Drei Schritte weg von Ihm hin zu Ihm. Gotteswollen und Gottesbilder bei Rilke

Gott und Rilke

Der Weg zum Dinggedicht und dessen Überwindung

Du dunkelnder Grund

Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern.
Und vielleicht erlaubst du noch eine Stunde den Städten zu dauern
und gewährst noch zwei Stunden den Kirchen und einsamen Klöstern
und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern
und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern -:

Eh du wieder Wald wirst und Wasser und wachsende Wildnis
in der Stunde der unerfasslichen Angst,
da du dein unvollendetes Bildnis
von allen Dingen zurückverlangst.

Gieb mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner lieben
bis sie dir alle würdig sind und weit.
Ich will nur sieben Tage, sieben
auf die sich keiner noch geschrieben,
sieben Seiten Einsamkeit.

Wem du das Buch giebst, welches die umfasst,
der wird gebückt über den Blättern bleiben.
Es sei denn, dass du ihn in Händen hast,
um selbst zu schreiben.

Dieses Gedicht aus dem Stundenbuch von Rainer Maria Rilke entwickelt beinahe umfassend das ästhetische Programm, das der Rilke der Neuen Gedichte verwirklichen wird. Das Ganze, das Allgemeine, das die Phänomene verbinden muss, wenn kohärentes Denken möglich sein soll, der dunkelnde Grund also, den Rilke andernfalls oft Gott nennt, dies solle im Einzelnen aufgesucht und anvisiert werden:

„Gieb mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner lieben
bis sie dir alle würdig sind und weit. “.

Und mag dieses Projekt auch ein eitles Spiel sein, da der Grund sein Bildnis von den Dingen zurücknehmen kann, mithin also da die Abwesenheit Gottes in der Welt eine kaum mehr zu leugnende Möglichkeit ist, es soll versucht werden dennoch wie das Tagwerk des Bauern, Notwendigkeit wieder das Verhängnis.

„und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern
und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern “.

Denn die Hoffnung bleibt, dass Gott den Dichter in den Händen hat, um selbst zu schreiben. Bleibt der Versuch aber aus, versiegte die Idee von Versöhnung endgültig. Schreiben als Flaschenpost, wie es Adorno auch formulierte.

Es ist Skeptizismus, nicht unerschütterter Glaube, was diesem Dichten zu Grunde liegt. Darum auch kann allein im Aussprechen dessen was getan werden soll nichts gewonnen werden. Formal wird Du Dunkelnder Grund dem Antizipierte nicht gerecht, bleibt Gerede. Im Gedicht Die Engel aus dem Buch der Bilder dagegen versucht Rilke bisher nur Formuliertes ästhetisch konsequenter umzusetzen:

Die Engel

Sie haben alle müde Münde
und helle Seelen ohne Saum.
Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde)
geht ihnen manchmal durch den Traum.

Fast gleichen sie einander alle;
in Gottes Gärten schweigen sie,
wie viele, viele Intervalle
in seiner Macht und Melodie.

Nur wenn sie ihre Flügel breiten,
sind sie die Wecker eines Winds:
als ginge Gott mit seinen weiten
Bildhauerhänden durch die Seiten
im dunklen Buch des Anbeginns.

Hier scheinen die „sieben Tage, sieben / auf die sich keiner noch geschrieben, / sieben Seiten Einsamkeit“, anzubrechen, von denen im Stundenbuch gesprochen wurde. Die Schau des Allgemeinen wird im Besonderen evoziert, im Eindruck den die Engel- (Statuen?) hervorrufen, scheint das Göttliche auf. Ein lyrisches Ich, das es erlauben würde die Epiphanie als rein persönliche abzutun existiert nicht mehr. Der Leser tritt der intendierten Erfahrung ohne Filter gegenüber. Doch es stört die Anwesenheit Gottes im Wort, wenn er auch nur zum Vergleiche dient, ebenso wie das moralische Urteil im Text: „Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde) / geht ihnen manchmal durch den Traum“. Da ist noch zu viel predigende Geste, die – ausgerechnet! – was geheiligt werden soll profanisiert. Verstärkt wird all das noch von den teils mühevollen Reimen, etwa „Alle-Intervalle“, und überhaupt ist die Omnipräsenz der christlichen Weltanschauung, wie in Stein gemeißelt in austauschbaren Symbolen, dem Text eher abträglich als zuträglich.

Um soviel sublimer behandelt dann „Die Fensterrose“ den noch immer nicht aufgegebenen gedanklichen Komplex in den Neuen Gedichten:

Die Fensterrose

Da drin: das träge Treten ihrer Tatzen
macht eine Stille, die dich fast verwirrt;
und wie dann plötzlich eine von den Katzen
den Blick an ihr, der hin und wieder irrt,

gewaltsam in ihr großes Auge nimmt, –
den Blick, der, wie von eines Wirbels Kreis
ergriffen, eine kleine Weile schwimmt
und dann versinkt und nichts mehr von sich weiß,

wenn dieses Auge, welches scheinbar ruht,
sich auftut und zusammenschlägt mit Tosen
und ihn hineinreißt bis ins rote Blut -:

So griffen einstmals aus dem Dunkelsein
der Kathedralen große Fensterrosen
ein Herz und rissen es in Gott hinein.

Auch hier ist Gott noch anwesend, jedoch doppelt entrückt, in der letzten Zeile. Er gehört einer vergangenen Zeit an und wird durch eine andere Ästhetik begriffen als die Katzen in ihrer Bewegung, und beide Erfahrungen sind einander doch vergleichbar, das Bewusstsein des Allgemeinen im Besonderen triumphiert in Analogie zum christlichen Denken ohne dass notwendig beide in Eins fallen müssten. Ich schrieb in einem anderen Artikel:

„In diesem Sonett stimmt jedes Wort. Die um sich kreisende, ausgreifenden Bewegung der Katzen findet sich in den langen, von Sprüngen durchzogenen Zeilen wieder. Die Verwobenheit dieser Bewegung mit dem Korpus der Kathedrale ebenso in den dicht ineinander verwobenen Wortfeldern, in Interlinearen- und Endreimen, sowie zahlreichen Assonanzen. Die oft spröde Wortwahl dagegen korrespondiert mit dem Unbeschreiblichen im Blick der Katzen, welches die Erfahrung einer vergangenen Zeit spiegelt, als die Fensterrose der Kathedrale, wie nun die lodernde Natur der Katzen dem lyrischen Ich, dem außenstehenden „Herz“ einen Blick auf das Allgemeine im Einzelnen gewähren: es in Gott hineinrissen.“

Doch im Moment seiner vollen Entfaltung stößt Rilkes ästhetisches Ideal auf eine innere Schranke. Schon Schlegel stieß in seinem durchaus nachvollziehbaren Versuch, die romantische Aporie der Gleichwertigkeit alles Einzelnen im Bezug auf ein allgemein gültig Göttliches aufzulösen auf das Problem, dass seine literarischen Bemühungen statisch, schematisch wurden. Auch der Rilke der Neuen Gedichte kapituliert oft vor der Allmacht des Allgemeinen. Etwa hier:

Der Ball

Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgiebt, sorglos wie
sein Eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,

zu wenig Ding und doch noch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten:
das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug

noch Unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit hinaufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt -, und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben

auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,

um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.

Aus dem schon oben zitierten Artikel:

„Nichts ist rund am Ball, das Thema ist überhaupt zu trivial als dass es die doch eifrig durchexerzierte äußerliche Vollendungen der Form, (die ja doch verlangt wäre) wiederum rechtfertigen würde, kurz: alles wirkt aufgesetzt. Grund ist der Rilkesche Stil, der gerade in der Zeit der neuen Gedichte, aus denen beide Beispiele entnommen sind, sich zu einer so intendierten Selbstständigkeit entwickelt hatte, dass er sich vielfach gewaltsam schematisch über den jeweiligen Stoff stülpt.“

Überzeugt war Rilke am Ende seines Lebens, zumindest formuliert es so der Protagonist im Malte Laurits Brigge, dass ein einzelner Mensch überhhaupt nur fähig sei nach langen Phasen der Einübung einige wenige große Gedichte zu schreiben. Man dürfte sich mit der Meinung des Verfassers im Einklang sehen, wenn man die Größe für die Duineser Elegien allein reserviert. Hier löst Rilke sich von seinem vormals noch stets positiv gedachten Gottesbegriff, und setzt Gott als das Unbestimmte und dennoch Wahre, das in Vom dunkelnden Grund bereits vorschien. Gleichzeitig wird Transzendenz in zuvor noch nicht bekannter Weise gesellschaftlich gedacht. Drei schritte weg von Gott führen hin zu einem Gott, der überhaupt wieder sein kann, eben weil er nicht mehr vom verzweifelten Wollen des Einzelnen in ein schematisches Dasein gezwungen wird.

„Die Duineser Elegien sind vielleicht der Höhepunkt des Werkes Rainer Maria Rilkes. Wie sonst ganz wenige deutsche Texte verbinden sie einen hohen Ton mit der zutiefst modernen Erfahrung des Geworfenseins „in der gedeuteten Welt”. Beinahe einzigartig sind sie darin, dass sie moderne Diskurse (etwa den Bereich der Psychoanalyse) nicht etwa als abgegrenzt, zum Beispiel qua Montage behandeln, wie es in der späteren Moderne und Postmoderne en vogue wurde, sondern diese sich sprachlich ganz zu eigen machen“.

Rilke I – George und Rilke

Bemerkungen zu „Beyond Left and Right: The Poetic Reception of Stefan George and Rainer Maria Rilke, 1933-1945“ (Mark Elliott):

Wenn Literaturwissenschaft kein eigenes ästhetisch-kritisches Bewusstsein entwickelt, kann man viel Richtiges schreiben und doch an der Wahrhheit meilenweit vorbeischießen. Ja, man mag sogar am Verschleiern und Verklären teilhaben. Die Rezeption Rilkes und Georges im NS wird von Elliot wohl weitgehend zutreffend nachgezeichnet als „dionysisch vs apollinisch“, als „formauflösend vs formal streng“. Nicht mal die Frage kommt aber auf, ob die Scheidung überhaupt berechtigt ist, so wird zumindest der Grundgegensatz affimiert. Und so geht’s unter Lyrikfreunden übrigens öfter zu, wenn auch heute oft ablehnend: „George in jedem Fall der formal geschlossenere Dichter.“

Doch ist der gereimte Vierzeiler, den Elliot hervorhebt und u.a. Benn lobt und adaptiert, wirklich höchster Ausweis formaler Strenge? Oder nicht vielleicht eher formaler Faulheit? George ist am größten, wo er über das Drechseln des immergleichen Gedichtkorsetts mit unterschiedlichen Worten hinauswächst. Die Übersetzungen. Der Herr der Insel. Vierzeiler dagegen kann schon das Kindergartenkind basteln, jeder Backstreet Boy beherrscht die Technik. Ist ein wenig wie mit Bauklötzen bauen:

es lässt sich immer reimen
der gleichklang fällt recht leicht
wie wenn von blauen steinen
dir wer die schönsten reicht

die darfst du fröhlich türmen
so wie ein kind im sand
zu trotzen – hoffe – stürmen
auch die: von fremder hand

so wachsen die kastelle
all‘ blau zum himmel hin
und noch an ort und stelle
klagst du: was ist der sinn?*1

Auf der anderen Seite mag Rilke tatsächlich über die längste Phase seines Lebens ein Leierkasten mit (Zeilen-)Sprung gewesen sein. Dass ausgerechnet dieser Rilke weiter verehrt wird, fällt aber vor allem auf seine Fanboys&Girls zurück, die noch immer allein das Rumstolpern des jungen Spätromantikers vom Larenopfer bis zum Buch der Bilder an sich heranlassen. Doch erst in den Neuen Gedichten stehen erste Werke zugleich streng gemeißelt und doch fluid musikalisch, so dass der Vorwurf formaler Inkonsequenz an ihnen sowohl abprallen als auch berührungslos durch sie hindurchgleiten mag. Und zu sich selbst kommt Poesie als radikal durchformtes Textgebilde in den Duineser Elegien, wie weltweit nur unter den Händen ganz weniger anderer Poeten im 20. Jahrhundert. An denen hätte man einen zu messen, der durch seinen Malte selbstkritisch mitteilen lässt, es sei ein einzelner Mensch überhaupt nur fähig nach langem ereignisreichem Leben vielleicht einige wenige große Gedichte zu verfassen.

Könnte die von der Kritik reproduzierte Scheidung in Dionysos-Rilke und George-Apollo womöglich vor allem einer Fetischisierung des Biografischen geschuldet sein? Dass man also dem rechtskonservativen George im Nachhinein eine Poesie unterschiebt, die seiner Haltung entspricht? Und dem politisch-persönlich schwer zu greifenden Rilke auf der anderen Seite eine „verweichlichte“ Leichtfüßigkeit, die vor allem die aufmerksame Lektüre erspart und das Ertragen der Zumutung, darüber überhaupt nachzudenken, was das in der Moderne (und beide SIND sie moderne Lyriker, Rilke und George) überhaupt heißen könnte: Form?

*5-Minuten Gedicht.

Bild: Wiki, gemeinfrei.

Fragmente zur Ästhetik – Norm-induktive Ästhetik

Die Antwort auf die renitente Verweigerung aufs Ästhetische zielender Kritik zugunsten einer Feier oder Verdammung des Inhalts kann nicht sein, sich mal wieder an normative Ästhetiken zu klammern.

Spätestens wenn ein Werk über die Phase hinaus ist, in der man seinen Erfolg als Massenhysterie abqualifizieren kann und sich abzeichnet, dass es ein Bleibendes werden wird auch unter Denkern, die nicht dem Spät- und Postpubertären Reflex anhängen, alle Klassiker zu verwerfen, weil sie eben Klassiker sind, sollte als Frage im Mittelpunkt stehen nicht: Darf Werk XY ästhetisch funktionieren? Sondern: Warum funktioniert das ästhetisch? Bzw. der begründete Beleg, dass es nicht funktioniere.

Eine solche Herangehensweise möchte ich Norm-induktive Ästhetik nennen. Diese wird manch klassischer Normativität durchaus überraschend nahe kommen (das meiste Tradierte ist mit Grund tradiert), aber sich selbst die eigenen Kriterien und deren Zeitgebundenheit deutlich bewusster machen, und sich zugleich auch nicht zwanghaft dem Neuen verschließen, wie es unter Klassizisten all zu oft geschieht.

 

Wider den Vertikalismus #2

Nicht nur die deutschsprachigen Dichter übrigens, auch und in besonders verwerflicher Weise die Übersetzer frönen einem heillosen Vertikalismus. Man schaue sich, zu vergegenwärtigen was das bedeutet, nur einmal auf die ersten Zeilen der Übersetzung von Thomas‘ Fern Hill durch Erich Fried an.

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Verständlich noch, dass die wenigen offenen Reime (easy – carefree) ignoriert werden, sie sind auch klanglich nicht sonderlich zentral fürs Gedicht. Dass aber nicht mal ansatzweise versucht wird, dem Teppich aus Assonanzen, den das Original webt, in der Übersetzung etwas Vergleichbares gegenüberzustellen zeugt vom fundamentalen Übersehen der für dieses Gedicht zentralen stilistischen Mittel. Vom rhythmisch-melodischen Swing des Originals ganz zu schweigen! Stattdessen wird der Text thesenhaft gedacht: Von einem Eingangsstatement geht es über frei assoziierte Bilder zu einer Art Schlussfolgerung. Noch augenfälliger ist die Ignoranz gegenüber zentralen Strukturmerkmalen und die fehlende Bereitschaft, dem Kunstwerk in der Übertragung auf Augenhöhe zu begegnen, bei Nachdichtungen zum Beispiel aus dem Chinesischen oder Persischen.

Es ist ein Elend mit dem Vertikalismus.

Clemens Meyer – Im Stein – Avantgardistischer Naturalismus

Durchaus mit einigem Enthusisasmus endlich mal Meyers Im Stein aus der Bibliothek geholt. Der Enthusiasmus schwindet schnell. Ja: Meyer hat seinen Joyce, Dos Passos usw. gelesen. Doch was er aus dem routiniert heruntergeschraubten Repertoire der Moderne destilliert ist ein schrecklich konstruierte Als-ob-Roman – als ob es nämlich genügte sich Verfahrensweisen anzueignen und dann damit vor allem die ultimative Milieustudie hinzubiegen. Ich will die Schwächen gar nicht ellenlang auswalzen, die besser bewerteten negativen Amazon Rezensionen geben einen Eindruck.

Allgemeineres scheint von Interesse: in der Folge der literarischen Moderne haben sich zwei Arten mit deren Hinterlassenschaft umzugehen eingebürgert. Da sind Autoren wie Meyer, dem unter anderem Foster Wallace, Biller und vll Tellkamp beizuordnen wären. „Avantgardistische“ Naturalisten, denen es darum geht jetzt! aber! endlich! das immer gleiche Elend ganz realistisch wie es wirklich ist wiederzugeben. Dass die Form des Materials einem anderen als realitätsgebundenen künstlerischen Zweck zu genügen hätte, dass ihre großen Vorbilder gerade nicht kolportierten, sondern komponierten, geht ihnen völlig ab.

Ein Joyce (bedingt), ein Llosa, Rushdie, Kurzeck ziehen die Erfahrungswelt durchaus breit als Anlass heran und sind an diesem Material dann mit dem Meißel zugange bin bis ein durchgeformtes Kunstwerk dasteht. Die Meyers dieser Welt schaffen dagegen vor allem möglichst viel Material heran und wenn ihr Roman aussieht wie ein Hinkelsteingarten, den Obelix angelegt haben könnte, sind sie zufrieden.

Am Ende versagt diese Widerspiegelungsavantgarde auf breiter Front. Denn auch das Begreifen der Mitwelt des Lesers, worauf Literatur dann ja doch wieder abzielt, gelingt dem durchformten Werk besser. Einmal, weil Begreifen etwas anderes ist als Aufzählen. Und dann, weil wer Manhattan Transfer enthusiastisch zu Ende liest mit ein wenig Selbstachtung Im Stein nach 100 Seiten nicht mehr anrühren wird. 1

1 Und selbst wenn man mal nur gelungene Mimesis als Maßstab heranzieht heranzieht fällt auf, dass Meyers Trickkiste beggrenzt ist, immer nur fortlaufende Sätze, und Reihungen mit und, und das alles, für fingierte Mündlichkeit, also, gut, ein also dann und wann auch noch mit eingeschoben, sag ich mal, und dann sind all seine Outsider so gebildet, also so mit Marx und Smith und Keynes und so und können immer so richtig passend Vergangenheiten aus dem Hut zaubern, also, das eben fast noch eine richtige Exposition möglich ist, und man ganz vielen Hintergrundinfos kriegt und so, so das….

Realismus und Fantasik: Falsche Feinde

In der Welt ist vor einiger Zeit ein Artikel erschienen, der großmundig versucht, für Fantasy zu werben. Vor dem Hintergrund meiner Fantastischen Reise finde ich den wenig überzeugend: Er verfestigt vor allem die falsche Dichotomie von realistischer Echtwelt-Literatur und nicht realistischer Halb-/Anderwelt-Literatur.

Es schockt ja kaum noch, dass ein Literaturredakteur übersieht, dass spätestens seit Joyce eigentlich alle Literatur, die es verdient „modern“ genannt zu werden nichtrealistische und dabei meist (aber nicht immer) zugleich nichtfantastische war. Vor allem sieht er auch die Möglichkeit „realistischer“ fantastischer Literatur nicht und verpasst damit (nebenbei gesagt) den Gegenstand meines Artikels im European: Die Tendenz zum „fantastischen Naturalismus“ der im Erfolg von GOT kulminiert (aber schon mit Harry Potter ganz groß wurde und in vielen RPGs angelegt ist):

Texte die stilistisch, strukturell und in ihrer Art sich auf die vermittelten Inhalte zu beziehen gerade damit zu protzen versuchen, schonungslose Realität abzubilden. Texte, die, was Ihr Verständnis von Literatur betrifft, eins zu eins aus dem 19. Jahrhundert herübergebeamt sein könnten. Hätte der Autor ein Auge dafür, er müsste eingestehen, dass wohl eher nicht „die Gruppe 47, die seit ’47 mit der Wucht eines alten Patriarchen unseren Literaturbegriff verengt, die deutsche Literatur immer noch mit ihrem Realismusdiktat belastet und die offiziell längst abgeschaffte Trennung zwischen U und E klammheimlich aufrechterhält“ an HP, GOT und den Nacheiferern „schuld“ ist, sondern ein Weltzusammenhang der praktische Vernunft so über alles stellt, dass auch die „fantastischste“ Fiktion für die Massen den Regeln eines Großraumbüros zu gehorchen hat.

Für den Welt-Autor ist nun Literatur wieder so etwas ähnliches wie ein Wandschrank. Etwas bei dem ich frage: was ist drin? Obst oder Drachen? Und wenn es Obst ist, ist es ein normaler Schrank, sonst ein fantastischer. Dass auch Obst dezidiert antirealistisch präsentiert werden kann ohne dass man von Fantastik reden muss, wird verdrängt.

Als Merksatz: „Fantastisch“ und „Realistisch“ (besser: „naturalistisch“) taugen nicht als Gegensätze, weil ersteres primär auf Inhalte abziehlt, zweiteres auf Form.

Bild: The Fire Dragon. johanferreira15 CC BY 2.0

Pop & die Maschine: Mitchel vor & Nach Blue

Joni Mitchel in die „jazzige“ (bzw. poppigere) Zeit nach Blue bzw. For the Roses nicht mehr folgen zu wollen ist vielleicht mehr als nur eine Geschmacksfrage. Es ist eine Frage des Verhältnisses von „Kunst“ und „Freiheit“.

Wie kaum eine andere Musikerin (oder Musiker) nach ihr hielt Mitchel auf ihren größtenteils arkustischen Songwriter-Alben Melodieführung und Rhythmik in einer fragilen Schwebe. Im Zweifel zwingt die Stimme die moderaten, meist selbst eigentlich melodischen Rhythmuselemente von Gitarre, Klavier oder Dulcimer, ohne jedoch ganz auszubrechen. Und selbst wo dann doch die Rhythmik wieder die Melodie einfängt geschieht das nicht schematisch, sondern abgestimmt auf den jeweiligen Ausdruck. Musik als sanftes Ringen mit selbstgegebenen Grenzen.

Ab Court and Spark und sogar noch bei dem so hoch geschätzten The Hissing of Summer Lawns dagegen wird der Beat der alldominante und schematisch äußerliche Taktgeber. Dagegen kämpft die Stimme mittels ungewöhnlicher Stauchungen ganzer Liedzeilen in wenigen Noten und gewaltigen Streckung auf der anderen Seite,die nun allerdings kaum noch Eigendynamik entfalten können. Oder sie schwebt über den Beat & am Beat vorbei. Der monotone Rhythmus der Außenwelt ist immer schon da. Selbst wo der Text dagegen protestiert marschiert die Musik.

Ein individualistischer emphatischer Freiheitsbegriff oder die Sachzwanglogik der freiwilligen Konformität? Nicht nur die (westliche) Welt, auch die Musik einer der ganz großen Ikonen des antiautoritären Aufbruchs hatte sich entschieden. Und sei’s auch folgerichtig, weil eben Kunst allein nicht das ganz Andere schafft, und der mit der Welt fremdelnde Idealismus auch des besten Singer-Songwritertums längst notwendig zum Kitsch erstattet war.

Entscheidend: Es gibt gute Gründe – wenn auch nostalgisch – an der „frühen“ Mitchel festzuhalten, die nichts mit fragwürdigem Authentizitätsfetisch zu tun haben, obwohl Mitchels weitere Entwicklung wohl durchaus konsequent war.

Zu Gunsten der späteren Alben freilich ließe sich einwenden, dass Pop genau davon ausgemacht werde, dass die strukturellen Bedingungen der Massenproduktion ganz tief ins Werk eindringen und die dennoch produktive Auseinandersetzung damit die Hürde ist, die ein großes Stück Pop zu nehmen hat. Und das gelang Mitchel durchaus besser als minderen Künstlern, die im Pop eher beheimatet sind.

Einfluss ungleich Qualität – Notiz

Ein oft zu beobachtendes Unsinns-Phänomen: Die Gleichsetzung literarischer Qualität mit literarischer Bedeutung. Nun wird man kaum leugnen können, dass etwa Ulysses einflussreicher war als das unter anderem ohne diesen nicht denkbare „Gespräche der >Kathedrale<„. Künstlerisch konsequenter ausgeführt ist aber (fast unbestreitbar) Letzteres. Oder 100 Jahre Einsamkeit. Oder Barockkonzert. Radikaleres Beispiel: Der Einfluss der Charlie Hebdo Attentate auf die zeitgenössische Satire dürfte nicht zu unterschätzen sein. Dennoch zwingt das uns nicht, uns Stockhausen anzuschließen, und den 11.9.2001 als „das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt“ zu bezeichnen.

Loben ist leicher (!) als Meckern

Man glaubt das Gegenteil, wenn man mit Anfang 20 aus seinem ersten Cultural Studies Seminar stolpert und diesem Romancier seine Frauenfeindlichkeit nachzuweisen glaubt, jener Lyrikerin ihren unterschwelligen Rassismus. Aber die Schwächen eines Werkes glaubhaft zu machen ist deutlich schwieriger als die Güte eines Werkes auszuweisen. Oder: Zu zeigen inwiefern ein Kunstwerk im Konkreten mit seiner allgemeinen Anlage übereinstimmt ist eine durchaus machbare Aufgabe. Fast eine Fleißarbeit, hat man – diese winzige Einschränkung ist zu machen – das Werk einmal selbst begriffen. Wie etwa in der Fensterrose der Tritt der Katzen, der irrend-kreisende Blick, der Reimstruktur und den Zeilensprüngen in den beiden Quartetten des Sonett entsprechen, wie das Bild dann im Kreisen des Wirbels verdichtet wird, scheinbar zur Ruhe kommt um nochmal wild aufzuflackern:

wenn dieses Auge, welches scheinbar ruht,
sich auftut und zusammenschlägt mit Tosen
und ihn hineinreißt bis ins rote Blut

und endlich sprachlich umschlägt ins beruhigte Allgemeine der Schlusszeilen

So griffen einstmals aus dem Dunkelsein
der Kathedralen große Fensterrosen
ein Herz und rissen es in Gott hinein.

das lässt sich wohl belegen. Auch dass die tradierte Form des Sonettes hier klug gewählt ist. Wie vielen anderen Sonetten der Neuen Gedichte diese Perfektion dagegen abgeht, ja, das belege man bitte einmal anhand der Abwesenheit einer Kongruenz von Form und Inhalt… Nichtsein beweisen ist schwierig, und wird gerade bei populären Gegenständen natürlich auch viel kritischer beäugt, viel heftiger abgewehrt.

Die Auseinandersetzung mit Dylan im letzten Jahr stieß zudem auf das Problem, dass eine gewisse Sakralisierung des Banalen stark in Mode gekommen ist. Gerade fehlende Virtuosität, dass Reime schon hundertmal gemacht wurden und überhaupt Nachlässigkeit in der Komposition wird da zum Ausweis der Qualität, zu alternativen Kulturkritik. Das ist nicht immer falsch, und will von Mal zu Mal wohl überprüft werden! Es birgt allerdings auch die Gefahr eines Personenkultes in sich, bei dem man „Literatensängern“ durchgehen lässt, was man Baudelaire gleich wie Bohlen nie durchgehen ließe. Aber wer wollte beweisen, dass Zweiterer nicht eine einzige fleischgewordene De(kon)struktion des Pop und seiner Mechnismen ist? Nichtsein beweisen ist schwierig.

Schwatzbuden? – Der unmögliche Roman

Der Roman ist eine Kunst-Schimäre, und er wird davon wohl auch nicht loskommen.

Er ist das einzige Kunstwerk, das man während des Genusses zwanzigmal beiseite legt, und das einzige dem die breite Masse der Leser Weitschweifigkeit abverlangt und Konzentration übel nimmt.

Denn die Leser (ja, auch die „akademischen“) verlangen ja wirklich geradezu nach Geschwätzigkeit, theoretischen Exkursen, Diskurs Diskurs Diskurs. Es gibt nur ganz wenige, in etwa 13, Romane bei denen man nicht den Großteil des Textes ändern könnte und immer noch ein ähnlich gutes (oder schlechtes) Buch dastehen hätte. Genau 6 Romane der gesamten modernen Literaturgeschichte wären nicht besser als Kurzgeschichten oder Erzählungen erschienen.

Alle anderen Künste lassen sich nach kompositorischen Maßstäben recht gut vergleichen und auf ähnliche Nenner bringen. Ein gutes Gemälde, ein gutes Gedicht, ein gutes Stück Musik, eine gute Fotografie und sogar ein gutes Essen haben überraschend viel Gemein. In der Raum/Zeitnutzung, in der Bezüglichkeit der einzelnen Komponenten aufs Ganze, auch im Anspruch daran, dass zum Punkt gekommen werden soll. Vom Roman dagegen verlangt man ja geradezu, möglichst viele Elemente oraler Traditionen der Vormoderne zu enthalten. Die Zeit zu vertreiben.

Das kann dem Leser egal sein, er will unterhalten werden. Aber der Künstler, der sich ernsthaft an einen Roman setzt, kann es nicht verdrängen. Nein: Allzu aufdringlich sogar die Frage: Kannst du das denn nicht dichter schreiben? Und nur wenn nach radikalster Dichtung noch immer ein Roman übrig bleibt, ist es vielleicht der siebte, der zu existieren verdient.