Totales Energie-Embargo oder russischer Vasallenstaat?
Ein Plädoyer für massive Militär(sofort)hilfe an die Ukraine

„Insgesamt ist es wie bei früheren Krisen auch: Es passiert etwas Unvorhergesehenes am Markt, die Preise gehen hoch, und dann sehen neue Anbieter ihre Chance, die Lücke zu füllen. Wir sind jetzt in der Phase zwischen Preisschocks und neuen Angeboten.“ (Marcus M. Keupp)

Die Ukraine steht militärisch mit dem Rücken zur Wand. Es ist ihr zwar gelungen, den russischen Angriff auf Kiew zu stoppen. Ansonsten sieht es allerdings nicht gut aus. Der Donbass ist fast vollständig von den Russen besetzt, die russische Landbrücke zur Krim ist geschaffen, der letzte verbliebene Zugang der Ukraine (Odessa) zum Schwarzen Meer ist in Gefahr (Abbildung 1). Westliche Sanktionen haben den russischen Vormarsch nicht aufhalten können. Militärische Hilfe für die Ukraine ist weiter defizitär. Die USA und Großbritannien helfen, Deutschland steht auf der Bremse, Frankreich versteckt sich und sorgt sich um die „Demütigung“ von Putin. Kein Wunder, dass sich die militärische Übermacht der Russen nach und nach durchsetzt.  Der Ruf nach härteren wirtschaftlichen Sanktionen wird lauter. In Deutschland wird über ein totales Energie-Embargo gegen Russland gestritten. Umstritten ist der Import von russischem Gas. Die Befürworter wollen verhindern, dass die sanktionierenden Länder die russische Kriegskasse ständig weiter füllen. Weniger Devisen würden das russische militärische Potential schwächen. Immerhin hat die deutsche Industrie in den zwei Monaten seit Ausbruch des Krieges über 8,3 Mrd. Euro für russische Energie ausgegeben, die EU über 39 Mrd. Euro. Die Gegner verweisen dagegen auf die hohen Kosten für die systemrelevante energieintensive heimische Industrie. Bei einem totalen Energie-Embargo drohe eine  wirtschaftliche Kernschmelze.

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Krieg und Sanktionen zerstören Wohlstand

Internationale Arbeitsteilung schafft Wohlstand. Kriege und Sanktionen machen ihn zunichte. Es ist eine Binsenweisheit, internationaler Handel mit Gütern und Diensten und über Ländergrenzen hinweg mobile Arbeit, mobiles Kapital und mobiles Wissen stellen alle beteiligten Länder besser. Vieles davon geht verloren, wenn Kriege toben und Sanktionen dominieren, manchmal sogar alles. Die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung werden zerstört. Alle in Krieg und Sanktionen verwickelten Länder verlieren. Es werden alle ärmer, einige mehr, andere weniger. Das gilt für Russland, die Ukraine und den Westen. Nicht nur kriegerische Auseinandersetzungen vermindern den Wohlstand aller. Nichts anderes gilt auch für wirtschaftliche Sanktionen. Nach der Logik der internationalen Arbeitsteilung kann es keine Sanktionen geben, die allein dem russischen Aggressor schaden, bei denen der sanktionierende Westen aber ungeschoren davonkommt. Wirtschaftliche Sanktionen, militärisch wirksam oder auch nicht, tun allen weh, auch uns. Deutschland wird wegen der stärkeren Energieabhängigkeit von Russland besonders leiden. Frankreich, Großbritannien und die USA kommen glimpflicher davon.

Erfolglose Sanktionsdrohungen

Schon in den Monaten vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, drohte der Westen mit Sanktionen ganz neuer Qualität und weit schmerzhafteren Wirkungen. Beeindruckt hat das Russland offensichtlich nicht. Die Sanktionsdrohungen waren wirtschaftlich dominiert und wenig glaubwürdig. Dazu kam, dass sich Russland militärisch verkalkulierte. Erstens versprach die NATO von Anfang an Russland, nicht direkt militärisch mit eigenen Truppen und eigenem Gerät in der Ukraine einzugreifen. Darauf wies sie auch immer wieder beschwörend hin. Damit war die größte Bedrohung für Russland vom Tisch. Zweitens war schon lange klar, dass einige Länder, wie etwa Deutschland, Österreich und Italien, von russischen Energielieferungen hochgradig abhängig sind. Sie würden diese Beziehungen nicht aufs Spiel setzen. Das würde für diese Länder ökonomisch und sozial teuer. So kam es auch. Diese Länder bremsen beim Öl- und verweigern sich bei einem Gas-Embargo. Drittens schätzte Russland die militärische Lage falsch ein. Nach dem kriegerischen „Spaziergang“ nach Kiew und dem Sturz der ukrainischen Regierung sollte die militärische Spezialaktion beendet sein. Der Westen würde zwar mosern, vielleicht auch einige löchrige Sanktionen verhängen, aber ansonsten wieder Ruhe geben, so wie er es nach der Annexion der Krim im Jahre 2014 getan hat. Hier irrte Russland. Hoffentlich bleibt das so. Sicher ist das nicht!

Energie-Embargo als Game-Changer?

Auf den russischen Überfall der Ukraine reagierte der Westen umgehend mit wirtschaftlichen und persönlichen Sanktionen. Die EU hat inzwischen schon fast 6 Sanktionspakete in Kraft gesetzt, teilweise auch innovative finanzielle. Das internationale Zahlungssystem SWIFT etwa wurde für einige, allerdings nicht für die Energiefinanzierung systemrelevante, russische Banken ausgesetzt. Russische Devisenreserven bei westlichen Zentralbanken wurden eingefroren. Damit hatte Russland nicht gerechnet. Der Knackpunkt ist aber die Energie. Wer auf ein Energie-Embargo setzt, hat zweierlei im Hinterkopf. Erstens soll die militärische Kraft Russlands geschwächt werden, auch schon zeitnah. Fließen keine Devisen mehr, würde sich die russische Kriegskasse leeren. Russland könne weniger Elemente für ihr Kriegsgerät (etwa westliche Elektronik) kaufen und Soldaten (ausländische Söldner?) entlohnen. Statte der Westen die Ukraine stetig mit modernem Kriegsgerät aus, komme Russland militärisch schnell an Grenzen. Zweitens wird davon ausgegangen, dass die Kosten eines Energie-Embargos für den Westen „handhabbar“ seien. Westliche Unternehmen würden zügig russische Energie (Kohle, Öl, Gas) substituieren. Weltweit ausreichend verfügbare Energie in diesen Segmenten und eine technisch flexible Produktion der unternehmerischen Energienutzer machten diese möglich. Explodierende Preise für Energie aber auch anderer Rohstoffe („seltene Erden“) würden die notwendigen Anreize für einen zügigen Prozess der Substitution schaffen. Da längerfristig sowieso auf fossile Energien verzichtet werden müsse, würde der Substitutionsprozess zeitlich nur vorgezogen. Also alles halb so schlimm.

Zeitintensive Substitutionsprozesse

Die Diskussion in Deutschland konzentriert sich auf die Kosten eines Energie-Embargos für die deutsche Industrie, das Herz des „Geschäftsmodells Deutschland“ (hier). Erste hastig erstellte empirische Studien zeigen, das BIP würde sinken. Die Spannbreite der bisherigen Ergebnisse ist allerdings groß. Sie schwanken zwischen 0,5 und mehr als 10 % des BIP. Die Benchmark der „Handhabbarkeit“ ist für einige die Corona-Krise. Damals ging das BIP temporär um über 5 % zurück. Und die Welt ging auch nicht unter, argumentieren die Befürworter eines totalen Energie-Embargos. Die Kritik an den Studien entzündet sich allerdings an dreierlei: Erstens ist Energie aus anderen regionalen Quellen nicht heute, oft auch nicht morgen, sondern erst übermorgen verfügbar. Das gilt vor allem für Gas. Substitutionsprozesse stocken, die Produktion schrumpft. Zweitens ist die Wertschöpfung in energieintensiven Branchen tief gestaffelt. Das gilt vor allem für die chemische Industrie. Verbundproduktion ist gang und gäbe. Die Verflechtung mit anderen Branchen ist eng. Ein Embargo russischen Gases frisst sich über die Chemieindustrie durch die Volkswirtschaft. Systemrelevanz wird zu einem ernsten Problem. Es droht eine Kernschmelze. Drittens entsteht ein Problem der Hysterese. Technische Inflexibilitäten machen es mancherorts kostspielig, die Produktion kurzfristig wieder hochzufahren, wenn sie erst einmal stillgelegt wurde. Der spezifische Real- und Humankapitalstock energieintensiver Branchen entwertet sich. Standortverlagerungen drohen.

Kriegsdauer unabhängig von Sanktionen

Ein totales Embargo russischer Energielieferungen käme uns wirtschaftlich teuer zu stehen. Unsere Gesellschaft wäre vielleicht trotzdem bereit, die hohen Kosten eines Boykotts zu tragen. Das setzte allerdings voraus, dass auch eine gute Chance bestünde, dass aggressive wirtschaftliche Sanktionen die militärische Kraft des russischen Aggressors signifikant schwächen. Die spärlichen empirischen Studien zum Einfluss von Sanktionen auf die Dauer von Kriegen zeichnen kein optimistisches Bild. Das dürfte auch für den Ukraine-Krieg nicht anders sein. Es spricht vieles dafür, dass der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, kurzfristig „durchfinanziert“ ist, zumindest um den Donbass, die Landbrücke zur Krim und die ukrainischen Schwarzmeerhäfen zu erobern. Dieses „minimale“ Ziel hat Putin fast schon erreicht. So gesehen käme der westliche Stopp aller russischen Energielieferungen zu spät. Russland schafft gegenwärtig militärische Tatsachen, die militärisch und politisch nur schwer wieder rückgängig zu machen sind. Auch ein totales Energie-Embargo könnte daran wenig ändern. Helfen kann nur sofortige massive militärische Hilfe des Westens für die Ukraine, um Russland wieder aus den eroberten Gebieten zu vertreiben, damit es sich dort nicht festsetzt. Die anhaltende Diskussion um ein totales Energie-Embargo gegen Russland ist eine Nebelkerze. Sie verschleiert, dass es der Westen bisher nicht schafft, die Ukraine adäquat militärisch zu unterstützen.

Assignment und Tinbergen

Es spricht einiges gegen ein totales Energie-Embargo gegen Russland. Nüchtern betrachtet sind die erwarteten Kosten hoch, die militärischen Erträge allerdings höchst ungewiss. Die Stimmungslage ist oft eine andere, zumindest in Talkshows. Die Forderungen dort sind zwar reich an Empörung, aber arm an Substanz. Eine adäquate Antwort auf die russische Aggression ist massive militärische Hilfe, schnell, effizient und modern. Das vorrangige Ziel ist, die Ukraine unverzüglich in die Lage zu versetzen, dem russischen Angriff erfolgreich Einhalt zu gebieten. Beim Einsatz der Mittel ist zweierlei zu beachten: Erstens muss das Assignment-Problem gelöst werden. Die Instrumente sollten Vorrang haben, die zu den besten Ergebnissen führen. Fakt ist: Kriege gewinnt man mit Waffen, nicht mit Sanktionen. Militärische Hilfe für die Ukraine muss ganz oben auf der Agenda stehen. Alles andere ist „Handelsklasse C“. Zweitens sollte man das Tinbergen-Theorem beachten, um zu verstehen, warum Sanktionen militärisch eher wenig bewirken. Instrumente können nur effizient eingesetzt werden, wenn für jedes Ziel ein unabhängiges Mittel eingesetzt wird. Wirtschaftliche Sanktionen können helfen, die internationale Arbeitsteilung zu blockieren. Sie haben aber militärische Defizite. Waffenlieferungen sind demgegenüber geeignet, militärische Ziele zu erreichen. Es ist wenig effizient, mit wirtschaftlichen Sanktionen die russische Wirtschaft zu schädigen und ernsthaft zu glauben, damit den Krieg schneller siegreich für die Ukraine beenden zu können.

Fazit

Der Vormarsch russischer Truppen in der Ukraine geht weiter. Dörfer und Städte werden in Schutt und Asche gelegt. Männer, Frauen und Kinder sterben. Ein Ende des verheerenden Angriffskrieges ist nicht in Sicht. Die Empörung über den russischen Überfall ist groß. Der Ruf wird lauter, russische Energielieferungen ganz zu stoppen. Das ist moralisch verständlich, effizient ist es nicht. Kosten und Nutzen sprechen dagegen. Tatsächlich müssen wir aber nicht zwischen zwei Übeln wählen, einem totalen Energie-Embargo oder einer Teilung der Ukraine, im schlimmsten Fall einem russischen Vasallenstaat. Der Ukraine wäre schon sehr geholfen, wenn wir das tun würden, was ihr gegenwärtig am meisten nützt. Massive militärische Hilfe ist prioritär, finanzielle und humanitäre Unterstützung sehr erwünscht. Es geht für die Ukraine primär darum, den russischen Aggressor so schnell wie möglich wieder los zu werden. Das lässt sich nur realisieren, wenn die ukrainischen Streitkräfte mit schlagkräftigen westlichen Waffen und Munition ausgestattet werden. Vor allem Deutschland hat offensichtlich Nachholbedarf; andere große EU-Länder, wie Frankreich und Italien, allerdings auch. Die Bundesregierung zaudert und zögert bei der Lieferung militärischer Güter. Das sollte sie schleunigst ändern. Ansonsten verspielt Deutschland nicht nur in der Ukraine seine (Rest)Reputation. Auch in anderen osteuropäischen EU-Ländern, die Deutschland schon länger kritisch sehen, würde das Ansehen weiter leiden. Für den Prozess der europäischen Integration wäre das eine schwere Hypothek.

Podcasts zum Thema:

Energie-Embargo gegen Russland. Was sagt die chemische Industrie?

Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Dr. Peter Westerheide (BASF)

Sanktionen und ein Energieembargo. Wie gefährdet ist das „Geschäftsmodell Deutschland“?

Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Achim Wambach, PhD (ZEW)

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold (2022): “Geschäftsmodell Deutschland” in Zeiten der Krise
De-Globalisierung, Ukraine-Krieg und Energie-Embargo

Erfolgreiche Wirtschaftssanktionen zu einem hohen Preis?

Norbert Berthold (2022): Militärhilfe, Wirtschaftssanktionen und Energieboykott. Überlebt das „Geschäftsmodell Deutschland“?

Hans-Joachim Hass (2015): Digitalisierung – Folgen für das „Geschäftsmodell D“

 

3 Antworten auf „Totales Energie-Embargo oder russischer Vasallenstaat?
Ein Plädoyer für massive Militär(sofort)hilfe an die Ukraine

  1. Putin ist sterbenskrank, die russische Armee am Boden – wie sich westliche Medien die Lage der Ukraine schönschreiben

    Die Ukraine könne den Krieg gegen die russische Invasionsarmee gewinnen, liest man in den Zeitungen. Nach über drei Monaten Krieg haben sich die russischen Soldaten allerdings im Osten des Landes festgesetzt. Ist die Berichterstattung westlicher Medien zu stark von Wunschdenken geprägt?
    Benedict Neff (NZZ)
    10.06.2022, 05.30
    https://www.nzz.ch/meinung/wunschdenken-der-medien-putin-ist-krank-und-seine-armee-am-ende-ld.1687970?mktcid=smch&mktcval=twpost_2022-06-10

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