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Stadt St.Gallen
24.03.2024
24.03.2024 11:31 Uhr

Mit dem Tataren-Schlatter im «südlichen Ruβland», Teil 2

Krim-Tataren um 1900
Krim-Tataren um 1900 Bild: Archiv
Vor rund 200 Jahren bereiste der Stadt-St.Galler Kaufmann Daniel Schlatter das «südliche Russland». Als sich Schlatter dort aufhielt, war die Gegend der heutigen Ukraine grösstenteils ein blühendes Land. Ernst Ziegler hat die Reisen des «Tataren-Schlatters» zu Orten, die uns sehr bekannt vorkommen, nachgezeichnet. Heute: Im Land der Tataren.

Gut zwanzig Jahre nach Daniel Schlatter besuchte der Freiherr August Franz von Haxthausen (1792-1866), Jurist, Landwirt und Schriftsteller, die Mennonitenkolonien an der Molotschna, wo er in Halbstadt bei einem reichen Mennoniten freundlich aufgenommen wurde. Mit ihm fuhr er nach Orlowe. Dort lernte er den uns bereits bekannten Johann Cornies kennen, mit dem er zu einem benachbarten nogaischen Tatarendorf Akeima (Agaiman?) fuhr, wo sie von einem Tatar, dem Vorsteher des Dorfes, empfangen wurden.

Der Nationalökonom Haxthausen bereiste von April 1843 bis Herbst 1844 im Auftrag der russischen Regierung das Innere Russlands. «Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Ruβlands» erschienen 1847 bis 1852 in drei Bänden mit langen Kapiteln über die Mennoniten und die Tataren, von denen beiden er viel Gutes zu berichten weiss.

DAS LAND DER TATAREN

Daniel Schlatter konnte vom Dorf Orlowe aus, wo er Ende Juli 1822 angekommen war, hinübersehen «in das Land des Tataren-Volkes», zu welchem sein Sinn «von der Schweiz aus gerichtet war». Dieses Land war die «Nogaische Steppe» im Gouvernement Taurien, zwischen dem Schwarzen und dem Asowschen Meer, zwischen Cherson und Melitopol.

Schlatters deutscher Freund Cornies tat alles Mögliche für ihn, erzählte ihm «Vieles von dem Leben der Tataren, besonders ihrem frühern Nomadenleben und der Zeit ihrer Ansiedlung», und er besuchte mit ihm einige Tatarendörfer. (Die von Schlatter erwähnten Tatarendörfer finde ich auf den mir zur Verfügung stehenden Karten, Atlanten und anderen Mitteln vorläufig nicht.)

ANDERE LÄNDER? ANDERE SITTEN

«Die Einrichtung der Häuser, die Kleidung und Lebensart der Bewohner» war ganz anders als in der Heimat des «Kaufmannsdieners». Das focht Schlatter jedoch keineswegs an, im Gegenteil, «der Gedanke, unter einem von uns so ganz verschiedenen Volke leben zu können, namentlich unter Orientalen und Muselmännern», war für ihn von einer «freudigen Empfindung begleitet». Dazu trug sicher bei, dass Ali, ein «ächter Tatar und guter Muselmann», ihn «mit Freundschaft und Liebe» aufnahm.

Ein Tatarendorf, wie es Daniel Schlatter angetroffen haben muss Bild: Archiv

Er wohnte damals in «Dömenge oder Nieder-Burkud» im «Gebiet der Nogayen-Tataren», einem Dorf, das vom ersten deutschen Dorf nur etwa fünfzehn Kilometer entfernt war. Schlatter hauste zuerst in einem Pferdestall; später bauten sie mit Erdziegeln, «anstoβend an die alte Wohnung, noch ein Zimmer», weil Daniel im Pferdestall «weder vor Wind noch Regen geschützt war».

ALI UND ABDULLAH

Ali war etwa vierzig Jahre alt, ein Mann «mit kräftigem aber sehr heftigem Charakter». Er hatte sich mehrere Jahre in Konstantinopel aufgehalten. Während des Krieges des Osmanischen Reichs mit Russland 1806 bis 1812 machte er 1809 «bei der türkischen Armee den Feldzug gegen die Russen» mit und geriet in russische Gefangenschaft. – Später diente er in einem Tatarendorf als Pferdehirt, «wodurch er zu groβer Uebung im Reiten und in der Behandlung wilder Pferde gelangte».

Nachdem ihm zwei Frauen kurz nacheinander gestorben waren, heiratete Ali eine junge Frau aus Dömenge «mit Namen Tasche, jugendlich schön, noch nicht zwanzig Jahre alt». Mit ihr hatte er einen etwa zweijährigen Sohn mit dem arabischen Namen Abdullah (Knecht Gottes).

IN ALIS HÜTTE

Der erste Tag «in Alis Hütte» verlief wegen des Essens für Schlatter enttäuschend und vor allem, weil Frau Tasche offensichtlich nicht in guter Stimmung war. Als sie die Suppenschüssel gebracht hatte, hatte sie «ein häβliches Gesicht» geschnitten und den Gast Jauer, Kaper, Kopek, Abtrünniger, Ketzer, Hund geschimpft. Tasche fürchtete wohl, einen weitern Hungerleider und Faulpelz im Hause zu haben, «der ihr Arbeit und Mühe mache, dem sie, gleich allen Männern, werde dienen und aufwarten müssen».

Ihr Gesicht heiterte sich dann aber allgemach auf, als der tüchtige Eidgenosse «sogleich nach dem Essen den Besen ergriff und das Haus auskehrte, getrockneten Mist an’s Feuer brachte, und ihr alle Aufmerksamkeit bewies». Schlatters Hausarbeit war allerdings bloss Nebensache. Seine Hauptarbeit war die Besorgung des Viehs, weil der Hausherr «in Geschäften oft mehrere Tage nach einander abwesend sein muβte». So war Schlatter bald dauernd «mit und unter Tataren, ausser wenn ich etwa allein das Vieh auf der Steppe weidete». So lernte er bald Sprache und Sitte dieses Volkes. Woran er sich nicht gewöhnen konnte, waren die Unreinlichkeit und das viele Ungeziefer; aber, weil er «nicht getrennt, sondern gemeinsam mit den Tataren zu leben» sich vorgenommen hatte, fand er sich damit ab.

Tatarische Frauen um 1895 Bild: Archiv

Eine Betrachtung Schlatters in diesem Zusammenhang hat eine gewisse Aktualität: «Wie hätte ich mir einfallen lassen können, meine Ansicht und Empfindung ihnen sogleich aufdringen zu wollen! Wie übel angebracht wäre ein beständiges Tadeln gewesen, da mich die Tataren nicht hergebeten hatten, sondern von mir waren aufgesucht worden! ‘Uns ist es so gut genug!‘ hätten sie mir, wenn nicht mit Recht, so doch mit der allenthalben herrschenden National-Selbstigkeit, sagen können, - ‚gehe in dein Land, wenn es dir hier nicht recht ist!‘»

PIETISMUS

Der Theologe Ernst Gerhard Rüsch (1917-1997) schrieb 1957, der pietistisch geprägte Schlatter habe nicht missionieren, sondern jenen Menschen in Südrussland das Evangelium vorleben wollen, «indem er bei ihnen die alltägliche Arbeit im Geiste des Evangeliums verrichtete». Der fromme Daniel schrieb denn auch: «Angenehm war es mir, mich durch so Vieles bei den Tataren an die Zeit der Erzväter und überhaupt an die Bibel erinnert zu sehen. Die Art das Vieh zu behandeln, die Kameele, die Cisternen, das Mahlen zweier Weiber auf einer Mühle, die Kleidung der Weiber, die Spangen, Stirn- und Armbänder; sodann die Feste und Opfer, die Gebräuche der Gastfreundschaft und noch so Vieles im Ehelichen und Häuslichen, das mich gleichsam in jene uralten Zeiten des einfachen Hirtenlebens zurück versetzte.»

Der Aufenthalt bei den Tataren und bei Deutschen in deren Dörfern machte Schlatter den Aufenthalt «zu wahrer Freude».

Lesen Sie im Teil 3 am nächsten Wochenende: Die Rückreise in die Schweiz.

Im Alten Testament steht beim Propheten Jesaja (um 740 v. Chr.):

Und der Herr sprach: Weil die Töchter Zions hoffärtig sind und im Gehen den Kopf hoch tragen und mit den Augen nach der Seite blinzeln, weil sie trippelnd einhergehen und mit ihren Fußspangen klirren, wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions kahl machen, und der Herr wird ihre Schläfe entblössen. An jenem Tage wird der Herr die ganze Pracht wegnehmen: die Fußspangen, die Stirnreife und die Möndchen, die Ohrgehänge, die Armketten und die Schleier, die Kopfbunde und die Fusskettchen, die Gürtel, die Riechfläschchen und die Amulette, die Fingerringe und die Nasenringe, die Feierkleider und die Mäntel, die Umschlagtücher und die Taschen, die feinen Zeuge und die Hemden, die Turbane und die Ueberwürfe.

 

(Jesaja 3, 16-25)

Ernst Ziegler, ehem. St.Galler Stadtarchivar