Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Die atomisierte Gesellschaft“

November 2023

Trend- und Zukunftsforscherin Christiane Varga (38) spricht im Interview über die Angst der Menschen vor dem Ungewissen, über die fragmentierte Gesellschaft und über Signale der Veränderung. Die Soziologin sagt unter anderem: „Wenn wir uns permanent nur mit einer Sache beschäftigen, sehen wir die Bandbreite des Möglichen nicht.“

Frau Varga, warum haben die meisten Menschen Angst vor der Zukunft?
Sehr gute Frage! Weil die Zukunft ungewiss ist und uns Menschen Angst macht, was wir nicht kennen und nicht einordnen können. Und tatsächlich ist die Zukunft, die ja nie gewiss ist, heute ungewisser denn je. Ich sage das mit Blick auf unsere globale Welt, die sowohl auf analoger als auch auf digitaler Ebene hochgradig vernetzt ist. Das eine ist mit dem anderen derart verknüpft, dass das, was an einem vollkommen anderen Ort geschieht, Auswirkungen auf uns hat. Die Pandemie hat uns in dieser Hinsicht wachgerüttelt. Sie war tatsächlich ein Wendepunkt in der Menschheits-Geschichte, gerade in unseren Breitengraden der westlichen Welt. 

Den Menschen wurde bewusst, wie vernetzt die Welt geworden ist.
Die Pandemie hat sichtbar gemacht, was zuvor schon da war, was die meisten aber nicht sehen wollten oder sehen konnten. Wir hatten irrigerweise angenommen, dass die Zukunft die Fortschreibung der Vergangenheit sein wird. Immer höher, immer schneller, immer weiter. Die Zukunft war in unseren Augen sehr linear. Doch das war und ist ein Trugschluss. Das Leben verläuft nicht linear. Zukunft verläuft nicht linear. Es gibt Muster des Wandels. Die Menschheitsgeschichte zeigt, dass es Zyklen gibt. Phasen des Wachstums sind immer schon Phasen des Abstiegs gefolgt. Und dazwischen, zwischen den Phasen, ist die Krise. Eine Krise ist manchmal das Ende. Aber eine Krise ist sehr oft auch ein Punkt der Rekonfiguration. 

Ein Punkt der Rekonfiguration?
Das müssten Sie erklären.
Ändern sich die Dinge und passt das Alte nicht mehr zu den neuen Gegebenheiten, sind Systeme zu rekonfigurieren. Das heißt nicht, dass alles neu zu machen ist und alles vollkommen anders wird; vielmehr soll Sinnvolles aus der Vergangenheit mit neuen Ideen und neuen Konzepten verknüpft werden. Ich spreche da etwa von den Werten und Traditionen, die uns und unsere Region beispielsweise vom Silicon Valley unterscheiden. 

Dass Fortschritt die Menschen ängstigt, hat Alvin Toffler in seinem Buch „Zukunftsschock“ bereits 1970 festgestellt. Neu ist die Angst vor der Zukunft also nicht.
Nein, das ist sie nicht. Das Spannende an der Trend und Zukunftsforschung ist ja die Frage: Was ist genuin menschlich? Damit beschäftige ich mich in meiner Arbeit. Also: Was gab es schon immer, was wiederholt sich, was verändert sich, was ist neu? Und sie haben in dieser Hinsicht vollkommen recht mit Ihrer Feststellung, dass der Fortschritt die Menschen bereits früher geängstigt hat. Solange alles gut läuft, hat der Mensch grundsätzlich nicht die Tendenz, von sich aus Dinge zu verändern. Das ist eben die Sache mit der Ungewissheit. 

Dass uns Angst macht, was wir nicht kennen?
Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich Zukunft permanent vorstellen kann, ob bewusst oder unbewusst, im Kleinen wie im Großen. Da geht es um kleine Fragen, etwa darum, ob man einkaufen gehen muss bis hin zu großen Fragen, wie die eigene Zukunft in den nächsten Jahren aussehen wird. Und es geht letztlich auch um Schöpferisches, um Kreatives: Der Mensch will in der Gegenwart gestalten, was ihm in der Zukunft nutzt. Da es allerdings unfassbar viel Energie kostet, sich etwas vorzustellen, was noch nicht ist, nehmen viele Abstand davon. Und diese Tendenz ist im Moment wieder deutlich zu spüren. 

Sie sagten in einem Interview einmal: „Brechen alte Strukturen auf, entstehen Leerstellen.“ Wo sehen Sie denn solche Leerstellen? 
Fast überall. Wir sind in einer Phase, in der bereits viel Neues da ist, sich das Neue aber noch nicht etabliert hat, noch nicht in Struktur geformt wurde. Das gilt in vielfacher Hinsicht, in Bezug etwa auf Arbeiten, Wohnen, Bildung. Überall sehe ich diese Bruchstellen, die danach rufen, Neues zu implementieren. Und da geht es nicht um eine technoide Vorstellung von Zukunft, sondern um relativ Einfaches, wie beispielsweise die Frage, wie wir altersgerechtes oder lebensabschnittsgerechtes Wohnen ermöglichen können. Es ginge darum, im Kleinen die Stellschrauben zu drehen, aber gleichzeitig das große Ganze zu sehen. Notwendig wären also massive Denk- und Handlungsleistungen. Und um das realisieren zu können, braucht es wesentlich mehr Vernetzung und Austausch der unterschiedlichsten Akteure.

Mehr Austausch? Die Gesellschaft ist heute fragmentierter denn je. 
Aber gerade deswegen wäre mehr Austausch ja so notwendig! Die Gesellschaft ist in der Tat fragmentiert und gespalten wie nie zuvor. Gefördert durch das Internet ist die Diskussions-Kultur in einem Ausmaß verloren gegangen, dass man sich nicht mehr austauschen, dass man sich vielleicht nicht einmal mehr richtig streiten kann. Die Gegenwart ist geprägt von Grabenkämpfen, von Verhärtung, von Druck und Gegendruck. Und doch gibt es Hoffnung. Denn jeder Trend hat auch einen Gegentrend. Und dieser Gegentrend ist bereits zu sehen. Es schließen sich auf lokaler Ebene Menschen zusammen, sie agieren gemeinsam, sie etablieren neue Strukturen wie etwa Genossenschaften. Ich sehe Signale der Veränderungen und ich sehe, wie sich diese Signale verbreiten.

Laut einer Aussage von Ihnen geht es ja um das frühzeitige Erkennen zunächst noch schwacher Signale der Veränderung in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur und um die richtige Reaktion darauf – um sich auf das vorzubereiten, was da kommt.
Ja. Und dazu gehört es, Zukunft zu demokratisieren. Man kann Zukunft nicht greifen, es gibt aber Modelle und Techniken, die es einem ermöglichen, den Wandel sichtbar zu machen und Entwicklungen einschätzen zu können. Und da wäre ich doch sehr dafür, das auf breite Basis zu stellen, damit alle gemeinsam die Zukunft gestalten können und die Debatte nicht nur auf das reduziert ist, was ein paar Experten sagen. Man muss sich an allen Orten mit der Zukunft auseinandersetzen, in den Unternehmen, in der Gesellschaft, in den Schulen. Man hat neue Wege zu denken. Es gibt da übrigens eine ganz interessante US-amerikanische Studie aus den 1990er-Jahren, das Büroklammer-Experiment …

Das Büroklammer- Experiment?
Die Forscher hatten sich überlegt, was man mit einer Büroklammer eigentlich alles machen kann, und sind schließlich auf über kreative 100 Antworten gekommen. Und dann haben sie unterschiedliche Altersklassen gefragt: Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Ergebnis: 98 Prozent der Kinder kamen ebenfalls auf über 100 Antworten, bei 15-jährigen waren das nur noch zehn Prozent und bei den Erwachsenen nur noch zwei Prozent. Conclusio: Der Mensch ist eigentlich mit divergentem Denken gesegnet. Er könnte abseits ausgetretener Pfade denken und verschiedene Perspektiven einnehmen. Aber diese Fähigkeit verliert sich mit zunehmendem Alter. Weil wir, je älter wir werden, umso mehr vorgefertigte Denkmuster in uns tragen. Auch Expertentum macht zukunftsblind. Wenn wir uns permanent nur mit einer Sache beschäftigen, sehen wir die Bandbreite des Möglichen nicht. Umso wichtiger wäre es, zu schulen, wie man divergent denken und andere Perspektiven einnehmen kann. 
Sprechen wir auch über den Megatrend der Individualisierung?
Der Megatrend der Individualisierung hat dazu geführt, dass sich die Lebensstile sehr stark ausdifferenzieren. Man spricht in dieser Hinsicht auch von einer atomisierten Gesellschaft, in der es neben der klassischen Familie – der Familie Mustermann – die aber für den gesellschaftlichen Zusammenhalt enorm wichtig ist, auch viele andere Lebensformen gibt. Und aus diesem Trend ergibt sich die Erkenntnis, dass wir verschiedene Wohnformen und Angebote für die unterschiedlichen Lebensphasen brauchen. Für diese Entwicklung gibt es noch viel zu wenige Antworten in gebauter Form. Die jeweilige Gesellschaft spiegelt sich immer im Wohnumfeld wider und das Wohnumfeld sagt immer viel über die jeweilige Gesellschaft aus. Das gilt sowohl im historischen als auch im kulturellen Kontext. 

Sie haben in diesem Zusammenhang von „einer Sehnsucht nach Verortung“ gesprochen.
Es gibt ein treffendes Zitat einer New Yorker Werbeagentur: Früher wurden Menschen in Gemeinschaften geboren und mussten ihre Individualität finden, heute werden Individuen geboren und müssen ihre Gemeinschaft finden. Das ist gut formuliert: Menschen, die heute aufwachsen, haben im Vergleich zu früheren Generationen potenziell unfassbar viele Möglichkeiten. Das ist einerseits gut, sorgt andererseits aber für eine massive Überforderung junger Menschen. Doch da auf einen Trend stets auch ein Gegentrend folgt, resultiert daraus auch eine Gegenentwicklung: Viele jüngere Menschen haben in dieser globalisierten Welt eine Sehnsucht nach lokalen Strukturen entwickelt, eine Sehnsucht nach Verortung in einem bestimmten Raum, an einem bestimmten Ort. Diese Sehnsucht ist auch ein Kontrapunkt zur digitalen Welt: Im offensichtlich unendlichen digitalen Raum kann sich der Mensch nicht verorten.

Den Menschen treibt die Sehnsucht nach Sicherheit in einer unsicheren Welt? 
So ist das. Exakt. Das ist die Zusammenfassung.

Und wann beginnt nun die Zukunft?
Natürlich immer schon jetzt. Und ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, aber: Wir kommen ja nie in der Zukunft an. Wir gehen los Richtung Zukunft, aber landen immer in der Gegenwart. Und das finde ich auch etwas Tröstliches, etwas Gutes, denn es erinnert uns daran, dass es nur den Moment gibt, und dass wir wirklich jetzt die Zukunft gestalten. Also lasst uns die Ärmel hochkrempeln und sagen: Hey, die Zukunft ist jetzt!

Vielen Dank für das Gespräch!

Christiane Varga, * 1985 in Temeswar, aufgewachsen in Ulm, beschäftigt sich als Speakerin, Soziologin und Zukunftsforscherin mit den Themen gesellschaftlicher Wandel, Raum und Design. Von 2012 bis 2017 war sie Teil des Think Tanks im Wiener Zukunftsins­titut und berät heute Großkonzerne, Unternehmen und Kommunen. Am Lehrstuhl Industrial Design der FH Joanneum in Graz unterrichtet sie das Fach „Design Research“.

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