Gruppendynamik: Definition, Prozesse und Beispiele

Was ist die Bedeutung von Gruppendynamik? Teams entwickeln ein Eigenleben und wachsen mitunter vollkommen über sich und das Vermögen der einzelnen Personen hinaus. Beispielsweise im Sport können wir dann Teams aus mittelmäßigen Personen beobachten, die nahezu unaufhaltsam jeden Gegner aus dem Weg räumen. Auch in der Wirtschaft sind Teams durch starke gruppendynamische Prozesse geprägt. Einige Teams und Gruppen versinken dagegen in einer toxischen Dynamik, sind durch Konflikte und Trittbrettfahrer geplagt, scheitern. Auch das ist Gruppendynamik.
Dieser Beitrag zeigt die Psychologie hinter dieser Oberfläche. Er beginnt mit einer Definition: Gruppendynamik. Dann gibt er einen umfassenden Überblick über Prozesse der Gruppendynamik anhand vieler Beispiele.

Autor: Diplompsychologe Professor Dr. Florian Becker

Gruppendynamik: Gruppen entwickeln eine Dynamik, die wie ein Sog das Denken und Verhalten der Mitglieder vereinnahmt

Was ist Gruppendynamik? Definition und Arten

Was versteht man unter Gruppendynamik? Die Bedeutung des Wortes Dynamik hat sich über die Zeit geändert. Der ursprünglich altgriechische Begriff für „Macht“ und „Kraft“ hat im modernen Sprachgebrauch immer mehr die Bedeutung von „Veränderung“ bekommen. Das gilt auch für die Dynamik in Gruppen und Teams, die bereits früh das Interesse der Psychologie geweckt hat (Hogg und Williams, 2000). Vorreiter der gruppendynamischen Forschung waren berühmte Psychologen wie Kurt Lewin (Lewin, 1948), der auch den Begriff „Gruppendynamik“ prägte. Kommen wir zur Definition:

Gruppendynamik bezeichnet die wechselseitige Beeinflussung der Mitglieder einer Gruppe oder zwischen Gruppen, die zu einer Veränderung der Prozesse und Strukturen einer oder mehrerer Gruppen führt.

Anders gesagt: „Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile!“ So lautet ein berühmter Gedanke des Gestaltpsychologen Max Wertheimer (Wertheimer, 1922). Die Definition weist auf einen wichtigen Punkt hin, den die Abbildung illustriert.

Arten und Definition der Gruppendynamik
Gruppendynamik: Die Definition unterscheidet zwei Arten

Es gibt zwei Arten der Gruppendynamik:

  1. Intra-Gruppendynamik, die sich innerhalb einer Gruppe abspielt
  2. Inter-Gruppendynamik, die sich zwischen Gruppen abspielt

Blicken wir also tiefer in die Bedeutung von Gruppendynamik. Es folgt eine genaue Beschreibung der beiden Arten.

Intra-Gruppendynamik bezeichnet die wechselseitige Beeinflussung der Mitglieder einer Gruppe, die zu einer Veränderung der Prozesse und Strukturen der Gruppe führt.

Intra-Gruppendynamik definiert sich also relativ breit. Sie beinhaltet einerseits die Veränderung von Prozessen. Dazu zählen etwa das Konfliktniveau und der Zusammenhalt im Team. Und Gruppendynamik ist zweitens definiert als die Veränderung von Strukturen. Dazu zählt beispielsweise wer Mitglied im Team ist– und wer nicht. Beides – Strukturen und Prozesse – hängt eng miteinander zusammen. Eine Veränderung der Struktur, etwa indem die Gruppe Mitglieder entfernt, verändert auch Prozesse wie die Zusammenarbeit. Und Prozesse, wie beispielsweise Konflikt, ändern auch die Struktur von Gruppen, etwa indem sich einzelne Mitglieder nicht mehr als Teil der Gruppe fühlen und das Team verlassen. Entscheidender Kern der Definition von Intra-Gruppendynamik ist daher, dass sie durch Beeinflussung innerhalb der Gruppe selbst wirkt.

Diese Definition macht auch klar, was Intra-Gruppendynamik nicht ist: Kommt es in einer Gruppe zu einer Veränderung von Prozessen oder Strukturen durch Einfluss und Intervention von außen, dann ist das keine Gruppendynamik. Ein Beispiel: Eine Führungskraft versetzt ein Teammitglied in ein anderes Team, da sie dort einen höheren Bedarf sieht. Damit verändert die Führungskraft zwar mit Sicherheit die Gruppendynamik. Diese Veränderung der Teamstruktur ist aber kein Ergebnis der Gruppendynamik. Fazit: Intervention von außen prägt also die Gruppendynamik, ist aber nicht selbst die Gruppendynamik.

Nur ein Einfluss von außen auf Gruppen gehört auch zur Gruppendynamik: Die Inter-Gruppendynamik. Definition:

Inter-Gruppendynamik bezeichnet die wechselseitige Beeinflussung zwischen Gruppen, die zu einer Veränderung der Prozesse und Strukturen der Gruppen führt.

Ein Beispiel für Inter-Gruppendynamik ist Wettbewerb zwischen Teams, der diese Teams zu höherer Leistung anspornt. Eine Anwendung dafür ist die Einrichtung von Lerngruppen im englischen Schulsystem, weltbekannt auch aus der Harry Potter Reihe mit den Gruppen Slytherin und Gryffindor in der Zauberschule Hogwarts. Um die Komplexität gering zu halten, konzentriert sich der Text auf die klassische Perspektive von Gruppendynamik, auf die Dynamik innerhalb einer Gruppe.

Der nächste Abschnitt zeigt Beispiele für gruppendynamische Prozesse.

Gruppendynamische Prozesse: Beispiele

Was sind gruppendynamische Prozesse? Welche wichtigen Arten gibt es? Auch hier eine Definition:

Gruppendynamische Prozesse sind Arten der wechselseitigen Beeinflussungen der Mitglieder innerhalb einer Gruppe oder Arten der wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Gruppen, die deren Prozesse und Strukturen verändern.

Wir haben gruppendynamische Prozesse definiert als wechselseitige Beeinflussungen der Mitglieder in Gruppen, die Prozesse (etwa die Teamleistung) und Strukturen (etwa die Rollenverteilung und Hierarchie) der ganzen Gruppe verändern. Welche typischen Beispiele für solche wechselseitigen Beeinflussungen gibt es? Dieser Abschnitt zeigt die wichtigsten Beispiele für gruppendynamische Prozesse:

Auch die Veränderung der Teamzusammenstellung, durch die Aufnahme neuer Mitglieder in die Gruppe oder das Ausscheiden von Teammitgliedern sind oft gruppendynamische Prozesse. Das gilt dann, wenn die Gruppe selbst aus sich heraus Mitglieder entfernt (mitunter herausmobbt) oder neue Personen aufnimmt.

Jedes der genannten Beispiele für Gruppendynamik kann positiv oder negativ ausgeprägt sein.

Ein Beispiel für positive Gruppendynamik ist das Herausbilden von sinnvollen sozialen Rollen in Gruppen. Durch wechselseitige Beeinflussung der Mitglieder kristallisieren sich idealerweise klare Rollen und Verantwortlichkeiten heraus, die alle wichtigen Aufgabenfelder abdecken und jeweils mit einem dafür kompetenten Mitglied ausgefüllt werden.

Ein Beispiel für negative Gruppendynamik: Die kollektive Wirksamkeit kann verloren gehen. Manche Teams verlieren den Glauben an sich und daran, dass sie es schaffen können. Diese Teams verlieren, was Psychologen als ihre kollektive Wirksamkeit bezeichnen (Bandura, 2000). Sie geben innerlich auf und die Mitglieder verhalten sich dann wie gelähmt. Diese sich ausweitende negative Teamdynamik kann man vor allem im Mannschaftssport gut beobachten. Ein Beispiel: Deutschland besiegte den Gastgeber Brasilien im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft 2014 mit sieben zu eins Toren. Die brasilianischen Spieler hatten bereits während des Spiels aufgegeben, waren verzweifelt und bewegten sich wie gelähmt. Fans verließen während des Spiels das Stadion und Spieler weinten.

Der nächste Abschnitt vertieft den Blick auf negative Dynamik in Gruppen.

Negative Gruppendynamik

Gruppendynamische Prozesse können also positiv sein und gut laufen. Oft ist es allerdings anders, Teams haben dann eine negative Gruppendynamik. Das zeigt der Schaukasten mit vielen Beispielen.

Beispiele: Negative Gruppendynamiken
Negative Gruppendynamik hat typische Kennzeichen und Symptome in folgenden Bereichen:

  • Rollenverteilung. Teamrollen (Belbin, 2012) sind bei einer negative Gruppendynamik oft unklar oder umstritten, Mitglieder machen, was sie am liebsten tun und nicht, was sie am besten können und wesentliche Rollen bleiben unbesetzt.
  • Zusammenhalt. Das Team bleibt ohne Teamgeist (Dion, 2000), Mitglieder sind nicht stolz, dabei zu sein, investieren nicht in die Gruppe und suchen sich im Hintergrund bereits Alternativen. Vielleicht arbeiten sie sogar (heimlich) gegen die Gruppe und freuen sich, wenn diese scheitert.
  • Regeln und Normen. Eine negative Gruppendynamik sorgt dafür, dass entweder keine verbindlichen Regeln und sozialen Normen (Jackson, 1965) entstehen. Die Konsequenz sind Verteilungskämpfe und „Chaos“. Oder es bilden sich soziale Normen heraus, die den Zielen und Aufgaben des Teams schaden, ihnen direkt entgegen stehen. Ergebnis sind dann Teams, die negativ im Umgang mit Kunden, Sicherheitsvorschriften und Leistungsstandards auffallen (Seashore, 1954; Schneider et al., 2005; Zohar, 2000).
  • Teamentwicklungsphasen. Das Team entwickelt sich nicht oder bleibt bei einer schlechten Gruppendynamik in einer Teamphase stecken, die den Zielen schadet – etwa in der Konfliktphase (Tuckman, 1965).
  • Soziales Faulenzen. Das Auftreten und Gedeihen von sozialen Trittbrettfahrern ist Zeichen negativer Teamdynamik (Latané, Williams und Harkins, 1979). Immer mehr Mitglieder versuchen dabei, mit möglichst wenig eigenem Input möglichst viel von der Gruppe zu profitieren. Andere im Team beobachten das, werden demotiviert und verringern ebenfalls ihre Anstrengungen. Das soziale System kollabiert schließlich, weil niemand mehr die erforderlichen Leistungen erbringen möchte.
  • Konfliktniveau. Manche Teams sind zerfressen von Konflikt (Adolph, 2000). Dysfunktionale Auseinandersetzungen dominieren dann das Miteinander, konstruktive Arbeit an den eigentlichen Aufgaben ist so nicht mehr möglich. Konflikte entfalten hässliche Teamdynamiken. Sie verlagern sich von der Sachebene auf den persönlichen Beziehungsbereich, sie weiten sich auf bisher unbeteiligte Personen und Teammitglieder aus.
  • Aufspaltung in Subgruppen. Informelle Gruppen (Muti, 1968), die sich innerhalb von Teams bilden, können harmlos sein und sind zu einem gewissen Grad normal. Bei negativer Gruppendynamik entfalten sie aber toxische Wirkungen. Es gibt dann schwarze Schafe, die von der Gruppe ausgeschlossen sind, heimliche Herrscher, die Führungspositionen reklamieren und nicht vorgesehene Spaltungen des Teams in sich bekämpfende Untergruppen.
  • Entscheidungen. Auch bei Teamentscheidungen (Thompson, 2014) gibt es negative Gruppendynamiken. Vielredner drängen sich dabei in den Vordergrund, abweichende Meinungen dürfen nicht erwähnt werden, ein „Gruppendenken“ macht sich breit. Ergebnis sind dann oft ein Ausblenden der Realität, langsame Entscheidungsprozesse, faule Kompromisse oder stumpfe Mehrheitsentscheide ohne Rücksicht auf Minderheiten.
  • Wechselseitiges Lernen. In starken Teams möchte jedes Mitglied den Erfolg und das Wachstum der anderen Teammitglieder. Der Informationsaustausch in Gruppen ist aber oft gestört (Winquist und Larson, 1998). Unter negativer Gruppendynamik halten Teammitglieder wesentliche Informationen zurück und weisen andere nicht auf Optimierungspotenzial hin. Mitglieder freuen sich dann nicht über den Wachstum und den Erfolg der anderen, sondern blicken mit Argwohn und Missgunst darauf.
  • Emotion und Stimmung im Team. Emotionen sind ansteckend, sie breiten sich von Mensch zu Mensch aus (z.B. Barsade, 2002). Das tritt vor allem in Teams auf. Bei einer negativen Teamdynamik machen sich ungeeignete Emotionen breit: Antriebslosigkeit, Depression und Pessimismus oder Aggressionen und Wut gehören dazu.
  • Gemeinsames Ziel. Viele Teams scheitern daran, ein gemeinsames verbindendes Ziel zu finden, ein Ziel nach dem alle zusammen streben (z.B. Hackman, 2002). Stattdessen zerren verschiedene Parteien in verschiedene Richtungen und interne Richtungskämpfe machen sich breit. Dem Team fehlt dann ein gemeinsamer „Nordstern“ an dem sich alle bei der Navigation orientieren und in eine Richtung segeln.

Fazit: Das alles demonstriert eindrucksvoll die Bedeutung von Gruppendynamik. Laufen gruppendynamische Prozesse falsch, dann hat das katastrophale Auswirkungen auf Leistungsfähigkeit, Erfolg und Stimmung in einem Team. Wir können festhalten: Erfolgreiche Teamarbeit bedeutet gruppendynamische Prozesse zu kennen, wirklich zu verstehen und erfolgreich zu gestalten. Für jedes Team und jede Führungskraft ist das absolut entscheidend. Viele weitere Kapitel in diesem Fachtext befassen sich daher mit einzelnen Aspekten der Gruppendynamik.

Um die Dynamik in Gruppen zu verstehen, ist ein Blick auf Synergieeffekte hilfreich. Darum dreht sich das nächste Kapitel.