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Wie Tadschikistan vor zehn Jahren einen Teil seines Territoriums an China abtrat

Vor zehn Jahren, am 20. September 2011, fand unter Beteiligung von Militärangehörigen aus der Volksrepublik China und aus Tadschikistan eine Zeremonie statt, die der Übergabe eines Teils tadschikischen Territoriums an Peking gewidmet war. Die Entscheidung, die die Regierung als "diplomatischen Sieg" bezeichnete, wurde in der Folge stark kritisiert. Der folgende Artikel erschien am 22. September 2021 auf Radio Ozodi. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Vor zehn Jahren, am 20. September 2011, fand unter Beteiligung von Militärangehörigen aus der Volksrepublik China und aus Tadschikistan eine Zeremonie statt, die der Übergabe eines Teils tadschikischen Territoriums an Peking gewidmet war. Die Entscheidung, die die Regierung als „diplomatischen Sieg“ bezeichnete, wurde in der Folge stark kritisiert. Der folgende Artikel erschien am 22. September 2021 auf Radio Ozodi. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Die Bevölkerung Tadschikistans erfuhr erst am 1. Oktober 2011 durch chinesische Medien von der Landübertragung, obwohl das tadschikische Parlament bereits am 12. Januar 2011 das Protokoll über die Demarkation der tadschikisch-chinesischen Grenze ratifiziert hatte. Laut dem Dokument wurden 1.158 Quadratkilometer der umstrittenen Gebiete im Ost-Pamir der chinesischen Gerichtsbarkeit unterstellt. Dies entspricht 0,77 Prozent des Gesamtterritoriums Tadschikistans.

„Die Unterzeichnung dieses Protokolls ist ein großer Sieg für die tadschikische Diplomatie“, sagte Tadschikistans damaliger Außenminister Hamrohon Sarifi vor dem Parlament. Er erklärte, dass China und Russland 1884 das sogenannte Neues-Margelan-Abkommen unterzeichnet hatten, wonach die Behörden des heutigen China mehr als 28.000 Quadratkilometer tadschikisches Territorium beanspruchten. „Das macht fast 20 Prozent des Territoriums unseres Landes aus“, erinnerte der Chef des tadschikischen Außenministeriums die Abgeordneten, „nach der Unterzeichnung des Protokolls gehen nur noch etwa 3 Prozent dieser umstrittenen Gebiete an China.“

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Das Abkommen „Über die tadschikisch-chinesischen Staatsgrenze“ wurde bereits 1999 von den Parteien unterzeichnet. Gleichzeitig wurde die Situation um zwei der drei umstrittenen Gebiete an der gemeinsamen Grenze gelöst. Tadschikistan behielt die Kontrolle über das umstrittene Gebiet in der Nähe des Karsak-Passes, trat jedoch etwa die Hälfte eines in der Nähe des Flusses Markansu gelegenen Areals im Umfang von 400 Quadratkilometern an China ab. Drei Jahre später wurde in Peking ein Protokoll unterzeichnet, mit dem auch der Streit um das umstrittene Gebiet im Bezirk Murghab beigelegt wurde. Die Ratifizierung des Dokuments durch das tadschikische Parlament erfolgte erst zehn Jahre später und sorgte dennoch für Unmut in der Gesellschaft.

Politik hinter verschlossenen Türen

Muhiddin Kabiri, Vorsitzender der Nationalen Allianz Tadschikistans und der inzwischen verbotenen Partei der Islamischen Wiedergeburt Tadschikistans (PIWT), war im Jahr 2011 einer der wenigen Oppositionellen, die sich der Entscheidung wiedersetzten, Land an China zu übertragen. „Das war eine geheime, verfassungsfeindliche und verräterische Operation von Emomali Rahmon. Das tadschikische Volk wurde im letzten Moment informiert und niemand konnte etwas dagegen tun“, sagt Muhiddin Kabiri.

Laut dem Oppositionspolitiker widersprach die Entscheidung der tadschikischen Behörden dem siebten Artikel der Verfassung Tadschikistans, der die Unteilbarkeit und Unverletzlichkeit des Staatsgebiets garantiert. Die Diskussion im Parlament sei formell gewesen und bedeute keine Information der Öffentlichkeit.

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Eine ähnliche Position vertrat damals der inzwischen verstorbene Akademiker Rachim Masow, der seit 2004 Mitglied der tadschikisch-chinesischen Regierungskommission war. In einem Interview mit der BBC sagte der Akademiker, er habe kein Dokument unterzeichnet, gemäß dem tadschikisches Territorium an China übertragen wurde. „Es war eine falsche Entscheidung der Regierung Tadschikistans. Die territoriale Integrität und Unteilbarkeit unseres Staates ist für jeden Tadschiken eine Frage der Ehre und Würde “, merkte Masow damals an.

Die Entscheidung der Behörden sorgte auch bei den Bewohner:innen der Autonomen Provinz Berg-Badachschan [in der die umstrittenen Gebiete lagen, Anm. d. Ü.] für Empörung. Der autonome Status der Provinz erforderte laut Verfassung, dass das Abkommen durch das Regionalparlament hatte genehmigt werden müssen. Offizielle Nachrichten über dessen Zustimmung wurden jedoch nie veröffentlicht.

Historische Ansprüche

Nach der offiziellen Rhetorik der Behörden dauerten die Territorialstreitigkeiten um tadschikisches Land mehr als hundert Jahre. Mit der Ratifizierung des letzten Protokolls sei das Thema erledigt. Chinesische Medien veröffentlichen jedoch weiterhin ihre Version der Geschichte, wonach das Territorium des heutigen Tadschikistan zu China gehörte.

Dies rief zuletzt die Empörung des tadschikischen Außenministeriums hervor. Der tadschikische Historiker Kamoluddin Abdullajew schreibt in seiner Kolumne „Wer ist der Boss im Pamir?“, dass China in den Jahren seines Aufstiegs Puffergebiete (zu denen neben der Mongolei und Tibet auch Xinjiang gehörte) in seinen Besitz nahm und sie verlor, sobald es geschwächt war.

„Noch im Jahr 1864 unterzeichneten Russland und China den Vertrag von Targabatai, nach dem die Kreise Altai und Kurchim, der See Zaısan, die Ländereien des Tarbagatai, Alataý und Tien Shan an Russland übertragen wurden. Das anglo-russische Abkommen von 1873 markierte die Pamir-Grenze und schuf den Wachankorridor als schmale afghanische Pufferzone zwischen Britisch-Indien und Russisch-Zentralasien.

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Später stellte das kommunistische China die Grenzabkommen mit dem zaristischen Russland in Frage. Gleichzeitig verweist die chinesische Seite bei ihren Forderungen im Pamir auf das Neues-Margelan-Protokoll vom 22. Mai 1884, welches die Grenze zwischen den Regionen Fergana [heute Fargʻona in Usbekistan, Anm. d. Ü.] und Kaschgar bis zum Grenzpass Uz-Bel festlegt. Der weitere Grenzverlauf wird nach Artikel 3 des besagten Protokolls sehr vage angegeben. Demnach verläuft die russische Grenze von Uz-Bel nach Südwesten in Richtung Chorogh und Chinas Grenze nach Süden, in Richtung Afghanistan.

Der größte Teil des modernen Berg-Badachschan bleibt bestenfalls Niemandsland.Im Jahr 1894 teilten China und Russland nach dem Austausch diplomatischer Noten dennoch den Pamir entlang der Sarykol-Kette. Diese Grenze ist bis heute erhalten geblieben. Gleichzeitig hat die chinesische Seite nicht verschwiegen, dass sie ihre Rechte am Pamir nicht vollständig aufgegeben hat und diese Vereinbarung als „vorübergehend“ betrachtet“, schreibt der Historiker.

Unbegründete Argumente

Laut Oppositionspolitiker Kabiri sei das Gerede über einen jahrhundertealten Streit um tadschikisches Land unbegründet und komme von Beamten, die das Verhalten der Behörden reinwaschen wollen: „Wenn es einen Streit zwischen China und der UdSSR oder dem Russischen Reich gab, dann hat das nichts mit Tadschikistan zu tun. Laut einer offiziellen Note des russischen Außenministeriums ist Russland Rechtsnachfolger von UdSSR und Russischem Reich. Streitigkeiten oder Vereinbarungen zwischen China und einem anderen Land beziehen sich nicht auf Tadschikistan als seit 1991 unabhängiges Subjekt internationaler Beziehungen.“

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„Einen Stein mit Hieroglyphen, der in der Nähe von Chorugh gefunden wurde, als historische Tatsache zu bezeichnen (ein Argument, das im Parlament vorgebracht wurde) ist nicht nur lächerlich, sondern beweist das Gegenteil. In den Nachbarländern finden Sie Tausende solcher Inschriften und historische Zeugnisse in unserer Sprache. Aber können wir dadurch wirklich territoriale Ansprüche gegenüber unseren Nachbarn geltend machen?“, so Kabiri weiter.

Aufgabe von Territorium als neue Chance

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion präsentierte China seine Territorialansprüche in [der russischen Region, Anm. d. Ü.] Primorje und am Amur sowie in Zentralasien – mit einer Gesamtfläche von 1.500 Quadratkilometern. Durch bilaterale Abkommen gelang es Peking, einen Teil der Territorien von Nachbarländern zu erwerben. So trat Russland im Ussuri und Amur gelegene Inseln ab – zuerst Damanskij, dann Tarabarow und die Hälfte der Großen Ussuri-Insel. Kasachstan trat 407 Quadratkilometer an China ab und ein Grundstück von 1250 Quadratkilometern wurde von Kirgistan übergeben. Tadschikistan, das flächenmäßig kleinste unter allen aufgeführten Ländern, verlor den größten Teil seines Territoriums an Peking – 1.158 Quadratkilometer.

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Regierungsnahe Kreise bewerten die territorialen Zugeständnisse jedoch weniger kategorisch. „Streitigkeiten über Territorien sind allen Ländern der Welt gemein. Es gibt praktisch keine Staaten, die nicht Grenzstreitigkeiten mit ihren Nachbarn haben. Jeder von ihnen wendet sich anderen Fakten zu, um das Problem zu lösen. Glücklicherweise hatten wir keine militärische oder politische Konfrontation mit China. Wir haben alle Probleme zivilisiert und diplomatisch gelöst, und ich glaube nicht, dass unser Land darunter gelitten hat“, meint Abdurahmon Chonow, Chef der regierenden Volksdemokratischen Partei Tadschikistans. Er stellt fest, dass die Zusammenarbeit mit China derzeit in allen Sektoren gute Ergebnisse zeigt.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich China zu einem der Hauptinvestoren in die tadschikische Wirtschaft entwickelt. Im vergangenen Jahr überstieg der Außenhandelsumsatz zwischen den beiden Staaten 1,5 Milliarden US-Dollar. Auch der Großteil der Auslandsverschuldung Tadschikistans entfällt auf China. Das Land ist einer der drei wichtigsten Wirtschaftspartner Tadschikistans und hält seit 2013 den Status eines strategischen Partners.

Chursand Churramow für Radio Ozodi

Aus dem Russischen von Robin Roth

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