Lange schon auf Achse: DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT

Der deutsche Comicmarkt präsentiert aus dem Klassikerbereich so viel Nichtigkeiten, dass ich endlich mal mit dem Kopf nicken darf. DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT (so unbekannt er ist) gehört nämlich in eine Gewichtsklasse mit den artverwandten Langläufern AUF DER SUCHE NACH DEM VOGEL DER ZEIT von Régis Loisel und DIE SCHIFFBRÜCHIGEN DER ZEIT von Paul Gillon. Obacht, dass Sie die nicht durcheinanderbringen!
Alle drei sind im Science-Fantasy-Genre angesiedelt, schwer zu beschreiben und ausufernd in ihren Handlungen.

Hauptfigur ist der Weltraumfahrer Axle Munshine, eine Art galaktischer Botschafter aus gutem Hause, der jahrelang durchs All geflitzt ist, um für universalen Frieden zu sorgen. Sein aristokratischer Vater hat ihm das dollste Raumschiff aller Zeiten vermacht, den legendären „Silberdelphin“ – superschnell und unzerstörbar.
Axle, bekannt als „Großer Schlichter“, kehrt zurück auf seinen Heimatplaneten Xylos. Im Gepäck hat er gute Nachrichten von allen Ende des Universums sowie seinen dauerpräsenten Sidekick: Musky.
Dieses andogyne Wesen mit der Kopfhaube, der Halskrause und den gestreiften Hosen ist ein „Eternaut“, ein langlebiger Alien, der sein eigenes Alter bestimmen kann. Und Musky hat sich entschieden, vorerst ewige 13 Jahre sein zu wollen.

Axle und Musky treten vor den Hohen Rat und erstatten Bericht über ihre Reisen, dann zieht sich Axle auf seinen Ruhesitz auf Terracotta zurück – ein Planet, der nur ihm gehört. Doch im Rat gären Intrigen gegen den Strahlemann! Wie sich schnell herausstellt, beruhen diese auf einer wahren Grundlage. Denn Axle hat sich mit seiner Dienerschaft von Androiden einen Traum-Visualisator gebaut, den „Translator“, mit dem er seine Träume projizieren und aufzeichnen kann.

Genau das aber ist laut Gesetz von Xylos strengstens untersagt: Das „dreizehnte Gebot der Gilde“ verbietet das „Durchschreiten der Pforten des Schlafs“. Die Politik der Gilde verlangt, dass sämtliche Untertanen im Hier und Jetzt leben anstatt sich in andere Realitäten zu flüchten und einen Blick auf die „andere Seite“ zu erhaschen – und womöglich auf dumme Gedanken zu kommen.

Eine Traumpolizei also sitzt Axle im Nacken, denn der ist seit Kurzem seinen Träumen hoffnungslos verfallen!

Cherchez la femme

Der Grund für seine Obsession ist eine Frau. Er nennt sie „Shimere“ und begegnet ihr ausschließlich in seinen Träumen. Shimere ist jedoch kein mythologisches Mischwesen, sondern eine zarte Blondine. Axle ist der festen Überzeugung, dass diese Frau irgendwo im Universum existieren muss. Daher seine Experimente mit den Pforten des Schlafs. Der gute Mann jagt also im sprichwörtlichen Sinne einer Chimäre hinterher.

Man kann dieses Handlungskonzept kitschig oder käsig finden, aber es erlaubt natürlich alles Mögliche! Die ewige Suche nach diesem weiblichen Gral, dieser „quest“, lässt sich strecken und ausdehnen, es ist die Folie für Abenteuer auf fremden Welten – und stets lauert die Bedrohung durch die Häscher aus der Heimat, wo man ein Kopfgeld auf die Flüchtigen ausgesetzt hat.
Axle und Musky düsen im Folgenden 30 Alben lang durchs All, verfolgen Hinweise, bestehen Prüfungen, treffen Tippgeber und setzen Entwicklungen in Gang.  Aber immer wieder entwischt ihnen der Traum um Haaresbreite …

„Hurensteiß“ und „Dirnenschiet“!

Auf die Nerven gegangen ist mir mancherorts die Rede der Figuren. Axle und Musky beharken sich oft mit verquasten Kraftausdrücken und aggressiven Anwürfen, was mich als Leser irritiert und stutzig macht. Diese Dialoge klingen sehr gewollt und wenig authentisch:

Ich vermute, der krawallige Duktus ist eine bewusste Setzung des Autoren Christian Godard und keine Schwäche der deutschen Übersetzung. DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT beginnt 1975 – und vor fast 50 Jahren war es unerhört, so zu kommunizieren. Diese Serie wollte damit Aufsehen erregen und ihren Platz am Markt erobern, womöglich auch eine „futuristische Sprache“ etablieren.

(Ein flüchtiger Blick in Leseproben des französischen Originals scheint zu bestätigen, dass Autor Godard auch mit derben Neologismen operierte: „Putentrailles“, „Foutredieu“, „Boufremiasme“ – alles nicht direkt übersetzbar.)

Eine Warnung vorab: Dieser Comic ist ein Kind seiner Zeit, und diese Zeit war erzählerisch nicht die beste! Auch DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT gründet noch in bahnbrechendem Schrott wie BARBARELLA und artverwandten „Comics für Erwachsene“ (das Vorläufer-Label von Graphic Novels, deren Inhalte oft sexistisch und/oder frauenfeindlich waren).

Beeinflusst ist der VAGABUND auch vom weitaus intelligenteren VALERIAN UND VERONIQUE. Ebenfalls ein Schubfaktor dürfte der ein Jahr zuvor gestartete Paul Gillon mit seinen SCHIFFBRÜCHIGEN DER ZEIT sein, der übrigens ein Szenario von „Barbarella“-Autor Jean-Claude Forest benutzte!

Will sagen: Was in diesen Comics passiert, ist oft ein mysteriöses Geschwurbel durch Zeit und Raum, das man als Leser nur schicksalsergeben hinnehmen kann – Sinn ergibt das alles nicht!

Die französische Kritik stellt der Serie ein teilweise schlechtes Zeugnis aus: Die Geschichten seien wahlweise langweilig oder prätentiös, schrecklich koloriert, erschöpften sich bestenfalls in Wortspielen (aha) und seien generell „schlecht gealtert“. Im Fortschreiten der Reihe würden die Plots immer verrückter, ermüdender und anstrengender.

Das bleibt abzuwarten! Auf jeden Fall finde ich solche Urteile unfair, wenn man den zeithistorischen Kontext berücksichtigt. Man kann den VAGABUND als verunglückten Klon von VALERIAN UND VERONIQUE abtun, aber übersieht dabei, dass hier eine originelle Phantastik waltet, die den Vergleich mit den schrägen Einfällen aus „Per Anhalter durch die Galaxis“ nicht scheuen braucht!

Das Kultbuch von Douglas Adams (1978 als Hörspiel konzipiert) dürfte den meisten lebhaft vor Augen stehen. Ein wundersames Raumschiff, reimende Aliens, ein depressiver Roboter, groteske Technik, unmögliche Welten – da hält dieser Comic aber locker mit!

Auf die Machart kommt es an!

Denn DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT punktet mit Weltklasse-Artwork und originellen Ideen. Geben wir mal je ein Beispiel aus den vier Alben in diesem Integralband 1.

Bevor sich Axle und Musky auf Terracotta vor den Jägern der Gilde verschanzen können, machen sie beim Eintreffen Bekanntschaft mit einem furchterregenden Insektenwesen. Musky droht zur Beute zu werden, doch einer von Axles Dienern schreitet ein und befreit den „kleinen Clown“, so Muskys zärtlicher Spitzname:

Originelle Sequenz: flott gestaltet, fern von Monsterklischees, sogar mit Sinn für Komik inszeniert.

Ein Diktator herrscht über einen Planeten, auf dem das Schicksal der Menschen minutiös vorgezeichnet ist. Alle ergeben sich in ihr Schicksal, weil es eben so geschrieben steht. Das erlaubt dem Diktator, ohne Probleme zu regieren und sich und seine Günstlinge auch nach Belieben mit Menschenmaterial zu versorgen (z. B. in einem angedeuteten Zwangsbordell).
Axle und Musky bringen diese Gesellschaft durcheinander und zetteln mit Hilfe der gefangenen Frauen einen Aufstand an.
Hier eine Szene, in der ein Kopfgeldjäger Axle an den Kragen will. Musky und ein Vollzugsbeamter der Schicksalsbehörde kommentieren:

Nächstes Beispiel: Auf der Suche nach Shimere nimmt Axle Kontakt mit Weltraumbanditen auf, gerät dabei jedoch in Gefangenschaft durch ein finsteres Pärchen, das zum Schutz vor Verfolgung sich der Körper von Axle und Musky bemächtigt: Nach erfolgtem Körpertausch wollen Baqi und Alabion sich mit dem „Silberdelphin“ vom Acker machen, doch das intelligente Raumschiff verhindert das Eindringen der Hochstapler.

Axle und Musky erhalten ihre Gestalt zurück und Baqi und Alabion finden ihr verdientes Ende. Ich zeige eine Sequenz, in der der „falsche Axle“ kurz vor der Rücktransformation steht. Auf seinem Besuch in Axles Geist ist auch Baqi von der Suche nach Shimere besessen worden.
Vor der Türe (letztes Bild) warten Gorn und Kameraden darauf, dass sich die Tür des Safes zum Transformationsraum öffnet. Das Knacken derselben erledigt ein exotisches Insekt!

Surreal wird es im vierten Album, als Axle und Musky zu den Kanybs reisen. Deren Schamane verfügt über die Macht, ein „Labyrinth des Geistes“ zu betreten, indem sich Visionen offenbaren. Hoffentlich solche, die einen Hinweis auf den Verbleib Shimeres geben!

Doch Axle stolpert übereifrig und wütend durch halluzinatorische Begegnungen mit anderen Versionen seines eigenen Ichs. Darunter ein kindliches Ego, das ein Traumschloss bewacht, in dem bereits die Vision von Shimere existiert!
Es kommt zu einem grotesken Duell mit den überdimensionalen Kuscheltieren des Jungen.
(Ich zeige erst die Begegnung Axles mit seinem jüngeren Ich, weiter unten noch den „Friedhof der Kuscheltiere, hihi.)

Wer hat’s gedruckt?

Der VAGABUND hat eine Veröffentlichungsgeschichte, so abenteuerlich wie diese Comicreihe selbst: Der berüchtigte Condor-Verlag (CLEVER & SMART, STURMTRUPPEN, KAPUTT) versuchte 1979 einen Start unter dem Titel MARK DE VILLE („Agent der Sterne“), kam aber nicht über zwei Alben hinaus.

Es folgte der noch berüchtigtere Volksverlag (DIE KLEINE GEILE REIHE, U-COMIX), der ab 1981 im Magazin PILOT gestückelte Episoden veröffentlichte. Das Magazin ging bald ein, die Serie wurde kurzzeitig im Schwesterblatt SCHWERMETALL fortgeführt. Meiner Recherche nach erschienen jedoch nur vier der insgesamt imposanten 31 Alben – und die auch noch in falscher Reihenfolge!

Wer seinerzeit eine Kostprobe zu Gesicht bekam, war dennoch unweigerlich beeindruckt. Der spanische Zeichner Julio Ribera ist ein unbesungener Meister seines Fachs und gehört mit DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT unter die Comic-Klassiker des späten 20. Jahrhunderts. Schade, dass ihn kaum jemand wahrgenommen hat!

Denn ein nächster Publikationsversuch kam offenbar tatsächlich auf 31 Alben in Serie, dafür beim obskuren, längst vergessenen Arboris-Verlag (genauer: die deutsche Dependence der Niederländer) – wo selbst die Datenbanken keine vollständigen Listungen hinbekommen.
Diesmal gab es Voraus- und Anschlusspublikationen vom Rainer-Feest-Verlag bzw. Feest Comics, der später von EgmontEhapa geschluckt wurde und auch seit 20 Jahren von der Bildfläche verschwunden ist.

Antiquarisch sind diese Alben nur versprengt (wenn überhaupt) zu finden, nicht mal Deutschlands größter Comicladen (die „Sammlerecke“ in Esslingen) kann ein Gesamtpaket liefern.
Ein Bravo von mir, dass sich der Verlag Kult Comics einer aktuellen Integral-Ausgabe verschrieben hat. Endlich der gesamte Rutsch in konsistenter Edition und korrekter Vollständigkeit!

Acht Bände zu je vier Alben sind projektiert und folgen offenbar einer französischen Gesamtausgabe, die (auch schon vor 20 Jahren!) jeweils drei Alben in elf Bänden präsentierte.
Das Original begann unter dem Titel LE VAGABOND DES LIMBES im Frühjahr 1975. Autor ist der Vielschreiber Christian Godard, der 50 Jahre lang für den französischen Comicmarkt geschrieben hat, hierzulande aber unbekannt ist.
(Selbst ich erinnere mich nicht seine Bastei-Arboris-Feest-Comics der Neunzigerjahre wie NORBERT UND KARI, DANNY oder OKI.)

Lassen wir also des Unbekannten schönstes Werk hochleben: DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT, das wie erwähnt kaum ein Comicfan im deutschsprachigen Raum regulär zu Gesicht bekommen hat.

Long may you run!

Und noch eine historische Anmerkung: DER VAGABUND DER UNENDLICHKEIT gehört unter die langlebigsten Albenreihen aller Zeiten. Mehr auf dem Kerbholz hat nur der unermüdliche Hermann mit JEREMIAH (39 Bände); nicht zu vergessen ASTERIX, inzwischen auch schon 39 Bände.
Nehmen wir weitere Künstlerteams mit in die Zählung, dürfen wir folgende Rekorde verbuchen: 35 Bände des Piratenkrempels DER ROTE KORSAR,  41 Bände des Fliegerkrempels DAN COOPER, 59 Bände des anderen Fliegerkrempels BUCK DANNY sowie 70 Bände des Rennfahrerkrempels MICHEL VAILLANT!
(Serien, über die ich kein Sterbenswörtchen verlieren werde, s. „Nichtigkeiten“, ahem.)

Noch produktiver ist tatsächlich das Franchise um SPIROU, wo ich allerdings nach 56 Bänden der Hauptserie den Überblick verliere, wie viele „Extras“ und „Spezialausgaben“ es zusätzlich gibt (über 30 mindestens). 
Um Längen aber schlägt sowieso alle unser geschätzter LUCKY LUKE, der in deutscher Zählung bei Band 101 angekommen ist.

Wer mag, vagabundiert noch auf dieses kurze Instagram-Reel und schaut sich noch etwas Artwork von Julio Ribera an: