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Der erste Schritt zur Fließfertigung

Einfluss von PAT auf die Produktionsverfahren und Anlagen in der pharmazeutischen Industrie
Der erste Schritt zur Fließfertigung

Process Analytical Technology (PAT) ist das Schlagwort in der pharmazeutischen Industrie. Die von der FDA verabschiedete Richtlinie „PAT – A Framework for Innovative Pharmaceutical Development, Manufacturing, and Quality Assurance“ fordert ein System für die Gestaltung, Analyse und Kontrolle der pharmazeutischen Herstellung und soll die Grundlage für eine Effizienzsteigerung bei pharmazeutischen Herstellungsprozessen bilden. cav sprach mit Dr. Frank Stieneker von der Arbeitsgemeinschaft für pharmazeutische Verfahrenstechnik über den Einfluss von PAT auf die Produktionsverfahren und Anlagen.

cav: Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell für die Pharmaindustrie?

Dr. Stieneker: Arzneimittelqualität und somit auch Arzneimittelsicherheit waren immer die wichtigsten Anforderungen an die Pharmaindustrie. Erstmalig wurde dieses mit der Einführung der GMP-Richtlinien in internationalen Regelwerken festgeschrieben. Die Einführung und Weiterentwicklung von GMP (ausdrücklich mit angesprochen sei hier alles, was unter dem Stichwort GxP diskutiert wird) dauert heute etwa 30 Jahre an und führte neben vielen Verbesserungen hinsichtlich Arzneimittelsicherheit auch dazu, dass die Abteilungen zur Qualitätssicherung und -kontrolle heute etwa doppelt so groß sind wie die Produktionsabteilungen. Eine Arbeitsgruppe der FDA untersuchte diese Entwicklung und stellte fest, dass die Verbesserung der Arzneimittelqualität bei weitem nicht Schritt hält mit der Kostensteigerung im Bereich der Qualitätskontrolle, -sicherung und -management.
cav: Wie kann das Problem gelöst werden?
Dr. Stieneker: Um diesen Kostensteigerungsprozess zu beenden, wenn möglich rückzuführen, aber die Arzneimittelqualität trotzdem zu steigern, wird ein neuer Ansatz entwickelt. Validierte, stabile Produktionsprozesse müssen zwangsläufig zu Produkten mit der geforderten Qualität führen, so dass die statistische Qualitätskontrolle und folgende Freigabe des Endprodukts deutlich weniger aufwendig gestaltet werden kann. Angestrebt wird die parametrische Steuerung der Produktion und Freigabe der Produkte. Dieser Ansatz, also Prozessstabilität in der Pharmaproduktion, wird aktuell unter dem Stichwort PAT (Process Analytical Technology) diskutiert und als Herausforderung für die nächsten Jahre bezeichnet. Bei der Diskussion wird jedoch häufig verkannt, dass die parametrische Steuerung eines Produktionsprozesses mit einer nachfolgenden parametrischen Freigabe des Endprodukts für andere Prozessindustrien ein alter Hut ist, der Blick über den Tellerrand also vieles erleichtern könnte.
cav: Welche Vorteile ergeben sich durch die Einführung von PAT?
Dr. Stieneker: Oberflächlich betrachtet ist PAT ein Werkzeug, um die Stabilität der Produktionsprozesse zu verbessern und auf diesem Weg die Produktqualität durch das Herstellungsverfahren sicherzustellen. In die Tiefe gehend zeigt sich PAT als Möglichkeit, kontinuierlich die Flexibilität der Produktionsanlagen und der Prozesse zu verbessern und auf diesem Weg die Problematik der sinkenden Chargengrößen und zunehmender Variantenvielfalt in den Griff zu bekommen. PAT könnte – richtig eingesetzt – ein erster Schritt hin zur Fließfertigung sein und nachfolgend, wenn das Produktionsumfeld grundlegend angepasst wird, ein unverzichtbarer Baustein zur ziehenden Fertigung und damit zur markt- und bedarfsgerechten Produktionsplanung. Eine konsequente Einführung von PAT könnte somit mittel- bis langfristig die Wirtschaftlichkeit der Pharmaproduktion nachhaltig verbessern.
cav: Wie erfolgt die Umsetzung von PAT in der Praxis?
Dr. Stieneker: Aktuell geht die Diskussion in eine andere Richtung: PAT wird oft als Instrument verstanden, die Qualitätskontrolle an die Linie zu holen. Als Beispiel ist hier die immer wiederkehrende Nennung von NIR (Nahinfrarotspektroskopie) anzuführen. Hier soll die 100 %ige Kontrolle des Endprodukts langfristig die Freigabe durch die Qualitätskontrolle überflüssig machen. Die Befürworter dieser Vorgehensweise argumentieren mit einer Verbesserung der Produktqualität, was sicherlich richtig ist – allerdings wird diese Verbesserung durch eine enorme Steigerung des Prüfaufwandes erreicht und widerspricht somit dem Gedanken, dass durch PAT der Qualitätskontrollaufwand verringert werden soll.
cav: Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?
Dr. Stieneker: Richtiger wäre es, wenn der Betreiber einer Anlage als ersten Schritt ein Screening aller denk- und messbaren Prozessparameter durchführen würde. Diese Parameter müssten einzeln hinsichtlich folgender Anforderungen beurteilt werden:
  • Hat dieser Parameter unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss auf die Produktqualität?
  • Lässt sich dieser Parameter mit ausreichender Genauigkeit messen?
  • Lässt sich dieser Parameter mit der nötigen Frequenz messen?
  • Kann dieser Parameter als Steuerelement in einem Regelkreis dienen?
  • Hat die Messmethode selbst einen unter Umständen negativen Einfluss auf die Produktqualität?
  • Haben Toleranzen verschiedener Parameter eventuell additive, multiplikative oder sogar exponentielle Einflüsse auf die Qualität?
Ein zweiter Schritt würde die notwendigen Regelkreise zur Steuerung der Anlagen in Echtzeit definieren. Diese Regelkreise müssten möglichst klein sein, um jeden einzelnen Prozessschritt schnell und präzise steuern zu können. Nachdem die Anlage unter Steuerung mit diesen Regelkreisen läuft, muss eine längere Optimierungsphase folgen, in der die Limits der einzelnen Parameter im Zusammenspiel untereinander neu definiert werden. In der Automobilindustrie hat sich hier das Stichwort flexible Standards etabliert. Die Vorgehensweise ist vergleichbar mit der eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses.
cav: Sind hierzu gravierende Veränderungen der Produktionsanlagen notwendig?
Dr. Stieneker: Die Weiterentwicklung der Produktionsanlagen unter dem Einfluss von PAT ist interessant. Monoanlagen stellen sicherlich nicht die gleiche Herausforderung dar, wie Anlagen, die flexibel für unterschiedliche Produkte eingesetzt werden sollen. Aber gerade diese Flexibilität ist eine der zukünftigen Anforderungen für die Pharmaindustrie, auch um die Vorteile von PAT im Hinblick auf eine marktgerechte, wirtschaftliche Produktion vor dem Hintergrund einer ziehenden Fertigung von sinkenden Chargengrößen zu nutzen. Eine konsequente Implementierung von PAT bedingt die parametrische Steuerung der Prozesse in Echtzeit. Eine Vielzahl von oft neuartigen Sensoren muss in das Anlagendesign integriert werden, sonst lassen sich die Forderungen nach modularen Regelkreisen zur Anlagensteuerung nicht umsetzen. In Abhängigkeit von den zu fertigenden Produkten müssen diese modularen Regelkreise und Anlagenbestandteile zur Steuerung des Prozesses an- oder abgeschaltet bzw. ein- oder ausgebaut werden, um die notwendige Flexibilität der Anlagen gewährleisten zu können. Die Steuerung dieser Regelkreise sollte möglichst mithilfe von Sensoren erfolgen, die inline Produktparameter oder ersatzweise Anlagendaten aufnehmen. Im Idealfall sind also auch die Sensoren Bestandteile der modularen Anlagenteile, die mit diesen getauscht werden können.
cav: Welche Konsequenzen ergeben sich für den Anlagenbetreiber?
Dr. Stieneker: Diese Forderung hat enorme Auswirkungen auf den Qualifizierungsaufwand der Anlagen sowie der Mess- und Regelsysteme. Intelligente Modulsysteme mit intelligenten Qualifizierungskonzepten müssen dafür sorgen, dass die Vorteile von PAT – abnehmender Validierungs- und Qualitätskontrollaufwand – nicht durch zunehmenden Qualifizierungsaufwand zunichte gemacht wird. Wenn alle beschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind und der Produktionsprozess mit hinreichender Sicherheit zur geforderten Produktqualität führt, kann als letzter Schritt die Abschaffung der statistischen Qualitätskontrolle und die Einführung der parametrischen Freigabe (Real Time Release) erfolgen – allerdings im Falle der Pharmaproduktion erst nach Änderung der entsprechenden Zulassungsdossiers und als größte Hürde der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Vor diesem Hintergrund wird PAT sicherlich eine Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte sein.
cav 463

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