© Matthias Schlothfeldt

Schlothfeldt, Matthias

Kompositionspädagogik

Zur Professionalisierung einer jungen Disziplin

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2020 , Seite 06

Seit einigen Jahren wird immer deutlicher, wie wertvoll Komponieren im Unterricht an Schulen, Musikschulen und anderen kulturellen Bildungs­einrichtungen sein kann. In der Folge hat sich eine junge Disziplin ent­wickelt, die sich zunehmend professionalisiert: die Kompositionspädagogik.

Wie reagiere ich, wenn eine Schülerin mit einem selbst komponierten Stück in meinen Unterricht kommt? Soll ich darauf eingehen? Darf ich sie dabei unterstützen, obwohl ich doch selbst nicht Komponieren gelernt habe und es mir auch nicht zutraue? Soll ich ihre Komponierversuche in der ohnehin schon knapp bemessenen Unterrichtszeit besprechen? Oder schicke ich sie lieber zu einem Musikschulkollegen, auch wenn er eigentlich Musiktheorie unterrichtet? Kann man Komponieren überhaupt lernen?
Diese berechtigten Fragen deuten darauf hin, welch hohe Ansprüche wir offenbar ans Komponieren haben und wie groß unser Respekt zumindest gegenüber ausgewählten Werken und ihren Urhebern ist. Vermutlich halten uns diese Bedenken auch davon ab, Lernende zum Komponieren zu ermuntern und sie dabei zu unterstützen. Mit solchen Fragen und Themen beschäftigt sich die Komposi­tionspädagogik. Was sich genau hinter diesem Begriff verbirgt und wieso die Disziplin „jung“ sein soll, wo doch SchülerInnen – in einem gewissen Rahmen – schon immer komponiert haben, wird hier erörtert. Zunächst wird aber zu klären versucht, was mit „Komponieren“ gemeint ist.

Komponieren

Komponieren ist eine (schöpferische) Tätigkeit mit dem Ziel, Musik bzw. ein Musikstück zu erstellen. Das ist zwar kein allgemeingültiges, aber doch ein vielen Definitionen gemeinsames Verständnis des Begriffs. Das Ergebnis der Tätigkeit ist die Komposition.1 Dieser Begriff ist in Europa eng mit der Vorstellung von einem musikalischen Kunstwerk verknüpft, das neu, eigen und originell ist. Für die musikpädagogische Praxis ist es hingegen ratsam, einen weiteren Begriff von Komponieren zu verwenden. Das hat den Vorteil, dass Bereiche wie Stilübung und Songwriting nicht ausgeschlossen werden. Kompositionen, die im Unterricht entstehen, müssen nicht unbedingt historisch neu, sollen aber für die Lernenden neu sein.
Auch die kreative Tätigkeit des Improvisierens hat das Erzeugen von Musik zum Ziel. Davon lässt sich Komponieren anhand von drei Merkmalen abgrenzen, die dort eine wesentliche, beim Improvisieren allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen: 1. Planung,
2. Revision/Korrektur, 3. Fixierung/Notation. Wird eine Improvisation nämlich geplant oder reflektiert und korrigiert (also auch wiederholt) oder (z. B. zum Zweck der Wiederholung) notiert, nähert sich der Vorgang dem Komponieren an. Aber gerade die – für das Komponieren konstitutive – Möglichkeit, zu planen, zu wiederholen und zu korrigieren sowie zu notieren, verspricht im Unterricht wertvolle Lernerfolge.
Als angrenzende Tätigkeiten sind neben dem Improvisieren noch das Experimentieren und Explorieren zu nennen, die als Klang- und Ins­trumentenerkundung auch Ausgangspunkt des Kompositionsvorgangs sein können. Besonders bei Kindern und Jugendlichen sind Improvisation und Erkundung oft unabdingbare Bestandteile des Komponierens: Während des Kompositionsprozesses ist die klangliche Realisation notwendig, um Klangvorstellungen zu entwickeln und kompositorische Entscheidungen beurteilen zu können.2 Gerade beim Komponieren im Instrumentalunterricht geht dem Komponieren häufig ein Improvisationsprozess voraus: Das Improvisieren geht ins Komponieren über; in der Praxis ist das eine vom anderen kaum zu trennen.
Um diese Handlungsweisen einzuschließen, finden sich seit den 1990er Jahren in der musikpädagogischen Literatur – teils als Oberbegriffe – Alternativen zu den Begriffen „Komposition“ und „Komponieren“. Die häufigsten sind: Produzieren,3 Gestaltung4 sowie Musik erfinden.5
Der Begriff des Produzierens ist insofern nicht unproblematisch, als er heute in anderen Kontexten auf das Herstellen von Musik insgesamt zielt, also auch das Singen, Spielen und Proben umfasst und insbesondere die technische Herstellung von Sounddateien sowie die Aufnahme und Bearbeitung von Klang mit elektronischen bzw. digitalen Mitteln darunter verstanden werden. Sogar noch weiter gefasst und nicht einmal unmittelbar auf Musik gerichtet ist der Begriff der Gestaltung, der in Bezug auf Musik neben Komponieren und Improvisieren auch das Proben, Aufführen und vieles andere mehr umfasst. Als Oberbegriff ist wohl Musik erfinden am ehesten geeignet, auch wenn insbesondere das Improvisieren weniger dem Vorgang des Erfindens als dem des Findens von Musik ähnelt.6
Der Verdacht liegt nahe, dass mit der Verwendung alternativer Begriffe Komponieren im musikpädagogischen Kontext von der professionellen Tätigkeit unterschieden werden soll. Dabei dürfte die Ehrfurcht vor dem komponierenden „Genie“ und seinem „Meisterwerk“ ebenso mitschwingen wie die Vorstellung, dass sich Komponieren nur vor dem Hintergrund umfassender musiktheoretischer und musikhistorischer Kenntnisse ereignen könne. Dem stehen aber didaktische Konzeptionen gegenüber, die sowohl in spieltechnischer als auch in satztechnischer Hinsicht von keinen oder nur geringen Voraussetzungen ausgehen.7 Aber warum soll der Tätigkeit Lernender (egal welchen Alters) und ihren Produkten der Status des Komponierens bzw. der Komposition von vornherein abgesprochen werden, indem man z. B. die Begriffe vermeidet?

1 Die Entwicklung hin zu einem äußerst heterogenen Verständnis des Begriffs wird auch noch einmal nach­gezeichnet in: Helmut Schmidinger: Kompositions­pädagogik. Theoretische Grundlegung als Fachrichtung der Musikpädagogik, Augsburg 2020, S. 47-56. Das Buch war bei der Entstehung des vorliegenden Textes noch nicht erschienen, sodass hier nur in Anmerkungen darauf eingegangen wird.
2 Matthias Schlothfeldt: Komponieren im Unterricht, Hildesheim 2009, S. 76.
3 Die Begriffe „Produzieren“ und „Produktion“ begegnen in diesem Zusammenhang früher als die anderen, spätestens in den 1920er Jahren, in: Fritz Jöde: Das schaffende Kind. Eine Anweisung für Lehrer und Freunde der Jugend, Wolfenbüttel/Berlin 1928/1962, S. 9-30. In der Musikpädagogik spielen sie auch heute eine zent­rale Rolle, z. B. in: Christopher Wallbaum: Produk­tionsdidaktik im Musikunterricht, Kassel 2000, wo Produzieren als Verbindung von „Entwerfen (Komponieren im weitesten Sinne) und Realisieren“ begriffen wird (S. 9).
4 Neben „Gestaltung“ begegnet oft der Begriff „Gestaltungsarbeit“. Vgl. Ortwin Nimczik: Spielräume im Musikunterricht. Pädagogische Aspekte musikalischer ­Gestaltungsarbeit, Frankfurt am Main 1991, S. V.
5 Der Begriff begegnet Ende der 1990er Jahre zunächst mit der Intention, den Begriff des Komponierens zu vermeiden; vgl. Rainer Schmitt: „Musik erfinden“, in: Siegmund Helms/Reinhard Schneider/Rudolf Weber (Hg.): Handbuch des Musikunterrichts, Band 1. Primarstufe, Kassel 1997, S. 187-236, und Ortwin Nimczik: „Erfinden von Musik“, in: Siegmund Helms/Reinhard Schneider/ Rudolf Weber (Hg.): Handbuch des Musikunterrichts, Band 3. Sekundarstufe II, Kassel 1997, S. 169-188. Später dient er eher als Oberbegriff, um angrenzende Tätigkeiten wie das Improvisieren einzuschließen.
6 Der Begriff wird neuerdings häufig im Zusammenhang mit Instrumentalunterricht und Elementarer Musikpäda­gogik verwendet, sogar als Titel von Publikationen und Symposien. Vgl. Michael Dartsch: Musik lernen – Musik unterrichten. Eine Einführung in die Musikpädagogik, Wiesbaden 2014, S. 99-111; als Buchtitel u. a. bei Renate Reitinger: Musik erfinden. Kompositionen von Kindern als Ausdruck ihres musikalischen Vorstellungsvermögens, Regensburg 2008; Rainer Kotzian: Musik erfinden mit Kindern. Elementares Improvisieren, Arrangieren und Komponieren, Mainz 2014. Siehe auch Anm. 18.
7 vgl. in diesem Heft: Meike Senker: „Elementares Komponieren“, S. 10 f.

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