Nr. 53/2011
Lauterkeit der Recherche / Recht am eigenen Bild / Menschenwürde

(X. c. «Transhelvetica»); Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 9. November 20

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I. Sachverhalt

A. In der Ausgabe 04/2011 der Zweimonats-Zeitschrift «Transhelvetica – Schweizer Magazin für Reisekultur» erschien am 17. April 2011 eine mit Bildern des Fotografen Philippe Hollenstein illustrierte sechsseitige Reportage von Samuel Schlaefli mit dem Titel «Muggio – La vita è triste». Der Text schildert die Anreise nach Muggio, «an den äussersten Zipfel des Tessins» und berichtet über den Besuch des Journalisten und des Fotografen bei einer vom «Alter gekrümmten Frau», von der weiter zu lesen ist: «Mit wachem Blick beäugt sie skeptisch die beiden Fremdlinge. Die Ruhe in den tiefblauen Augen erzählt von einem entbehrungsreichen Leben und dem Stolz, von nichts und niemandem abhängig zu sein. Chiarina heisst die Frau, wie wir später im Dorf erfahren. Grimmig, aber mit verstecktem Lächeln erlaubt Chiarina, sich fotografieren zu lassen. ‹Va bene, pero dopo sparisci›. Eines der Bilder, die den Bericht illustrieren, zeigt das Gesicht von Chiarina in einer Grossaufnahme.

B.
Am 7. Juni 2011 beschwerte sich X., eine Freundin von Chiarina, der abgebildeten Frau, beim Presserat über die «unerwünschte Fremddarstellung». Die Zeitschrift habe mit der Veröffentlichung das Recht am eigenen Bild der 84-jährigen Bäuerin «gröblich verletzt. (…) Als die Bäuerin von Hollenstein fotografiert wurde, konnte ihr nicht klar sein, dass es sich um einen Fotografen handelt und dass die Fotos allein dem Zweck der Veröffentlichung dienten. Das hat sie mir und andern Besuchern am Sonntag, 29. Mai 2011, in ihrer einfachen Sprache erklärt. Vor der Veröffentlichung wurde von ihr keine Einwilligung oder Erlaubnis eingeholt. Meiner Ansicht nach wurde diese Frau bewusst hintergangen. Sie hat erst von mir überhaupt erfahren, dass es diesen Artikel gibt. Sie hat selbstverständlich auch nie ein Exemplar erhalten. Die alte Bäuerin ist ein Original. Viele Medienschaffende hätten sie schon gern interviewt, gefilmt und fotografiert. Sie hat das entschieden abgelehnt. Immer! Alle haben das respektiert – ausser den Herren Schlaefli und Hollenstein.»

Neben der Richtlinie 7.1 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Privatsphäre) verletze der beanstandete Bericht auch die Richtlinie 8.1 zur «Erklärung» (Menschenwürde). Obwohl der Artikel von «einer vom Alter gekrümmten Frau» berichte, gäben der Journalist und der Fotograf diese «erbarmungslos (…) der Öffentlichkeit und einer eventuellen Aggression preis». Schliesslich führt die Beschwerdeführerin auch die Richtlinie 4.1 zur «Erklärung» (Verschleierung des Berufs) an. Samuel Schlaefli und Philippe Hollenstein hätten die Ahnungslosigkeit der alten Frau ausgenützt und wohl damit gerechnet, dass ein Artikel in einem deutschsprachigen Magazin kaum den Weg zu ihr finden würde.

C. Am 18. Juli 2011 wies Jon Bollmann, Geschäftsleiter der Passaport AG, die «Transhelvetica» herausgibt, die Beschwerde als unbegründet zurück. Eine Persönlichkeitsverletzung der alten Frau sei weder geplant gewesen noch habe sie tatsächlich stattgefunden. Den Autoren sei die Angelegenheit sehr unangenehm, sie hätten sich persönlich bei der Betroffenen für allenfalls entstandene Nachteile entschuldigt.

Die Bilder habe der Fotograf vor einigen Jahren mit Einverständnis der Abgebildeten gemacht. Die Bilder seien für die Veröffentlichung gedacht. Dies sei der Porträtierten so mitgeteilt worden und sie habe dazu ihr Einverständnis gegeben. Dabei sei es «unvorstellbar, dass Frau Bulla keine Kenntnis davon hatte, dass es sich bei Philippe Hollenstein um einen Fotografen handelte. Sie liess ihn offensichtlich in ihr Haus hinein und war einverstanden, dass es von innen fotografiert wurde.»

Für den Artikel vom 17. April 2011 hätten Philippe Hollenstein und Samuel Schlaefli auf die bereits vorhandenen Bilder zurückgegriffen und hätten dazu einen neuen Text verfasst, wofür der Journalist ins Tessin gereist sei. Aus diesem Material hätten die beiden Autoren ein einfühlsames Gemeindeporträt über Muggio verfasst, das «über weite Strecken mehr literarischer Art denn Reportage» sei. Dort, wo der Text «Frau Bulla erwähnt, tut er dies sehr respektvoll und stellt sie als beeindruckende Frau mit starkem Willen dar, welche sich ihren Lebensstil selber aussucht und gestaltet. Dass Frau Bulla gekrümmt geht, entspricht den Tatsachen und verstärkt das Bild einer aussergewöhnlichen Person, die sich nicht einfach von ihrem Weg abbringen lässt.»

D. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde am 5. August 2011 seiner 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

E. Am 8. September 2011 reichte X. dem Presserat ein Entschuldigungsschreiben von Philippe Hollenstein und Samuel Schlaefli nach. Darin räumen die beiden ein, es sei ein Fehler gewesen, die ursprünglich für eine Ausstellung in einem kleinen Atelier gedachten Bilder für die Reportage in «Transhelvetica» zu verwenden, ohne Frau Bulla vorher erneut um ihre Einwilligung zu bitten.

F. Am 16. September 2011 erwiderte Jon Bollmann, der Sachverhalt habe sich durch die Entschuldigung der Herren Schlaefli/Hollenstein nicht verändert. Der Wirbel, den die Beschwerde veranstalte, sei vermutlich störender als die Berichterstattung in «Transhelvetica», für welche die Redaktion – mit Ausnahme der Beschwerde aus Muggio – sehr positive Rückmeldungen erhalten habe.

G. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 9. November 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Zwischen den Parteien ist bestritten, wie die Bilder von Chiarina entstanden sind. Während die Beschwerdeführerin dem Fotografen vorwirft, den Beruf verschleiert zu haben, behauptet «Transhelvetica», die Bilder mit dem Einverständnis der Abgebildeten gemacht zu haben. Gestützt auf die Beschwerdeakten ist für den Presserat eine Verletzung der Ziffer 4 der «Erklärung» (Lauterkeit der Recherche; Verschleierung des Berufs) nicht nachgewiesen, zumal die Bilder – laut «Transhelvetica» mit Einverständnis von Frau Bulla – offenbar zunächst für eine Ausstellung verwendet wurden und die Idee einer journalistischen Verwertung erst später entstand.

2. Selbst wenn aber die Betroffene einwilligte, die Fotos für eine Ausstellung zu verwenden, durfte «Transhelvetica» – wie dies nun auch Samuel Schlaefli und Philippe Hollenstein einräumen – die Bilder nicht einige Jahre später ohne erneute Kontaktnahme mit Frau Bulla in einem ganz anderen Kontext verwenden. Indem «Transhelvetica» es unterliess, die erneute Einwilligung einzuholen, hat die Redaktion deshalb die Ziffer 7 der «Erklärung» (Respektierung der Privatsphäre; Recht am eigenen Bild) verletzt.

3. Nicht verletzt sieht der Presserat hingegen die Menschenwürde der Abgebildeten (Ziffer 8 der «Erklärung»). Zwar verschweigt Samuel Schlaefli bei der Schilderung von Chiarina deren körperliche Schwäche nicht. Dies allein würdigt sie aber keineswegs in ihrem Menschsein herab. Zumal der Text im Gegenteil die Würde der alten Frau betont und ihre Lebenshaltung sogar in mancher Hinsicht als beispielhaft wertet.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2.
«Transhelvetica» hat mit der Veröffentlichung eines vor einigen Jahren für eine Ausstellung in einem kleinen Atelier entstandenen Personenbildes in einem anderen Kontext, die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte
der Journalistinnen und Journalisten» (Recht am eigenen Bild) verletzt. Die Redaktion wäre verpflichtet gewesen, vor der Veröffentlichung die Einwilligung der Betroffenen einzuholen.

3. «Transhelvetica» hat die Ziffern 4 (Verschleierung des Berufs) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung» nicht verletzt.