Vor 40 Jahren
Wie Aktivisten in Kaiseraugst die Anti-AKW-Volksbewegung auslösten

Am Osterdienstag 1975 besetzten Aktivisten das AKW-Gelände – und lösten eine Volksbewegung aus. Erst erreichten sie einen Baustopp, 14 Jahre später wurde das AKW Kaiseraugst definitiv beerdigt. Bis dahin waren 1,3 Milliarden Franken aufgelaufen.

Thomas Wehrli
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Tag 15 der Besetzung: Die Anti-AKW-Aktivisten haben sich auf eine längere Besetzung eingerichtet. Keystone
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Transparente auf dem seit dem besetzten Baugelände des geplanten AKW Kaiseraugst, aufgenommen am 1. April 1975.
Besetzung des AKW-Geländes in Kaiseraugst am 1. April 1975

Tag 15 der Besetzung: Die Anti-AKW-Aktivisten haben sich auf eine längere Besetzung eingerichtet. Keystone

KEYSTONE

Was für ein Sauwetter. Regen prasselt vom Himmel, die Temperaturen sind im Keller. Keine 10 Grad. Und das an Ostern. Wer nicht raus muss, bleibt drinnen. Auch für den Osterdienstag, es ist der 1. April 1975, sind die Prognosen – bescheiden: Es bleibt nass und kalt.

Peter Scholer und die Mitglieder der «Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst» (GAK) kümmert das wenig. Darf es nicht kümmern. Denn kurz vor Ostern fuhren auf dem AKW-Gelände in Kaiseraugst die Baumaschinen auf und begannen mit dem Aushub für das Atomkraftwerk. Es gilt, jetzt zu handeln, es gilt, das umzusetzen, worüber man viel gesprochen hat: das Gelände zu besetzen und den Bau des AKW zu verhindern.

Am Ostermontag laufen die Telefone heiss: Morgen wird besetzt. Auch bei Ernst Born, dem Liedermacher, dem «Aernschd», klingelt es. Er packt seine Gitarre, nimmt den Zug nach Kaiseraugst, um zu schauen, «ob es Leute hat», wie er sich auf Radio SRF erinnert.

Es hat. 20, vielleicht 30 Aktivisten sitzen um ein Feuer, wärmen sich auf. Warten. Auf die Bauarbeiter. Diese kommen kurz vor 6 Uhr. Die Besetzer setzen sich auf die Maschinen, sagen zur Bautruppe, «so, heute wird nicht gebaut». Die Arbeiter sind konsterniert. Irritiert. Einige auch hörbar verärgert.

Es gibt kein Zurück

Die Situation ist angespannt, aber ruhig. Als Ulrich Fischer, der Direktor der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG, wenig später auf dem Gelände eintrifft, fordert er die Besetzer auf, das Gelände zu verlassen. Er erntet «höhnisches Gelächter», wie er sich in seinem Buch «Brennpunkt Kaiseraugst» erinnert.

Es kommen immer mehr Leute auf das Gelände. 50, 100, 200. Da wissen die Aktivisten: Jetzt gibt es kein Zurück mehr, «jetzt haben wir den Rubikon überschritten», wie es Born jüngst in einem Radiobeitrag zur Eröffnung der «Dokumentationsstelle Atomfreie Schweiz» ausdrückt.

Was für Gaius Julius Caesar der Rubikon war, jener Grenzfluss zwischen der römischen Provinz Gallia cisalpina und dem eigentlichen Italien, den er nicht mit den Truppen überschreiten durfte (und es dennoch tat und sich so mit dem Senat anlegte), war für die Anti-AKW-Bewegung die Überschreitung der Grundstücksgrenze. Ein illegaler Akt, der aus Sicht der AKW-Gegner unumgänglich war, weil sämtliche legalen Mittel bereits ausgereizt waren. Daher bleibe nur das Notrecht, sagte GAKVater Peter Scholer damals einer TV-Reporterin. «Das Gesetz sagt, es sei illegal. Wir haben das Gefühl, wir seien im Recht, weil die Bevölkerung übergangen wurde.»

Die Bevölkerung solidarisiert sich mit dem Anti-AKW-Aktivisten und ihren vier Hauptforderungen: Sie wollen einen sofortigen Baustopp, eine meteorologische Oberexpertise, eine Gesamtenergie-Konzeption und vor allem: einen demokratischen Volksentscheid.

Gewaltfreier Ungehorsam

Was am Osterdienstag mit wenigen Aktivisten beginnt, mutiert innert Tagen zur gewaltigen Volksbewegung, wird zum Manifest des überregionalen Widerstandes, wird zum Mahnmal des gewaltfreien Ungehorsams. Zelte werden aufgeschlagen, Holzhütten gezimmert, jeden Tag eine, um denen da draussen zu zeigen: «Wir sind entschlossen, längere Zeit durchzuhalten.»

Und die da draussen? Sie bleiben erstaunlich passiv. Die Räumung, welche die Besetzer jeden Tag erwarten und auf die sie sich mit einem Alarmierungskonzept vorbereitet haben, für den Fall, dass die Polizisten nachts kommen, bleibt aus. Gründe dafür gibt es mehrere. Einer ist, dass die Kantonspolizei Aargau nur über 280 Mann verfügt – und die beiden Basel nicht so recht aushelfen wollen. Die beiden Kantone fühlen sich beim Projekt übergangen, besonders was die Steuern betrifft.

Die Besetzer richten sich auf das Nicht-Handeln der Behörden ein. Es wird diskutiert, informiert, gebaut, gewaschen, gekocht, gesungen. Und immer wieder, an den allabendlichen Vollversammlungen, wird über das «Wie weit gehen wir mit dem Widerstand?» beraten. Der Beschluss lautet 74 Mal: «Wir besetzen weiter, um den Baustopp durchzusetzen.»

Das Schweizer Fernsehen ist in diesen Tagen immer wieder in Kaiseraugst vor Ort, beobachtet, interviewt, analysiert. Es ist eine unbeschreibliche Aura, die einem da in den TV-Aufnahmen begegnet. Es ist Protestcamp und Volksfest in einem; es vereint Anzugträger mit Hippie-Gestalten; es ist Politarena und Woodstock gleichermassen; es bringt Junge und Alte, Handwerker und Professoren, Hausfrauen und Künstler, Familien und Singles, Schweizer, Franzosen und Deutsche zusammen.

«In Mueters Schtübeli»

Die Protestfahnen flattern im Wind, die aufgespannten Transparente («Wer Atomkraft sagt, muss Bedrohung sagen») sprechen Klartext. Der Lautsprecher klirrt. «Es esch grad fröschi Wäie itroffe», hört man eine junge Frauenstimme sagen. «S’Stück choschtet ein Franke.»

Bruno Meier: «Ich bin ein ‹in Kaiseraugst Geborener›.»

Bruno Meier: «Ich bin ein ‹in Kaiseraugst Geborener›.»

Thomas Wehrli

Alltag beim Prostestieren. Protestieren im Alltag. Dazu gehören auch die Lieder von Ernst Born. «In Mueters Schtübeli» wird zum eigentlichen Protestsong. Born prangert darin unter anderem die Profitgier der Wirtschaft an und mahnt zum Kampf gegen weitere Atomkraftwerke. «In Mueters Schtübeli», singt Born am Schluss, da wehe nun ein anderer Wind, weil man «e weneli» aufgewacht sei.

Die bewegten Bilder aus Kaiseraugst bewegen auch die Menschen an den Bildschirmen – und sie sorgen mit dafür, dass die Besetzung zum Event der Massen wird. Sonntag nach Ostern. An die 15 000 Menschen strömen auf das AKW-Gelände, demonstrieren Einheit, zeigen Geschlossenheit, solidarisieren sich mit den Aktivisten.

Es wird nicht die einzige Grossdemonstration bleiben.

15'000 Menschen lassen es sich an diesem 6. April nicht nehmen, dabei zu sein, trotz immer noch misslich-kaltem Wetter. Wintermäntel und Schirme dominieren das Bild und wer keinen hat, stülpt sich kurzerhand einen Plastiksack auf den Kopf.

Mitten unter ihnen ist Bruno Meier, der Ballonfabrikant aus Herznach, der später sagen wird: «Ich bin ein ‹in Kaiseraugst Geborener›», der atomkraftmässig «dort auf die Welt kam» – und seither einer der Vorkämpfer der Anti-AKW-Bewegung ist. Früher glaubte Meier, wie viele, an die «Segnungen der Atomkraft»; erste Zweifel kamen ihm 1969, als der Versuchsreaktor in Lucens bei einem schweren Unfall vollständig zerstört wird. 1975 war er sich sicher: «Die Atomkraft ist der falsche Weg.»

Meier kommt während der elfwöchigen Besetzung immer wieder, vor allem abends, hört zu, redet mit, spannt sein Transparent auf und ist stets aufs Neue beeindruckt, «wie friedlich und solidarisch die Besetzung abläuft». Die GAK wird «zu meiner Familie», erzählt Meier 40 Jahre später in seinem Haus auf dem Kornberg, seinem zweiten, denn das erste war anfangs Dezember 1983 abgebrannt. Brandstiftung, ist Meier, «bald 88-jährig», bis heute überzeugt, weil er zu viel von den Vorgängen in der Atombranche wusste.

Infopavillon flog in die Luft

Nach 75 Tagen, am 14. Juni 1975, einem Samstag, geht die Besetzung in Kaiseraugst zu Ende. Bundesrat Willi Ritschard sichert den Aktivisten Verhandlungen zu – und für diese Zeit einen Baustopp. Sie lassen sich darauf ein, bauen Hütten und Zelte ab.

Die Besetzer sind (vorerst) zufrieden; auch wenn sie wissen – oder zumindest ahnen –, dass sie zwar eine Etappe gewonnen haben, noch lange aber nicht das Rennen um den Verzicht auf das AKW. Erst 1989, 14 Jahre und zwei nicht eben gewaltfreie Aktionen später (der Infopavillon flog 1979 ebenso in die Luft wie der Audi von Michael Kohn, Initiant des Atomkraftwerks), beerdigte der Bundesrat – auf einen Vorstoss von bürgerlichen Politikern hin – die Pläne endgültig. Aus wirtschaftlichen Gründen; bis dato waren bereits Kosten von 1,3 Milliarden Franken aufgelaufen.

An jenem Samstag im Juni 1975 wusste man von all dem noch nichts. Eines aber war allen klar: Die letzten 75 Tage waren eine Zäsur. Sie haben «den Widerstand in den Köpfen mobilisiert», formuliert es Meier. Sie waren die Geburtsstunde der Schweizer Anti-AKW-Bewegung, waren Mahnmal dafür, dass das «Gemeinsam sind wir stark» nicht Floskel bleiben muss, dass das Zusammenstehen für Bewegung sorgen kann. In «Mueters Schtübeli» war man aufgewacht.