Nr. 63/2007
Wahrheitssuche / Unterschlagung wichtiger Informationen / Lauterkeit der Recherche / Respektierung der Privatsphäre

(X. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 28. Dezember 2007

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Januar 2007 berichtete Benjamin Styger in der Regionalausgabe Rechtes Zürichseeufer des «Tages-Anzeiger» unter dem Titel «Wehrhaft gegen Genossenschaftsbau» über einen Informationsabend des Quartiervereins Allmend zu einem möglichen Genossenschaftswohnbauprojekt in Küsnacht. An der Veranstaltung hätten die Gemeindebehörden und die Baugenossenschaft über das Vorhaben informiert und sich den kritischen Fragen von Anwohnern und Mitgliedern des Quartiervereins gestellt. Rund zwei Drittel der Anwesenden seien dem beabsichtigten Bau von Genossenschaftswohnungen gegenüber kritisch eingestellt. Zur Illustration der «hitzigen» Diskussion gab der Autor ausgewählte Voten im Bericht als Mundartzitate wieder.

B. Am 25. Februar 2007 gelangte X. mit einer Beschwerde an den Presserat. Er beanstandete, der Bericht enthalte falsche Informationen. So sei darin der Name einer am Anlass nicht anwesenden Person aufgeführt worden. Es habe sich nicht um einen öffentlichen Anlass gehandelt. Gemäss Einladung sei er nur für Mitglieder des Quartiervereins bestimmt gewesen. Die Anwesenheit des Journalisten sei nicht bekannt gewesen, dieser habe einseitig Partei ergriffen und zudem dem Beschwerdeführer keine Fragen gestellt. Durch die Wiedergabe von Zitaten in Mundart seien zudem andere Meinungen und berechtigte Fragen zum Projekt verhöhnt worden. Schliesslich habe der Bericht auch die Privatsphäre von einzelnen Personen verletzt. Mit der Veröffentlichung des beanstandeten Artikels habe der «Tages-Anzeiger» die Ziffern 1 (Wahrheitssuche) und 3 (Unterschlagung von wichtigen Informationen), 4 (Lauterkeit der Recherche) und 7 (Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

C. Am 2. Mai 2007 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeiger» die Beschwerde von X. als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführer erläutere nicht näher, welche im Artikel erwähnte Person angeblich am Informationsabend nicht anwesend gewesen sei. Die Veranstaltung sei sehr wohl öffentlich gewesen, was insbesondere auch aus der Aktennotiz der Gemeinde hervorgehe, in der die Präsenz von zwei Journalisten ausdrücklich vermerkt worden sei. Benjamin Styger habe sich im Vorfeld der Veranstaltung bei der Gemeinde Küsnacht erkundigt und dort die Auskunft erhalten, die Veranstaltung sei öffentlich und die Presse zugelassen. Benjamin Styger habe dem Beschwerdeführer am fraglichen Abend sogar die Hand geschüttelt. Hingegen habe er ihn tatsächlich nicht weiter befragt, was aber nicht zwingend gewesen sei. Er habe für den geplanten und veröffentlichten Versammlungsbericht die Veranstaltung besucht und anschliessend noch mit dem Baugenossenschaftspräsidenten, einem kritischen Anwohner, dem Gemeindepräsidenten sowie dem offiziellen Delegierten des Quartiervereins Gespräche geführt. Tags darauf habe er nochmals mit beiden Seiten telefoniert, um sich zu vergewissern, dass er alles richtig verstanden habe. Damit habe er genug für die Wahrheitssuche getan. Die Wiedergabe von Zitaten im Dialekt habe nicht das Geringste mit der Verhöhnung anderer Meinungen und berechtigter Fragen zu tun. Schliesslich greife der nicht näher begründete Vorwurf einer Verletzung der Privatsphäre ins Leere. Die im Artikel genannten Personen hätten sich an einer öffentlichen Veranstaltung selber namentlich vorgestellt und geäussert.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 10. Mai 2007 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever sowie Esther Diener-Morscher behandelt.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 28. Dezember 2007 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss konstanter Praxis des Presserates kann aus der Ziffer 1 der «Erklärung» und der zugehörigen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgeleitet werden. Berufsethisch sind auch einseitige, parteiergreifende und fragmentarische Standpunkte zulässig. Soweit der Beschwerdeführer, ohne dies näher zu begründen, pauschal geltend macht, der «Tages-Anzeiger» habe wichtige Aussagen unterschlagen und einseitig Partei ergriffen, steht eine Verletzung der Ziffern 1 oder 3 der «Erklärung» deshalb von vornherein ausser Diskussion. Der Presserat hat bereits in der Stellungnahme 7/2000 darauf hingewiesen, dass ein Medienbericht selbst dann die Wahrheit wiedergeben kann, wenn er bloss einen einzigen Aspekt einer Veranstaltung wiedergibt. Zudem richte sich die Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen nach journalistischen Kriterien und nicht danach, ob ein Aspekt aus Sicht des Veranstalters zentral sei oder nicht. Berufsethisch ist es deshalb nicht zu beanstanden, wenn der Veranstaltungsbericht des «Tages-Anzeiger» – ähnlich wie derjenige der «Zürichsee-Zeitung» («Misstrauen auf der Allmend vor dem Neuen») – den Akzent auf die von Anwohnern geäusserten Befürchtungen und Bedenken legte. Und ebenso war es zulässig, diese Bedenken in Form von einzelnen Mundartzitaten zu vermitteln, um so der Leserschaft ein Stimmungsbild der Veranstaltung zu vermitteln, wie sich dieses zumindest aus der Sicht des Journalisten präsentierte. Darin ist nach Auffassung des Presserates keine unzulässige Herabsetzung anderer Meinungen und kritischer Fragesteller zu sehen.

2. Ebenso zu verneinen ist eine Verletzung von Ziffer 4 der «Erklärung». Immerhin handelte es sich um eine Informationsveranstaltung über ein Vorhaben der Gemeinde. Selbst wenn diese – wie dies der Beschwerdeführer behauptet – in einem privaten Rahmen innerhalb des Quartierverfahrens stattgefunden hätte, bestand ein öffentliches Interesse daran, über die Fragen, Befürchtungen und Kritik von betroffenen Anwohnern über das zur Diskussion stehende Genossenschaftswohnbauprojekt zu berichten. Ob dieses öffentliche Interesse auch dann überwogen hätte, wenn die Veranstaltung explizit unter Ausschluss der Medien in einem deklariert privaten Rahmen stattgefunden hätte, kann hier offen bleiben. Wie sich insbesondere aus der von der Gemeinde Küsnacht erstellten Aktennotiz ergibt, hat Benjamin Styger den Zweck seiner Anwesenheit offensichtlich nicht verschleiert. Der Beschwerdeführer gibt in einem von ihm dem Presserat eingereichten Schreiben an die Gemeinde zudem an, dass er die Anwesenheit einer Journalistin der «Zürichsee-Zeitung» bereits zu Beginn der Veranstaltung registrierte. Zumindest ihm persönlich war es also bewusst, dass voraussichtlich ein Zeitungsbericht über die Veranstaltung erscheinen würde. Hätte ihn dies gestört, hätte er die Frage der Anwesenheit von Medienschaffenden bereits an der Veranstaltung klären lassen können.

3. Generell ist es bei derartigen halböffentlichen Vereinsanlässen häufig, dass in den lokalen Medien darüber berichtet wird. Wer sich an einer Vereinsversammlung pointiert äussert, muss dementsprechend damit rechnen, unter Umständen mit namentlicher Nennung in einem Medienbericht zitiert werden. Und selbst wenn einzelne Teilnehmer der Orientierungsveranstaltung nicht über die Anwesenheit der beiden Medienvertreter im Bilde gewesen sein sollten und überhaupt nicht damit rechneten, mit ihrem Votum in einem Zeitungsbericht erwähnt zu werden, war dies jedenfalls nicht Benjamin Styger anzulasten. Hatte sich dieser doch ebenso wie die Kollegin der «Zürichsee-Zeitung» offensichtlich korrekt als Journalist angemeldet. Entsprechend erscheint auch die vom Beschwerdeführer nicht näher begrün
dete Rüge der Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» (Respektierung der Privatsphäre) unbegründet.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Mit der Veröffentlichung des Artikels «Wehrhaft gegen Genossenschaftsbau» in der Regionalausgabe Rechtes Zürichseeufer vom 27. Januar 2007 hat der «Tages-Anzeiger» die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Unterschlagung wichtiger Tatsachen), 4 (Lauterkeit der Recherche) und 7 (Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.