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STUTTGART/ Schauspielhaus: SIEBZEHN SKIZZEN AUS DER DUNKELHEIT nach Arthur Schnitzlers „Reigen“. Premiere

11.07.2021 | Theater

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Celina Rongen, Felix Strobel. Foto: Katrin Ribbe

Premiere „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“ nach Arthur Schnitzlers „Reigen“ im Schauspielhaus am 10. Juli 2021/STUTTGART

Ein Schnitt durch die Gesellschaft

Diese Adaption von Arthur Schnitzlers „Reigen“ in der Bearbeitung von Roland Schimmelpfennig besticht durch ihre Originalität. In der Inszenierung von Tina Lanik (Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier) steht der Blick auf unsere heutige moderne Welt im Vordergrund. Und am Ende läuft es immer auf Sex hinaus. Eine Frau trifft auf einen Mann, der wiederum auf eine Frau trifft, die auf einen Mann trifft. Dieser ewige erotische Kreislauf erfährt hier alle möglichen Variationen.

Im Jahre 1896 schrieb Arthur Schnitzler die zehn Szenen des „Reigen“ und durchwanderte mit seinen Figuren alle Gesellschaftsschichten vom Proletariat bis zur Aristokratie. Machtverhältnisse, Erotik, Verlangen und Liebe erreichen hier einen Siedegrad, der auch auf diese Inszenierung übergeht, wobei Roland Schimmelpfennig die starre Struktur dieses seltsamen Reigens in wirksamer Weise durchbricht und ad absurdum führt. Es kommt zu einem neuen Rhythmus mit einer modernen Melodie. Alles geschieht in einem heutigen Gewand. Der goldene Vorhang im Hintergrund deutet dies an. Manchmal konzentriert sich das Geschehen auch auf einen grellen Lichtkegel. Und die suggestive Musik von Cornelius Borgolte unterstreicht diesen Eindruck. Eine transsexuelle Prostituierte tritt auf, die ursprünglich aus dem arabischen Raum stammt. Ein von einem Auslandsaufenthalt zurückgekehrter Soldat wird hier von dieser Prostituierten verführt. Dann geht rasch das Licht aus. Ein Zimmermädchen träumt aus der Ferne und wird von seinem Vorgesetzten fast vergewaltigt. Dieser Hotelangestellte schreckt nicht vor seinem gewaltsamen Übergriff zurück. Ein weiteres Online-Dating geht fast schief, bis die Frau zuletzt beherzt zugreift. Bei einer weiteren Frau ist die Beziehung zu ihrem Mann erkaltet und sie sucht ihr Glück in flüchtigen Beziehungen: „Das hier? Was ist das? Unser Leben? Mein Leben?“ Ein intellektueller Mann erträgt diesen Freiheitsanspruch nicht mehr und zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Dann hat er mit einer Neunzehnjährigen Geschlechtsverkehr. Und da gibt es auch  noch eine Schauspielerin, die sich durch ein für sie geschriebenes Drehbuch ein Comeback erhofft.  Mit einem obskuren Besuch des Filmmoguls bei der Prostituierten schließt sich der Kreis.

Man spürt dabei, dass sich der Autor Roland Schimmelpfennig für Schnitzlers Figurenzeichnungen wenig interessiert, was die Regisseurin Tina Lanik aber immer wieder relativieren möchte. Die besonderen Konstellationen als repräsentativer „Schnitt durch die Gesellschaft“ kommen aber nicht zu kurz. Hier sollen die Figuren mehr Vergangenheit und Zukunft wie bei Schnitzler haben – was mehr oder weniger gut gelingt. Manche Passage könnte auch noch präziser herausgearbeitet werden. Schimmelpfennig sagt selbst, dass „MeToo“ ein Auslöser für dieses Stück gewesen sei. Dabei geht es auch um die Befreiung von Machtstrukturen in der Welt des Theaters und des Films. Sexueller Missbrauch, Erpressung und Gewalt werden thematisiert. 

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Matthias Leja, Katharina Hauter. Foto: Katrin Ribbe

Dominierend sind bei der Inszenierung eindeutig die Dunkelheit und das Skizzenhafte, Unfertige. Es wird immer nur ein kurzer Ausschnitt betrachtet, bei dem sich zwei Menschen treffen. Und es gibt keine Vor- und Nachgeschichte. Diesem Anspruch versuchen die Schauspieler gerecht zu werden, was hier weitgehend gelingt. Robert Rozic als Prostituierte Alejandra, Felix Strobel als Soldat Martin, Celina Rongen als unglückliches Zimmermädchen Jessica und Marco Massafra als deren Vorgesetzter Frank sind allesamt in ihren Verhaltensmustern spürbar gefangen wie in einem Spinnennetz. Und auch Katharina Hauter (Nina), Matthias Leja (Johannes), Paula Skorupa (Yazmina) sowie Valentin Richter (Drehbuchautor Nick), Sylvana Krappatsch (Schauspielerin Viviane) und die brillante Evgenia Dodina  (Produzent Victor) geben einen eindrucksvollen Einblick in das oftmals diffus-dunkle Seelenleben dieser seltsamen Protagonisten. Sie machen gar nicht erst den Versuch, sich aus ihrer gesellschaftlichen Isolation zu befreien. Die Machtverhältnisse zwischen den Paaren werden bei dieser Inszenierung eindeutig der Liebe geopfert. Gleichzeitig soll der Sex entzaubert werden. Echtes Begehren ist offensichtlich nicht die Antriebsfeder. Der Gelegenheitssex wirkt dabei eher verwirrend. Warum Arthur Schnitzler die Bühnenaufführung seines „Reigen“ testamentarisch untersagt hat, bleibt ein Rätsel. Schreckte er vor seiner eigenen literarischen Kühnheit zurück? Nach der mutigen Berliner Aufführung von Gertrud Eysoldt kamen alle Beteiligten ja auf die Anklagebank, wurden aber schließlich freigesprochen. Interessant ist allerdings die Frage, ob auch die Regisseurin Tina Lanik einen Freispruch für die Gesellschaft fordert. Dies ist nicht eindeutig zu beantworten. Aber es gelingt ihr, einen tiefen Blick in erschreckende seelische Abgründe zu werfen. Das Unglück jedes Einzelnen wird geradezu seziert. Und es bleibt die Frage offen, ob diese Menschen angesichts der sexuellen Desorientierung überhaupt glücklich sein wollen.

Alexander Walther

 

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