– Die Freuden des Wiederlesens
Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, ob ich auch zu den Kindern gehört habe, die eine gerade erst zu Ende vorgelesene Geschichte sofort nochmal hören wollten; muss meine Eltern bei Gelegenheit mal fragen (es wäre allerdings gut möglich, dass ich unter anderem deshalb deutlich vor Schulbeginn lesen gelernt habe, um in dieser Hinsicht nicht mehr von der elterlichen Ausdauer abhängig zu sein).
Fest steht jedenfalls, dass ich trotz eines beständig wachsenden “Tsundoku”-Stapels an ungelesenen Büchern immer wieder den Impuls verspüre (und ihm in aller Regel auch nachgebe), ein bestimmtes Buch wieder zu lesen – zum zweiten, dritten, fünften oder auch zehnten Mal. Den Spitzenreiter auf der diesbezüglichen Rangliste habe ich zum ersten Mal mit 18 gelesen und seither ziemlich regelmäßig mindestens einmal pro Jahr.
Apropos Rangliste – hier die zehn Bücher/Buchreihen, die ich am haufigsten gelesen habe, mit einer (ungefähren und rein gefühlten) Angabe dazu, wie oft:
- George R. R. Martin, “Armageddon Rock” (ca. 25x)
- Heinrich Heine, “Deutschland – ein Wintermärchen” (ca. 20x)
- Oliver Hassencamp, “Schreckenstein” (einzelne Bände ca. 20x)
- Christopher Brookmyre, “One Fine Day in the Middle of the Night” (ca. 12x)
- Molière/Hans Magnus Enzensberger, “Der Menschenfeind” (ca. 10x)
- Stephen Fry, “Der Sterne Tennisbälle” (7 oder 8x)
- Christopher Brookmyre, “The Sacred Art of Stealing” (6 oder 7x)
- Stephen King, “Vom Leben und vom Schreiben” (5 oder 6x)
- Raymond E. Feist, “Riftwar Trilogie” (5 oder 6x)
- Neil Gaiman, “Niemalsland” (5x)
Ehrenvolle Erwähnungen (mindestens 3x):
Andreas Eschbach, “Eine Billion Dollar”; Jim Butcher, einzelne Bände der “Dresden Files”; Ben Elton, “Blind Faith”; J.R.R. Tolkien, “Der Herr der Ringe”; Walter Moers, “Die Stadt der träumenden Bücher”; Lewis Shiner, “Schattenklänge”; Neil Gaiman, “Ein gutes Omen”; J.K. Rowling, “Harry Potter” (alle Bände)
Wie gesagt: Es ist keinesfalls so, als hätte ich nicht genügend ungelesene Bücher, auf die ich durchaus gespannt bin. Warum also greife ich statt dessen so oft zu welchen, die ich schon kenne?
An vorzeitigem Gedächtnisschwund liegt es zum Glück nicht – ich habe zwar schon ein paarmal ein Buch angefangen und erst im Verlauf der Lektüre gemerkt, dass ich es doch schon kannte, aber bei den Dauerbrennern, um die es mir hier geht, ist das definitiv nicht das Problem. Im Gegenteil: bei einigen kenne ich mittlerweile die Schlüsselpassagen fast auswendig – bei den beiden lyrischen Werken auf der Liste mehr als ‘fast’ (diejenigen unter meinen Freunden und Bekannten, die in einer der von Heine aufs Korn genommenen Städte leben, können bezeugen, dass ich die meisten seiner Lästereien aus dem Stegreif zitieren kann und das auch gerne tue).
Wenn es um Sachbücher ginge, könnte ich sagen, es geht darum, die Thesen, Erkenntnisse usw. möglichst gut zu verinnerlichen, aber unter den Einträgen auf meiner Liste greift das höchstens für Kings autobiographischen Schreibratgeber. Die Handlung an sich ist es auch nicht, denn die kenne ich ja – von gelegentlichen Ausfällen abgesehen – nach dem ersten Lesen.
Bei der ersten oder zweiten Wiederlektüre entdecke ich oft noch kleine Besonderheiten, clevere Andeutungen, tschechovsche Gewehre usw. (ähnlich wie bei Filmen – mit “Die üblichen Verdächtigen” hatte ich beim zweiten Anschauen noch mehr Spass als beim ersten), aber nach 10 oder 15 Mal ist auch das nicht mehr wirklich gegeben. Das ist es also auch nur eingeschränkt.
Wenn ich mir die Liste so ansehe, komme ich zu dem Schluss, dass es für mich im Wesentlichen drei Dinge sind, die ein Buch auch zum wiederholten Mal attraktiv machen:
- Der Wunsch, mich kraftvoller Sprache, gutem Stil, gelungenen Dialogen usw. auszusetzen – das gilt besonders für Heine und Molière/Enzensberger, aber zum Beispiel auch für Fry, Gaiman und Moers.
- Ein Thema, dass mich nachhaltig persönlich anspricht und durch Erlebnisse oder andere Eindrücke aus dem Hinterkopf nach vorne geholt wird – so kam ich zum Beispiel vor einer Weile von “Lucy” und “Ohne Limit” auf “Eine Billion Dollar” und von dort zu “Der Sterne Tennisbälle” (wie schon mal erwähnt), weil die beiden Filme das Thema: ‘Was machen wir aus unserem Potential?’ aktiviert hatten und beide Bücher es ebenfalls behandeln.
- Nicht zuletzt aber ist es die Erinnerung an frühere Lektüren desselben Buches und die damit verbundenen Gefühle, die ich durch ein Wiederlesen neu auffrischen kann. Am stärksten greift das für die “Schreckenstein”-Bücher – eines von denen nochmal zu lesen, ist gelegentlich eine entspannte Dreiviertelstunde “Kindheitsregression”, für die ich mich nicht im Geringsten schäme. Aber auch die ersten Bücher, die ich außerhalb der Schule und freiwillig auf Englisch gelesen habe (Feist’s “Magician” und die Folgebände), eine der ersten buchstäblich durchlesenen Nächte (“Armageddon Rock”) oder die Erkenntnis, einen Autor neu gefunden zu haben, von dem ich alles lesen will, was er schreibt (Brookmyre und Butcher) fallen unter diesen Aspekt der Erklärung.
So betrachtet, ist es (zumindest für mich) gar nicht mehr so verwunderlich, dass ich manche Bücher immer wieder lesen kann, will und auch weiterhin lesen werde.
Aber keine Angst, lieber Tsundoku-Stapel: du kommst auch noch dran, versprochen – schließlich könnten sich auf dir ja zukünftige Einträge für die Wiederlese-Top10 verstecken!