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Stadt St.Gallen
04.05.2020
08.05.2020 14:11 Uhr

«Erzittre Welt, ich bin die Pest»

Pestärzte im Film "Season of the Witch"
Pestärzte im Film "Season of the Witch"
St.Gallen wurde zwischen 1349 und 1635 oft von der Pest heimgesucht. Im Pest-Sonderrecht sind Ähnlichkeiten zu den Corona-Regeln zu finden.

Die Pest trat im Mittelalter, vor allem im 14. Jahrhundert, pandemisch, d.h. allgemein verbreitet, auf, in Europa von Osten kommend, vom Schwarzen Meer, aus Asien. Der Pestzug von 1347 bis 1351 soll die europäische Bevölkerung um etwa einen Drittel dezimiert haben (18 Millionen Pesttote).

Die römischen Aquädukte waren seit dem Untergang des Römischen Reichs nicht mehr reaktiviert worden. Die Menschen im mittelalterlichen Europa badeten sich selten. In den Städten des Mittelalters lebten die meisten in Dreck und Elend. „Die Menschen damals [1347] wussten nicht, dass sie mehr Ratten und Flöhe hatten, als man gemeinhin annimmt. Sie wussten auch nicht, dass die Abfolge der Infektion dem Schema Ratte-Floh-Mensch entsprach.“ Das ist die eine Infektkette; die andere Kette: Mensch-Floh-Mensch war bei den europäischen Pestepidemien von grösserer Bedeutung!

Auch im Mittelalter kannten die Menschen keine Arznei gegen die Pest, und die Therapie (Aderlass) versagte; als probate Mittel kamen bloss Quarantäne und Flucht in Frage sowie vorbeugende Massnahmen. Ärzte und Laien gaben Verhaltensregeln gegen die Pest heraus, empfahlen vorbeugende Regeln der Lebensführung zum Schutz vor dem „Schwarzen Tod“.

Pestschriften

Im Jahre 1348 erschien das Pestgutachten der Pariser Medizinischen Fakultät; es beeinflusste einen Grossteil der zahllosen europäischen Pestschriften. Eine gereimte Anweisung für Pestzeiten findet sich in Codex 1164 der Stiftsbibliothek St.Gallen. Das Gedicht umfasst 86 Zeilen und dürfte um 1400 entstanden sein. Als Verfasser wurde ein Hans Andree, Laien- oder Wundarzt aus dem Bodenseeraum, genannt. Sein Pestgedicht hängt inhaltlich vom Pariser Pestgutachten ab.

Der St.Galler Stadtarzt und Bürgermeister Joachim von Watt, genannt Vadianus, liess 1519 in Basel ein Pestbüchlein drucken.

Seuchenzüge in St.Gallen

Die Stadt St.Gallen wurde zwischen 1349 und 1635 immer wieder von der Pest heimgesucht. Die alten Chroniken berichten darüber, beispielsweise jene von Marx Haltmeyer aus dem Jahr 1683: „Im Jahr 1441 war ein sehr warmer Sommer, auf welchen in dem Heumonat ein scharffe Pest in der Statt und umligender Landschaft eingerissen, die bis in Winter gewähret und vil Leut weggenommen hat.“ Für 1610 vermeldet Haltmeyer eine obrigkeitliche Anordnung: „In währender diser Pest ward Obrigkeitlich angeordnet, daß die Inficierten Haußhaltungen die alte Bor-Kirchen zu S. Lorentzen zu Verrichtung des Gottes-Dienst einnemmen und besitzen solten.“ Von 1665 bis 1670 ging ein letzter Pestzug durch weite Teile der Eidgenossenschaft; sanktgallisches Gebiet hat dieser damals nicht mehr berührt.

Bevölkerungsverluste und wirtschaftliche Aspekte

Silvio Bucher hat in seinem Werk über „Die Pest in der Ostschweiz“ die Bevölkerungsverluste durch die Pest in der Stadt St.Gallen von 1575 bis 1635 zusammengestellt:

Jahr                         Einwohner                 Pesttote                  in Prozent

um 1580                  rund 5500                   rund 830                  15

um 1590                  rund 5000                   rund 340                  7

um 1610                  rund 5400                   rund 360                  7

um 1625                  rund 5300                   rund 1400                26

um 1630                  rund 5200                   rund 1420                27

Diese zu Zeiten enormen Verluste an Menschen hatten wirtschaftliche Rückschläge zur Folge: die Zufuhr von Rohstoffen, beispielsweise von Silber für das Münzen oder „Geld machen“, funktionierte nicht mehr, und es kam zu empfindlichen Störungen derArbeitsabläufe in der Landwirtschaft, weil der Höhepunkt der Krise meist in die Erntezeit fiel. Aus leicht ersichtlichen Gründen gingen die Einnahmen an direkten Steuern zurück.

In einem am 3. November 1629 publizierten Edikt klagt die Obrigkeit der Stadt St.Gallen, es sei beim „Herrn Steuermeister“ sowohl von gesunden als auch angesteckten Personen die eine und andere Steuer „für das heurige Jahr noch ausständig“. Die „Herren und Oberen“ ermahnten solche „hinterstellige Personen“, ihre Steuern zu zahlen: die Gesunden innert vierzehn Tagen, die Kranken, sobald sie wieder gesund seien. Wer nicht bezahlte, wurde bestraft — wie, ist nicht vermerkt.

In der „Leinwandstadt“ St.Gallen, die sozusagen fast ausschliesslich vom Leinwandgewerbe lebte, wurde nach einem Pestzug weniger Leinwand produziert, wobei die Rückgänge zwei Ursachen haben könnten: weniger Produzenten (stockendes Angebot) sowie weniger Abnehmer und stockender Handel (stockende Nachfrage).

Teuerung und Hungersnot, die oft im Gefolge der Pest daherkamen, konnten die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zusätzlich gefährden.

Empfehlungen und Ermahnungen der Obrigkeit

Die gnädigen und gebietenden Herren und Oberen der evangelischen Stadt und Republik St.Gallen forderten im 17. Jahrhundert ih blumiger barocker Sprache ihre Untertanen zu einem gottgefälligen Lebenswandel auf; in den Mandaten ist die Rede vom „strengen und gerechten Zorn“ Gottes, von den „Zornzeichen des barmherzigen aber auch gerechten Gottes“, von den „gefassten und nunmehr gezückten Ruten“ Gottes. Die Menschen hätten, lesen wir, „Gott je länger je mehr erzürnt“, und man wisse nicht, „was der allregierende Gott“ künftighin „aus seinem gerechten Gericht und Urteil“ vorhabe. Das „sündhafte Leben“, verschiedene „im Schwang gehende Laster“ und das „immerwährende Fressen und Saufen“ waren es u.a., die Gott so sehr erzürnten, dass er von Zeit zu Zeit seine Zuchtrute als Pest über die Menschen niederfahren liess. In solchen Krisenzeiten forderte deshalb der Rat jeweils „zu einem bussfertigen Leben und Wandel“, zu „christlicher Busse“, christlichem Lebenswandel und „pflichtschuldigem Gehorsam“ gegen die Obrigkeit auf. Durch Abschaffung der Laster und Leichtfertigkeiten, von Schwelgerei, übermässigem Essen und Trinken usw. hoffte man, Strafen und Heimsuchungen Gottes abzuwenden.

Bei diesen Aufforderungen, die sich von der Reformation bis zur Helvetischen Revolution von 1798 durchziehen, aber in Zeiten von Teuerung, Hungersnot, Erdbeben, Krieg oder eben Pest häuften, möchte ich nicht von Sondergesetzen, von Notstandsgesetzgebung reden; es handelt sich eher um blosse Empfehlungen, um Ermahnungen — denen oft genug zum „höchsten Bedauern“ der Obrigkeit nicht nachgelebt wurde!

(Cicero erwähnt in „De natura deorum“ den stoischen Philosophen Kleanthes von Assos (331-232 v. Chr.), der vier Gründe nenne, „aus denen sich die Vorstellungen von der Existenz der Götter in der menschlichen Seele gebildet“ hätten; darunter findet sich als dritter Grund der Schrecken, „der die Herzen durch Blitze, Unwetter, Wolkenbrüche, Schneestürme, Hagel, Verwüstungen, Seuchen, Erdbeben, häufiges unterirdisches Dröhnen, Steinregen und eine Art Blutregen erfüllt, aber auch durch Erdstürze und plötzliche Spaltungen der Erde, ferner durch widernatürliche Missgeburten bei Mensch und Vieh, dazu durch Erscheinungen von brennenden Fackeln am Himmel, ebenso durch die Sterne, die die Griechen kometai und wir Haarsterne nennen [...], ferner durch Zwillingssonnen, [...] Vorzeichen also, die die Menschen in Schrecken versetzten und somit ahnen liessen, dass eine bestimmte himmlische und göttliche Macht existiere.“)

Die Argumentation der sanktgallischen Obrigkeit ist für die damalige Zeit durchaus verständlich und nachvollziehbar: Man kannte die medizinischen Gründe der Pest nicht, wusste nichts von Infektketten, Bazillus usw. Die Pest kam sozusagen „aus heiterem Himmel“, eben als Strafe Gottes. Man fragte: Wer ist schuld? und suchte die Schuld zuerst bei sich selber. Die Menschen waren schuldig geworden, weil sie keinen Gott wohlgefälligen Lebenswandel führten. Sodann suchte man fremde „Sündenböcke“ und

fand sie in den Juden (1348) und Hexen (17. Jahrhundert; dieses Jahrhundert ist in St.Gallen das „Hexenjahrhundert“). Nebenbei sei immerhin erwähnt, dass die obrigkeitlichen Empfehlungen und Ermahnungen auch Mittel zur Disziplinierung der Untertanen waren.

Sonderrecht während der Pest

Die vorsorglichen Massnahmen, die der Rat der Stadt St.Gallen in „Prestenläufen und Sterbenszeiten“ gewissermassen als Sonderrecht erliess, können in drei Gruppen eingeordnet werden: Kirche/Religion, Gesundheit/Medizin und Alltag. So musste etwa die Seelsorge gewährleistet sein, die Ratsmitglieder mussten zu den Sitzungen erscheinen, Geldmittel für Krankenpfleger und Totengräber waren zu sprechen, Pestwachen zu organisieren und Erbschaftsangelegenheiten von einer eigens eingesetzten Kommission zu regeln. Ebenso wurde festgehalten, dass Ärzte – ausser für Sauberkeit, Isolation und Quarantäne zu sorgen – nicht viel tun konnten. Geregelt wurde ebenfalls die Flucht und Rückkehr von Gesunden.

Diese Ordnung — Kirche, Gesundheit, Alltag — ist willkürlich, und es können hier aus Platzgründen lediglich einige Aspekte behandelt werden, welche vorwiegend den Alltag ganz allgemein betreffen.

Im Rahmen dieses kurzen Beitrags ist es überdies nicht möglich, alle Seuchenzüge, welche die Stadt St.Gallen heimsuchten, zu behandeln — eine Auswahl muss genügen. Als Schwerpunkt wollen wir für diesmal die Pest von 1629 etwas eingehender betrachten, und zwar aus folgenden Gründen: Die „Pest“ von 1610 war eher eine Fleckfieberepidemie. Im Jahr 1629 war es zu ganz enormen Verlusten in Stadt und Land gekommen (27-30% der Bevölkerung). 1635 wurde sanktgallisches Gebiet nur noch teilweise betroffen.

Sauberkeit und Isolierung

Natürlich gibt es in der obigen Einteilung auch Überschneidungen: Der zweite Punkt des Pestmandats von 1629 beispielsweise wurde unter „Gesundheit, Medizin“ als „Sauberkeit“ subsumiert — es handelt sich aber um sehr Alltägliches, nämlich um die Aufforderung zur Sauberhaltung von Haus und Wohnung. Wörtlich steht im Mandat von 1629: Es „solle niemand keine nachtgeschier, noch andere unsauberkeiten, reverenter, mehr zum laden auß auf die gasßen, sondern dieselben in die rünnenden bech, oder, da vor eim hauß kein bach were, in die heimlichkeiten schütten“.

Misthaufen und Kot mussten mindestens einmal pro Woche aus der Stadt geführt und die „Heimlichkeiten“ (Aborte) gesäubert werden; dieser „Unrat“ wurde in die rinnenden Bäche geschüttet, welche durch verschiedene Gassen der Stadt flossen.

Ein Zusammenhang zwischen „Unsauberkeit“ und Krankheit wird also immerhin erkannt. Dieser zweite Punkt ist darüber hinaus ein Hinweis auf die Hygiene in der Stadt St.Gallen im 17. Jahrhundert!

Dasselbe gilt für den dritten Punkt „Isolierung“. Hier wird von den Infizierten und vom Pflegepersonal verlangt, zu Hause zu bleiben, nicht unter die Leute zu gehen, und „bey den brönnen under tagen weder wäschen noch wasßer holen, sondern solches morgens vor der thorglogckhen, wenn niemandts umb den weg ist, thun und verrichten“. Dieser Punkt gibt Aufschluss über die Wasserversorgung der Stadt, die zur Hauptsache über die öffentlichen Brunnen in den Gassen und auf Plätzen geschah.

Den Alltag betreffende Sonderrecht

Hochzeiten

Hochzeiten und Hochzeitsmähler waren mit Einschränkungen im August 1629 noch erlaubt; im November wurden die Hochzeiten der „Scheuchenden“ verboten. „Nachhochzeiten“, Schenkinen, Mittagsmähler und Nachtessen waren schon im August untersagt worden. Zweck dieser Verbote war, Ansammlungen von Menschen zu vermeiden, weil da die Ansteckungsgefahr besonders gross war.

Hebammen

Im Zusammenhang mit der Pest waren die Hebammen besonders wichtig, vor allem darum, weil nach einem Pestzug in der Regel häufig geboren wurde.

Im Juli 1629 weigerten sich verschiedene Frauen, den Hebammen-Dienst zu übernehmen; sie hatten Angst vor der Pest — worauf der Rat eine Hebamme „verordnete“, zu infizierten Schwangeren zu gehen.

Die Hebammen-Ordnung im Eidbuch von 1757 sah u.a. folgendes vor:

Wenn „Prestenszeit“ einfällt, darf die Hebamme „zu keiner kindenden Frau gehen“, ohne vorher den Stadtarzt gefragt zu haben.

Jene Hebamme, die „in den Presten verordnet“ ist, d.h. zu pestkranken Schwangeren gehen muss, darf nur zu den Infizierten und nicht zu den Gesunden gehen, damit die Krankheit nicht durch die Hebamme übertragen wird.

Die Hebammen erhalten einen Lohn in Geld und Naturalien, dazu für jede Geburt 24 Kreuzer. Wenn jedoch „wohlhabende Leute aus freiem Willen sie mit Mehrerem begabten“, durfte die Hebamme auch mehr als 24 Kreuzer annehmen.

Jene Hebamme, die zu den pestkranken Frauen gehen musste, erhielt „wöchentlich noch dazu 1 Gulden 30 Kreuzer aus dem Prestenamt“ — gewissermassen als „Gefahrenzulage“! Wir haben es hier also mit Sonderrecht und „Sonderlohn“ zu tun.

Pfleger

Sogenannte Prestenscherer, Bader, Barbierer usw. erhielten ebenfalls ein besonderes Wartgeld. Das zeigt sehr schön die „Bestallung“ (Vertrag, Bedingungen) für Meister Balthasar Binsser, Scherer von Kempten, der im August 1629, angestellt wurde.

Neben den Prestenscherern waren Pfleger tätig, und hier zeigt sich ein bemerkenswertes Sonderrecht: Freisässen mussten Pestkranke pflegen. Im Ratsprotokoll von 1629 steht, diejenigen, so in Stadt und Gerichten sässen und weder Bürger noch Hintersässen seien, sollen schuldig sein, wenn man ihrer begehrte, infizierte Personen zu pflegen oder aber, so sie sich dessen weigerten, Stadt und Gericht in puncto zu räumen.

Im Oktober 1649 beschloss der Kleine Rat, vier Personen den freien Sitz zu vergönnen, „dieweil sie sich in Presten zu dienen haben freiwillig anerboten; doch sollen sie über ein Jahr sich bei meinen Herren [dem Rat] wieder anmelden“.

Sonderrecht bzw. Sonderbehandlung für Zugezogene galt ähnlich bezüglich Militärdienst: Bürger mussten bis zum 48. oder 50. Altersjahr Militärdienst leisten, Hintersässen, sofern sie zum „Dienst tauglich wären“, bis sie 56 oder gar 60 Jahre alt waren. Bei einem Truppenauszug konnten zudem die Bürger einen Ersatzmann aufbieten; die Hintersässen hingegen mussten persönlich mitziehen.

Fürtrager

Während der Pest wurden zudem sogenannte „Fürtrager“ angestellt. Sie mussten jeden Tag wenigstens dreimal zu den infizierten Häusern gehen, um Speise und Trank einzukaufen und zu bringen. Die Pfleger in den Häusern stellten das Geschirr vor die Haustüre, und die Fürtrager legten die Sachen in diese Geschirre. Diese Massnahme hatte einen medizinischen Grund: Vermeidung von Infektion, aber auch einen sozialen Zweck: die Versorgung der Kranken sollte dadurch gewährleistet bleiben. Ein Fürtrager erhielt wöchentlich 2 Gulden.

Fremde

Torhüter und Wirte mussten fremde Leute, die von infizierten oder verdächtigen Orten hierher kamen, ermahnen, die Stadt „nach Verrichtung ihrer Geschäfte“ sofort wieder zu verlassen und nicht zu übernachten. Fremde, von denen man wusste, „dass sie dergleichen Krankheit in ihren Häusern“ hatten, durften weder in die Stadt gelassen noch gar beherbergt werden.

Bettler und Almosen

Der „Bettel in der Stadt von Haus zu Haus“ wurde verboten. Die Armen erhielten jedoch Almosen und jeden Freitag vor dem Spisertor Brot, Muesmehl, Schmalz, Käse usw. Im Protokoll der Verordneten Herren, einer Ratskommission, von 1629 steht, Brot, Muesmehl und anderes dergleichen solle aus dem Stadtsäckel genommen werden, damit die Armen das Ihre, was sie wünschen, auch kaufen können. Neujahrs-Almosen für die Armen wollten die Gnädigen Herren wie von alters her vor den Häusern austeilen lassen. Hier zeigt sich einmal mehr die soziale Verantwortung der Stadt, die trotz Pest wahrgenommen wurde.

Totenträger und Totengräber

Eine wichtige Rolle während Prestenläufen und Sterbenszeiten spielten die Totenträger und Totengräber. Sie wurden offensichtlich aus dem Spital verköstigt und erhielten während der Pest Sonderrationen: ein Brot und ein Mass Wein täglich sowie Sonderzulagen an Geld. Dass ihr Beruf gefährlich war, dokumentieren die zahlreichen Ablösungen, wenn wieder ein Totenträger oder -gräber „abgestorben“ war.

Die Totengräber wohnten in einem Haus bei Lämmlisbrunnen hinter der oberen Säge auf dem unteren Boden — die Totenträger auf dem oberen Boden. Unter ihnen gab es anscheinend allergattig Kerle: Über die Totengräber waren 1629 viele Klagen eingekommen. Sie wurden gewarnt, sich gebührend zu halten, und es wurde ihnen gedroht, weil man nicht zu ihnen greifen, d.h. sie nicht in Gefangenschaft stecken könne, solle man Befehl geben, sie, wo sie anzutreffen seien und nicht gehorchen wollten, niederzuschiessen. Hier haben wir wohl ein extremes Beispiel von Sonderrecht, ja geradezu Standrecht!

Beerdigungen

Besondere Anordnungen wurden für Beerdigungen erlassen. Schon am 13. September 1611 hatte der Kleine Rat der Stadt St.Gallen „bei diesen jetzt schwebenden leidigen Sterbensläufen“ ein Edikt erlassen, das die Leichenpredigten sowie das Läuten und Austragen der Leichen regeln sollte.“

Die Leichenpredigten wurden während „dieser Zeit ab- und eingestellt“. Man ahnte oder wusste, dass die Pest eine ansteckende Krankheit war, und wollte deshalb grössere Ansammlungen von Menschen möglichst vermeiden. Anstatt der Leichenpredigten wurde jeweils am Mittwoch zu St. Laurenzen und St. Mangen sowie im Linsebühl gepredigt und gebetet, damit „der allmächtige Gott gnädiglieh' die Heimsuchung abwenden wolle.

„An den Werktagen, wann Leichen sind“, wurde für jene Menschen, die während der letzten Nacht gestorben waren, morgens nach acht Uhr zu St. Laurenzen und St. Mangen „ein Zeichen mit der grossen Glocke für alle und jede Leichen geläutet“. Nachher konnten „diejenigen Personen, so in der nächstvorgehenden Nacht in Gott verschieden, zur Erde bestattet“ werden.

Für „die Personen, so desselben Tags abgangen“, wurde nachmittags um vier Uhr geläutet, und die tagsüber verstorbenen Menschen wurden gegen den Abend hin begraben. Für Samstag und Sonntag galten andere Zeiten: morgens um sechs Uhr und nachmittags um drei Uhr.

Das „Abdanken an den Leichgängen“ fand in der Kirche zu St. Mangen statt: Wenn „die erste Leich ausgetragen worden“, sollten die „der Leich nachfolgenden Personen ihr christliches Gebet in der Kirche kurz verrichten und dann die Abdankung mit aller Kürze darauf folgen“. Dieser Leichnam musste dann „aus der Kirche sein“, bevor „eine andere Leich herzugetragen“ wurde. Die Herren Prädikanten waren gehalten, sich bei den Abdankungen „ebenmässiger Kürze“ zu befleissigen. Zweck dieser Bestimmung war wiederum, grössere Menschenansammlungen über längere Zeit zu verhindern.

Den Glauben an die Pest als „Geissel Gottes“ belegt auch der Schluss des Mandats: „Ob aber die Krankheit durch den Willen Gottes entweder noch heftiger einreissen oder sich mildern würde, so behalten ihnen ein ehrsamer Rat bevor, jederzeit fernere Vorsehung zu tun.“ Dieser Passus zeigt aber auch, dass die Obrigkeit gewillt war, etwas zu tun, dass sie gegen die Krankheit ankämpfen und sie nicht ausschliesslich als „gottgegeben“ hinnehmen wollte.

Nach dem Mandat von 1629 durften Tote nicht zu lange liegen gelassen werden; aber man sollte auch nicht vor 12 bzw. 18 Stunden „mit ihnen zu grab fahren, weil mancher in solcher kranckheit lang in einer blöde oder ohnmacht ligen kan“, d.h. es sollte verhindert werden, Scheintote zu beerdigen! Für das zu Grabe Tragen der Pesttoten waren bestimmte Stunden angegeben.

In den verschiedenen Begräbnisordnungen (1668) gibt es besondere Paragraphen für „Prestens-Zeiten“: „Die Leichen der am Presten Verstorbenen“ wurden an bestimmten Plätzen auf dem Friedhof St. Mangen beerdigt.

Wegen „den jetzt schwebenden schweren Läufen“ wurde schon im Juni 1611 der „Zulauf“ zu den Leichenbegräbnissen verboten.34 Und 1629 heisst es, „das wundersüchtige Nachlaufen und Zusehen der Leichen auf der Gasse, Ringmauer und dem Kirchhof sei männiglichem, jungen und alten, nochmalen allen Ernsts bei 1 Pfund Pfennig Busse abgestrickt und verboten“. 35 Diese Massnahme bezweckte wiederum, Ansammlungen von vielen Menschen zu verhindern. Es zeigt sich hier zudem, dass die Faszination der Menschen für Katastrophen, Unglücksfälle usw. uralt ist.

Individuelles Sonderrecht

Matthäus Haltmeyer

Sonderrecht wurde auch individuell angewendet. So wurde beispielsweise Matthäus Haltmeyer (1585-1635) 1601 „zum Stipendiaten angenommen“, konnte studieren und wurde 1609 Pfarrer. Sein Stipendium zog aber eine Verpflichtung nach sich: Er sollte 1610 als Prestenpfarrer amtieren. Weil er „sich nicht wollte im Presten gebrauchen lassen“, wurde er entlassen, später jedoch „begnadigt“.

Im November 1610 sollte er wieder „Prestendienst“ leisten, widersetzte sich jedoch und zog „trotziglich von hier weg“. Im März 1611 wurde darum seinem Vater und seinen Angehörigen „bei den Eiden verboten, ihm das Geringste zukommen zu lassen“, bis er der Obrigkeit „die an ihn gewandten Unkosten bezahlt habe“.36 Für die Pestseelsorge griff der Rat zuerst auf Leute zurück, die bei ihm — in diesem Fall durch die Auszahlung eines Stipendiums — in Schuld standen. Haltmeyer kehrte später aus der Pfalz zurück (1620) und wirkte dann bis zu seinem Tod als Pfarrer in St.Gallen, wo er auch verschiedene Ämter versah.

Daniel Anhorn

Ähnlich war die Situation von Pfarrer Daniel Anhorn, der 1588 in Fläsch GR geboren worden war. Er wurde 1633 in St.Gallen „zum Bürger angenommen“ unter der Bedingung, „sich im Notfall bei Pestzeiten gebrauchen zu lassen“ und zwar als Prestenprediger.

Hier verpflichtete das geschenkte Bürgerrecht zum Pfarrdienst an Pestkranken. Pfarrer Anhorn starb am 21. Oktober 1635 in Sulgen im Kanton Thurgau vermutlich an der Pest.

Abklingen der Pest

Das Gebiet des heutigen Kantons St.Gallen wurde vom Pestzug 1665/70 nicht Mehr berührt. Die Massnahmen der Obrigkeiten von Stift und Stadt St.Gallen hatten sich offenbar ausgewirkt, und zwar vor allem die medizinischen, welche die Gesundheit direkt betrafen, sowie jene, die per Sonderrecht alltägliche Dinge während Prestenzeiten und Sterbensläufen besonders regelten. Diese Massnahmen wurden 1667 in einem Band zusammengefasst.

Wie weit ein Wandel der Mentalität mitspielte, kann nicht mehr näher behandelt werden; nur noch soviel: 1517/19 und auch später herrschte die Meinung, die ärztliche Kunst vermöge nichts gegen die Seuche, nötig sei bloss der Seelentrost der Geistlichen! Dieser „Fatalismus“ zeigt sich auf der letzten Seite des Taufbuches von 1527 bis 1566, wo vermutlich der Pfarrer von St. Laurenzen auf Seite 742 den Vers aus Prediger 7,1 hinsetzte: „Besser der Tag des Todes, als der Tag der Geburt.“

Hundert Jahre später, um 1667, ist eine andere Ansicht massgebend; es ist von „Heil und Wohlfahrt“ der Stadt und ihrer Bürger die Rede. Die Obrigkeit macht ihre „Anstalten“, „den Ihrigen“ sowie dem Gewerbe und Handel „zum Besten“; sie trifft Vorsorge für die „Handwerksleut“ und die Einwohner in Stadt und Gerichten (Territorium); „zu menschenmöglicher Verwahrung“ werden die genannten Vorkehrungen getroffen. Die Sorge um das Seelenheil bleibt (das ist sozusagen ein „Dauerbrenner“ nicht nur der stadtsanktgallischen, von Gott eingesetzten Obrigkeit bis in die Aufklärungszeit hinein); aber die medizinischen und rechtlich-politischen Massnahmen werden wichtiger mit dem Ziel, „rettung deß lebens und erhaltung der erwünschten gesundheit“.

Dieser Beitrag des St.Galler Alt-Stadtarchivars PD Dr. Ernst Ziegler erschien erstmals (dort mit Anmerkungen und Quellenangaben, auf die hier im Sinne der Lesbarkeit verzichtet wurde) im Band „Europäische Ethnologie und Folklore im internationalen Kontext“, Peter Lang Verlag, 1999.
Weitere Auskünfte erteilt der Autor: Ernst Ziegler, Oberhofstettenstrasse 26, 9012 St.Gallen, 071 277 58 07, ernst.ziegler@stgallen24.ch.

Ernst Ziegler