Komponieren mit dem Digitalen entdeckt hat, weiß der Berichterstatter nicht.[13] Sie verschließt sich dem nicht. Die „Fülle der Schreckensnachrichten“, die durch Jingles von 1 oder 2 Sekunden markiert werden können, hat 2024 eher zugenommen. Jede*s digital vernetzte Menschenwesen kann heute durch einen ständig wiederholten Jingle auf TikTok etc. seine Followers triggern – und d. h. durch ein akustisches Signal süchtig machen nach mehr. Bereits die Titelei von Online-Zeitungen ist heute auf Trigger-Begriffe ausgelegt, damit die User nach mehr klicken. Als Komponistin arbeitet Nemtsov mit dergleichen akustische Materialien, „verfremdet“ sie, um so darauf aufmerksam zu machen. Denn sie hat als Komponistin eine dezidiert politische Haltung, die Praktiken der Suchterzeugung und digitalen Manipulation aufzudecken.
„Durch Musik können wir Emotionen, Konzepte, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und andere wichtige Botschaften kommunizieren. Das Wesentliche und Aufregende jedoch für mich ist, dass Kunst einen offenen, weiten und überraschenden Raum schafft, wie eine Faltung der Raumzeit, ein Wurmloch, in dem Fragen auftauchen und Antworten (wenn überhaupt) vage sind. Er gibt hier eine einzigartige Gedankenfreiheit – und damit einhergehend individuelle Verantwortung. Das ist eine Basis von Demokratie.“[14]

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Der digitale Jingle oder die Soundmarke im Bereich der hörbaren Frequenzen haben heute einen massiven psychoakustischen Einfluss auf unsere Wahrnehmung wie die Musik im Supermarkt oder Kaufhaus. Sie beeinflussen unsere Stimmung, ohne dass wir sie bewusst hören. Matthias Kranebitter äußerst experimentelle und den menschlichen Hörbereich umfassende Encyclopedia of Pitch and Deviation (2020) für Ensemble und Elektronik bildet zum Jingle eine extreme Gegenposition. Zwischen 20.000 Hertz und 7.8 Hertz spielt er die Frequenzen von „Der „The Mosquito“-Alarm“ bis zur „Grundfrequenz der Schumann-Resonanz“ in 26 Einteilungen innerhalb von 21 Minuten durch. Die Frequenzen und Titel werden dabei vor jeder Einteilung von einer weiblichen Computerstimme angesagt und auf ihre Hörbarkeit erläutert. Unter 16 Hertz können vom menschlichen Ohr keine Frequenzen gehört werden. Der hörbare Schall liegt zwischen 16 Hertz und 20.000 Hertz, wobei die höchste Frequenz i.d.R. nur von jungen Menschen unter 25 Jahre gehört werden können. Das Sprachverstehen spielt sich in einem Bereich von 500 und 4.000 Hertz ab.

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Matthias Kranebitter spielt mit seiner Encyclopedia of Pitch and Deviation insofern die Hörbarkeit des durchschnittlichen menschlichen Ohres und jenseits dessen durch Musikinstrumente und Elektronik durch. Die streng nach dem Frequenzwissen ausgelegte Komposition mit ihren Abweichungen geht insofern bis ins Psychische und taktil Körperliche, wo die Grenzen des Gehörs unterlaufen werden. „443 Herz Konzerttonhöhe, kontinentaleuropäischer Standard“. Das komponierte Wissen wird indessen ironisiert, wenn bei „42 Hertz Die maximale Schleuderdrehzahl einer Gorenje WA65-Waschmaschine“ angekündigt wird.[15] Küchengeräte, Gaszentrifugen, Hochleistungsmixer, Flügelschlagfrequenzen, Chakrafrequenzen stehen neben „256 Hertz Das mittlere C in der alternativen Verdi-Stimmung, auch philosophische und wissenschaftliche Tonhöhe“. Das Wissen der Frequenzen, wie es von Matthias Kranebitter komponiert wird, bekommt, obwohl existentiell einen witzigen, fast lächerlichen Zug: „150 Hertz Die Höchstgeschwindigkeit des Remesis 13B Motors in einem Mazda RX-8“.

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Zum Abschluss spielte das Black Black Page Orchestra Mirela Ivičevič‘ neunminütige Komposition Case Black (2016), mit der die kroatische Komponistin an die Geschichte der jugoslawischen Partisan*innen erinnern will. Die durch den Titel an die „Operation Case Black“ im Frühjahr 1943 mit einem klanglichen Flickenteppich erinnernde Komposition soll die Politik des „heutige(n) Kroatien mit seiner offenen Antifaschismus-ablehnenden, den Holocaust leugnenden Regierung“ durch „das symbolische Gedenken an die Schlacht und an die Grundsätze von Solidarität und Einigung bei allen Unterschieden“ kritisieren.[16] Ivičevič wird auf diese Weise mit ihrer Komposition entschieden politisch. Sie hat das Stück in enger Beziehung zur Programmatik des Ensembles komponiert. Ihr geht es besonders darum, die klanglichen Unterschiede herauszuarbeiten.

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Dem Konzert des Splitter Orchesters und des Trondheim Jazz Orchestra ging ein Workshop zu den ethischen Implikationen der Improvisation voraus. Die Mitglieder der Orchester betraten mit ihren Instrumenten, sofern sie noch nicht auf der Bühne der Akademie der Künste platziert waren, auf und begannen aufeinander hörend ohne Dirigent*in zu spielen. Die Instrumente waren nicht in Instrumentengruppen, sondern locker angeordnet. Die Instrumentalisten samt zweifacher Elektronik (Roy Carrol und Marta Zapparoli) erzeugten aus der Situation ein Crescendo. Im Jazz spielt die Improvisation eine größere Rolle. Doch hier ging es weniger um eine Jazzimprovisation, als vielmehr um einen ethisch durchdachten Prozess des Musikmachens. Aus und für den Moment entsteht aus den Orchestern eine Uraufführung aus sich selbst heraus. Weder eine Komponist*in noch Dirigent*in leitet die Musiker*innen. Nach welchen Prinzipien beginnt und endet die Musikdarbietung? Lässt sie sich wiederholen? Oder findet die Aufführung nur für einmal statt? In einem zweiten Teil klingt die Musik ganz anders.

© Camille Blake

Nach dem ersten Teil betraten Joshua Bergamin und ein Vertreter der Orchester die Bühne, um einen Text zur (Musical) Improvisation und A word from the ensembles, als Ergebnisse ihres Forschungsprojektes zur Ethik zu verlesen. Denn seit 2022 erforschen die Ensembles aus Berlin und Trondheim gemeinsam „(Musical) Improvisation and Ethics“. Insofern lässt sich sagen, dass die Improvisation einem in mehreren Workshops debattierten Skript folgt. Zugleich definieren sie Ethik nicht als eine festgeschriebene Norm oder Regelwerk, sondern als „einen Prozess, der ständig neu verhandelt wird und sich in konstanter Veränderung befindet“. Das Konzert wird zugleich zu einem Experiment der Improvisation im ethischen Prozess. Im Studio der Akademie der Künste herrschte konzentrierte Aufmerksamkeit, weil es sich, mit einem anderen Wort, um einen Drahtseilakt handelte. Jushua Bergamin gab ein wenig Aufschluss über den Prozess:
Im-pro-visation refers literally to the un-fore-seen decisions that musicians make in the act of musicing.
But such decisions always take place in the context of pre-given pro-visos.
Provisos include material elements like instruments and spaces. But we can also think of social provisos, such as a performer’s history and training, or the expectations of a musical (sub)culture.
A proviso can be as intricate as a written score, or as vague as a proposal to play for half an hour. It can be as formal as a tonal key or time signature, or as loose an the ‘sound’ of a scene. Provisos can be explicit or implicit, but in each case, a musician’s improvised choices fill the space in-between them, interpreting and creating anew out of what is already there.”[17] 

© Camille Blake

Der Philosoph und Phänomenologe Joshua Bergamin, der an der Universität Wien das künstlerische Forschungsprojekt (Musical) Imrovisation and Ethics mitleitet, formuliert die Improvisation buchstäblich über das, was der Begriff mit der Vorsilbe im verneint, nämlich die „proviso“, das Vorhersehbare. Anders geschrieben: das „pro“ als vor oder für verspricht ein „videre“ (sehen). Begriffs- und musikhistorisch beginnt die Improvisation um 1800, was sich aus der Wortverlaufskurve ableiten lässt.[18] Die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers kennt den Begriff noch nicht.[19] Doch was vorgegeben ist als „pro-viso“, lässt sich nicht einfach bestimmen. Etwas verkürzt wiedergegeben macht Bergamin seinen Begriff der „provisos“ zum Bereich des Ethischen:
„We are, all of us, nodes in a web of provisos – in a web of social and material histories that define for each of us our very sense of the possible.
In the spaces in-between – the spaces of action and freedom – we find the realm of the ethical.”[20]

© Camille Blake

Im Dazwischen liegt der Bereich oder das Reich des Ethischen, formuliert Joshua Bergamin, wie ich sagen möchte, mit einem Wink auf das Denken Jacques Derridas. Die „provisos“ finden sich zu hochindividuellen Möglichkeiten des Einzelnen zusammen. Daher lassen sie sich schwer verallgemeinern, sondern unterliegen einzelnen und gar einmaligen Prozessen. Das Ethische geschieht. Eine Festschreibung führt bereits zu Verletzungen des Ethischen. Das gilt nicht zuletzt für Cease Fire Now. Für einmal mag die Haltung in einem Moment richtig sein. Sogleich wird sie von anderen „provisos“ heimgesucht und schwierig. Vielleicht passen dazu auch folgende Worte von Joshua Bergamin:
„… What was free and right yesterday might no longer be tomorrow.
The ethical life is a life of constant attunement. Of sensitivity to provisos and how they evolve. The ethical life is an improvisation – knowing when to hold back, when to let go, and how to change your mind.”[21]

Der Sprecher für die Orchester formulierte daraufhin einen konkreten Bezug auf das aktuelle soziale Klima der Polarisierung nicht nur in Bezug auf Berlin oder Europa. Denn es geht nicht zuletzt beim Musikmachen darum, andere Haltungen auszuhalten. Die aktuelle Kulturdebatte sei charakterisiert von einer Polarisierung. Dieser Polarisierung gelte es entgegenzuwirken. Gleichzeitig betonte er, dass das Statement nicht im Namen weder der Akademie der Künste noch des Festivals MaerzMusik gemacht sei. Das Splitter Orchester und das Trondheim Jazz Orchestra verstehen ihre Forschung als eine Utopie.
„The utopia of our improvised process is a multiplicity of voices and positions, a multiplicity characterized by an openness and curiosity that welcomes difference and allows to be heard.”

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Nach der Lesung der beiden Texte zur Frage der Ethik in der Musik und im Musikmachen, improvisierten die Musiker*innen wesentlich ruhiger als im ersten Teil. Es ergab sich ein Klangraum, in den sich alle auf unterschiedliche Weise einbrachten. Für Einmal entstand ein Klang, der von den Unterschieden, „provisos“ und einer Achtsamkeit erfüllt wurde, als solle Ethik zum Klingen gebracht werden. Die Einmaligkeit dieses Konzerterlebnisses mit all seinen Unterschieden wird in Erinnerung bleiben.

Torsten Flüh   


[1] Siehe auch: Black Page Orchestra: About us.

[2] Kohler, Ulrich/Post, Julia C.: Pulp Science? Zur Berichterstattung über Meinungsforschung in den Massenmedien, GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, 4-2023, S. 475-483. (Website)

[3] Ebenda: Zusammenfassung.

[4] Zum Kommunistischen Manifest und der Geschichte seiner Abfassung im Film siehe: Torsten Flüh: Ein Gespenst wird gefeiert. Hostages und Le jeune Karl Marx auf der Berlinale 2017. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. Februar 2017.

[5] Alexander Khubeev In: Berliner Festspiele: MaerzMusik 2024: Abendprogramm 16.03.2024. Berlin 2024, S. 18.

[6] Siehe DWDS: Dystopie.

[7] Torsten Flüh: Ein … [wie Anm. 4].

[8] Siehe: Jung An Tagen: Info.

[9] Siehe Torsten Flüh: Neue Musik zwischen Freiburger Schule und no school. Zu den Konzerten von MAM.manufaktur für aktuelle Musik, Ensemble Apparat und Deutschem Symphonie-Orchester bei ultraschall berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Februar 2024.

[10] Zitiert nach Sarah Nemtsov: Journal. In: Berliner Festspiele: MaerzMusik … [wie Anm. 5] S. 20.

[11] Ebenda.

[12] Videvo: Lizenzfreie Soundeffekte: Jingle.

[13] Videvo stellt sich selbst vor als ein kleines leidenschaftliches Team im ländlichen Oxfordshire, was ob der weltweiten digitalen Reichweite geradezu idyllisch klingt. Videvo.

[14] Sarah Nemtsov zitiert nach: Berliner Festspiele: MaerzMusik … [wie Anm. 5] S.13.

[15] Siehe auch von der Uraufführung 2020 mit Johannes Kalitzke als Dirigent: Matthias Kranebitter: Encyclopedia of Pitch and Deviation. 30. November 2020.

[16] Mirela Ivičevič: Case Black. In: Berliner Festspiele: MaerzMusik … [wie Anm. 5] S. 24.

[17] Joshua Bergamin: (Musical) Improvisation… Berlin, March 2024. Zitiert nach Beizettel zum Abendprogramm. Berliner Festspiele: MaerzMusik 2024: Abendprogramm 22.3.2024. (Ohne Seitenzahl).

[18] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Improvisation.

[19] Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers : IMPROVISTER, IMPROVISTEUR.

[20] Joshua Bergamin (Musical) … [wie Anm. 17].

[21] Ebenda.

Musik jenseits des Gehörwissens

Maschine – Musik – Mensch

Musik jenseits des Gehörwissens

Zum Eröffnungskonzert von MaerzMusik 2024 mit dem Acousmonium der Groupe de Recherches Musicales

Die Musik wurde beim Eröffnungskonzert von MaerzMusik mit dem Acousmonium vom Wissen gereinigt. Hörverstehen oder das Wissen des Gehörs wurden gleichsam umgangen. Lautsprecher wurden zum Orchester und zu akustischen Akteuren im Zuhörerraum im Haus der Berliner Festspiele. Die Komposition wird im Studio am Regler elektronisch eingespielt und im Raum der Aufführung am Regler in einer Diffusion oder Zerstreuung nachgesteuert. Was macht das Ohr als ein Wissens- und Erinnerungsorgan mit der Diffusion? Wir erkennen Instrumente, Stimmen, Melodien, Geräusche etc. wieder. Das Musikwissen wird durch Regeln strukturiert, nun wird es am Regler unterlaufen.

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Die Frage nach der Musik wird mit dem Acousmonium durch INA grm – Groupe de Recherches Musicales seit 1974 in Paris neu gestellt. Forschung, Elektronik und Musikmachen werden seit 50 Jahren in der zeitgenössischen Musik durch Frequenzen, Lautstärken, Geschwindigkeiten, Unterbrechungen etc. transformiert. Es geht um die auditive Wahrnehmung des Menschen, die seit den 50er Jahren eben in jenem institutionalisierten Rahmen, der Übertragung und Verbreitung akustischer Wellen, dem staatlichen, französischen Rundfunk (RTF bzw. ORTF) erforscht wurde. Das Acousmonium, obwohl es räumlich in einem Raum mit Zuhörer*innen als eine Art akustisches Maschinenorchester aufgeführt wird, verdankt sich dem Rundfunk, für den nicht zuletzt Klangregisseure und Tontechniker an Mischpulten arbeiten.

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Die akusmatische Musik gibt einen Wink auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt im Feld des Hörens. Das Objekt wird beispielsweise in den Kompositionen von Beatriz Ferreyra wie in dem Eröffnungsstück L’Orvietan (1970) unterlaufen. Weder soll ein identifizierbares Objekt hörbar werden, noch kann sich ein Subjekt im Wissen vom Ursprung des akustischen Signals einrichten. Es muss sich von Musik aus der elektronischen Verschaltung und Verkopplung bzw. der elektroakustischen Musik mitreißen lassen.[1] Ferreyra formuliert dies über das mythologische Allheilmittel „Orvietan“ als reinigend oder heilend. Die auditive Wahrnehmung erhält wie in L’Orvietan delirante Züge. Mit den Worten von Ferreyra, deren Komposition von François J. Bonnet am Mischpult für das Acousmonium aktualisiert wurde:
„In der elektroakustischen Musik haben wir mit Schaeffer gelernt, unseren Blickwinkel zu verändern, etwas zu hören, das Klang ist und nicht das, was den Klang erzeugt. Wir hören, wenn es ein Auto, eine Stimme oder eine Geige ist – aber wir können auch etwas anderes hören. Ich weiß nicht, wie andere Musik machen, aber ich mache Musik basierend auf dieser anderen Art des Hörens.“[2]   

© Fabian Schellhorn

Die Geschichte der Musik ist tief in akustische Modi der Imitation, Wiederholung und des Wiedererkennens organisiert. Insofern eröffneten die elektroakustische Musik und noch zugespitzter das Lautsprecherorchester des Acousmoniums seit 1974 einen völlig neuen Bereich des Hörens und Hörerlebnisses. Insbesondere der Modus der Imitation, der in der Moderne fragwürdig geworden war, bekam aus dem Bereich der Institution Rundfunk eine weitere Drehung.[3] Die neuen, überwiegend als störend empfundenen Effekte der Rundfunkübertragung durch elektromagnetische Wellen werden mit den Forschungen in der Elektroakustik zum Feld künstlerischer Experimente bzw. Produktionen, in dem sich beispielsweise Beatriz Ferreyra und andere Frauen wie Éliane Radique als Künstler*innen positionierten.[4] Die Imitation wird in der Musik verstärkt in den Bereich der „Wellen“ verschoben, die neuartige Verschaltungen erlauben. Auf diese Weise wird „(a)kusmatisch“ zu einer „Form der auditiven Wahrnehmung, bei der die Klangerzeugungsmittel und damit die ursprünglichen Quellen der Geräusche unerkannt bleiben“. Sie zielt auf „eine Situation reinen Hörens“.[5]

© Fabian Schellhorn

Die Uraufführung von KMRUs Dissolution Grip in der „Acousmatic Version“ als Auftragswerk der Berliner Festspiele/MaerzMusik und INA grm erinnerte programmatisch an das Unkenntlich-werden der Klangquellen und -erzeugungsmittel. Insofern Joseph Kamaru alias KMRU mit Field Recordings in Europa und auf der ganzen Welt arbeitet und forscht, setzt er mit seiner akusmatischen Version von Dissolution Grip auf eine ebenso einzigartige Aufnahme von einem konkreten Aufnahmeort wie dessen Unkenntlichkeit durch das Lautsprecherorchester. Der Originalsound wird durch seinen forschenden Entstehungsmodus einmalig und wiederholbar. Aber durch die Aussteuerung am Mischpult für das Acousmonium zugleich ins Unkenntliche transformiert. Der Forschungsgegenstand eines lokalen Klangs wird quasi chiffriert, um keinen Wissenspraktiken ausgesetzt zu werden. Insofern Field Recordings als eine Methode zur Generierung ethnologischen Wissens bis zur Musikethnologie genutzt wurden und werden, wird von KMRU diese auf poetische Weise hinterfragt.  

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Das Konzertprogramm war von François J. Bonnet so angelegt, dass eine kurze Geschichte der Akusmatik bis in die Gegenwart entstehen konnte. Denn mit L’infini du bruit (1979) von François Bayle wurde nicht nur der mittlerweile 91jährige Entwickler und Theoretiker der Akusmatik gewürdigt, vielmehr wurde mit der Diffusion von dessen zweiten Abschnitt La fin du bruit (Érosphère I) von 1999 durch Bonnet zugleich ein Wink auf die vielfältigen Implikationen der aus elektroakustischen Maschinen entstehenden Musik gegeben. Stand zu Anfang die Endlosigkeit (l’infini) der Geräusche, verweist der zweite Teil auf das Ende (la fin) der Geräusche mit dem Hinweis auf eine Sphäre des Erotischen. Das Erotische lässt sich schwer fassen oder bestimmen. Nach Bayle beschreibt Érosphère „das Gesetz der Anziehungskraft des Begehrens“. Begehren entstehe paradoxerweise im „Vorhersehen, Verstehen und Sehen auf der Grundlage dessen, was nicht gesehen werden kann, einem Echo der akusmatischen Situation“.[6]  

© Fabian Schellhorn

François Bayle hat die Paradoxe der Akusmatik durch die Maschine des Acousmonium wiederholt formuliert. Obwohl das Lautsprecherorchester zutiefst im Medium Rundfunk und dessen Erforschung verschaltet ist, ließe sich die Live-Diffusion im Raum nicht im Radio übertragen, weil es dort wieder auf einen Lautsprecher oder eine Lautsprecheranlage hinausläuft. Trotzdem gibt es eine Aufnahme von Érosphère als Album.[7] Die in der Maschine angelegte serielle Wiederholbarkeit lässt sich in der Akusmatik gerade nicht wiederholen. Insofern waren die Stücke im Programm des Abends in ihrer Diffusion im Moment des Klangs einmalig und unwiederholbar gerade wegen der Maschine im konkreten Raum. Die vom Mischpult aus gesteuerte Diffusion durch François J. Bonnet, Jules Négier, Philippe Dao, KMRU, Emmanuel Richier und Eve Aboulkheird lässt sich nicht nur wegen der Menschen am Regler, sondern wegen der Maschine im Raum nicht wiederholen. Es kommt mit Bayle zu einer „Wechselwirkung von Musik und Publikum“ im Raum.
„Die von Lautsprechern projizierten akustischen Bilder verändern die Art und Weise, wie wir an die Frage nach der Wechselwirkung von Musik und Publikum herantreten. Diese neue Situation zwingt uns, uns zu neune Fragestellungen zu positionieren, und führt uns zu neuen Reaktionen. Diese vielfältige poetische Musik versammelt sich um einen gemeinsamen Nenner: das Hörsystem.“[8]

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Doch was heißt Hörsystem? Es geht mit der Akusmatik einerseits um die Befragung des Hörens, andererseits wirkte eine Lichtregie oder auch das Design der Lautsprecher wie das der krakenförmig angeordneten Kugellautsprecher konkret in das Hörerlebnis hinein. Das Saallicht wurde heruntergedimmt und die Lautsprecher in verschiedene, farbige Lichtkegel gesetzt. Das Konzert fand im temperierten Saal und auf der Bühne statt. Sinnlich waren im Konzert mehr als allein der Hörsinn involviert. Die sesselartigen Sitzreihen waren mit Festivalpublikum zur Eröffnung gut gefüllt. Immerhin war das Publikum konzentriert und gab keine Störgeräusche von sich. Wie ich höre, wird von mehr als nur „akustischen Bildern“ bestimmt. Das Publikum reagiert nicht nur auf die Klänge oder Geräusche, die aus den Lautsprechern kommen, es interagiert sinnlich. Das Eröffnungskonzert von MaerzMusik 2024 bekam den Hauch einer Messe, in der es um eine maschinell ausgesteuerte Technik ging. Die einzelnen Diffusionen wurden mit Applaus erwidert.

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Die Vielfalt der Kompositionen zwischen Luc Ferraris Presque rien avec filles (1989), Michèle Bokanowskis Rhapsodia, Ivo Malec‘ Triola – Turpituda (1978), Eve Aboulkheirs 22/12/2017 Guilin Synthetic Daydream (2020), François J. Bonnets Étude spectrale (2018), Iannis Xenakis Orient-Occident (1960) und der zweiten Uraufführung mit Jim O’Rourkes 8 Views of a Secret schwankt zwischen Nichts und Geheimnis, die durch das Acousmonium diffundiert werden. Eingedenk elektroakustischer Kompositionen zwischen 1960 (Xenakis) und den beiden Uraufführungen wurde ein Zeitraum von 64 Jahren abgedeckt. Orient-Occident entstand als frühe elektroakustische Musik nicht zuletzt durch Xenakis‘ Kooperation mit der Groupe de Recherches Musicales für einen gleichnamigen Dokumentarfilm von Enrico Fulchignoni. Er experimentiert in dem Stück mit den durchaus geheimnisvollen Klangmöglichkeiten der elektronisch generierten Filmmusik. Durch die Diffusion im Haus der Berliner Festspiele wurden die Zuhörer*innen ohne den Film in die ursprünglich für vier Lautsprecher konzipierte Geräuschkulisse eingebettet.[9] Man könnte bei dem Stück fast von einem Klassiker der Elektroakustik sprechen.

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Auf ganz andere Weise funktioniert das eigens für das Acousmonium komponierte und diffundierte Stück 8 Views of a Secret von Jim O’Rourke als Geheimnis. Mit der fast analytische Herangehensweise an das Geheimnis durch 8 Ansichten situiert sich O’Rourke in der Akusmatik, die das Geheimnis der Klangquelle nicht entschlüsselt, vielmehr verstärkt. Die im Studio produzierte akusmatische Musik wird im Saal und auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele projiziert und zerstreut. Für jede Zuhörer*in kommt es zu einem tendenziell individuellen Hörerlebnis. Deshalb lassen sich die „Geräusche“, von denen François Bayle spricht, schwer mit Worten fassen.

Torsten Flüh

MaerzMusik 2024
bis 24. März 2024


[1] Zur elektroakustischen Musik bei Hermann Scherchen siehe: Torsten Flüh: Von der Rückkehr des Nullstrahlers. Zu KONTAKTE ’17, der 2. Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2017.

[2] Zitiert nach: Acousmonium – INA grm Groupe de Recherches Musicales 15.3.2024. In: Berliner Festspiele (Hg.): MaerzMusik 2024, S. 8..

[3] Zum Rundfunk und den Rundfunksinfonie-Orchestern siehe: Torsten Flüh: Vom Politischen in der Musik. Zu den Donnerstagkonzerten von ultraschall berlin festival für neue musik im Haus des Rundfunks In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Januar 2024.

[4] Zu Eliane Radique siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[5] Zitiert nach: Acousmonium … [wie Anm. 2] S. 6.

[6] Übersetzt aus dem Englischen nach: François Bayle: Érosphère. In: ders.: Bandcamp. Album 5. März 2021.

[7] Ebenda.

[8] Zitiert nach: Acousmonium … [wie Anm. 2] S. 29.

[9] Siehe Iannis Xenakis: Orient-Occident. (YouTube)

Des Schinkens Augen

Schneiden – Kleben – Kombinieren

Des Schinkens Augen

Zur Sonderausstellung George Grosz: A Piece of My World in a World Without Peace – Die Collagen im Das kleine Grosz Museum.

Sieht der Schinken mich an? Wie blickt der Schinken auf die Welt? Führen die Einzelaugen und Augenpaare in den Zeitungen, Illustrierten, Magazinen, Bildbänden, Reklamen etc. in den Papiermedien seit den 1920er Jahren gar einen Krieg gegen die Betrachter*innen? George Grosz hat sehr viele Augen ausgeschnitten und immer wieder in andere Bildumgebungen wie die Innenfläche einer Hand geklebt. Mit der Fotografie und der Verbreitung von massenhaften Printmedien konfrontierten sie Leser*innen und Betrachter*innen mit dem visuellen Erkenntnisorgan Auge. Am Kiosk, auf Bussen und von Häuserwänden blickten Reklameaugen. Die Kuratorin der Ausstellung und Leiterin des Archivs Bildende Künste an der Akademie der Künste, Rosa von der Schulenburg, weist in Das kleine Grosz Museum wiederholt auf die unheimliche Gegenwart der Augen in den Collagen hin.

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Die Akademie der Künste verfügt über einen Großteil der Collagen von George Grosz im Original. Das kleine Grosz Museum gehört zu Berlins originellsten Museen. Denn das Museum bzw. dessen Eingangsbereich und Café ist architektonisch eine Tankstelle. Die Phantasie der autogerechten Stadt bescherte dem noch weit in Trümmern liegenden Berlin an der Ecke Bülowstraße 18 eine Tankstelle des „Standardtyps Shell AG von 1956“ mit freischwebendem Schutzdach über den Zapfsäulen. Wo früher Benzin getankt und Schmierstoffe auf Getriebe aufgetragen wurden, bietet der Trägerverein George Grosz in Berlin e.V. mit dem Estate of George Grosz, Princeton, und der Sammlung Juerg Judin heute einen Schub aus erneuerten Energien. Der durch politische und kunstpraktische Zeitläufe seit den 30er Jahren in den USA eher glücklose Maler und Collagenkünstler George Grosz erstrahlt zu einem facettenreichen Stern der visuellen Moderne.

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Die Schöneberger Umnutzung und Erweiterung des „Standardtyps Shell AG von 1956“ mit dem Anbau eines Atelier- und Wohnhauses lässt sich in dieser Weise nur in Berlin denken. Städtebaulich wird der Standort durch die Hochbahn der Linie U2 über der Bülowstraße dominiert. 1896-1902 baute die Firma Siemens & Halske mit ihrem Hauptsitz in der Schöneberger Straße am Lehrter Bahnhof die Hochbahn zwischen Nollendorfplatz und Oberbaumbrücke bzw. Warschauer Straße. 1905 bis 1906 wurde am Nollendorfplatz das Neue Schauspielhaus erbaut, das in den 20er Jahren zum Wirkungsort Erwin Piscators mit George Grosz als Bühnenbildner werden sollte. Der Standort befindet sich somit an einer Schnittstelle aus Verkehrstechnik, Städtebau, Unterhaltung und politischer Debatten. Die ironische Musealisierung des „Standardtyps Shell AG von 1956“, die in der Kombination mit japanischer Gartenarchitektur – Kies, Bambus und Wasserflächen – in ihrer Formgebung aufgewertet wird, erhielt 2009 einen Architekturpreis und wird seit 2021 für Das kleine Grosz Museum genutzt.

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Der standardisierte Alltagsbau einer Tankstelle von 1956, der vielerorts bereits verschwunden ist, weil er zum Ge- und Verbrauch konzipiert wurde, wird in Kombination mit der strengen Form von Garten, Atelier- und Wohnhaus sowie einer nach chinesischer Praxis den Garten umschließenden Mauer für einen kulturellen Nutzen aufgewertet und aller erst zu einem öffentlichen, urbanen Debattenraum. Es ist nicht nur die visuelle Erscheinung, die plötzlich andere Möglichkeiten des Gebrauchs erlaubt, vielmehr haben Torte und Tanken nun durch neue Kombinationen eine ganz andere Geschichte hergestellt, die sogar anders auf den verkehrstechnischen Hochbahnbau blicken lässt. Die lärmintensive Nutzung durch die U-Bahn zeitweilig im 5-Minuten-Takt aus beiden Fahrtrichtungen gibt auch einen Wink auf das Paradox der Moderne von Geschwindigkeit und Taktung, Fortschritt, Verbrauch und Verschmutzung.

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Das kleine Grosz Museum aus der Tankstelle tut nicht zuletzt der Grosz-Rezeption gut. George Grosz erfand mit John Heartfield die Fotomontage, wie Rosa von der Schulenburg mit einem Künstlerzitat herausstellt. Die Wirklichkeitsschnipsel der fotografischen Printmedien, Andy Warhol sollte entschieden später einmal von „Time Capsules“ sprechen, müssen nicht allein als Faktum geglaubt werden, vielmehr können sie immer schon manipuliert sein und lassen sich auch ganz anders kombinieren. Erst mit 12jährigen Verspätung formuliert George Grosz mit einem ironischen Unterton 1928:
„Als John Heartfield und ich 1916 in meinem Südender-Atelier an einem Maientage frühmorgens um 5 Uhr die Photomontage erfanden, ahnten wir beide weder die großen Möglichkeiten, noch den dornenvollen, aber erfolgreichen Weg, den diese Entdeckung nehmen sollte. Wie das eben manchmal im Leben ist, wir waren auf eine Goldader gestoßen, ohne es zu wissen“.[1]  

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Die „Entdeckung“ der Praxis der „Photomontage“ an einem Maienmorgen um 5 Uhr spricht bei den Malerkünstlern Heartfield und Grosz weniger für Frühaufsteher als vielmehr für eine, sagen wir, durcharbeitete Nacht aus der plötzlich ein visuelles Verfahren beim Machen aufbricht. Wie genau sie die Montage von Fotos oder Elementen aus Fotos entdeckten, erzählt Grosz 1928 in dem Text Randzeichnung zum Thema für die Blätter der Piscatorbühne (am Nollendorfplatz) nicht. Vielmehr wird der neuartige Umgang mit den Fotos als „Entdeckung“ formuliert und damit als einem Auffinden von etwas Neuem in Wissenschaft und Forschung beschrieben. In gewisser Weise spricht Grosz hier in anachronistischer Weise von „Entdeckung“. Denn das Zeitalter der Entdeckung spielte sich auch mit dem Gebrauch des Begriffs um 1800 ab. Um 1900 wurde der Begriff schon weit weniger verwendet.[2] Indessen schiebt er noch nach, dass sie nicht wussten, wie wertvoll – „Goldader“ – die ebenso plötzliche wie folgenreiche „Entdeckung“ werden sollte.[3]

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2020 war in der Akademie der Künste am Pariser Platz eine der ersten Fotomontagen von John Heartfield aus dem Weltkriegsjahr 1917/1918 mit dem handschriftlichen, deiktischen Motto „So sieht der Heldentod aus“ zwischen zwei Fotos von Hermann Vieth zu sehen.[4] Die handschriftlichen Worte und Titel werden zum Bestandteil der neuen Praxis, insofern sie die Praxis der benennenden und deiktischen Bildunterschrift für Fotos in Printmedien wiederholt und der politische Euphemismus „Heldentod“ für das massenweise, unschöne Sterben auf den Weltkriegsschlachtfeldern mit dem Bild entzaubert wird. Zwischen den beiden untereinander montierten Fotos vom Weltkriegsschlachtfeld hält die Inschrift von Hand eine Wunde offen, um aller erst auf sie hinzuweisen und sie zu verstärken. Die Kombination aus Sprache und Bild(ern) spielt insofern früh eine Rolle für die Fotomontage und lässt sich mit von der Schulenburg als visuelle Rhetorik beschreiben. George Grosz wird nicht zuletzt für seine frühen Dada-Collagen wie nach 1919 für Leben und Treiben in Universal City um 12 Uhr 5 mittags (Dada Fox) eine Kombination aus Bild- und Text-Elementen wie einem Negativfilm, Zeitungstitel und kryptische Einzelworten wie „PHOTOPLAYS.“ verwenden.[5]

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Die Fotomontage wird von Heartfield und Grosz fast zeitgleich mit dem Dadaismus entwickelt, obwohl Heartfield sich im Unterschied zu Grosz nicht ausdrücklich zu Dada bekannte. Richard Huelsenbeck gründete 1917 mit Grosz, Raoul Hausmann und Else Hadwiger eine Dada-Gruppe in Berlin. 1920 entwarf Grosz den Umschlag für Huelsenbecks DADA SIEGT! EINE BILANZ DES DADAISMUS im Malik-Verlag für die „Abteilung Dada“. Als in Rot hervorstechendes Bildelement auf der Titelseite aus dem Archiv der Akademie der Künste erscheint eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Die Zeigegeste aus der Reklame, die als Piktogramm bei Grosz häufig wiederkehren wird, zeigt auf dem Umschlag eher ironisch auf die Verlagsnennung am unteren Rand der Seite. Bild- und Textelemente werden von Grosz für den Druck u.a. in unterschiedlich starker Schrägstellung angeordnet. Das Verfahren der Collage für den Druck des Broschüre-Umschlags dürfte 1920 die gängigen, linearen Einbandformate durchbrochen haben. Die Ent- oder Verstellung von Texten und Bildern sollte für die Fotomontage richtungsweisend werden.

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Bereits aus den in der Sonderausstellung gezeigten frühen Collagen für Dada lässt sich die Regelverletzung als ein Element von Grosz‘ Arbeiten herausarbeiten. Die Kenntnis der Regeln für ein Titelbild, auf dem alles linear geordnet zu erkennen, lesen ist, ermöglicht es, Text und Bild in eine Anti-Linearität zu versetzen. Zugleich mag die zunehmende Reklame und Beschriftung im öffentlichen Raum der Stadt Berlin für Grosz Bild und Schrift in einen Wirbel versetzt haben. Litfaßsäulen gab es seit 1854 in Berlin bald fast an jeder Straßenecke. Lichtreklamen machten Berlin bis 1928 zu Berlin im Licht, was Bertolt Brecht und Kurt Weill zu einem Song inspirierte.
„Und zum Spazierengehn
genügt das Sonnenlicht.
Doch um die Stadt Berlin zu sehn,
genügt die Sonne nicht,
das ist kein lauschiges Plätzchen,
das ist ’ne ziemliche Stadt.
Damit man da alles gut sehen kann,
da braucht man schon einige Watt.
Na wat denn? Na wat denn?
Was ist das für ’ne Stadt denn?“

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Das Prinzip der Montage in der Collage wird in 2 frühen Ölgemälden von George Grosz als Verfahren der Bildkomposition eingesetzt. In seinen Ölgemälden wie Deutschland, ein Wintermärchen (1918) werden einige welthaltige Bildelemente ausgeschnitten und andere mit der Akribie der Schere aus Medien ausgeschnitten, um mit großer, fast fotorealistischer Genauigkeit gemalt zu werden. Die Montage gilt einer Wissensvermittlung durch Bild und Text, wenn Grosz gegen Abschluss des großformatigen Gemäldes von 215 x 132 cm im Gespräch mit Harry Graf Kessler im Atelier in Südende am 5. Februar 1919 vermerkt, dass jener ihm gesagt habe, „dieses Bild“ sei „so gedacht, dass es in den Schulen aufzuhängen“ wäre.[6] Deutschland, ein Wintermärchen wird nicht nur aus Zeitschnipseln in Öl sukzessive montiert, es soll das installierte Literatur- und Geschichtswissen auch an Schüler*innen vermitteln. Die Montage erhält aus einem spielerischen Verfahren die Funktion der Wissensvermittlung.

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Das Gemälde Deutschland, ein Wintermärchen gilt als verschollen nach Ralph Jentsch.[7] In der Ausstellung wird eine kleinere Autotypie aus der Sammlung der Akademie der Künste neben einem Bildschirm in halber Originalgröße gezeigt, auf dem die einzelnen Bildelemente wie der zentrale Bürger in ans Militär oder die Polizei erinnerndem grünen Jackett mit Messer und Gabel am Tisch und Zeitung auf demselben eingeblendet werden. So wird das Verfahren der Montage im Ölgemälde visuell nachvollziehbar. Die gemalten Bild- und Fotoschnipsel, ausgeschnittene Zeitungsseiten und Lebensmittelmarken z.B. werden in ihrer Wissensfunktion ausgeschnitten, geklebt und anders, entgegen Diskurs- und anderer Regeln zusammengefügt.

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Gleich einer Art Schnappschuss, den es wegen längerer Belichtungszeiten in der Fotografie um 1919 nur ansatzweise gibt, liegt auf dem Tisch neben Bierglas, Bierflasche und Lebensmittelmarken eine Ausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers vom 21. Dezember 1918 mit der Schlagzeile Eine Republik Oberschlesien?[8] Der geklebte Zeitungsausschnitt, der schräg eher für die Betrachter*innen ins Bild gedreht wird, um den epochalen Wechsel vom Kaiserreich in eine Republik zu versprechen, als dass der wohlgenährte Bürger darin lesen könnte, macht das Gemälde zu einem genau datierbaren Zeitbild. Malen und Kleben existieren als Praktiken simultan im Öl. Bedrängt wird der Bürger von einem von rechts bzw. für ihn von links heranstürmenden Matrosen, als sei er ein Geist und Abgesandter des Kieler Matrosenaufstands vom 3. November 1918. Für ihn von Rechts naht sich eine barbusige Frau mit Kurzhaarschnitt, auch bekannt als monarchistische Geschlechterrollen durchbrechender Bubikopf, die ihm in verführerischer, vielleicht befreiender Absicht eine winzige Hand auf die Schulter zu legen scheint. Schrift- und Bildelemente generieren ein splitterartiges Zeitwissen vom Ende des Kaiserreichs.

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Die Staatsvertreter am unteren Bildrand – Pfarrer mit Bibel, General mit Eiserenem Kreuz und Deutschlehrer mit einem Band „Göthe“ unter dem rechten Arm und Rohrstock in der linken Hand – werden von dem Schriftzug „Papestr“ ergänzt. Das Schriftfragment „Papestr“ am oberen Ende des Rohrstocks und mit ihm ließe sich zwischen Bild und Schrift in Papestrafe vervollständigen oder in Papestraße. Denn an der General-Pape-Straße in Tempelhof-Schöneberg lag zunächst mit dem Tempelhofer Feld ein Exerzierfeld, das bald von Kasernen des Eisenbahnregiments Nummer 2 neben den Eisenbahnlinien in den Süden ergänzt wurde. Damit ließe sich „Papestr“ umgangssprachlich in Papestraße als Hinweis auf das Militär als im 1. Weltkrieg vorherrschende Macht lesen. Grosz dürfte auf dem Weg zu seinem Atelier in Südende vom Anhalter Bahnhof kommend die Kasernen an der General-Pape-Straße häufig passiert und wiederholt aus der Bahn gesehen haben. Die Montage aus Text- und Bildelementen im Ölgemälde lässt sich insofern als eine Komposition vielschichtigen politischen, persönlichen und sozialen Wissens bedenken.

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Die Ausstellung wartet mit einem umfangreichen Collagenwerk auf, das ebenso die Wiederverwendung von Bildelementen in anderen Kontexten nachvollziehbar macht. Für seine Schaffenszeit zwischen 1917 und 1946 wählte Grosz den im Englischen die Homophonie von „Piece“ und „Peace“ ironisch nutzenden Titel A Piece of My World in a World Without Peace. So werden nicht zuletzt für die Ausgabe 6 der Satirezeitung Die Pleite 1920 Pfarrer, Militär und Lehrer aus dem Ölgemälde Deutschland, ein Wintermärchen für die Rückseite im Druck prominent wiederverwendet.[9] Die zeitgenössischen Drucktechniken des Malik-Verlages erlauben Modi der Wiederholung und Variation. Aus dem Ölgemälde als Zeitbild ist ein Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und Verwertung geworden, was Walter Benjamin erst 1935 formulieren sollte. Die, sagen wir einmal, gemalten Stützen der monarchistischen Gesellschaft sind bei George Grosz und John Heartfield von Anfang an in Prozesse der Wiederholung und Verwertung eingebunden. An den Collagen und Montagen in Öl wird nicht nur der Verlust der „Aura“ exemplarisch vorgeführt, er wird zugleich für andere Praktiken genutzt.
„Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. […] Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind »Wortsalat«, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringung, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrücken.“[10]

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Walter Benjamin formuliert mit der „rücksichtslose(n) Vernichtung der Aura“ mit Hans Arp als Vertreter des Dadaismus eine Kritik der Reproduktion, die sich bei George Grosz bereits im Ölgemälde mit Prostituierter, Zeitung, Lebensmittelmarken, „Papestr“, „Göthe“, „KAISER“, „OSRAM“ etc. ins Auratische gebahnt hatte. Das macht die bahnbrechende Funktion von Deutschland, ein Wintermärchen aus. Das postrevolutionäre Zitat des Gedichtes von Heinrich Heine als Titel des Ölgemäldes verpasst in paradoxer Hinsicht einerseits das historische Ereignis. Der Titel verfehlt und benennt das revolutionäre Ereignis. Andererseits ist es nicht nur „»Wortsalat«“, vielmehr verdichtete Zeitgeschichte, wenn „KAISER“ und „OSRAM“ nah beieinander, oben rechts wie Warenzeichen oder Markennamen in Majuskeln ins Bild gesetzt werden. Das Kofferwort OSRAM aus den Namen der chemischen Elemente Osmium (Os) und Wolfram (W) für das zeitgenössische, damals hochmoderne Lichterzeugungsmittel Glühbirne wird zum noch heute verbreiteten Markennamen, obwohl Glühfäden per Gesetz als umweltschädlich eingestuft wurden. Wie Peter Schamoni mit seinem Dokumentarfilm Majestät brauchen Sonne – Wilhelm II. (1999) gezeigt hat, verstand es der Kaiser sehr gut, seine Person als Marke für Fotografie und Film ins rechte Licht zu setzen.[11]

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Das Politische und das Private durchdringen einander bei Grosz gerade mit und in der Collage. Das wird besonders an TEXTURES deutlich, welche in das George-Grosz-Archiv der Akademie der Künste gelangt sind. Rosa von der Schulenburg widmet dem gebundenen Unikat erstmals eine intensive Lektüre. TEXTURES ist mit Wasserfarbe in einer Art weißblauen Wolke in Majuskeln in Dunkelblau über den Leineneinband eines Bildbandes von Hand geschrieben. Es empfiehlt sich, den Einband auf eine derart mikrologische Weise zu beschreiben. Denn der ursprüngliche Titel „Renoir“ von Hand in Gold ist nicht einfach bis zur Unlesbarkeit übermalt, sondern in Gold nachgezogen. Unter der Übermalung und Überschreibung sollte so rein praktisch die Herkunft lesbar bleiben. Als Titelbild fungiert eine Collage aus einem Modemagazin für Haarschnitte und dem Teil einer Hand, die durch das Haar fährt, als öffne sie Haar und Schädel einer eleganten Frau mit Perlohrring und zweireihiger Perlenkette. Über der rechten Schulter ist eine kleine „67“ gedruckt, die einen Wink auf die Katalogfunktion des Bildes mit Legende gibt. Das quadratische Bild ist derart eingerissen, dass der blaugraue Einband so sichtbar wird, als entsteige dem Frauenkopf, dem Denkorgan Gehirn wie in einem Comic TEXTURES.[12]

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Erst auf Seite 2 mit dem sogenannten Schmutztitel lautet dieser nun „THE Musterbook Tex (Bildobjekt) es“. Titel und Schmutztitel lassen ein höchst ausgeklügeltes Verfahren von Texturen entstehen. Denn im Schmutztitel wird der Titel teilweise überklebt, als solle der Titel auf dem Einband erinnernd gelesen werden. Unter der Collage des Schmutztitels schimmert noch teilweise die Struktur des Titelblatts „The Four Seasons“ der Zeitschrift The New Yorker vom 4. Januar 1941 durch.[13] In der Abfolge von Titel und Schmutztitel im Buch wird der mit einer Bildrolle teilweise überklebte Titel erst erinnernd lesbar. Verschiedene Texturen werden übereinandergelegt. Das Verfahren aus Zeigen und Verstecken gibt einen Wink auf Sigmund Freuds Notiz über den „Wunderblock“ von 1925. In dem Text geht es bekanntermaßen über ein Verfahren des Gedächtnisses und dem „Wunderblock“ als Modell des „Erinnerungsapparates“. „Wenn ich mir nur den Ort merke, an dem die so fixierte „Erinnerung“ untergebracht ist, so kann ich sie jederzeit nach Belieben „reproduzieren“ und bin sicher, daß sie unverändert geblieben, also den Entstellungen entgangen ist, die sie vielleicht in meinem Gedächtnis erfahren hätte“, schreibt Freud einleitend für die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse.[14]

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Die von Freud eingehend formulierte Hoffnung auf eine gleichsam wie mit einer Fotografie „fixierte „Erinnerung““ sollte sich im Fortlauf des Textes nicht bestätigen, vielmehr wurde er für Jacques Derrida mit seinem Text Freud und der Schauplatz der Schrift zu einer Rechtfertigung seiner Grammatologie. Die Vielgestaltigkeit der Texturen und die Prozessualität der Schrift wird von Derrida für Freud besonders herausgearbeitet, so dass sie einen Wink für TEXTURES geben kann. Privat, intim, geradezu und hochpolitisch zugleich formuliert Derrida eine „Eigentümlichkeit der logisch-zeitlichen Beziehungen“ nicht nur für den Traum.
„Wir sollten deshalb nicht überrascht sein, wenn Freud, um die Vorstellung für die Eigentümlichkeit der logisch-zeitlichen Beziehungen im Traum zu erwecken, ständig die Schrift, die räumliche Synopsis des Piktogramms, den Rebus, die Hieroglyphe und die nicht-phonetische Schrift ganz allgemein zu Hilfe nimmt: Synopsis, nicht aber Stasis: Szene nicht Gemälde.“[15]

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TEXTURES war, wie Rosa von der Schulenburg vorausschickt, für eine „öffentliche Präsentation oder einen Verkauf“[16] von Grosz kaum vorgesehen und ist seiner Intimität und politischen Brisanz eng mit dem Traum verknüpft. Die Veröffentlichung in digitalisierter Form auf einem Bildschirm neben dem Original in der Ausstellung und die umfangreiche Dokumentation im Katalog durchbricht hinsichtlich des „Musterbook(s)“ als Traumbuch gewisse Grenzen des guten Geschmacks, zumal es Grosz offenbar mit seinen vielfältigen Collagen von Speisen und Getränken, Körpern und Körperteilen unbedingt um die Überschneidung des Visuellen mit dem Geschmack und der Erinnerung geht. Aus Illustrierten etc. ausgeschnittene und oft überarbeitete Augenpaare werden zu einem entscheidenden Muster der Texturen:
„Auf einer der collagierten Auftaktseiten hat Grosz einem großen, gebratenen Schinken sowie einem Rinder- und einem Kalbsbraten jeweils ein Auge implantiert, und ein weiterer Braten schaut mit Brille in die Ferne (…). In diesem üppigen fleischlichen Angebot unter anderem mit „Swift’s Premium Ham“ (…), Bacon und einer doppelstöckig mit Würsten belegten Platte mit Reisrand, steht von des Künstlers Hand der Kommentar „The ham has eyes“, versehen mit einem Pfeil, der auf das interessiert blickende männliche Augenpaar hinter den Brillengläsern deutet, als würde dieses stellvertretend für Grosz das Wort an uns richten.“[17]      

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Die Collagen von George Grosz, nicht zuletzt in TEXTURES, schwanken zwischen Lust und Schrecken. Damit kommen sie den Modi des Traums im Schlaf nahe. Bilder werden ins Monströse verkehrt. Größenverhältnisse verdreht. Die Anwesenheit von Einzelaugen und Augenpaaren teilt die Lust mit dem Träumenden und wird für den Traumbetrachter zugleich bedrohlich. Im Traum werden die Schlafenden ständig von entstellten und verstellten, eigensinnigen Wissensformationen heimgesucht. Denn der Traum ist immer so tief, wie der Verstand reicht. Erinnerungswissen verfolgt den Träumenden ständig in seiner Ambiguität. Rosa von der Schulenburg analysiert das teilweise bis zum Kollaps angespannte Verhältnis von Begehren, Lust und Ekel in TEXTURES. Damit kommt sie den Collagen George Grosz intensiv auf die Spur. Dada, Ereignis, Revolution, Lust und Schrecken haben vermutlich mehr miteinander zu tun, als es sich die Akteure des Dadaismus anfangs eingestehen wollten.

Torsten Flüh

Das kleine Grosz Museum
George Grosz
A Piece of My World in a World Without Peace
Die Collagen
bis 3. Juni 2024
Bülowstraße 18
10783 Berlin

Katalog:
Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.):
George Grosz
A Piece of My World in a World Without Peace
Die Collagen.

Köln: Walter König, 2024
35,- EURO


[1] Zitiert nach Ausstellungstext. Ganzer Text: George Grosz: Randzeichnung zum Thema. Blätter der Piscatorbühne 3, Berlin 1928. In: Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George Grosz – A Piece of My World in a World Without Peace – Die Collagen. Köln: Walter König, 2024, Vorsatzblatt.

[2] Siehe Wortverlaufskurve 1600 bis 2000 für Entdeckung (DWDS)

[3] Statt einer konkreten Beschreibung entwickelt sich Grosz‘ Text zu einer humoresken Eloge auf Erwin Piscator als Theatermacher. Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1]

[4] Siehe Torsten Flüh: „Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ oder John Heartfields visuelle Kombinatorik. Zur bahnbrechenden Ausstellung John Heartfield – Fotografie plus Dynamit in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juni 2020.

[5] Siehe: Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1] S. 94

[6] Zitiert nach: Ralph Jentsch: Deutschland, ein Wintermärchen von George Grosz. Wo ist das Bild? In: Ebenda S. 84.

[7] Das Centre Pompidou führt George Grosz als Bestand in seiner Internetpräsenz auf. Ressources.

[8] Siehe auch: Ralph Jentsch: Deutschland … [wie Anm. 6] S. 86.

[9] Siehe Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1] S. 101.

[10] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In:  Walter Benjamin – Gesammelte Schriften Band I, Teil 2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 501-502.

[11] Zur Frage von Revolution und Kaiser Wilhelm II. siehe auch: Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.

[12] Rosa von der Schulenburg: „The ham has eyes“ Textures. The Musterbook von George Grosz. In: Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1] S. 13 und S.15.

[13] Ebenda S. 14.

[14] Sigmund Freud: Notiz über den „Wunderblock“. Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 10 (1), 1924, S. 1-5. — Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 387-91. (Online Textlog)

[15] Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 331.

[16] Rosa von der Schulenburg: „The … [wie Anm. 12] S. 14.

[17] Ebenda S. 15 – S. 16.

Sehnsucht nach einem Ich und Du

Lied – Sehnsucht – Poesie

Sehnsucht nach einem Ich und Du

Zu Lieder und Dichter*innen: Nur wer die Sehnsucht kennt mit Yoko Tawada im Foyer der Deutschen Oper

Das Format Lieder und Dichter*innen im Foyer der Deutschen Oper gibt es bereits seit Jahren als Kooperation mit dem Haus für Poesie. Vier Sänger*innen begleitet von John Parr am Flügel singen Lieder, zwischen denen Gedichte von zeitgenössischen Dichter*innen gelesen werden. Am wenig opernhaften Dienstag, den 27. Februar 2024 las Yoko Tawada in Russisch, Deutsch und Japanisch geschriebene Gedichte, während im ersten Teil der Bariton Artur Garbas von verschiedenen Komponisten vertonte Gedichte Aleksandr Sergejewitsch Pushkins sang. Nach einer Lesung setzte die junge, aufstrebende Sopranistin Maria Motolygina mit Liedern von Pjotr Iljitsch Tschaikowskij den Abend fort. Im zweiten Teil folgten die puertorikanische Sopranistin Meechot Marrero mit Liedern Tarik O’Regans und Kyle Miller mit Liedern aus den Cabaret Songs von William Bolcom.

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Zwischen den Liedern und Gedichten ergeben sich im glücklichen Fall Korrespondenzen, so wie es mit Tschaikowsky als Liedkomponist und der Nennung seines Namens in Gedichten von Yoko Tawada geschah. Jörg Königsdorf (Deutsche Oper) und Matthias Kniep (Haus für Poesie) begrüßten die Gäste und moderierten den Liederabend an. Auf einer Ebene werden in dieser Saison Kompositionen aus Russland denen aus USA gegenübergestellt. Während es sich allerdings bei den amerikanischen Komponisten Tarik O’Regan und William Bolcom um zeitgenössische handelt, komponierten die russischen ihre Lieder im 19. Jahrhundert. Aleksandr Sergejewitsch Puschkin nahm dabei mit Gedichten eine besonders starke Rolle ein. Der Titel der Veranstaltung wurde mit Nyet, tolka tot von Tschaikowskij komponiert, von Maria Motolygina gesungen und stammt eigentlich von Johann Wolfgang von Goethe: „Nur wer die Sehnsucht kennt,/Weiß, was ich leide!“

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John Parr gestaltet und betreut das Format Lieder und Dichter*innen, in das er seine reichen Liedkenntnisse einfließen lässt. Die Komponisten Tarik O’Regan und William Bolcom kenne er persönlich, verriet er vor dem zweiten Teil. Während Tschaikowskij mit dem meistgespielten Ballett Schwanensee ein weltweit geläufiger Name ist, hört man in Deutschland doch eher selten seine Lieder auf Russisch. Ähnlich geht es mit Puschkin, dessen von Aleksander Sergeyewich Dargomizskij, Michael Iwanowitsch Glinka, Alexander Porfirjewitsch Borodin und César Cui zu Liedern komponierte Gedichte noch seltener in Russisch zu hören sind. Doch Alexander Sergejewitsch Puschkin machte die russische Sprache aller erst zur nationalen Literatursprache, nachdem Napoleon 1812 Moskau mit seiner Armee nicht nur erobert, sondern niedergebrannt hatte. Die Bildungs-, Politik- und Wissenschaftssprache des 18. Jahrhunderts, Französisch, war dadurch nicht mehr ohne Kränkung zu verwenden.

#gezett

Der Liederabend mit seinen Lesungen war insofern einer, in dem die Sprachpolitik des beginnenden 19. Jahrhunderts mehr als nur durchschimmerte. Puschkin wird zum Nationaldichter, weil er nicht zuletzt in seiner Lyrik einen neuen Klang des Russischen entwickelt und neue Geschichten entstehen lässt. Russland als moderne Nation wird vor allem durch eine neuartige Praxis der russischen Sprache von Puschkin literarisch entfaltet. Deshalb komponierten gleich mehrere russische Komponisten seine Gedichte zu Liedern. Die russische Musiksprache bildet sich an der Dichtung Pushkins. So komponierte Alexander Porfirjewitsch Borodin Pushkins „Heimat“-Gedicht Dlya beregov othizni dal’noy (Nach deiner Heimat fernen Thalen), das Artur Garbas leidenschaftlich sang.
„Zogst du aus diesem fremden Land …
O Trennungsstunde voller Qualen,
Da ich laut weinend vor dir stand!
Es wollten meine kalten Hände
Zurück dich halten mit Gewalt,
Und stöhnend fleht ich: „Bleib … o, ende
Des Abschieds Schmerzen nicht so bald!““[1]

#gezett

Die Dimension des Poetischen ebenso wie Tragischen klingt bereits in der ersten Strophe des „Abschieds“ an, wobei das Geschlecht der beiden Subjekte Du und Ich undeutlich bleibt. Nimmt hier eine Freundin Abschied von einem Freund, der in seine „Heimat“ ziehen will? Oder nimmt ein Freund von einem Freund Abschied? Die Frage der Übersetzung eingerechnet, fällt an dem Gedicht auf, dass die Frage der Heimat und des Abschieds leidenschaftlich artikuliert wird. Wenn ein Bariton singt „Du aber rissest wie im Schauer/Von meinem Mund die Lippen los“ und „Vermählt im heißen Kuss aufs neue, Geliebter, uns der Liebe Macht!“ dann geht es hier zumindest um eine glühende, vielleicht auch für die „Heimat“ glühende Liebe unter Männern. Der Freund stirbt, ohne dass Heimat und Liebe eingelöst würden. Die Vieldeutigkeit des Poetischen wird nicht aufgelöst.
„All deine Schönheit, all dein Leiden
Verschließt der schwere Grabesstein,
Auch den versprochnen Kuss beim Scheiden –
Du schuldest ihn … ich harre dein!“[2] 

#gezett

Длйа берегов отхизни дал’ной /Dlya beregov othizni dal’noy – der Abschied in die Heimat wird auf poetische Weise aufgespart. Ob das Du seine Heimat gefunden hat, wissen wir nicht. Vielmehr bleibt ein wartendes Ich am Schluss zurück. Derartig paradoxe Formulierungen werden in der Literaturgeschichte häufig mit dem Epochenbegriff Romantik umschrieben, benannt. Doch einerseits geht es hier mit der Heimat auch um eine Nation, die russische, die sich noch nicht gefunden hat oder nicht in „Olivenhainen“ finden lässt, die aber wie ein Kuss versprochen worden ist. Und andererseits ist weder Pushkin noch Borodin in Moskau und St. Petersburg klar, wie weit sich die russische Nation, die sich durch Sprache und Geschichten bilden soll, reichen muss. Moskau und St. Petersburg sind einmal abgesehen von dynastischen Verbindungen mit Preußen auch mit Alexander von Humboldt z.B. in der Debatte über einen Platin-Rubel finanzpolitisch näher an Berlin und Preußen als z.B. an Bolgar am Wolgaufer in der heute autonomen Republik Tatarstan. Allein die Wolga wird zu einem nationalpolitischen Einzugs- und Kontrollproblem, wenn man sich an Janet Hartleys Mosse-Lecture Taming the Volga: Imperial Policies to Control Nature, People and Beliefs erinnern will.[3]    

#gezett

Pushkins Urgroßvater mütterlicherseits, Abraham Petrowitsch Hanibal, kam als Sklave aus vermutlich Eritrea an den Hof Zar Peter des Großen, was bei der Frage der Nation und des Nationaldichters vielleicht nicht ganz vergessen werden sollte. Zumal Pushkins Roman рап Петра Великого/ Arap Petra Welikowo (Der Mohr des Zaren) Fragment geblieben ist. Das Ringen um die Sprache und die Nation ist mit Pushkin weitaus ambivalenter als z.B. bei Johann Wolfgang von Goethe. Die jugendlichen Dichtungsversuche von Pjotr Iljitsch Tschaikowskij seinerseits wurden gut 40 Jahre später hoffnungsvoll mit Puschkin verglichen und an ihm gemessen. Tschaikowskijs durch Fotos mit Iosif Kotek dokumentierte performative Homosexualität wäre heute in Putins Moskau nicht nur zutiefst verdächtig, sondern strafbar bis zum Straflager Polarwolf. Wohl der russischen Nation, die weniger vielschichtige Nationaldichter und -komponisten hätte.

#gezett

Ivan Surikov, dessen Йа ли в поле да ре/Ya li v pole da re (War ich nicht wie Gras auf der Wiese?) Tschaikowskij als Romanze komponierte, wurde im eher ländlichen Uglitsch am Oberlauf der Wolga geboren, kam schon als Kind nach Moskau und wird als Volksdichter in dem Maße rezipiert, als er sowohl Volkslieder sammelte wie auch dichtete, die wiederum als originäre Volkslieder tradiert werden. Йа ли в поле да ре wird von Tschaikowskij als Romanze in Anlehnung an ein spanisch-romanisches Kompositionsschema zu einem höchst kunstvollen Lied komponiert, das wie durch Maria Motolyginas Vortrag hörbar wurde, sehr hohe Ansprüche an die Phrasierung wie die Stimme stellt. Das folkloristische Kunstlied ist insofern eher für den Salon als für den Dorfplatz komponiert. Gleichwohl lehnt sich ein weibliches Ich gegen die „traditionelle“ Verheiratung „mit einem grauhaarigen, ungeliebten Mann“ auf, ohne daran etwas ändern zu können. Vielmehr wird die wirtschaftlich kalkulierte und als Verrat empfundene Verheiratung als „elendes Schicksal“ musikalisch beeindruckend komponiert:
„War ich nicht die Tochter meines Vaters?  
War ich nicht das kleine Blümchen meiner Mutter?
Sie nahmen mich gegen meinen Willen
[und] vermählten mich mit einem grauhaarigen,
ungeliebten Mann.
Oh, mein Unglück!
Oh, mein elendes Schicksal!“[4]

#gezett

Die als originär russisch formulierte unglückliche Tiefe des unabwendbaren Schicksals wird um 1878 nicht zuletzt von Surikov und Tschaikowskij kultiviert. Sie wird die Signatur des Russischen als Mythos von der Vergeblichkeit, soziale Verhältnisse ändern zu können oder ändern zu wollen. Die ländlich naturverbundene Tochter formuliert ihr Schicksal mit dem Naturbild vom „Gras auf der Wiese“, von der „goldene(n) Rose auf der Wiese“, als müssten sich alle Töchter dem gleichen Schicksal als natürlich ergeben. Das folkloristisch-melodische Volkslied vermag im Salon Gefühle zu erregen, die als unabwendbar normalisiert werden. Zumindest Йа ли в поле да ре von Surikow/Tschaikowskij gibt damit einen Wink auf, sagen wir, das Paradox des Russischen in der Moderne, das im höchsten Maße literarisch und musikalisch kultiviert werden musste. Weit entfernt, das Paradox des Russischen wahrnehmen zu können und zu wollen, hat Wladimir Wladimirowitsch Putin der „westlichen“ Kultur den Krieg erklärt, um das Russische als Mythos der europäischen Moderne zu retten.[5]  

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Die russische Nation, die so eng u. a. von Puschkin, Surikov und Tschaikowskij verknüpft worden ist und mit diesen verkoppelt wird, lässt sich schon wegen des Nationalgedankens aus der Französischen Revolution und dem nationalen Erbe wie Kulturerbe nicht als irgendetwas Natürliches abkoppeln, wie es unter anderem mit dem Kultur- und Literaturwissenschaftler Stefan Willer, Kulturelles Erbe. Tradieren und Konservieren in der Moderne (2013), bedacht werden kann. Am „ Ausgangspunkt des modernen Konzepts vom nationalen Kulturerbe (stehen) Praktiken der militärischen Expansion und des Beutemachens, der Ent- und Aneignung“.[6] Insbesondere der erste Teil des Liederabends mit Lesung lässt sich nicht ohne Kontextualisierung und Nachforschung besprechen. Leider wurde von John Parr dazu nichts gesagt, obwohl die Lieder doch eine Art Kernkultur und kulturelles Erbe des Russischen darstellten bzw. behaupten. Ziemlich hart wurden stattdessen Yoko Tawadas Zwölf Monde für Tschaikowski dagegen geschnitten.
„Januar
Der Geist aus jener Zeit
Призрак, freeze!
Beruhige dich, please
Der Karate-Krieg ist vorbei
Längst passé die Glanzkontrolle
Zwei Welten wie Tag und Nacht  

Unbequeme Stille, zerreißend stumm
Wer ist stärker, Sehnsucht oder Groll?
День ли царит, тишина ли ночная,
День, day, Tag, dark,
Aus dem Fluss der Ungeborenen
Nimmt das Kind ein Glas voll Finsternis mit
Je mehr du das Dunkle wegschüttest
Desto tiefer herrscht die Nacht“[7]

#gezett

Yoko Tawada, die an der Waseda Universität Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Russische Literatur studierte und zu Beginn der 80er Jahre mit der Transsibirischen Eisenbahn von Japan über Wladiwostock nach Europa kam, als die Sowjetunion noch existierte und ein KGB-Offizier sich nach Marcel Beyer pedantisch im Dresdner Anglerverein engagierte[8], zitiert nicht nur „Призрак“ (prizrak), vielmehr weiß sie um den „Geist aus jener Zeit“, in der Tschaikowskij komponierte. Sie zitiert in ihren Gedichten das Russische mit Kalkül. „День ли царит, тишина ли ночная,“ (den lee tsarit, tishina lee nochnaya,) deutsch: „ob der Tag regiert oder die Stille der Nacht,“ ist der erste Vers von Aleksej Nikolajewitsch Apukhtins Gedicht Kann es Tag sein?, das Tschaikowskij ebenfalls als Romanze komponiert hat und das Maria Motolygina bravourös gesungen hatte. In Tawadas Gedicht wird „День“ durch die wiederholende Reihung mit „day“ und „Tag“ klanglich zu „dark“. Doch das Dunkel (dark) lässt sich poetologisch ebenso als einen dunklen oder gar schwarzen Tag denken. Der Gegensatz von Tag und Nacht, wie er im 19. Jahrhundert zu funktionieren schien, wird von Tawada mit dem „Dunkle“ zwischen den Sprachen eher pessimistisch aufgelöst.

#gezett

Mit der zweiten Strophe des Gedichts Januar schreibt Yoko Tawada eine pessimistische Paraphrase auf Apukhtins Gedicht und Tschaikowskijs Romanze. Denn bei Apukhtin/Tschaikowski „Ist er gleiche Gedanke,/ ein schicksalhafter Gedanke –/ Immer an dich!“[9]. Und ebenso hoffnungsvoll liebend wie die Erfüllung aufschiebend endet im Russischen das Gedicht auf: „Meine Gedanken und Gefühle,/ Lieder und Kraft/ Sind alle für dich!“[10] Das dichtende Ich adressiert sich in Liebe an ein Du, das zwischen Geliebter, Geliebtem und Nation zirkuliert, mit der Hoffnung, dass es Tag in einem Erwachen oder einer (religiösen) Erweckung werden möge. Diese Hoffnung auf den Tag lässt sich bei Tawada nicht mehr lesen, wenn sie das Paradox „Je mehr du das Dunkle wegschüttest/Desto tiefer herrscht die Nacht“ formuliert. Dem Dunkel lässt sich nicht mehr entkommen, ließe sich sagen. Die, vielleicht passt hier, romantische Hoffnung auf Erfüllung als Erweckung des 19. Jahrhundert, „Der Geist aus jener Zeit“, „Призрак“, will nicht mehr als Versprechen funktionieren.

#gezett

Der Gedichtzyklus Zwölf Monde für Tschaikowski endet mit dem Gedicht Die Möwe im Dezember. Tawada arbeitet in ihm einen Teil der russischen Literatur und Musikliteratur des wohl berühmtesten Komponisten Russlands durch. Doch die Reinheit des Russischen, der Herkunft aus dem Russischen, ist bei Pushkin wie bei Tschaikowskij porös. Darauf gibt gerade das Gedicht Die Möwe[11] einen Wink, wenn Tawada mit „Чайка, der Familienname des/Großvaters, der sich von einem Beflügelten/In einen Bürger verwandelte/Tschaika f ski“ an die Herkunft erinnert. Denn die Möwe, „Чайка“, also „tschaika“, ist zumindest nach dem derzeitigen Stand ukrainischer Herkunft: „Väterlicherseits stammte er aus der ukrainischen Familie Tschajka.“[12] Yoko Tawada formuliert die Herkunft des Familiennamens poetologisch als Chance auf eine „unbekannte Zeitzone“ jenseits einer Dichotomie von Tag und Nacht, womit sie nicht zuletzt Apukhtins Frage „Kann es Tag sein?“ vom Anfang eine andere Wendung gibt.
„Fliegt weit über den gefrorenen Ohren
In Richtung der unbekannten Zeitzone
Dort herrscht weder Nacht noch Tag“[13]

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Der Berichterstatter versteht sich kaum als Slawist, so dass es ihm undeutlich bleibt, ob es sich bei der Transformation von Tschaika in Tschaikowski um eine Russifizierung des Namens oder eine Polonisierung handelt. Familiengeschichtlich erinnert er sich nur daran, dass nach 1945 die Schreibweise des Familiennamens Salewski mit ski oder sky in Polen zu einer Frage des Bleiberechts und der Staatsangehörigkeit wurde. Die Schreibweise ski wurde als deutsche und skypsilon als polnische bestimmt. Die Normierung von Schreibweisen eines Familiennamens wird seit dem 19. Jahrhundert indessen wiederholt zur Frage nationaler Zugehörigkeit.[14] Der Hinweis auf die ukrainische Herkunft der Möwe findet sich in dieser Ausführlichkeit indessen nur im deutschsprachigen Eintrag bei Wikipedia. Die Transformation von Familiennamen in andere Sprachen wird nicht zuletzt in den USA häufig geübt.

#gezett

Die Frage nach dem Russischen und der Nation, nach der Möwe und Tschaikowski wurde im Prozess der Berichterstattung wichtiger. Darin besteht die Eigentümlichkeit meines Berichtens, dass ich zuvor nie weiß, worauf das Berichten hinausläuft. Die russischen Lieder schienen sich im Kunstformat eines salonhaften Liederabends fast von selbst zu verstehen. Doch sie erwiesen sich als viel brisanter und fragwürdiger als die amerikanischen. Nachgehört wurden sie in der Konstellation mit den Zwölf Monde(n) für Tschaikowski von Yoko Tawada nicht nur zu einer poetologischen Frage, sondern zu einer des Dichtens und der politischen Haltung. Deshalb muss der zweite Teil allein wegen des Umfangs der Erstattung leider entfallen, obwohl er sich gewiss genauer bedenken ließe. Doch soviel kann gesagt werden, unter dem Lable des Russischen entfaltet Wladimir Wladimirowitsch Putin in seinen Reden seine Aggression gegen „den Westen“. Davon lässt sich in diesen Zeiten ob in der Oper, der Poesie oder dem Cabaret gegenwärtig nicht absehen. – Der amerikanische Teil des Abends war nicht weniger großartig, aber doch entschieden anders. Und Yoko Tawadas Unsichtbare Seen sollen nicht vergessen werden.

Torsten Flüh

Lieder und Dichter*innen:
Here, Bullet

mit Sua Jo, Karis Tucker, Andrei Danilov, Thomas Lehmann, John Parr
Texte von Eugene Ostashevsky
Deutsche Oper Berlin, Tischlerei
10. April 2024, 20:00 Uhr


[1] Alexandr Sergejewitsch Pushkin: Dlya beregov othizni dal’noy (Nach deiner Heimat fernen Thalen). Zitiert nach Programmheft: Lieder und Dichter*innen: Nur wer die Sehnsucht kennt. Liederabend im Foyer 27. Februar 2024, 20:00 Uhr. Berlin: Deutsche Oper, S. 7.

[2] Ebenda.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Wechselvolle und dramatische Klimaveränderungen an der Wolga. Janet Hartleys Mosse-Lecture Taming the Volga: Imperial Policies to Control Nature, People and Beliefs. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Juni 2022.

[4] Zitiert nach Ivan Surikov: War ich nicht wie Gras auf der Wiese? In: Lieder … [wie Anm. 1] S. 9.

[5] Zur Frage des Russischen und Putins legendären Koch Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin  siehe u.a.: Torsten Flüh: Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne. Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2022.

[6] Stefan Willer: Kulturelles Erbe. Tradieren und Konservieren in der Moderne. In: Stefan Willer, Sigrid Weigel, Bernhard Jussen (Hrsg.): Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 165.

[7] Yoko Tawada: Zwölf Monde für Tschaikowski. (unveröffentlichte Datei 2024).

[8] Siehe auch: Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[9] Aleksej Nikolajewitsch Apukhtin: Kann es Tag sein? In: Lieder … [wie Anm. 1] S. 9.

[10] Ebenda.

[11] Yoko Tawada: Zwölf … [wie Anm. 6].

[12] Siehe Wikipedia: Pjotr Iljitsch Tschaikowski. (Wikipedia.de)
Vergleiche auch: Piotr Iltich Tchaïkovski. (Wikipedia.fr)

[13] Yoko Tawada: Zwölf … [wie Anm. 6].

[14] Zum Familiennamen und der Russifizierung von ukrainischen Namen siehe: Torsten Flüh: Kriegswinter in Europa. Zu Sich waffnend gegen eine See von Plagen auf Ukrainisch und Deutsch im Globe der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Dezember 2022.

Vor und nach dem Schlaf

Erwachen – Schlaf – Schlaflosigkeit

Vor und nach dem Schlaf

Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung

Der Schlaf wird eng verknüpft mit der Frage des Wissens. Darauf machten die beiden Mosse-Lectures von Samantha Harvey mit Brain on Fire: Insomnia and Sleepwriting und Michael Hochgeschwender mit Evangelikalismus und wokeness: Zur gesellschaftlichen Funktion der Semantik des Erwachens als andere Seiten des Schlafes aufmerksam. Samantha Harvey hatte 2020 ihr Buch The Sleepless Unease: A Year of Not Sleeping veröffentlicht, das 2022 als Das Jahr ohne Schlaf in Deutsch erschienen ist. Die Übersetzung ins Deutsche wurde durch das Programm NEUESTART KULTUR anlässlich der Covid-19-Pandemie gefördert. In einem Dialog zwischen Ich und Freund schreibt sie von „Texte(n)“, die sie schreibe. Die Erfahrung einer andauernden Schlaflosigkeit pendelt zwischen einem Angst-Wissen und einem anderen Wissen beim Schreiben in Nächten ohne Schlaf.

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Michael Hochgeschwender eröffnete seine Mosse-Lecture mit einer Begriffskritik zu „Evangelikalismus“ und „wokeness“ als häufige Fremdzuschreibungen für Personen und Personengruppen in den USA, die ein Erwachen oder Erwecktwordensein bzw. eine Wachsamkeit für Rede- und Schreibweisen über marginalisierte Personen und Gruppen in Anspruch nehmen. Beide Begriffe beherrschen eine hitzige Kulturdebatte in den USA. Evangelikalismus spielt in der deutschen Debatte kaum eine Rolle, während der Begriff der Wokeness zum Kampfbegriff im konservativ-rechten Politikmilieu avanciert ist. In Berlin wird in diesem Jahr das 200jährige Jubiläum des Berliner Missionswerks von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) begangen, das aus einer einzigartigen Konstellation von Berliner Dom, Schloss und Universität hervorgeht. Frühzeitig wird die Mission mit einer theologischen Erweckung als Wissen verkoppelt.

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Stefan Willer stellte Samantha Harvey und ihre Texte zur Schlaflosigkeit wie das „Sleepwriting“ als einem Schreiben während Nächten ohne Schlaf vor, merkte die Multiperspektivität und die Temporalität in weiteren Texten und Romanen an. Die Schlaflosigkeit wird von Harvey in ihrem Buch und der Lecture als schwerer Mangel bis zur Erkrankung formuliert und in Beziehung zum Schreiben gesetzt. – „… niemand nahm mir den Stift aus der Hand, als ich, gut ausgeschlafen, anfing, über Schlaflosigkeit nachzudenken“.[1] Die „Erfahrung“ der Schlaflosigkeit verändert nicht nur das Leben, vielmehr setzt sie ein Schreiben in Gang, das eine Art fragmentarische Kultur- und Politikgeschichte der Insomnia in Großbritannien generiert. Sie zitiert u.a. die Studie Schlaflosigkeit nach dem Brexit: Auswirkungen direkter Demokratie auf die tagesrhythmischen Funktionen und den Thalamus von Smith, Carroll, Walsh et al..[2] Ängste und Emotionen spielen eine große Rolle im Zustand der Schlaflosigkeit. Doch ein Ursprung lässt sich schwer finden:
„Ich durchkämme meine Kindheit auf der Suche nach dem Ursprung meiner Schlaflosigkeit, ich will den einen Gedanken finden, das Ding, das Ereignis, das mich von einer Schläferin in eine Nicht-Schläferin verwandelt hat.“[3]

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Als Motto ihrer Lecture zitierte Samantha Harvey aus dem Original eine Formulierung, die eng mit der Frage des Wissens verknüpft wird. Wenn wir schlafen können, denken wir wenig über unseren Schlaf nach. Wir wissen wenig von unserem Schlaf. Es gibt ihn. Erst wenn wir den Mangel an Schlaf erfahren, z. B. in Großbritannien dadurch, dass der Brexit 2016 Schlaflosigkeit auslöste, was eine breitere Debatte auslöste, setzt ein Nachdenken ein.[4] Wie der Schlaf wird die Schlaflosigkeit politisch. Insofern gibt die als Motto von Harvey bezüglich der Ähnlichkeit von Schlaf und Geld einen politischen Wink:
„Schlaf. Schlaf. Wie über Geld denkst du auch über Schlaf nur nach, wenn du nicht genug davon hast. Je weniger du davon hast, desto mehr denkst du darüber nach. Schlaf wird zum Prisma, durch das du die Welt siehst, und alles existiert nur noch im Verhältnis zu ihm.“[5]

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Samantha Harveys Mosse-Lecture steht auf dem YouTube-Kanal zum Nach- und Wiederhören zur Verfügung, während an dieser Stelle das Verhältnis von Schreiben und Wissen angeschnitten werden soll. Denn im Buch wie in der Lecture nimmt das Schreiben eine wichtige Funktion ein. Einerseits zitiert Harvey zu Anfang einen Satz aus ihrem letzten Roman – „Bin ich auch Staub und Asche, so schlafe ich doch den Schlaf der Engel.“ –, von dem sie schreibt, dass sie „die Person nicht (kenne), die diesen Satz geschrieben hat“.[6] Damit stellt sich auch die Frage, was sie beim Schreiben weiß. Andererseits schreibt sie gegen Schluss, dass das Schreiben ihr – während der Schlaflosigkeit – „das Leben gerettet“ habe.
„Wenn ich schreibe, bin ich bei Sinnen, meine Nerven beruhigen sich. Ich bin bei Sinnen, ganz und gar bei Sinnen. Ich werde glücklich. Wenn ich schreibe, ist alles andere egal, auch wenn das, was ich schreibe, sich als schlecht herausstellt. Ich beginne in einer schwer fassbaren, unterbewussten Formlosigkeit im Nirgendwo meines Ichs, in einer Stille, durch die sich verschiedene Formen bewegen. Dann kommen die Worte.“[7]

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Das kreative, lebensrettende Schreiben beginnt für Harvey, die an der Bath Spa University Creative Writing unterrichtet, „im Nirgendwo meines Ichs, in einer Stille“. Damit wird nicht zuletzt ein „schwer fassbares“ Wissen angeschrieben, dass in der Lecture wiederholt als ein impressionistisches Schreiben benannt worden ist. Während die Schlaflosigkeit mit diversen Wissensformen wie dem Brexit, Angst und dem Tod eines Cousins in Verbindung gebracht wird, die eine Unruhe zur Folge haben, beruhigt das Schreiben ihre „Nerven“. Das kreative Schreiben in der Erfahrung der Schlaflosigkeit generiert insofern eine eigene Praxis der Wissensproduktion, ließe sich auch im Unterschied zum Schlaf und dem Erwachen bzw. Erwecktwordensein formulieren, dem sich Michael Hochgeschwender als Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte in der vierten Mosse-Lecture widmete. Während das Erwecktwordensein der Evangelikalen sich als subjektive Form einer ereignishaften Erweckung von außen durch Gott und/oder Jesus Christus als wahres Wissen verfestigen kann, bleibt die Wachsamkeit der Wokeness in einem Prozess diverser Wissensformen wie Rassismus, Kolonialismus, Queerness etc.

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Michael Hochgeschwender hatte bereits 2017 den Begriff des Evangelikalismus genauer nach seiner Verwendung bestimmt. Das Handbuch Evangelikalismus geht von einem „Mitgliederwachstum und globale(r) Expansion“[8], die in Zeiten fortschreitender Säkularisierung und aktuell einem dramatischen Mitgliederschwund der römisch-katholischen Kirche in Deutschland wie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verbunden mit einem Verlust an Kirchensteuern zu faszinieren vermögen. Zugleich formiere sich der Evangelikalismus als eine „Form konservativer, anti-liberaler Theologie“.[9] Im Handbuch beschreibt Hochgeschwender „drei Möglichkeiten der Begriffsverwendung“ eine programmatische, eine „Selbstbeschreibung“ und eine „Fremdbeschreibung“, die sich auffächert in eine systematische und eine historisch-genetische. Die historisch-genetische Begriffsverwendung beschreibe Evangelikalismus als „ein gegen die Aufklärung gerichtetes Christentum seit Ende des 18. Jahrhunderts“.[10] Evangelikal wird seit dem 18. Jahrhundert mit dem Erwecken und der Erweckungsbewegung verkoppelt.
„In diesem Sinne kann man sagen, dass der Begriff ›evangelikal‹ sich auf die sogenannten ›Erweckungsbewegungen‹ seit dem 18. Jahrhundert in Europa, in den USA und darüber hinaus bezieht, also Baptismus, Lutheranismus, Methodismus und Presbyterianismus sowie einige Strömungen der Anglikaner und weiter auch pfingstliche und charismatische Christen“.[11]

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Die Sondierung des Begriffs evangelikal nach seinem Gebrauch und seiner semantischen Verbindungen in der deutschen Sprache gibt einen Wink auf eine gewisse Nachträglichkeit. Einerseits erlaubt das Adjektiv ein Bedeutungsfeld von einer „Theologie dem Evangelium gemäß“ wie auch „die unbedingte Autorität des Neuen Testaments im Sinne des Fundamentalismus vertretend“.[12] Dabei zeigt die Wortverlaufskurve einen steilen Anstieg nach 2000 an. Zugleich wird in einem heute kaum gebräuchlichen Maße „Erweckungsbewegung“ als typische Verbindung angezeigt. „Missionar“, „Missionsgesellschaft“ und „Missionswerk“ werden dagegen häufig mit evangelikal in Verbindung gebracht. Das Gebrauchsnetz von evangelikal, Mission und Erweckung bleibt im Deutschen zwar elastisch und eher selten, gibt indessen mit dem „Erwecken“ und der „Mystik“ einen Wink: „plötzlich vernommener Anruf zur völligen Hingabe an Gott“[13] oder eben Jesus Christus. Das Erwecken kann insofern als ein ereignisartiges Erleiden wie Erfreuen durch den „Anruf“ geschehen oder es wird auf andere ausgeübt. Mithin weist das Erwecken der „Erweckungsbewegung“ eine hohe Transitivität auf.

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Michael Hochgeschwender führt in seiner Mosse-Lecture die Geschichte und die Paradoxien des Evangelikalismus in den USA genauer aus. Im Unterschied zur Mystik geht die Erweckung am Ende des 18. Jahrhunderts und Beginn des 19. Jahrhunderts eine neuartige Verbindung mit dem Subjekt als dessen Wissen von sich selbst ein. Der Evangelikalismus wird insoweit weniger zur Gegenbewegung der Aufklärung als vielmehr zu einer Transformation des Christentums durch sie. Die Wokeness erfährt seit 2016 in der deutschen Sprache seit 2016 einen steilen Anstieg im Gebrauch.[14] Sie kann auch als eine Sprachkritik und Wachsamkeit über die Verwendung von problematischen Begriffen beschrieben werden. Insofern Wokeness insbesondere binäre Begriffsbildungen, wie sie im Evangelium und dem Alten Testament etabliert worden sind, kritisiert, geht es in der im Deutschen gebräuchlichen Mehrdeutigkeit von Geschlecht als Sexus, Genital, Rasse, Kategorie, Genealogie, Genus, Generation etc. um eine Kulturkritik der Moderne.[15] Wokeness kann mit der Binarismus-Kritik zugleich mit einer Technologiekritik der Digitalisierung in Verbindung gebracht werden. An dieser Stelle soll an Michael Hochgeschwender anknüpfend die Erweckung mit einem Beispiel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einmal mikrologisch sondiert werden.

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Im überschaubaren städtischen Raum von Dom, Schloss und Universität in Berlin bildet sich ab 1822 eine bedenkenswerte Erweckungsbewegung heraus, die 2024 in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) ihr 200jähriges Jubiläum begeht. Die Berliner Erweckungsbewegung[16] findet in einem einzigartigen Feld von Kirche, Hof und neugegründeter Berliner Universität statt. Sie lässt sich an einzelnen Akteuren beobachten und reicht mit ihren Ausläufern bis zum Ende des Kaiserreichs. Das von Berlin aus initiierte Engagement wechselte seine Programmatiken und besteht bis heute als Engagement der evangelischen Kirche in Jerusalem und Palästina. Die Missionierung von Muslimen durch Schulen wie Talitha Kumi, deutsch: „Mädchen, stehe auf!“, in Beit Jala etc. existiert weiterhin.[17] Alljährlich findet am letzten Sonntag vor der Fastenzeit im Februar in Berlin das Jahrestreffen des eher überschaubaren Jerusalemsvereins statt. Am 11. Februar 2024 hielt die erste arabisch-lutherische Pfarrerin in Palästina[18], Sally Azar, die Predigt über 1. Kor 13 in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt.[19]

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Wie kommt es 1824 im Umfeld der Berliner Universität zu einer Missionsbewegung? Die Selbsterzählung der Gründung von Missionsgesellschaft und Jerusalemsverein geht von einer aus dem 18. Jahrhundert hergeleiteten evangelisch-lutherischen Missionsbewegung, der Baseler Mission aus, die als natürliche Folge eines subjektiven Erweckungserlebnisses als Wissen von sich selbst und der Welt formuliert wird. Mission wird in diesem Kontext als eine Ermöglichung des Erwachens aus dem Schlaf des Unwissens formuliert. Denn die Frage lautet vor allem, warum es im deutschsprachigen protestantischen Raum nach der Französischen Revolution 1789, in Preußen gar nach der Besetzung durch Napoleon 1806 zu einer evangelisch-lutherischen Erweckungsbewegung kommt. 1822 wird Gerhard Friedrich Abraham Strauß Hof- und Domprediger sowie Professor für Praktische Theologie an der jungen Berliner Universität. Seit 1815 hatte er drei Bände seiner erweckenden Glockentöne – Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Geistlichen mit dem Credo, dass er als Subjekt wisse, wer den Weltenlauf, insbesondere den Erfolg seiner Glockentöne gefügt habe, veröffentlicht. Damit wird die Glaubensfrage an Gott zu einem neuartigen Wissen des Subjekts, einem Subjektwissen transformiert:
„Ich weiß es, wer es ist, der …“[20]

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Die Professur an der 1810 gegründeten Berliner Universität eröffnet dem lutherischen Pfarrer ein neuartiges Wirkungsfeld, das sich nicht zuletzt 1824 bei der Gründung der Gesellschaft zur Förderung der Evangelischen Missionen unter den Heiden in der Wohnung des Jura-Professors Moritz August von Bethmann-Hollweg Bauhof 1 am 29.2.1824 niederschlägt.[21] Der Bauhof lag als Straße hinter dem Universitätsgebäude. Die Universität generiert insofern durch Gespräche und Praktiken einen neuartigen „Missionsverein“. Der im Unterschied zu katholischen Missionen wie denen der Jesuiten in China im 17. Jahrhundert nicht einem generellen Missionsauftrag folgt, sondern nun durch das Erwecktwordensein aus einem subjektiven Überlegenheitswissen, einer Suprematie, gespeist wird. Es sollen nicht nur „Heiden“ als Andersgläubige missioniert werden, vielmehr werden diese von vornherein in ihrer conditio humana entwertet. Die Gründung wird, wenn auch nicht gerade enthusiastisch, durch Friedrich Wilhelm III. unterstützt, welcher Anfang der 1830er Jahre den Bau der evangelischen Kirche St. Elisabeth vor dem Rosenthaler Tor durch Karl Friedrich Schinkel betreiben wird, um die geistig-religiösen und sozialen Probleme vor der nördlichen Stadtmauer, die während der Cholera-Epidemie 1832/33 offenbar geworden waren, zu beruhigen. 1835 wurde die „Elisabethkirche“ geweiht.

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1823 heiratet Kronprinz Friedrich Wilhelm die katholische Prinzessin Elisabeth Ludovika von Bayern nach katholischem und evangelischem Ritus, weshalb der Name der Kirche im Armenquartier vor dem Rosenthaler Tor häufig mit ihr in Verbindung gebracht wird. Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. 1840, während der an Fahrt aufnehmenden Industrialisierung in Berlin, verschiebt sich die politische Agenda. Friedrich Abraham Strauß wird als Hofprediger vertrauter mit dem König. Geopolitische Verschiebungen im Nahen Osten, insbesondere die andauernde Krise im Osmanischen Reich führen zu neuen Ambitionen. Einerseits wird 1841 zwischen Berlin und London eine Übereinkunft geschlossen, in Jerusalem ein protestantisches Bistum zu errichten. Am 21. Januar 1842 zieht der als Jude in Preußen geborene und zur Anglikanischen Kirche konvertierte Bischof Michael Salomon Alexander in Jerusalem ein, ohne dass es dort eine protestantische Kirche gäbe. Andererseits ist damit das moderne, protestantische Interesse an Jerusalem keineswegs erschöpfend erklärt. Vielmehr gibt Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 einen Wink. Napoleon hatte mit der Commission des sciences et des arts, einer Gruppe von 167 französischen Wissenschaftlern und Künstlern einen Paradigmenwechsel der Moderne befördert.

Berliner Eisenkunstguss im Neuen Museum 1820er Jahre

Die revolutionären Wissenschaftler wie Ingenieure und Kartographen sollen u.a. Ägypten vermessen, 3 Schriftsteller und Lyriker wie Antoine-Vincent Arnault sollen neue Narrative und 9 Maler, Zeichner etc. wie François-Auguste Parseval-Grandmaison neue Bilder schaffen. Es geht nicht zuletzt um die Ursprungsfrage der menschlichen Kultur, die seit 1789 nicht mehr durch einen christlichen Gott in Frankreich beantwortet werden kann. 9 Jahre nach der Revolution müssen belastbare Geschichten von der Herkunft des Menschen geschaffen werden. Obwohl Jean-François Champollion nicht an der Expedition teilnahm, wird mit dem Stein von Rosetta der Schlüssel für die Entzifferung der Hieroglyphen gefunden. Die Ägyptologie wird nicht nur zum neuen Ursprungsnarrativ, sie löst auch einen Ägyptenwahn bis nach Berlin aus. Das Titelblatt des Expeditionsberichts Description de l’Égypt 1809 inszeniert die Ruinen in einer Art Rom-Alternative. Um den Ursprung[22] der menschlichen Kultur erforschen zu können, muss man dort gewesen sein und es selbst gesehen haben.

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Das Sichtbarkeitsparadigma in der Wissenschaft wird von Napoleon mit der Commission des science et des arts praktisch gefördert. Das Sichtbare und das Sagbare gehen eine neuartige Korrespondenz ein, um Wahrheit zu generieren.[23] Es geht nicht zuletzt um die Entzifferung einer Schrift in Konkurrenz zur Heiligen Schrift. Napoleon kommt bis Akkon in Galiläa. Jerusalem hatte für ihn keine strategische Bedeutung. Um 1820 erreichte der Ägyptenwahn Berlin. Bereits 1823 verkaufte der „Forschungsreisende, Ausgräber und Archäologiedilettant Johann Heinrich von Minutoli (seine Ägyptische Altertümersammlung) an den preußischen Staat“[24]. Doch 1843/1844 reist der Sohn des Hofpredigers, Friedrich Adolph Strauß, nach Palästina. Die Reiseroute paraphrasiert mit ihren Stationen bis Griechenland die Grand Tour als adliges Bildungsprogramm des 18. Jahrhunderts und findet 1847 ihren Niederschlag in seinem Buch Sinai und Golgatha. Reise in das Morgenland. Das Sichtbarkeitsparadigma der modernen Wissenschaften lässt sich nun in die lutherische Theologie übertragen, wenn es im Vorwort von 1846 heißt:
„Die Reise in das Morgenland ist für mich eine fortgehende Erfahrung von der Wahrheit des göttlichen Wortes gewesen.
Mochte ich die Stätten betreten, welche den Schauplatz der heiligen Geschichte bilden und den Angaben der Schrift auf das Genaueste entsprechen; mochte ich die Sitten der Völker beobachten, welche dort im Laufe der Jahrtausende nur wenig Veränderung erlitten; mochte ich endlich in dem Zustande jedes Landes, in dem Geschicke jedes Volkes die erschütternde Erfüllung prophetischer Weissagung erblicken – von der Wahrheit des göttlichen Wortes wurde ich immer gewaltiger ergriffen.“[24]

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Die durch und durch moderne Wahrheit des göttlichen Wortes artikuliert sich nicht nur als ein Erfahrungswissen, vielmehr wird die „Erfüllung prophetischer Weissagung erblick(t)“. Sie wird sichtbar. Bereits 1820 hatte Vater-Strauß noch in Elberfeld den alttestamentarischen Roman Helons Wallfahrt nach Jerusalem. Hundert neun Jahr vor der Geburt unseres Herrn. veröffentlicht[25], der im ägyptischen Alexandria beginnt. Friedrich Adolph Strauß reist von Alexandria durch Ägypten, bespricht den „Muhammedanismus“ und die „koptische Kirche“. Jerusalem wird von Berlin aus zum Dreh- und Angelpunkt eines neuen theologischen Wissens, das zwar zur Privatdozentur und außerordentlichen Professur für Friedrich Adolph Strauß an der Universität, aber nicht zur ordentlichen Professur führt. Obwohl Sinai und Golgatha bis 1882 elf Auflagen erfährt, bereits 1849 ins Englische, dann ins Schwedische übersetzt wird und 1852 der Jerusalemsverein in seiner Wohnung in der Dorotheenstraße allerdings nur von Pfarrern und Theologen gegründet wird, Kaiser Wilhelm II. gar 1898 in Jerusalem die evangelische Erlöserkirche einweihte, kann sich das moderne Erweckungserlebnis nicht ganz durchsetzen.
„Was ich an den geweihtesten Orten der Erde empfand, das, tief im Herzen verborgen, ist der herrliche Gewinn der Reise. Solche Erfahrungen lassen sich nicht mittheilen. Aber ahnen wird sie jeder, dem Sinai und Golgatha die Berge sind, von denen uns Hülfe gekommen ist.“[26]

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Die in der Reiseerzählung hergestellte Kongruenz von Heiliger Schrift und die vermeintlich geringe Veränderung der „Sitten der Völker“ verspricht eine Wiederholbarkeit des Erfahrungswissens als ein Erweckungserlebnis für andere. Das Erweckungserlebnis ist keine Frage des Anrufs oder Glaubens mehr, vielmehr wird es durch das Betreten, Beobachten und Erblicken für andere eine wiederholbare Praxis. Darin liegt eine neuartige Programmatik der Erzählung, die zur Gründung des Jerusalemsvereins und später zur Weihe der Erlöserkirche führt. Doch die Erlangung des Erfahrungswissens bleibt zunächst aus rein finanziellen Gründen einem exklusiven Kreis vorbehalten. Denn Friedrich Adolph Strauß wird seine Reise nicht nur mit einem Domstipendium finanziert haben können. Vielmehr wird sie von seinem Großvater mütterlicherseits und/oder dem Bruder seiner Mutter, dem Bankier und späteren preußischen Finanzminister unter Friedrich Wilhelm IV. August von der Heydt, unterstützt worden sein. In der Villa von der Heydt befindet sich heute die Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Torsten Flüh

Auf YouTube:

Samantha Harvey
Brain on Fire: Insomnia and Sleepwriting

Michael Hochgeschwender
Evangelikalismus und wokeness:
Zur gesellschaftlichen Funktion der Semantik des Erwachens

Stadtführung zur Berliner Mission und zum Jerusalemsverein:
Mission: Reflektion
Sonntag, 3. März 2024 14:00 Uhr
Treffpunkt: Granitschale vor dem Alten Museum.
 


[1] Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf. München: Hanser Berlin, 2022, S. 29.

[2] Ebenda S. 19.

[3] Ebenda S. 37.

[4] Siehe auch: AFP: Sadness, insomnia, and frustration: Britain dealt a dose of the Brexit blues. In: The Straits Times JUL 03, 2016, 11:08 AM.

[5] Samantha Harvey: Das … [wie Anm. 1] S. 169-170.

[6] Ebenda S. 27.

[7] Ebenda S. 137.

[8] Frederick Elwert, Martin Rademacher und Jens Schlamelcher (Hgg.): Handbuch Evangelikalismus. Bielefeld: transcript, 2017, S. 11. (Leseprobe)

[9] Ebenda.

[10] Michael Hochgeschwender: Zum Begriff >Evangelikalismus<. In: Ebenda S. 14-15.

[11] Ebenda S. 15.

[12] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: evangelikal.

[13] Ebenda: Erweckung.

[14] Ebenda: Wokeness.

[15] Ebenda: Geschlecht.

[16] Frank Foerster stellt in seiner missionswissenschaftlichen Forschung die Gründung des Jerusalemsvereins in den Kontext, des „Erweckungschristentum(s)“ seit dem 18. Jahrhundert: „hervorgerufen durch die Verbindung von Erweckungschristentum und Missionsgedanken – das Interesse am heiligen Lande wieder erneut regte“. Frank Foerster: Mission im Heiligen Land. Der Jerusalems-Verein zu Berlin 1852-1945. Missionswissenschaftliche Forschungen Band 25. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1991, S. 22.

[17] Jerusalemsverein: Evangelische Schulen in Palästina. (Website)

[18] Ebenda: Ordination von Sally Azar als erste Pfarrerin Palästinas. (19. Januar 2023)

[19] Ebenda: Predigt von Sally Azar auf dem Jahresfest 2024. (Website)

[20] Friedrich Strauß: Glockentöne – Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Geistlichen. Elberfeld: Heinrich Büschler, 1819, o. S. (S. 3). (Digitalisat)

[21] Gründungsschrift der Gesellschaft.

[22] Die Frage des Ursprungs wird ebenso von Foerster mit dem „Ursprungsland des Evangeliums“ formuliert. Frank Foerster: Mission … [wie Anm. (1)] S. 43.

[23] Siehe unter anderem zur Sichtbarkeit bei Foucault: Sebastian Scholz: Vision revisted. Foucault und das Sichtbare. In: Kultur und Geschlecht. Universität Bochum. 08.2015.

[24] Harry Nehls: Das Gemälde „Minutoli in der Oase Siwa“ im Mythologischen Saal des Neuen Museums zu Berlin – Korrektur einer falschen Künstlerzuschreibung. In: Susanne Kähler, Nina Kreibig, Wolfgang G. Krogel, Bruno Torres Sunén (Hrsg.): Der Bär von Berlin. Berlin: Westkreuz-Verlag, 2023, S. 107.

[25] Friedrich Adolph Strauss: Sinai und Golgatha. Reise in das Morgenland. (Siebente verbesserte und vermehrte Auflage.) Berlin: Jonas Verlagsanstalt, 1859, S. III.

[26] Friedrich Abraham Strauss: Helons Wallfahrt nach Jerusalem. Elberfeld: Heinrich Büschler, 1820. (Digitalisat)

[27] Friedrich Adolph Strauss: Sinai … [wie Anm. 25] S. IV.

Die Magie der Schnitte

Schnitt – Kino – Existenz

Die Magie der Schnitte

Zu Lothar Lamberts Schnitt des Films Stellenweise superscharf im Klick-Kino

Das Klick-Kino in der Windscheidstraße 19 ist ein besonderer Ort mit langer Geschichte, in dem am 16. Januar Lothar Lamberts ebenso inspiriert komischer wie präzise geschnittener Film Stellenweise superscharf – Der seltsame Dreh des Herrn Schoppi in der zweiten Aufführung nach der Uraufführung am 9. Dezember 2023 gezeigt wurde. Schoppi gehört zu Lamberts langjährigen Superstars[1], der im Berliner Kinomuseum in der Schönleinstraße 33 zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz lebt. Das Kinomuseum war immer auch Drehort und gelebtes Kino. Insofern passte die wesentlich von Insidern besuchte, superscharfe Projektion im Klick-Kino, das 1911 als Ladenkino mit ca. 230 Plätzen eingerichtet wurde, nahe dem Stutti (Stuttgarter Platz) sicher superscharfe Zeiten erlebte und seit 2020 als liebevolles Programmkino wiedereröffnet hat.

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2020 war nun bestimmt kein gutes Kino-Jahr, weil Kino immer ein Gemeinschaftserlebnis war und ist. Das war 2020 wegen der Lockdowns ziemlich plötzlich zu Ende und niemand wusste so genau, wann und ob es das Kino wieder geben würde. Das Klick-Kino hat überlebt. Im Februar konzentriert es sich auf Filme der unvergleichlichen, der glamourösen Zazie de Paris. Christos Acrivulis, der auch den Abend mit Lothar Lambert moderierte, kuratiert nach mehreren Film Festival nun mit seinem Team im gediegen schicken Kiez zwischen Kantstraße und Stuttgarter Platz mit Bogenschlägen bis zum Kurfürstendamm ein Kinoprogramm des Außergewöhnlichen. Um 17:30 Uhr hatte er MUNCH in der Originalfassung mit Untertiteln, in der Hauptrolle des revolutionären Malers der Osloer Schauspieler Alfred Ekker Strande, gezeigt.[2] Um 20:00 Uhr folgte Stellenweise superscharf.   

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Stellenweise superscharf, wie sollte es anders sein, ist nicht zuletzt durch den Schnitt (Lothar Lambert) eine Hommage an das Kino geworden. Neben dem gemeinsamen Sehen eines Films, den Kinosesseln und der gemeinsam geatmeten Luft sind es der Schnitt und vor allem die Diskurse, die sich um das Kino und das Entstehen eines Films kristallisiert haben. Der Schnitt, den die meisten Kinogeher gar nicht sehen, meistens sehen sie ihn nur, wenn eine überlange Einstellung wirkt, als passiere nichts, der geradezu als natürlich und natürliche Bewegung empfundene Schnitt ausbleibt, bringt Leben in den Film. Aber über den Schnitt wird wenig gesprochen, obwohl er natürlich eine Oscar-Kategorie abgibt. Lothar Lambert, der im Juli seinen 80. Geburtstag feiern wird, sagte im Klick-Kino: „Ich habe den Schnitt immer besonders am Filmemachen geliebt.“

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Im Schnitt entstehen erst Rhythmus, Dynamik und Semantik eines Films zwischen Doku und Drama. Hat es ein Drehbuch von Frank Schoppmeier zum Film gegeben? Wer hat den gedreht? Schoppmeier oder Lambert? Zunächst einmal beginnt der Film im Kinomuseum als Erzählung vom Kino, wenn Schoppi im Bett sitzt und ein populäres Buch mit dem Titel THE GREAT MOVIES LIVE ein wenig missmutig in den Händen hält. Die Wände sind nahezu tapeziert mit Stills aus Filmen. Das Rot der Bettdecke erinnert unwillkürlich an einen Kinovorhang in Samtrot. Das Bett als Ort der Träume ist mit dem Kino verwandt. Der Kinoliebhaber wünscht sich, selbst einen großen Kinofilm zu machen, was doch einigermaßen unmöglich erscheint. Das Versprechen des Buchtitels. beim großen Kinofilm dabei zu sein, wirkt im Medium Buch doch ein wenig enttäuschend. Doch das Kino lebt genau vom Versprechen des Dabeiseins.

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Der Kinoliebhaber und Kinomuseumsleiter möchte einen richtigen Kinofilm machen. Das Kino lebt immer auch von geliebten Täuschungen und Lügen. Der Film wird angekündigt als „Lothar-Lambert-Film von und mit Frank „Schoppi“ Schoppmeier“. Was ist an dem Film Lambert und was Schoppmeier? Die Vermischung der Autorschaft und das Spiel zwischen Doku und Drama haben in den mehr als 40 Filmen von Lothar Lambert immer eine strukturierende Rolle gespielt. Zwischen Oben rum, unten rum (2019)[3] und Ein Schuß Sehnsucht – Sein Kampf (1973) oder 1 Berlin-Harlem (1974), der 2016 auf der Berlinale mit Wieland Speck im Kino International gezeigt wurde[4], überschneiden sich in den Lothar-Lambert-Filmen[5] immer das große Kino mit der Doku. Schoppi war u.a. bei Oben rum, unten rum als Frank dabei. Den Kinofilm umgibt die Wiederkehr bekannter Namen und das Geheimnis seiner Entstehung.

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Nicht nur das Geheimnis der Handlung, sondern auch das der Entstehung muss gewahrt werden, sonst kann ein Spoiler den Genuss am Kino verderben. Filmkritiken müssen gut austariert werden, damit sie nicht zum Spoiler werden. Auf höchst ironische Weise wird in Stellenweise superscharf mit den Gesetzen des Wissens im Kino gespielt. Zwei Experten des Kinos, Lambert und Schoppi, drehen einen Film – „der seltsame Dreh des Herrn Schoppi“ –, um einen Film zu retten, der noch kein Kinofilm ist. Das wäre kurz und knapp die vermeintlich so wichtige Handlung, die zu einem überraschenden Schluss führen soll. Happy End. Tragedy. Comedy. Der Spoiler verdirbt die Spannung, die in der Erzählung angelegt wird. Am Schluss von Stellenweise superscharf wird ein Kinofilm gesehen worden sein. Am Anfang steht Schoppis Frustration, kein Movie hinbekommen zu haben. Das wäre der Spannungsbogen. Und dazwischen die Handlung.

© Lothar-Lambert-Film

Der mehrdeutige Titel Stellenweise superscharf, der sowohl die Einstellung des Objektivs wie eine sexuelle Erregung durch Filmszenen ins Spiel der Bedeutungen bringen kann, gibt einen Wink auf die Schnittstelle von Filmemachen und Lust. Filmemachen und Filmesehen haben etwas mit der Augenlust oder dem Blick zu tun. Deshalb ist die Bettszene mit Schoppi in mehrfacher Hinsicht treffend. In einer Zeit endloser Streamings im Miniaturformat auf dem Smartphone, die zweifelsohne eine Praxis von Intimität und Zerstreuung herstellen, ist gar nicht deutlich genug an das zu erinnern, was der Film im Kino immer auch war. In einer Reihe von Streaming-Formaten gibt es keinen Schnitt mehr. Aber der Schnitt und das scharfe, wenn nicht superscharfe Bild waren alles. Schoppi hat Filmmaterial hergestellt, gedreht, aber er bekommt keinen Kinofilm zusammen. Was lässt ihn scheitern? Und welche Operationen machen doch noch einen Film draus?

© Lothar-Lambert-Film

Wim Wenders verriet im August 2018 ein paar Geheimnisse über seinen legendären Kinofilm Der Himmel über Berlin 1(987).[6] Nicht nur, dass Wenders kein Drehbuch für den Film hatte, was es für ihn unmöglich machte, in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR zu drehen(!), sondern der Cast stellte sich nicht einfach durch ein professionelles Casting einer Agentur zusammen. Die Hauptrolle der Trapezkünstlerin spielte Solveig Dommartin, von der der Berichterstatter, nachdem er mehrere Stadtführungen zum Film[7] durchgeführt hat, wenigstens gerüchteweise durch eine Berliner Anwohnerin weiß, dass Wim Wenders sie jeden Morgen „mit seinem amerikanischen Schlitten abholte“ und der Wagen auch manchmal nachts vor dem Haus stand. Sie soll seine Freundin gewesen sein. Auch der amerikanische Starschauspieler Peter Falk, für das bundesdeutsche Fernsehpublikum als Colombo bekannt, spielte rein zufällig auf persönliche Bitte von Wenders mit. Zugleich ist von dem heute berühmten, weltbekannten Film klar, dass Wim Wenders ihn in Schwarzweiß drehte und Sequenzen in Farbe hineinmontierte, weil plötzlich Geld für Farbfilmmaterial da war. 

© Lothar-Lambert-Film

An dem Einschub zu Der Himmel über Berlin als beispielhaft für das Filmemachen im West-Berlin der 80er Jahre ist, dass sich die Praktiken der Vermischung von Privatem und Professionellem ähneln. Lambert und Schoppi sind nicht Wim Wenders, hätten aber zumindest so etwas ähnliches werden können. Die eigentlich völlig irre Praxis, Farbfilm in den Schwarzweiß-Film Der Himmel über Berlin reinzuschneiden, weil gerade Geld für Farbfilmmaterial eingetroffen war, gibt einen Wink auf Praktiken, die i.d.R. geheim gehalten werden. Mit Wim Wenders Film wurden sie zum Welterfolg. Zugleich ist mit dem Stichwort „Superstar“ nicht nur ein Bogen zu Andy Warhols Factory, vielmehr noch zu Rainer Werner Fassbinder und seinem oft grenzwertigen Verhalten in seiner Filmfamilie zu schlagen. Frank Schoppmeier zelebriert mit seinem Kinomuseum und z.B. dem Portrait von Gottfried John an der Wand den Drehort West-Berlin der 80er Jahre.

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Die Frage für den gescheiterten Kinofilm aus Berlin wurde also, wie sich das Filmmaterial, das Über- wie Unschärfen aufwies und deshalb als unbrauchbar galt, gewitzt zu schneiden, um eine, sagen wir, Storyline zu generieren. Deshalb sitzt Schoppi dann in seinem Kinomuseum, um von missglückten Drehs zu erzählen. Die Drehs sind entweder wegen des Materials oder wegen der Darsteller*innen missglückt. Eine Kinoerzählung wird nämlich unablässig darüber produziert, wie ein Regisseur mit bestimmten Darsteller*innen habe zusammenarbeiten wollen oder umgekehrt, es dann aber aus irgendwelchen Gründen und Zufällen nicht geklappt hat. Filmmaterial von Schoppi und Lambert werden hier anscheinend montiert. Wenn Schoppi im Kinomuseum erzählt, dann stellt Lambert nicht nur die Fragen aus dem Off, sondern sitzt auch hinter der Kamera. Die oft aus der Situation zum Brüllen komische Erzählung wird durch Filmsequenzen ausgeführt.

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Nichts ist komischer als der Leiter des Kinomuseums, wenn er von seinen eigenen Kinokatastrophen spricht. Wenn der Film nicht so gut geschnitten wäre, müsste man ihn als bedrückenden Katastrophenfilm bezeichnen. Doch die eigentliche Kunst des Kinos besteht darin, aus einer Aneinanderreihung von Katastrophen bei der Produktion ein unterhaltsames Kino-Ereignis zu machen. Lothar Lambert und Frank Schoppmeier haben genau das gemacht. Auf höchst unterhaltsame, manchmal fast alberne Weise wird die Verkettung der Katastrophen zu einem beachtlichen Erfolg. Das Publikum im Klick-Kino lachte teilweise schallend los und applaudierte enthusiastisch. – 1 Berlin Harlem wird anlässlich der Berlinale auf der Seite der Deutschen Kinematek bis 30. April 2024 gestreamt – aber kein Kino! – Am 24. Februar 2024 erhält Lothar Lambert den beim 38. Teddy Award der Berlinale den Special Teddy Award in der Volksbühne.

Torsten Flüh

Lothar-Lambert-Film
Stellenweise superscharf – Der seltsame Dreh des Herrn Schoppi
Von und mit Frank „Schoppi“ Schoppmeier
Berlin 2023
Trailer auf YouTube

Lothar Lambert
1 Berlin Harlem (1974)
Deutsche Kinematek bis 30. April 2024

74. Berlinale
Internationale Filmfestspiele Berlin
38. Teddy Award
Special Teddy Award
Volksbühne
24. Februar 2024


[1] Zu den Superstars in den Filmen von Lothar Lambert siehe: Torsten Flüh: „Kindeinhalb“. Erika Rabau in Lothar Lamberts Erika, mein Superstar … In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. August 2015.

[2] Der Berichterstatter hat es einfach nicht geschafft, den ganz bestimmt sehenswerten Film zu Edward Munch zu sehen. Brennend interessiert ihn, wie der Berliner Skandal im Film dargestellt wird. Siehe Torsten Flüh: Verstörend statt bezaubernd. Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. November 2023.

[3] Torsten Flüh: Knallbunte Juwelen und ein Hausschwein. Zur Weltpremiere von Lothar Lamberts 40. Berlin Undergroundfilm. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2019.

[4] Torsten Flüh: Der Film der Stunde. 1 Berlin-Harlem von Lothar Lambert im Panorama der 66. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2016.

[5] Torsten Flüh: Versprechen der Therapie. Lothar Lamberts Zurück im tiefen Tal der Therapierten in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Juni 2012.
Auch: Torsten Flüh: Das Sprechen im Kino. Zu Lothar Lamberts Ein Schuß Sehnsucht – Sein Kampf und Rosa von Praunheims Filmen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Januar 2013.

[6] Torsten Flüh: Kühlendes Kino in der Hitzewelle. Zum Freiluftkino und der restaurierten Fassung von Wim Wenders Der Himmel über Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. August 2018.

[7] Nächste Führung: Der Himmel über Berlin – Ein Spaziergang zu den Drehorten des Films von Wim Wenders 23. April 2024 18:00 – 20:00.