KI und das problematische Versprechen der Individualisierung

Individualisierung ist aus zwei Gründen in der Fokus der Schulentwicklung und der Bildungspolitik geraten: Erstens wird deutlich, dass jede Klasse heterogen ist und Lernangebote nicht auf Gruppen, sondern auf einzelne Schüler*innen zugeschnitten werden müssen. Unterricht wird besser, wenn er auf persönliche Voraussetzungen abgestimmt ist, weil Lernen ein individueller Prozess ist. Zweitens hat die Ausstattung der Schulen die mediale Möglichkeit geschaffen, jedem Schüler und jeder Schülerin ihre eigene Lernumgebung zur Verfügung zu stellen. Sollten 1:1- oder BYOD-Settings sinnvoll genutzt werden, dann muss eine individualisierte Nutzung stattfinden.

Digitalisierung war immer schon an das Versprechen der Individualisierung gebunden. Mit KI-Möglichkeiten steigert sich dieses Versprechen. Ein Informatik-Kurs in Harvard bietet neu einen Bot, der in der Rolle eine Professorin agieren soll:

Unsere Hoffnung ist, dass wir dank KI ein Eins-zu-Eins-Lehrer-Schüler-Verhältnis im Kurs CS50 schaffen können, indem wir den Studierenden softwarebasierte Tools zur Verfügung stellen, die sie 24/7 beim Lernen unterstützen, ganz individuell auf ihre Art und Geschwindigkeit des Lernens zugeschnitten.

David Malan, zitiert nach Weindl 2023

Die Individualisierung geht über die Modulzeiten hinaus, sie wird umfassend. Ihre Begründung ist eine pädagogische: Der Einsatz von KI schafft ein optimales Betreuungsverhältnis. Alle Lernenden werden von einem KI-Bot betreut.

Philip Stade hat in einer Kritik dieses Arguments darauf hingewiesen, dass »Individualisierung« in diesem technischen Verständnis die Kehrseite eines Bildungssystems ist, das individuelle Beziehungen verunmöglicht. Er schreibt:

Im Sog der digitalen Transformation wollen in letzter Zeit immer mehr Schulen die 1:1-Ausstattung einführen. KI wird dadurch als Scheinlösung für die Probleme der Individualisierung „natürlich“ auf dem Präsentierteller dargeboten. Sowohl die 1:1-Ausstattung als auch KI werden von vielen als alternativlos für Schulen geframt.

Stade 2023

Was Stadt mit Scheinlösung meint: Individualisierung bedeutet ursprünglich, dass sich eine Lehrperson kümmert, die Bedürfnisse von Lernenden wahrnimmt, sich darauf einlässt, für Lernende ein Gegenüber darstellt. Die KI hingegen ist eine technische Erweiterung unserer eigenen Person, sie bietet keine andere Perspektive, keine Reibung, keine Reaktion.

KI-Individualisierung ist deshalb eine Scheinlösung, weil es an Möglichkeiten fehlt, im System auf Schüler*innen individuell einzugehen. Ich habe vor ein paar Jahren schon darauf hingewiesen, dass technische Lösungen oft personalisierte Bildung an die Stelle persönlicher Bildung setzen. Damit meine ich: Bildungsprozesse werden aus einem sozialen und demokratischen Rahmen gelöst. Die Frage nach dem Sinn des Lernens, dem Ziel wird entfernt, die technische Lösung garantiert, dass Lernen geglättet und optimiert wird. Wer mit einem KI-Bot lernt, kommt voran und erhält Lernaufgaben, die auf das eigene können abgestimmt sind. Aber weshalb diese Lernaufgaben gelöst werden müssen, wie Entscheidungen gefällt werden – das kann die KI nicht besprechen. Sie ist programmiert. Sie entscheidet nicht, sie funktioniert. Sie hat keine Erfahrungen, sondern greift auf Daten zu.

Individualisierung muss im Rahmen persönlicher Bildung erfolgen. Sie muss Menschen in ihren Entscheidungskompetenzen stärken, sie in die Frage nach dem Sinn des Lernens einbeziehen. Wenn KI dabei hilft, kann sie Individualisierung unterstützen. Sobald sie aber eine Verlegenheitslösung ist, weil echte Individualisierung nicht möglich ist, wird sie zu einem Machtapparat, die Menschen den Zugang zu Entscheidungen erschwert und es verhindert, Sinnfragen zu stellen.

1 Kommentar

  1. Kurt Wiedemeier sagt:

    Sehr gute Einordnung der Chancen und Gefahren einer mit KI unterstützten Individualisierung im Unterricht. Auch hier gilt: ein klarer, auf transparenten Kriterien basierter Einsatz kann hilfreich und effektiv sein und hebt sich so wohltuend ab von einem running Gag. Ich bleibe überzeugt, dass nur der Einsatz vieler unterschiedlicher Methoden das Lernen unterschiedlicher Individuen möglichst optimal ermöglicht. Für Lehrpersonen heisst dies: KI anschauen, situative Einsatzmöglichkeiten prüfen, ohne diese aber zu „überhöhen“. Lernen wird immer auch eine menschliche Beziehungsebene Lernende-Lehrende brauchen. Und das ist gut so!

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