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CD JOHANN MATTHESON „BORIS GOUDENOW“ – Live-Mitschnitt von den Innsbrucker Festwochen 2021; cpo

02.10.2022 | cd

CD JOHANN MATTHESON „BORIS GOUDENOW“ – Live-Mitschnitt von den Innsbrucker Festwochen 2021; cpo

mathes

Über Johann Mattheson, am Hamburger Johanneum ausgebildetem Sänger, der Opern schrieb und in ihnen auch selbst als Tenor oder Cermbalist auftrat, ist wohl am ehesten die Geschichte über den fast tödlich endenden Konflikt mit Georg Friedrich Händel bekannt. Der Grund für die Zuspitzung der unrühmlichen Feindschaft und Konkurrenz war die Vorstellung von Matthesons Oper „Die unglückselige Cleopatra“ vom 5. Dezember 1704. Händel dirigierte und accompagnierte, Mattheson wollte nach seiner pathetischen Darstellung des Todes vom Marc Antonius wieder zum Pult, um dort die Vorstellung zu Ende zu leiten. Händel weigerte sich seinen Platz aufzugeben. Eine Ohrfeige und Aufforderung zum nächtlichen Duell am Gänsemarkt später befetzten sich die beiden eitlen Streithansln mit dem Säbel. Nur ein großer metallener Knopf am Rock Händels, an dem die Klinge Matthesons zerbrach, rettete dem jungen Händel das Leben.

Die Geschichte erzählt viel über den reizbaren Charakter, den Ehrgeiz die Selbstüberhebung des Johann Mattheson. Zuvor schon soll der dreieinhalb Jahre ältere Mattheson Händel bei der Verteilung der Rollen im Theater herablassend behandelt und mit bissigen Kommentaren versetzt unterrichtet haben. Vielleicht lag der Grund für die subjektiv vermeintliche Überlegenheit Matthesons darin, dass er den gut bezahlten Posten eines Musiklehrers beim englischen Gesandten John Wyche, dem Widmungsträger des „Boris“, innehatte und später gar zum Hofmeister und Gesandtschaftssekretär befördert wurde. Ein Mensch, der Kunst und Politik geschickt verquickte und davon profitierte. Zu erwähnen ist, dass Mattheson Händel im Unterricht des Wyche-Sohns Cyril nachfolgte, weil Händel selbst dieser Aufgabe nur unzureichend entledigt haben soll…

Der Frage, warum die Oper nicht – wie vorgesehen – 1710 aufgeführt wurde, widmet der Musikforscher Johannes Pausch im Booklet eine stringente wie äußerst verblüffende Erklärung: Es dreht sich um das hypothetische Engagements Englands im nordischen Krieg, um ein Arrangement zwischen Russland und Schweden, „um zumindest eine Teilrestauration der schwedischen Hegemonie zu ermöglichen. Ein diplomatischer Fingerzeig von der Bühne?“ Die Unterhauswahlen in England machten dem einen Strich durch die Rechnung. Der schließliche Wahlsieg der oppositionellen Torys, die versprochen hatten, aus dem ungeheuer teuren Spanischen Erbfolgekrieg auszutreten, ließ wohl keine Option mehr für einen Kriegseintritt Englands im Norden. Also nix war es mit arios gepflegter Geheimdiplomatie. Die sich intensivierenden Handelsbeziehungen zwischen West und Ost haben vielleicht auch eine Rolle in diesem einzigartigen kulturell verbrämten (wirtschafts-)politischen Krimi gespielt.

Genauso abenteuerlich ist die Geschichte der autographen Partitur, die von der Hamburger Stadtbibliothek im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und in die Sowjetunion verbracht wurde. 1998 wurden die Noten aus der armenischen Hauptstadt Erewan restituiert. So kam es, dass „Boris Goudenow“ oder „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“ oder „Die mit der Neigung glücklich Verknüpfte Ehre“ in drei Akten von Johann Mattheson erst am 29. Jänner 2005 in Hamburg konzertant uraufgeführt wurde und am 18. Juni 2005 in Boston erstmals szenisch inszeniert. Am 30. August 2007 wurde die Oper im Hamburger St. Pauli Theater anlässlich der 50-jährigen Städtepartnerschaft mit St. Petersburg mit einer einzigen Vorstellung gewürdigt und später im selben Jahr in St. Petersburg und Moskau gezeigt.

Schnitt: Innsbruck August 2021: Eine szenische Aufführung ist angesetzt, der vorzügliche Audio-Mitschnitt wurde nun bei cpo veröffentlicht, einem Label das sich schon mit der Publikation von zwei unterschiedlichen Weihnachtsoratorien („Das größte Kind“, „Die heilsame Geburt“) des Johann Mattheson um die Rehabilitierung dieses Komponisten verdient gemacht hat.

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Die Musik Johann Matthesons ist ganz gewiss unterschätzt. Mir gefällt die originelle Handschrift des Komponisten auch und gerade mit der Vertonung des musikgeschichtlich von Mussorgski vereinnahmten Boris-Stoffes besonders gut. Die Oper in drei Akten erzählt die bekannte Story der intriganten Machtnahme des russischen Fürst Boris Goudenow, seine Krönung zum russischen Zaren samt den obligaten Nebenhandlungen, wechselnden Liebesgeschichten, Betrug, Verbannungen und Begnadigungen inklusive.

Da es sich um eine Barockoper in deutscher Sprache handelt (Anm.: einige Arien werden auf Italienisch gesungen, „weil es die Mode und weil die italienische Sprache der Musique sehr geneiget und ihr sonderlichen Vortheil verschaffet.“), ist der musikalische Duktus durch die Abfolge von Rezitativen, Arien, Arietten, Chören und Ensembles bestimmt.

Musiziert wird vom Instrumentalensemble „Theresia“ unter der künstlerischen Leitung von Andrea Marchiol kontrastreich, dynamisch weit gespannt, flüssig und in perfekter Synthese mit einem jungen, leidenschaftlich engagiert ihre jeweiligen Rollen interpretierenden Ensemble. Allen voran gefallen die drei sonoren Bässe Olivier Gourdy (Boris Goudenow), Sreten Manojlovic (Fedro, ein Bojar) und der Ukrainer Yevhen Rakhmanin (Theodorus Iwanowitz, Großfürst von Moskau).

Welch Rarität im Universum der Barockoper, das andernorts in Neapel und Rom des 18. Jahrhunderts von launischen und die hohen Noten virtuos feiernden Kastraten bestimmt war. Aber auch die Sopranistinnen Julie Goussot (Axinia, Tochter des Boris), Flore Van Meerssche (Irina, Gemahlin des Großfürsten und Schwester des Boris) und Alice Lackner (Olga, russische Fürstin) singen profiliert, ohne je ihren überragenden Ausdruckswillen purem Wohlklang zu opfern. Die Tenorpartien sind den dänischen und schwedischen Fürsten Josennah (Eric Proce) und Gavurst (Joan Folqué) vorbehalten. Auch sie agieren gekonnt mit perfekter Diktion und die Sinne belebender Spielfreude.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

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