Page 272 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Voraussetzungen aufhebt, zum Ausgangspunkte selbst fort, um ihn
                festzustellen, und in der That zieht sie das in einem Schlamme des
                Unverständnisses vergrabene Auge der Seele allmälig hervor und leitet

                es nach Oben, indem sie als Stützen und Mitführerinnen jene von uns
                durchgegangenen Künste benützt, welche wir zwar häufig aus
                Gewohnheit als Wissenschaften bezeichnen, aber eigentlich eines
                anderen Namens bedürfen, welcher an Deutlichkeit über das Meinen
                hinauf, an Dunkelheit aber unter das Wissen herunter geht; als ein
                Nachdenken aber bezeichneten wir dieß im Obigen irgendwo B. VI, Cap.
                21.; es handelt sich aber hier, wie mir scheint, nicht um einen Streit

                betreffs des Samens, wenn man noch über so Vieles, wie uns obliegt,
                eine Erwägung anstellen muß. – Nein, allerdings nicht, sagte er, sondern
                nur um einen Namen, welcher bezüglich des Sprachausdruckes dasjenige
                deutlich bezeichnet, was er in unserer Seele bedeutet. –
                     14. Gefällt es uns also noch, sagte ich, wie dort im Obigen den ersten
                Theil als Wissenschaft, den zweiten als Nachdenken, den dritten als

                Glauben, und den vierten als Vermuthung zu bezeichnen, und daß die
                letzteren beiden zusammen das Meinen, die ersteren beiden zusammen
                aber die Denkthätigkeit seien, und daß das Meinen sich auf das Werden,
                das Nachdenken aber auf die Wesenheit beziehe, und daß ebenso wie die
                Wesenheit zum Werden, auch die Denkthätigkeit zum Meinen und die
                Wissenschaft zum Glauben und das Nachdenken zur Vermuthung sich
                verhalte; hingegen die nach eben diesem nemlichen Verhältnisse

                vorgenommene Doppeltheilung eines jeden von beiden, nemlich sowohl
                des Gegenstandes der Meinung, als auch des Gegenstandes des Denkens,
                wollen wir, o Glaukon, bei Seite lassen, damit sie uns nicht in noch
                vielmal mehrere Begründungen verwickle, als die bereits von uns
                durchgegangenen sind. – Aber ich wenigstens, sagte er, bin in allem
                Uebrigen, so weit ich folgen kann, der nemlichen Meinung. – Wirst du

                also auch einen Dialektiker denjenigen nennen, welcher den Grund der
                Wesenheit eines jeden Dinges erfaßt? und von jenem, welcher nicht im
                Stande ist, sich und Andern eine Begründung zu geben, eben insoweit er
                dieß nicht kann, dann sagen, daß er in diesem Betreffe keine Vernunft
                habe? – Wie sollte ich ja auch, erwiederte er, anders sagen? – Nicht wahr
                also, auch betreffs des Guten verhält sich’s ebenso; wer nemlich nicht im
                Stande ist, die Idee des Guten ihrem Grunde nach von allen übrigen

                loszutrennen und so festzustellen, und gleichsam wie in einem Kampfe
                durch alle Beweisgründe sich durchschlägt, wobei er nemlich nicht
                zufolge dem Scheine, sondern zufolge der Wesenheit den Beweis zu
                führen sich vornähme, und in all diesem nicht mit einer fehlerlosen





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